Ästhetische Resonanz: Zeichen und Schriftästhetik aus Ostasien in der deutschsprachigen Literatur und Geistesgeschichte 9783737003599, 9783847103592, 9783847003595

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Ästhetische Resonanz: Zeichen und Schriftästhetik aus Ostasien in der deutschsprachigen Literatur und Geistesgeschichte
 9783737003599, 9783847103592, 9783847003595

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Arne Klawitter

Ästhetische Resonanz Zeichen und Schriftästhetik aus Ostasien in der deutschsprachigen Literatur und Geistesgeschichte

Mit zahlreichen Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0359-2 ISBN 978-3-8470-0359-5 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0359-9 (V&R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der FONTE Stiftung zur Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses. © 2015, V&R unipress GmbH , Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: »Resonanz« in Square Word Calligraphy, 2014, © Xu Bing Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Fraunhoferstraße 19, 87700 Memmingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

»Damit sich die Schrift in ihrer Wahrheit offenbart (nicht in ihrer Instrumentalität), muß sie unlesbar sein.« (Roland Barthes)

Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung: Sprachenlosigkeit . . . . Das Reich der stummen Zeichen Motiv und Motivation . . . . . . Problem . . . . . . . . . . . . . . Gegenstandsbereich . . . . . . . Methode . . . . . . . . . . . . . .

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I. Vorüberlegungen zu einer Ästhetik des Diversen . . . . . . . . . Ästhetische Diversität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Xu Bings Zeicheninstallationen und ihre Indexfunktion . . . . 1. Figurationen des Nichtdiskursiven . . . . . . . . . . . . . . . Das Sagbare und das Sichtbare . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeichen als ontologische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . Die reine Spur der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Diskurs über das Nichtdiskursive und das Unsagbare im Sichtbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Andere als das Nicht-Diskursivierte . . . . . . . . . . . . Exkurs zur Genealogie der Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konzepte affizierender Ästhetik: Atmosphäre und Resonanz . Suche nach einem neuen Leitbegriff . . . . . . . . . . . . . . . Atmosphären als »ergreifende Gefühlsmächte« . . . . . . . . Aura und Aisthesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die subjektive Bedingtheit der Atmosphäre . . . . . . . . . . Der Resonanzbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Stimmungen lesen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Resonanz- zum Gedächtnisraum . . . . . . . . . . . . . Die Brechung der Signifikanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Resonanz und Staunen bei Xu Bing . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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III. Der Reflex ostasiatischer Ästhetik in der deutschen Literatur . . . . . Der Orient als Resonanzraum in der deutschen Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Grundzüge der Resonanzästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zeichenresonanz. Fiktionalisierungen unleserlicher Zeichen . . Die Diskursivität unleserlicher Zeichen . . . . . . . . . . . . . . Fiktionale Schriftblindheit in der Romantik . . . . . . . . . . . Pragmatische Schriftblindheit bei Goethe . . . . . . . . . . . . . Analytische Schriftblindheit in der Graphologie . . . . . . . . . Exotisierte Schriftblindheit in der Fremde . . . . . . . . . . . . Die affektive Fernwirkung der Zeichen . . . . . . . . . . . . . . Vor der Lesbarkeit der Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anzeichen einer unscheinbaren Ästhetik . . . . . . . . . . . . . 4. Ästhetische Resonanz. Gedämpfter Nachklang und fader Geschmack . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Fadheit als höchster möglicher Geschmack . . . . . . . . . Diskrete Signifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Figurationen des Blassen/Faden . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Nachklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fadheit in der Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gemalte ›Land-Schriften‹ und poetische Zeichen-Landschaften Das Problem der Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Tragweite des Sinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Vermögen der Fadheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der diskursive Status der Fadheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Poetische Resonanz. Der Modus der Anregung . . . . . . . . . Die drei Mittel des dichterischen Ausdrucks . . . . . . . . . . . Die ›allusiv-anspielende Anregung‹ als diskursiver Modus . . . Allusive Indikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ›Verbergen und Auffallen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Äußere Natur und innere Gestimmtheit . . . . . . . . . . . . . Insinuierter Diskurs: Fortschreiten auf Umwegen . . . . . . . . Die Resonanzwirkung als Untersuchungsgegenstand der Literaturforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs zur Klangiteration: Wenn einander fremde Zeichen sich im Klang berühren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

6. Klangresonanz. Unzers poetische Experimente . . . . . . . . . . . Der »Buchstabe Kang« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weder konfuzianische Staatsphilosophie noch moralische Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zeitgenössische Kritik und ihr blinder Fleck . . . . . . . . . . Inszenierungen einer fernen Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . Deutsche Verse auf chinesischem Seidenpapier . . . . . . . . . . Fehlendes Verständnis und mangelnde Resonanz . . . . . . . . . 7. »Entlegener Stil« und nahe Ferne. Ausdrucksformen des Exotismus beim späten Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Goethe und die Chinoiserien des Rokoko . . . . . . . . . . . . . . Goethes chinesische Alterslyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der »entlegene Stil« als Mittel zur Entrückung der Person . . . . Die Kühle des Mondlichts im Herzen der Sichtbarkeit . . . . . . . Nahe Ferne. Goethes »luftiger« Exotismus . . . . . . . . . . . . . Die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit . . . . . . . . . . . . 8. Wohltönende Ferne. Rückerts Nachbildungen orientalischer Dichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Die Geister der Lieder« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die »poetische Wünschelruthe« des ›wahren‹ Dichters . . . . . . Weltliteratur und Weltpoesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückerts Ideal einer poetischen Endosmose . . . . . . . . . . . . Dichtung im orientalischen Geschmack . . . . . . . . . . . . . . . Übersetzung als Expropriation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie man chinesisch dichtet, ohne Chinesisch zu verstehen: Umdichtungen in der Nachfolge Rückerts . . . . . . . . . . . . . 9. Funktions- und Formerweiterungen in der frühmodernen deutschsprachigen Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Konzept-Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Schmutziger Weltstaub«. Ehrenstein nach dem Ersten Weltkrieg Vom epigrammatischen Dreizeiler zum deutschen Haikai . . . . »Komprimierte Kunstpillen«. Moderne Haikais von Yvan Goll . .

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Inhalt

10. Indikative Resonanz. Kommerells Poesie mit gleichsam chinesischem Pinsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Offenheit für das Andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Durchscheinende und das Umschließende . . . . . Auflösung und Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . Auffüllung und Entleerung . . . . . . . . . . . . . . . . Die ›geistige Resonanz‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Pinselstrich als Geste . . . . . . . . . . . . . . . . . Gebärde und Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Verflüchtigung des Bildes . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Transkulturelle Resonanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs zur Geometrie der offenen Grenze . . . . . . . . . . . . . 11. Klangexperimente um 1900. Dauthendeys poetische Klangiterationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Poetisch-philosophische Klangkammern . . . . . . . . . . . . . . Fernöstliche Klangiterationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reim, Assonanz und Klangaura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Klang als Körpererlebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Affektive Resonanzräume. Dauthendeys ästhetisiertes Japan . . . Das Bild hinter dem Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nuancierte Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Landschaft als ein resonanter Wahrnehmungsraum . . . . . . . . Dauthendeys anderer Exotismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13. Diskursive Resonanzen. Chinesische Schriftzeichen im Lichte der Bilderschrifttradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fremde und verfremdete Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heilsgeschichtliche Schrifthalluzinationen bei Athanasius Kircher Zeichenkombinatorik und Universalsprache . . . . . . . . . . . . Der Druck chinesischer Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14. Exkurs: Die poetische Resonanz chinesischer Ideogramme bei Ezra Pound . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Etym-Imaginationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die »Bild-Kurzschrift« und die drei Poeias . . . . . . . . . . . . . Verdichtete Ansichten. Das ›Sieben Seen-Canto‹ . . . . . . . . . . Die ideogrammatische Methode in den späteren Cantos . . . . .

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Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Farbtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungen zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungen zu Kapitel 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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15. Die Ästhetik der Resonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lesbarmachung unleserlich-unlesbarer Zeichen bei Xu Bing Der Resonanzraum der Square Word Calligraphy . . . . . . . . Neue Lesbarkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diversität des Sinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allusive Resonanzen in der modernen deutschen Dichtung . . . Für eine Ästhetik der Resonanz und Diversität . . . . . . . . . .

Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2012 unter dem Titel »Transkulturelle Resonanz. Ostasiatische Zeichenästhetik in der deutsch- und englischsprachigen Literatur« vom Fachbereich Philologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Habilitationsschrift angenommen und für die Veröffentlichung überarbeitet und gekürzt. Mein besonderer Dank gilt Dr. Bernd Neumann, der mir mit seinem Wissen über die Literatur des 18. Jahrhunderts und über Japan viele wertvolle Anregungen gegeben hat und über lange Zeit der einzige Leser dieser Arbeit war. Ebenso danken möchte ich Prof. em. Heinz Jürgen Staszak und Prof. Moritz Baßler für ihre hilfreichen Anmerkungen sowie dem Künstler Xu Bing für das Titelbild und das umfangreiche Bildmaterial, das er freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Kyoto, im Herbst 2014

Einleitung: Sprachenlosigkeit »Es gibt keinen Logos, es gibt nur Hieroglyphen.« (Gilles Deleuze) 1

Das Reich der stummen Zeichen Als im Jahr 1988 der chinesische Künstler Xu Bing seine monumentale Installation Tianshu (天书, dt. Das Buch des Himmels) auf der Ausstellung für zeitgenössische Kunst in Peking dem Publikum vorstellte, erregte er damit nicht nur in chinesischen Künstlerkreisen und unter Kunstkritikern großes Aufsehen, sondern gab auch über die Grenzen des Landes hinaus Anlass und Stoff genug für kontroverse Diskussionen. Im Ausstellungsraum waren drei, später dann fünf riesige, mit chinesischen Schriftzeichen bedruckte Papierbahnen aufgespannt, die wie Baldachine von der Decke herabhingen und den Eindruck ins Monumentale überhöhter buddhistischer Schriftrollen erweckten (Farbtafeln, Abb. 1 und 2). Darunter befand sich, auf dem Boden ausgelegt und in mehreren Reihen geordnet, eine auf den ersten Blick kaum überschaubare Zahl an verschiedenen Stellen aufgeschlagener Bücher – ein Arrangement, das durch seine Monumentalität und geschickt eingesetzte Lichteffekte eine einzigartige Atmosphäre erzeugte. Am oberen Ende des Raumes sah man mehrere Einzelbände auf einem Podest drapiert, eingerahmt von zwei Kästen aus Walnussholz, wie sie im alten China zur Aufbewahrung besonders wertvoller Bücher verwendet wurden. Mit ihren indigofarbenen Einbänden, der weißen Fadenheftung und dem Satzspiegel 1 Gilles Deleuze: Proust und die Zeichen, Berlin: Merve 1993, S. 84 (im Original kursiv). Zur Zitierweise: Jede Veröffentlichung, die als Grundlage eines Zitats oder einer Entlehnung dient, wird beim ersten Mal vollständig und bei jedem weiteren Mal unter Angabe eines Kurztitels nachgewiesen, Zeitschriften ohne Angabe von Ort und Verlag. Der Übersichtlichkeit halber wird die verwendete Literatur am Schluss des Buches noch einmal vollständig aufgelistet. Zur Schreibung: Chinesische Ausdrücke werden ohne Angabe der Töne, japanische Ausdrücke mit Dehnungsvokal wiedergegeben, ausgenommen sind Städtenamen wie Tokyo und Kyoto. Bei den Namen moderner japanischer Autoren und zeitgenössischer Forscher werden zuerst die Vor- und dann die Familiennamen genannt.

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Einleitung: Sprachenlosigkeit

entsprachen sie bis ins Detail ihren Vorbildern aus der späten Song-Dynastie des 11. Jahrhunderts (Farbtafeln, Abb. 3). Auch in der Drucktechnik hielt sich der Künstler genau an die Tradition der alten chinesischen Buchdruckkunst, was er dem Betrachter noch zusätzlich dadurch vor Augen zu führen suchte, dass er zu den Büchern einige der für ihre Herstellung verwendeten Druckwerkzeuge präsentierte (Farbtafeln, Abb. 4). Drei Jahre hatte es gedauert, bis Xu Bing jedes der Schriftzeichen spiegelverkehrt in jene Holzblöcke geschnitzt hatte, die dann beim Druck Verwendung fanden. Im Format und Layout imitieren die von Xu Bing mit größter Sorgfalt gefertigten Bücher schon lange zuvor gedruckte, klassische chinesische Werke.2 Wie in der Abb. 3 zu erkennen ist, geben die drei großen Zeichen offenbar den Titel des Buches an, während auf den links daneben aufgeschlagenen Buchseiten der eigentliche Text beginnt. Oberhalb des Schriftsatzes und manchmal auch an den Seitenrändern sieht man zudem jene kleingedruckten Randbemerkungen, wie man sie in China von philosophischen Werken her kennt (Farbtafeln, Abb. 5). Doch das wirklich Ungewöhnliche an Xu Bings kunstvoll gestalteten Büchern waren die Schriftzeichen selbst, die die Besucher der Ausstellung schon nach kurzer Zeit in Erstaunen und Irritation versetzten und von da an nicht mehr losließen. So sehr sie auch versuchten, die Zeichen zu entziffern, scheiterten sie jedoch immer wieder daran, ihnen einen Sinn zuweisen zu können, weil ihnen die Zeichen in der hier dargebotenen Form gänzlich fremd und, obwohl sie alle den ihnen wohl bekannten chinesischen Schriftbildern auf irgendeine Weise zu gleichen schienen, nicht dechiffrierbar waren. Wer sie zum ersten Mal sah, musste zunächst davon ausgehen, dass es sich bei Xu Bings Texten und ihrer Präsentation um nichts anderes als die Wiedergabe genuiner chinesischer Schriftzeichen handelte. Aber bei genauerem Hinsehen dürfte ein Kenner der Materie dann doch sehr bald bemerkt haben, dass diesen scheinbar bedeutungsvollen Zeichengebilden in Wahrheit überhaupt keinerlei Bedeutung innewohnte, denn auch wenn sich einzelne ihrer Teile durchaus identifizieren ließen, so ergaben sie in den hier vorgefundenen Kombinationen als Gesamtheit keinerlei Sinn. Daraus nun den Schluss zu ziehen, dass die Installation bewusst und in erster Linie darauf abgezielt hätte, den Betrachter zu täuschen, greift entschieden zu kurz, und angesichts der mit äußerster Sorgfalt angewandten Techniken sowie der fachgerechten und kunstvollen Gestaltung der Bücher drängt sich geradezu die Frage auf, aus welchem Grunde denn ein solch enormer Aufwand betrieben wurde – immerhin sind vom Künstler über viertausend verschiedene Schrift2 Zum klassischen Kanon des Konfuzianismus zählen fünf Bücher, die sogenannten »Fünf Klassiker«: das Buch der Wandlungen (Yijing), das Buch der Lieder (Shijing), das Buch der Urkunden (Shujing), das Buch der Riten (Liji) und die Frühlings- und Herbstannalen (Chunqiu), eine Chronik der historischen Ereignisse des Staates Lu vom 8. bis zum 5. vorchristlichen Jahrhundert.

Das Reich der stummen Zeichen

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zeichen zur Fertigstellung seiner Bücher erfunden worden. Sehr ins Gewicht fällt dabei, dass gut ein Jahrzehnt nach der umfassenden Schriftreform, die während der Regierungszeit Mao Zedongs durchgeführt wurde und die das Erlernen der Schriftzeichen durch die Reduktion ihrer Komplexität erleichtern sollte, viele der alten und oft höchst komplexen, sogenannten »Langzeichen« für die meisten jungen Chinesen nicht mehr oder nur noch vereinzelt lesbar waren.3 Xu Bings Buch des Himmels erweckt die Vorstellung eines ›Totenbuchs des Sinns‹, wie es der Schriftsteller Jorge Luis Borges hätte imaginiert haben können: Gleichgültig, welche Seite man aufschlägt, man findet nur Zeichen, die man nicht entziffern kann. Doch welchen Sinn haben diese ebenso kenntnisreich wie wohlbedacht konstruierten Zeichen, die für sich genommen nichts bedeuten? Beabsichtigt der unlesbare Text, die Idee der Einheit und Funktion des Buches als Träger des kulturellen Gedächtnisses zu sprengen? Sind die Bücher des Himmels womöglich ein Fingerzeig darauf, dass die ›Sprache des Himmels‹ uns unverständlich geworden ist und ihre Schrift unlesbar? Oder ist ihre Existenz ein Hinweis auf ein altes Reich, dessen Kultur uns lediglich Hieroglyphen hinterlassen hat, die wir nicht mehr entziffern können – ein Reich, dessen Geheimnisse tief vergraben in einer endlosen Zeichenwüste ruhen? Wollen die unlesbaren Bücher uns etwa sagen, dass jede noch so herausragende Leistung einer großen Kultur im Rückblick doch nur sinnloses Treiben ist? Oder haben sie eine vornehmlich politische Bedeutung? Schließlich denkt man in diesem Kontext unwillkürlich an die Kulturrevolution und ihre Hinterlassenschaften. Xu Bings Zeicheninstallation eröffnet demnach ganz unterschiedliche Fragestellungen, doch sei in diesem Kontext auch auf die Gefahr aufmerksam gemacht, sich zu überstürzten politischen Deutungen und voreiligen Schlüssen hinreißen zu lassen.4 Allen weiter gehenden Interpretationen muss deshalb die Frage vorangestellt werden, was eigentlich genau mit uns passiert, wenn wir diese Zeichenfigurationen wahrnehmen. Nach dem ersten Eindruck, eine monumen3 So wurde das Zeichen für ›Buch‹ 書 (shu) im Zuge der Schriftreform zu 书. 4 Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Herders Auffassung, dass China, weil es sich gegen alles Fremde absperre, mit der Kultur des Abendlandes unvereinbar sei, weshalb es (wie Ägypten) als ein Symbol des Untergegangenen angesehen werden könne: »Das Reich ist eine balsamierte Mumie, mit Hieroglyphen bemalt und mit Seide umwunden, ihr innerer Kreislauf ist wie das Leben der schlafenden Winterthiere.« ( Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–91), in: Herders sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, 33 Bde., Berlin: Weidmann 1877–1913, Band 14, 3. Teil, S. 13; vgl. auch Johann Gottfried Herder: Werke, hg. von Wolfgang Pross, Bd. 3: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, München: Hanser 2002, S. 400.) Das Bild Chinas als Mumie prägte die China-Vorstellungen der deutschen Gelehrten im 19. Jahrhundert, obgleich Herder später bestrebt war, die Auffassung von einem erstarrten China in der Zeitschrift Adrastea (1801–03) zu korrigieren, allerdings ohne größere Resonanz. Zur grundsätzlichen Kritik am westlichen Orient-Bild siehe Edward W. Said: Orientalism, London: Routledge & Kegan Paul 1978; dt. Orientalismus. Aus dem Engl. von Hans Günter Holl, Frankfurt a. M.: Fischer 2009.

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Einleitung: Sprachenlosigkeit

tale, in ein Museum versetzte Bibliothek zu betreten, stellen sich mit der Erkenntnis, dass wir es mit einem raffiniert arrangierten Zeichensimulakrum zu tun haben, erste Zweifel ein. Die mit großer Sorgfalt fabrizierten Buchdeckel, die das Blätterwerk aus Schriftzügen einfassen, verleihen ihnen zunächst den Anschein, als handele es sich um signifikante Zeichen. Tatsächlich aber befinden sie sich in Hinblick auf ihren Zeichenstatus in einem seltsamen Schwebezustand, der sich semiologisch mit dem Begriff der ›fingierten Signifikation‹ charakterisieren ließe. Man könnte die Erfahrungen eines Betrachters von Xu Bings Zeicheninstallation gut und gerne mit der Verwirrung vergleichen, die der Leser in jener »fiebernden Bibliothek« erlebt, die Borges in seiner Erzählung Die Bibliothek von Babel imaginiert hat. Nur sind es nicht mehr die Zufallsbände, die Gefahr laufen, »sich in andere zu verwandeln, und die alles behaupten, leugnen und durcheinanderwerfen wie eine delirierende Gottheit«,5 sondern es sind die Zeichen selbst, die den Zeichendeuter hilflos im undurchdringlichen Dickicht willkürlicher Aneinanderfügungen von Strichen und Häkchen stehen lassen. Die »fiebernde Bibliothek« von Borges ist bei Xu Bing zu einer unmöglichen Bibliothek geworden, zu einer Bibliothek unlesbarer Zeichen. In Xu Bings Zeichenuniversum gibt es eine Vielzahl möglicher Kombinationen semantischer Grundelemente des Chinesischen, doch werden die Zeichenfigurationen auf besondere Weise modifiziert. Seine Konstrukte scheinen zunächst lesbar zu sein, denn einzelne Radikale, die sogenannten ›Wurzelzeichen‹, welche die Grundbedeutungen vermitteln, sind ja zum Teil durchaus zu identifizieren; sie werden nur anders als gewöhnlich kombiniert. Als Ganzes gesehen aber sind die Zeichenkonstrukte gerade deshalb nicht zu entziffern. Folglich sind sie weder vollständig lesbar noch gänzlich unlesbar. Es müsste ein Begriff gefunden werden, mit dem man im Stande wäre, diesen seltsamen Schwebezustand zwischen Lesbarkeit und Unlesbarkeit, zwischen Zeichen und Nichtzeichen zu bestimmen, und mit dessen Hilfe es möglich werden würde zu konkretisieren, dass es sich hier nicht im strengen Sinne um konventionelle Zeichen handelt, sondern gewissermaßen um deren stumme Rohform, d. h. um die Möglichkeit von Signifikanz. Um diesen besonderen Aspekt der eingeschränkten Lesbarkeit zu benennen, wird im Folgenden auch von ›unleserlichen Zeichen‹ gesprochen.

5 Jorge Luis Borges: Fiktionen. Erzählungen 1939–1944, Frankfurt a. M.: Fischer 1992, S. 74.

Motiv und Motivation

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Motiv und Motivation Den Anstoß zur vorliegenden Arbeit gab die persönliche Erfahrung, in Ländern zu leben bzw. gelebt zu haben, deren Sprache und Schrift man nicht beherrscht, weil man sie nicht erlernt hat. Die ›Hieroglyphen‹, von denen man unter diesen Umständen täglich umgeben ist, erkennt und akzeptiert man zwar als Schriftzeichen, aber man versteht ihre Bedeutung nicht; man weiß nicht einmal, wie sie ausgesprochen werden, und fühlt sich buchstäblich hineingeworfen in ein Reich unleserlicher, stummer Zeichen. Xu Bings Installation bringt diese Erfahrung auch für den im jeweiligen Lande selbst aufgewachsenen Betrachter auf pointierte Weise zum Ausdruck: die durch nichts avisierte und schockierende Erkenntnis, plötzlich Analphabet zu sein, d. h. weder lesen noch schreiben zu können und dadurch gänzlich vom Sinn abgeschnitten zu sein. Diese Erfahrung eines ›sekundären‹ Analphabetismus könnte als eine Urszene interkultureller Begegnung bezeichnet werden. Eine solche Situation mag als beunruhigend und zunächst erschreckend empfunden werden; sie kann aber ebenso viel Potential bieten und dabei poetisch inspirativ sein, wie es bei den Anfang des 20. Jahrhunderts Japan bereisenden Dichtern nachzulesen ist: […] die Straßen wimmeln von matt leuchtenden Papierlaternen und Miriaden verwirrender, rätselhafter Schriftzeichen, die erst lebendig werden, sobald die Lampen brennen. […] Die Straßen in Japan haben keine Namen, und wenn sie Namen haben, kann man sie nicht lesen.6

Auf das Motiv unleserlicher Zeichen, wie hier bei Bernhard Kellermann, trifft man in Reisebeschreibungen oder auch Erzählungen der Jahrhundertwende, die im exotischen Japan oder China spielen, immer wieder. In Max Brods Roman Abenteuer in Japan irrt dessen Protagonist wie im Fieberwahn durch die Straßen Tokyos und ist von der fixen Idee besessen, in den für ihn unlesbaren Schriftzeichen, von denen er sich permanent angestarrt fühlt, nichts anderes als die Personifikation eines unheimlichen, wenn nicht sogar feindlichen ›Fremden‹ erkennen zu müssen: Die vielen Fahnen knattern vor den Geschäftsläden. Es sind eigentlich nur Firmenschilder oder Plakate, aber sie gleichen Fahnen, die schief in die Gasse ragen, der ganzen Länge nach an Stangen festgehalten. Die vielen schrägen Flächen geben dem Bild Unruhe und Verwirrung. Manche dieser Schriftbänder sehen wie Flossen von Riesenfischen aus, manche wie Wäsche, die zum trocknen hängt. Und alle mit den großen bunten Hieroglyphen vollgemalt, die man nicht lesen kann. Ist es schon peinlich, unter Menschen zu leben, deren Sprache man nicht versteht, so steigert sich der Eindruck von

6 Vgl. Bernhard Kellermann: Ein Spaziergang in Japan, Berlin: Cassirer 1910, S. 28–29.

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Einleitung: Sprachenlosigkeit

Unheimlichkeit, ja Feindschaft, sobald auch die Schriftzeichen einen allenthalben unverständlich anblicken, ja, mit lauter Stimme, so glaubt man, geradezu anschrein.7

Umstände wie diese verlangen von jemandem, der aus dem westlichen Kulturkreis kommt, daher ebenso viele Vorkehrungen wie Vorsichtsmassnahmen, Umgewöhnungen und Umstellungen, zu- oder abnehmend in eben dem Maße, wie er sich neuen Wahrnehmungsweisen und Denkmöglichkeiten gegenüber zu öffnen vermag. Und doch handelt es sich um keine exklusive Erfahrung, obgleich sie oft vernachlässigt oder von ›Kulturschock‹-Floskeln überblendet wird. Nur in wenigen Fällen rückt sie ins Zentrum kulturphilosophischer oder zeichentheoretischer Betrachtungen, wie z. B. bei Roland Barthes, der das absolute NichtVerstehen und den Sinnverlust in seinem Buch Das Reich der Zeichen auf folgende Weise zu umschreiben sucht: Ein Traum: eine fremde (befremdliche) Sprache kennen und sie dennoch nicht verstehen: in ihr die Differenz wahrnehmen, ohne dass diese Differenz freilich jemals durch die oberflächliche Sozialität der Sprache, durch Kommunikation oder Gewöhnlichkeit eingeholt und eingeebnet würde; in einer neuen Sprache positiv gebrochen, die Unmöglichkeiten der unsrigen erkennen; die Systematik des Unbegreifbaren erlernen; unsere »Wirklichkeit« unter dem Einfluß anderer Einteilungen, einer anderen Syntax auflösen; unerhörte Stellungen des Subjekts in der Äußerung entdecken, deren Topologie verschieben; mit einem Wort, ins Unübersetzbare hinabsteigen und dessen Erschütterung empfinden, ohne es je abzuschwächen, bis der ganze Okzident in uns ins Wanken gerät und mit ihm die Rechte der Vatersprache, der Sprache, die wir von unseren Vätern erben und die uns wiederum zu Vätern und Besitzern einer Kultur macht, welche die Geschichte gerade in »Natur« verwandelt.8

Was in dieser Passage über den Umweg eines Traumerlebnisses angesprochen wird, ist nichts anderes als die Erfahrung von Schrift jenseits ihrer Bedeutung, bei der es laut Barthes vor allem darauf ankommt, vermittelt durch eine fremde Sprache, die man nicht beherrscht, deren Worte man nicht versteht und deren Zeichen man nicht entziffern kann, die Differenz, genauer gesagt, die Distanz, d. h. den unhintergehbaren Abstand zum Eigenen wahrzunehmen.9 Sollten wir uns durch diesen Abstand nicht dazu anregen lassen, das als evident aufgefasste ›Eigene‹ in Frage zu stellen und unsere Denkposition zu verschieben, um dasjenige in den Blick zu nehmen, was wir, unserer Denkgewohnheit folgend, normalerweise unberücksichtigt lassen? 7 Max Brod (mit Otto Brod): Abenteuer in Japan, Amsterdam: Allert de Lange 1938, S. 189–190. 8 Roland Barthes: Das Reich der Zeichen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 17. 9 Statt von ›Unterschied‹ oder ›Differenz‹ wird hier in Anschluss an Jullien von ›Distanz‹ bzw. ›Abstand‹ gesprochen. Den Vorteil dieses Begriffs sieht Jullien darin, dass er »die Kulturen und Denkarten voneinander trennt« und so »einen reflexiven Raum zwischen ihnen« eröffnet, während der Begriff des Unterschieds »prinzipielle Identitäten« voraussetze (François Jullien: Der Weg zum Anderen. Alterität im Zeitalter der Globalisierung, Wien: Passagen 2014, S. 31).

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Barthes gibt dafür eine gute Hilfestellung, wenn er Japan als den Realität gewordenen Traum einer solchen stets fremden und fremd bleibenden Sprache inszeniert, auf die der Semiologe nur einen peripheren Blick werfen kann, da er in deren System vielschichtiger Codes nicht einzudringen vermag. Doch erlaubt es ihm diese Situation, eine Position einzunehmen, die im Grunde unmöglich wäre, solange er in seiner eigenen Sprache und im gewohnten Denken eingeschlossen bleibt. Worum seine Überlegungen unablässig kreisen, ist jene stumme Distanz, die Anlass dafür ist, darüber nachzudenken, was in der abgründigen Sinnleere der Zeichen deutlich wird. Es wäre deshalb zu kurzsichtig, wenn man dieses Erlebnis des kulturellen Analphabetismus als ›Kulturschock‹ begreifen wollte, wie man es uns mitunter im Namen der Interkulturalität einreden will. Denn dabei würde genau das eintreten, was Barthes in seinen vor- und umsichtigen Betrachtungen verhindern wollte, nämlich dass jene Distanz, die eine Verschiebung der eigenen Position und damit einen anderen Blickwinkel erst ermöglicht, sofort wieder eliminiert wird. Das Besondere an Japan, genauer gesagt, an der Vorstellung, die er sich von diesem Land als einem kulturell bedingten Zeichensystem gemacht hat (denn Barthes hat sein Buch gerade nicht als Wiedergabe eigener Erlebnisse und Erfahrungen, die er während seines Aufenthalts in Japan gewonnen hatte, konzipiert),10 ist, dass es ihn in die »Situation der Schrift versetzt«.11 Seiner Ansicht nach äußert sich die pure Präsenz der Schrift unweigerlich in einer Zerrüttung des Subjekts, sowohl in einer »Umwälzung der alten Lektüren«, als auch in der »Erschütterung des Sinns, der zerrissen und bis zur unersetzlichen Leere erschöpft wird, ohne daß freilich das Objekt jemals aufhörte, bedeutsam und begehrenswert zu sein«.12 Während Barthes in Die Lust am Text (1973) die Wollust mit dem Aussetzen des Codes verbindet, thematisiert er in seinem JapanBuch (1970) einen buchstäblich interkulturellen Bereich, den er semiologisch als leer kennzeichnet (»Ich lebe in einem Zwischenraum, der frei von jeder vollen Bedeutung ist.«13) und den er mit dem Paradox der Sprachenlosigkeit verknüpft 10 Japan bildet für Barthes, wie er selbst zu Beginn seiner Betrachtungen betont, den Ausgangspunkt für ein System von ›Zügen‹, die sowohl fiktiv als auch real sind und sich insbesondere in der Differenz zum eigenen, kulturell geprägten Zeichensystem konstituieren: »Osten und Westen dürfen hier also nicht als ›Realitäten‹ verstanden werden, die man einander historisch, philosophisch, kulturell oder politisch anzunähern oder entgegenzusetzen suchte. Ich blicke nicht mit verliebten Augen auf ein ›Wesen des Ostens‹; der Orient ist mir gleichgültig, er liefert mir lediglich einen Vorrat von Zügen, den ich in Stellung bringen und, wenn das Spiel erfunden ist, dazu nutzen kann, mit der Idee eines unerhörten und von dem unsrigen gänzlich verschiedenen Symbolsystems zu ›liebäugeln‹.« (Barthes: Das Reich der Zeichen, S. 13). 11 Ebd., S. 14. 12 Ebd., S. 16. 13 Ebd., S. 22.

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(im Gegensatz zur Sprachlosigkeit als einer Reaktion, die beispielsweise einem Erstaunen oder Erschrecken folgt). Dieser Zustand gleicht dem eines Schwebens zwischen zwei (oder mehreren) Sprachen, ohne die eine nutzen und über die andere verfügen zu können, und er ist gekennzeichnet durch eine Art doppelter Äußerlichkeit: zum einen mit Blick auf die eigene Sprache und Kultur, die man verlassen hat und die in der Fremde keinerlei festen Boden oder Sicherheit mehr bietet, und zum anderen hinsichtlich der fremden Sprache und ihrer Kultur, in der man nie ankommen und zu der man stets eine mehr oder minder große Distanz verspüren wird. Sobald jemand sich in diesem Raum doppelter Äußerlichkeit wiederfindet, begegnet er den Zeichen in einer von aller Bedeutung befreiten Schrift(bild)lichkeit. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Barthes seinen diskursiven Beschreibungen und den Reflexionen über die Erfahrung von Schrift jenseits ihrer Bedeutung einen entsprechend nicht-diskursiven Diskurs über die Schrift beigefügt hat: Kalligraphien, hingestreute Zeichen, Schriftzüge, Bilder, Zeichnungen, Skizzen, Gesten, Gesichter. Dieser eigentümliche Nicht-Diskurs hat seinen Ausgang ebenfalls in der Erfahrung jenes leeren Zwischenraums.14 Und so ist es kein Zufall, dass das erste Schriftzeichen, das in seinem Buch abgebildet wird und mit dem der unterschwellige Nicht-Diskurs einsetzt, ein japanisches Zeichen für »Leere« ist.15 Die sprachlich-kulturelle Deplatzierung der semiologischen Betrachtung macht für Barthes eine »Leere in der Sprache« sichtbar, die nach seiner Ansicht überhaupt erst die Schrift konstituiert, denn »von dieser Leere gehen die Züge aus, in denen der Zen in völliger Sinnbefreiung die Gärten, Gesten, Häuser, Blumengebinde, Gesichter und die Gewalt schreibt«.16 Was nun aber seine Betrachtungen für die Kulturkomparatistik im Allgemeinen und die vorliegende Untersuchung im Besonderen so interessant macht, ist der Umstand, dass in ihnen Semiologie und Epistemologie verbunden und auf ein gemeinsames Ziel hin ausgerichtet werden, und zwar auf jene Distanz, die Barthes für uneinholbar erklärt und die seiner Ansicht nach nicht eliminiert werden darf, beispielsweise durch die Routine der Gewohnheit oder durch modische Begriffsetiketten. Durch das Insistieren auf dieser Distanz wird das kulturell Andere, das für sich gleichwohl einen kohärenten Zusammenhang und ein 14 Barthes erklärt dazu: »Der Text ist kein ›Kommentar‹ zu den Bildern. Die Bilder sind keine ›Illustrationen‹ zum Text. Beide dienten mir lediglich als Ausgangspunkt für eine Art visuellen Schwankens – ähnlich vielleicht jenem Sinnverlust, der im Zen als Satori bezeichnet wird. Text und Bilder sollen in ihrer Verschränkung die Zirkulation, den Austausch der Signifikanten: Körper, Gesicht, Schrift, ermöglichen und darin das Zurücktreten der Zeichen lesen.« (Ebd., S. 11.) 15 Es gibt im Japanischen für die verschiedenen (religiösen) Konzepte der Leere auch verschiedene Zeichen. Das bei Barthes abgebildete Zeichen wird [mu] ausgesprochen. 16 Barthes: Das Reich der Zeichen, S. 16.

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eigenes Zeichensystem bildet, in der Wahrnehmung des Beobachters zu einem offenen Raum von Erscheinungsorten des (für ihn) Unmöglichen. Das Durchschreiten dieses Raumes, das eher sporadisch als systematisch erfolgt, impliziert dabei schon eine andere Logik als die gewohnte westliche, und diese andere Logik wird vor allem in der sprachlichen Struktur offenbar: So schreitet im Japanischen das Subjekt der Äußerung wegen der Überfülle an funktionalen Suffixen und der Komplexität der enklitischen Zeichen nur über vielfältige Vorbehalte, Wiederaufnahmen, Verzögerungen und neuerliches Beharren voran, deren Volumen (von einer einfachen Wortreihe könnte man hier nicht mehr sprechen) das Subjekt zu einer großen leeren Sprachhülle macht und nicht zu jenem vollen Kern, der unsere Sätze – von außen und von oben – vorgeblich lenkt. Und so ist das, was uns als Übermaß der Subjektivität erscheint (der Japaner, sagt man, äußert Eindrücke und nicht Feststellungen), eher eine Art Auflösung, ein Ausbluten des Subjekts in eine bis zur völligen Leere parzellierte, partikularisierte und zerstreute Sprache.17

Die »rauschende Masse« dieser unbekannten Sprache bildet, wie Barthes weiter ausführt, für den Fremden »eine delikate Abschirmung«:18 Sie hüllt ihn »in eine Haut von Tönen« und umschließt ihn mit einer Fülle faszinierender Schriftbilder. Doch gleichzeitig wird der Fremde vom Sinn dieser Zeichenfülle abgetrennt und in eine »künstliche Leere«19 hineinversetzt, die ihn zwar von der Kommunikation abschneidet, seine Aufmerksamkeit gleichzeitig aber auf andere Prozesse lenkt, die in diesem kulturellen Zwischenraum um die für ihn leeren Zeichen herum, zwischen diesen oder zwischen ihnen und den Subjekten ablaufen; Prozesse, die man unter anderen Voraussetzungen kaum oder überhaupt nicht wahrnehmen würde. Was genau erschließt sich der Wahrnehmung, wenn man sich in einem Reich leerer Zeichen bewegt? Welche Möglichkeiten ergeben sich, Sprache bzw. Schrift anders aufzufassen oder etwa das von der Sprache implizierte Subjekt auf andere Weise zu denken, d. h. nicht mehr als autonomes und souveränes Subjekt, sondern eher als einen differentiellen Kristallisationspunkt im transkulturellen Dazwischen? Mit Fragen wie diesen werde ich mich im Folgenden auseinandersetzen, indem ich die Voraussetzungen und den Wirkungsraum der sinnlichen Wahrnehmung von Schriftzeichen, die erst in einem solchen sprachlichkulturellen Raum der Differenzierung möglich wird, zu erkunden suche.

17 Ebd., S. 20. 18 Ebd., S. 22. 19 Ebd.

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Problem Die vorliegende Untersuchung geht über diese Zielsetzung noch hinaus, wenn sie gleichzeitig den Versuch unternimmt, etwas, das in unserer kulturell bedingten Wahrnehmung verdeckt bzw. nicht sichtbar ist oder unauffällig und unscheinbar wirkt, dem Denken zugänglich zu machen, jedoch unter der Maßgabe, dass es als etwas dem eigenen Wahrnehmungsraster Äußerliches markiert wird. Dieses Bestreben lässt sich zudem vorbehaltlos mit der Absicht Xu Bings in Einklang bringen, »die Trägheit des gewohnten Denkens«20 herauszufordern, um mit seinen Kunstwerken einen »weiten, ungenutzten Erkenntnisraum« zu eröffnen, in dem »lang vergessene, grundlegende Quellen der Erkenntnis und des Verständnisses wiederentdeckt werden [können]«.21 Xu Bing bezieht sich dabei auf die chinesische Gegenwartskultur, die, wie er sagt, nach Jahren des Vergessens und der Auslöschung ihre Quellen der philosophischen Erkenntnis, ihre Weisheitskultur und ihre alte Schriftkultur wiederfinden müsse. Aus der Verbindung dieser beiden Intentionen lässt sich die Problemstellung einer vergleichenden Ästhetik präzisieren, der es darum geht, alternative Wahrnehmungs- und Denkmöglichkeiten zu finden, um sich mit dieser Maßgabe mit anderen Kulturen auseinanderzusetzen: mit deren Sprache und Schrift sowie ihrer Geschichte, mit der Art und Weise, wie Zeichen miteinander kombiniert werden, aber auch mit ihren ästhetischen Wahrnehmungsweisen, mit ihren Subjektivierungstechniken sowie mit Praktiken und Strategien, die uns auf den ersten Blick unverständlich oder sogar unmöglich erscheinen mögen. Allerdings wäre all das mit der werkimmanenten Deutung eines oder einer Reihe von Kunstwerken nicht getan, denn sowohl die Lektüre als auch die Kunstbetrachtung erfolgen auf der Grundlage bereits vorgefertigter Bedeutungen innerhalb einer gegebenen Wissensordnung. Eine vergleichende Ästhetik muss vielmehr den diskursiv-epistemischen Rahmen, d. h. die Wahrnehmungsraster und Wissensordnungen, deren Geltungsbereiche geokulturell spezifiziert sind, in den Blick nehmen und seine Grenzen gegebenenfalls überschreiten, um außerhalb dieses Rahmens zu denken. Die Infragestellung dieser Grenzen schließt das Wagnis ein, bislang vertraute Wahrnehmungsmuster und Sinnzuweisungen außer Kraft zu setzen, was gleichzeitig heißt, dass die gewohnten Ordnungen des Denkens sich plötzlich aufzulösen beginnen können. Genau darin liegt die Herausforderung für die Komparatistik, die, wenn sie der Alterität der Kulturen gerecht werden will, es vermeiden muss, das Andere als das Fremde vom Eigenen zu isolieren, um es zum Objekt von Praktiken der 20 Glenn Harper: »Exterior Form – Interior Substance. A Conversation with Xu Bing«, in: Sculpture 22 (2003) 1, S. 46–51, hier S. 48. 21 Ebd.

Problem

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Kolonialisierung oder des Ausschlusses zu machen. Ebenso wenig aber darf sie sich dazu verführen lassen, bei ihren Vergleichen überall nach Gemeinsamkeiten zu suchen, was bedeuten würde, das Andere zu absorbieren und den Abstand, der uns von ihm trennt, zu eliminieren. Stattdessen gilt es, den Zwischenraum der Kulturen, der zugleich ein Raum des unbestimmten und erschütterten Sinns ist und das Erkenntnissubjekt mit der Sinnleere konfrontiert, zu erkunden und die Distanzen und Abstände wirken zu lassen. Die Leere stellt dabei kein Manko dar, sondern bietet die Möglichkeit, sich vom Gewohnten und Vertrauten zu lösen. In gewisser Weise folgen diese Überlegungen dem Weg, den Foucault in der Ordnung der Dinge (1966) vorgezeichnet hat, als er im Zusammenhang mit der von Borges erwähnten chinesischen Enzyklopädie fragte, was eigentlich für uns zu denken unmöglich sei und in welcher Art von Ordnung die Gründe dafür zu suchen seien.22 Aber im Unterschied zu Foucault, für den die Fremdartigkeit dieser Enzyklopädie einen Außenstandpunkt eröffnet hatte, von dem aus er eine Reflexion der eigenen Rationalitätsformen vornehmen konnte, wird hier nach dem Abstand zwischen der kulturell anders geprägten ästhetischen Wahrnehmungsweise zu der unsrigen gefragt werden. Foucault hat sich durch die Unmöglichkeiten der (fiktiven) chinesischen Enzyklopädie, genaugenommen also durch den Abstand zum Fremden zu einer Analyse der abendländischen Wissensordnungen anregen lassen, wobei die Erkenntnis der Grenzen des westlichen Denkens die Beschreibung seiner diskursiven Regelmäßigkeiten ermöglichte. Im vorliegenden Fall geht es jedoch darum, eine Diskurskomparatistik zu begründen, die sich selbst in einem transkulturellen Dazwischen (l’entre; in-between) situiert. Nicht nur für Barthes, sondern auch für Foucault stellt Japan so etwas wie ein epistemologisches Ereignis dar. Während seines zweiten Japan-Aufenthaltes im Jahre 1978 machte er im Hinblick auf die Krise der abendländischen Philosophie eine Bemerkung, die als programmatisch für die vorliegende Untersuchung verstanden werden kann: Wenn es denn eine Philosophie der Zukunft gebe, so Foucault, dann müsse sie »außerhalb Europas entstehen, oder sie muss als Folge von Begegnungen und Erschütterungen zwischen Europa und Nicht-Europa entstehen«.23 Weit entfernt davon, eine Lösung für die Krise der abendländischen Philosophie anbieten zu wollen, versucht diese Arbeit, jenen Zwischenraum, in dem sich solche »Begegnungen und Erschütterungen« abspielen könnten, in ästhetischer Hinsicht und in seiner epistemologischen Funktion zu charakterisieren. 22 Vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971, S. 17f. 23 »Michel Foucault und das Zen: ein Aufenthalt in einem Zen-Tempel«, in: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001–2005, Band III, S. 776–782, hier S. 781 (im Folgenden zitiert als: Schriften).

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Gegenstandsbereich Der Ausgangspunkt der Untersuchung ist, dass die Vielzahl der Abstände, die in diesem Zwischenraum sichtbar werden, es erlaubt, Positionen von Exteriorität zu finden, um durch die Distanz zum Gewohnten bislang unverfügbare Wahrnehmungs- und Denkräume zu eröffnen. Mit ihrer Problemstellung schließt sie damit an meine 2003 veröffentlichte Monographie zu Foucaults Sprachontologie und zu seiner diskursanalytischen Konzeption moderner Literatur an,24 allerdings unter völlig anderen Prämissen und mit einer anderen Zielsetzung. Ging es dort noch um die Frage, wie sich in der französischen und deutschen Literatur ein Diskurs über den Nicht-Diskurs konstituiert und auf welche Weise dieser besondere Diskurs adäquat beschrieben werden kann, so behandelt die vorliegende Untersuchung den westlichen Diskurs über die Wahrnehmung der für die europäischen Gelehrten lange Zeit nicht lesbaren bzw. unleserlichen chinesischen Schriftzeichen, womit sich das Untersuchungsgebiet in zwei Richtungen erweitert hat: zum einen über die Grenzen des westlichen Kulturkreises hinaus und zum anderen die Grenzen von Literatur überschreitend.25 Dafür werden zwei Erkenntnisinteressen miteinander verbunden: einmal die Auseinandersetzung mit der chinesischen Schrift und Literatur in Europa, vorrangig jedoch im deutschsprachigen Raum, beginnend mit Athanasius Kircher und Gottfried Wilhelm Leibniz, daran sich anschließend die dichterische Rezeption chinesischer Schriftkultur durch Ludwig August Unzer, Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Rückert, und endlich die Verarbeitung japanisch-chinesischer Poetiken und Kunstauffassungen bei Max Dauthendey und Max Kommerell; auf der anderen Seite dann die im westlichen Denken lange Zeit nicht-diskursivierte Ästhetik des Faden und unscheinbar Blassen, wie sie in chinesischen Poetiken der Tang- und Song-Zeit in ihrer ganzen Subtilität entfaltet wurde. Eng damit verknüpft ist die Fragestellung, ob sich in der ostasiatischen Zeichenästhetik etwas finden lässt, das im Abendland nicht oder nur unzureichend benannt und erfasst wurde, weil es außerhalb des eigenen Wahrnehmungsbereichs lag bzw. nicht den in der westlichen Ästhetik etablierten Qualitäten entsprach. Um hier eine auch 24 Vgl. Arne Klawitter: Die »fiebernde Bibliothek«. Foucaults Sprachontologie und seine diskursanalytische Konzeption moderner Literatur, Heidelberg: Synchron 2003. 25 Wobei noch zu fragen wäre, ob es in anderen Kulturen überhaupt so etwas gibt wie das, was wir als ›Literatur‹ bezeichnen, bzw. ob nicht das, was wir in anderen Kulturen so nennen, nicht das Ergebnis unserer Suche nach einem Äquivalent ist als Folge unseres Verständnisses, dass eine ›Hochkultur‹ selbstverständlich eine Literatur besitzen müsse. Was dabei allerdings ausgeblendet wird, sind die Unterschiede zwischen dem, was für uns ›Literatur‹ ist, und dem Korpus von Schriften, die wir in anderen Kulturen vorfinden, die womöglich aber auf eine ganz andere Weise funktionieren bzw. funktioniert haben. Diese Frage spielt auch für die europäische mittelalterliche ›Literatur‹ eine Rolle, bspw. für zum Teil gereimte Fach- und Sachliteratur, Zaubersprüche, Segensformeln, Rezepte usw.

Gegenstandsbereich

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nur halbwegs befriedigende Antwort geben zu können, wäre in Hinblick darauf in der Auseinandersetzung mit der ostasiatischen Schriftkultur, den chinesischen und sino-japanischen Zeichen sowie ihrer Ästhetik nach bestimmten Aspekten oder Phänomenen zu suchen, die sich kontinuierlich in Distanz zum westlichen Denken gehalten oder sich ihm widersetzt haben bzw. in einer Art Spannung zu ihm stehen. Die Frage wäre demnach, ob sich hier, mit Jullien gesprochen, »andere mögliche Seinsformen der Kohärenz«26 finden lassen und wie man sie für eine vergleichende Ästhetik nutzbar machen kann. Dazu bedarf es jedoch verschiedener Vorüberlegungen, da zunächst einmal die für eine diskurskomparatistische Untersuchung notwendigen Begrifflichkeiten gefunden, die Vergleichstatsachen geklärt und die für eine interdiskursive Beschreibung sinnvollen Konfigurationen herausgearbeitet werden müssen. Doch geschieht das alles durchgehend bereits vor dem Horizont, diskursive Formationen aus kulturell verschiedenen Erfahrungs-, Denk- und Wahrnehmungsräumen zu individualisieren und zu beschreiben. Das Projekt folgt einer gewissen Notwendigkeit, die sich für die Germanistik ebenso wie für andere Philologien aus der kulturwissenschaftlichen Wende einerseits und aus der Überschreitung nationalphilologischer Grenzen sowie einer verstärkt interkulturellen Orientierung andererseits ergibt. Man weiß bereits sehr gut, dass kulturelle Unterschiede sowohl bei der Lektüre und Interpretation literarischer Texte als auch in Hinblick auf ästhetische Vorstellungen, Sprachauffassungen und Schriftkonzepte eine fundamentale Rolle spielen, und man ist sich in der Forschung weitgehend darüber einig, dass bei jeder Untersuchung ästhetischer Phänomene die kulturellen Verwurzelungen mit zu bedenken sind, ebenso wie kulturelle Grenzen, aber auch die Überlappung von Kulturen sowie der Austausch zwischen ihnen. Dabei ergibt sich von selbst die Notwendigkeit nachzufragen, inwieweit sich ästhetische Konzepte und literaturtheoretische Ansätze ohne Weiteres auf andere Diskurs- und Kulturzusammenhänge übertragen lassen. Umgekehrt muss dann jedoch ebenfalls danach gefragt werden, wie sich andere Sichtweisen auf unsere Wahrnehmung ästhetischer Phänomene auswirken können, und inwiefern man mit ihrer Hilfe in die Lage versetzt werden kann, die Grenzen der eigenen Wahrnehmungs- und Betrachtungsweisen zu reflektieren und sie zu verschieben. Die vorliegende Studie beschreitet hierbei einen eigenen Weg. Sie will nicht Interkulturalitätsforschung im herkömmlichen Sinne betreiben, sondern mit den unleserlichen Zeichen einer fremden Schriftkultur ein neues Feld der Kulturkomparatistik für die Literaturwissenschaften und die vergleichende Ästhetik erschließen. Bislang hat sich die Komparatistik hauptsächlich auf europäische Sprachen und Literaturen konzentriert mit der Erweiterung auf die kulturge26 Jullien: Der Weg zum Anderen, S. 19.

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schichtlich neuere nordamerikanische sowie teilweise auf die lateinamerikanische Literatur, womit sie aber weitgehend innerhalb ein- und derselben Schriftkultur verblieb. Der ostasiatische Raum hingegen wurde stark vernachlässigt und war bis auf wenige Ausnahmen stets Gegenstand der einzelnen Fachdisziplinen. Noch gravierender wirken sich zwei methodische Schwächen der gegenwärtigen Komparatistik aus, zum einen nämlich, dass sie sich fast ausschließlich auf westliche Rationalitätsformen stützt und damit unterschwellig eine universelle westliche Wahrnehmungs- und Denkweise voraussetzt, und zum anderen, dass sie ihre Theoriekonzepte, Kategorien und Begriffe auf Artefakte aus anderen Kulturkreisen überträgt, ohne die Grenzen eines solchen Theorieexports ausreichend zu reflektieren. Aus diesem Grund werden die kausale Verkettung und die Ausdeutung des Sinns vorerst in der Schwebe gehalten. Die Geltung vertrauter Erklärungsmuster soll hier jedoch bewusst reduziert werden, um die Abstände, Distanzen und Entfernungen hervortreten zu lassen, die wir dann als kulturelle Differenzen wahrnehmen können. Zu diesem Zweck setzt die Analyse bei den Zeichen selbst an. Sie beschäftigt sich, wie eingangs vorgeführt, mit Schriftzeichen jenseits ihrer Signifikation, und zwar im besonderen Fall mit fremden oder fremdartigen Zeichen, die man nicht entziffern und dementsprechend auch nicht deuten kann. Deren Fremdartigkeit führt bereits einen ersten Abstand ein, der sich schließlich im Nicht-Verstehen niederschlägt und sich im Falle der chinesischen Schrift auf einer allgemeineren Ebene als kulturelle Differenz (alphabetische Schrift vs. pleremisches Schriftsystem) bemerkbar macht. Solange wir es mit einer Sprache wie dem Chinesischen zu tun haben, ist die Erfahrung der Differenz begrenzt, da der Zustand des Nicht-Verstehens für einen Europäer, der die Sprache nicht beherrscht, nur vorläufig ist, denn er kann die Sprache erlernen und wird dann auch in der Lage sein, die Schriftzeichen zu lesen. Xu Bings fingierte Zeichen sind für die Untersuchung aber insofern noch interessanter, als hier der Abstand zu den vertrauten Zeichen der eigenen Schriftkultur (in diesem Falle der chinesischen) hinzukommt: Zeichen, die man nie wird entziffern können, obwohl sie auf den ersten Blick höchst vertraut erscheinen. Xu Bings Zeichenkonstrukte versetzen ihre Betrachter unmittelbar in einen Bereich außerhalb eines Sinns. Allein schon deshalb bilden sie den idealen Ausgangspunkt für die theoretische Reflexion einer diskurskomparatistischen Untersuchung. Die Auseinandersetzung mit Xu Bings unlesbaren Schriftzeichen dient in erster Linie dazu, die fest gefügten Rahmenbedingungen unserer Zeichenwahrnehmung aufzubrechen und nach den Voraussetzungen und Möglichkeiten einer post-semiotischen Ästhetik zu fragen, die Zeichen jenseits ihrer signifikativen Funktion betrachtet. Wenn wir uns dann im 6. Kapitel dem eigentlichen Forschungsthema zuwenden, das die Wahrnehmung fremder und nicht mehr notwendig unlesbarer Zeichen innerhalb der westlichen, und hier

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vorrangig der deutschsprachigen Literatur und Philosophie zum Gegenstand hat, so geschieht dies mit dem Ziel, die ästhetischen Signale und Wirkungen zu untersuchen, die von diesen Zeichen ausgegangen sind. Gleichzeitig ist danach zu fragen, mit welchen Diskursen diese fremden Schriften verknüpft und in welche aktuellen Debatten sie eingebunden wurden (gemeint sind damit z. B. die Diskurse über den ästhetischen Geschmack, die Debatte über eine mögliche Universalsprache oder der Streit um die Entzifferung der Hieroglyphen), welche technischen Probleme sie implizierten (z. B. sie korrekt im Druck wiederzugeben) und an welche institutionellen Felder ihre Wahrnehmung angeschlossen wurde (wie Pädagogik, Sprachpolitik und Schriftreform). So gelangt die Untersuchung vom ersten, noch singulären Abstand, den die fremdartigen Schriftzeichen sichtbar werden lassen, über die unterschiedlichen Diskursivierungen (den Konstruktionen von Differenzen), zu den Aussageverkettungen und Äußerungsmodalitäten und schließlich zur diskursiven Kohärenz, die durch ihre Alterität als ein geokulturell anderes Ordnungsgefüge in Erscheinung tritt. Jedoch geht es in diesem Kontext weder darum, eine allgemein verbindliche Nomenklatur zu erstellen, noch darum, eine Typologie jener anderen Kohärenz auszuarbeiten. Der Abstand wird mit Jullien als ein »abenteuerfreudiges Konzept«27 verstanden und soll in seiner erfinderischen und öffnenden Funktion genutzt werden, wobei zu fragen ist, wie groß diese Abstände zwischen Kulturen sein können bzw. müssen, um für uns von Nutzen zu sein. Innerhalb der deutschsprachigen Literatur und Geistesgeschichte werden wir genau dort, wo man sich mit den fremdartigen Schriftzeichen aus Ostasien auseinandergesetzt hat, wie in einem Archiv nach Aussparungen, Leerstellen und nach Spuren von Unsagbarkeiten suchen.

Methode Die methodische Grundlage der nachfolgenden Untersuchungen bildet die Analyse von Diskursformationen, wobei zunächst die Aussagen in Hinblick auf ihre Existenzbedingungen näher zu bestimmen wären. Mit Blick auf die zu verfolgende Taktik wird von vornherein François Julliens »Ortswechsel im Denken«28 im Sinne eines »dépayser la pensée« der Untersuchung als Vorbild dienen. Jullien geht es darum, das Denken den ihm angestammten Ort wechseln zu lassen, indem er es auf einen Umweg über Ostasien, genauer gesagt: China führt, das er im Verhältnis zum westlichen Kulturraum als eine »Exteriorität« 27 Ebd., S. 35. 28 Vgl. dazu François Jullien: Der Umweg über China. Ortswechsel des Denkens, Berlin: Merve 2002.

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bzw. als ein »Außen« (dehors) begreift. Dieser Umweg bietet den Vorteil, andere Arten von Intelligibilitäten in Betracht zu ziehen, wobei das in der chinesischen Kultur verwurzelte Denken als eine andere, gleichermaßen in sich geschlossene und in sich stimmige (bislang aber zum Teil verborgene oder unzugängliche) Kohärenz erscheint und im Sinne eines Umkehreffekts dazu genutzt werden kann, die bereits getroffenen Vorentscheidungen der westlichen Vernunft zu hinterfragen.29 Für Jullien liegt das eigentliche Ziel dieses Umwegs in der Rückkehr zu den Ausgangsbedingungen der westlichen Vernunft (speziell der griechischen Philosophie), was erlaubt, die verborgenen, d. h. unbewussten Vorentscheidungen des Denkens zu hinterfragen und gegebenenfalls zu restrukturieren. Ein »Ortswechsel des Denkens«, wie er ihn im Auge hat, zielt demnach in letzter Konsequenz auf eine Verschiebung der eigenen Denkgewohnheiten und auf eine wissensarchäologische Befragung der »Ausgangsbedingungen der europäischen Vernunft«.30 Doch muss an dieser Stelle auf einige Schwierigkeiten und Hindernisse näher eingegangen werden, die ein solcher Versuch des Ortswechsels mit sich bringt. Julliens Auffassung von China als einem Außen bezieht sich nämlich einzig und allein auf das prämoderne China.31 Er beruft sich dabei auf die Tatsache, dass China und Europa bzw. der westliche Kulturkreis sich sowohl sprachlich als auch (über lange Zeit zumindest) kulturell fremd gewesen seien und sich unabhängig voneinander entwickelt hätten. Sein Denkansatz bleibt damit, wie zu Recht moniert wurde,32 am Motiv des historischen Ursprungs orientiert, weshalb Jullien, um einer solchen Kritik zuvorzukommen bzw. zu begegnen, mehrfach betont hat, dass ›wir‹ Europäer in »unserem anfänglichen Rahmen«33 verwurzelt seien. Diese Aussage impliziert aber einen kulturellen Substantialismus, den Jullien mit dem methodisch allerdings nicht konsequent verfolgten Rückgriff auf Foucaults Konzept der Heterotopie und Derridas Dekonstruktion zu überwinden versucht. Statt zu dekonstruieren, rekonstruiert Jullien unablässig das ›Andere‹ als einen kohärenten Zusammenhang, um daraus ›verfügbarere‹ Begriffe zu beziehen, wie beispielsweise die ›Wirksamkeit‹, die ›Regulierung‹, die ›Prozessualität‹ und den ›Immanenzfond‹. Diese Begriffe verbleiben bei ihm aber weitgehend im Kontext ihrer kulturellen Herkunft, ohne in die abendländische Philosophie oder Ästhetik überführt und dort produktiv gemacht zu werden. 29 Ebd., S. 175–176. 30 Ebd., S. 84. 31 Ein Einwand, den auch Jean-François Billeter gegen Jullien vorgebracht hat (vgl. JeanFrançois Billeter: Contre François Jullien, Paris: Allia 2006). 32 Fabian Heubel: »Foucault auf Chinesisch. Transkulturelle Kritik und Philosophie der Kultivierung«, in: Polylog 19 (2008), S. 23. 33 François Jullien: Chemin faisant. Connâitre la China, relancer la philosophie, Paris: Seuil 2007, S. 85.

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Zwar zeigt er auch verschiedene Sackgassen des abendländischen Denkens auf, die freilich seit Nietzsche und Heidegger hinlänglich bekannt sind, namentlich die Metaphysik und ihre Ontologie des Seins, den abendländischen Subjektzentrismus und seine Dialektik, doch im Unterschied zu Foucault oder Derrida entwickelt er keine genealogische bzw. dekonstruktivistische Methode. Allein schon diese wenigen vorgebrachten Einwände verdeutlichen die Notwendigkeit, Modifikationen am methodischen Gerüst vorzunehmen. An die Stelle eines Kulturvergleichs müsste eine Diskurskomparatistik im Sinne einer transkulturellen Genealogie gesetzt werden, die aus der Dialektik von Eigenem und Fremden heraustritt und kultursubstantialistische Tendenzen überwindet.34 In diesem Zusammenhang wäre ebenfalls zu bedenken, dass Jullien bislang nur einen Teil seines Projekts umgesetzt hat, denn von dem Umweg über China ist er noch nicht wieder zurückgekehrt, und an diesem Punkt gilt es anzusetzen. Darüber hinaus soll nicht verschwiegen werden, dass auch die vorliegende Forschungsarbeit sich von Anfang an mit Risiken konfrontiert sah, geht sie doch zunächst das Wagnis ein, ihre Fragen an Texte zu stellen, die aus anderen Kulturzusammenhängen kommen und bislang von anderen Fachdisziplinen behandelt worden sind als der germanistischen Literaturwissenschaft. Ein weiteres Risiko liegt darin, dass mit Übersetzungen gearbeitet werden muss, die bereits selbst eine kulturelle Transferleistung darstellen und aufgrund dieser Tatsache das gesamte Projekt gefährden könnten. Denn wenn, wie es immer wieder der Fall ist, die Übersetzung kulturelle Abstände verringert, verkleinert oder die Unterschiede mitunter sogar verwischt, dann ist zu fragen, wie sich einem potentiellen Leser dann noch die Distanz zwischen den Sprachen und Kulturen erschließen und wie er jenen Außenstandpunkt beziehen kann, der für eine Untersuchung wie diese notwendig ist? Angesichts solcher Schwierigkeiten ist es erforderlich, die Qualität selbst von anerkannten Übersetzungen erneut und wiederholt zu prüfen. Schließlich ist der Begriff der kulturellen Differenz in sich selbst problematisch und seine Verwendung in kulturkomparatistischen Studien durchaus riskant, weil dabei immer die Gefahr besteht, dass skeptischer Relativismus in einen Universalismus der Differenz umschlägt.35 Solche Bedenken haben durchaus 34 Vgl. dazu Heubel: Foucault auf Chinesisch, S. 28. 35 Erinnert sei an die Bemerkung des Sinologen Heiner Roetz, der, von seinem Kollegen Wolfgang Kubin dahingehend befragt, was er über den französischen Sinologen François Jullien denke, antwortete, dass er dessen Bücher nicht lese, solange dieser auf der Differenz Chinas beharre und behaupte, China sei »das [A]ndere« (vgl. Wolfgang Kubin: »Wider die Neofiguristen. Warum China wichtig, die Sinologie aber unbedeutend ist«, in: Kontroverse über China. Sino-Philosophie, Berlin: Merve 2008, S. 65). Ähnlich grundsätzliche Vorbehalte finden sich dann auch bei denjenigen Kulturwissenschaftlern, die das Konzept der Hybridität dem der Differenz vorziehen und behaupten, dass es in der globalisierten Welt keine wirklichen Differenzen mehr gäbe.

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Einleitung: Sprachenlosigkeit

ihren Grund, denn die Differenz ist ein Begriff der Einordnung, der Unterscheidungen herstellt und Gegensätze schafft. Von Jullien wurde deshalb der Begriff des Abstandes (l’écart) eingeführt. Anders als die Differenz leitet sich der Abstand aus der Entfernung vom Fremden her und eröffnet einen reflexiven Raum, in dem ein doppelt reflexiver Blick möglich wird. Der Begriff des Abstands bietet den Vorteil, dass er nicht von der Setzung einer Verschiedenheit abhängig ist, sondern aus der Erfahrung einer Distanz hervorgeht; er setzt auch keine erhöhte Position des Einordnens und Klassifizierens voraus. Zudem ist er, wie Jullien bemerkt, »weniger analytisch als dynamisch«,36 denn während der eher deskriptive Begriff der Differenz lediglich Kontraste, bestenfalls Definitionen hervorbringt, handelt es sich bei dem Abstand um einen äußerst produktiven Begriff, und zwar in dem Maße, »wie er ein Spannungsverhältnis herstellen kann zwischen dem, was er getrennt hat«.37 Das Ziel einer Kulturkomparatistik, wie sie hier betrieben wird, besteht in erster Linie darin, kulturelle Abstände aufzufinden und ihnen einen Wirkungsraum im Denken zu geben. Denn die Größe der Philosophie ermisst sich, wieder mit Jullien gesprochen, »an dem Abstand […], den sie hervorzubringen in der Lage ist, um das Feld des Denkbaren zu entfalten und neu zu konfigurieren; oder sagen wir, um durch eine Abkehr vom etablierten Denken gedankliche Ressourcen anderer Art, bislang unerforscht oder brachliegend, aufzubieten«.38 In der vorliegenden Arbeit werden China oder Japan39 nicht als kulturelle Homogenitäten thematisiert, deren ›andere‹ Identität damit impliziert wäre, sondern als Sprach-, Wahrnehmungs-, Denk- und Erkenntnisräume, die sich von denen des westlichen Kulturkreises in vielerlei Hinsicht unterscheiden, kurz: es geht um einen Möglichkeitsraum der Distanz, aus dem diskursive Differenzierungen gewonnen werden können. Was damit vorausgesetzt wird, ist nicht China oder Japan als eine ›andere‹ kulturelle Identität, sondern die Eventualität einer andersartigen epistemischen Kohärenz, die Möglichkeit eines Anderswo im Denken. Dem Chinesischen oder Japanischen kommt hier demnach keine andere Funktion zu, als durch den großen Abstand dazu anzuregen, unser »Denken den Ort wechseln zu lassen, um andere Arten von Intelligibilität zu berücksichtigen«;40 es ist der Anstoß zu einer »Dekonstruktion von außen«.41

36 37 38 39

Jullien: Der Weg zum Anderen, S. 33. Ebd., S. 34. Ebd., S. 41. Die in der vorliegenden Arbeit ausgewählten Beispiele kommen vorrangig aus China und Japan, was seinen Grund vor allem darin hat, dass ich mehr als zehn Jahre in diesen beiden Ländern verbracht habe. 40 Jullien: Der Umweg über China, S. 84. 41 Ebd., S. 178.

I.

Vorüberlegungen zu einer Ästhetik des Diversen »Um es ganz deutlich zu sagen, ich verstehe unter Exotismus nur das eine, wenn auch unendlich Große: unser Gefühl des Diversen.« (Victor Segalen) 1

Ästhetische Diversität Einer derjenigen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Fundament zu einer vergleichenden Ästhetik gelegt haben, war George Lansing Raymond (1839– 1929). Er publizierte seine Gedanken und Theorien darüber in sieben Bänden, deren erster 1894 mit einer programmatischen Einführung begann und das Beziehungsnetz von Affinitäten zwischen Proportion und Rhythmus sowie zwischen Farbe und Klang offenzulegen beabsichtigte.2 Raymonds Studien waren ganz der traditionellen Stilgeschichte verpflichtet, orientierten sich an den kanonischen Leitbildern, den »Methoden der großen Meister«3 und zogen zahl1 Victor Segalen: Die Ästhetik des Diversen. Versuch über den Exotismus, Frankfurt a. M.: Fischer 1994, S. 80. 2 Vgl. George Lansing Raymond: Art in Theory. An Introduction to the study of comparative aesthetics, New York/London: G. P. Putnam’s Sons 1894; ders.: Proportion and Harmony of Line and Color in Painting, Sculpture, and Architecture, New York/London: G. P. Putnam’s Sons 1899. Einige der Studien waren allerdings bereits früher entstanden und wurden erst nachträglich in die Reihe eingefügt, so z. B. The Genesis of Art-Form. An essay in comparative aesthetics showing the history of the sources, methods, and effects of composition in music, poetry, painting, sculpture, and architecture, New York/London: G. P. Putnam’s Sons 1893 (später der fünfte Band der Reihe). Bd. 1: Art in theory; 2: The representative significance of form; 3: Poetry as a representative art; 4: Painting, sculpture and architecture as representative arts; 5: The genesis of art form; 6: Rhythm and harmony in poetry and music; 7: Proportion and harmony of line and color in painting, sculpture and architecture. 3 »[…] it is fully as important – to say no more – for the artist to continue to work in accordance with the methods of the great masters as to continue to produce the exact kind of work that they did. And if we inquire into these methods, we shall find that, in art as in religion, philosophy, and science, the one fact which distinguishes not only such characters as Socrates, Aristotle, Confucius, Gautama, Paul, Copernicus, and Newton, but also Raphael, Angelo, Titian, Shakespeare, Goethe, Beethoven, and Wagner, is that they have resisted the influences of traditionalism sufficiently, at least, to be moved as much from within as from without […].« (Raymond: Art in theory, S. V.)

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reiche Verbindungslinien zwischen dem Kunstschaffen zum Teil ganz unterschiedlicher Kulturen. Bei seinem ambitionierten Projekt ging es nicht allein darum, das Beziehungsgeflecht zwischen den verschiedenen Künsten und einzelnen Kunstwerken aufzuzeigen, sondern darüber hinaus, den Merkmalen und Eigenschaften ›höherer Kunst‹ eine Grundlage in der menschlichen Psyche zu geben.4 Im Gegensatz zu einer Suche nach den Bezügen zwischen der sichtbaren Form und des prägnanten Ausdrucks und dem Aufspüren der großen Kontinuitäten sowie der konstanten Wirkungen5 zielt die vorliegende Untersuchung vielmehr auf deren Diskrepanzen und Diskontinuitäten und die damit verbundenen Deplatzierungen und Transformationen ab, auf die Unterbrechungen des Verstehens, aber auch auf ganz unerwartet sich ergebende Relationen und Kontinuitäten, weshalb sie nicht beim allzu Offensichtlichen und wissenschaftsgeschichtlich kontinuierlich Beachteten ansetzt, sondern beim Unscheinbaren und Unlesbaren. Sie beabsichtigt, die Modalitäten einer Ordnung aufzudecken, welche die sinnliche Wahrnehmung der Schrift und ihrer Zeichen präfiguriert und deren Sinn konstituiert. Das Unscheinbare oder Unlesbare erhält in diesem Zusammenhang eine besondere Funktion, sofern es als Index oder Vektor in einem Wahrnehmungsraum aufgefasst wird, der die Aufmerksamkeit auf ästhetische Wirkungszusammenhänge lenkt, die normalerweise durch die Signifikation überblendet werden. Die Suche nach neuen ästhetischen Potentialen korrespondiert weitgehend mit den Vorstellungen einer »Ästhetik des Diversen«, wie sie Victor Segalen in den Blick gefasst hatte, als er den Versuch unternahm, das Fremdartige, Ungewöhnliche, Unerwartete und Überraschende, kurz all das, was ›außerhalb‹ unserer alltäglichen, gegenwärtigen Erfahrung steht und deshalb anders erscheint, in seiner Fähigkeit zu aktivieren, uns anders sehen und anders auffassen zu lassen.6 Eine solche Ästhetik ist, wenn sie praktiziert wird, nicht einfach mehr vergleichend, sondern diversifizierend, d. h. sie vergleicht nicht (passiv) Vorhandenes, sondern schafft (aktiv) Unterscheidungen, bringt eine Vielfalt an 4 Im Vorwort des Buches The Essentials of Aesthetics heißt es: »The phenomena of the arts of the highest class have been traced to their sources in material nature and in the human mind; the different arts have been shown to be developed by exactly similar methods; and these methods have been shown to characterize the entire work of artistic imagination, from the formulation of psychical concepts to that of their most physical expressions in rhythm, proportion and harmony.« (George Lansing Raymond: The Essentials of Aesthetics, New York/London: G. P. Putnam’s Sons 1909, S. III.) 5 »A Beethoven, for example, would have been impossible without a Haydn; a Raphael without a Perugino; a Tennyson without a Keats; Corinthian architecture without Doric; and decorated Gothic without pointed.« (Raymond: Art in Theory, S. 26). 6 Vgl. Segalen: Die Ästhetik des Diversen, S. 41. Segalens Manuskripte gehen auf die Jahre 1908 und 1909 zurück.

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ästhetischen Qualitäten hervor und verdeutlicht diese auf der gedanklichen Grundlage des Abstandes von den gewohnten Wahrnehmungsrastern. Es kann folglich nicht mehr darum gehen, verschiedene, in sich relativ homogene Kulturen, Stile oder Werke aus historisch oder geographisch unterschiedlichen Kulturräumen zueinander in Beziehung zu setzen und sie auf der Basis scheinbar nicht zu übersehender Gemeinsamkeiten miteinander zu vergleichen. Vielmehr gilt es nun, das Wahrgenommene zu entgleichen und die vermeintlichen Gemeinsamkeiten vorübergehend zu vernachlässigen, um so den Blick für die Kontraste zu schärfen und die Abstände im Denken wirken zu lassen.7

Xu Bings Zeicheninstallationen und ihre Indexfunktion Wenn im Verlauf dieser Arbeit immer wieder Bezüge zu Ausstellungen des chinesischen Künstlers Xu Bing hergestellt werden, dann geschieht dies in erster Linie deshalb, weil sich an seinen Kunstwerken sehr anschaulich wichtige Grundzüge einer diversifizierenden Ästhetik demonstrieren lassen. Seine Zeicheninstallationen führen, eben weil sie visuell sind, ganz konkret in das Thema der Diversität ein, indem sie auf den Abstand vom Gewohnten sowie auf die auf der Ebene der Zeichen unübersehbaren kulturellen Differenzen aufmerksam machen, aber auch auf Momente der Amalgamierung und der Hybridisierung, wobei sie gleichzeitig eine doppelte Reflexion auf beiden Seiten der Betrachtung in Gang setzen. Was seine Kunstwerke aber in erster Linie für die vorliegende Arbeit interessant macht, ist, dass sie die für die Analyse relevanten Problematisierungen von Zeichen deutlich vor Augen führen und dadurch die entsprechenden Wahrnehmungs- und Denkräume eröffnen, die ihrem Charakter nach als transkulturelle Resonanzräume beschrieben werden können. Ein weiterer Grund dafür, dass gerade Xu Bing mit seinen Arbeiten ausgewählt wurde, liegt darin, dass sein geistreiches Spiel mit dergleichen Schriftzeichen und bildhaften Figurationen einem Diskurs über den Nicht-Diskurs eine nachvollziehbare Form, d. h. eine plastische Gestalt zu geben vermag. Mit dem plötzlichen Aussetzen der Signifikation eröffnet die Installation Das Buch des Himmels eine Zwischendimension mit einem ungeahnten ästhetischen Potential, das es, nachdem man sich darüber und die damit verbundenen Implikationen klar geworden ist, auszumessen und zu nutzen gilt.

7 In diesem Sinne merkte Blanchot einmal in einem Aufsatz über Michaux und Borges an, dass es die Aufgabe der Kritik sei, jeden Vergleich unmöglich zu machen; Maurice Blanchot: »L’infini et l’infini«, in: Henri Michaux, hg. von Raymond Bellour, Paris: Ed. de l’Herne 1966, S. 73–87, hier S. 80.

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Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als werde im Buch des Himmels die Frage nach dem Ursprung der Schrift und ihrer Bedeutung gestellt. Der Titel der Installation deutet bereits auf ihre himmlische Abstammung, so, wie sie in den chinesischen Mythen überliefert ist. Doch geht die Bezeichnung Tianshu, also »Buch des Himmels« oder »Himmlische Bücher«, unter der diese Ausstellung bekannt geworden ist, keineswegs auf den Künstler selbst zurück. Der ursprüngliche Titel lautete The Mirror of the World: An Analyzed Reflection of the End of this Century8 und positionierte die präsentierten Zeichen am Ende einer langen Kulturgeschichte, wo sie schließlich nichts oder nicht mehr bedeuten. Der von den Kuratoren der Ausstellung gewählte Titel Buch des Himmels ist folglich irreführend. Die Installation impliziert gerade nicht die Suche nach dem himmlischen Ursprung der Zeichen, wie es das große Wörterbuch Shouwen jiezi oder die chinesischen Mythen auf ganz unterschiedliche Weise tun. Sie verabschiedet sich vielmehr mit ihren unlesbar gewordenen Zeichen von jener übermächtigen Diskurstradition, die den Ursprung der Schrift bis zu den Göttern oder doch wenigstens bis zum legendären Gottkaiser zurückzuverfolgen suchte.9 In einem Interview, in dem Xu Bing auf diese Tradition zu sprechen kommt, hält er sein Werk mit Hilfe einer Parabel auf die gebotene Distanz zu einem solchen Ursprungsdiskurs: jedes mal, wenn ich es nicht umgehen kann, meine Arbeit zu erklären, erzähle ich die Legende von Cang Jie aus dem Huai Nan Zi: Vor Zeiten, als es noch keine Schriftzeichen und keine Zeichnung gab, erfand Cang Jie die Schrift. Die Himmel waren so erschrocken, dass sie Hirse regnen ließen, und die Geister waren so verängstigt, dass sie die ganze Nacht klagten. Die Himmel fürchteten, dass sich die Menschen fürderhin um Nebensächliches kümmern und das Wesentliche vernachlässigen würden, dass sie die Landwirtschaft um des kleinen persönlichen Profits willen, den sie durch den Einsatz von Tusche und die Handhabung der Sprache erwerben könnten, aufgeben würden. Es ist überflüssig zu sagen, dass wenn Herz und Kopf so verdorben sind, der Magen Hunger leiden wird. Die Hirse wurde von den Himmeln nicht nur als praktische Vorsichtsmaßnahme gesandt, sondern auch als Warnung. Die Geister fürchteten sich, ihre

8 Einige Museen und Galerien wie die Elite Gallery in Taipei, die im Besitz mehrerer Buchseiten ist, verwenden zur Bezeichnung des Kunstwerks den Doppelnamen: Book from the Sky/The Mirror of the World: An Analyzed Reflection of the End of this Century. 9 Unzufrieden mit der alten Technik des Knotenbindens, so heißt es im Vorwort des Wörterbuchs Shuowen jiezi, habe Huangdi, der ›Gelbe Kaiser‹, seinen Untergebenen Cang Jie damit beauftragt, eine Schrift zu erfinden. Sprachforscher gehen davon aus, dass die chinesische Schrift aus Bildzeichen entstand, die in Rinderknochen und Schildkrötenpanzer eingeritzt und etwa um 1500 v. Chr. kodifiziert wurden. Nachgewiesen ist, dass die Schrift als politisches Machtmittel in China eine lange Tradition hat, was nicht zuletzt die Durchführung der großen Schriftvereinheitlichung unter der Herrschaft des Kaisers Qin Shi Huangdi belegt, der im Jahr 221 v. Chr. das chinesische Reich einigte.

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Macht zu verlieren. Daher kommt der Spruch »Himmel und Erde zu erschrecken und die Geister zum Weinen zu bringen«.10

Zur näheren Erklärung seiner Zeichengebilde hat Xu Bing dann gelegentlich auch auf die mythischen Überlieferungen verwiesen, was aber insofern irreführend ist, als diese ganz anderen Gesetzen gehorchen, als die Figurierungen der Schriftzeichen in seiner Installation. Gegen die weitverbreitete Tendenz, in der Schrift den Ursprung der Kultur zu sehen, da sie lesbare Spuren biete und auf den Ursprung als den Ort der Wahrheit deute, suspendiert Xu Bing die Bedeutung der Zeichen und durchkreuzt die lineare Genese, die Namen und Bild, ursprüngliche und gegenwärtige Bedeutung, Kulturgeschichte und kulturelle Identität miteinander verbindet. Seine Zeicheninstallation konzentriert sich auf den Augenblick, in dem die Zeichen dem Betrachter zwar noch lesbar erscheinen, sich aber de facto bereits als unlesbar erweisen. In jenem Moment, in dem die Zeichen nicht(s) mehr bedeuten, befindet man sich, aus der kulturellen Semiosphäre hinauskatapultiert, in einem bedeutungsleeren Raum: ohne Geschichte, ohne Kultur und Sprache, ohne Identität. Dieser vom kodierten Sinn befreite Raum seinerseits ermöglicht nun das Aufgreifen vollkommen neuer Sicht- und Denkweisen, die sich, den Bedingungen der alltäglichen Kommunikation unterworfen, wenn überhaupt, so doch nur in Ausnahmefällen ergeben würden. Die Unlesbarkeit der simulierten Schriftzeichen ist viel schwieriger zu beurteilen, als man es auf den ersten Blick annehmen sollte. Denn die einzelnen Elemente, aus denen Xu Bing seine Zeichengebilde zusammengesetzt hat, können durchaus signifikant sein und sich auf konventionelle Elemente zurückführen lassen. Nur: Als Ganzes genommen, bedeuten sie nichts. Das Verwirrende liegt gerade in der planvoll suggerierten, subjektiv-imaginären Ausdeutung der Zeichen, bedingt durch ihre teilweise Lesbarkeit, durch den jeweiligen Betrachter. Und dennoch sind diese Zeichengebilde in Bezug auf ihre Bedeutung innerhalb des chinesischen Schriftsystems und Kulturzusammenhangs völlig funktionslos. Sobald man aber diese Ebene verlässt, kann man ihnen sehr wohl eine Funktion zuweisen. Xu Bings semiotische Praxis impliziert weder die Suche nach einem gemeinsamen Ursprung, noch die Synthese von Name und Bild in einem Sinogramm, das sich bis zu den Anfängen der chinesischen Schriftgeschichte zurückverfolgen ließe. Doch an jedem einzelnen der viertausend Zeichen wird dessen imaginäre Herkunft vorgeführt, eine hypothetische Genese aufgezeigt, die aber stets eine Chimäre bleibt, da das, was sich etymologisch überprüfen lässt, gleichzeitig in seiner Gesamtheit doch sofort wieder ad absurdum geführt wird. Diese Art der 10 »Sprachräume«. Xu Bing in Berlin. Ausstellungskatalog Museum für Ostasiatische Kunst, Berlin 2004, S. 15. Deutschen Lesern wurde dieser Mythos schon durch August von Kotzebue in seinem Literarischen Wochenblatt bekannt gemacht (vgl. 1. Band, 1818, Nr. 3, S. 21).

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semiotischen Praxis lenkt die Aufmerksamkeit nicht auf die Genese linearer Entwicklungen, d. h. die Ableitung von einem ursprünglichen Zeichen und die Herleitung der aktuellen Bedeutung, sondern auf die Diskontinuität der unzähligen Formelemente, auf die Modifikationen von Spuren, Strichen, Punkten und Haken, die zusammen ein unentwirrbares Gewebe von Markierungen bilden und das zur Unlesbarkeit deformierte Zeichen zum rein ästhetischen Artefakt werden lassen. Diese Praxis resultiert letztendlich in einer Zerstörung der Genese, die Zeichenfigurationen als Dokumente des Vergangenen behandelt wissen will, indem sie diese auf einen Ursprung, eine Konvention, eine Kulturtradition bezieht und damit eine Kontinuität erlaubt und schafft. Xu Bing hingegen inszeniert eine willkürliche, ereignishafte Zerstreuung von Zeichenspuren und produziert erratische Blöcke von Zeichen, die ihrerseits nichts anderes sind als Monumente des Unlesbaren.

1.

Figurationen des Nichtdiskursiven »[…] Sprechen über das Außen jeglichen Sprechens, Worte über die unsichtbare Kehrseite der Worte […] ein Lauschen nicht so sehr auf das darin Ausgesprochene als auf die Leere in den Worten, auf das Gemurmel, das die Sprache zersetzt, Diskurs über den Nichtdiskurs jeglicher Sprache, Fiktion des unsichtbaren Raums, in dem sie erscheint.« (Michel Foucault) 11

Das Sagbare und das Sichtbare In der westlichen Kultur hat sich in der Neuzeit die Überzeugung durchgesetzt, dass Artefakte eine Art Zeichensystem bilden, eine Sprache, die der Ordnung der Dinge ihre Form aufpräge. Skulpturen, Bauwerke und Bilder sind unter dieser Voraussetzung als »in Stein, Linien oder Farben gefasste Texte«12 gelesen worden. Eine solche Prämisse verlange von einem Kunsthistoriker, wie Foucault meint, ein Kapitell oder eine Buchmalerei dermaßen zu erfassen und zu analysieren, dass er in der Lage sei, aufzeigen zu können, »was dieses Kapitell oder diese 11 Michel Foucault: »Das Denken des Außen«, in: Schriften I, S. 679. 12 Michel Foucault: »Worte und Bilder«, in: Schriften I, S. 795. Foucault bezieht sich hier auf zwei Werke von Erwin Panofsky, die 1967 in französischer Übersetzung erschienen waren (dt. Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, Köln: Dumont 1980 und Gotische Architektur und Scholastik. Zur Analogie von Kunst, Philosophie und Theologie im Mittelalter, Köln: Dumont 1989), sowie auf den Kunsthistoriker Émile Mâle (1862–1954), bekannt durch seine Studien zur Architektur und Kunst des Mittelalters, dt. Die Gotik. Die französische Kathedrale als Gesamtkunstwerk (2. Aufl., Stuttgart/Zürich: Belser 1994).

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Miniatur ›sagen wollte‹«, das heißt also, »das Sprechen [zu] rekonstruieren, wo es sich wegen des unmittelbareren Ausdrucks seiner Worte entledigt hatte«.13 Folgt man Foucaults Argumentation, dann hat Panofsky dieses Privileg des Diskurses gegenüber dem Figurativen aufgehoben und ist dazu übergegangen, »die Komplexität der Beziehungen zu beschreiben«: »Überschneidung, Isomorphie, Transformation, Übersetzung, kurz: das ganze Feston des Sichtbaren und des Sagbaren, das eine Kultur in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick kennzeichnet«.14 Panofsky, so Foucault weiter, habe untersucht, wie sich Diskurs und plastische Darstellung im Verhältnis zueinander bewegen und aufeinander einwirken, wie sich die diskursiven Elemente als Themen durch die Handschriften und die übersetzten und kommentierten Werke ziehen, wie sie in Figurationen Gestalt gewinnen und dabei Modifikationen unterliegen. Am Beispiel von Xu Bings Zeicheninstallationen ließe sich eine weitere Veränderung im Verhältnis zwischen Sichtbarem und Sagbarem namhaft machen, denn in seinen Büchern des Himmels lässt der Künstler den Diskurs gleichsam in der Schriftbildlichkeit verschwinden. Indem er die ursprünglich ›sprechenden‹ Zeichen in stumme Schriftbilder verwandelt, macht er das Unsagbare bzw. das Nichtdiskursive im Sichtbaren zum allgemeinen Thema. Poststrukturalistische Zeichentheorien stellen eine Reihe von Konzepten und Denkfiguren zur Verfügung, mit denen diese nicht-signifikativen Zeichen in ihrer Funktionsweise erfasst werden können. Bedeutsam ist dabei der Gesichtspunkt, dass die von Xu Bing verwendeten Schriftzeichen derart manipuliert sind, dass sie nicht mehr wie gewöhnliche Signifikanten fungieren. Um diese andersartigen Signifikanten ohne referentielle Bedeutung in ihrem besonderen Funktionieren zu beschreiben, bieten sich vor allen anderen zwei Optionen an: Foucaults Literaturontologie und Derridas Grammatologie. In deutlicher Abgrenzung zum strukturalistischen Zeichenbegriff Saussures stellen diese beiden Ansätze zwei unterschiedliche Möglichkeiten dar, Signifikanten unter dem Aspekt des Nicht-Signifikativen zu problematisieren.

Zeichen als ontologische Hinweise Ausgehend davon, dass Xu Bings modifizierte Zeichenkonstrukte nicht bedeuten, ließen sie sich mit Foucault als »ontologische Hinweise« auf das nichtsignifikative Sein der Sprache verstehen. In seinen zwischen 1961 und 1966 verfassten, vornehmlich aus Essays, Vorworten und Rezensionen bestehenden 13 Ebd. 14 Ebd.

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Schriften zur Literatur entwarf Foucault eine »Ontologie der Literatur«,15 die sich eng an Blanchots Überlegungen in L’espace littéraire anlehnt,16 aber auch Gedanken von Bataille (die Überschreitung) und Klossowski (das Simulakrum) aufnimmt. In der Forschung hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass Foucaults Literaturontologie als eine noch unausgereifte Vorstufe der Diskursanalyse anzusehen sei, weshalb man sich nicht weiter mit ihr beschäftigt hat und lediglich versucht worden ist, das diskursanalytische Denken Foucaults für die Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen. Dennoch sind gerade hier wertvolle Anregungen zu finden, vor allem, was die Seinsweise von Zeichen jenseits ihrer Bedeutungsfunktion betrifft. Die Literaturontologie beruht auf der Annahme eines nicht-signifikativen Status der Sprache. Sobald die Wörter beginnen, eine Bedeutung zu vermitteln, wird ihr sprachliches Sein von der Signifikation verdeckt. Doch wenn die Sprache beginnt, sich in sich selbst zu verschachteln, sich selbst zu spiegeln oder zu verdoppeln und somit nur noch auf sich selbst verweist, dann hört sie auf, etwas zu signifizieren, und indiziert stattdessen ein gewissermaßen bedeutungsleeres Sein ihrer selbst. Foucault verwendet gerne die Metapher des leeren Raumes, den die Sprache in sich selbst aushöhlt, womit er sich gegen die verbreitete Auffassung der Selbstreferentialität als einer signifikativen Steigerung wendet. »In der modernen Zeit«, heißt es in der Ordnung der Dinge, »ist die Literatur das, was das signifikative Funktionieren der Sprache kompensiert (und nicht bestärkt)«.17 Aus diesem Grunde erscheine die Literatur auch immer als das, was »in keinem Fall ausgehend von einer Theorie der Bedeutung gedacht werden k[önne]«: Wenn man sie von der Seite des Bezeichneten her (von daher, was sie bedeutet, von ihren ›Ideen‹ her, von ihrem Versprechen und dem her, worin sie sich engagiert) oder von der Seite des Bezeichnenden her (mit Hilfe von der Linguistik oder der Psychoanalyse entlehnten Schemata) analysiert, ergibt sich kaum ein Unterschied, es ist nur eine Episode.18

In Abgrenzung zur Selbstreferentialität führt Foucault deshalb den Begriff der ›Selbstimplikation‹19 ein. Während bei der Selbstreferentialität Zeichen vorausgesetzt werden, die auf ihr Funktionieren in einem Zeichenzusammenhang verweisen und damit zeigen, dass sie zeigen, wird bei der Selbstimplikation die Verweisungsfunktion völlig aufgehoben. Im ersten Fall handelt es sich um ein Sprechen über einen Code, im zweiten Fall jedoch um ein Sprechen ohne Code. Die Figurationen der Sprachverdopplung, die im Grunde genommen keine Si15 16 17 18 19

Michel Foucault: »Die Sprache, unendlich«, in: Schriften I, S. 346. Maurice Blanchot: Der literarische Raum, Zürich: Diaphanes 2012. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 77. Ebd. Vgl. Michel Foucault: »Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes«, in: Schriften I, S. 549.

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gnifikanten mehr sind,20 da sie zeigen, dass sie nicht zeigen, können als Indikatoren eines nicht-signifikativen Seins der Sprache aufgefasst werden, was letztlich nichts anderes heißen würde, als sie als ontologische Hinweise zu lesen. Foucaults auf die moderne Literatur zugeschnittene Sprachontologie hat mit den poststrukturalistischen Ansätzen von Derrida und dem späten Barthes gemein, dass sie das Zeichenmodell von Saussure sprengt. Während aber für die Textualisten die Bedeutung entlang der Signifikantenkette verstreut ist, sieht Foucault sie im Spiel der Verdopplungen aufgehoben bzw. in einer Sinn-Reserve zurückgehalten, wobei Reserve hier nicht als Vorrat zu verstehen ist, sondern als Rückhalt, bei dem der Sinn in der Schwebe gehalten und eine Leere in die Sprache eingegraben wird, in der es nur die unverwirklichte Möglichkeit gibt.21 Blickt man jetzt von Foucaults Literaturontologie aus auf die Zeichenkonstrukte von Xu Bing, dann ist nicht zu übersehen, dass man es hier mit einem äußerst hartnäckigen Versuch zu tun hat, die Bedeutungsfunktion der Zeichen zu suspendieren und die Sprache in ihrem bloßen schriftbildlichen Da-Sein zu präsentieren. Seine unlesbaren Schriftzeichen indizieren, jeglicher Signifikation entledigt, einzig das Sein der Sprache in seiner Opazität. In ihrem zeichenhaften Dasein schaffen diese Zeichenkonstrukte das Simulakrum eines Buches, das letztlich nur aus unlesbaren Zeichen besteht und niemals zum wirklichen Buch wird. Es gibt aber einen wesentlichen Unterschied zwischen Xu Bings Zeichenkonstrukten und den sprachverdoppelnden Figuren in der Literatur, denn diese gehören einem Diskurs an. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass niemand in der Lage ist und wohl auch niemals sein wird, Xu Bings sonderbaren Zeichenimitaten Laute zuzuordnen. Ihre einzelnen Komponenten, die für sich genommen durchaus lesbar sind, ziehen sich, statt einen Verweisungszusammenhang aufzubauen, in ihre stumme und bedeutungsleere Schriftform zurück, doch kann man deswegen nicht einfach sagen, dass diese Zeichenimitate partout keine Zeichen wären. Im Niemandsland zwischen Zeichen und Nicht-Zeichen kreiert Xu Bing Anordnungen von Strichfolgen, die eigentlich jedoch nur An-Deutungen von Zeichen sind. Sie fordern zur Signifikation auf, um bei näherer Betrachtung jeden Gedanken daran sogleich wieder zu sabotieren. Durch die Rücknahme der Bedeutung zugunsten einer Präsenz der reinen Form wird ein signifikativer

20 Im Poststrukturalismus bezeichnet man diesen Sachverhalt als Trennung zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat: »Wenn der Strukturalismus das Zeichen von seinem Referenten getrennt hat, so geht diese Denkweise – oft unter dem Namen ›Poststrukturalismus‹ bekannt – noch einen Schritt weiter: sie trennt den Signifikanten vom Signifikat.« (Terry Eagleton: Literaturtheorie, Stuttgart: Metzler 1988, S. 111.) 21 Vgl. Foucault: Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes, S. 547. Dort ist von einer »noch nicht vollzogene[n] Möglichkeit« die Rede.

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Hohlraum geschaffen, der zu einem assoziativen Spiel von nicht-signifikativen, aber dennoch teilweise signifizierbaren Elementen der Sprache geradezu einlädt.

Die reine Spur der Schrift An den außergewöhnlichen Tatbestand, dass diese in ihren einzelnen Komponenten sehr wohl verständlichen Zeichengebilde in ihrer Gesamtheit dann dennoch stumm und ohne Sinn oder Referenz sind, ließe sich eine zweite Konzeptualisierung anschließen, nämlich ausgehend von Derridas Gedanken einer »Schrift vor dem Buchstaben«,22 die er im Zuge seiner Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik entwickelt hat und die darauf abzielt, die etablierten philosophischen Kategorien mit ihren binären Oppositionen zu deplatzieren und deren Versuche diskursiver Beherrschung zu unterminieren. Dabei geht es ihm nicht alleine nur darum, sämtliche Oppositionen in Frage zu stellen, die das abendländische Denken seit der griechischen Antike geprägt haben, sofern sie ein hierarchisches Verhältnis implizieren, sondern auch darum, gleichsam im ›Inneren‹ der Philosophie nach Spuren des Anderen zu suchen, um »die Spalte ausfindig zu machen, durch die, noch unnennbar, durchschimmert, was nach der Vollendung (outre-clôture) komm[e]«,23 d. h. nach dem metaphysischen Zeitalter möglich wäre. Hierbei erhält, wie Derrida betont, der Zeichenbegriff eine »exemplarische Bedeutung«, weil »[d]ie Exteriorität des Signifikanten […] die Exteriorität der Schrift im allgemeinen« darstelle: »Ohne diese Exteriorität bricht selbst die Idee des Zeichens zusammen.«24 Der Begriff der ›Exteriorität‹ spielt eine wesentliche Rolle bei der Kritik an der metaphysisch-phonozentristischen Verwurzelung des Sinns in der Stimme sowie an der Sinn-Bestimmung des Seins als Präsenz. »Das anfängliche Wort«, so Derrida, werde »in der Innerlichkeit der Selbstpräsenz als Stimme des anderen und als Gebot vernommen«,25 und zwar über die theologischen Implikationen hinaus als »Stimme des Gewissens«, als »Stimme des Körpers« oder als »Stimme der Natur«: »Das vom Laut im allgemeinen Gesagte gilt a forteriori für die sinnliche Verlautbarung, die Phonie, durch die das Subjekt vermöge des unauflöslichen Systems des Sich-im-Sprechen-Vernehmens sich selbst affiziert und sich im Element der Idealität auf sich selbst bezieht.«26 Auch in der Vorstellung vom Buch als »einer endlichen oder unendlichen Totalität des Signifikanten«, die jedoch eine solche Einheit nur bilden kann, »wenn vor ihr eine schon konstitu22 23 24 25 26

Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 9. Ebd., S. 29. Ebd. Ebd., S. 34. Ebd., S. 26.

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ierte Totalität des Signifikats besteht«,27 erkennt Derrida eine Fortsetzung dieses der Phonopräsenz verpflichteten Denkens. Gegen diese metaphysisch-phonozentristische Tradition stellt er die Idee des Textes als Netzwerk differenzieller Beziehungen, das an seiner Oberfläche ohne Tiefe einzig das freie Spiel der Signifikanten zulässt – wobei das ›Spiel‹ »der Name für die Abwesenheit des transzendentalen Signifikats«28 wäre – und das kein referentielles Außen hat, auf das sich die Lektüre mit Sicherheit beziehen könnte: »Ein Text-Äußeres gibt es nicht.«29 Während das Signifikat nach Saussure als eine innerliche Verbindung von Laut und Präsenz aufzufassen ist, gleicht für Derrida die Bewegung der Signifikanten einer Spur, die »notwendig verborgen [ist]«, da sie »als Verbergung ihrer selbst [entsteht]«, und die deshalb nicht als ›Idee‹ oder ›Konzept‹ vergegenwärtigt (präsentiert) werden könne, sondern »vor dem Seienden«30 gedacht werden müsse. Eine »Ur-Schrift«,31 wie sie Derrida in seiner Grammatologie postuliert, würde also Spuren von Zeichen voraussetzen, die sich aufeinander beziehen, ohne auf ein Signifikat zu verweisen. Bereits in der Grammatologie hat Derrida der chinesischen Schrift im Zusammenhang mit der sprachphilosophischen Debatte über eine nicht-phonetische Schrift besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht. Er bezieht sich dabei auf Leibniz, der die Ansicht vertrat, dass taube und stumme Menschen sich einer nicht-phonetischen Schrift bedienen könnten, weshalb er sie zum Ausgangspunkt seiner Suche nach einer logisch aufgebauten Universalsprache machte.32 Hegel hingegen erblickte im Gegensatz dazu in der Buchstabenschrift ein abendländisches Privileg und sah sie als das Fundament einer »geistigeren« Kultur an: Nur dem Statarischen der chinesischen Geistesbildung ist die hieroglyphische Schriftsprache dieses Volkes angemessen; diese Art von Schriftsprache kann ohnehin nur der Anteil des geringeren Teils eines Volkes sein, der sich in ausschließendem Besitze geistiger Kultur hält. […] Eine hieroglyphische Schriftsprache erforderte eine ebenso statarische Philosophie, als es die Bildung der Chinesen überhaupt ist.33

27 28 29 30 31 32

Ebd., S. 35. Ebd., S. 87. Ebd., S. 274; kursiv im Original. Ebd., S. 82. Ebd., S. 99. Dieser Gedanke wurde von Christoph Gottlieb von Murr aufgenommen und seinerzeit heftig debattiert, vgl. Kapitel 13. 33 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, in: Werke, Band 8, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1979, S. 274 und 276 (§ 459), vgl. auch Derrida: Grammatologie, S. 47.

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Der in Hegels Darlegungen erkennbare Ethnozentrismus ist laut Derrida nichts anderes als ein Effekt der phonozentristischen Tradition, und er zieht daraus die Schlussfolgerung, dass der Logozentrismus »in einem ursprünglichen und nicht ›relativistischen‹ Sinne eine ethnozentrische Metaphysik«34 sei. Dem gegenüber ließe sich die Auffassung von Leibniz, der in der chinesischen Schrift das Modell einer philosophischen und damit der Geschichtlichkeit entzogenen Sprache erkennen zu können glaubte, durchaus schon als ein Ansatz zu einer Dekonstruktion begreifen. Auch wenn Derrida diese frühaufklärerische Vorstellung von der chinesischen Schrift als »eine Art europäische Halluzination« und als »Ausdruck […] eines Verkennens« apostrophiert, das gleichsam »rationalistisch und berechnend«35 sei, so folgt er selbst dann doch auch dem Weg derjenigen Philosophen, die die chinesische Schrift als Alternative zur abendländischen Metaphysik verstanden haben, was vor allem aus der folgenden Bemerkung im ersten Kapitel der Grammatologie hervorgeht: »Die nicht-phonetische Schrift zerbricht den Namen. Sie beschreibt Relationen, nicht Benennungen. Der Name und das Wort, diese Einheit des Atems und des Begriffs, verschwinden in der reinen Schrift.«36 Zwar grenzt sich Derrida im dritten Kapitel der Grammatologie, wo er diese als eine positive Wissenschaft zu etablieren versucht, vehement von der Schriftauffassung der Aufklärung ab, gleichzeitig aber stützt er sich auf dieselben Argumente, wie sie bei denjenigen zu finden sind, denen er eine »interessierte Verblendung« und »Verdunkelung«37 vorwirft. Um zu zeigen, dass weder Leibniz noch Hegel wirklich mit dem Logozentrismus gebrochen haben, konstruiert Derrida seinerseits eine unhaltbare Opposition. Was er bei Hegel als eine »ethnozentrisch[e] Verachtung« kritisiert, sei bei Leibniz ein »Verkennen durch Assimilation« und Gestalt einer »übertriebene[n] Bewunderung«.38 Beide jedoch unterliegen seiner Ansicht nach jener »europäische[n] Halluzination«, die letztlich nichts als »Verblendung« sei. Das Argument aber, das Derrida dann selbst anführt, um eine Schrift vor dem Buchstaben zu behaupten, ist eben das der Möglichkeit einer nicht-phonetischen Schrift, womit er Leibniz im Grunde viel näher steht, als er selbst zugeben möchte. Aus linguistischer Sicht bezieht sich die chinesische Schrift durchaus auf die gesprochene Sprache, doch gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen ihr und den europäischen Buchstabensprachen: Während das vom Alphabet vorgegebene System es erlaubt, mit selbst geringen Kenntnissen von Grammatik und Phonologie einer unbekannten Sprache in ihr verfasste Texte zumindest vorzu34 35 36 37 38

Derrida: Grammatologie, S. 140. Ebd., S. 142. Ebd., S. 47. Ebd., S. 142. Ebd.

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lesen, d. h. die geschriebenen Wörter phonetisch umzusetzen, auch ohne den Sinn zu verstehen, ermöglicht das Kodierungssystem der chinesischen Schriftzeichen (zumindest bis zu einem bestimmten Grad) zugleich deren Verständnis, und zwar unabhängig von allen sprachlichen Kenntnissen. Die chinesische Schrift wird bekanntlich für unterschiedliche phonetische Systeme benutzt, sowohl für das Hochchinesische (Mandarin) als auch für das Kantonesische, und selbst einem schriftkundigen Japaner, der genügend Kanji erlernt hat, ist es möglich, chinesische Texte annähernd zu verstehen, ohne auch nur ein Wort Chinesisch sprechen zu können.39 Dennoch geht Derrida nicht so weit, die chinesische Schrift als eine Verkörperung der »Ur-Schrift« anzusehen.40 Für ihn bleibt die »Ur-Schrift« eine dekonstruktivistische Denkfigur, die nur als Verborgenes präsent sein kann. In Hinblick auf eben dieses Ideal einer Ur-Schrift scheinen Xu Bings Zeichensimulakren im Vergleich zu den realen chinesischen Schriftzeichen noch verführerischer zu sein. Denn mit seinen fingierten Schriftzeichen befreit Xu Bing die chinesische Schrift letztlich von der Präsenz der Stimme. Durch den ebenso raffinierten wie radikalen Entzug des Sinns, durch die Destruktion des Signifikats und die »Exkommunikation« der Stimme41 markieren Xu Bings Bücher des Himmels genau das, was Derrida in der Grammatologie das »Ende des Buches« und den »Anfang der Schrift« genannt hat.42 Auf Xu Bings Zeichengebilde trifft ferner zu, was Derrida in seinem Aufsatz »Die différance« über den graphischen Unterschied zwischen différence und différance angemerkt hatte, sofern dieser »sich schreiben oder lesen, aber […] sich nicht vernehmen [lasse]«,43 also nicht hörbar sei. Der Gedanke eines stummen Spiels der Differenzen, das Derrida mit der reinen Spur der Schrift in 39 Vgl. Christian Stetter: Schrift und Sprache, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 48. Eingeschränkt wird dieses Verständnis allerdings dadurch, dass zur Bezeichnung bestimmter Dinge oder Sachverhalte im Chinesischen dann doch immer wieder andere Zeichen verwendet werden als im Japanischen (und vice versa). Zum Beispiel wird für ›lesen‹ im Chinesischen das Schriftzeichen 看 (kan) benutzt, während im Japanischen das Kanji 読 Verwendung findet (das japanische Verb für ›lesen‹ wäre 読む oder in Hiragana よむ, gesprochen yomu). Dieses Gegenbeispiel ändert jedoch wenig daran, dass der chinesischen Schrift ein nicht-phonetisches Moment eigen zu sein scheint, das besonders im Kontrast zur Buchstabenschrift deutlich hervortritt. 40 Auch wenn ihm dies mitunter unterstellt wird; vgl. David Palumbo-Liu: »Schrift und kulturelles Potential in China«, in: Hans Ulrich Gumbrecht und Ludwig K. Pfeiffer (Hg.): Schrift, München: Fink 1993, S. 159–167. 41 »Exkommunikation« ist hier im Sinne von Louis Marin gemeint als ein »sich auflösen in die buchstäbliche Asignifikanz« (Louis Marin: Die exkommunizierte Stimme. Erinnerungsversuche, Berlin: Diaphanes 2002, S. 193). 42 Derrida: Grammatologie, S. 16. 43 Jacques Derrida: »Die Différance«, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S. 29–52, hier S. 30.

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Verbindung bringt und das er als Voraussetzung dafür ansieht, dass Zeichen überhaupt funktionieren, d. h. aufeinander verweisen können, lässt sich mühelos auf Xu Bings fingierte Schriftzeichen übertragen. Denn diese werden soweit abgewandelt, modifiziert und ›differiert‹, dass sie letztlich wie ein System leerer Signifikanten erscheinen, ausgestreut im Zwischenbereich zwischen Zeichen und Nicht-Zeichen. Sie eröffnen ein freies Spiel von Differenzen, die der realen Schrift vorausgehen und die in ihrer Insistenz und Asignifikanz gleichsam die »Bewegung der Differenz selbst«44 darstellen. In dieser Hinsicht wäre Xu Bings vorgebliche Schrift, die man auch als eine désécriture bezeichnen könnte, als eine »derart erweiterte und radikalisierte Schrift«, die »nicht mehr aus dem Logos« stammen würde, wie es bei Derrida heißt, und mit der die Destruierung oder DeSedimentierung der in der Phonopräsenz verwurzelten Schrift beginnen könnte, eine »Dekonstruktion aller Bedeutungen, deren Ursprung in der Bedeutung des Logos liegt«.45 Folgt man Derridas Überlegungen, dann müsste Xu Bings Entschreibung der chinesischen Schrift als Inszenierung der »reinen Spur der Schrift« auch »Spur vor dem Seienden«46 sein und damit notwendig verborgen. Sie könnte sich nur als Verbergung ihrer selbst zeigen. Das würde bedeuten, dass sie sich nur im Verborgenen präsentieren kann, außerhalb der gewöhnlichen und gewohnten Signifikation, was wiederum impliziert, dass sie nur in der Exteriorität, im nichtsignifikativen Niemandsland der Fiktion (oder der Kunst) in Erscheinung zu treten vermag. Xu Bing hätte somit eine Schrift geschaffen, die den Zirkelkreis von Logo- und Phonozentrismus verlassen würde, jedoch um den Preis, a priori nicht mehr verstanden zu werden und auch nicht mehr vermittelbar zu sein.47

Der Diskurs über das Nichtdiskursive und das Unsagbare im Sichtbaren Zwar sind die Ausgangspunkte von Foucaults Literaturontologie und Derridas Grammatologie von Grund auf verschieden, doch berühren sich beide Ansätze in einem wesentlichen Aspekt. Ihre Gemeinsamkeit beruht auf der Vorstellung von nicht-signifikativen Zeichenspuren, die – für Foucault – die Sprache in ihrem 44 45 46 47

Derrida: Grammatologie, S. 169. Ebd., S. 23. Ebd., S. 82. Im Jahr 2000 kam es zu einer Begegnung zwischen Derrida und Xu Bing, in deren Verlauf letzterer nicht nur lakonisch, sondern geradezu unwirsch reagierte: Derridas Bücher seien zu schwierig für ihn, und würde er sie verstehen, dann könne er womöglich seine Kunst nicht mehr fortsetzen. Das geht aus einem bislang noch nicht publizierten Interview mit Ann Wilson Lloyd hervor; vgl. Ann Wilson Lloyd: »Die verschwindende Tusche«, in: »Sprachräume«. Xu Bing in Berlin, S. 26.

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nicht-signifikativen Sein indizieren bzw. für Derrida, der die Frage nach dem Sinn des (geschriebenen) Seins stellt,48 in der »Bewegung der Differenz selbst«49 die Möglichkeit einer »Ur-Schrift« verdeutlichen. Was nun aber die diskursive Funktion dieser nicht-signifikativen Zeichenspuren angeht, so ließe sich mit Blick darauf ohne weiteres an Foucaults Konzeption eines Diskurses über den Nicht-Diskurs anknüpfen. Im »Denken des Außen« (1966) hat Foucault den Gedanken vom Sein der Sprache in eine diskursanalytische Problemstellung überführt und danach gefragt, in welcher diskursiven Ordnung eben jenes nichtsignifikative Sein der Sprache zur Darstellung gebracht werden könne. Liest man nun die Werke Maurice Blanchots, seine sonderbar zurückhaltenden Fiktionen einerseits, die weniger das Unsichtbare sichtbar machen, sondern zu zeigen versuchen, »wie unsichtbar die Unsichtbarkeit des Sichtbaren ist«,50 und seine nach außen gerichteten Reflexionen andererseits, die mit den Begriffen des Neutrums, der permanenten Infragestellung und Wiederholung operieren und eine Umkehrung der Innerlichkeit bewirken, dann zeichnet sich für den Leser wie für Foucault ein »Diskurs über den Nichtdiskurs jeglicher Sprache«51 ab, der die Unsagbarkeit im Sagbaren zur Sprache bringt, indem er zeigt, wie unsagbar die Unsagbarkeit dessen ist, was das Sagbare überhaupt möglich macht (eben jenes »Sein der Sprache«): Die reflexive, stets nach außen gewandte Geduld und die Fiktion, die sich und ihre Formen in der Leere auflöst, kreuzen einander und bilden einen Diskurs, der keine Schlussfolgerung kennt und kein Bild, keine Wahrheit und keine Verstellung, keinen Beweis, keine Maske, keine Bestätigung, der ohne Zentrum und ohne Heimat ist und seinen eigenen Raum als jenes Außen erschafft, in dessen Richtung und außerhalb dessen er spricht.52

Die Funktion eines solchen Diskurses über den Nicht-Diskurs besteht sui generis genau darin, mit diskursiven Mitteln ein nicht-diskursives Außen zu indizieren. Diese Überlegungen eröffnen eine Reihe von Anknüpfungspunkten für eine theoretische Betrachtung von Xu Bings Zeichenfigurationen. Zunächst einmal lassen sie sich zur inhaltlich leeren Aussage »ich spreche« in Parallele setzen, von der Foucault ausgeht, um die Möglichkeit eines gegenstandslosen Diskurses verständlich zu machen, in dessen Vollzug jedes mögliche Sprechen sich auflöst und das sprechende Subjekt sich zerstreut. Gerade weil dieses »ich spreche« keinen Sinn vermittelt und auf nichts anderes verweist, als auf die offene Position des Sprechenden, konnte Foucault es als ein Beispiel für die Ausbreitung der 48 49 50 51 52

Vgl. Derrida: Grammatologie, S. 25, 35 und 87. Ebd., S. 169. Ebd., S. 678. Ebd., S. 679. Ebd., S. 678.

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Sprache in ihrem rohen Sein begreifen. Vergleichbares geschieht auch bei den Schriftzeichen im Buch des Himmels, denn da jeder Laut und jeder Sinn durch die permanente Differenz und Verschiebung zurückgehalten wird, verharren sie als rein hypothetische Signifikanten stumm und beziehungslos in sich selbst. Ihre Funktion ist ganz auf die von Indizes beschränkt: Sie signalisieren einerseits, dass sie Zeichen sind (oder täuschen es vor), lösen aber andererseits das Versprechen, etwas zu bedeuten, nicht ein. Als solche zeigen sie, dass sie nicht zeigen, und indizieren auf diese Weise ein nicht-diskursives Außen (gewissermaßen als ein präsentatives Symbol53). Xu Bings Zeichengebilde verkörpern so das Unsagbare im Sichtbaren. Ihre Funktion besteht darin, deutlich zu machen, wie unsagbar die Unsagbarkeit der nicht-phonetischen, gleichwohl aber sichtbaren Zeichen ist. Xu Bing schafft einen figurativen Pseudo-Diskurs des Nichtdiskursiven, indem er die Zeichengebilde seiner fingierten Schrift auf die Seiten von Büchern platziert, die von Anfang an für einen Ausstellungsraum bestimmt sind und nicht für die Bibliothek, d. h. für den Betrachter und nicht für den Leser. Als nicht-diskursive Zeichen bzw. als Indizes, die sich weder aussprechen oder lesen, noch verstehen lassen, die sich weder zu einem Syntagma anordnen, noch ein intertextuelles Netz selbstreferentieller Signifikanten ausbilden, die aber gleichzeitig eine Individualität für sich in Anspruch nehmen, behaupten Xu Bings Zeichenkonstrukte ihren Platz, den sie am traditionellen Ort des Buches einnehmen, und geben vor, einen Diskurs zu konstituieren, der letzten Endes nichts anderes ist als ein Trugbild: das einzigartige Simulakrum eines uneingeschränkten, nicht-diskursiven Diskurses.

Das Andere als das Nicht-Diskursivierte Xu Bings Inszenierung nicht-signifikativer Zeichen lässt sich, den vorangehenden Überlegungen folgend, letztendlich als Figuration des Nichtdiskursiven auffassen, genauer gesagt, als die nicht-diskursive Figuration eines stummen, unlesbaren Diskurses. Eine Untersuchung, die nicht einfach nur ein beliebiger kunstkritischer Kommentar des Werkes wäre, sondern allein diese nicht-signifikativen Zeichensimulakren zum Gegenstand hätte, würde, bezogen auf die unlesbaren Schriftzeichen deutlich zu machen versuchen, wie unlesbar die Unlesbarkeit dieser unlesbaren Zeichenfigurationen tatsächlich ist. Sie wäre folglich

53 Vgl. Susanne K. Langer: Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite, and Art, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1942; dt.: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a. M.: Fischer 1965, S. 86ff.

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ein Diskurs über die Nichtdiskursivität dieser nicht-signifikativen Schriftzeichen. In den folgenden Kapiteln soll diese Problemstellung auf das Gebiet der kulturkomparatistischen Ästhetik übertragen werden. Die unlesbaren, nicht-signifikativen Schriftzeichen Xu Bings stehen dabei stellvertretend für all das, was aufgrund historisch gewachsener kultureller Abstände (oder einfach aus bloßer Unwissenheit und Ignoranz der uns fernen Kultur Ostasiens gegenüber) bislang nur wenig thematisiert und dementsprechend auch kaum diskursiviert worden ist. Das Andere erscheint in diesem Fall nicht als das allgemein Nichtdiskursive, sondern als das konkret in der westlichen Kultur Nicht-Diskursivierte. Das ›Andere‹ ist also nicht einfach das schlechthin kulturell Differente, sondern das, was unter den jeweils gegebenen epistemischen Konfigurationen nicht diskursiviert worden ist bzw. nicht diskursiviert werden konnte. Dabei geht es um Zusammenhänge, die dem westlichen Denken womöglich nicht sonderlich bedeutsam erschienen oder aber als absurd empfunden wurden, und es geht um sinnliche Wahrnehmungen, die im westlichen Kulturkreis keinerlei ästhetische Qualität besitzen, während sie in Ostasien der ihnen innewohnenden Subtilität wegen hoch geschätzt werden. Das Nicht-Diskursivierte dient uns hierbei als eine Art Vektor, der die Aufmerksamkeit auf etwas lenkt, was bislang entweder gar nicht oder nur undeutlich wahrgenommen worden ist, weil es zu fremd, unlesbar oder ohne greifbaren Sinn erschien. Um die Momente des Nicht-Diskursivierten sichtbar machen zu können, wird in der vorliegenden Untersuchung notwendigerweise auf Übersetzungen von literarischen, poetologischen und philosophischen Texten aus dem Chinesischen oder Japanischen in westliche Sprachen zurückgegriffen, besonders dann, wenn der Zugang zu den Originalen dem Verfasser sprachlich nicht möglich war. Ferner wird die Arbeit sich auf Studien aus den Fächern der Sinologie und Japanologie oder der interkulturellen Philosophie beziehen müssen, die ihrerseits Übersetzungen und Interpretationen von chinesischen oder japanischen Texten darstellen oder auf solchen gründen und damit per se sämtliche Möglichkeiten der Verfälschung und Verdunkelung mit einschließen. Daraus ergibt sich ein Problem, das für jede komparatistische Methode bezeichnend ist: Die fremden Denkweisen müssen, wenn man sie erfassen und verstehen will, immer in die eigene diskursive Ordnung von Begriffen, philosophischen Ideen und Argumentationsstrukturen transponiert, zumindest aber zu ihr in Relation gesetzt werden. Heißt das aber nicht, die Andersartigkeit dadurch letztlich aufzulösen und auszulöschen? Wenn man sich beispielsweise deutsche Übersetzungen chinesischer Klassiker wie die des Daodejing oder des Yijing aus dem Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts vor Augen führt, dann wird man schnell erkennen, wie die Termini der damals aktuellen westlichen Lebensphilosophie zu Leitbegriffen der Übersetzung gemacht und auf die chinesische Vorstellungswelt

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übertragen wurden. Was bleibt vom chinesischen Begriff dao, wenn man ihn mit dem deutschen Wort ›Sinn‹ übersetzt? 54 Gibt eine solche Übersetzung nicht viel eher zu erkennen, inwieweit sie den eigenen, gerade dominierenden philosophischen oder wissenschaftsideologischen Tendenzen verhaftet ist? Um es an dieser Stelle noch einmal deutlich zu machen: Es handelt sich hier um keine kulturhermeneutische Arbeit. Wenn sie sich der chinesischen oder japanischen Kultur zuwendet, dann versucht die vorliegende Untersuchung keineswegs, deren ›Wesenszüge‹ zu erfassen oder ästhetische Phänomene im Sinne einer originär chinesischen oder japanischen Mentalität zu bestimmen. Für sie steht die diskursive Funktion im Vordergrund; sie fragt nach dem Potential, das ästhetische Phänomene oder einzelne, gezielt für diese Untersuchung ausgewählte, als ästhetisch qualifizierte Konzepte, die sich im ostasiatischen Kulturkreis herausgebildet haben, während sie im Westen weitgehend vernachlässigt wurden, für unser Denken besitzen. Das ›Andere‹ wird dabei in seinem Vermögen aufgefasst, uns anders denken und wahrnehmen zu lassen, was voraussetzt, dem ›Anderen‹ eine Funktion im Verhältnis zu unserem eigenen Diskurs zuzusprechen, und zwar als eine epistemische Exteriorität, als ein Außenstandpunkt, von dem aus die gewohnte Wahrnehmungsweise, d. h. das, was uns vertraut und selbstverständlich erscheint, auf eine andere Weise in den Blick genommen werden kann, um daran die Fragen anzuschließen, ob wir nicht auch anders wahrnehmen und denken könnten, und was wir dann auf diese Weise gegebenenfalls wirklich neu oder anders sehen würden.

Exkurs zur Genealogie der Zeichen Und ringsum wimmeln stets die gleichen phantastischen Ideogramme auf den Papierlaternen. […] Dazu sind die Straßen von oben bis unten mit verwirrenden Schriftzeichen bedeckt. Pfähle mit Schriftzeichen, Täfelchen, Papierlaternen. […] Diese verwirrenden Reihen matter Papierlaternen mit Hieroglyphen! Ist das nicht eine Stadt von Gespenstern, die Schriftzeichen eine Geisterschrift? Ich lese zuweilen, es gibt Schriftzeichen auf diesen matten Lampen aus geöltem Papier, die auf mich wirken wie beschwörende Zauberformeln. (Bernhard Kellermann) 55

Während seiner Japan-Reise fragte sich Roland Barthes, welche Wahrnehmungsweise ein Europäer entwickeln könnte, wenn er in ein Reich von Zeichen eintaucht, deren Bedeutungen er nicht versteht. Wie würde er mit den für ihn 54 Vgl. Richard Wilhelms Übersetzung des daoistischen Klassikers von Laotse: Tao Te King. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Übers. von Richard Wilhelm, Düsseldorf/Köln: Diederichs 1952. 55 Bernhard Kellermann: Spaziergang in Japan, Berlin: Cassirer 1910, S. 7, 27, 80–81.

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stummen Signifikanten umgehen? Als was würde er sie wahrnehmen, wenn nicht als bedeutungsvolle Zeichen? Was eigentlich bewirkt die enorme, ja geradezu aufdringliche Visualität der Zeichen bei einem Fremden, der sie nicht versteht? Was vermag er in der Unterbrechung des Sinns zu erkennen, wofür er vorher keinen Blick hatte? Was könnte er anders oder neu sehen in Hinsicht auf sich selbst? Wie kann er die ihn umgebende signifikative Leere produktiv nutzen?

Abb. 6: Xu Bing, Tianshu (Buch des Himmels), 1987–1991. Detail: Erfundene Schriftzeichen.

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Vorüberlegungen zu einer Ästhetik des Diversen

Als Xu Bing im Jahr 1987 in einer ersten Ausstellung vier Bücher mit unleserlichen Zeichen präsentierte, waren die Betrachter mehr als erstaunt über diese sonderbaren Schriftzeichen. Geduldig und beharrlich versuchten sie, diese zu entziffern, doch alle ihre Bemühungen schlugen fehl. Einige der Besucher waren deshalb verärgert: erwarteten sie doch eine Botschaft, zumindest einen lesbaren Text in einem so sorgfältig nach klassischem Vorbild hergestellten Buch. Andere vermuteten, es handele sich um ihnen unbekannte, weil archaische Schriftzeichen. Was die Irritation der Betrachter dann aber noch steigerte, war, dass sie sehr wohl fast alle Elemente dieser Zeichen entziffern konnten, ohne jedoch zu ihrem eigentlichen Sinn zu finden. Zur optischen Umsetzung seiner Zeichensimulakren griff Xu Bing auf bekannte Wörterbücher wie das Shuowen jiezi zurück und entnahm ihnen reale Zeichen, wie sie tatsächlich verwendet wurden. Diese zerlegte er in ihre Grundelemente, um sie anschließend wieder neu zusammenzusetzen, aber nun in einer Kombination, die weder Sinn ergab, noch lesbar war. Sämtliche der verwendeten Grundelemente waren authentisch und als Schrift überliefert, aber es gab sie nirgends in dieser Zusammensetzung. Gute Kenner der Materie waren zwar zunächst in der Lage, den Schriftzügen zu folgen und Teile eines Zeichens zu begreifen, um dann jedoch plötzlich mit dem eigenen Unvermögen konfrontiert zu werden, die jeweiligen Schriftzeichen als Ganzes weder verstehen, noch lesen zu können.

Abb. 7: Xu Bing, Tianshu, erfundene Schriftzeichen.

Das von Xu Bing angewendete Verfahren lenkt unsere Aufmerksamkeit nach einigem Nachdenken unmittelbar auf die Herkunft der Schriftzeichen überhaupt, gewissermaßen auf deren zeichengenealogische Abstammung. Vergleichbar etwa der Etymologie indo-europäischer Sprachen lässt sich auch die Entwicklung chinesischer Zeichen über viele Jahrhunderte zurückverfolgen. Das eben genannte erste große chinesische Zeichenlexikon Shuowen jiezi aus dem

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zweiten nachchristlichen Jahrhundert umfasst etwa 9400 Schriftzeichen, wobei 540 Radikale (d. h. sinngebende Grundelemente der Zeichen) unterschieden werden. Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Anzahl der Radikale verringert: Das Kangxi-Wörterbuch, das zwischen 1710 und 1716 entstanden ist und als das zweitwichtigste chinesische Zeichenlexikon gilt, hat die Zahl der Radikale bereits auf 214 reduziert. Die überwiegende Zahl der chinesischen Zeichen sind nicht etwa Piktogramme oder Ideogramme, sondern vielmehr Phonogramme bzw. phono-semantische Komposita, die aus einem Lautgeber (Phonetikum) und einem Sinngeber (Radikal) bestehen. Das Phonetikum ist oft auf der rechten Seite des Schriftzeichens zu finden, doch kann es auch links, oben oder unten stehen, was heißt, dass ein Zeichen nur dann wirklich lesbar ist, wenn man es kennt.56 Diese Struktur der Grundelemente wird auch in Xu Bings Zeichenfigurationen beibehalten.

Abb. 8: Xu Bing, Tianshu, erfundenes Schriftzeichen.

Als Ausgangszeichen dient 岩 (yan), was ›Felsen‹ bedeutet und aus den Komponenten 山石 (›Berg‹ und ›Stein‹) zusammengesetzt ist, die untereinander angeordnet sind (Abb. 8). In dem fingierten Kunstzeichen bleibt das obere Zeichen für ›Berg‹ erhalten, während das untere ausgetauscht wird, und zwar durch 疋 (pi), was soviel bedeutet wie ›Stoffballen‹ oder eine ›Rolle aus Stoff‹.57 Obgleich beide Bestandteile als Schriftzeichen real existieren, gibt es das Zeichen in der neuen Zusammensetzung so nicht. Dennoch könnte man es für ein poetisch-imaginäres Zeichen halten oder für eine Art Neologismus, wodurch sich beispielsweise ein Berg von Stoffballen vorstellen ließe.

56 Obwohl circa 90 % der Schriftzeichen ein Phonetikum enthalten, gestehen Sprachwissenschaftler einem Leser die Chance von nur knapp 40 % zu, die Aussprache eines ihm unbekannten Schriftzeichens richtig zu erraten. Ihm bleibt also kaum eine andere Möglichkeit, als die Schriftzeichen auswendig zu lernen; vgl. Insup Taylor und Maurice Martin Taylor: The Psychology of Reading, New York/London: Academic Press, S. 40. 57 In Japan wird das Schriftzeichen heute noch benutzt, um die beiden Stoffbahnen zu bezeichnen, die zur Herstellung eines Kimonos notwendig sind. Dort wird es hiki ausgesprochen.

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Vorüberlegungen zu einer Ästhetik des Diversen

Ähnliches könnte man über das zweite Schriftzeichen oben links in der Abbildung 7 sagen, das sich ebenfalls aus zwei Teilen zusammensetzt. Der obere Teil besteht aus dem Zeichen 止 (zhi) und bedeutet soviel wie ›aufhören‹, der untere Teil aus 方 (fang), was ›Richtung‹ oder auch ›Quadrat‹ meint. Man könnte also das ganze Zeichen im Sinne von ›anhalten‹ deuten, doch gibt es auch dieses Zeichen in der vorliegenden Kombination nirgends außer bei Xu Bing. Das Gleiche gilt für das darunter abgebildete Zeichen, das ebenfalls aus zwei Teilen besteht, wobei das obere Zeichen 甘 (gan) ›süß‹ bedeutet und das untere Zeichen 勿 (wu) soviel wie ›nicht‹ oder ›nein‹. Man könnte hier den Rat oder die Anweisung, nichts Süßes zu essen, hineinlesen, doch auch dieses Zeichen ist in dieser Kombination ein völliges Novum. Das vierte Schriftzeichen unten rechts scheint auf den ersten Blick eine Modifikation des realen Zeichens 危 (wei) zu sein, was soviel heißt wie ›Gefahr, Unheil, Unglück‹, und hier gleichsam verstärkt wird durch das Zeichen 凶 (xiong) mit einer ähnlichen Bedeutung. Letzteres leitet sich vom Radikal 凵 (qu) für ›Grube, Behälter, geöffneter Mund‹ ab und bezeichnet eine »unachtsame Person, die in die Grube gefallen ist«, im Sinne von »verhängnisvoll, vom Pech verfolgt«.58 Die imaginäre Bedeutung des ganzen Zeichens wäre dann in etwa ›ein doppeltes Unglück‹. Ein weiteres Beispiel soll schließlich noch verdeutlichen, wie das Zeichenelement eines erfundenen Schriftzeichens in Kombination mit Elementen realer Schriftzeichen ein Beziehungsnetz konstituiert. Das reale Zeichen 地 (di) mit der Bedeutung ›Erde‹ wird von Xu Bing folgendermaßen modifiziert: Das Radikal für ›Erde‹ 土 bleibt erhalten, während der rechte Teil des Schriftzeichens zu 刂 verkürzt wird, einem Subgraphem von Messer 刀 (Abb. 9).

Abb. 9: Xu Bing, Tianshu, erfundenes Schriftzeichen.

Bei den bislang diskutierten Beispielen handelt es sich um einfache Zusammensetzungen, die eben wegen ihrer Anschaulichkeit ausgewählt wurden. Für komplexere Zeichen, wie sie im Buch des Himmels weit häufiger zu finden sind,

58 Vgl. Edoardo Fazzioli: Gemalte Wörter. 214 chinesische Schriftzeichen – Vom Bild zum Begriff. Ein Schlüssel zum Verständnis Chinas, seiner Menschen und seiner Kultur, 5. Aufl., Wiesbaden: Fourier 1991, S. 104.

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kombiniert Xu Bing nicht nur Radikale, sondern modifiziert sie auch, z. B. durch einige zusätzliche Striche oder durch deren Eliminierung (Abb. 10).

Abb. 10: Xu Bing, Tianshu, erfundenes Schriftzeichen.

Xu Bings Zeichenumgang zerbricht die lineare Kontinuität der Zeichengenese und lenkt die Aufmerksamkeit allein auf die Schriftbildlichkeit. Die etymologische Herleitung eines einzelnen Zeichens ist nicht mehr möglich, und eine Suche nach dem Ursprung seiner Bedeutung vollkommen zwecklos, weil sämtliche Zeichen ihres Klangs, ihres Sinns und ihrer Geschichte beraubt sind; ihre ›Bedeutung‹ liegt einzig und allein in ihrer ästhetischen Präsenz. Andererseits lassen sich ihre einzelnen Komponenten sehr wohl aus den realen chinesischen Schriftzeichen herleiten. Ihre Analyse erfordert eine Zeichengenealogie, die nicht nach dem Ursprung der Zeichenkonfiguration fragt, sondern die Zeichengebilde in ihre Grundbestandteile zerlegt, deren Anordnung untersucht und die Zeichenspuren bis in den Raum des Nicht-Signifikativen verfolgt, um letztlich die ästhetischen Wirkungen zu erfassen, die von den Zeichen ausgehen. Die Zeichengenealogie trägt damit völlig neue Aspekte in eine Zeichenforschung hinein, welche bislang hauptsächlich auf die Etymologie konzentriert war und zum Zweck der Sinnzuweisung die verschiedenen kulturellen Codes ermittelt und das Feld der Konnotationen untersucht hat. Über die Konnotation von Zeichen hinaus weist die Zeichengenealogie aber auf etwas hin, das gewohnheitsgemäß unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle bleibt bzw. indifferent oder unwirksam erscheint. In den 1970er Jahren hat der französische Poststrukturalismus zwei Begriffe in die Zeichenanalyse eingeführt, die auch für die Zeichengenealogie wichtig sein könnten: zum einen das ›Rhizom‹ bei Deleuze/Guattari, welches als Denkmodell den Baum ersetzt und an Stelle des gewachsenen Sinns (ursprüngliche Einheit, Hauptwurzel, Aufspaltung in Nebenwurzeln bzw. Stamm und Verästelung: Etymologie, Linguistik, Strukturalismus) die mannigfaltigen Verfaserungen beschreibt,59 und zum anderen die »Galaxie von Signifikanten«,60 die Roland Bar59 »[I]m Unterschied zu Bäumen oder ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen beliebigen Punkt, wobei nicht unbedingt jede seiner Linien auf andere, gleichartige Linien verweist; es bringt ganz unterschiedliche Zeichenregime und sogar

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Vorüberlegungen zu einer Ästhetik des Diversen

thes ins Spiel bringt, um anhand eines literaturgeschichtlich dem Realismus zuzuordnenden Textes von Balzac zu zeigen, wie ›schreibbar‹ (relativ unlesbar) ein ›lesbarer‹ Text in seiner semiologischen Lektüre sein kann. Diese beiden Begriffe markieren die Spannweite, innerhalb der die Zeichengenealogie operiert. Es geht ihr zum einen um unerwartete Verknüpfungen im Asignifikativen oder Nichtdiskursiven (die Modifikation der Zeichenelemente bei Xu Bing, die letztlich ein zeichenähnliches, asignifikatives Gefüge ergeben) und zum anderen um die Streuung von Signifikanten, die den Sinn, statt ihn zu (ver)sammeln, sternenförmig auflöst.61 Ausgangs- und Fluchtpunkt der Zeichengenealogie liegen im Asignifikativen: Wir durchqueren das Feld der Signifikation, um dabei auf Deutungsweisen, Sinngebungsprozesse und diskursive Strategien zu treffen, die auf den ersten Blick nicht so erscheinen werden, dass sie aus westlicher Sicht veritable Aussagen über das Ästhetische oder akzeptable ästhetische Urteile hervorbringen würden. Als literaturwissenschaftliche Untersuchungsmethode stellt sich für die Zeichengenealogie das Problem der Rückbeziehung auf Texte und damit auf lesbare Zeichen und ihre Bedeutungsprozesse. Andererseits wiederum können die Zeichen auch etwas ganz anderes oder auf eine andere Weise bedeuten, als man es erwarten würde. Wir bewegen uns folglich in einem Grenzgebiet zwischen Asignifikation und Signifikation. Man könnte sagen, dass die Zeichengenealogie an unleserlichen und unlesbaren Zeichen erprobt und an lesbaren und sinnvollen Zeichen durchgeführt wird, die jedoch auf eine ungewohnte und ungewöhnliche Weise funktionieren.

Verhältnisse ohne Zeichen ins Spiel. […] Das Verfahren des Rhizoms besteht in der Variation, Expansion und Eroberung, im Einfangen und im Zustechen. Im Gegensatz zur Graphik, Zeichnung oder Photographie, und im Gegensatz zur Kopie bezieht sich das Rhizom auf eine Karte, die produziert und konstruiert werden muß, die man immer zerlegen, verbinden, umkehren und modifizieren kann, die viele Fluchtlinien, Ein- und Ausgänge hat. […] Anders als zentrierte […] Systeme mit hierarchischer Kommunikation und feststehenden Beziehungen, ist das Rhizom ein azentrisches, nicht hierarchisches und asignifikantes System ohne General.« (Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992, S. 35–36, frz. Erstausgabe [im Folgenden: EA] Paris: Les Éditions de Minuit 1980; vorher dies.: Rhizom, Berlin: Merve 1977.) Im gleichen Kontext findet sich auch die Bemerkung, dass das Rhizom eine »Anti-Genealogie« sei und dass es lediglich ein »Kurzzeitgedächtnis« besitze, womit das Lokale und Diskontinuierliche des Rhizoms unterstrichen wird. »Genealogie« wird hier im herkömmlichen Sinne gebraucht und mit der Entstehung aus einem Ursprung heraus (wie bei der Etymologie) verbunden. 60 Roland Barthes: S/Z, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 10 (frz. EA Paris: Seuil 1970). 61 Vgl. ebd., S. 17.

Konzepte affizierender Ästhetik: Atmosphäre und Resonanz

2.

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Konzepte affizierender Ästhetik: Atmosphäre und Resonanz »Aber während die Philosophie das Staunen durch sichere Erkenntnis zu ersetzen sucht, sieht der Neue Historismus seine Aufgabe darin, im Herzen der Resonanz stets von neuem das Wunderbare zu beleben.« (Stephen Greenblatt) 62

Suche nach einem neuen Leitbegriff In der Einleitung ist bereits auf die Notwendigkeit hingewiesen worden, Modifikationen am methodischen Unterbau vorzunehmen. Der primäre Gegenstand dieser Untersuchung, d. h. die Beschäftigung mit jenen unlesbaren oder unleserlichen Zeichen, macht es unmöglich, auf überkommene semiotische und semiologische Konzepte zurückzugreifen, da diese ausschließlich für signifizierende Zeichen gelten, nicht aber für Zeichen, die zeigen, dass sie nicht zeigen, oder, statt zu signifizieren, die Sinne affizieren. Auch wenn Foucaults Diskursanalyse auf den ersten Blick eine vielversprechende Methode für die kulturkomparatistische Untersuchung von Diskursformationen zu sein scheint, so bleibt der für sie zentrale Begriff der Aussage dennoch problematisch, weil er für die Untersuchung von Zeichenmengen konzipiert worden ist, die einen Anspruch auf Wahrheit erheben, zumindest jedoch ›im Wahren‹ zu sein, und deshalb auch einer Wahrheitsprüfung unterzogen werden können. Für die Analyse der ästhetischen Existenzmodalität solcher Zeichenformationen gilt es, einen Begriff zu finden, der den der Aussage durch etwas funktional Äquivalentes ersetzt und der keinen Wahrheitswert impliziert, nicht einmal einen bestimmten Sinnzusammenhang voraussetzen muss. Um die ästhetische Erscheinungsweise eines Artefaktes oder Zeichengebildes erfassen und begreifen zu können, sind vor allem zwei Termini von Interesse, nämlich ›Atmosphäre‹ und ›Resonanz‹, denn sie beschreiben die Wirkung einer ästhetischen Qualität in einem Raum, in dem sich Subjekte befinden, die durch eine sinnliche Wahrnehmung angeregt werden. Darüber hinaus wären noch zwei weitere Begriffe anzuführen, die häufig im Zusammenhang mit der Atmosphäre gebraucht werden, und zwar ›Aura‹ und ›Stimmung‹. Allerdings ist ihre Verwendung nicht ganz unproblematisch, da ihnen, zumindest im alltäglichen Wortgebrauch, etwas Unbestimmtes anhaftet und sie keineswegs voraussetzungslos gebraucht werden können. So impliziert ›Aura‹ eine Sakralisierung des von außen betrachteten Gegenstandes, während bei der ›Stimmung‹ die Wahr62 Stephen Greenblatt: »Resonanz und Staunen«, in: ders.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, Frankfurt a. M.: Fischer 1995, S. 28.

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nehmung auf eine dem Betrachten zugrundeliegende Subjektivität bezogen wird. Es müsste deshalb zuerst einmal geprüft werden, inwieweit diese Begriffe für die Untersuchung affizierender Zeichen überhaupt geeignet sind. Hilfreich bei diesem Unterfangen waren vor allem die terminologischen Vorarbeiten von Gernot Böhme, der die Atmosphäre mit einer ›neuen Ästhetik‹ verbunden und deutlich gemacht hat, wie man Atmosphären in Umgebungen, aber auch an Dingen oder Menschen empfinden kann.63 Stephen Greenblatt wiederum hat die affektive Wirkung ausgestellter Objekte mit dem Phänomen der ›Resonanz‹ in Zusammenhang gebracht und ihr Verhältnis zum ›Staunen‹ untersucht.64 Für die Begriffe ›Aura‹ und ›Stimmung‹ konnte außerdem auf die Überlegungen Walter Benjamins und Hans Ulrich Gumbrechts zurückgegriffen werden.

Atmosphären als »ergreifende Gefühlsmächte« Eine viel versprechende Möglichkeit, die ästhetische Wirkung eines Artefakts jenseits seiner ihm immanenten Sinnhaftigkeit zu beschreiben, bietet der Begriff ›Atmosphäre‹, der von Gernot Böhme »als Grundbegriff einer neuen Ästhetik«65 eingeführt wurde, die seiner Ansicht nach nicht mehr auf der traditionellen DingOntologie basiert. ›Atmosphäre‹ leitet sich etymologisch vom griechischen atmis, poetisch atmos, her, das ein breites Bedeutungsfeld von ›Dampf‹, ›Dunst‹, ›Rauch‹, ›Duft‹ bis hin zu ›Fluidum‹ umfasst, und mit dem Substantiv sphaira, dt. ›Ball, Kugel, umgebendes Rund‹, verbunden ist.66 Diese Bedeutungsaspekte kommen vor allem dann zum Tragen, wenn man Atmosphären als »ergreifende Gefühlsmächte«67 erfasst, ohne sie in rationale Kategorien einzuordnen und damit aufzulösen. In der Bestimmung von Atmosphären sieht Böhme eine besondere Frage- und Aufgabenstellung der philosophischen Anthropologie, deren Lösung und Beantwortung jedoch dadurch erschwert werde, dass »Atmosphären für jede wissenschaftliche Untersuchung ›Undinge‹ [seien], nicht wirklich existierende Entitäten, allgemeiner noch, dem aufgeklärten Bewußtsein als kulturhistorisch überwunden gelten«.68 63 Vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1995, S. 21ff. 64 Vgl. Greenblatt: »Resonanz und Staunen«, in: ders.: Schmutzige Riten, S. 7–29. 65 Böhme: Atmosphäre, S. 21. 66 Vgl. Michael Bockemühl: »Atmosphären sehen«, in: Neue Ästhetik. Das Atmosphärische und die Kunst, hg. von Ziad Mahayni, München: Fink 2002, S. 203–222, hier S. 208 Anm. 6. 67 Vgl. Gernot Böhme: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 192 mit Bezug auf Hermann Schmitz: Der Gefühlsraum. System der Philosophie, Bd. III.2, Bonn: Bouvier 1969, § 149. 68 Böhme: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 192.

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Für Böhme ist das »Spüren von Anwesenheit«69 so etwas wie das grundlegende »Wahrnehmungsereignis«: Atmosphären werden empfunden, wenn man »affektiv von ihnen betroffen ist«.70 Bei seinem Versuch, eine Definition von Atmosphäre zu geben, vermeidet er bewusst eine philosophische Entwicklung des Begriffs und knüpft stattdessen am lebensweltlichen Verständnis von Atmosphäre an, so, wie man z. B. von der ›heiteren Atmosphäre‹ eines Gartens spricht oder von der ›festlichen Atmosphäre‹ in einem Ballsaal. Wichtig sind ihm dabei vor allem zwei Kriterien: zum einen der Raumbezug und zum anderen der quasiobjektive Gefühlscharakter. In diesem Zusammenhang bezeichnet Böhme Atmosphären als »gestimmte Räume« bzw. als »im Raum spürbare randlos ergossene Gefühle«.71 Folglich können Atmosphären nicht nur durch Personen (in dem Sinne, dass bestimmte Personen eine »gewisse Atmosphäre ausstrahlen«), sondern auch durch spezifische Räumlichkeiten, durch Kulissen oder Bühnenbilder, durch eine bestimmte Beleuchtung und nicht zuletzt durch Musik oder Gerüche hervorgebracht werden.72 Darüber hinaus charakterisiert Böhme Atmosphären als »Umgebungsqualitäten«, die besondere »Befindlichkeiten« im Sinne einer affektiven Betroffenheit ausdrücken, die das Subjekt »von außen her anmutet«.73 Man tritt in eine Atmosphäre ein, während die Stimmung im Gegensatz dazu in der Innerlichkeit des Subjekts entsteht. Zusammenfassend lassen sich mit Böhme vier repräsentative Kennzeichen von Atmosphären bestimmen: Sie sind erstens »etwas zwischen Subjekt und Objekt«, sozusagen deren »gemeinsame Wirklichkeit«,74 haben aber dennoch einen transsubjektiven Charakter. Zweitens vollzieht sich die Erfassung von Atmosphären »in affektiver Betroffenheit«, d. h. sie ergreifen das Subjekt in einer jeweils eigenen Befindlichkeit. Atmosphären sind drittens »quasi-objektive Gefühle«, die von mehreren Subjekten gleichzeitig empfunden werden können, wobei zur Beschreibung dieses Gefühls häufig auf Ausdrücke zurückgegriffen wird, die man, so Böhme, »fälschlicherweise als Projektionen oder metaphorische Redeweisen« kennzeichne, in denen Dingen oder Situationen Gefühlsattribute zugeschrieben würden, wie z. B. »heiter«, »melancholisch« oder »erha69 Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München: Fink 2001, S. 45. 70 Ebd., S. 46. Ergänzend dazu heißt es bei Böhme: »Das grundlegende Wahrnehmungsereignis ist das Spüren von Anwesenheit. Dieses Spüren von Anwesenheit ist zugleich und ungeschieden das Spüren von mir als Wahrnehmungssubjekt wie auch das Spüren der Anwesenheit von etwas.« (Ebd., S. 45) 71 Gernot Böhme: Anmutungen. Über das Atmosphärische, Ostfildern vor Stuttgart: Ed. Tertium 1998, S. 19 und 73. Vgl. auch Hermann Schmitz: Der Gefühlsraum. System der Philosophie, Bd. III.2, Bonn: Bouvier 1969, S. 343. 72 Vgl. Böhme: Anmutungen, S. 73–74. 73 Ebd., S. 86. 74 Ebd., S. 8 und 19–21.

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ben«. Schließlich können Atmosphären auch von der Seite der Objekte her beschrieben werden, worunter »dingliche Attribute und Konstellationen von Dingen und Zeichen in ihrem ekstatischen Charakter« zu verstehen wären, und zwar »in Hinblick auf das, was sie ausstrahlen«.75 Die Atmosphäre bietet Böhme ein neues philosophisches Erklärungsmuster für das primäre Thema der Sinnlichkeit der Wahrnehmung, wozu seiner Ansicht nach nicht die Dinge, die man wahrnimmt, in Betracht gezogen werden müssen, sondern vielmehr das, was von ihnen evoziert wird, also die Atmosphäre, die man in ihrer Gegenwart empfindet. Die Vorstellung des Schönen ist damit nicht mehr vom Geschmacksurteil des Subjekts abhängig: Schönheit ist für Böhme daher nichts weiter als »eine unter vielen Atmosphären, und Kunst ist nur eine besondere Art, mit Atmosphären umzugehen«.76 Mit der Atmosphäre als Leitbegriff versucht Böhme, einer Aisthetik den Weg zu ebnen, die er von der traditionellen Ästhetik abgrenzt, welche in erster Linie eine Urteilsästhetik ist und der es weniger um die sinnliche Erfahrung selbst geht als vielmehr um einen logisch strukturierten Diskurs über ästhetische Wahrnehmung.77 Die Dominanz des Semiotischen in der ästhetischen Theorie habe letztlich dazu geführt, dass nicht mehr die Wirkung des Kunstobjekts betrachtet werde, sondern seine Funktion als Zeichen, sofern es auf etwas anderes verweist, als es selbst ist. Ein Kunstkritiker interpretiere beispielsweise ein Bild, indem er das Dargestellte ausdeute oder die Art und Weise der Darstellung untersuche, statt sich auf die Erfahrung der Präsenz des Dargestellten zu konzentrieren und die Atmosphäre des Bildes wahrzunehmen. Somit sei die Ästhetik zu einer Theorie der Künste und des Kunstwerks geworden, was, verbunden mit ihrer sozialen Funktion, Hintergrundwissen für eine Kunstkritik zu sein, eine »stark normativ[e] Orientierung«78 nach sich gezogen habe, deren Ziel vornehmlich darin bestand, »die eigentliche, die wahre, die hohe Kunst« herauszustellen und das »authentische Kunstwerk«79 in seinem inneren Zusammenhang zu beschreiben.

Aura und Aisthesis Ein wichtiger Bezugspunkt ist für Böhme dabei Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in dem erstmals die Ästhetisierung der Lebenswelt »unter dem Stichwort Ästhetisierung der Po75 76 77 78 79

Ebd., S. 9. Böhme: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 193. Vgl. Böhme: Atmosphäre, S. 23. Ebd., S. 24. Ebd.

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litik«80 behandelt wurde. Allein schon aus diesem Grund sucht Böhme einen Anschluss an Benjamin, der unter Aura »jene Atmosphäre der Distanz und des Achtungsgebietenden« verstand, »die originale Kunstwerke umgibt«,81 wobei es diesem gelungen sei, den Nimbus des Kunstwerks einzukreisen und in die ästhetische Reflexion einzubeziehen. Für Benjamin ist Aura ein »sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit«, die »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«,82 und er illustriert diesen Gedanken dann mit dem folgenden Bild: »An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.«83 Das Phänomen des Fernseins kann auch an Dingen spürbar werden, die uns nahe sind, soweit ein Gefühl von Unerreichbarkeit und Distanz mitschwingt. Diese Spürbarkeit wiederum setzt die Präsenz von Leiblichkeit voraus. Benjamin benutzt in diesem Kontext das Wort ›atmen‹ und deutet an, dass man die Aura, wie Böhme kommentiert, in eine leiblich Ökonomie von Spannung und Schwellung eingehen läßt, daß man sich von dieser Atmosphäre durchwehen läßt […]. Die Aura spüren heißt, sie in die eigene leibliche Befindlichkeit aufzunehmen. Was gespürt wird, ist eine unbestimmt räumlich ergossene Gefühlsqualität.84

So gelangt Böhme letztendlich zu der Feststellung, dass Aura »gewissermaßen Atmosphäre überhaupt« bezeichne, d. h. die »leere charakterlose Hülle«85 der Anwesenheit des Kunstwerks. In den Aufzeichnungen zu seinem Passagen-Werk findet sich eine Stelle, in der Benjamin dann noch einmal genauer auf den Unterschied zwischen Aura und Spur eingeht. »Die Spur«, heißt es dort, »ist Erscheinung einer Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ. Die Aura ist Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.«86 Bereits Adorno hat einen Zusammenhang zwischen Aura und Atmosphäre gesehen. Was bei Benjamin ›Aura‹ genannt wurde, so heißt es in der Ästhetischen Theorie, sei »der künstlerischen Erfahrung vertraut unter dem Namen der Atmosphäre des Kunstwerks als dessen, wodurch der Zusammenhang seiner Mo80 Ebd., S. 25; kursiv im Original. 81 Ebd., S. 26. 82 Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, Band I.2, S. 440. 83 Ebd. 84 Böhme: Atmosphäre, S. 27. 85 Ebd, S. 26. 86 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften, Band V.1, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 560.

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mente über diese hinausweist, und jedes einzelne Moment über sich hinausweisen läßt«.87 Aura ist für Adorno zwar eng mit der Transzendenz der Erscheinung eines Kunstwerks verbunden, akzentuiert aber gleichzeitig die Flüchtigkeit und das Sich-Entziehende und damit eine bestimmte Form der Negativität einer künstlerischen Erscheinung. Eben das aber vermag ein Begriff wie ›Gestimmtheit‹ nicht auszudrücken. Während Benjamin mit dem Begriff der Aura die Ästhetik um eine Dimension erweitert hat, die dem Außenbereich (l’aire) ebenso nahe ist wie der Luft (l’air) und die man ›objektlos‹ nennen könnte, hat Böhmes Atmosphären-Aisthetik diesen bislang unscheinbaren Bereich der Wahrnehmung des Unkörperlichen und Atmosphärischen gedanklich erschlossen. Atmosphären werden in leiblicher Anwesenheit bei Menschen oder Dingen wahrgenommen bzw. in Räumen erfahren, wobei das Subjekt von einem Affekt ergriffen werde. Das Fluidum der Atmosphäre, so Böhme weiter, setze eine »ästhetische Haltung« voraus, die es erlaube, »Atmosphären distanziert auf sich wirken zu lassen«.88

Die subjektive Bedingtheit der Atmosphäre Atmosphären sind für Böhme »die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen«.89 Folglich sind sie weder am Objektiven, d. h. an den Eigenschaften der Dinge orientiert, noch am Subjektiven; sie werden ›hergestellt‹ oder entstehen in einer Situation durch einen speziellen Bezug zum Gegenstand oder zur Umgebung und wirken von außen auf das Subjekt ein. Und dennoch sind Atmosphären für ihn zugleich »subjekthaft«, denn sie »gehören zu Subjekten, insofern sie in leiblicher Anwesenheit durch Menschen gespürt werden und dieses Spüren zugleich ein leibliches Sich-Befinden der Subjekte im Raum ist«.90 Andererseits ist Böhme bemüht, die Atmosphäre als etwas darzustellen, das in einer ›leeren Szene‹, gleichsam ohne impliziertes Subjekt zu entstehen vermag. Das wird besonders in seinem Vortrag »Atmosphärisches in der Naturerfahrung« deutlich, den er 1994 auf der Konferenz Ästhetik und Naturerfahrung in Hannover hielt, wo er den Begriff des Atmosphärischen am Beispiel einer deutschen Nachdichtung eines Haikus von Matsuo Basho¯ einführte und näher zu erläutern suchte:

87 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften Bd. 7, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1970, S. 408. 88 Böhme: Atmosphäre, S. 30. 89 Ebd., S. 34. 90 Ebd.

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Das Läuten verklingt – der Blütenduft steigt herauf, das ist der Abend.91

Wie mit zwei Pinselstrichen, heißt es da, lasse Basho¯ mit den beiden ersten Zeilen ein leeres Szenarium entstehen: »Kein Objekt, kein Subjekt, nichts und doch nicht nichts: Atmosphärisches.«92 Der Raum sei »erfüllt nur von Ton und Duft«, wobei eine gegenläufige Dynamik zu verzeichnen ist: »Das Läuten verklingt und mit ihm entschwebt der Raum und wird dünner, und der Blütenduft steigt herauf, der Raum füllt sich, rückt näher und hüllt ein«.93 Dabei spreche der Dichter »nicht einfach von einem durch Läuten und Blütenduft erfüllten Raum, sondern er führ[e] Läuten und Duft verbal und im Präsens ein und nimmt uns durch diese verbale Präsenz mit hinein in die Szene: Es entsteht Atmosphäre.«94 Erst nachdem die atmosphärische Stille mit dem verklingenden Läuten fühlbar geworden ist, wird sie in der letzten Zeile mit dem Wort »Abend« benannt. Als Ergänzung dazu sei an dieser Stelle die frühneujapanische95 Lautung des Haiku zuerst in lateinischer Umschrift und dann in wörtlicher Übersetzung wiedergegeben: kane ki’ete / hana no ka wa tsuku / yufube kana. Die Alliterationen lassen den Nachhall des Glocken- bzw. Gong-Schlags und die allmähliche Ausbreitung des Klangs im Raum spürbar werden. Die wörtliche Übersetzung wäre: »Glockenschlag erlöschend / Schlägt den Duft von Blüten an / Zum Abendhimmel«. Das tsuku in der zweiten Zeile bedeutet soviel wie ›einen Gong anschlagen‹ und hat eigentlich nichts mit dem Duft zu tun; es ermöglicht aber das synästhetische Ineinander unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen, auf das es hier ankommt.96 Böhmes Darstellung des Atmosphärischen überzeugt an dieser Stelle durchaus. Probleme stellen sich allerdings ein, sobald er versucht, für die mit Basho¯s Haiku eingeführte subjektlose Atmosphäre Parallelen in deutschen Gedichten namhaft zu machen.97 Um ein Beispiel dafür zu geben, »wie das Atmosphärische 91 Nach Matsuo Basho¯: Hundertelf Haiku. Ausgewählt, übersetzt und mit einem Begleitwort versehen von Ralph-Rainer Wuthenow, Zürich: Ammann 1985, S. 24. Böhme hat dabei in der ersten Zeile das Wort ›Glocke‹ durch ›Läuten‹ ersetzt. Dem Original angemessener wäre allerdings, vom langsam verklingenden Glockenklang oder Gongschlag zu sprechen. 92 Böhme: Atmosphäre, S. 66. 93 Ebd. 94 Ebd., S. 67. 95 Unter Frühneujapanisch versteht die Japanologie die Sprachstufe des Japanischen vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die moderne Form von yufube ist dann yu¯be. 96 Für den Hinweis und die Übersetzung danke ich dem Japanologen Robert F. Wittkamp aus Osaka. 97 Böhme räumt selbst ein, dass sich das Atmosphärische »rein als solches kaum in deutscher Naturlyrik finde[]«, wofür er die abendländische Metaphysik verantwortlich macht mit »ihrer Prävalenz des Seins, besser des Seienden gegenüber dem Nichts« (Böhme: Atmosphäre, S. 68– 69), für die das Atmosphärische »dann nur in seinem Korrespondenzverhältnis zu den

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auch ohne das lyrische Ich und seine Reflexionen im Gedicht erscheint«,98 zitiert Böhme Theodor Storms Gedicht »Meeresstrand«: An’s Haf[f] nun fliegt die Möwe, Und Dämm’rung bricht herein; Über die feuchten Watten Spiegelt der Abendschein. Graues Geflügel huschet Neben dem Wasser her; Wie Träume liegen die Inseln Im Nebel auf dem Meer. Ich höre des gärenden Schlammes Geheimnisvollen Ton, Einsames Vogelrufen – So war es immer schon. Noch einmal schauert leise Und schweiget dann der Wind; Vernehmlich werden die Stimmen, Die über der Tiefe sind.99

In diesem Gedicht bleibt die Szene aber keineswegs leer, unbegrenzt und gegenstandsfrei, wie es Böhme an Basho¯s Haiku gezeigt hat. Die Beschreibung der sich ausbreitenden Dämmerung, des aufsteigenden Nebels und der nur schwach vernehmbaren Stimmen täuscht nicht darüber hinweg, dass alles von einem reflektierenden Ich wahr- und aufgenommen wird. Die atmosphärische Stimmung ist hier nicht einfach nur subjektiv gefärbt, vielmehr ist sie Ausdruck einer Subjektivität, die im Reflexionsvorgang eines lyrischen Ichs zur Geltung kommt. Storms Gedicht eignet sich also keineswegs als ein Beispiel dafür, zu zeigen, wie das Atmosphärische »ohne das lyrische Ich« in Erscheinung tritt. Neben dem Auftauchen des ›Ichs‹ an zentraler Stelle in der dritten Strophe gibt es noch weitere Anzeichen eines präsenten Subjekts. So verweist auch der Vergleich »wie Träume« darauf, und die Zeile »So war es immer schon« impliziert eine vom Subjekt getroffene Feststellung, mit der die Zeitlosigkeit und endlose Wiederholung des gleichen Vorgangs zum Ausdruck gebracht wird. Die Atmosphäre wird gleichsam von der Reflexion des Subjekts aufgesogen, bis sich schließlich das Ich in der Natur (in den einsamen Vogelrufen und in den über der Stimmungen des Menschen interessant« (ebd., S. 69) werde. Diese Einsicht hat Böhme aber nicht davon abgehalten, ausgerechnet das nachfolgende Gedicht Storms als ein Beispiel für die subjektlose Atmosphäre anzuführen. 98 Ebd., S. 69. 99 Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden, Bd. 1, hg. von Dieter Lohmeier, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1998, S. 14–15.

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Tiefe vernehmbaren Stimmen) selbst wiedererkennt, womit die Natur in diesem Gedicht sozusagen das Identifikationsmuster für das innerliche Subjekt bildet. Auch mit dem darauffolgenden Beispiel, dem Böhme weitaus mehr Platz einräumt, gelingt es ihm nicht, aufkommende Bedenken zu zerstreuen. Es handelt sich dabei um das Eingangsgedicht zu Stefan Georges Das Jahr der Seele aus dem Jahr 1897: Komm in den totgesagten park und schau: Der schimmer ferner lächelnder gestade Der reinen wolken unverhofftes blau Erhellt die weiher und die bunten pfade. Dort nimm das tiefe gelb das weiche grau Von birken und von buchs der wind ist lau Die späten rosen welkten noch nicht ganz Erlese küsse sie und flicht den kranz Vergiss auch diese astern nicht Den purpur um die ranken wilder reben Und auch was übrig blieb von grünem leben Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.100

Neben dem Imperativ fällt bereits in der zweiten Zeile die Personifizierung ins Auge, was ein kaum zu übersehendes Indiz dafür ist, wie sehr hier die Natur zu einem reflektierenden Subjekt ins Verhältnis gesetzt wird, und auch der Ausdruck »totgesagt« verweist auf eine innere Reflexion. Doch Böhme setzt sich über dies alles hinweg und deutet einfach das Lächeln als Ausdruck für etwas an sich schon »Atmosphärisches gerade wegen seiner Unbegreifbarkeit und seinem Andeutungscharakter«.101 Allein diese wenigen Gegenargumente rücken die Grenzen des Atmosphärebegriffs ins Bewusstsein und zeigen doch recht deutlich, dass es Böhme nicht gelungen ist, sich von der Tradition der Stimmungslyrik zu lösen, was andererseits nun aber unabdingbar gewesen wäre, um eine wirklich ›neue Ästhetik‹ proklamieren zu können. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich dann wiederum die Frage, warum es Böhme ohne Weiteres möglich war, seinen Atmosphärebegriff überzeugend anhand eines japanischen Haiku darzustellen, hingegen nicht an einem deutschsprachigen Gedicht. Mit den von ihm gewählten Beispielen zeigt er entgegen seiner eigentlichen Intention vielmehr auf, inwieweit tatsächlich dasjenige, was er als das ›Atmosphärische‹ bezeichnet, in der westlichen Dichtung nur in seinem Korrespondenzverhältnis zu den Stimmungen eines innerlichen Subjekts von Bedeutung ist. Aus der Interpretation des George-Ge100 Stefan George: Werke. Ausgabe in zwei Bänden, Bd. I, München/Düsseldorf: Küpper 1958, S. 121. 101 Böhme: Atmosphäre, S. 73.

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dichts wird ersichtlich, dass Böhme mit dem Atmosphärischen nichts anderes als eine formidable Konnotationswolke beschreibt. Im signifikativen Nebel erscheinen sämtliche Ausdrücke als ›atmosphärisch‹, die sich nur irgendwie auf die Landschaft (wie »Gestade« oder »Wolken«) bzw. auf Tages- oder Jahreszeiten beziehen lassen. Das Fazit dieser Überlegungen ist, kurz gesagt, dass der Atmosphärebegriff nicht die Anforderungen erfüllt, die sich aus Sicht einer affizierenden Ästhetik an ihn stellen. Zwar wird der sinnliche Wahrnehmungsbereich durchaus erweitert und es werden diverse die traditionelle Ästhetik bestimmende normative Geschmacksurteile verabschiedet, doch lässt sich dieser Begriff ganz offensichtlich nicht ohne Weiteres auf die affektive Wirkung von Zeichen jenseits ihrer Signifikation anwenden.

Der Resonanzbegriff Stephen Greenblatt hat 1990, um ästhetische Wirkung von Artefakten im Rahmen komplexer, dynamischer Kulturkräfte zu beschreiben, in seinem Aufsatz »Resonanz und Staunen« den Begriff der Resonanz zur Diskussion gestellt.102 Auch in der von Richard Murray Schafer begründeten Klangkunst spielt die Resonanz eine wichtige Rolle,103 so bei der Klanginstallation Music on a long thin wire aus dem Jahr 1977, für die Alvin Lucier eine Saite durch kaum spürbare Luftströmungen in Schwingung versetzte, um zu zeigen, wie bereits durch kaum wahrnehmbare Vibrationen lautliche Phänomene erzeugt werden.104 Doch nicht erst mit dem Aufkommen der Klangkunst in den 1960er Jahren ist der Resonanzbegriff als ein ästhetisches Leitkonzept verwendet worden. Seine Geschichte ist viel älter. Bereits im 17. und 18. Jahrhundert entfaltete der Begriff einen erstaunlichen Wirkungsraum jenseits seiner engeren Bedeutung als Klangresonanz von Musikinstrumenten. Johannes Kepler gebrauchte ihn in Anlehnung an die antike Vorstellung der Sphärenmusik bei Pythagoras in seiner Weltharmonik (Harmonice mundi, 1619), wo er das »merkwürdige Beispiel« anführt, »daß eine angeschlagene Saite eine andere nicht angeschlagene mit zum Tönen bringt, wenn sie in konsonanter Weise gespannt ist, eine in dissonanter Weise gespannte 102 Greenblatt: »Resonanz und Staunen«, in: ders.: Schmutzige Riten, S. 7–29 (zuerst in: Bulletin of the American Academy of Arts and Sciences 43/4 (1990), S. 11–34). 103 Vgl. z. B. Richard Murray Schafer: »Soundcape und akustische Ökologie«, in: Klangkunst, hrsg. von der Akademie der Künste Berlin, München/New York: Prestel 1996. 104 Vgl. auch die Chladnischen Klangfiguren, mit denen die ›verborgene Harmonie‹ der Musik sichtbar gemacht werden sollte: Ernst Florens Friedrich Chladni: Akustik, Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1802; dazu Bettine Menke: »Töne – Hören«, in: Poetologien des Wissens um 1800, hg. von Joseph Vogl, München: Fink 1999, S. 69–95.

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aber unbewegt läßt«.105 Und um das Verhältnis zwischen Körper und Seele zu beschreiben, prägte Leibniz in seinen Ausführungen zur prästabilisierten Harmonie nicht nur das Bild von den zwei gleichlaufenden Uhren, sondern auch das der »zwei Saiten, die auf denselben Ton gestimmt sind«.106 Die Saite und ihr Schwingungsvermögen waren in den Resonanztheorien des 17. und 18. Jahrhunderts sowohl Modell für die Seele, als auch für die Nerven. Bei Herder heißt es dazu in seiner vorrangig literaturkritischen Schrift Über die neuere deutsche Literatur (1767): »Da man das Nervengebäude der Empfindung sehr treffend mit einem Saitenspiel vergleichen kann: so merke ich hier an, daß wie eine Saite bloß mit einer gleichgestimmtem harmonisch tönet: so fodert das Wimmern der Elegie gleichsam einen Leser von gleichem Ton der Seele.«107 Im 18. Jahrhundert erschien der Resonanzbegriff ein ideales Modell dafür abzugeben, das in Stimmung versetzte Subjekt in Relation zu einem sinnlich wahrnehmenden Resonanzboden zu beschreiben.108 Es war aber nicht die Unschärfe des Resonanzbegriffs, die dazu geführt hat, dass er seit Ende des 18. Jahrhunderts aus den Human- und Kulturwissenschaften immer mehr verdrängt wurde und nur noch in einzelnen physiologischen Wahrnehmungstheorien zu finden war (Soemmering, Ritter). Gerade weil er eine starke Bezüglichkeit zwischen Anregungs- und Eigensystem betont, die eine Abhängigkeit und Heteronomie impliziert (gegebenenfalls auch im Sinne von Nachahmung, Anähnelung oder Empathie), passte der Resonanzbegriff nicht mehr zur Autonomieästhetik des späten 18. Jahrhunderts, die sich zunehmend gegen Affektation und ›Schwärmerey‹ abzugrenzen suchte. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts ist der Resonanzbegriff vor allem in phänomenologischen Ansätzen zu finden, die bestrebt waren, gegen den Neukantianismus wieder einen Objektivismus im philosophischen Denken durchzusetzen und die Welt als Zusammenhang von ›Spannung und Rhythmus‹ zu erklären. Ernst Barthel führte in diesem Zusammenhang die »Allgemeinkategorie der Polarspannung«109 ein und ging von der Grundannahme aus, dass Einheiten 105 Johannes Kepler: Weltharmonik. Unveränd. Nachdruck der Ausgabe von 1939, 7. Aufl., München: Oldenbourg 2006, S. 99. 106 Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Werke in vier Bänden. In der Zusammenstellung von Ernst Cassirer. Band 2, Hamburg: Meiner 1996, S. 459. 107 Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Bd. 1: Frühe Schriften 1764–1772, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985, S. 495 (vgl. ders.: Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Berlin: Weidmann 1877–1913, 33 Bde., Bd. 1, S. 489). 108 In beschränktem Maße auch bei Goethe, wie der Brief an Schiller vom 5. Juli 1797 bezeugt: »Es ist ein großes Verdienst der Poesie, uns auch in diese Stimmungen zu versetzen, so wie es verdienstlich ist, den Kreis der poetischen Gegenstände immer zu erweitern.« (Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. 3 Bde., hg. von Siegfried Seidel, Bd. 1: 1794–1797, München: Beck 1984, S. 364.) 109 Ernst Barthel: Die Welt als Spannung und Rhythmus. Erkenntnistheorie, Ästhetik, Naturphilosophie, Ethik, Leipzig: Noske 1928, S. 47.

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ontologischer Art »stets nur Spannungseinheiten, Energie-Einheiten, Wachstums-Einheiten« seien, zu deren Wesen es gehöre, »daß sie einen Gegensatz, eine innere Spannung, eine ›Dissoziation‹, also eine Vielheit, in sich tragen, die aber selbst nicht als Summe konkreter Einheiten zu verstehen ist, sondern als die Einheit selbst, die zu ihrem Gedachtwerden der Vorstellung einer Zweiheit bedarf, deren einzelne Pole an sich gar nicht existenzfähig sind«.110 Für Barthel wird die Resonanz zu einer grundlegenden Kategorie vor allem für die Erkenntnistheorie und die Ästhetik, denn »[a]lles Erkennen, von der bloßen Wahrnehmung des Tieres bis zur genialen Logosverbundenheit des Künstlers und Denkers beruht auf Resonanz des Objektiven im Subjektiven, auf der Abgestimmtheit eines mikrokosmischen und eines makrokosmischen Poles, auf dem Echo eines Teiles der Weltharmonie in einem reaktiven Zentrum«.111 Auch wenn sich dieser Gedanke in der westlichen Erkenntnistheorie nicht durchsetzen konnte, blieb der Begriff der Resonanz im Kontext spannungsästhetischer Ansätze virulent.112 Die maßgebliche Grundlage für die Verwendung des Resonanzbegriffs bildet seine physikalische Bedeutung: das Mitschwingen eines von außen angeregten schwingungsfähigen Systems, dessen Eigenfrequenz mit einer Anregungsfrequenz in etwa übereinstimmt. Was den Begriff vor allem so attraktiv macht, ist, dass Resonanzeffekte sich ebenso für den Fall beobachten lassen, wenn Eigenund Anregungsfrequenz voneinander abweichen. In den Kulturwissenschaften findet er aber auch noch über seine physikalische Bedeutung hinaus Verwendung. Roland Barthes kennzeichnet in »Die Rauheit der Stimme« mit Hilfe der Resonanz denjenigen Raum, »in dem eine Sprache einer Stimme begegnet«113 und die »Materialität des Körpers« spürbar werde, d. h. »[i]n der Kehle, dem Ort, wo 110 Ebd., S. 16. 111 Ebd., S. 117. 112 Beispielsweise in der Musikästhetik (die Theorie von den zwölf Elementarspannungen der Oktave; vgl. Barthel: Die Welt als Spannung und Rhythmus, S. 184ff.) oder beim Stimmungskreis der Farben (vgl. Ernst Barthel: Goethes Relativitätstheorie der Farbe, Bonn: Cohen 1922). Die sich bietenden Möglichkeiten der akustischen Figur ›Resonanz‹ für Ansätze, die einer Vorherrschaft des iconic turns in den Kulturwissenschaften entgegenzusteuern versuchen, befragt ein im Jahre 2009 publizierter Tagungsband; vgl. Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur, hg. von Karsten Lichau, Viktoria Tkaczyk, Rebecca Wolf, München: Fink 2009. Die Herausgeber sprechen sogar von einer neuen Tendenz, »die Dominanz des iconic turn zu relativieren und auf die vernachlässigte Bedeutung des Akustischen und der Klangerfahrung zu verweisen« (ebd., S. 15). In diesem Kontext zu erwähnen sind auch das von Petra Maria Meyer publizierte Buch Acoustic turn (München: Fink 2008) und Caroline Welshs Dissertation Hirnhöhlenpoetiken. Theorien zur Wahrnehmung in Wissenschaft, Ästhetik und Literatur um 1800 (Freiburg: Rombach 2003), die den Resonanzbegriff anhand des physiologischen Modells von Euler sowie der Klangfiguren-Modelle von Soemmerring und Ritter und auf der Grundlage eines Zusammenhangs von akustischen Schwingungen, Nerven- und Seelenschwingungen und »Herzensfibern« entwickelt. 113 Roland Barthes: »Die Rauheit der Stimme«, in: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 269–278, hier S. 270 und 271.

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das Lautmetall gehärtet und gestanzt wird […]«.114 Jean-Luc Nancy hat außerdem darauf hingewiesen, dass Körper grundsätzlich als Spannung (tension) gedacht werden können, und die griechische Wurzel des Wortes, tonos, der Ton assoziiert: »Ein Körper ist ein Ton. Und damit sage ich nichts, dem ein Anatom nicht zustimmen könnte: Ein Körper ist ein Tonus.«115 Bei Derrida wiederum taucht der Begriff im Zusammenhang mit der différance auf, wenn das ›a‹ eine Resonanz entwickelt, die nicht mehr den »Akt des Ertönens (résonner)« bezeichnet, sondern »unentschieden zwischen dem Aktiv und Passiv« eines Bewegens und eines Bewegt-Werdens oszilliert.116 Selbst Luhmann greift mitunter auf den Resonanzbegriff zurück, um die Anschlussfähigkeit von Umweltereignissen zu erörtern. Da es aber in der Soziologie keine wirklich maßgeblichen Modelle des In-Schwingung-Versetzens gibt, hilft der Resonanzbegriff hier lediglich als Richtungsangabe für die Analyse von Prozessen intersystematischer Beziehungen.117

›Stimmungen lesen‹ In der Ästhetik des 20. Jahrhunderts ist der Resonanzbegriff vor allem in Verbindung mit dem Begriff der ›Stimmung‹ diskutiert worden. Unter ›Stimmung‹ kann die von äußeren und inneren Umständen abhängige Gemütsverfassung eines Individuums verstanden werden: die »gemütliche Resonanz eines Individuums, die Gefühlsdisposition zu einer bestimmten Zeit im Gefolge von Organempfindungen, Vorstellungen, Erlebnissen heiterer oder trauriger Art«.118 Bei Emil Staiger und Max Kommerell spielt der Begriff der Stimmung eine zentrale Rolle für die Definition des Lyrischen.119 Für Kommerell bezeichnet er das »Wirkliche, Besondere und Bestimmte eines Zustands im Gegensatz zu seinem 114 Ebd., S. 273. Vgl. auch den Aufsatz »Zuhören«, in dem Barthes im ähnlichen Wortlaut über die »Rauheit« der Stimme schreibt: »Die Stimme ist nicht der Atem, sondern durchaus jene Materialität des Körpers, die der Kehle entsteigt, dem Ort, an dem das Lautmetall gehärtet und gestanzt wird« (ebd., S. 259). 115 Jean-Luc Nancy: Corpus, Berlin: Diaphanes 2003, S. 124. 116 Jacques Derrida: »Die différance«, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen 1988, S. 29–52, hier S. 34. 117 Vgl. Marco Schmitt: Trennen und verbinden. Soziologische Untersuchungen zur Theorie des Gedächtnisses, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2009, S. 182–183. 118 Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2. Aufl. Berlin: Mittler 1904, Bd. 2, S. 434. Vgl. auch David Wellbery: »Stimmung«, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. von KarlHeinz Barck u. a., Bd. 5: Postmoderne bis Synästhesie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 703–733. 119 Vgl. Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik, Zürich: Atlantis 1951, S. 11–61 und Max Kommerell: Gedanken über Gedichte, Frankfurt a. M.: Klostermann, 4. Aufl. 1985, S. 9–56.

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allgemeinen Begriff«.120 Das Gedicht bringe durch die spezifische Anordnung, den Klang und den Inhalt seiner Worte einen flüchtigen Seelenzustand zum Erscheinen, sobald das Stoffliche, d. h. das Sprachliche des Gedichts, in Schwingung versetzt wird: »Je mehr das Stoffliche schwingt, desto reiner die Stimmung: eine zu reiche Stofflichkeit gefährdet sie.«121 Neueren Literaturtheorien erscheint am Begriff der Stimmung das hohe Maß an Subjektivität bedenklich, vor allem, wenn von der Übertragung einer Stimmung (als einem bestimmten Seelenzustand) vom Dichter auf den Leser gesprochen wird. Nichtsdestotrotz vertritt Hans Ulrich Gumbrecht die Ansicht, dass sich mit Hilfe dieses Begriffs eine »ästhetische Unmittelbarkeit«122 im Umgang mit Texten zurückgewinnen ließe.123 Die Literaturwissenschaft, so Gumbrecht, verharre seit geraumer Zeit und viel zu lange in der Polarität zwischen der Idee der Dekonstruktion, die der Literatur jegliche Welt-Referenz abspricht, und einer Kulturwissenschaft, die den Bezug der Literatur auf eine außersprachliche Wirklichkeit für unproblematisch hält und mit einer »gewisse[n] epistemologische[n] Sorglosigkeit«124 der quantitativ-empirischen Forschung neue Geltung verschafft hat. Um einen Ausweg aus dieser Sackgasse zu finden, könne es nun nicht länger darauf ankommen, nach den Existenzmöglichkeiten von Texten zu fragen, sondern wesentlich sei, sich »anhand der Stimmungskonfiguration verschiedener Texte – prinzipiell aller Texte – einem besonders intensiven und intimen Erleben von Alterität auszusetzen«.125 Unter dem Begriff ›Stimmung‹ versteht Gumbrecht, bezogen auf Kunstwerke, jene »kollektiv relevante[n] Rahmenbedingungen von Erfahrung und Produktion«, welche in Analogie zur Musik oder zum Wetter von einem Subjekt »erlebt werden wie die leichteste Berührung der uns umgebenden materiellen Welt, der Welt der Dinge, auf der Oberfläche unserer Körper«.126 Dieser »leichteste Grad der materiellen Berührung von außen« löst seinem Verständnis nach automatisch und fast unmerklich »das Gefühl eines ›Berührtseins von innen‹«127 aus. ›Stimmung‹ könne daher als eine ›andere‹, »verdeckte« Wirklichkeitsdimension

120 Kommerell, Gedanken über Gedichte, S. 18–19. 121 Ebd., S. 24–25. 122 Hans Ulrich Gumbrecht: Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München: Hanser 2011, S. 23. 123 Vgl. Gumbrechts Revitalisierung des Begriffs ›Stimmung‹ in: Hans Ulrich Gumbrecht: »Surrealismus als Stimmung«, in: Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur, hg. von Friederike Reents, Berlin: de Gruyter 2009, S. 23–34; und ders.: »Reading for the Stimmung?«, in: Boundary 2/35 (2008), S. 213–221. 124 Gumbrecht: Stimmungen lesen, S. 9. 125 Ebd., S. 23. 126 Vgl. Gumbrecht: Surrealismus als Stimmung, S. 25. 127 Ebd., S. 26.

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aufgefasst werden,128 die »auf unseren Körper ›trifft‹ […] und unseren Körper ›umgibt‹«.129 Insofern handelt es sich um »Begegnungen« unseres Körpers, »als ob man von innen berührt würde (›touched like from inside‹)«.130 Seine Aufmerksamkeit richtet Gumbrecht dabei vor allem auf die »Phänomenebene der literarischen Texte«,131 die sowohl die Prosodie als auch die poetische Form literarischer Texte umfasst. Der Vorzug des deutschsprachigen Begriffs ›Stimmung‹ gegenüber dem Englischen ›mood‹ oder ›climate‹ liegt für Gumbrecht in der Verbindung mit dem Verb ›stimmen‹, und zwar im Sinne von ›ein Instrument stimmen‹: Die Assoziation mit dem »Stimmen eines Instruments« deutet an, wie einzelne Stimmungen meist als Teil eines skalenförmigen Kontinuums erfahren werden, das heißt als eine jeweilige Nuance, die unsere Unterscheidungsfähigkeit und die Möglichkeiten der Beschreibungssprachen herausfordert.132

Diese Beziehung privilegiere den Begriff ›Stimmung‹ gegenüber allen anderen Möglichkeiten und lässt ihn in Gumbrechts Augen zu einer geeigneten Kategorie zur Erfassung der ›Präsenz‹ von literarischen Texten im Verhältnis zu unserem Körper werden. Mit der Akzentuierung der ›Stimmung‹ verschiebe sich für die Literaturanalyse der Blick von den Sinneffekten eines Textes zu den »Präsenzeffekten«.133 Eine Lektüre der Stimmungen könnte, so Gumbrecht, als eine »Ontologie der Literatur«134 verstanden werden, bei der nicht das Paradigma der ›Repräsentation‹ im Mittelpunkt stehen würde, sondern die Wirkung des Textes auf den Leser: »Stimmungen lesen« heißt immer auch, dass wir aufmerksam sind auf die textuelle Dimension der Formen, welche uns und unseren Körper als potentielle physische Realität umgeben und so ›innere Gefühle‹ auslösen können, ohne dass dabei notwendig eine Ebene der Repräsentation eingeschaltet sein muss (dies kann immer, aber muss nie der Fall sein).135

»Stimmungen lesen«, hieße außerdem, »Stimmungen in Texten und anderen Artefakten entdecken, sich affektiv und auch körperlich auf sie einlassen und auf sie zeigen«.136 Es schade nicht, die Genese oder die Strukturen ihrer Artikulation 128 Der Untertitel von Gumbrechts Buch Stimmungen lesen lautet »Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur«. 129 Gumbrecht: Stimmungen lesen, S. 11. 130 Ebd., S. 12. (Gumbrecht bezieht sich dabei auf einen Satz der Schriftstellerin Toni Morrison.) 131 Ebd., S. 23. 132 Ebd., S. 11. 133 Ebd., S. 15. 134 Ebd., S. 10. 135 Ebd., S. 13. 136 Ebd., S. 31.

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zu rekonstruieren, doch sind dergleichen Untersuchungen für Gumbrecht eher sekundär. Ihm kommt es vielmehr darauf an, »auf Stimmungen [zu] verweisen, das Potential von Stimmungen frei[zu]legen, ihre Vergegenwärtigung, so gut es geht, [zu] befördern«.137 Eine Auflistung sämtlicher Gesten und Wirkungen, die den Stimmungsraum eines Textes oder Kunstwerkes kennzeichnen, würde lediglich einen Anfang bilden. Längerfristig müsse man über die bloße Aufzählung von Gesten, die auf Stimmungen verweisen, hinausgehen und versuchen, »die historische Emergenz einer Stimmung und die Struktur ihrer textuellen Artikulation zu verfolgen«.138 Einer Methode gegenüber hegt er jedoch starke Vorbehalte, da seiner Ansicht nach die Indikation von Stimmungen prinzipiell einer Strukturanalyse widerspreche. Es sei nicht einmal notwendig, die »intuitiv identifizierte Stimmung jeweils durch den gesamten Text hindurch und in der Entfaltung ihrer vollständigen Komplexität zu verfolgen«.139 Da jede Stimmung einmalig sei, könne es auch keine Theorie geben, Stimmungen als solche auf irgendeine Weise zu erklären, und keine Methode, die sie identifizieren könnte: Bezüglich der Möglichkeit und des Orientierungswertes von »Methoden« geht meine Skepsis noch weiter – denn ich glaube, dass wir Geisteswissenschaftler uns mehr auf die Fähigkeit zum gegenintuitiven Denken verlassen sollten als auf vorgezeichnete »Pfade« oder »Wege« (so die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Methode«). Gegenintuitives Denken als ein Denken, das sich nicht scheut, von den im Alltag aus guten Gründen dominierenden Normen der Rationalität und Logik abzuweichen, wird immer davon profitieren, sich von Intuitionen in Bewegung bringen zu lassen. Was uns zuerst auf das Potential einer Stimmung (etwa in einem Text) aufmerksam macht, ist oft die Irritation und die Faszination eines einzelnen Wortes oder Details, das Fragment eines Tons oder eines Rhythmus.140

Wohnt also dem gegenintuitiven Denken implizit die Forderung inne, allein der eigenen Intuition zu folgen? Wird damit nicht von Grund auf eine subjektive Lektüre legitimiert, wie sie in Gumbrechts Ausführungen zu Caspar David Friedrichs Gemälde Frau vor der untergehenden Sonne aus dem Jahr 1818 zum Ausdruck kommt, wenn er das Pathos des Bildes in seiner Wirkung auf den Betrachter beschreibt? 141 Zu sehr stehen Gumbrechts Überlegungen im Bann der Subjektideologie und kolportieren eine Stimmung, die vom Künstler auf den Betrachter oder Leser übertragen wird, der dann im Akt der Rezeption die Szenen dieses ErgriffenSeins reflektiert. Um aber ihr ganzes analytisches Potential entfalten zu können, müsste eine Untersuchung von Resonanzeffekten intersubjektive Faktoren mit 137 138 139 140 141

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 29. Ebd., S. 92.

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einbeziehen und ein in mancher Hinsicht neues Instrumentarium zur Analyse von Präsenzeffekten entwickeln. Vor allem aber müsste ein Weg gefunden werden, affektive Resonanzen zu beschreiben, ohne ein verinnerlichendes Subjekt zugrunde zu legen und stattdessen Subjektivität als ein Teil des Resonanzverhältnisses zu begreifen.

Vom Resonanz- zum Gedächtnisraum Einen möglichen Ansatz dazu bietet – wenngleich wiederum mit einigen Vorbehalten – die Phänomenologie von Hermann Schmitz. In seinen Ausführungen über resonanzgebundene Gefühle behandelt Schmitz auch das affektive Betroffensein und verweist in diesem Kontext darauf, dass Gefühle im Allgemeinen durchaus »als eigenständige, atmosphärische Mächte gelten« können, »die auf affektives Betroffensein eines Subjekts durch sie nicht angewiesen und dagegen gleichgültig sind«.142 Gefühle aber, die an das affektive Betroffensein »zusätzliche, nicht schon im Begriff der Ergriffenheit ausgedrückte Ansprüche stellen«, bezeichnet Schmitz als »resonanzgebunden«.143 Unter ›Resonanz‹ wäre dabei »das Ergriffensein eines Subjekts durch ein Gefühl«144 zu verstehen. Den Gefühls- oder Empfindungsraum, in den das Subjekt eingebettet ist, charakterisiert Schmitz als durchlässig und beweglich, was dann ermöglicht, Affektanregungen und -übertragungen in affektbesetzten und sinnlich wahrgenommenen diskursiven Räumen zu untersuchen. Noch wichtiger aber ist, dass ein solcher Resonanzbegriff darüber hinaus erlaubt, die vielfältigen Wirkungen eines kaum merklichen Lautunterschieds (wie bei Derrida das ›a‹ in différance im Unterschied zu différence) oder eines nicht-signifikativen Schriftzeichens (wie bei Xu Bing) zu erfassen. In eine ähnliche Richtung geht auch der Vorschlag Stephen Greenblatts in seinem oben schon erwähnten Aufsatz, in dem die Analyse der Resonanz ganz auf die Wirkung eines Objektes oder Textes ausgerichtet ist. Resonanz wird dabei im Sinne von Austauschprozessen kultureller Energie als »Ergebnis ausgedehnter Entlehnungen, kollektiver Tauschprozesse und wechselseitiger Begeisterungen«145 begriffen: Unter »Resonanz« verstehe ich die Macht des ausgestellten Objekts, über seine formalen Grenzen hinaus in eine umfassendere Welt hineinzuwirken und im Betrachter jene 142 143 144 145

Schmitz: Der Gefühlsraum, S. 145. Ebd., S. 145–146. Ebd., S. 146. Stephen Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Frankfurt a. M.: Fischer 1993, S. 17.

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komplexen, dynamischen Kulturkräfte heraufzubeschwören, denen es ursprünglich entstammt und als deren – sei es metaphorischer oder bloß metonymischer – Repräsentant es vom Betrachter angesehen werden kann.146

Problematisch scheint beim ersten Lesen der Rekurs auf Vokabeln wie ›Macht‹ oder ›Kraft‹,147 die sich jedoch bei näherem Hinsehen nahtlos in Greenblatts Vorstellung von Kultur als einer Zirkulation sozialer Energien einfügen: Energia läßt sich nur indirekt durch ihre Auswirkungen feststellen: Sie manifestiert sich in der Fähigkeit gewisser sprachlicher, auditiver und visueller Spuren, kollektive physische und mentale Empfindungen hervorzurufen und diese zu gestalten und zu ordnen. Sie geht also mit wiederholbaren Formen von Vergnügen und Interesse einher, mit dem Vermögen, Unruhe, Schmerz, Angst, Herzklopfen, Mitleid, Gelächter, Spannung, Erleichterung, Staunen wachzurufen.148

Seinem Begriff der Resonanz stellt Greenblatt als chiastische Figur den des Staunens (wonder) an die Seite. ›Staunen‹ versteht er als Reaktion auf »die Macht des ausgestellten Objekts, den Betrachter aus seiner Bahn zu werfen, ihm ein markantes Gefühl von Einzigartigkeit zu vermitteln, eine Ergriffenheit in ihm zu provozieren«.149 Schon Moritz Baßler hat kritisiert, dass bei Greenblatt die Konzepte resonance und wonder auseinandertreten würden, insofern ›Resonanz‹, die eine Kontextualisierung impliziert, und ›Staunen‹, das Lebendigkeit assoziiert, ein Ausschlussverhältnis ankündigen.150 In seiner Relektüre des Verhältnisses zwischen resonance and wonder geht Greenblatt konkret auf die gegen sein Begriffspaar erhobenen Einwände ein: Das Staunen, das auf den ersten Blick mit einem strengen Formalismus verknüpft scheint, könnte in Begegnungen, die weit außerhalb der Grenzen der Kunst liegen, eine machtvolle Präsenz entfalten; und die Resonanz, die auf Anhieb fast vollständig in historischer Kontextualisierung aufzugehen scheint, könnte sich als eine nachhaltige Wirkung der Form erweisen. Die polare Entscheidungslogik – der Kurator, der vor der Wahl steht, Resonanz oder Staunen zu erzeugen – macht einer nuancierteren Wahrnehmung von deren subtilem Wechselspiel Platz.151

146 Greenblatt: Resonanz und Staunen, S. 15. 147 Greenblatt benutzt das Wort »power«; vgl. Stephen Greenblatt: »Resonance and wonder«, in: Learning to Curse. Essays in Early Modern Culture, New York/London: Routledge 1990, S. 161–183, hier S. 170. 148 Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare, S. 15–16. 149 Greenblatt: Resonanz und Staunen, S. 15. 150 Vgl. Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen: Narr Francke Attempto 2005, S. 44ff. Baßler sieht in diesem Chiasmus die »leicht verschobene […] Wiederaufnahme« von Foucaults Gegensatzpaar »Dokument« und »Monument«; ebd., S. 44. 151 Stephen Greenblatt: »Resonanz und Staunen revisited. Über Wunden, Schnitte und die

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Bei einer Ausstellung von Artefakten komme es in der Regel darauf an, Interesse zu wecken, Neugier zu erregen und Verwunderung zu erzeugen, um dann vom Staunen zur Resonanz überzugehen, was Greenblatt als »die Ersetzung des Staunens durch Gewissheit«152 bezeichnet. Auch für den New Historicism ist die soziale Resonanz von Bedeutung, wenn im Umgang mit literarischen Texten versucht wird, »die historischen Umstände ihrer ursprünglichen Produktion und Rezeption aufzudecken, soweit dies überhaupt möglich ist, und die Beziehung zwischen diesen Umständen und unseren eigenen zu analysieren«.153 Die historischen Umstände werden dabei »nicht als feststehende[r], vorfabrizierte[r] Hintergrund« betrachtet, »vor dem die literarischen Texte zu plazieren wären, sondern als ein dichtes Netz veränderlicher und oftmals widersprüchlicher sozialer Kräfte«.154 Dennoch bleibt es eines der erklärten Ziele des New Historicism (im Gegensatz zur Philosophie, die »das Staunen durch sichere Erkenntnis zu ersetzen sucht«), »im Herzen der Resonanz stets von neuem das Wunderbare zu beleben«.155 Das Kunstwerk müsse zunächst einmal in seiner »ursprünglichen Offenheit«156 begriffen werden, und zwar ohne die Bedeutungsschichten, die sich im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte an das Werk angeheftet haben. Gleichzeitig spiele aber auch der Ausstellungsraum eine maßgebliche Rolle, der im Falle des Museums zum Beispiel dafür Sorge zu tragen habe, dass die fragilen Objekte geschützt werden und eben dadurch eine größtmögliche Resonanz entfalten können, denn gerade die Fragilität der Objekte erweise sich als »ein sehr günstiger Resonanzboden«.157 Der Ausstellungsraum im Ganzen wirke wie ein durchlässiger Resonanzraum, der die »Offenheit«158 der Objekte ebenso sicherstellt wie deren Resonanzvermögen. Insbesondere Gebrauchsspuren und Veränderungen durch Zuschneiden oder Anpassen verdeutlichten diese Offenheit der ästhetischen Artefakte für menschliche Berührungen. Hauptaufgabe des Museums sei es, die zur Schau gestellten Objekte vor Verletzungen zu schützen, weshalb zur Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Offenheit vor allem Erläuterungstexte in Katalogen oder auf den Ausstellungswänden eingesetzt werden:

152 153 154 155 156 157

158

Norton Anthology of English Literature«, in: Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur, hg. von Karsten Lichau u. a., S. 33–51, hier S. 35. Ebd. Greenblatt: Resonanz und Staunen, S. 15. Ebd. Ebd., S. 28. Ebd., S. 16. Ebd. Greenblatt gibt dazu ein passendes Beispiel. Er berichtet von einer »grotesk hagiographischen Proust-Ausstellung«, deren Höhepunkt in einem Schaukasten bestand, »der eine kleine, belanglose, zusammengeflickte Vase mit dem Hinweis präsentierte: ›Diese Vase wurde von Marcel Proust zerbrochen.‹« Ebd., S. 17.

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Die so eingesetzten Texte sind eine Einführung in, ja ein Ersatz für den Kontext, der durch die Verschiebung des Objekts ins Museum ausgelöscht wurde. Aber insofern dieser Kontext zum oft überwiegenden Teil eher visuell denn verbal ist, hat das Verfahren einer textlichen Verortung im Kontext seine Grenzen. Daher auch die stumme Beredtheit der ausgestellten Paletten, Pinsel und anderen Utensilien, die ein Maler jener Epoche benützt haben würde, oder der Gegenstände, die auf den gezeigten Gemälden abgebildet wurden, oder der Materialien und Bilder, die sich in irgendeinem Punkt mit den formalen Kunstwerken treffen oder überschneiden.159

Greenblatt begreift das Museum als einen kulturellen Gedächtnisraum, in dem die vom ausgestellten Objekt evozierte Resonanz dem institutionalisierten Gedächtnis durchaus entgegenlaufen oder widersprechen kann, so dass die »angeblich kontextuellen Objekte ein Eigenleben entwickeln und Ansprüche erheben, welche die formale Privilegierung des Kunstobjekts in Frage stellen«.160 Eben diese Momente bezeichnet er als die resonanzreichsten. So gesehen kann man durchaus sagen, dass die soziale Resonanz auf einen Begriff des kulturellen Gedächtnisses rekurriert, und zwar insofern, als die im Museum ausgestellten Objekte einen Resonanzraum konstituieren, in dem die Stimmen der Toten wieder zum Sprechen gebracht werden.161

Die Brechung der Signifikanz Greenblatts chiastisches Begriffspaar weist durchaus Affinitäten zu der von Barthes vorgenommenen Unterscheidung zwischen studium und punctum auf. Für Barthes ist das studium an kulturell vorgegebene Codes gebunden, während das punctum das studium »durchbricht (oder skandiert)«.162 Seine Betrachtungen über die Fotografie bauen auf der Wahrnehmung dieser Brechung auf. Dabei interessiert er sich besonders für das Wirkungspotential der Fotografie, das er mit dem Begriff des punctum zu erfassen versucht: »[…] punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt – und: Wurf der Würfel. 159 Ebd. 160 Ebd. 161 »Gewiß, ich hörte stets nur meine eigene Stimme, aber meine Stimme war zugleich die Stimme der Toten, insofern es den Toten gelungen war, Textspuren von sich selbst zu hinterlassen, die sich durch die Stimmen der Lebenden zu Gehör bringen. Bei vielen dieser Spuren bleibt die Resonanz gering, nichtsdestoweniger enthält jede von ihnen, so trivial oder langweilig sie auch sein mag, ein Bruchstück vergangenen Lebens; andere Spuren wiederum scheinen auf unheimliche Weise von dem Willen erfüllt, sich zu Gehör zu bringen.« (Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare, S. 9.) 162 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 35. Einige Seiten weiter heißt es dann: »Das studium ist letztlich immer codiert, das punctum ist es nicht […]« (ebd., S. 60).

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Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft)«,163 eben jenes Detail eines Bildes oder Fotos, welches aus der Szene gleichsam herausspringt bzw. eine Art ›Chok‹ auslöst, der, wie zuvor schon von Benjamin bemerkt, die automatische Rezeption aussetzen lässt. Während das studium einen distanzierten Blick verlangt, setzt das punctum das ebenso unvorhersehbare wie unvorhergesehene Ergriffensein durch das Bild oder Foto voraus. Diese Ergriffenheit kann durch ein winziges Detail ausgelöst werden, genauso wie durch das plötzliche Bewusstwerden der Zeitlichkeit, z. B. das Bewusstsein, dass die Person, die man auf dem Foto sieht, bereits tot, und der auf dem Bild festgehaltene Augenblick ein für alle Mal der Vergangenheit angehört und somit für immer verloren ist.164 Vor diesem Hintergrund ließe sich der Resonanzbegriff noch weiter differenzieren, d. h. aufteilen in die signifikative Resonanz des studium, was die Vorstellung eines intellektuellen Schwingungsfeldes impliziert, und in eine Resonanz jenseits der Signifikanz, die von einer nicht-signifikativen Unterbrechung ausgehen kann. Im Sinne des studium schließt die Resonanz an ein Vorwissen an und erfordert die Kenntnis eines oder mehrerer Codes. Der Begriff der Resonanz lässt aber auch Brechungen und Unterbrechungen zu, was sich als ein nicht zu unterschätzender Vorteil im Vergleich zum bereits diskutierten Begriff der Atmosphäre erweist, denn eine ganz charakteristische Eigenschaft der Atmosphäre ist ja ihre Fragilität. Mit Blick auf das punctum könnte man die Resonanz als eine Unterbrechung der Signifikanz begreifen, womit wir schließlich in einen Bereich des Ästhetischen gelangen, der jenseits der Signifikanz liegt. Für eine Untersuchung der affizierenden Wirkung von Artefakten und der ästhetischen Modulation von Diskursen sind damit zwei Anwendungsmöglichkeiten möglich geworden: zum einen die Beschreibung der signifikativen Resonanz, die aus dem Studium lesbarer Schriftzeichen hervorgeht, und neben ihr zum anderen die Konstitutiva von Resonanzen jenseits der Signifikation, die sich allein auf den Klang oder die Schriftbildlichkeit konzentriert, was eine resonanzästhetische Betrachtung unleserlicher Schriftzeichen nicht nur erlauben, sondern unmittelbar mit einschließen würde.

163 Ebd., S. 36. 164 Bei Barthes gibt es noch eine zweite Bestimmung des punctum, und zwar in Bezug auf die als Foto wiedergegebenen Zeichen irreduzibler Alterität, die plötzlich die Identität des Betrachters trifft und sie ›durchbricht‹. Dabei spielen auch die Aspekte der Nähe (ein Getroffenwerden oder Ergriffensein durch eine Präsenz) und der Distanz (eine unwiederbringliche Absenz) eine wesentliche Rolle. (Vgl. dazu Vittoria Borsò: »Gedächtnis und Medialität: Die Herausforderung der Alterität«, in: Materialität und Gedächtnis. Interdisziplinäre Beiträge zur kulturellen Verarbeitung europäischer Krisen, hg. von Vittoria Borsò, Gerd Krumreich und Bernd Witte, Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 23–53, hier S. 44.)

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Resonanz und Staunen bei Xu Bing Zu den resonanzreichsten Momenten einer Ausstellung zählt Greenblatt diejenigen, in denen die ausgestellten Artefakte eine Art Eigenleben entwickeln; Resonanzeffekte können aber schon durch den Entstehungskontext von Kunstobjekten vermittelt werden, nämlich dadurch, »daß man im Betrachter ein Gefühl für die kulturell und historisch kontingente Entstehung von Kunstgegenständen weckt, für die Verhandlungen, Tauschprozesse, Abweichungen und Ausschließungen, durch die einzelne Repräsentationspraktiken aus all den anderen, teilweise recht ähnlichen Repräsentationspraktiken herausgehoben werden«.165 Entsprechendes konnten die Besucher von Xu Bings Ausstellung der Bücher des Himmels in Peking (1988) und später in Tokyo (1991) erfahren, denn dort waren neben einigen für den Druck benötigten Werkzeugen auch die vom Künstler selbst gefertigten Druckstöcke zu sehen. Sollte also der Betrachter seinen Versuch, die in den Büchern des Himmels abgebildeten Schriftzeichen zu entziffern, aufgegeben haben (vielleicht, weil er zur Einsicht gekommen war, dass es sich dabei um alte, ihm unbekannte Zeichen handelte, oder weil er glaubte, sie ohnehin nicht lesen zu können), war es ihm immer noch möglich, sich auf die Drucktechnik, den Schriftstil und die Gestaltung der Bücher zu konzentrieren. Drucktechnik und Buchgestaltung sind Bestandteile einer langen kulturgeschichtlichen Entwicklung und lösen dementsprechend beim Betrachter eine Reihe von sinnhaften Resonanzen aus. Im gleichen Moment aber unterläuft Xu Bing dieses Studium damit, dass er die kompliziert hergestellten Schriftzeichen, die ja den eigentlichen Gegenstand der Betrachtung bilden, im Bedeutungslosen stehen lässt, ein Vorgang, der nach Greenblatt Staunen erzeugen muss. Die Tatsache, dass diese Zeichen nichts bedeuten, ist demnach als das punctum zu verstehen, welches das studium der Signifikanzen oder den Versuch, einen Sinnzusammenhang herzustellen, durchbricht. Gerade das Zusammenspiel von studium und punctum, von Resonanz und Staunen, von signifikativer und nicht-signifikativer Resonanz macht Xu Bings Installation so außergewöhnlich. »Eine resonanzreiche Ausstellung«, bemerkt Greenblatt, »reißt den Betrachter immer wieder aus der Überhöhung isolierter Objekte heraus und geleitet ihn zu einer Reihe impliziter, nur halb sichtbarer Beziehungen und Fragen.«166 Diese Fragen, die oben in der Einleitung zum Teil bereits angesprochen worden sind, betreffen in erster Linie die ausgestellten Objekte sowie die Zeichenhaftigkeit dieser Schriftgebilde: Hat man es überhaupt noch mit Texten zu tun, wenn den Zeichen, aus denen sie sich zusammensetzen,

165 Greenblatt: Resonanz und Staunen, S. 18. 166 Ebd.

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kein signifikativer Gehalt innewohnt? Was zeichnet unlesbare Bücher als Ausstellungsobjekte aus usw.? Bei Xu Bings Zeicheninstallation geht die Resonanz unmittelbar von den Schriftzeichen selbst aus. Indem die Aufmerksamkeit gezielt auf das Schriftbildliche gelenkt wird und nicht auf die Bedeutung, wird der Betrachter dazu gebracht, die Zeichen als ästhetische Artefakte wahrzunehmen. Würde man lediglich Bücher in einer alten, heute unlesbaren Schrift nachdrucken und ausstellen, dann ließe sich dadurch zwar eine kulturhistorische Resonanz erzeugen. Doch würde diese Resonanz sich ausschließlich auf das studium beschränken. Das punctum hingegen tritt erst dann zutage, wenn der ganze Sinnzusammenhang in seiner Verflechtung von Kulturgeschichte und Schriftkultur durchbrochen wird. In den nachfolgenden Kapiteln soll nun, ausgehend von der affektiven Wirkung sowohl nicht-signifikativer als auch signifikativer Zeichen, der Versuch unternommen werden, in erster Linie den Begriff der Resonanz für die literaturwissenschaftliche Analyse fruchtbar zu machen und ihn in die Untersuchung der ästhetischen Modalität von Texten und Zeichenformationen mit einzubeziehen. Die damit verbundenen Resonanzeffekte sind dabei in dreierlei Hinsicht zu unterscheiden: einmal in Hinblick auf den Klang, dann auf die Schriftbildlichkeit und schließlich mit Blick auf den in der Wahrnehmung des Schriftzeichens implizierten ästhetischen Sinneseindruck. Was also mit der Resonanz unlesbarer Zeichen bei Xu Bing begonnen hat, wird in der Untersuchung der Resonanz lesbarer Zeichen seine Fortsetzung finden.

II.

Grundzüge der Resonanzästhetik

3.

Zeichenresonanz. Fiktionalisierungen unleserlicher Zeichen »Man wird sich bequemen müssen, die ganze Lehre von den ›Zeichen‹ fallenzulassen.« (Ludwig Klages) 1

Die Diskursivität unleserlicher Zeichen Als Vincent van Gogh im Jahr 1887 zwei ukiyo-e des japanischen Holzschnittmeisters Utagawa Hiroshige (1797–1858) aus westlicher Sicht malerisch umzusetzen und mit seinen eigenen Vorstellungen in Einklang zu bringen suchte,2 fügte er den Bildern, vielleicht um das japanische Format der Darstellung westlichen Sehgewohnheiten anzupassen, am linken und rechten Rand jeweils eine vertikale Reihe (beim zweiten Bild dann auch horizontal) von Schriftzeichen hinzu, die offenbar auf sino-japanische Zeichen zurückgehen. Dergleichen ist in dieser Form bei japanischen Holzschnitten normalerweise nicht anzutreffen, denn gewöhnlich werden dort die Schriftzeichen in die Darstellung integriert, am

1 Ludwig Klages: Zur Methode der Graphologie. In: Sämtliche Werke, hg. von Ernst Fauchinger, Gerhard Funke u. a., Band 8: Graphologie II, 2. Aufl. Bonn: Bouvier 1986, S. 51 (Hervorhebung im Original). 2 Auch bekannt als Ando¯ Hiroshige. Neben den beiden hier behandelten Farbholzschnitten von Hiroshige (Der Pflaumengarten von Kameido und Abendregen bei Atake über der großen Brücke) kopierte van Gogh noch einen Holzschnitt von Keisai Eisen (1790–1848) mit dem Titel Kurtisane. Der japanische Begriff ukiyo-e bedeutet wörtlich ›Bilder der fließenden Welt‹, was auf die irdische Welt des Vergänglichen (ukiyo) anspielt und den Akzent auf die Darstellung von Sinnesfreuden legt; einführend siehe Rose Hempel: Holzschnittkunst Japans. Landschaft, Mimen, Kurtisanen, Stuttgart: Belser 1963; grundlegend sind Julius Kurth: Der japanische Holzschnitt. Ein Abriss seiner Geschichte, München: Piper, 3. Aufl. 1922 (1. Aufl. 1911) und ders.: Geschichte des japanischen Holzschnitts, 3 Bde., Leipzig: Hiersemann 1925–29.

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oberen Rand zum Beispiel, oder sie werden in abgesetzte ornamentale Rahmen (Kartuschen, eingefügte Bildrollen, auch in Wolken) platziert. Es ist bekannt, dass van Gogh eine große Anzahl japanischer Farbholzschnitte besaß, von denen das Van Gogh Museum in Amsterdam heute noch über vierhundert aufbewahrt. Was wir aber nicht wissen, ist, inwieweit er wirklich etwas von den verwendeten Schriftzeichen verstand. Die beiden Bilder, die van Gogh zwischen dem Herbst und Winter 1887 nach dem Vorbild japanischer Holzschnitte anfertigte und die wegen ihrer besonderen Figurierung der Schriftzeichen hier von Interesse sind, haben bei ihm die Titel Blühender Pflaumenbaum und Die Brücke im Regen (Farbtafeln, Abb. 11). Man könnte zunächst vermuten, dass es sich bei den von van Gogh hinzugefügten Schriftzeichen entweder um Erklärungen des jeweiligen Bildes bzw. um dessen japanischen Titel handelt oder aber, wie es oft bei ukiyo-e der Fall ist, um eine Art Werbetext (Abb. 11). Tatsächlich bezeichnen die an den Rand des ersten Bildes gesetzten sino-japanischen Schriftzeichen zwei Adressen. Auf der linken Seite liest man (hier von links nach rechts wiedergegeben) 大黒屋錦木江戸町一 丁目 (Daikoku-ya Nishiki-gi Edo-cho¯ itcho¯me). Daikoku-ya ist der Name eines Geschäfts, und Nishiki-gi dürfte in diesem Zusammenhang auf eine Örtlichkeit3 in der Hauptstadt Japans (Edo bezeichnet das heutige Tokyo) verweisen, wobei die Termini cho¯ und cho¯me die Lage dieser Lokalität in ihrem Bezirk genauer eingrenzen (itcho¯me bedeutet ›Block 1‹). Um was für eine Adresse es sich genau handelt, wird durch die Schriftzeichen auf der rechten Seite klar, denn der hier erwähnte Yoshiwara-Bezirk war das Vergnügungs- und Bordellviertel von Edo.4 Es fällt zwar schwer, die zum Teil doch recht unleserlichen Zeichen eindeutig zu entziffern, doch aller Wahrscheinlichkeit nach sind es die folgenden (ebenfalls von links nach rechts zu lesen): 新吉原筆六丁目屋木. Die ersten drei Zeichen lauten in der Umschrift: Shin Yoshiwara, dann folgt wohl das Zeichen für einen Pinsel (fude). Die nächsten drei Zeichen (roku cho¯me) bezeichnen den Bezirk (›sechster Block‹), doch könnten sie auch als 大丁目 (dai cho¯me) im Sinne von

3 Nishiki-gi bezeichnet ursprünglich ein Strauchgewächs (Spindelstrauch, lat. Euonymus alatus) und Nishiki (錦) bedeutet wörtlich soviel wie ›Brokat‹ oder ›etwas, das so schön ist wie Brokat‹, kann aber, wenn es mit einem weiteren Zeichen verbunden wird, auch einen Farbholzschnitt im Vielfarbendruck bedeuten, was durch 錦絵 wiedergegeben wird, oder auch 錦画 (nishiki-e, dt. ›Brokatbild‹). 4 Der berüchtigte Yoshiwara-Bezirk (dt. ›Glückswiese‹) befand sich in der Nähe des heutigen Viertels Nihombashi. Dort waren vor allem Kabukitheater, Bordelle und andere Vergnügungsstätten zu finden. Das alte Yoshiwara brannte im Jahr 1657 bei einem Großfeuer ab und das Vergnügungsviertel wurde dann in die Gegend um Asakusa verlegt, weshalb es auch als Shin Yoshiwara (shin bedeutet ›neu‹) bezeichnet wird. Das auf dem rechten Bildrand erwähnte Edo-cho¯ war in Shin-Yoshiwara die erste Querstraße, auf die man stieß, wenn man das große ¯ monguchi) durchschritten hatte. Eingangstor (O

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›große Straße‹ (anstelle von Block) gelesen werden.5 Am Schluss finden sich noch zwei weitere Zeichen, die entweder als 屋木 (ya ki) oder als 屋本 (ya moto) gedeutet werden können. Am linken Bildrand der Brücke im Regen steht mit ziemlicher Sicherheit 吉原 八景 (Yoshiwara hakkei), was soviel heißt wie ›Acht Ansichten von Yoshiwara‹. Dann folgen die Zeichen 長大屋木 (Cho¯dai yagi (oder yamoku)), was als ›lange große Holzbrücke‹ zu übersetzen wäre. Yoshiwara hakkei könnte durchaus als Hinweis auf ein Programm aufgefasst werden, wenn man davon ausgeht, dass van Gogh noch weitere Bilder für einen Zyklus »Acht Ansichten von Yoshiwara« anzufertigen plante. Das jedoch würde voraussetzen, dass der Maler sehr wohl wusste, was er dort schrieb. Auch die Zeichen am rechten Bildrand spielen auf die ›Acht Ansichten‹ an. Die unteren vier Zeichen lauten 長原八景 (Nagahara hakkei, dt. Die acht Ansichten von Nagahara). Außerdem finden sich am oberen Rand des Bildes die Zeichen 木 吉原八景 (Ki Yoshiwara hakkei), wobei 木 mit der Lesung moku, boku oder ki ›Baum‹ bedeutet und die zwei Zeichen für hakkei untereinander geschrieben wurden. Allerdings setzt dies eine Leserichtung von links nach rechts voraus, was der europäischen, nicht aber der japanischen entspricht, denn wenn man, wie dort, die obere Zeile von rechts beginnend liest, ergibt sich ein ganz anderer Sinn. Zieht man also, wie der japanische Künstler Tadashi Goino es in seinem Deutungsversuch tut, wirklich einen Wechsel der Leserichtung in Betracht, dann beginnen die Zeichen plötzlich, eine Geschichte zu erzählen. Goino expliziert sie als 内人長吉 (Uchibito Cho¯kichi, dt. ›Hausfrau Cho¯kichi‹) 6 und verbindet diesen Eigennamen mit einer Darstellung der Geisha Cho¯kichi aus van Goghs Ukiyo-eSammlung.7 Von besonderer Bedeutung für seine Interpretation ist die gelbe rechteckige Kartusche rechts oben. Dort glaubt er nach zwei unleserlichen Schriftzügen die Zeichenfolge 内人長吉女 (Cho¯kichi Onna) zu erkennen (onna bedeutet ›Frau‹). Diese setzt er in Beziehung mit dem Datum, das in der Kartusche links unten zu finden ist: 7 13 (13. Juli), was er als den Tag von Cho¯kichis Heirat interpretiert. Am unteren Ende des Bildes kann man von links nach rechts wieder eine Adresse erkennen, die offenbar auf jene zurückverweist, die sich auch schon auf dem ersten Bild befindet ( jetzt wieder von links nach rechts): 新吉原 大丁目 (Shin Yoshiwara daicho¯me). Am Ende folgt noch ein weiteres Zeichen, das Goino als »Good Fortune« übersetzt. Dabei handelt es sich um das Zeichen 5 Diese Lesart schlägt der Künstler Tadashi Goino (Künstlername Utagawa Shokoku) vor, vgl. Ukiyo-e Prints that Van Gogh Loved, and Utagawa Shokoku Exhibition. Katalog des Hermitage Museums, Nagano: Soei 1995, S. 13. 6 Vgl. Utagawa Shokoku [d.i. Tadashi Goino]: »Riddle Solving: Van Gogh on the Bridge in the Rain«, in: Ukiyo-e Prints that Van Gogh Loved, and Utagawa Shokoku Exhibition, S. 6–13, hier S. 6. 7 Ebd.

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吉, das auch in Yoshiwara und Cho¯kichi vorkommt und für sich genommen ›Glück, glückliches Schicksal und gutes Vorzeichen‹ bedeutet.8 Allerdings ist es außerordentlich schwierig, die Schriftzeichen an den Bildrändern genau zu bestimmen und dementsprechend zu interpretieren. Die meisten Zeichen sind eher unleserlich und sperren sich gegen eine eindeutige Sinnzuweisung. Verstärkt wird die Problematik durch die zweifache, d. h. unterschiedliche Leserichtung, die für die Deutung des oberen Schriftzugs im Bild Die Brücke im Regen angenommen werden muss, um den Zeichen einen Sinn abzugewinnen. Anscheinend ›krankt‹ van Goghs Wiedergabe der Schriftzeichen ganz einfach daran, dass er sie in Wahrheit gar nicht verstand. Dem steht wiederum die feste Überzeugung des Künstlers Tadashi Goino gegenüber, der die Meinung vertritt, dass van Gogh sehr wohl wusste, was er an die Seiten seiner Bilder niederschrieb, und der deshalb in diesen Schriftzügen eine versteckte Botschaft vermutet. Für einen westlichen Betrachter beider Bilder wirken diese Zeichen, die sich links und rechts am Bildrand aufbauen, wie rein dekorative Schriftelemente. Anders sieht es aus, wenn man bereit ist, den Argumenten Tadashi Goinos und der damit verbundenen Interpretation zu folgen, denn dann scheint es, als sei dem Bild eine fiktive Liebesgeschichte eingeschrieben.9 Im Unterschied zu unlesbaren Zeichen besitzen unleserliche Zeichen ein diskursives Potential: Sie halten eine Sinn-Reserve zurück, aus der ein spekulativer Diskurs entstehen kann. Zwar können die unlesbaren Zeichen kommentiert, interpretiert und ausgedeutet werden, doch kreisen die Diskurse, die auf diese Weise zustande gebracht werden, lediglich um diese Zeichen, ohne deren referentielle Bedeutung fassen zu können. Unleserliche Zeichen hingegen können, sobald man sie lesen kann, zum Sprechen gebracht werden und sich plötzlich in einen Diskurs verwandeln, und eben deshalb sind sie ein höchst geeigneter Gegenstand zur Untersuchung von Zeichenresonanzen.

Fiktionale Schriftblindheit in der Romantik Es gibt in der westlichen Literatur eine, wenngleich wenig bekannte, Tradition des Umgangs mit unlesbaren und unleserlichen Schriftzeichen, die vor allem deshalb von Literatur- und Kulturwissenschaftlern kaum wahrgenommen worden ist, weil sie »fast ausschließlich auf dem Grenzstreifen zwischen Europa und 8 Ebd., S. 13. 9 Goino ist der Ansicht, dass Vincent van Gogh mit der Beifügung der Schriftzeichen seinem Wunsch, die holländische Prostituierte Sein zu heiraten, mit der er zeitweise zusammenlebte, Ausdruck verliehen habe.

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dem Orient zur Erscheinung kommt«.10 Wichtige Stationen der philosophischen Spekulation über unlesbare oder unleserliche Schriften sind zweifellos die Werke von Athanasius Kircher und auch von Gottfried Wilhelm Leibniz, der sich eine Zeit lang eingehend mit den altchinesischen Hexagrammen beschäftigte, aber auch Dichter wie E.T.A. Hoffmann und Johann Wolfgang Goethe haben sich auf ihre ganz eigene Art und Weise, sei es denn über Fiktionalisierungen oder sogar mittels praktischer Schreibübungen mit einer fremden Schrift auseinandergesetzt, die zwar als solche für sie optisch wahrnehmbar war und sich dennoch nicht lesen ließ. Vorgegeben als Traditionslinie ist dabei die Hieroglyphenfaszination, die schon lange bevor Jean-François Champollion die ägyptischen Hieroglyphen schließlich entzifferte, eingesetzt und seitdem immer wieder ihren Eingang in die Sprachphilosophie und Literatur gefunden hatte. Auf eine der bekanntesten literarischen Inszenierungen von Schriftblindheit11 trifft man in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der goldene Topf, in der dem Studenten Anselmus der Auftrag zufällt, für den geheimnisumwitterten Archivarius Lindhorst Bücher, die alle in einer ihm vollkommen unbekannten Schrift geschrieben sind, zu kopieren. Darüber hinaus wird dem Leser dann auch noch mitgeteilt, dass der Archivarius »außer vielen seltenen Büchern eine Anzahl zum Teil arabischer, koptischer und gar in sonderbaren Zeichen, die keiner bekannten Sprache angehören, geschriebener Manuskripte«12 besitze. Um diese aber zu kopieren, bedürfe es einer Person, die »sich darauf versteh[e], mit der Feder zu zeichnen, um mit der höchsten Genauigkeit und Treue alle Zeichen auf Pergament, und zwar mit Tusche übertragen zu können«.13 10 Vgl. Andrea Polaschegg: »›Diese geistig technischen Bemühungen…‹ Zum Verhältnis von Gestalt und Sinnversprechen der Schrift: Goethes arabische Schreibübungen und E.T.A. Hoffmanns Der goldene Topf«, in: Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, hg. von Gernot Grube, Werner Kogge und Sybille Krämer, München: Fink 2005, S. 279–304, hier S. 280. 11 Nach Kussmaul ist Schriftblindheit eine Art von »Unfähigkeit, Gedachtes zu schreiben, mit erhaltenem Vermögen, Geschriebenes ohne Verständniss zu copieren«. Allerdings gibt es verschiedene Ausprägungen von Schriftblindheit, darunter jene »mit erhaltenem Vermögen, spontan und Dictirtes zu schreiben« (Adolf Kussmaul: Störungen der Sprache. Versuch einer Pathologie der Sprache, Leipzig: Vogel 1877, S. 186.) Im Gegensatz zur Medizin, welche die pathologischen Formen der Schriftblindheit beschreibt, geht es bei Hoffmann um eine inszenierte Schriftblindheit. 12 E.T.A. Hoffmann: Fantasiestücke und Nachtstücke. Fantasiestücke in Callots Manier, Nachtstücke, Seltsame Leiden eines Theater-Direktors. Nach dem Text der Erstdrucke, hg. u. mit einem Nachwort versehen von Walter Müller-Seidel, München: Winkler 1976, S. 179–255, hier S. 189; vgl. ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Band 2.1: Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke 1814, hg. von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen und Wulf Segebrecht, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 229–321, hier S. 242 (im Folgenden als SW 2.1; der Text weicht an einigen Stellen vom hier zitierten Text der WinklerAusgabe leicht ab). 13 Ebd., S. 189–190; SW 2.1, S. 242.

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Angespornt durch die Aussicht auf eine verlockende Zukunft, die ihm von Lindhorst versprochen wird, packt er seine Pinsel und die chinesische Tusche ein und zieht, mit seinen »kalligraphischen Meisterstücke[n] und seine[n] Zeichnungen«14 in der Tasche zum Archivarius, um ihn von seinen Fähigkeiten zu überzeugen. Doch in der Praxis zeigt sich dann sehr schnell, dass Anselmus seiner Arbeit in keiner Weise gewachsen ist. Zu seinem Glück hilft ihm aber eine der drei Töchter des Archivarius namens Serpentina, die dem jungen Kopisten bisweilen in Gestalt einer Schlange erscheint und der er ewige Liebe schwört. Solange sie in seiner Nähe ist, gelingt das Kopieren mühelos. Bevor sich Anselmus ans Werk macht, wird er bei seiner ersten Begegnung mit Lindhorst jedoch zunächst in eine ferne, exotische Welt versetzt: Anselmus schritt getrost hinter dem Archivarius her; sie kamen aus dem Korridor in einen Saal oder vielmehr in ein herrliches Gewächshaus, denn von beiden Seiten bis an die Decke hinauf standen allerlei seltene wunderbare Blumen, ja große Bäume mit sonderbar gestalteten Blättern und Blüten. Ein magisches blendendes Licht verbreitete sich überall, ohne daß man bemerken konnte, wo es herkam, da durchaus kein Fenster zu sehen war. Sowie der Student Anselmus in die Büsche und Blumen hineinblickte, schienen lange Gänge sich in weiter Ferne auszudehnen. – Im tiefen Dunkel dicker Zypressenstauden schimmerten Marmorbecken, aus denen sich wunderliche Figuren erhoben, Kristallenstrahlen hervorspritzend, die plätschernd niederfielen in leuchtende Lilienkelche; seltsame Stimmen rauschten und säuselten durch den Wald der wunderbaren Gewächse, und herrliche Düfte strömten auf und nieder.15

Für Anselmus öffnen sich die Bücher wie von selbst und nehmen ihn in ihre Märchenwelt auf. Schließlich erfährt er dann, was ihn nach erfolgreich erledigter Arbeit erwartet: Aus den azurblauen Wänden traten die goldbronzenen Stämme hoher Palmbäume hervor, welche ihre kolossalen, wie funkelnde Smaragde glänzenden Blätter oben zur Decke wölbten; in der Mitte des Zimmers ruhte auf drei aus dunkler Bronze gegossenen ägyptischen Löwen eine Porphyrplatte, auf welcher ein einfacher goldener Topf stand, von dem, als er ihn erblickte, Anselmus nun gar nicht mehr die Augen wegwenden konnte.16

Mit jedem makellos geschriebenen Zeichen wachsen sein Mut und seine Geschicklichkeit, und die Tusche fließt wie von selbst auf das weiße Pergament. Die Schrift wird lebendig und Klänge entstehen: Und sowie er voll innern Entzückens die Töne vernahm, wurden ihm immer verständlicher die unbekannten Zeichen – er durfte kaum mehr hineinblicken in das

14 Ebd., S. 190; SW 2.1, S. 243. 15 Ebd., S. 212–213; SW 2.1, S. 269–270. 16 Ebd., S. 214; SW 2.1, S. 271.

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Original – ja es war, als stünden schon wie in blasser Schrift die Zeichen auf dem Pergament, und er dürfe sie nur mit geübter Hand schwarz überziehen.17

Die Beschreibung dieser Szene legt nahe, dass Anselmus von einer den Zeichen innewohnenden Resonanz ergriffen wird: Während er ihren Klang vernimmt, werden sie ihm wie von selbst immer »verständlicher«, gerade so, als werde sein Geist von ihnen gewissermaßen gestimmt. Doch ist die Klangresonanz nur ein Teil der Resonanzmaschine, die in der Erzählung von E.T.A. Hoffmann in Bewegung gesetzt wird. Der Schreibvorgang seinerseits vollzieht sich offenbar folgendermaßen: Serpentina zeichnet mit Hilfe ihrer magischen Kraft einen leichten Schatten vor, den Anselmus mit Tusche nur nachzuzeichnen braucht. Er muss also nichts weiter tun, als mit höchster Konzentration und geübter Hand etwas in seiner Form bereits Vorgegebenes mit kräftigen Strichen auszuführen. Diese Verfahrensweise gleicht auf überraschende Weise genau derjenigen, die auch heute noch beim Erlernen chinesischer (und pseudo-chinesischer) Schriftzeichen angewendet wird (Farbtafeln, Abb. 12).18 Durch diese Vorgehensweise wird deutlich, inwiefern die Vernachlässigung der Schriftbedeutung die Voraussetzung dafür ist, Resonanzeffekte erfassen zu können. Darüber hinaus führt uns diese Episode vor Augen, dass die ästhetische Resonanzmaschine dabei an Praktiken gebunden ist, die in der westlichen Kultur nicht weiter von Bedeutung sind, in orientalischen und fernöstlichen Kulturen jedoch eine wichtige Rolle spielen. Solche Praktiken, mag man sie nun Schreiboder Kulturtechniken nennen, werden vor allem dann relevant, wenn es um interkulturellen Transfer geht – und nichts anderes betreibt Anselmus, wenn er die ihm fremden Schriftzeichen gedankenlos und gleichwohl perfekt kopiert. Mit seiner ebenso gewissenhaften wie hingebungsvollen Arbeit gewinnt Anselmus schnell das Zutrauen des Archivarius. Doch das Wichtigste bleibt noch zu tun, »und das ist das Abschreiben oder vielmehr Nachmalen gewisser in besonderen Zeichen geschriebener Werke«,19 die der Archivarius nicht in der Bibliothek, sondern in seinem Zimmer aufbewahrt. Als dieser dann ein Pergament mit solchen Zeichen ausrollt, wird Anselmus von großer Verwunderung »über die seltsam verschlungenen Zeichen [ergriffen], und bei dem Anblick der vielen 17 Ebd., S. 216; SW 2.1, S. 274. 18 Christoph Gottlieb von Murr hat in seinem Journal den »Auszug eines Schreibens des P[ater] Amiot an Herrn Deguignes, über die Methode der Sineser, ihre Sprache zu erlernen« abgedruckt und so dem deutschen Publikum dieses Verfahren vorgestellt. Die »Vorschriften«, so wird berichtet, »sind roth, man übermalt sie schwarz, hierauf legt man einen weißen Bogen Papier auf eines der rothen Muster, und zeichnet alle Charaktere genau nach. Ist diese Uebung eine Zeit lang fortgesetzt worden, so kann man einen Versuch machen, diese Buchstaben auswendig zu malen.« (Christoph Gottlieb von Murr: Journal zur Kunstgeschichte und zur allgemeinen Litteratur. Vierter Theil, 1777, S. 211–215, hier S. 214) 19 E.T.A. Hoffmann: Fantasie- und Nachtstücke, S. 225; SW 2.1, S. 285.

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Pünktchen, Striche und Züge und Schnörkel, die bald Pflanzen, bald Moose, bald Tiergestalten darzustellen schienen, wollte ihm beinahe der Mut sinken, alles so genau nachmalen zu können«.20 Doch auch jetzt hilft ihm die Liebe Serpentinas, die hier die affektive Kraft der Resonanz symbolisiert, und so macht er sich daran, »die fremden Zeichen der Pergamentrolle zu studieren«21 und zu kopieren. Die Begegnung mit dem phantastischen Zauberreich wundersamer Zeichen löst aber gleichzeitig in Anselmus einen Konflikt zwischen dem künstlerischen und dem bürgerlichen Leben aus.22 In jenem Augenblick, in dem er an Veronika denkt und sich nach dem Familienglück sehnt, ist es mit seiner Fähigkeit des Kopierens vorbei: […] er sah auf der Pergamentrolle so viele sonderbare krause Züge und Schnörkel durcheinander, die, ohne dem Auge einen einzigen Ruhepunkt zu geben, den Blick verwirrten, daß es ihm beinahe unmöglich schien, das alles genau nachzumalen. Ja, bei dem Überblick des Ganzen schien das Pergament nur ein bunt geaderter Marmor oder ein mit Moosen durchsprenkelter Stein.23

Trotz aller Anstrengung wollen ihm die Schriftzüge nun nicht mehr problemlos wie gewohnt aus der Feder fließen und ein Klecks oder Spritzer verunstaltet das Blatt. Daraufhin durchfährt das Zimmer ein Blitz und das zu Beginn des ersten Kapitels prophezeite Unheil (»fall ins Kristall«) kündigt sich mit aus den Wänden dringendem Dampf und flackernden Feuern an. Zur Strafe für sein Versagen wird Anselmus in eine Kristallflasche eingeschlossen, in der er »regungs- und bewegungslos in einem festgefrornen Äther«24 erstarrt. Noch rechtzeitig wird sich Anselmus aber der Enge des bürgerlichen Lebens bewusst, für die jene Kristallflasche steht, und entscheidet sich für Serpentina, womit der Zauber, der ihn in die Flasche gebannt hatte, gebrochen wird. Hoffmann spielt hier mit ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen der unleserlichen Zeichen, die nur unter der Voraussetzung, dass Serpentina anwesend ist, entziffert und geschrieben werden können: Als verwandelte Schlange beherrscht sie gewissermaßen die Sprache der Natur und unterhält eine direkte Beziehung zu ihren Zeichen, für die ein nüchtern bürgerlicher Mensch nur blind sein kann.

20 Ebd., S. 226; SW 2.1, S. 286. 21 Ebd. 22 Zum Gegensatz von bürgerlicher Existenz und Künstlerexistenz vgl. Günter Wöllner: E.T.A. Hoffmann und Franz Kafka. Von der »fortgeführten Metapher« zum »sinnlichen Paradox«, Bern/Stuttgart: Haupt 1971, S. 78ff. 23 E.T.A. Hoffmann: Fantasie- und Nachtstücke, S. 238; SW 2.1, S. 301. 24 Ebd., S. 240; SW 2.1, S. 303.

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Pragmatische Schriftblindheit bei Goethe Um des Divans willen setzte ich meine Studien orientalischer Eigenheiten immer fort und wendete viele Zeit darauf; da aber die Handschrift im Orient von so großer Bedeutung ist, so wird man es kaum seltsam finden, daß ich mich, ohne sonderliches Sprachstudium, doch dem Schönschreiben mit Eifer widmete und zu Scherz und Ernst orientalische mir vorliegende Manuscripte so nett als möglich, ja mit mancherley herkömmlichen Zierrathen nachzubilden suchte. Dem aufmerksamen Leser wird die Einwirkung dieser geistig technischen Bemühungen bey näherer Betrachtung der Gedichte nicht entgehen.25

Was E.T.A. Hoffmann in der Erzählung Der goldene Topf am Beispiel der kalligraphischen Exerzitien seines Protagonisten Anselmus literarisch inszeniert, wird von Goethe mit ebenso eifriger technischer Nüchternheit wie lebhafter Neugier auf den ästhetischen Effekt praktiziert. Obwohl Goethe, wie er eingesteht, das Arabische nie wirklich erlernt hat, verfolgen seine »geistig technischen« Schreibübungen doch ein ganz konkretes Ziel: Sie bezwecken, den Vorgang der Niederschrift arabischer Zeichen in ihrer Bewegung sinnlich zu erfahren. Goethe nähert sich dem Arabischen, ohne dass für ihn die referentielle Funktion der Schrift irgendeine Rolle spielen würde. Ein solcher Zugang zum Fremden aber ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereits problematisch geworden. Denn wie Andrea Polaschegg in ihrer umfangreichen Studie zum deutschen Orientalismus gezeigt hat, musste sich Goethe bereits »auf einem sich ausdifferenzierenden Feld des Wissens positionieren […], dessen Spezialisierungswege gerade entlang von Sprachgrenzen verlaufen«26: Die Orientalistik entstand als eine philologische Wissenschaft, und damit wurde die Kenntnis der orientalischen Sprachen zum obersten Kriterium philologischer Kompetenz. Wenn es also zu dieser Zeit so etwas wie »einen neuralgischen Punkt für die Konstitution einer west-östlichen Autorschaft gibt, dann liegt sie in der Sprachkompetenz«.27 Doch diesen heiklen Punkt umgeht Goethe. Um seine Autorposition in dem höchst komplexen Feld zu behaupten, erweckt er souverän den Eindruck, eine gewisse Sprachkompetenz zu besitzen, was Polaschegg »als Effekt einer subtilen Strategie«28 deutet: In Goethes Schriften findet sich an keiner Stelle die Behauptung, er sei des Arabischen, Persischen oder Osmanischen mächtig gewesen. Stattdessen verfolgte er in seinen Tag- und Jahresheften »eine Strategie der Öffnung von Deutungsmöglichkeiten«:29 Wo eine Übersetzung, wie z. B. die Diwan25 Johann Wolfgang Goethe: Tag- und Jahreshefte, in: FA I, 17, S. 283; WA I, 36, S. 125–126. 26 Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin/New York: de Gruyter 2005, S. 319. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd.

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Übersetzung von Hammer, die Bedingung des Zugangs zum Text ist, spricht Goethe von »Veranlassung«,30 und mit suggestivem Kalkül fährt er fort, dass er sich »zur Sprache« hingewandt habe, »insofern es unerläßlich war jene Luft zu athmen, sogar zur Schrift mit ihren Eigenheiten und Verzierungen[:] Ich rief die Moallakats hervor, deren ich einige gleich nach ihrer Erscheinung übersetzt hatte.«31 Mit großem Geschick verwirrt Goethe die Zusammenhänge und erweckt beim Leser den Anschein, als hätte er selbst die Verse, welche in den Noten und Abhandlungen zu finden sind, ins Deutsche übertragen – doch geschah dies keineswegs aus dem Original, sondern vielmehr unter Zuhilfenahme der englischen Übersetzung von William Jones.32 Andererseits, so ebenfalls in den Tag- und Jahresheften, verschweigt Goethe seine Unkenntnis der arabischen Sprache nicht und rückt stattdessen die Beschäftigung mit der Schrift in den Vordergrund. Auf den ersten Blick mögen diese Schreibversuche wie eine rein technische Bemühung aussehen, doch ging es Goethe vornehmlich um das Erleben des Schreibens, d. h. darum, in der Bewegung der schreibenden Hand die Aktivität als solche in sich aufzunehmen: den Schwung der Geste, der unmittelbar mit dem Schreibakt verbunden ist. Sein spezieller Umgang mit der arabischen Schrift zielt auf etwas, was man die ›erlebende Anschauung‹ dieser Schrift nennen könnte. Damit steht Goethe in völliger Opposition zu Rückert, der sich monatelang intensiv in das Studium fremder Sprachen versenkte und anschließend versuchte, ihren poetischen ›Geist‹ adäquat ins Deutsche zu übertragen. Goethe hingegen sucht statt der Sprache die fremde Schrift im anschauenden, geistig-technischen Nachzeichnen ihrer Bewegung gleichsam zu erspüren und sich so dem Inhalt zu nähern. Und wenn es dann bei ihm heißt, er möchte sich »mit diesen Schätzen [persischer Dichtung; A.K.] an der Quelle bekannt machen«,33 dann meine er damit, so Polaschegg, die »papiernen Quellen orientalischer Texte […], denen sich Goethe während seiner Arbeit am Divan in philologisch anmutender Manier immer wieder zugewandt hat« und die ihm als »bloße Schriftgestalten«34 begegneten. 30 Goethe: Tag- und Jahreshefte, in: FA I, 17, S. 259; WA I, 36, S. 91. 31 FA I, 17, S. 260; WA I, 36, S. 91. Die Moallakat sind sieben lyrische Gedichte aus vorislamischer Zeit; vgl. Katharina Mommsen: Goethe und die Moallakat, Berlin: Akademie 1960 (Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst, Jg. 1960, Nr. 2); weiter ausgeführt in: dies.: Goethe und die arabische Welt, Frankfurt a. M.: Insel 1988. 32 Vgl. dazu Polaschegg: Der andere Orientalismus, S. 320; ebenso Anke Bosse: »Meine Schatzkammer füllt sich täglich«. Die Nachlaßstücke zu Goethes »West-östlichem Divan«. Dokumentation-Kommentar, 2 Bde, Göttingen: Wallstein 1999, Band I, S. 64. Bosse weist darauf hin, dass Goethe die Übersetzung aus dem Englischen bereits im November 1783 vorgenommen hat. 33 Goethe: West-östlicher Divan, FA I, 3.1, S. 200; vgl. GA 3, S. 474. 34 Polaschegg: »Diese geistig technischen Bemühungen…« Zum Verhältnis von Gestalt und Sinnversprechen der Schrift, S. 284.

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Dass Goethe überhaupt eine solche Erfahrung der Schrift machen konnte, hat, wie in der Forschung bereits mehrfach herausgestellt worden ist, seine notwendige Bedingung in der Unlesbarkeit dieser Schrift für den Dichter. Für Anke Bosse ist vor allem entscheidend, »daß Goethe die arabische Sprache nicht erlernte, also die konventionalisierten Bedeutungen des sprachlichen Zeichens, und daß dies offensichtlich gerade die Voraussetzung dafür war, daß er so euphorisch auf die pure Materialität der arabischen Buchstaben reagieren konnte.«35 Auch Köpnick und Graevenitz folgen in ihren Überlegungen ikonographisch-poetologischen Interpretationsansätzen,36 die jedoch, wie Andrea Polaschegg meint, »an Goethes Konzept der arabischen Schrift und ihrem Gebrauch durch den Dichter vorbei[führten]«.37 Entgegen der von Graevenitz vertretenen Auffassung, wonach die arabische Schrift für Goethe die Selbstreferentialität von Schrift überhaupt ins Bild gesetzt habe,38 liegt ihrer Ansicht nach der Reiz der arabischen Schrift für Goethe gerade darin, dass sie überhaupt keine referentielle Funktion mehr besitzt: »In Goethes Umgang mit ihr bezeichnet sie weder sich selbst noch etwas anderes, noch bildet sie etwas ab, sondern sie birgt etwas in sich.«39 Der von Goethe gewählte Zugang zur arabischen Schrift folge weder der Form des Lesens oder Dekodierens noch der des Betrachtens. Gleichzeitig sei er aber »wesentlich konkreter« als dasjenige Verfahren, welches die jüngere Forschung mit dem ebenso schillernden wie problematischen Begriff der ›magischen Präsenz‹ von Zeichen bzw. Worten benannt hat. Polaschegg weist in ihren Ausführungen immer wieder darauf hin, wie sehr Goethe sich auf »bestechend handgreifliche und keineswegs übersinnliche Weise«40 der arabischen Schrift nähert, wenn er sich, wie er es selbst formuliert hat, »in den Schreibzügen üb[t]« und lernt, sie »nach[zu]bilden«.41 35 Anke Bosse: »Magische Präsenz. Zur Funktion von Schrift und Ornament in Goethes Westöstlichem Divan«, in: Arcadia. Zeitschrift für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 33/2 (1998), S. 314–336, hier S. 319 (Hervorhebungen im Original); vgl. auch Polaschegg: Der andere Orientalismus, S. 321f. 36 Vgl. Lutz Köpnick: »Goethes Ikonisierung der Poesie. Zur Schriftmagie im West-östlichen Divan«, in: DVjs 66/2 (1992), S. 361–389, hier S. 364 und Gerhart von Graevenitz: Das Ornament des Blicks. Über die Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes West-östlicher Divan, Stuttgart: Metzler 1994, S. 20ff. Der ikonographische Interpretationsansatz lässt sich bis zu Werner Kellers Studie Goethes dichterische Bildlichkeit. Eine Grundlegung (München: Fink 1972) zurückverfolgen. 37 Polaschegg: Der andere Orientalismus, S. 332. 38 Auch bei Köpnick findet sich »das Konzept einer von kommunikativen Zwängen und gesellschaftlichen Konventionen entfesselten Poetik, in der sich das Poetische gerade dadurch realisiert, daß sich die Schrift allein um die Schrift kümmert« (Köpnick: Goethes Ikonisierung der Poesie, S. 363). 39 Polaschegg: Der andere Orientialismus, S. 332 (Hervorhebung im Original). 40 Ebd. 41 Zitate aus dem Brief Goethes an Christian Heinrich Schlosser vom 23. 1. 1815; WA IV, 25, S. 165.

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Der Begriff der Resonanz setzt, ganz im Sinne von Polaschegg, weder eine Referentialität noch eine Signifikation der Zeichen voraus, und ebenso wenig impliziert er eine übersinnlich-magische Dimension, wie Köpnick sie im Auge hat, wenn er vom »sinnlich-übersinnlichen Charakter der arabischen Schrift«42 spricht; vielmehr läuft seine Verwendung auf eine sinnliche Erfahrung mit der Schrift hinaus (Abb. 13).

Abb. 13: Johann Wolfgang Goethe, Arabische Schreibstudien. Eigenhändige Exzerpte aus Heinrich Friedrich von Diez’ Denkwürdigkeiten von Asien, Bd. II (Berlin: Nicolai 1815); Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar.

Aufschlussreich ist die Beobachtung, Goethe »mal[e] die arabische Schrift nach, und zwar nicht Buchstabe für Buchstabe, sondern von Anfang an in Form 42 Köpnick: Goethes Ikonisierung der Poesie, S. 362.

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ganzer Wörter, Wendungen und Verse, in den seltensten Fällen mit Notation ihrer Bedeutung und oft auch ohne Transkription«.43 Wie Polaschegg mit Verweis auf Bosse44 weiter ausführt, sei es Goethes Bestreben gewesen, die arabischen, persischen oder osmanischen Wörter nachzumalen. Der Ausdruck ›nachmalen‹ impliziert etwas Mechanisches, wie es auch die ursprünglich physikalische Bedeutung von Resonanz nahelegt. Die Schrift fungiert dabei als ein anregendes Moment, durch das Goethes Geist und Körper in Bewegung versetzt werden. Die Resonanz überträgt sich während der Schreibexerzitien über die schreibende Hand auf den ganzen Körper, der damit gleichsam zum Resonanzkörper wird. Polaschegg argumentiert im Grunde schon resonanzästhetisch, wenn sie zeigt, wie der Dichter hier zum Wortmaler wird, indem er von Anfang an ganze Wörter, Verse, Wendungen festhält, doch bei seinen Schreibübungen deren Übersetzungen konsequent weglässt, oder indem er beim Erstellen von Vokabellisten allein die Transkription in lateinischen Buchstaben notiert, jedoch keinerlei Übersetzung gibt.45 Hinzu kommt, dass Goethe offenbar nicht das Ziel verfolgt hat, sein Schriftbild ästhetisch so weit zu perfektionieren, dass es als Kalligraphie angesehen werden könnte.46 Ihm sei es vielmehr in erster Linie um die »Einkörperung des Orients durch handelnden Nachvollzug seiner mit Sinn aufgeladenen, aber unlesbaren Schrift«47 gegangen.

Analytische Schriftblindheit in der Graphologie Zwischen Goethes »geistig technischen Bemühungen« beim Nachmalen einer für ihn unlesbaren Schrift, E.T.A. Hoffmanns literarischer Inszenierung von Schriftblindheit und van Goghs Reproduktion sino-japanischer Schriftzüge als unleserliche Zeichen gibt es einen direkten Zusammenhang. Das, was Dichter und Maler im Geiste künstlerischer Kreativität anhand fremder Schriftzeichen praktizieren, wird gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand medizinischer Betrachtungen gemacht. »Der Patient«, schreibt Constantin von Monakow über die Symptome der »Alexie«, »kann die Buchstaben genügend scharf sehen, er kann sie spontan schreiben, ja er kann sie event[uell] sogar tadellos abschreiben – und ist gleichwohl nicht imstande, Geschriebenes und Gedrucktes, ja mitunter das was er unmittelbar vorher selbst deutlich und korrekt niedergeschrieben hatte (Notizen, kurze Briefe), zu lesen.«48 43 44 45 46 47 48

Polaschegg: Der andere Orientalismus, S. 333. Bosse: Meine Schatzkammer füllt sich täglich I, S. 173, ebenso S. 242f. Vgl. Goethes Morgenlandfahrten, S. 244, Abb. 85. Vgl. Polaschegg: Der andere Orientalismus, S. 333–334. Ebd., S. 396. Constantin von Monakow: »Über den gegenwärtigen Stand der Frage nach der Lokalisation

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Mediziner wie Adolf Kussmaul und Richard Krafft-Ebing49 haben den Begriff ›Schriftblindheit‹ zur Bezeichnung einer Sprach- bzw. Lesestörung eingeführt, die im Zusammenhang mit Störungen der optischen Sphäre auftritt und häufig nur bei bestimmten Schriftgattungen oder -typen zu beobachten ist.50 Dabei wird das Lesen vor allem dadurch erschwert, »dass es an der Uebersicht über die nächstfolgenden Buchstaben und Wörter fehlt, aber jeder einzelne Buchstabe wird erkannt und ebenso jede Buchstabenfolge […]«.51 Einen ganz besonderen Fall von ›Schriftblindheit‹ schildert der bekannte Chandos-Brief von Hugo von Hofmannsthal. Eine Szene stellt den Moment des Erschreckens dar, als der Briefleser plötzlich das Gefühl hat, von den Wörtern angestarrt zu werden: Und konnte ich, wenn ich anders derselbe bin, alle Spuren und Narben dieser Ausgeburt meines angespanntesten Denkens so völlig aus meinem unbegreiflichen Innern verlieren, daß mich in Ihrem Brief, der vor mir liegt, der Titel jenes kleinen Traktates fremd und kalt anstarrt, ja daß ich ihn nicht als ein geläufiges Bild zusammengefaßter Worte sogleich auffassen, sondern nur Wort für Wort verstehen konnte, als träten mir diese lateinischen Wörter, so verbunden, zum ersten Male vors Auge? 52

Chandos nähert sich mit Hilfe einer kreativen Schriftblindheit und unter Vermeidung transzendentaler Begriffe wie ›Geist‹ oder ›Seele‹ einer Sprache, in welcher »die stummen Dinge«53 zu ihm reden. Dieser Diskurs der stummen Dinge ähnelt auf bemerkenswerte Weise jenem ›nicht-diskursiven Diskurs‹

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im Grosshirn«, in: Ergebnisse der Physiologie, biologischen Chemie und experimentellen Pharmakologie 6 (1907), S. 334–605, hier S. 416–417. Richard Krafft-Ebing: Lehrbuch der gerichtlichen psychopathologie mit beru¨ cksichtigung ¨ sterreich, Deutschland und Frankreich, Stuttgart: Enke, 3. Aufl. 1892. der gesetzgebung von O Vgl. Anton Leischner: Die Störungen der Schriftsprache. Agraphie und Alexie, Stuttgart: Thieme 1957, S. 125 und 200. Ernst Leyden/Felix Klemperer (Hg.): Deutsche Klinik am Eingange des zwanzigsten Jahrhunderts, Band 6, Berlin/Wien: Urban & Schwarzenberg 1906, S. 520. Ebenso bei Monakow: »Der Schriftblinde erkennt mitunter einzelne Buchstaben oder auch Silben, aber er vermag sie nicht nacheinander so aufzufassen und sie als zusammenhängende Worte festzuhalten, dass er zum Verständnis des Gelesenen gelangte und handele es sich da nur um einzelne Worte.« (Monakow: Über den gegenwärtigen Stand der Frage nach der Lokalisation im Grosshirn, S. 417) Ludwig Lichtheim sieht die Ursache für die isolierte Schriftblindheit – das ist der Fall, wenn man Schriftzeichen kopieren, aber nicht verstehen kann – in einer »Läsion der Verbindung zwischen den optischen Erinnerungsbildern der Schriftzeichen und den Wortklangbildern« (Ludwig Lichtheim: »Ueber Aphasie. Aus der medicinischen Klinik in Bern«, in: Deutsches Archiv für klinische Medicin 36/3–4 (1885), S. 204–268, hier S. 265). Hugo von Hofmannsthal: »Ein Brief« [1902], in: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, hg. von Rudolf Hirsch, Clemens Köttelwesch, Christoph Perels, Edward Reichel, Heinz Rölleke, Ernst Zinn, Frankfurt a. M.: Fischer 1991, Band XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe, hg. von Ellen Ritter, S. 45–46. Vgl. Hofmannsthal: Ein Brief, S. 54.

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(Gesten, Bilder, Zeichen der Leere), der in Roland Barthes’ Japan-Buch permanent präsent ist. Auf eine alexische Umgangsweise mit der Schrift kommt auch Ludwig Klages bei seinem Versuch zu sprechen, eine Methode für die psychologische Deutung der Handschrift zu entwickeln. Er geht davon aus, dass man etwas Geschriebenes einerseits lesen, andererseits aber auch nur sehen kann, was zwangsläufig eine von Grund auf andere Betrachtungsweise impliziert. Um Schriftzeichen zum Gegenstand der Graphologie werden zu lassen, müssen sie aus einer gewissen Distanz heraus als eine unlesbare Schreibspur aufgefasst werden. Mit »Schreibspur« ist hier die sinnliche Erscheinungsform einer Schrift gemeint, die man nicht lesen, sondern eben nur sehen kann, und zwar als ein Bild oder als eine Figur. Klages macht sogar den Vorschlag, bei einer Untersuchung die Handschrift um 180 Grad zu drehen, um die mehr oder weniger geordnete Verteilung des Geschriebenen deutlicher erkennen zu können: Um es sich anschaulich zu machen, daß die Verteilung der Schriftmassen »harmonisch«, rhythmisch oder, wenn man will, »ästhetisch« wirkt, tut der Anfänger gut, das Skriptum auf den Kopf zu stellen und sich zumal den »optischen Lücken« zwischen den Lettern zuzuwenden.54

Und wenig später heißt es: Man stelle […] diese Schrift auf den Kopf, sie gleichsam als Ornament betrachtend, und man wird angesichts ihres »unorganischen« Baues ein fast körperliches Mißbehagen kaum unterdrücken können. Jeder natürliche »Wellenschlag« der Bewegung scheint unterbrochen und aufgehoben durch die gebauschten Schleifen der Unterlängen, und vollends streitet mit ihm die gleichgewichtslose Plazierung der rückenreißenden Zwischenräume, indem die Zeilen bald enger, bald weiter sind, bald sich einander nähern, bald kraftlos auseinanderfallen.55

Klages betrachtet die Schriftzeichen zunächst einmal als »Ornament«.56 Aber auch dieser Begriff verstellt etwas vom graphologischen Blick auf die Schrift, weshalb Klages das Wort »gleichsam« hinzufügt. Um das Schriftbild als Ausdruck des Charakters lesen zu können, müssen insbesondere der Rhythmus und die Massenverteilung der Schrift Berücksichtigung finden. Für die Untersuchung der Bewegungsgewichtungen und der Längenunterschiede zwischen Kurz- und Langbuchstaben unterscheidet Klages eine Vielzahl von begrifflichen Nuancen: »Aufstrich«, »Anfangsaufstrich«, »Endstrich«, »Haarstrich«, »Schattenstrich« 54 Ludwig Klages: Handschrift und Charakter. Gemeinverständlicher Abriss der graphologischen Technik, Leipzig: Barth 1917, S. 2–3. 55 Ebd., S. 3–4. 56 Vgl. dazu auch die Ausführungen in »Begriff und Tatbestand der Handschrift« in: Ludwig Klages: Sämtliche Werke, hg. von Ernst Fauchinger, Gerhard Funke u. a., Band 8: Graphologie II, 2. Aufl. Bonn: Bouvier 1986, S. 192.

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usw., womit seine Begrifflichkeit in die Nähe abstrakter Künstler wie Kandinsky rückt.57 In den vierziger Jahren hat Klages seine Studie weitgehend überarbeitet und interkulturelle Aspekte einbezogen, um schließlich eine kulturübergreifende Analyse des Verteilungsrhythmus’ zu entwickeln und sie auf die Handschrift anzuwenden: Wer den anschaulichen Gehalt einer Handschrift ermitteln will, der muß zunächst einmal beiseitestellen seine persönliche Vorliebe für lateinische oder deutsche Schrift, für Großheit oder Kleinheit der Züge, für Dicke oder Dünnheit, Weite oder Enge, Bogen oder Winkel usw. Er muß ferner auch beiseitestellen jede Gewohnheitsregel. Es hat ihn garnichts mehr anzugehen, ob die Handschrift leserlich sei oder unleserlich, stahlfedergerecht oder griffelgerecht. Er betrachte sie vielmehr vorderhand so, als wäre sie nichts als eine mit Linien belebte Fläche, und erleichtere sich das womöglich dadurch, daß er das Blatt auf den Kopf stellt. Gelingt es ihm nun, alle jene Nebenrücksichten auszuschalten, so empfängt er unfehlbar von ihr den Eindruck schlechtweg eines Gebildes und wird alsbald einen ebenso sicheren Blick gewinnen für dessen sinnlichen Charakter wie für die sachlich bestimmbaren Eigenschaften.58

Trotz eingehender Überarbeitung seiner Methode bleibt Klages auch weiterhin bei seiner Empfehlung, das Blatt um 180 Grad zu drehen, um die Schrift von ihrem Charakter, etwas Lesbares zu sein, zu befreien, und etwas Anderes in den Blick fassen zu können: »Man wird sich bequemen müssen, die ganze Lehre von den ›Zeichen‹ fallenzulassen.«59 Die konsequente Affirmation der Linien und ihrer Bewegung ist die Voraussetzung dafür, dass die Schrift als eine ästhetische Form oder Figuration wahrgenommen wird, die angeschaut und darüber hinaus zum Ausdruck einer anderen Sprache werden kann (der Sprache der Dinge, der Natur, des Charakters, des Schicksals und dergleichen). Gleichzeitig markiert sie den Punkt einer Durchlässigkeit für das Fremde im Stadium seiner äußersten Fremdheit, z. B. wenn man mit einer Kultur konfrontiert wird, deren Schrift man nicht kennt oder vorher noch nie gesehen hat. Dieser Prozess wiederholt sich unaufhörlich beim Lesen von Geschriebenem oder beim Erlernen einer fremden Schrift. Zur Linienform gesellt sich dabei, mit Klages gesprochen, die Vorstellung eines Sinnes: »Bis zu welchem Grade, ermesse man vorab aus dem naiven Staunen, das

57 Vgl. Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst, Bern: Benteli 2004 (EA München: Piper 1912); sowie »Über die Formfrage«, in: ders.: Essays über Kunst und Künstler, hg. von Max Bill, Stuttgart: Hatje 1955, S. 15–45; weiterhin ders.: Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente, 3. Aufl., Bern: Benteli 1955 (zuerst erschienen als 9. Bauhaus-Buch in München bei Langen 1926). 58 Ludwig Klages: Handschrift und Charakter. Gemeinverständlicher Abriss der graphologischen Technik, 23. Aufl., Zürich: Hirzel 1949, S. 21. 59 Klages: Zur Methode der Graphologie, S. 51 (Hervorhebung im Original).

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platzzugreifen pflegt, wenn auf einem Blatt mit chinesischer Schrift sich das krause Wirrsal spitziger Linien dem Kundigen ebenso leicht in lesbare Gruppen gliedert wie einem selbst die gewohnte Kursive.«60

Abb. 14: Kilian von Gayrsperg, Gross-Peking und seine Umgebung. Ein Handbuch für Reisende am 29. Februar 1892.

Den umgekehrten Effekt der Verfremdung einer gewohnten Kursive verdeutlicht auf humorvolle Weise ein fiktiver Reiseführer für den Großraum Peking, der wohl als Faschingsscherz gedacht war (man beachte das Datum, Abb. 14). Die vertikalen Buchstaben erscheinen in ihrem Arrangement fremdartig, und man könnte aus ihnen sogar gewisse Elemente herauslesen, die zwar nicht an chinesische, aber immerhin an japanische Zeichen erinnern, wie z. B. an

60 Ludwig Klages: »Begriff und Tatbestand der Handschrift«, in: Sämtliche Werke, Band 8: Graphologie II, S. 190–191.

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das Katakana キ (ki). Dreht man jedoch das Blatt um neunzig Grad nach links, klärt sich alles auf.

Exotisierte Schriftblindheit in der Fremde Japanische Farbholzschnitte haben nicht nur Maler wie van Gogh inspiriert, sondern auch Dichter wie beispielsweise Arno Holz61 und Rainer Maria Rilke, dessen 1908 in den Neuen Gedichten anderer Teil veröffentlichtes Gedicht »Der Berg« auf die Beschäftigung mit Katsushika Hokusais (1760–1849) Bilderzyklen der 36 Ansichten des Berges Fuji und der 100 Ansichten des Berges Fuji zurückgeht.62 Vor allem aber auf Max Dauthendey (1867–1918), der Anfang des 20. Jahrhunderts zu den meistgelesenen Autoren exotischer Literatur in Deutschland zählte,63 wirkten die japanischen Farbholzschnitte besonders nachhaltig. Wie schon bei van Gogh spielen auch hier die unleserlichen japanischen Schriftzeichen eine wesentliche Rolle. Dauthendeys Erzählungen Die acht Gesichter am Biwasee (1911) 64 gehen ¯ mi ( jap. O ¯ mi unmittelbar auf Hiroshiges berühmten Zyklus Acht Ansichten von O hakkei) 65 zurück, und man kann sie durchaus als literarische Phantasien eines deutschen Dichters über japanische Farbholzschnitte bezeichnen. Für Dauthendey waren diese Bilder Anlass für jeweils eine Geschichte, für die er den vom 61 Über die Rezeption japanischer Holzschnitte bei Arno Holz siehe Simone Winko: »›Hinter blühenden Apfelbaumzweigen steht der Mond auf‹. Japanrezeption und Wahrnehmungsstrukturen in Arno Holz’ frühem Phantasus«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 38 (1994), S. 171–206. 62 Vgl. Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Werkausgabe, Band 1, Frankfurt a. M.: Insel 1955, S. 638–639. Mit den Verszeilen »Sechsunddreißig Mal und hundert Mal / hat der Maler jenen Berg geschrieben« spielt Rilke direkt auf die Titel der beiden Bilderzyklen an. 63 Von der geradezu immensen Popularität zeugt die Tatsache, dass Die acht Gesichter am Biwasee 1935 die 40. Auflage erreichten; vgl. dazu Ulrike Stamm: »Die ›Schrift der Natur‹ in Max Dauthendeys Novellen. Die acht Gesichter am Biwasee«, in: Walter Gebhard (Hg.): Ostasienrezeption zwischen Klischee und Innovation. Zur Begegnung zwischen Ost und West um 1900, München: Iudicium 2000, S. 59–82. 64 »Gesichter« ist hier in der Bedeutung von ›Ansichten‹ zu verstehen. ¯ mi bezeichnet jene Gegend, die an den Biwa-See grenzt und heute zur Präfektur Shiga 65 O ¯ mi ein gehört. Wie viele andere japanische Kunstwerke greifen die Acht Ansichten von O chinesisches Vorbild auf, nämlich die Acht Ansichten von Xiaoxiang (Xiaoxiang Bajing) aus der Song-Zeit, die von Shen Kuo (1031–1095) stammen und in der ursprünglichen Form auf den Maler Dong Yuan (934–962), Südliche Tang, zurückgehen. Im 15. Jahrhundert haben dann japanische Künstler, dem chinesischen Vorbild folgend, acht besonders eindrucksvolle ¯ mi hakkei) ausgewählt und mit charakteristiAnsichten der Landschaft um den Biwasee (O schen Begebenheiten verbunden: Abendschnee auf dem Berg Hira; Zug der Wildgänse über Katata; Nachtregen in Karasaki; Abendglocke im Miidera-Tempel; Brise in Awazu an einem klaren Sonnentag; Abendrot am Fluss Seta; Herbstmond über Ishiyama; Heimkehrende Segel in Yabase.

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japanischen Künstler vorgegebenen Titel übernahm bzw. geringfügig modifizierte, was auf den großen Spielraum der Übersetzung ins Deutsche zurückzuführen ist. Diesem Konzept folgend, wurde so der Holzschnitt Yabase kihan, dt. Heimkehrende Segel bei Yabase (Farbtafeln, Abb. 15), zum Ausgangspunkt der Erzählung Die Segelboote von Yabase im Abend heimkehren sehen. Im Mittelgrund des Bildes sind einige Boote zu sehen, die gerade ans Ufer zurückkehren, während ihre weißen großflächigen Segel heruntergelassen werden. Welche der voneinander abweichenden Versionen von Hiroshiges Holzschnitt Dauthendey gekannt hat, entzieht sich unserer Kenntnis, aber man darf vermuten, dass er durch dessen Bilder, in denen Schriftzeichen in eine bildliche Darstellung integriert sind, dazu angeregt wurde, auch im Kontext seiner Erzählungen Schriftzeichen in die dargestellte Landschaft zu projizieren.66 Doch anders als auf dem Bild von Hiroshige sind es bei Dauthendey die über die weite Wasserfläche ziehenden Segel, auf denen ganz plötzlich, hervorgerufen durch ihren Faltenwurf im abflauenden Wind, Schriftzeichen zu erkennen sind: In der Richtung nach Yabase erschienen drei Segelboote. Die drei Segel glitten wie senkrechte Papierwände über das abendglatte Wasser. Man sah keine Menschen; denn jedes Segel reichte so tief, daß es das Boot verdeckte. Die aufgepflanzten Segel wurden größer und kamen näher: Hanake fühlte eine Bangigkeit, als kämen mit den drei Segeln drei weiße, unbeschriebene Blätter aus ihrem Schicksalsbuch geschwommen, und plötzlich las sie, als eine Sekunde von Windstille die Segel schlaff werden ließ, ein japanisches Schriftzeichen, zufällig entstanden aus den Falten jeder Segelleinwand. Das erste Boot sagte: »Ich grüße dich.« Das zweite Boot sagte: »Ich liebe dich.« Das dritte Boot sagte: »Ich töte dich.«67

Diejenige, die diese eher kryptische Botschaft zu deuten versucht, ist eine junge Frau namens Hanake,68 die zusammen mit einigen Dienerinnen und Dienern das elterliche Haus am Biwasee bewohnt. Als sie die Schriftzeichen auf den Segeln sieht, bezieht sie deren Bedeutung, als spräche das Schicksal unmittelbar zu ihr, sofort auf sich. Aus den drei geheimnisvollen Chiffren entwickelt sich dann im Folgenden eine tragische Liebesgeschichte. Konstitutiv für die Erzählung ist vor allem die trinomische Anordnung der Zeichen, die sich zur Klimax des der jungen Frau prophezeiten Todes steigert und

66 Es ist auch die These aufgestellt worden, dass sich Dauthendey auf ein Haiku bezieht, in dem von fremden Zeichen am Himmel die Rede ist, die von Wildgänsen gebildet werden. Es lautet: »Sind das holländische / Lettern am Himmel dort, oder / Fliegende Gänse?«, zit.n. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München: Beck 2004, S. 399. 67 Max Dauthendey: Die acht Gesichter am Biwasee, München: Langen 1911, S. 14 (vgl. Max Dauthendey: Gesammelte Werke in sechs Bänden, 3. Band: Novellen und Romane, München: Langen 1925, S. 102; im Folgenden GW 3). 68 Der korrekte japanische Name wäre Hanako.

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sich in der dreimaligen Wiederholung der Ereignisse fortsetzt. Die Schriftzeichen selbst, die nur aus der Ferne zu erkennen sind, da die Segel gewöhnlich bei der Einfahrt in den Hafen bereits gerefft, d. h. eingeholt werden, bei Dauthendey aber noch aufgezogen sind, werden nur aufgrund einer kurz eintretenden Windstille sichtbar. Die daran anschließende Szene ist dann in anderer Hinsicht bemerkenswert, weil hier zugleich auf den Entstehungsprozess einer Tuschmalerei angespielt wird: Nach der kurzen Windstille, die knappe Sekunden dauerte, wechselte der See seine Farbe; wie vergossene schwarze Tusche über weißes Papier lief eine Finsternis über die Seefläche, und ganz unvermittelt setzte ein trompetender Seesturm ein, der alle drei Segel fast flach auf das Wasser legte, als müßte die Leinwand den Seeschaum reiben […].69

Der Rückbezug auf Papier und Tusche, d. h. auf die sowohl für die Kalligraphie als auch für die Tuschmalerei unverzichtbaren Utensilien, legt in diesem Kontext den Gedanken an geschrieben-gemalte Schriftzeichen nahe, die sich in Hiroshiges Holzschnitt ebenso wie in der japanischen Kunst überhaupt den Raum der Bildfläche mit der Darstellung teilen. Diese Wechselbeziehung von Bild und Schrift kommt in Dauthendeys Text auf ganz besondere Weise zum Ausdruck: Hiroshiges Bild, das, wie bereits erwähnt wurde, Dauthendey als Vorlage für seine Erzählung diente, geht dem Text gewissermaßen voraus, doch enthält es selbst auch Schriftzeichen, die entweder in die Kartusche integriert sind oder in den Wolken schweben, wie in der späteren Version von Heimkehrende Segel bei Yabase aus dem Jahr 1857. Einen deutschen Leser zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird der Zusammenhang solcher zu enträtselnder Zeichen-Bilder-Kombinationen unwillkürlich an einen Rebus erinnert haben. Ein Rebus, auch als ›Bilderrätsel‹ bezeichnet, setzt sich aus einer Reihe von Bildern und Zeichen zusammen, deren Wortlaut enträtselt werden muss, sodass sich mit dem daraus kombinierten Begriff ein ganz neuer Zusammenhang ergibt.70 Versteht man nun die gesamte von Dauthendey beschriebene Szene als ein solches Bilderrätsel, dann beruht der Reiz der Erzählung vorrangig auf dem Deutungsprozess – muss doch der Wortlaut eines 69 Max Dauthendey: Die acht Gesichter am Biwasee, S. 14–15 (vgl. GW 3, S. 102). 70 Solche Rebusfolgen waren in Europa schon im 15. Jahrhundert bekannt, wo sie vor allem in Gestalt bebilderter Spottgedichte eine große Leserschaft fanden. Besonders populär war das 1522 in nordfranzösischer Mundart verfasste Werk Rébus de Picardie illuminés, das zugleich als namengebend für die Tradition des Rébus de picardie gilt. Zedler führt an, dass diese Kunst darin bestehe, »allerhand natürliche und hieroglyphische Figuren, statt gewisser Buchstaben, unter den andern Wörtern zu gebrauchen, z. B. an statt des Wortes, Hund, Auge oder Kreuz, einen Hund, Auge oder Kreuz in die Schrift einzumischen« ( Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste, Bd. 30 (Halle/Leipzig: Zedler 1741), Sp. 1264).

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ganzen Satzes erst aus einer additiv-subtrahierenden Zeichen-Bild-Konstellation herausgelesen werden. Dauthendey hat also den plot seiner Geschichte im Rebus der mit Schriftzeichen auf ihren Segeln heimkehrenden Segelboote verdichtet und diesen Zeichennukleus in eine Narration eingebunden, die dazu dient, dessen Sinn zu entfalten, ohne jedoch dem Rätsel am Ende eine Lösung zu geben. Ähnlich wie in Freuds Traumdeutung scheint für einige von Dauthendeys Erzählungen der Zusammenhang von Verdichtung, Verzerrung und Verschiebung konstitutiv zu sein. Zuerst gibt es – was schon am Titel der soeben besprochenen Erzählung abzulesen ist – eine sprachliche Verschiebung (Synekdoche), wenn vom »Segel« die Rede ist, das in der Bildlichkeit der Erzählung zum Blatt Papier wird, und zwar genau in dem Moment, als das Unwetter aufkommt, das die Segel glatt auf das Wasser zu legen scheint, das seinerseits in der poetischen Verdichtung (Metapher) zur Tusche wird. Eine weitere Verschiebung betrifft die Schriftzeichen, die, wie bereits erwähnt wurde, vom oberen Rand des Holzschnitts (in Hiroshiges Vorlage) von Dauthendey in das Bildzentrum platziert werden, um dort auf den Segeln zu erscheinen. Der im Rebus verdichtete Gedanke wird dann im Verlauf der Erzählung gleichsam entzerrt, indem seine Bestandteile entlang einer narrativen Signifikantenkette (man könnte auch mit Freud sagen: entlang einer »Assoziationskette«) verschoben werden.71 Das Spiel der Verschiebungen ist also sehr vielfältig: Es reicht von rhetorischen Figuren (Metonymie, Synekdoche, Metapher), textuellen Verfahrensweisen, die der Traumarbeit entsprechen, bis hin zu diskursiv-figuralen Übergängen zwischen den Bereichen Wort und Bild.

Die affektive Fernwirkung der Zeichen ›In der Fremde lesen‹ bedeutet in einem gewissen Sinne auch ›das Unbewusste lesen‹. Oder umgekehrt: Das Unbewusste lesen, stellt einen speziellen Fall eines ›In-der-Fremde-Lesens‹ dar. Das drückt sich in den Erzählungen von Dauthendey vor allem in einer Affektbeziehung aus, die die Zeichen ausbilden. Es scheint, als sei ihre sichtbare Gestalt uninteressant (die Zeichen werden nie als genuin japanische Zeichen dargestellt oder beschrieben); sie treten nur in der Übersetzung auf, d. h. immer schon als auf eine bestimmte Weise gedeutete Zeichen. Zwar werden sie in Dauthendeys Erzählungen von den Personen gelesen und interpretiert, die Deutung erweist sich aber immer als fatal oder falsch. Jedes Mal steht dabei die Beziehung des Schriftzeichens zum Affekt im Vordergrund, so, als gäbe

71 Vgl. Sigmund Freud: Die Traumdeutung, Frankfurt a. M.: Fischer 1991, S. 342.

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es neben der referentiellen Bedeutung eines Zeichens eine gefühlsmäßige, oder als überforme und verdränge die affektive die sprachliche Bedeutung.72 Auch der Erzählung Der Wildgänse Flug in Katata nachschauen liegt ein Farbholzschnitt von Hiroshige zugrunde, auf dem zu sehen ist, wie Fischer an einem späten Winternachmittag auf dem Biwa-See ihre Netze einholen, um sie am Ufer zum Trocknen aufzuhängen. Am Himmel sind die einfliegenden Wildgänse zu erkennen, die jedes Jahr am Biwa-See überwintern oder dort Rast machen (Farbtafeln, Abb. 16). Dauthendey greift in dieser Erzählung als Motiv die Linie der Flugformation der Wildgänse auf und interpretiert sie als ein Schriftzeichen, dessen richtige Deutung und künstlerische Wiedergabe dann im Mittelpunkt der Geschichte steht. Wenn deren Zickzacklinie die Kontur der Bergkette am Horizont überschneidet und man dabei durch die Astgabel eines ganz bestimmten Baumes schaut, dann erblickt man am Himmel ein Schriftzeichen mit einer geheimen Botschaft: »Nur in Katata am Biwasee könnten die Maler den Gänseflug, den Baum und den Hügel zusammen treffen.«73 Das die Handlung auslösende Moment der Erzählung ist, dass der Künstler Oizo von einer Prinzessin den Auftrag erhält, den Flug der Wildgänse in genau dieser Anordnung auf die Schiebetüren eines Bergtempels zu malen, woraus sich dann jenes Schriftzeichen ergeben soll. Doch fehlt ihm zunächst so gut wie jeglicher Anhaltspunkt für die Ausführung des gewünschten Bildes. Das einzige, was er weiß, ist, dass die Prinzessin an einem Frühlingsabend während eines Ausflugs nach Katata die Wildgänse auf diese Weise hatte fliegen sehen, doch welches Zeichen sie damals am Himmel bildeten, habe sie nicht mehr in Erinnerung. Unerwartet kommt dem Maler die Tochter eines Töpfers zu Hilfe, die mit dem Repertoire vieler Künstler der Region vertraut ist und auch das Motiv der fliegenden Wildgänse kennt. Ihre Deutung des Schriftzeichens lautet: »[I]ch liebe dich, wenn ich dir nachsehe. Aber du liebst mich nicht, weil du fortsiehst«,74 was nichts anderes bedeutet, als dass die Prinzessin in einen Mann verliebt sei, der sie jedoch nicht beachte. Deshalb wünsche sie das von den fliegenden Wildgänsen gebildete Zeichen, um ihren Geliebten zum Tempel zu führen und ihn ihren Wunsch lesen zu lassen. Weiter erzählt ihm das Mädchen, wie ihr Vater einmal mit diesem Motiv eine Vase bemalt habe, die dann von einem Mönch in einen Tempel mitgenommen worden sei, wo sie die Prinzessin wohl gesehen haben 72 In seinen autobiographischen Aufzeichnungen macht Dauthendey tatsächlich eine Unterscheidung zwischen einer Gedanken- und einer Gefühlssprache; vgl. Max Dauthendey: Gesammelte Werke in sechs Bänden, 1. Band: Autobiographisches, München: Langen 1925, S. 360 (im Folgenden GW 1). 73 Dauthendey: Die acht Gesichter am Biwasee, S. 145–146; GW 3, S. 171. 74 Ebd., S. 149; GW 3, S. 174, in dieser Fassung nicht kursiv.

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dürfte. Das bringt Oizo auf den Gedanken, dass es in Katata wohl weder den fraglichen Baum noch den Hügel gibt. Nach Kyoto zurückgekehrt, begegnet er überall Darstellungen dieses Wildgänsezuges: auf Papierschirmen und Lampen, auf Theaterbildern, in Zeltbuden und auf Lackkästchen und Porzellanschalen, und er kommt zu der Einsicht, dass das mit dem Gänseflug verbundene Schriftzeichen nichts anderes ist als ein offenes Geheimnis der Mädchen von Katata. Dieser Verdacht wird durch die folgende Binnengeschichte gestützt, die ihm das Mädchen erzählt: [I]ch wohnte in Katata bei einem Fruchthändler. Dessen Tochter brachte mir eines Tages in einer Porzellanschale einen kleinen Zwerggarten in mein Zimmer. Darin blühte ein ganz winziger Kirschbaum. Der Baum war nicht höher, als mein halber Arm. Hinter dem Baum war ein künstlicher Hügel aus Erde. Diesen kleinen Garten stellte sie am Abend hinter einen weißen Papierschirm, auf welchem mit schwarzer Tusche kleine Wildgänse im Schleifenflug gemalt waren. Sie zündete eine Lampe hinter dem Schirm an, so daß der Schatten des Zwerggartens, des Baumes und des Hügels, auf den weißen Schirm fiel und sich darauf abzeichnete und Garten und Gänse ein einziges Schattenbild zu sein schienen. Aber zugleich konnte man das Ganze auch für ein Schriftzeichen halten.75

Eines Tages fährt dann die Töpferstochter mit Oizo auf den Biwasee hinaus, um ihm den Flug der wilden Gänse vom Wasser aus zu zeigen. Während langsam die Schreie der Wildgänse »verrauschen« und wie ein Windton nachklingen, erscheint ihre Flugbahn auf der Wasseroberfläche als eine »weiße Schleife«, doch statt der erwarteten Liebeserklärung beinhaltet die Spiegelung ihrer Flugformation auf dem Wasser eine zutiefst enttäuschende Liebesabsage: »›Ich liebe nicht, daß du dich nach mir umwendest. Ich wende mich auch nicht nach dir um.‹«76 Was syntaktisch unmöglich ist, bewerkstelligt das ästhetische Spiel mit den gespiegelten Schriftzeichen mit Leichtigkeit. Der Flug der Wildgänse lässt sich damit auf doppelte Weise interpretieren, je nachdem, ob »die Wasserspiegelungslinie sich einfügte oder nicht«.77 Aus dieser Auslegung des Zeichens durch die Töpferstochter zieht Oizo den Schluss, dass sie »ihn liebte und ihn necken wollte, als sie ihm die Absage gab und ihn vielleicht zur Annäherung reizen wollte«.78 Das Mädchen erweist sich in dieser Geschichte als geschickte Zeichendeuterin, die sich deren affektiver Wirkung bedient, um den Maler Oizo für sich zu gewinnen. Für sie ist die Bedeutung der Zeichen offen und kann, wie hier, durch Spiegelung beliebig verändert und mit Erzählungen oder Liebesgeschichten

75 76 77 78

Ebd., S. 155–156; GW 3, S. 176–177. Ebd., S. 167; GW 3, S. 183. Ebd. Ebd.

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aufgefüllt werden. Was für sie zählt, ist allein die affektive Resonanz, die sie gezielt ausnutzt, um den Zeichen auch ganz willkürlich einen völlig neuen Inhalt zu geben: eben den einer schicksalhaften Liebesbotschaft. Davon ausgehend ließe sich also die Erzählung im Sinne einer versteckten Liebeswerbung interpretieren, bei der sowohl die Prinzessin als auch die Tochter des Töpfers eine Liebeserklärung an den Maler richten. Die wohl kalkulierte Strategie der Töpferstochter, die offensichtlich genau weiß, was sie will, besteht darin, jenes Zeichen, das die Prinzessin auf der Schiebetür zu sehen wünscht, in seiner Bedeutung umzukehren, indem sie es Oizo vorab in der Spiegelung des Wassers als Bild der Negation zeigt. Auf diese Weise gelingt es ihr, eine zweite Botschaft ins Spiel zu bringen, bei der geschickt Distanz und Nähe vertauscht werden, so dass Oizo daraus ihre Absage ebenso gut wie den Wunsch nach einer Annäherung ablesen kann. Die Spiegelung des Zeichens im Wasser ließe sich aber auch anders deuten, insofern nämlich, als sie auf einen schriftbildlichen Raum vor den lesbaren Zeichen verweist, der bei der Herstellung von Farbholzschnitten, wie sie Dauthendey als Vorlage für seine Erzählungen dienten, von Belang ist. Die Druckplatte eines Holzschnitts wird spiegelverkehrt angefertigt, was nahelegt, dass das Bild, das die Töpferstochter (hier gleichsam stellvertretend als die Tochter eines Druckers) dem Maler Oizo auf der Wasseroberfläche zeigt, zugleich als die der Erzählung zugrundeliegende Druckvorlage aufgefasst werden könnte (vgl. oben die Segel, die sich auf die Wasseroberfläche wie das Papier auf den Druckstock zu legen scheinen).79 In den beiden behandelten Erzählungen Dauthendeys, in denen es ganz zentral um die Lesbarkeit von Schriftzeichen geht, steht der Erzähler insofern in einem besonderen Verhältnis zu ihnen, als er selbst von den Zeichen auf ganz eigenartige Weise getrennt zu sein scheint, deren Deutung allein den Figuren überlassen wird, sodass er eigentlich nichts anderes ist als ein eher unbeteiligter Zeichenreflektor. Seine Schriftblindheit weist ihm die Funktion eines personalen Erzählers zu, der von der Bedeutung der Zeichen nur so viel weiß, wie ihm seine Figuren verraten, ein Zustand, der deutlich genug die fatale Lage eines Fremden widerspiegelt, der ein Land bereist, dessen Sprache er nicht versteht, was gerade deshalb mit der Situation eines Analphabeten vergleichbar ist – abgesehen jedoch von der entscheidenden Einschränkung, dass eben dieser Fremde über eine zweite, eigene Sprache verfügt, mit der er dieses Unvermögen artikulieren kann, was dann auf eine Art Diskurs über den Nichtdiskurs hinausliefe. 79 Der Zusammenhang von Holzschnitt und Spiegelbild wird vor allem in Hokusais Bilderzyklus Hundert Ansichten des Berges Fuji (Fugaku hyakkei) thematisiert, wobei hier besonders einer seiner Buchholzschnitte (sumizuri-e) mit dem Titel Der Berg Fuji in einer Weinschale (Haichu no Fuji) aus dem Jahr 1834 hervorzuheben ist, auf dem der Reflex des Fuji-san in der Trinkschale eines Wanderers abgebildet ist.

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Dauthendey dürfte während seines Japan-Aufenthaltes genau diese Erfahrung gemacht und so einen Eindruck von der Fernwirkung der Zeichen erhalten haben, wenn auch nicht überall, dann doch zumindest in Kyoto, wo die Fernwirkung von Zeichen eine ganz besondere Rolle spielt. An drei Seiten von Bergen umgeben, war die alte Kaiserstadt (heute der Teil nördlich des Bahnhofs) von vornherein so angelegt, dass man von jedem Punkt aus die sie im Norden, Osten und Westen umgebenden Berge sehen konnte (wie noch bei Dauthendeys Besuch im Jahr 1906), auf denen Schriftzeichen wie das 大 (dai) in überdimensionaler Größe angebracht sind. Zum Obon-Fest Mitte August werden diese Zeichen angezündet und leuchten von acht Uhr abends an fast eine halbe Stunde lang über der Stadt.80 Sie erfüllen dabei eine rituelle Funktion, die zugleich eine spirituelle Komponente beinhaltet, denn es sind Zeichen des Abschieds von den Seelen der Verstorbenen: Sie weisen den Geistern der Toten den Weg ins »reine Land« ( jo¯do).

Vor der Lesbarkeit der Zeichen Über Dauthendey heißt es immer wieder, dass er »in der Tradition der Metapher des Lesens in der Natur«81 stehe, wozu als Referenz besonders gerne die Studie Hans Blumenbergs von der Lesbarkeit der Welt herangezogen wird.82 So berechtigt dieser Vergleich in einzelnen Aspekten auch sein mag, so ergeben sich daraus dennoch zwei grundlegende Probleme, die beide mit der Spezifik der jeweiligen Schriftsprache zu tun haben. Zum einen impliziert die Metapher der 80 Das sogenannte Gozan no Okuribi Bon-Feuer am 16. August; Obon ist ein buddhistisches Fest zur Ehrung der Verstorbenen. Heute sind noch folgende Feuer-Zeichen zu sehen: auf dem Berg Daimonji das Zeichen 大 (dai, dt. ›groß‹), auf dem Matsugasaki die Zeichen 妙 法 (myo¯ ho¯, dt. ›wundersame Lehre‹ oder ›Gesetz, das auf die buddhistische Lehre verweist‹), auf dem Nishigamo ein Zeichen in Gestalt eines Bootes, auf dem Hidari Daimonji wieder das Zeichen 大 für ›groß‹ und auf dem Toriimoto ein Zeichen in Gestalt eines Schreintores (torii). 81 Uta Schaffers: Konstruktionen der Fremde. Erfahren, verschriftlicht und erlesen am Beispiel Japan, Berlin: de Gruyter 2006, S. 255. 82 Die Bezugnahme auf Blumenbergs metaphorischen Komplex von der Lesbarkeit der Welt impliziert gleichzeitig eine Vereinnahmung des jeweiligen Objekts in die westliche Sichtweise, wonach Gott mit der Schöpfung Zeichen in der Natur hinterlassen und so seine Schöpfung verschriftlicht und verschlüsselt habe. Will man es aber im Rahmen einer interkulturellen Studie vermeiden, eine asiatische Schriftauffassung in die westliche zu integrieren und ihr damit ihre Eigenständigkeit zu nehmen, dann müsste man andere Bezugspunkte wählen. Es würde dabei nicht so sehr darum gehen, kulturell verschiedene Auffassungen von Schrift einander soweit anzunähern, dass sie miteinander in einer Metapher wie in der von der ›Lesbarkeit der Welt‹ verschmelzen, sondern vielmehr darum, Resonanzzonen herzustellen mit dem Ziel, in dem sich ergebenden Zwischenraum nun auch ganz neue Wechselwirkungen sichtbar zu machen.

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Lesbarkeit der Welt eine analytische Leistung, welche die Buchstabenschrift erfordert: Die Buchmetapher für Welt und Natur, die synthetische Leistung der Darstellung einer Sinneinheit vorstellend, setzt eine analytische Leistung voraus. Nicht zufällig haben die Griechen die analytische Bedingung der Metapher erfüllt, ohne deren synthetische Konsequenz auszuschöpfen. Sie haben die Buchstabenschrift nicht erfunden, aber sie haben das darin steckende Prinzip generalisiert.83

Die analytische Leistung basiert in der abendländischen Kultur substantiell auf der Buchstabenschrift und kann nicht einfach auf die ostasiatische Kultur und deren ideographische Schrift übertragen werden. Das zweite Problem betrifft den engen Zusammenhang von Zeichen und Bild in der ostasiatischen Schriftkultur. Der Verweis auf die abendländische Metapher von der Lesbarkeit der Welt blendet den Umstand aus, dass Dauthendey seine Erzählungen definitiv nach der Vorlage von Holzschnitten Hiroshiges verfasst hat und seine Zeichen aus einem Raum gewinnt, den sich Bild und Sprache gemeinsam teilen, was in der abendländischen Tradition nur selten der Fall ist (so z. B. in der mittelalterlichen Biblia Pauperum, aber auch in Spruchbändern und Hintergrundtexten sowie in Figurengedichten und Kalligrammen).84 Bezieht man Hiroshiges Bilder und Dauthendeys Erzählungen unmittelbar aufeinander, so könnte man meinen, dass die Schriftzeichen, die in Hiroshiges Holzschnitten noch im oberen Teil des Bildes gleichsam in den Wolken hängen, jetzt vertikal in das Bild, das Dauthendey dichterisch zeichnet, hinein fielen. In seinen narrativen Darstellungen bleiben die Zeichen auf den weißen Segeln der heimkehrenden Schiffe haften; sie sind in den Furchen der Baumrinde zu lesen, wo »sich jeder Tag mit Linien, Eingrabungen, Knorpeln, Schürfungen die kleinsten Erlebnisse wie mit einer steno-

83 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 36. 84 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfreuten sich die Bildgedichte aus den Calligrammes von Guillaume Apollinaire (entstanden zw. 1913 und 1916, veröffentlicht 1918) großer Popularität. Bereits Christian Morgenstern schrieb 1902 ein Bildgedicht »Die Trichter«, veröffentlicht 1905 in den Galgenlieder[n]. Die Tradition der Bild- oder Figurengedichte ist allerdings viel älter. Bekannt sind Figurengedichte schon in der Antike, z. B. bei Publilius Optatianus Porfyrius (um 270–334) und bei Venantius Fortunatus (geb. 540, gest. zw. 600 und 610). In der Spätantike und im frühen Mittelalter gab es sogenannte Gittergedichte, die aus Buchstabenrastern bestanden und ein Kreuz oder ein anderes christliches Symbol formten; oft hatten sie mehrere Sinnebenen. Als Beispiel genannt sei hier das Buch De laudibus sanctae crucis (Vom Lob des heiligen Kreuzes (825)) von Rabanus Maurus (780–856) mit insgesamt 28 Kreuzgedichten. Auch der frühscholastische Philosoph Pierre Abaelard (1079–1142) hat verschiedene solcher Gittergedichte verfasst. Ausführlich dazu: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, hg. von Ulrich Ernst und Jeremy Adler, Weinheim: VCH 1987 (Ausstellungskatalog der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel) und Ulrich Ernst: Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1991.

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graphischen Schrift in Zeichenschrift notiert«;85 sie sind in einen Stein eingeritzt, den man auf dem Grund eines Wasserbottichs findet;86 oder aber sie ergeben sich aus den Linien der Flugformation von Wildgänsen, die von einer bestimmten Blickposition des Betrachters aus gesehen hinter einer Astgabel die bereits vorgegebene Linie einer Bergkette kreuzen. Dauthendeys Zeichenfigurationen sind weniger das Produkt einer analytischen Leistung oder metaphorischen Übertragung; sie stehen vielmehr in einem gewissen Spiegel- und Reproduktionsverhältnis zu ihren japanischen Vorlagen. Das dabei benutzte Verfahren kann als eine Verschiebung oder Deplatzierung von Schriftzeichen innerhalb des Bildrahmens charakterisiert werden, wobei es sich um eine Metonymie handelt, die von der Sprache in das Bild hinüberführt, und nicht etwa um eine Metapher, wie sie ein Bezug zur »Lesbarkeit der Welt« unterstellen würde. In seiner Geschichte der deutschsprachigen Literatur hat Peter Sprengel die These aufgestellt, dass Dauthendey gar nicht die japanische Wirklichkeit beschreiben wollte: Für ihn habe der Fluch des Reisens darin bestanden, »daß der Reisende mit jedem neuen Ort, den er kennenlernt, ein Objekt seiner Einbildungskraft verliert und je aufs neue ›dem Gefängnis der Wirklichkeit‹ verfällt«,87 dem man nur entkommen könne, wenn man unablässig versuche, in einer imaginären und zugleich ästhetischen Welt zu leben und zu reisen. Sprengel zieht daraus den Schluss, dass Dauthendey dem entsprechend für Leser schreibe, »die zu Hause geblieben sind und nur mit der Phantasie auf die Reise gehen wollen« (der englische ›armchair traveller‹): Es ist daher bloß konsequent, wenn er die gängigen europäischen Vorstellungen von der Geisha und dem Samurai, dem rehäugigen Inderjungen und dem dicken Chinesen aufgreift, ja in den Japan-Erzählungen geradezu das Medium einbezieht, das zur Hauptgrundlage des damaligen Japonismus diente, nämlich den Farbholzschnitt.88

Dauthendeys Erzählband ließe sich demnach als »ein Bilderbuch-Japan im doppelten Sinne« verstehen; »der Anspruch des Realismus wird gar nicht erst erhoben«.89 Folgt man dieser Interpretation, dann basieren Dauthendeys No85 Dauthendey: Die acht Gesichter am Biwasee, S. 96 (»Die Abendglocke vom Mijderatempel hören«); GW 3, S. 146. 86 Vgl. ebd., S. 130 (»Sonniger Himmel und Brise von Awazu«); GW 3, S. 164. 87 Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918, S. 398. 88 Ebd. 89 Ebd. Dieser Zusammenhang lässt sich auch in Dauthendeys autobiographischen Aufzeichnungen ablesen, wo er sich zum Komplizen der »asiatischen Seele« macht und erklärt: »Auf meiner Reise um die Erde, durch ganz Asien, von Bombay bis Yokohama, war es die vorher vor dem Leser ausgebreitete Weltanschauung [gemeint ist die Vorstellung der Weltfestlichkeit, die Dauthendey in dieser Schrift entwickelt; A.K.], die mich der Seele der Asiaten sozusagen zum Zwillingsbruder machte.« (Dauthendey: GW 1, S. 326.) Dass diese geheime Komplizenschaft allerdings inszeniert ist, wird an der allgemeinen Skepsis deutlich, die Dauthendey gegenüber jeder Art von Einfühlung oder Nachempfinden einer fremden Kultur

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vellen weniger auf den Erlebnissen seines Japan-Besuchs in dem Sinne, dass sie etwas Erfahrenes abbilden oder wiedergeben wollen, sondern sie entwerfen stattdessen einen rein sprachästhetischen Raum, in dem u. a. eine Ästhetik von Schrift verwirklicht wird. Dauthendey lag viel daran, Japan als ästhetisches Phänomen darzustellen, das Land also nicht in seiner erfahrbaren Wirklichkeit zu schildern, sondern in seiner ästhetischen Resonanz zu erfassen, die es bei einem westlichen Betrachter auslöst. Das hat allerdings zur Folge, dass das Land über weite Strecken in den um die Jahrhundertwende verbreiteten Stereotypen beschrieben wird, wie bereits verschiedentlich in der Forschung hervorgehoben wurde.90 Dauthendey zeigt sich beeindruckt von dem ›Zwergenland‹ Japan mit den »kleinen Menschen«, die »große, künstlerische Gedanken«91 hervorbrachten, den Verkäufern, die »gelassen neben ihrem Zwerggarten«92 sitzen, von den »Porzellanvasen mit den winzigen Zwergbäumchen wie Puppengärten«, den »uralte[n] Bäume[n], drei- bis vierhundert Jahre alt und nicht höher als eine Hand«93 und den Eichen mit Blättern »wie die Nägel einer Menschenhand klein«.94 Schon in den ersten Beobachtungen, die er bei seiner Ankunft in Nagasaki macht und in sein Versepos einfließen lässt, überwiegt dieser Eindruck des Winzigen und Zwergenhaften. Was er, gerade in Japan angekommen, zuerst wahrnimmt, sind »winzige grüne Teepflanzungen, winzige grüne Reisfelder, über Hügelbergen hingestellt; und eine Emsigkeit, wie von Gnomen und Zwergen«.95 All diese Beschreibungen fügen sich in eine ästhetisierte Wahrnehmung ein, die von Zurückhaltung und Leichtigkeit (»Alle die zarten Dinge drücken nicht nieder mit Gewicht des Japaners Glieder und Gefühl.«96), Leere und Knappheit (»Denn das Leben von draußen gesellt sich gefällig zu dem, der von Leere umgeben.«97) sowie von vorsichtigen Andeutungen und einem ausgeprägten Sinn für das Detail gekennzeichnet ist, wie es die folgenden Zeilen verdeutlichen: »Und nur zu aller Zeit eine kleine, winzige Sache dem Menschen im leeren japanischen

90 91 92 93 94 95 96 97

hegt: »Wir selbst, unser Körper, unsere gewohnte Art zu empfinden, unsere Art zu denken, – nichts von uns kommt jemals in einem fremden Land an.« (Max Dauthendey: »Der Geist meines Vaters«, in: GW 1, S. 195.) Vgl. Christiane C. Günther: Aufbruch nach Asien. Kulturelle Fremde in der deutschen Literatur um 1900, München: Iudicium 1988, S. 38; Ulrike Stamm: Die »Schrift der Natur« in Max Dauthendeys Novellen Die acht Gesichter am Biwasee, S. 67. Max Dauthendey: Die geflügelte Erde. Ein Lied der Liebe und der Wunder um sieben Meere, München: Langen 1910, S. 336; vgl. Gesammelte Werke in sechs Bänden, 5. Band: Die großen Versdichtungen, München: Langen 1925, S. 338 (im Folgenden GW 5). Ebd., S. 337; GW 5, S. 339. Max Dauthendey: Mich ruft dein Bild. Briefe an seine Frau, München: Langen 1930, S. 145. Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 336; GW 5, S. 338. Ebd., S. 335; GW 5, S. 337. Ebd., S. 342; GW 5, S. 344. Ebd., S. 343; GW 5, S. 345.

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Haus das Gleichgewicht an Wichtigkeit hält. Das ist die Nische, wo eine einzige Bronzevase und ein geschrieben Gedicht ein paar Verse spricht […]«.98 Das maßgebliche Element dieser ästhetisierten Wahrnehmung ist das mattweiße Papier, das nicht nur die materielle Grundlage für Dichtung, Kalligraphie und Malerei bildet, sondern auch für die von der Tradition vorgegebene Architektur der Häuser und Tempelanlagen von Belang ist, sofern diese seitlich von zahlreichen Türen aus lichtdurchlässigem Papier umgeben sind, die das Erblickte einfassen und gleichzeitig das von außen eindringende Licht nicht nur abschwächen, sondern sozusagen neutralisieren: Der Menschen sinnendes Gesicht, ihre Worte und Reden und die Gesten ihrer Hände werden deutlicher in der Umrahmung der leeren papiernen Wände. Durch das weiße Papier der Tag nur gedämpft hereinbricht, und faltenlos erscheint hier das Alter in diesem milden, versöhnlichen Fensterlicht.99

Und wenig später heißt es: Ach, wie fühlte mein Auge sich ausruhn in den offenen, leeren Zimmern, Wo die Menschen, nicht beschwert von Stiefeln und Schuhen, auf weißen Seidenstrümpfen lautlos wie ihr eigener Besuch umgehen, Still bei ihren Gedanken wie Schatten hinter den hellen Papierwänden stehen und bei ihren immer fleißigen Händen! Durch irgendeine geöffnete Papierwand schaut vertraut in den Zimmerrahmen ein Stück Straße oder grünes Land. Diese Aussicht wird im leeren, möbellosen Raume zur Wichtigkeit.100

Schon der erste Anblick, der sich von Japan bietet, ist vermittelt durch Papier und Tusche, wie in seinem Versepos Die geflügelte Erde über die ersten Eindrücke vor der Küste Südjapans zu lesen ist: Und ein paar große Vögel zogen Kreise; das war der erste leise Anblick von Japan nach der langen Reise. – Mit schwarzer Tusche auf weißes Silber gemalt, erschien der Schwarzkiefern Gestalt, Und die Vögel, die, ohne zu schreien, im Nebel aus- und einflogen und ihr Spiegelbild dunkel im Wasser nachzogen, erschienen auf der Nebelheide, Wie japanische Malereien auf Porzellan oder Seide. Und wie auf weißem Papier, bemalte sich mehr und mehr die dunkle Inselwelt im Nebel hier.101

Es gibt einen Raum vor den lesbaren Zeichen, der aber nicht un-bedingt, nicht natürlich, den Dingen und dem Ursprünglichen näher wäre, gänzlich ohne Sprache. Für Dauthendey ist dieser Raum hochgradig stilisiert und ästhetisiert, 98 99 100 101

Ebd., S. 341; GW 5, S. 343. Ebd. Ebd., S. 343; GW 5, S. 345. Ebd., S. 335; GW 5, S. 337.

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vermittelt durch Tusche und Papier, wahrgenommen aus der Doppelperspektive eines westlichen Blicks, der in der Ferne verfremdet wird und sich mit einem imaginierten japanischen Blick kreuzt, um sich zu transformieren oder um andere Präferenzen zu finden, und der im Spiel der Verschiebungen unentwegt auf seine eigene Bedingt- und Beschränktheit Bezug nimmt. Dauthendeys JapanDarstellungen lassen sich als Erfahrung jenes Raumes vor den lesbaren Zeichen verstehen, der zunächst als trüber Nebel wahrgenommen wird, aus dem allmählich schon bekannte Gestalten hervortreten, sich aber dann wieder in seiner papiernen Materialität zeigt. Der ästhetische Raum ›Japan‹ ist für Dauthendey im buchstäblichen Sinne schon vorgezeichnet. Das Bild des geöffneten »Papierfensters«,102 welches – und dies scheint ein zusätzliches wichtiges Detail zu sein – aufgeschoben wird, ließe sich in Hinblick auf die ästhetische Wahrnehmung auf Dauthendeys Beschreibungen zurück übertragen. Die japanischen Schiebetüren mit ihrem hellen, durchscheinenden Papier (sho¯ji) dämpfen das Licht und lassen einem Europäer die Gegenstände im Raum auf besondere Weise atmosphärisch erscheinen. Sie suggerieren einen ›gedämpften Blick‹, für den bislang nicht Wahrgenommenes oder Nebensächliches eine ganz neue Wichtigkeit erlangen kann. Statt voreilig eine Beziehung zur Metapher von der Lesbarkeit der Welt herzustellen, sollte aufgrund solcher Überlegungen vielmehr der Frage nachgegangen werden, ob es bei Dauthendey nicht eher um eine ästhetische Lesbarmachung der Zeichen geht: nicht um die Entzifferung auf der Grundlage eines bekannten Codes, sondern um die Entfaltung einer ästhetischen Resonanz. Diese ästhetische Lesbarmachung würde es dem westlichen Betrachter erlauben, wenn er schon die Zeichen nicht lesen kann, wenigstens ihre ästhetische Wirkung zu verspüren, und in der Erzählung gestattet sie es den Figuren, ihre Individualität als Interpreten dieser ästhetischen Resonanzen ins Spiel mit den Zeichen einzubringen.

Anzeichen einer unscheinbaren Ästhetik Der Exotismus Japans, so formuliert es Ulrike Stamm, bestehe für Dauthendey »nicht in einer größeren Fülle von Reizen, sondern umgekehrt in deren geringer Dichte und Häufigkeit«.103 Diese Beschränkung habe ihm allerdings zunächst

102 Diese Bezeichnung benutzt Dauthendey in der Erzählung »Die Segelboote von Yabase im Abend heimkehren sehen«, vgl. Dauthendey: Die acht Gesichter am Biwasee, S. 39. 103 Stamm: Die »Schrift der Natur« in Max Dauthendeys Novellen Die acht Gesichter am Biwasee, S. 67.

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einmal den Zugang zu dem Land erschwert, was Stamm aus den Briefen Dauthendeys an seine Frau herauslesen zu können glaubt: Vorläufig scheint mir das ganze Leben in Japan noch unsichtbar, weil ich aus dem üppigen China und Indien komme. Meine Augen sind noch an die Tropenhelle gewöhnt und an die drückende Kraft der Sonne dort. Hier ist es, wie in Würzburg, europäisch in der Luft, und ich sehe noch schwer die feinen Züge. Es scheint mir nach der langen Siesta in den Tropen fast anstrengend, auf alle die feinen Reize der Linien und der delikaten Formen einzugehen.104

Es ist genau diese »Zurücknahme des sinnlich Eindrücklichen«, die sich in der »Reduktion von Licht und Farbe« offenbart und Japan in den Augen Dauthendeys schließlich »zu einem Europa verwandten Land«105 werden lässt. Dauthendey stellt Japan nicht als ein urwüchsiges, wildes Land dar, wie er dies bei Indien oder Ceylon getan hat; es erscheint ihm als so leise, »daß man sich umsieht, wo eigentlich Japan ist«, und als »so farblos, daß man enttäuscht wie in einem grauen Nebel von Norddeutschland zu leben scheint«.106 Aber anders als Stamm, die der Ansicht ist, dass Dauthendey zunächst »irritiert« von Japan gewesen sei (»ihm fehlen die Paradigmen, um dieses Land zu erfassen«107), möchte ich hier zu bedenken geben, dass Dauthendey jenes Paradigma selbst entwickelt, und zwar in seiner blassen Beschreibung mit der FastUnsichtbarkeit der feinen Züge, und die relevanten Begriffe für die Analyse mitliefert. Dauthendeys hochgradig poetisierten Beschreibungen, die in der literaturwissenschaftlichen Forschung in die Schublade ›Exotismus‹ abgelegt wurden,108 ohne dass der Aspekt der Schriftästhetik beleuchtet oder nach den Implikationen einer ostasiatischen ästhetischen Wahrnehmung gefragt worden wäre, geben Anlass dazu, weiter zu fragen: Woher stammt diese ästhetisierte Wahrnehmung eigentlich? Wurzelt sie womöglich in einer uns fernen Ästhetik? Was können wir heute aus der Ferne (oder durch deren neue Nähe in der globalisierten Welt) dieser Ästhetik abgewinnen? Welche Resonanzeffekte vermag sie für Europäer zu erzeugen?

104 Dauthendey: Mich ruft dein Bild, S. 146. 105 Vgl. Stamm: Die »Schrift der Natur« in Max Dauthendeys Novellen Die acht Gesichter am Biwasee, S. 67. 106 Dauthendey: Mich ruft dein Bild, S. 146. 107 Stamm: Die »Schrift der Natur« in Max Dauthendeys Novellen Die acht Gesichter am Biwasee, S. 68. 108 Ein Beispiel dafür ist die apodiktische Feststellung in der Habilitationsschrift von Uta Schaffers: »Der Exotismus gilt als eine besondere Spielart des epistemologischen Imperialismus. Es liegt eine reduzierte Wahrnehmung des Fremden vor, das zur Projektionsfläche für jeweils von Gesellschaft und Epoche abhängigen Wunschvorstellungen wird. Diese Form der Wahrnehmung idealisiert und/oder negiert Aspekte des Fremden, die diese Wunschprojektion stören könnten.« (Schaffers: Konstruktionen der Fremde, S. 28)

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In Hinblick auf Dauthendeys Japan-Darstellung ist in der Forschung wiederholt von einer »Zurücknahme des sinnlich Eindrücklichen«, einer »Reduktion von Licht und Farben« und sogar von »Entmaterialisierung« gesprochen worden.109 Bei diesen Beobachtungen werden die nachfolgenden Betrachtungen ansetzen. Die Frage ist, ob nicht jene japanische Zurückhaltung, die Leere, von der immer wieder die Rede ist, das von den Papierschiebetüren gedämpfte Licht, die Spiele der halbdunklen Schatten, der Nachklang, die blasse Beschreibung und nicht zuletzt die Schriftblindheit, d. h. das Unvermögen, jene fremden, ästhetisch stilisierten Zeichen lesen zu können, ob nicht all das eine Ästhetik beschreibt, die der westlichen im besonderen Maße fremd bzw. fern ist. Ihre Reize haben mit der sogenannten ›exotischen‹ Literatur spätestens am Anfang des 20. Jahrhundert in die westliche Kultur Eingang gefunden – zu einer Zeit also, als sich große gesellschaftliche Transformationen abspielten und die Kunst eine permanente Entgrenzung und Überbietung des Tradierten vollzog. Als ›Japonismus‹ fand diese Ästhetik eine immense Resonanz, allerdings nur oberflächlich und als ›Trend‹. Mit dem Schlagwort des ›Exotismus‹ wurde dann recht schnell ein Begriff gefunden, mit dem man das Unbekannte und Ferne klassifizieren und in einer Schublade verschwinden lassen konnte. Auch die literatur- und kulturwissenschaftliche Forschung interessierte sich über Jahrzehnte fast ausnahmslos nur für die Motive des Exotismus um aufzuzeigen, wie klischeehaft und mit Stereotypen gefüllt der ›literarische Exotismus‹ doch eigentlich sei. Bei Dauthendey ist Japan von vornherein ein hochgradig ästhetisierter Raum – Sprengel spricht von einer »äußerst dekorative[n] und hochpoetische[n] Ferne«,110 die in den Novellen zur Geltung komme, und er meint das nicht unbedingt nur im positiven Sinne (so, als müsste es das Ziel der Literatur sein, ohne Dekor 109 Vgl. neben dem Aufsatz von Ulrike Stamm (Die »Schrift der Natur« in Max Dauthendeys Novellen Die acht Gesichter am Biwasee, hier S. 67 und 69) auch Hans Christoph Buch, nach dessen Auffassung sich die originäre ästhetische Erfahrung, die Dauthendey während seines vierwöchigen Aufenthalts von Japan allmählich gewinnt, in der reduzierten Darstellung ausdrückt, die den Erzählband Die acht Gesichter am Biwasee kennzeichnet: »Während er in den in Ceylon und Hinterindien spielenden Erzählungen des Bandes Lingam noch in erotischem Sinnenrausch und exotischer Farbenpracht schwelgt, hat Dauthendey in den Acht Gesichtern am Biwasee seine impressionistische Palette auf wenige Farbtöne reduziert; die sparsame Verwendung eines begrenzten Vorrats ständig wiederkehrender Motive und Metaphern macht die Faszination dieser Novellen aus.« (Hans Christoph Buch: Die Nähe und die Ferne. Frankfurter Vorlesungen. Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 117–118.) Ulrike Stamm hat vor diesem Hintergrund die ebenso interessante wie in ihrem implizierten Kausalzusammenhang doch sehr kontroverse These aufgestellt, dass eine »derart auf Reize reduzierte und stillgestellte Welt […] besonders geeignet [erscheint], in und als Schrift dargestellt zu werden«, denn gerade »diese farblose, ruhende Natur kann besonders leicht in die Linien von Schriftzeichen aufgelöst werden« (Stamm: Die »Schrift der Natur« in Max Dauthendeys Novellen Die acht Gesichter am Biwasee, S. 70). 110 Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918, S. 398.

Zeichenresonanz. Fiktionalisierungen unleserlicher Zeichen

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und Zeichenornament, von der Natürlichkeit einer realen Ferne zu berichten). Nur in einem ästhetisierten Japan verwirklicht sich für Dauthendey jene ›gedämpfte‹ und ›ferne‹ Ästhetik. Um diesem Kalkül gerecht zu werden und um diese fremdartige Ästhetik zu ergründen, müsste man allerdings die eigene wissenschaftliche Perspektive um ein beträchtliches Stück verschieben und fragen, ob der blassen und farblosen Beschreibung Japans, wie sie bei Dauthendey zu finden ist, nicht tatsächlich eine ebenso in sich kohärente wie distinguierte, für Europäer aber ›ferne‹ Ästhetik zugrunde liegt. Statt unablässig von einem typisierten Diskurs des Exotismus zu sprechen und dessen Stereotypen in der sogenannten ›exotischen‹ Literatur der Jahrhundertwende aufzusuchen und wiederzufinden, müsste man sich fragen, ob es nicht gleichzeitig so etwas wie einen Diskurs über unlesbar-unleserliche Zeichen gibt, der womöglich den Diskurs des Exotismus kreuzt und dessen Spuren man statt seiner folgen sollte. Bei der Suche nach dieser ›fernen Ästhetik‹ kommt einem Schriftzeichen eine ganz besondere Bedeutung zu. ¯ mi (O ¯ mi hakkei) von Hiroshige werden gewöhnlich Die Acht Ansichten von O mit folgenden Schriftzeichen wiedergegeben: 近江八景. Die ersten beiden Zei¯ mi. Dann folgt das Zeichen für die chen beziehen sich auf die frühere Provinz O Zahl ›acht‹ und schließlich das mit der Bedeutung ›Aussicht‹ bzw. ›Ausblick auf eine Landschaft‹. Nun kann man jedoch für die ersten beiden Zeichen auch zwei andere benutzen, deren Aussprache identisch ist: 淡海. Wie erklärt sich das? Im Japanischen gibt es für jedes Schriftzeichen (Kanji) mit Ausnahme der sogenannten ›Landeszeichen‹ (Koku-ji) zwei Lesungen: eine für die bei der Einführung der chinesischen Schriftzeichen im Japanischen schon vorhandenen Wörter (die Kun-Lesung) und eine andere (die On-Lesung), die sich an den Klang des chinesischen Wortes anlehnt. Im Gegensatz zur sinojapanischen Lesung sind die Kun-Lesungen oft mehrsilbig. Auch für die Zeichenfolge 淡海 gibt es zwei Aussprachemöglichkeiten. Die sinojapanische Lesung wäre tankai. In der KunLesung müsste es awa-umi heißen, doch werden in diesem Falle die beiden Ausdrücke awa-umi zu o¯mi verschmolzen. Das Zeichen 淡 wird – in Verbindung mit Wasser – zur Bezeichnung von Süßwasser benutzt, jap. 淡水 (in der On-Lesung tansui). Der Referenzpunkt wäre an dieser Stelle der größte Binnensee Japans, der Biwa-See, der der früheren ¯ mi ihren Namen gab. Das unscheinbare Zeichen, das nur unterProvinz O ¯ mi schwellig als alternative Aussprachemöglichkeit in den Acht Ansichten von O präsent ist, bietet einen Schlüssel zu jener uns fernen Ästhetik mit einer heute noch erstaunlichen Resonanz, denn das Zeichen 淡 kann auch so viel wie ›flach‹ oder ›dünn‹ bedeuten und ließe sich in Verbindung mit Wasser als eine Erscheinung imaginieren, in der Menschen über das flache Wasser wandern. Die Zeichengenealogie bringt also den ästhetischen Zusammenhang mit einer besonderen Wasserspiegelung ans Licht, die den See wie eine Wiese wirken lässt

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und den Anschein erweckt, man könne auf ihm umherwandern. Vor diesem Hintergrund könnte man auch die folgende Passage aus der Erzählung Sonniger Himmel und Brise von Awazu als ein Landschaftsbild verstehen, dessen darstellerische Komponenten und Motive in der japanischen Ästhetik zu suchen wären (Farbtafeln, Abb. 17): Die Brise von Awazu bringt eine Seespiegelung mit sich. Aus rosigen und bläulichen Perlmuttfarben steigt eine Gespensterlandschaft über der Seefläche auf. Mitten im hellen Mittagslicht verwandelt sich der See gleichsam in eine grünliche Wiese, überhangen von den Gliedern rosiger Kirschbäume, die sich im Hitzegezitter zu bewegen scheinen, und ferne Schilfspitzen verwandeln sich in die Silhouetten von Tänzerinnen, welche die zerbrechlichen Linien von japanischen Mädchen zeigen. Die Erscheinungen der blühenden Kirschbäume gleichen irisierenden Reflexen von aufsteigenden Wolkenrändern. Der Kirschengarten, in den sich der See verwandelt, ähnelt einer japanischen Perlmutterlandschaft auf bläulichem Silberlack. Dieses Seegesicht, das nur bei sonnigem Himmel und nur bei der Brise von Awazu und nur im Hochsommer erscheint, übt eine Zauberkraft auf Menschen aus, sagen die Japaner, so daß man über den Bootrand wie von der Schwelle eines Hauses hinaustreten und zu Fuß über die Perlmutterfläche gehen kann, ohne zu versinken, getragen von der Begeisterung, vom sonnigen Himmel und von der Brise von Awazu. In diesen höchsten Sekunden der SeeEkstase sollen Menschen von Boot zu Boot gegangen sein, Viertelstunden weit über das Wasser, ohne unterzusinken, ohne den Fuß mit einem Wassertropfen zu benetzen. Aber wehe denen, die nicht Schritt halten mit der Begeisterung des Sees, nicht Schritt halten mit den Glücksaugenblicken und der Glücksstärke des sonnigen Himmels und der Brise von Awazu. Nur solange die Brise währt, währt der Enthusiasmus des sonnigen Himmels, der den Menschen stehenden Fußes über das Wasser trägt. Legt sich die Brise, so läßt der sonnige Himmel die Wasserwanderer los, und sie werden vom See tiefer verschluckt als sonst Ertrinkende.111

4.

Ästhetische Resonanz. Gedämpfter Nachklang und fader Geschmack »Wir lassen nun die Turbulenzen der Symbole hinter uns und landen in einem sehr weiten, sehr alten und zugleich sehr neuen Land, in dem die Signifikanz so diskret ist, dass sie kaum noch auftritt. In diesem Augenblick eröffnet sich ein neues Feld: das der Feinheit, oder besser noch (ich riskiere das Wort, auch auf die Gefahr hin, es später wieder zurücknehmen zu müssen): der Fadheit.« (Roland Barthes) 112

111 Dauthendey: Die acht Gesichter am Biwasee, S. 118–120; GW 3, S. 157–158. 112 »Nous laissons alors derrière nous la turbulence des symboles, nous abordons un pays très vaste, très vieux et très neuf, où la signifiance est discrète jusqu’à la rareté. Dès ce moment, un champ nouveau se découvre: celui de la délicatesse, ou mieux encore ( je risque le mot,

Ästhetische Resonanz. Gedämpfter Nachklang und fader Geschmack

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Die Fadheit als höchster möglicher Geschmack Aus dem Reich der realen chinesischen Zeichen soll nun ein einzelnes herausgegriffen und zum Studium seiner ästhetischen Resonanz isoliert betrachtet werden. Es ist ein Schriftzeichen, dessen Komponenten sich auch für einen westlichen Leser relativ leicht erschließen lassen und dessen spannungsvolle und zugleich harmonische Struktur eine philosophische Dimension erahnen lässt (Abb. 18).

Abb. 18: Das chinesische Schriftzeichen dan.

Es besteht aus drei Teilen: links das Radikal ›Wasser‹, das zugleich einen Hinweis auf die Bedeutung des Zeichens gibt, und rechts, übereinander gesetzt, zweimal das Zeichen für ›Feuer‹, das hier als Phonetikum fungiert. Seine markante Struktur (gegensätzlich, aber nicht symmetrisch) macht es zu einem auffälligen Schriftzeichen. Die hier zueinander in Beziehung gesetzten Grundelemente Feuer und Wasser gehören zu den fünf Elementen der chinesischen Kosmologie, d. h. der ›Fünf-Elemente-Lehre‹ der daoistischen Naturphilosophie. Auf Chinesisch wird das Zeichen dàn (mit fallendem Ton) ausgesprochen, auf Japanisch entweder tan (in der On-Lesung) oder awai (Kun-Lesung). Bereits im Daodejing von Laozi erscheint dieses Schriftzeichen in der Bedeutung ›fade, geschmacklos‹. Dort heißt es: »Wenn das [d]ao durch unseren Mund geht, ist es fade und ohne Geschmack«.113 In der Übertragung von Richard Wilhelm lautet der Satz: »Der SINN geht aus dem Munde hervor / milde und ohne Geschmack.«114 Der Weise schmeckt, was ohne Geschmack ist, und er schätzt gerade das Geschmacklose als den höchsten Geschmack. In der chinesischen quitte à le reprendre plus tard): de la fadeur.« Roland Barthes: »Alors la Chine?«, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 3, Paris: Seuil 1995, S. 32–35; zuerst in: Le Monde, 24. 5. 1974 (Übersetzung von mir). 113 Laozi: Daodejing, Kapitel 35; zit. n. François Jullien: Über das Fade – eine Eloge, Berlin: Merve 1999, S. 32 (übers. von Andreas Hiepko und Joachim Kurtz). Debon übersetzt: »Doch was der Weg an Worten bietet dar, / Ist ohne Duft und Köstlichkeit dem Munde.« (Lao-tse: Tao-Tê-King. Das Heilige Buch vom Weg und von der Tugend, Stuttgart: Reclam 1961, S. 61.) 114 Laotse: Tao Te King. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Übers. von Richard Wilhelm, Düsseldorf/Köln: Diederichs 1952, S. 37. Das dao wird bei Wilhelm stets mit »der SINN« wiedergegeben.

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Dichtung hingegen begegnet man dem Schriftzeichen 淡 vor allem in der Bedeutung einer blassen Erscheinung oder man benutzt es, um eine unaufdringliche Ausdrucksweise oder einen bescheidenden, zurückhaltenden Charakterzug zu kennzeichnen. Die Dichter der Song-Zeit waren besonders von dem undeutlichen Bild der sich im Wasser spiegelnden Mondsichel fasziniert, die sie als ›unklar‹ und ›matt‹ mit dem gleichen Wort beschrieben,115 mit dem Su Shi (1037– 1101) 116 den aufrichtigen Menschen rühmte, der nicht nach Ansehen und Ehre strebt. Man findet das ›Fade‹ (bleiben wir vorerst bei dieser ebenso provozierenden wie strittigen Übersetzung) also in ganz unterschiedlichen Bereichen der chinesischen Kunst und Kultur, wo es als Ausdruck von Harmonie und Ausgeglichenheit,117 von künstlerischer Vollkommenheit und Raffinesse hoch geschätzt wird.118 Darüber hinaus wird es mit bestimmten Verhaltensweisen in Verbindung gebracht: mit der Loslösung des Weisen von der Welt, dem diskreten Umgang mit den Mitmenschen und mit der geduldigen Gelassenheit. Das Fade kennzeichnet allerdings nur einen Aspekt des in sich vielfältigen Phänomens, das bei einem Europäer eher den Eindruck von etwas ohne eigenen Geschmack, also von Schalheit und Flauheit hinterlässt. Den ›farbigen Abglanz der Dinge‹ vor Augen, ist das Blasse für ihn kaum mehr wahrnehmbar. Es ist nur ein schwacher Schimmer, ein matter Farbton, eine Nuance. Das Fade ist gewiss nicht das bedeutungsvollste Kriterium der chinesischen Ästhetik, aber wenn man dem Sinologen François Jullien Glauben schenkt, so doch das einfachste und wesentlichste. 1991 veröffentlichte Jullien eine Untersuchung, die das noch unausgeschöpfte Potential dieses ästhetischen Phänomens als Gegenstand einer kulturkomparatistischen Betrachtung erahnen lässt. Darin kennzeichnet er das Fade als ein ästhetisches Konzept, das tief in der chinesischen Kultur verwurzelt und über Jahrhunderte hinweg in ganz ver115 »Das zerfließende Spiegelbild neigt sich / über das klare und flache Wasser, / dunkler Duft weht / durch des Mondes gedämpften Glanz.« (Lin Bu: »Pflaumenblüten«, zit. n. Volker Klöpsch: Die Jadesplitter der Dichter. Die Welt der Dichtung in der Sicht eines Klassikers der chinesischen Literaturkritik, Bochum: Brockmeyer 1983, S. 158.) 116 Su Shi ist auch unter dem Namen Su Dongpo bekannt, wobei der Beiname auf den ›Osthang‹ (dongpo) verweist, wo der Dichter während seiner Verbannung (1080–84) in Huangzhou in der Nähe von Wuhan lebte. Fortan trug er den Künstlernamen »Der Alte vom Osthang« (vgl. Karl-Heinz Pohl: Geschichte der chinesischen Literatur, Band 5: Ästhetik und Literaturtheorie in China, München: Saur 2006, S. 228). 117 Im Buch Guanzi, auch bekannt als »Meister Guan« (管子), verfasst von Guan Zhong zu Anfang des 7. Jahrhunderts, wird dan als die Mitte der fünf Geschmacksrichtungen definiert. Von den ursprünglich 86 Kapiteln dieses Buches sind heute noch 76 erhalten; der Verweis auf dan findet sich im 39. Kapitel (水地 shuidi, dt. ›Wasser und Erde‹). 118 Wertschätzung erhält die Fadheit gegen Ende der Tang- sowie in der Song-Zeit u. a. bei Sikong Tu (837–908), der in seinen Briefen zur Dichtkunst, die er an einen »Meister Li« richtete, von einem Geschmack (wei) »jenseits der Worte« (yan wai) spricht; vgl. Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 186–187.

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schiedenen Künsten anzutreffen sei.119 Es verkörpere das chinesische Ideal, wandlungsfähig zu bleiben, wobei es zugleich zu einer inneren Loslösung auffordert. Für einen Europäer hingegen markiert es die Grenze des sinnlich Erfahrbaren. Wenn es für ihn dennoch eine Rolle spielt, dann vor allem deshalb, weil es die Aufmerksamkeit auf die Grenze der Wahrnehmung richtet und den Sinn für das Neutrale als »dasjenige, was das Paradigma außer Kraft setzt«,120 schärft.

Diskrete Signifikation Das Phänomen des Faden, das mit Bezugnahme auf den Philosophen Laozi und die Dichter der Song-Zeit beschrieben wurde, kristallisiert sich, wie schon gesagt, in einem einzigen Schriftzeichen. Mit seiner Hilfe soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, einen ersten Zugang zu dieser für die chinesische Kultur so wichtigen ästhetischen Qualität zu finden. Dementsprechend gilt es, sich zunächst einmal der konkreten Bedeutung dieses Schriftzeichens bewusst zu werden. Dabei jedoch stoßen wir unvermutet und ganz unmittelbar auf ein grundsätzliches Problem, denn die Bedeutung des Zeichens ist für uns Europäer nur schwer greifbar: Sie verflüchtigt sich, sobald man glaubt, sie fassen zu können. Eine direkte und eindeutige Wörterbuchübersetzung ist nicht möglich, und es genügt auch nicht, das Zeichen in seinem jeweiligen Kontext zu betrachten, um seinen Sinn zu fixieren. Man wird wohl oder übel einen anderen Weg gehen und das Blasse/Fade als ein in der Verflüchtigung der Bedeutung aufscheinendes ästhetisches Konzept einer sich zurückhaltenden Subtilität zur Kenntnis nehmen müssen. Im Han-Wörterbuch Shuowen jiezi wird die Bedeutung für dan als ›fader Geschmack‹ angegeben.121 Das Bedeutungsspektrum dieses Schriftzeichens ist 119 In der Literaturwissenschaft ist das Fade und Blasse bereits mehrfach in unterschiedlichen Zusammenhängen besprochen worden; vgl. Jonathan Chaves: Mei Yao-chen and the Development of Early Sung Poetry, New York: Columbia Univ. Press 1976, S. 114–126; David E. Pollard: A Chinese Look at Literature. The Literary Values of Chou Tso-jen in Relation to the Tradition, London: Hurst 1973, S. 85–91; Günther Debon: Ts’ang-lang’s Gespräche über die Dichtung. Ein Beitrag zur chinesischen Poetik, Wiesbaden: Harrassowitz 1962, S. 62; Kojiro Yoshikawa: An Introduction to Sung-Poetry, Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press 1967, S. 35–38; Klöpsch: Die Jadesplitter der Dichter, S. 188–193. 120 Roland Barthes: Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977–1978, hg. von Eric Marty, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005, S. 32. In Hinblick auf das Neutrum vgl. Maurice Blanchot: Das Neutrale. Schriften und Fragmente zur Philosophie, Zürich/Berlin: Diaphanes 2010. (Es handelt sich um eine Neuzusammenstellung von zum Teil bereits übersetzten Texten Blanchots.) 121 Das ist offenbar auch der Grund dafür, dass Jullien die Übersetzung ›la fadeur‹, dt. ›das Fade‹ oder ›die Fadheit‹ beibehält. Als Alternative böte sich der Begriff ›Blässe‹ an, der von Karl-

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aber derart vielschichtig, so dass es außerordentlich problematisch ist, es in eine Kategorie wie die der ›Fadheit‹ pressen zu wollen. Seine Bedeutung reicht je nach dem Zusammenhang von ›blass‹ oder ›hell‹ im Farbton (man benutzt es für blasse Farben),122 ›fahl‹,123 ebenso ›geschmacklos, schal‹ oder ›ohne Aroma und Würze‹,124 dann aber auch ›leicht‹ oder ›mild‹ im Geschmack,125 ›dünn‹126 oder ›wässrig‹ (wie bei stark verdünnter Tusche), ›schlicht‹ in der Form, aber auch ›undeutlich, vage‹ (häufig in Gedichten, wenn die sich in einem Bach oder einem See spiegelnde Mondsichel beschrieben wird) bis hin zu ›langweilig‹ oder ›losgelöst‹. Es kann die leichte Bewegung des Wassers bezeichnen, eine undeutlich, verschwommene Szenerie oder ein Geräusch, das langsam verklingt. Schummriges und dämmriges Licht wird ebenfalls mit diesem Zeichen ausgedrückt,127 ebenso findet man es in den Bedeutungen von ›trüb‹ oder ›düster‹. Im Sinne von ›flau‹ oder ›matt‹ wiederum benutzt man es, um beispielsweise ein flaues Geschäft zu bezeichnen, einen schlechten Verkaufsabsatz oder eine Periode des Mangels; und in der Bedeutung von ›losgelöst, gleichgültig‹ oder ›teilnahmslos‹ wird es gebraucht, wenn die Beziehungen zwischen Menschen entweder vernachlässigt werden oder wenn man anderen Menschen ausweicht und ihre Gesellschaft meidet.128 Außerdem wird es verwendet um auszudrücken, dass man ein abgeschiedenes Leben führen will, so bei den daoistischen Weisen, die das Weltliche fliehen. Bei Laozi findet man die Kombination 淡泊 (dan bo), dt. ›nicht nach persönlichem Ruhm und Wohlstand zu streben‹. Von Zhuge Liang (181–234), der ein hochrangiger Minister im Reich Shu Han, dem heutigen Sichuan, war und in seiner Zeit als einer der besten Strategen galt, stammt ein Satz, der noch heute häufig für Kalligraphien verwendet wird und mit dan beginnt: 淡泊以明志宁静 而致远 (dan bo yi ming zhi ning jing er zhi yuan). Die Sentenz bedeutet soviel

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Heinz Pohl favorisiert wird (vgl. Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 220ff.). Das Binom pingdan übersetzt Pohl als »abgeklärte Blässe« und umschreibt es mit einer »blassen, faden, unscheinbaren, heiteren, nicht dick aufgetragenen und doch gerade deshalb ästhetisch reizvollen Ausdrucksweise« (ebd., S. 220–221). Kubin wiederum übersetzt es als das »Unscheinbare« (Wolfgang Kubin: Geschichte der chinesischen Literatur. Band 1: Die chinesische Dichtkunst. Von den Anfängen bis zum Ende der Kaiserzeit, München: Saur 2002, S. 256). Statt vom faden Geschmack gehen diese Übersetzungen primär von einer gedämpften Sichtbarkeit aus. Debon übersetzt dan, ausgehend vom fehlenden Geschmack des Wassers, als »Schmacklosigkeit« (Günther Debon: Chinesische Dichtung: Geschichte, Struktur, Theorie, Leiden: Brill 1989, S. 152–153). 淡紫色的 (dan zi se de) dt. ›fliederfarben‹ und 淡黃色 (dan huang se) dt. ›crèmefarben‹. 惨淡 (can dan) dt. ›fahl, düster, bleich‹. 平淡无味[平淡無味](pingdan wuwei); 淡而无味的[淡而無味的](dan er wu wei de). 清淡 (qing dan) dt. ›ohne Geschmack‹. 冲淡 (chong dan) dt. ›Verdünnung, verdünnen, dünn‹. 暗淡 (an dan) dt. ›Dämmerlicht, düster, dämmrig‹. 冷淡 (leng dan) dt. ›frostig, kühl‹, was auch im Sinne von ›Apathie‹ verstanden werden kann.

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wie: ›Ein einfaches Leben bringt einen klaren Verstand, und der innere Frieden verhilft dir zur Weitsicht.‹129 Bereits von Laozi wird dan für eine Kritik am Überfluss benutzt: Die Vielfältigkeit der Farben mache blind, der Lärm mache taub, zu viel Würze schade dem Geschmack. Die Erkenntnis des Weges sei nur möglich, wenn man zuvor von den Dingen ablasse.130 Der Dichter Su Shi wiederum vergleicht den sogenannten Westsee131 mit Xi Shi, einer der eindrucksvollsten Frauengestalten des alten China aus der Zeit der »Streitenden Reiche«, die immer bezaubernd aussehe, gleichgültig ob sie aufwendig oder schlicht geschminkt sei (淡雅 dan ya, dt. ›schlicht und zugleich geschmackvoll‹).132 Entlang dieser Traditionslinie entwickelte sich so eine positive Bedeutung, die sich in vielen Bereichen durchsetzte: in der Dichtung als ein besonderer Stil, in der Malerei und Kalligraphie als blass erscheinendes Bild oder ein mit verdünnter Tusche geschriebenes Schriftzeichen, in der Musik als ein sanfter Klang und im rituellen Mahl als ein fader Geschmack. In seiner Neutralität verweist dan auf eine Art nicht-metaphysischer Spiritualität und bringt eine Wertschätzung, ja mehr noch ein Genießen des Unspezifizierten zum Ausdruck. Die Fadheit verbleibt in der Latenz, weshalb sie für Jullien nicht »die letztgültige Dürre eines zu abstrakten Sinns« darstellt, sondern von ihm als »Empfindung einer notwendigen Überschreitung der Materialität der Dinge« begriffen wird, als »die Erfahrung eines nicht drängenden, sondern stets flüchtigen und immer entfernteren Sinns«.133 Dies alles verdeutlicht, wie schwierig es ist, diesem Schriftzeichen eine eindeutige und klare Bedeutung zu geben, die auch für jemanden, der aus einem anderen Kulturkreis kommt, wirklich verständlich ist. Noch schwieriger wird es, wenn wir es einem aus der westlichen Philosophie bekannten Konzept zuordnen wollen. Das Schriftzeichen 淡, das, wie zu zeigen versucht wurde, nur notdürftig und unter Vorbehalt als ›blass/fade‹ übersetzt werden kann, ist ein geradezu paradigmatisches Beispiel für ein den Sinn zurückhaltendes, undurchdringliches Zeichen: Seine Bedeutung ist weitläufig, diffus, aber nichtsdestotrotz unendlich 129 Eine alternative Übersetzung wäre: ›Ein einfaches Leben bringt einen klaren Verstand, und der innere Frieden verhilft zu einem Verständnis der Dinge.‹ In China hat dieses Sprichwort heute noch den Status einer Lebensweisheit, die kurz formuliert lauten würde: ›Ein gelassenes Leben bringt klaren Verstand.‹ 130 Vgl. Lao-tse: Tao-Tê-King. Das Heilige Buch vom Weg und von der Tugend, S. 38 (Kapitel 12). Im Kapitel 31 findet sich die Wendung 恬淡為上 (tian dan wei shang) in Bezug auf den Charakter des Edelmanns, was Debon übersetzt als »Friedliche Milde ist sein Höchstes.« (ebd., S. 57.) 131 Der Westsee (xi hu) in der Stadt Hangzhou ist der wohl berühmteste und von den Dichtern am meisten besungene See Chinas. 132 Vgl. dazu Tina Lu: Persons, Roles, and Minds. Identity in Peony Pavilion and Peach Blossom Fan, Stanford: Stanford Univ. Press 2001, S. 53. Der Titel des Gedichts von Su Shi lautet ins Deutsche übersetzt: ›Trinken am See, wenn nach dem Regen die Sonne scheint‹. 133 Jullien: Über das Fade, S. 97.

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gehaltvoll, zugleich äußerst differenziert, reich an Nuancen und voller Subtilität. Jullien sieht gerade darin, dass es eben nicht genau bestimmt werden kann, einen Vorzug des Blassen/Faden, weil es damit zugleich in hohem Maße wandlungsfähig bleibe. Es sei ferner immer diskret, d. h. den Sinn zurückhaltend, womit es eine ungeheure Reserve an Sinnpotential biete, und gleichzeitig trotzdem konkret, da es stets an eine sinnliche Erfahrung gebunden sei. Dennoch wurde das Blasse/Fade im alten China nicht immer hoch angesehen. Etwa im 3. Jahrhundert, als man damit begonnen hatte, sich von einer ganzheitlichen Sichtweise, die zugleich kosmologisch, moralisch und politisch war, zu entfernen und die Zeichen ihrer selbst wegen zu schätzen, nahm die Fadheit eine Ausrichtung an, die man im abendländischen Verständnis als ›ästhetisch‹ bezeichnen könnte, wodurch es zu einem maßgeblichen »Vorzeichenwechsel«134 gekommen sei. Die Geschichte der Fadheit, wie Jullien sie skizziert (und gleichzeitig konstruiert, um den Vorzeichenwechsel zu verdeutlichen), beginnt für ihn in der Han-Zeit des 1. Jahrhunderts, als ›Flachheit und Fadheit‹ (pingdan) in der Literatur noch als Unzulänglichkeit galten und als ein Mangel an literarischer Schönheit empfunden wurden. Erst langsam wurde die Fadheit dann zu einem maßgeblichen Kriterium für den poetischen Wert von Dichtung. Noch Lu Ji (261–303), der Verfasser des Wenfu (dt. Essay über die Literatur) beurteilte die Fadheit eher negativ. Im 6. Jahrhundert kommt es dann aber zu einem Paradigmenwechsel in der Poetik, für den vor allem zwei literaturkritische Texte wichtig sind: Wenxin diaolong (dt. Das Buch vom prächtigen Stil des Drachenschnitzens) 135 und Ershisi shipin (dt. Vierundzwanzig Qualitäten der Dichtung).136 Bereits im ersten dieser beiden Texte sieht Jullien eine Tendenz, den 134 Ebd., S. 13ff. und 94ff. 135 In einer weniger pretiösen Übersetzung: »Der Geist der Literatur und das Schnitzen von Drachen« (Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 109). Das Buch von Liu Xie (466?537) behandelt mehr als dreißig Gattungen, einschließlich historiographischer und philosophischer Werke, hinsichtlich ihrer Stoffe, Formen und Stile. In China betrachtete man solche Werke als 文 (wen), was sich weder auf ›Literatur‹ beschränken, noch auf ›Geschriebenes‹ ausdehnen lässt, sondern eher im Sinne von ›Wortkunst‹ zu verstehen wäre, die eigenen Regeln folgt. In seiner Schrift Lunwen gibt Cao Pi (187–226) eine erste Bestimmung der Gattungen, die unter wen gefasst werden können. Liu Xie weitete dann den wen-Begriff auf 34 Gattungen aus. (Vgl. dazu Kubin: Die chinesische Dichtkunst, S. xxi.) 136 Schmidt-Glintzer bezeichnet den Autor Sikong Tu (837–908) als denjenigen, »der erstmals den Gedanken, daß Dichtung aus sich selbst heraus zu verstehen sei, bündig formulierte und die Stile unabhängig von einzelnen Dichterpersönlichkeiten zu bestimmen suchte« (Helwig Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Aufl. München: Beck 1999, S. 321). Die 24 Kategorien sind: 1. mächtig-allumfassend (xiong-hun), 2. still und blaß (chong-dan), 3. schlank und üppig (xian-nong), 4. versunken-konzentriert (chen-zhu), 5. erhaben-altertümlich (gao-gu), 6. klassisch-vornehm (dian-ya) (mitunter auch als ›elegant‹ bezeichnet), 7. ausgewaschen, geläutert (xi–lian), 8. kraftvoll und stark ( jing-jian), 9. schön und prächtig (qi-li), 10. natürlich-spontan (zi-ran), 11. verhalten, verwahrend (han-xu), 12. heroisch-unbändig (hao-fang), 13. von sublimem

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›Nachgeschmack‹ (yiwei) auf die Dichtung zu übertragen: »Tiefgründige Texte sind verborgen und blühend zugleich, / Ein Rest von Geschmack umhüllt alle ihre Teile.«137 Im zweiten Text von Sikong Tu (837–908) wird das Blasse/Fade bereits als eine positive Qualität aufgefasst. Der Wertewandel vollzieht sich genau in dem Augenblick, in dem die Dichter »nicht mehr die ›Leere‹ und die ›Durchsichtigkeit‹ zum Objekt des Diskurses machen […], sondern sie über eine Landschaft zum Ausdruck bringen, die von ihren Empfindungen durchtränkt ist.« Von da an hätten sie versucht, »das Unsichtbare über das Sinnliche zu erfassen, die Leere im Ausgang von den Bildern zu beschwören«.138 Die These vom Vorzeichenwechsel muss allerdings auf die Dichtkunst und ihre Kritik beschränkt bleiben, denn schon bei Laozi und Zhuangzi wurde das Blasse/Fade ebenso wie bei anderen daoistischen Gelehrten in Bezug auf das philosophische Denken hervorgehoben. Das deutet darauf hin, dass es in China bereits im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung eine Tradition der Fadheit gegeben haben wird. Es scheint ganz so, als sei die Fadheit, von der daoistischen Philosophie ausgehend, in die Dichtung übergegangen. Im Shipin von Zhong Hong (ca. 467–518) heißt es: »In der Yongjia-Ära [307–311] hing man taoistischen Lehren an und pries Gespräche über die Leere: in den Gedichten aus dieser Zeit obsiegt die abstrakte Reflexion über den literarischen Ausdruck, und so ist die Literatur fade und hat wenig Geschmack.«139 Hier ist ›fade‹ noch im negativen Sinne gemeint. Im Daoismus waren Leere und Fadheit Objekt eines reflexiven Diskurses und hatten damit einen anderen diskursiven Status, während in der Ästhetik, zumindest in der Han-Zeit, der ornamentale Wert favorisiert wurde.

Geist (qing-shen) (so viel wie ›Wesen und Geist‹), 14. dicht gewoben (zhen-mi), 15. ländlichunbesorgt (shu-ye), 16. luzid und ungewöhnlich (qing-qi), 17. verschlungen, gewunden (weiqu), 18. im Bereich des Wirklichen (shi-jing), 19. elegisch-verzweifelt (bei-kai) (auch als ›melancholisch‹ oder im Sinne eines ›tragischen Pathos‹), 20. beschreibend-gestaltend (xing-rong), 21. metaphysisch-transzendierend (chao-yi), 22. wirbelnd-weltenthoben (piaoyi), 23. von schrankenloser Weite (kuang-da), 24. fließend bewegt (liu-tung). (Vgl. Lexikon der chinesischen Literatur, hg. von Volker Klöpsch und Eva Müller, München: Beck 2004, S. 280.) Hier ist dan (siehe Kategorie zwei) schon zum festen Bestandteil der Literaturkritik geworden. Karl-Heinz Pohl übersetzt chong-dan als »genügsam«. Als Alternativen bietet er außerdem an: 5. »weltenthoben und altertümlich«, 6. »klassisch-elegant«, 9. »faszinierend schön«, 22. »losgelöst«, 23. »gleichmütig« (vgl. Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 182). 137 Zit. n. Jullien, S. 98; vgl. Li Zhaochu: Traditionelle chinesische Literaturtheorie. Liu Xies Buch vom prächtigen Stil des Drachenschnitzens (5. Jh.), Dortmund: Projekt 1997, S. 74–75. Dabei ist nicht von dan, sondern von yin-xiu (»verbergen-auffallen«) die Rede: »Unter ›yin‹ versteht man den sich hinter einem Ausdruck verbergenden Sinn. Mit ›xiu‹ ist die Einzigartigkeit der sprachlichen Gestaltung in einem Werk gemeint.« (Ebd., S. 74) 138 Jullien: Über das Fade, S. 97. 139 Zhong Hong: Shipin, »Vorwort«, vgl. Bernhard Führer: Chinas erste Poetik: Das Shipin (Kriterion Poietikon) des Zhong Hong, Dortmund: Projekt 1995, S. 92.

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Die letzte Stufe ihrer Entwicklung habe die Fadheit dann zu Beginn der Song-Zeit im 11. Jahrhundert erreicht, als sie zum Ideal poetischer Schöpfung wurde.140

Figurationen des Blassen/Faden Wie aber lassen sich in poetischen Texten ästhetische Resonanzen der subtilen Fadheit feststellen? Die erste Schwierigkeit bei dem Versuch, eine Antwort darauf zu finden, besteht darin, dass das Blasse/Fade in der Dichtung nicht einfach an bestimmten Schlüsselwörtern zu erkennen ist, und zunächst einmal gefragt werden muss, inwiefern sich das Resonanzphänomen des Blassen/Faden eigentlich durch das Schriftzeichen 淡 wiedergeben lässt. Wäre mit einer solchen begrifflichen Erfassung nicht schon eine Art von Diskursivierung verbunden, was wiederum die Frage aufwirft, ob man unter diesen Bedingungen dem Resonanzcharakter des Blassen/Faden überhaupt noch gerecht werden könne? Doch das, was Jullien das ›Fade‹ nennt, wird nicht allein durch ein bestimmtes Schriftzeichen, sondern viel eher vermittels bestimmter Konstellationen zum Vorschein gebracht. Untersucht werden müsste also, wie die Fadheit im Text figuriert wird und auf welche Weise Resonanzwirkungen erzeugt werden, die den Effekt des Blassen/Faden hervorrufen bzw. sichtbar werden lassen. Jullien weist gleich zu Beginn seiner Überlegungen auf einen weiteren problematischen Sachverhalt bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Blassen/Faden hin, dass es nämlich aufgrund seiner Unbestimmtheit, wenn überhaupt, dann nur sehr schwer theoretisch zu fassen sei.141 Doch gerade die Eigenschaft, diskret zu sein, also unauffällig, zurückhaltend und gleichzeitig in seiner schriftbildlichen Struktur in korrelative Einheiten zerlegbar, könnte eine Möglichkeit bieten, dem Resonanzcharakter des Blassen/Faden auf die Spur zu kommen. Diese besondere Disposition macht sich in doppelter Hinsicht bemerkbar: zum einen in Hinblick auf die Häufigkeit des Schriftzeichens 淡 in Diskursen, zum anderen in Hinblick auf sein ästhetisches Wirkungsfeld. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, findet sich dieses Zeichen in ›literarischen‹ Texten nämlich nicht. Ebenso selten begegnet man ihm in den Gedichten der Tang- und Song-Zeit, etwas häufiger dann aber schon in poetologischen Texten (bei Sikong Tu sogar als eigenständige Kategorie der Dichtung) oder in philosophischen Kommentaren (vor allem im Zusammenhang mit dem dao). Der Resonanzraum von Fadheit, Blässe, Geschmacklosigkeit und Gelassenheit an140 Vgl. Jullien: Über das Fade, S. 94–104, 110. 141 Ebd., S. 23. Das bedeutet allerdings nicht, dass man es mit einem gänzlich Unsagbaren zu tun hat. Trotz ihrer Unbestimmtheit bleibt die Fadheit stets diskursiv. Siehe dazu die Bemerkungen am Schluss dieses Kapitels.

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dererseits ist hingegen weit häufiger anzutreffen. Soweit mir aber bekannt ist, gibt es in China keinen geschlossenen theoretischen Diskurs über das Blasse/Fade, was vermutlich seinen Grund in der unspezifischen Natur der Fadheit hat: Ihre Unbestimmtheit verlangt nach einer allusiven Signifikation, und diese wird nicht benannt oder bezeichnet, sondern evoziert.

Der Nachklang Wie bei Jullien nachzulesen ist, sah man im alten China die höchste Vollkommenheit in der Musik nicht in der äußersten Entfaltung der Töne, sondern in ihrer Dämpfung. Er verweist dabei auf ein Kapitel aus dem Buch der Riten (Liji), in dem beschrieben wird, wie die Saiten einer Zither vom Musiker mit Seide bespannt wurden, um den Klang abzudämpfen, da durch die Verwendung des Stoffs die Saiten nicht mehr so straff wie gewohnt gespannt werden konnten. Fadheit in der Musik meint also das Gegenteil von dynamischer Tonentfaltung, Vielstimmigkeit und Klarheit der Töne; sie impliziert einen Nachklang, der einen »potentiellen Wert [entfaltet], der sich nicht erschöpfen läßt«.142 Laut Jullien war besonders die musikalische Fadheit ein beherrschendes Thema des dichterischen Ausdrucks.143 In der Tat lassen sich in der Lyrik der Tang-Zeit (618–907) viele Gedichte finden, in denen ein Nachklang in Szene gesetzt wird, so beispielsweise bei Li Bai (auch bekannt als Li Bo, 701–762), wenn er beschreibt, wie der Gesang durch den Wind »in die Leere« getragen wird und die Melodie »von selbst um die vorbeitreibenden Wolken herum [schwärmt]«, um schließlich davonzufliegen.144 Diese Art musikalischer Nachklang ist auch in der Dichtung der Song-Zeit zu finden, wie bei Su Shi, dessen Gedicht »Am Westsee« mit der Darstellung der mondsichelförmigen Augenbrauen schöner Tänzerinnen beginnt und mit den Versen endet: Das Kaiserliche Tanzlied »Lob der Wasser« hat dort jemand angestimmt,

142 Ebd., S. 68. Das Gleiche lässt sich über die Erfahrung des Geschmacks sagen. Jullien bezieht sich dabei auf das Speiseopfer, bei dem das Ritual »auf die äußerste Schlichtheit reduziert« wird: »der Fisch wird nicht gekocht, die Suppe nicht gewürzt.« Er ist der Auffassung, dass eine derartige Schlichtheit nicht nur »Zeichen der Feierlichkeit« ist, sondern dass der »am geringsten ausgeprägte Geschmack – die am wenigsten gewürzte Speise – zugleich das Höchstmaß an potentiellem Geschmacksgenuß« birgt und so nach Art des Nachklangs jenen »Überschuß« an Geschmack beschwört, einen Nachgeschmack, dessen potentieller Wert »sich nicht erschöpfen läßt« (ebd.). 143 Ebd., S. 88. 144 Li Bo, zit. bei Jullien: Über das Fade, S. 88.

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Sein Klang schwingt an den grünen Bergen hoch empor um schließlich bei den abendlichen Wolken zu verweilen.145

Vor allem bei der Darstellung junger Frauen wird immer wieder das Motiv des ›Schwärmens‹ verwendet. Liezi, ein daoistischer Philosoph aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., bekannt unter anderem für die Entfaltung des Begriffs der natürlichen Spontaneität,146 berichtet von einem jungen Mädchen, das auf dem Weg nach Qi in einem Gasthaus übernachtete und, als seine Vorräte aufgebraucht waren, sang, um etwas Geld zu verdienen. Nachdem sie das Gasthaus verlassen hatte, »schwärmte drei Tage lang ein Nachklang um die Dachbalken des Hauses […], ohne zu verklingen, so daß man in der Umgebung glaubte, sie sei noch nicht gegangen«.147 Mit dem schwärmenden Nachklang ist aber nicht die Fülle an Erinnerungen gemeint, die sich in einer reizarmen (›faden‹ oder ›asketischen‹) Umgebung stärker dem Subjekt einprägen, weil sie nicht von anderen Sinneswahrnehmungen verdrängt oder überlagert werden.148 Es geht hier vielmehr um eine ästhetische Resonanz, die mit dem lang anhaltenden, langsam verwehenden Nachklang eines buddhistischen Tempel-Gongs vergleichbar wäre, der den Raum ausfüllt und in die Umgebung hinausdrängt: »Der Nachklang überquert den Fluß und entschwindet: / Wo soll man ihn am Rand des Himmels wiederfinden?«149 Für die nähere Bestimmung des Nachklangs in der Dichtung sind vor allem drei Aspekte relevant: der Raum, die Zeit und die Wirkung auf das Subjekt. Der Nachklang breitet sich in der Landschaft aus, überquert natürliche Grenzen und entschwindet, die zeitliche Ordnung aufhebend, im Unbegrenzten: »Der Geist ruhend – die Töne fad: / Keine Vergangenheit mehr und keine Gegenwart«, heißt es bei Bo Juyi (772–846).150 Man könnte die Zeitlichkeit des Nachklangs auch mit 145 Su Shi: »Am Westsee. Am 5. Tag des 5. Monats«, in: Frühlingsblüten und Herbstmond. Ein Holzschnittband mit Liedern aus der Sung-Zeit. Aus dem Chin. übertragen und erläutert von Alfred Hoffmann, Köln: Greven 1951, S. 30. Der Legende nach können die Klänge erhabener Musik die Wolken zum Stillstand bringen. Das Verhallen oder Verklingen (eines Tons, eines Gefühls oder einer Vorstellung) im Raum ist in der chinesischen Dichtung ein häufig anzutreffendes Motiv. 146 自然 (ziran) bezeichnet die ›natürliche‹ Spontaneität, durch die das dao erlangt werden kann. 147 Liezi: Kap. 5, Tangwen, zit. n. Jullien: Über das Fade, S. 89. Vgl. Liä Dsï: Das wahre Buch vom quellenden Urgrund. Übers. v. Richard Wilhelm, Düsseldorf/Köln: Diederichs 1968, S. 111– 112 (EA 1911). 148 Damit würde die chinesische Fadheit in westliche Konzepte der Askese einbezogen und als eine besondere Wahrnehmungsweise aufgelöst werden. 149 Li Bo, zit. n. Jullien: Über das Fade, S. 89. 150 Auch bekannt als Bai Juyi; zit. n. Jullien: Über das Fade, S. 92. In der Übersetzung von Michael von Poser lauten die zwei Zeilen: »Das Herz ist ruhig, gelassen strömt Musik, / Einheit von jetzt und Tagen, die vergingen.« (Po Chü-i = Bo Juyi), »Lauteschlagen auf dem

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der Metapher einer ausgedehnten Gegenwärtigkeit zu fassen versuchen, die den realen Zeitfluss anhält oder zumindest verzögert. Schließlich bewirkt die Fadheit im Subjekt eine innere Loslösung des Bewusstseins von den äußeren Dingen: »Das Bewußtsein macht sich nicht nur von der Geschäftigkeit der Welt frei, von seinen äußeren Bezügen, sondern zugleich auch vom Einfluß der Musik selbst, und zwar in dem Maße, in dem diese Empfindung und Spannung impliziert.«151 Im Übergang von der die Sinne ergreifenden Musik zur Stille ist die Fadheit gewissermaßen die Schwelle, bei der angelangt das Subjekt sich seiner inneren Leere bewusst wird: »Die Melodie verklingt – die herbstliche Nacht vertieft sich.«152 Eine ähnliche Situation schildert der Tang-Dichter Wang Wei (ca. 700– 760) in seinem Gedicht »Hütte im Bambushain«, mitten im Wald die saitenlose Qin153 spielend. Wenn schließlich sein Lied verklungen ist, bleibt nur noch das Licht des aufgegangenen Mondes zurück, in dessen Leuchten die Stille offenbar wird: Niemand weiß es, der Wald ist so tief und dicht. Nur das Mondlicht dringt hin zu diesem Ort.154

151 152 153

154

Boot in der Nacht«, Michael von Poser: Chinesische Gedichte der klassischen Zeit, Wiesbaden: Reichert 2003, S. 153.) Es ist eines der wenigen Gedichte, in denen man das Schriftzeichen 淡 findet (hier als »gelassen« übersetzt). Jullien: Über das Fade, S. 92. Bo Juyi, zit. n. Jullien: Über das Fade, S. 93. Die Guqin (oder einfach Qin genannt) ist ein Zupfinstrument mit sieben Saiten, vergleichbar etwa der Zither. Das Spiel der Qin, erläutert der Sinologe und Übersetzer Stephan Schuhmacher, galt den Daoisten als ein meditativer Vorgang. Es gab die Tradition, eine saitenlose Qin im Haus aufzubewahren. Schuhmacher zitiert in diesem Kontext einen chinesischen Gelehrten: »Die Leute wissen, geschriebene Bücher zu lesen – die ungeschriebenen wissen sie nicht zu lesen; sie können die ch’in mit Saiten spielen – die saitenlose Ch’in wissen sie nicht zu spielen. Wer sich derart mit der Erscheinung statt mit dem Wesen beschäftigt, wie könnte der verstehen, was Musik und Dichtung sind!« (Vgl. dazu den Kommentar des Übersetzers in: Wang Wei: Jenseits der weißen Wolken. Die Gedichte des Weisen vom Südgebirge. Aus dem Chin. übertragen und hg. von Stephan Schuhmacher, München: Diederichs 1982, S. 41.) Poser: Chinesische Gedichte der klassischen Zeit, S. 47. Günter Eich hebt in seiner Übersetzung des Gedichts das Leuchten des Mondes »mit seinem reinen Schein« stärker hervor; vgl. Günter Eich: Aus dem Chinesischen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 24. Schuhmacher hingegen bringt in seiner Übertragung das Subjekt in eine zentrale Position: »Niemand weiß um mich hier im tiefen Wald, / Nur der volle Mond kommt, mir zu leuchten.« (Wang Wei: Jenseits der weißen Wolken, S. 41.)

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Fadheit in der Malerei Die Malerei der Fadheit präsentiert in endlosen Varianten weitläufige Landschaften, deren Flächen einfarbig, oft in einem sanften Ockergelb dargestellt sind. Im Vordergrund sind einige zierliche, spärlich belaubte Bäume zu erkennen, die vor einer ausgedehnten Wasserfläche angeordnet sind. Das gegenüberliegende Ufer ist nur vage angedeutet, dahinter zeichnen sich leicht ansteigende Hügel ab. Das Ensemble wirkt flach und strahlt Ruhe aus; selbst die Berge im Hintergrund stören diese Perspektive nicht. Der Maler benutzt blasse Farbe, stark verdünnte Tusche und malt mit dünnen Pinselstrichen. Die Formen sind in einem Moment kurz vor ihrer Auflösung festgehalten. Im Mittelgrund herrscht eine matte, weißgelbe Leere, und nur die aufgerichteten kahlen Astenden der Bäume verbinden die beiden Ufer miteinander. Nähe und Ferne scheinen sich im betrachtenden Blick auszugleichen.155 Einer der wichtigsten Vertreter einer solchen Malerei der Fadheit ist Ni Zan (1301–1374), der zu den vier »großen Meistern« der Yuan-Zeit (1279–1368) gezählt wird. Von ihm sagt Jullien, dass er – zumindest für die Augen westlicher Betrachter – sein Leben lang immer nur dieselbe Landschaft gemalt habe, und das nicht etwa, weil er sich aus persönlichen Gründen zu einer bestimmten Landschaft oder zu bestimmten Motiven hingezogen fühlte, sondern um die innere Loslösung von allen Motiven und Motivationen zum Ausdruck zu bringen.156 Es handelt sich um die unablässige Reproduktion einer eintönigen, fast einfarbigen Landschaft, die zugleich alle Landschaften in sich enthält. Wenn es nicht die Motive sind, anhand derer man die Fadheit bestimmen kann, wo wären dann die maßgeblichen Kriterien zu suchen? Auf ästhetischer Ebene gibt es eine Kohärenz, die alle Bilder der Fadheit miteinander verbindet: eine Blässe, und zwar in dem Sinne, dass die Schattierungen »weniger lebhaft« sind, dass die verdünnte Tusche die gemalten Gegenstände matter erscheinen lässt und das Bild »durchsichtiger« macht.157 Ein wesentlicher Aspekt ist die Leere. Mit Wang Wei und Wu Daozi entsteht in der Tang-Zeit eine Malerei, die ganz von ihr beherrscht wird und die dazu führt, dass auf den Bildern der Song- und Yuan-Zeit der nicht bemalte, d. h. in seiner Ursprünglichkeit belassene Raum oft bis zu zwei Drittel der gesamten Fläche einnimmt. Die Leere hat nichts Vages oder Undeutliches an sich; sie ist keine negative Präsenz (im Sinne einer Umkehrung oder eines Gegensatzes zu etwas Positivem), sondern durchzogen von Lebensenergie, vom ›Hauch des Atems‹, der 155 Vgl. Julliens Beschreibung von Ni Zans »Landschaft der Fadheit«, in: Jullien: Über das Fade, S. 24–28. 156 Vgl. ebd., S. 28. 157 Ebd., S. 162.

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die sichtbare Welt mit der unsichtbaren verbindet.158 Selbst im Sichtbaren zirkuliert die Leere: Als Wolke nimmt sie in der Distanz zwischen Berg und Wasser eine flüchtige, fragile Gestalt an. Die Landschaftsmalerei, wie sie bei Ni Zan oder auch bei Dong Yuan zu finden ist, kann als Fortsetzung einer Traditionslinie aufgefasst werden, die laut François Cheng ihren Ursprung in der Tang-Zeit hatte, in der sich drei Stile ausdifferenzierten, die er mit westlichen Begriffen als »realistisch«, »expressionistisch« und »impressionistisch« bezeichnet, wobei schon während der Tang-Zeit die dritte Stilrichtung zur Hauptströmung wurde.159 Man hat es dabei mit einer Art von Malerei zu tun, »die sich zierlicher, zum Teil ineinander verschmolzener Striche und einer subtil abgetönten Tusche bedient, und vor allem danach strebt, die Schattierungen einer Landschaft in ihren unendlichen Nuancen zu erfassen und die verborgenen Schwingungen von Objekten einzufangen, die in dem unsichtbaren ›Atmen‹ schwimmen, von dem das Universum beseelt wird«.160 Begründet wurde diese ›impressionistische‹ Richtung von Wang Wei, der zugleich Maler und Dichter war und dessen Gedicht »Hirschgehege« im Folgenden noch zu besprechen sein wird.161 Wie Jullien hat auch Cheng sich mit dem Aspekt des Formlosen in der chinesischen Kunst beschäftigt. Chengs gesamte Konzeption der Kunst baut auf dem Begriff des ›Lebenshauchs‹ (qi) auf. Er stützt sich dabei auf eine Passage von Zhuangzi (aus dem Kapitel »Die Erkenntnis reist in den Norden«), in der es heißt, der Mensch sei geboren aus einer Verdichtung des Lebensatems.162 Die Kunst, so Cheng, habe die Funktion, den Lebenshauch zu verlebendigen und zur Darstellung zu bringen. »Den harmonischen Atem beseelen« lautet das Prinzip, das 158 Vgl. Cheng: Fülle und Leere, S. 53. 159 Cheng: Fülle und Leere, S. 19. Julliens Darstellung der Malerei ist, verglichen damit, viel enger: Sie geht vom »Motiv der Fadheit« aus und erweckt den Anschein, als dominiere das Moment der Fadheit die chinesische Malerei (zumindest bis zur Yuan-Zeit). Die »expressionistische« Malerei ( Jullien benutzt dieselben Begriffe wie Cheng, jedoch ohne auf ihre Tradition zu verweisen) dient ihm dann als Gegenpol, denn dieser Malstil erfordere »keine spirituelle Vertiefung, wie sie für die Gelehrtenmalerei unabdingbar ist« ( Jullien: Über das Fade, S. 171). Folglich stehe sie nicht nur der Malerei der Fadheit als Stilrichtung entgegen, sondern auch der Tradition der sogenannten Gelehrten- oder Literatenmalerei, d. h. einem Stil, der von weltabgewandten Dichter-Malern gepflegt wurde, fast ausnahmslos Landschaften zum Gegenstand hat und sich durch schlichte Eleganz auszeichnet. Kritisch anzumerken ist hier allerdings, wie Jullien, der vorgibt, mit Hilfe der Fadheit das abendländische Denken (dessen Metaphysik und dessen ›Frontaldialektik‹) zu überwinden, bedenkenlos dialektische Strukturen in die chinesische Kunst und das chinesische Denken einführt. 160 Cheng: Fülle und Leere, S. 20. 161 Obgleich er einen großen Ruhm als Maler genoss, ist keines seiner Bilder erhalten, was viele seiner Nachfolger dazu anregte, aus seinen Titeln und Schriften seine Malerei ›nachzuempfinden‹. 162 Vgl. Cheng: Fülle und Leere, S. 70.

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Xie He Anfang des 6. Jahrhunderts als Regel für die chinesische Malerei formulierte. Hier kommt das für Cheng zentrale Element dieser Malerei ins Spiel: der Pinselstrich. »Indem er den Rhythmus und die verborgenen Triebe des Menschen aufnimmt, ist der Strich gleichzeitig der Hauch, Yin-Yang, Himmelund-Erde und die zehntausend Dinge.«163 Aber um zirkulieren zu können, braucht der Atem oder Hauch die Leere, ebenso wie yin und yang auf sie angewiesen sind, um ihre Wirkung zu entfalten: »Ohne die Leere könnte der Strich, der Ausdehnung und Licht, Rhythmus und Farbe andeutet, nicht sein ganzes Wirkungsvermögen entfalten.«164 Damit aber der Strich vom Lebenshauch gleichsam ›beseelt‹ werden kann, genügt es nicht, dass sie nur den Strich belebt: Die Leere muss, wie Cheng betont, zugleich die Hand des Malers führen. Deshalb ist es wichtig, den Maltechniken Aufmerksamkeit zu schenken, wozu neben der Körperhaltung auch die Bewegungen der Hand gehören. Cheng hebt in diesem Zusammenhang die Bedeutung hervor, die der Maler Shitao dem »leeren Handgelenk« (xuwan) zumaß: »Das ›leere Handgelenk‹ ist keineswegs gleichbedeutend mit einer kraftlosen Hand, wenn der Maler den Pinsel hält. Im Gegenteil: er ist das Ergebnis großer Konzentration, einer auf die Spitze getriebenen Fülle. Der Maler darf nicht eher zu malen beginnen, als in dem Moment, wo die Fülle seiner Hand ihren Höhepunkt erreicht und schlagartig der Leere nachgibt.«165 Das Malen oder Schreiben, sofern es eng mit der Kalligraphie verbunden ist, setzt einen Mechanismus von Spannung und Bewegung voraus: »Die Leere ist auf allen Ebenen des Körpers spürbar, wenn wir kalligraphieren (oder malen). Auf jeder Ebene gibt die Fülle, sobald sie reif ist, der Leere nach, und zwar in dieser Reihenfolge: untere Gliedmaßen → obere Gliedmaßen → linke Körperhälfte → rechte Körperhälfte → rechte Schulter → rechter Arm → Handgelenk → Finger → Pinsel. […] Die Leere hat einen zweifachen Effekt: dank der Leere durchdringt die Kraft des Strichs das Papier soweit, daß sie darüber hinausgeht; gleichzeitig wird auf der Oberfläche des Papiers alles lebendig, weil es vom Atem durchzogen ist.«166

Erst vor diesem Hintergrund der körperlichen Präsenz beim Akt des Schreibens/ Malens kommt Cheng auf die konkreten Pinselstriche zu sprechen. Es sind vor allem zwei Striche, die zur Andeutung der inneren Leere von Relevanz sind: ganbi, der ›trockene Pinsel‹, und feibai, das ›fliegende Weiß‹. Für den bedeutendsten Meister des ›trockenen Pinselstrichs‹ hält Cheng den von Jullien wegen seines ›reizlosen‹ Stils so gerühmten Maler Ni Zan. Bei dieser Technik werde der 163 Ebd., S. 84. Die »zehntausend Dinge« stehen im Daodejing für die Mannigfaltigkeit der Welt, die Myriaden von Dingen, die aus dem dao hervorgehen (§ 42). Vgl. Lao-tse: Tao-Tê-King. Das Heilige Buch vom Weg und von der Tugend, S. 73. 164 Cheng: Fülle und Leere, S. 84. 165 Ebd., S. 92. 166 Cheng Yaotian, zit. n. Cheng: Fülle und Leere, S. 92–93.

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Pinsel nur mit wenig Tusche benetzt: »Der Strich, den er im Gleichgewicht zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Substanz und Geist zieht, erzeugt einen Eindruck diskreter Harmonie, so als sei er mit Leere gesättigt«.167 Bei der als Nächstes genannten Strichtechnik werden die Borsten des Pinsels nicht wie sonst konzentrisch geführt, sondern »derart auseinandergedrückt, daß der rasch gezogene Strich in seiner Mitte weiß enthält«. Den Effekt, der daraus resultiert, beschreibt Cheng als »Einheit von Kraft und Leichtigkeit, so als sei der Strich von Atem ›durchlöchert‹«.168 Daneben gibt es noch den ›Textur- oder gestalteten Strich‹, chin. cun (in der Kalligraphie der Haken, der beim An- oder Absetzen des Pinsels gezogen wird, und in der Malerei der Pinselstrich, mit dem man Gegenstände in eine Form bringt oder deren Volumen andeutet).169 In den alten Texten über Malerei tragen die verschiedenen Arten des Texturstriches Namen wie »eingerollte Wolke, »verzettelter Fimmel«, »abgewickelte Hanffaser« (auch »krause Hanffaser«), »zerrissenes Netz«, »Teufelsgesicht«, »Skelettschädel«, »Jadefragment«, »verfilztes Bündel«, »Axthieb« oder auch »Rattenkopf«, »Schlangenschwanz« und »ausgerissener Nagel«.170 Die unterschiedliche Verwendung des Texturstrichs schafft einen Reichtum an Facetten – allerdings auf einer Ebene, die jenseits von Gegenstand und Form liegt, also jenseits von eben den Kriterien, die für uns Europäer relevant wären. Der Texturstrich könnte als eine eigene Dimension der chinesischen Malerei171 angesehen werden. Seine Funktion liegt vor allem darin, durch eine feine oder harte Textuierung eine besondere Wirkung zu schaffen: »Zusammengesetzt aus Haken, Winkeln oder Kurven, spielt cun mit Fülle und Feinheit, daneben aber auch mit der Leere, die er einschließt oder hervorhebt, um gleichzeitig Form und Bewegung, Farbe und räumliche Tiefe anzudeuten.«172 Als einen weiteren zentralen Begriff für die Darstellung der Formen vermittels des Texturstrichs hebt Cheng den Begriff yinxian (unsichtbar-sichtbar) hervor, der, ebenso wie die Idee der Leere, in den Umgangspraktiken mit chinesischen 167 Cheng: Fülle und Leere, S. 93. 168 Ebd. 169 Nach Fritz van Briessen ist es sehr schwer, für cun eine adäquate Übersetzung zu finden. Im Englischen hat man es mit »wrinkles«, »shading« oder »modeling« versucht, im Französischen mit »traits«. Im Deutschen gibt es laut Briessen keine allgemeingültige Übersetzung; möglich wären »Runzeln«, »Schrunden« oder »Faltungen«. Was das Englische betrifft, so bevorzugt er den Begriff »shaping lines«; vgl. Fritz van Briessen: The Way of the Brush. Painting techniques of China and Japan, Boston, Mass.: Tuttle 1998, S. 49–50. Die deutsche Übertragung als »Texturstrich«, wie sie in dem Buch von Cheng zu finden ist, scheint im Vergleich dazu neutraler zu sein. 170 Vgl. Cheng: Fülle und Leere, S. 18 und 94. Generell teilen sich diese Striche in drei Gruppen: Schattierungs-, Streifen- und gepunktete Striche. 171 Das gilt ebenso für die chinesisch beeinflusste Malerei in Korea und Japan, auf die hier aber nicht näher eingegangen wird. 172 Cheng: Fülle und Leere, S. 94.

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Bildern eine Rolle spielt, die zusammengerollt und mit einem Band fest verschnürt aufbewahrt wurden. Im eingerollten Zustand verkörpert das Bild das undifferenzierte Nichts, während es aufgerollt »zu einem in sich selbst eingeschlossenen Universum«173 wird. Im Ritual des Entrollens »verräumlicht sich die gelebte Zeit«, und zwar »nicht in einen abstrakten Rahmen, sondern in einen qualitativen und unermeßlichen Raum«.174 Den chinesischen Malern der Songund Yuan-Zeit sei es vor allem darauf angekommen, »die gelebte Zeit in einen lebendigen Raum zu übersetzen«,175 was nur durch die Leere möglich ist, da sie den Raum offen lässt und die notwendige Diskontinuität in die lineare Entwicklung des Dargestellten einbringt. Durch die für den abendländischen Betrachter befremdlich wirkenden Beziehungen zwischen nah und fern sowie innen und außen, wird ein umkehrbarer Prozess in Gang gesetzt, der die Verwandlung der Dinge versinnbildlicht. Nach Chengs Auffassung müsse der Künstler, um »nicht alles zu zeigen, um den Atem lebendig zu halten«,176 eine besondere Art von Kunst kultivieren. Diese Aufgabe erfordere das Unterbrechen der Striche, denn zu eng verbundene Striche »ersticken den Atem«: In der Malerei muß man sich gleichermaßen zurückzuhalten wie zu enthalten wissen. Sich zurückzuhalten zu wissen, heißt, die Umrisse und Volumina der Dinge mit Pinselstrichen zu erfassen. Doch wenn man dabei durchgehende oder starre Striche verwendet, beraubt man das [Bild] seiner Lebendigkeit. Selbst wenn es beim Entwurf der Formen darum geht, ein vollständiges Ergebnis zu erzielen, liegt die ganze Kunst der Ausführung doch in den Zwischenräumen und fragmentarischen Andeutungen. Daher die Notwendigkeit, sich zu enthalten zu wissen.177

Um die Zwischenräume zu belassen, werden Pinselstriche gegebenenfalls nicht ausgeführt, so dass ein Gebirgszug auch »nicht-gemalte Vorsprünge« enthalten kann, oder es wird bei der Darstellung eines Baumes darauf verzichtet, sämtliche Äste und Zweige zu malen, damit sie »in einem Zustand des Werdens, zwischen Sein und Nicht-Sein, verbleiben«.178 Die Zwischenräume werden dabei indirekt durch einen Ausgleich sichtbar: Wenn ein Berg zu »voll« erscheint, muss er durch Dunst und Nebelschwaden »geleert« werden; ist er aber »zu leer« geworden, muss man ihn wieder durch Hinzufügen eines Pavillons oder von Terrassen »auffüllen«.179 173 174 175 176 177

Ebd., S. 125. Ebd. Ebd. Ebd., S. 95f. Li Rihua (1565–1635), zit. n. Cheng: Fülle und Leere, S. 99. Im Zitat wurde das Wort ›Gemälde‹ durch ›Bild‹ ersetzt. 178 Ebd. 179 Tang Yifen (1778–1853), zit. n. Cheng, ebd.

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Gemalte ›Land-Schriften‹ und poetische Zeichen-Landschaften In der Literatenmalerei,180 als deren Begründer Wang Wei gilt und zu der auch der Dichter Su Shi zu rechnen ist, verstärkte sich die Tendenz, Zeichen in Bilder zu integrieren und Gedichte auf die Bildfläche zu schreiben, womit die vorher schon enge Beziehung zwischen Zeichen und Bild noch weiter gefestigt wurde. Ziel der Dichtermaler war es, primär den geistigen Inhalt der abgebildeten Gegenstände zu erfassen, weshalb sie einfache Utensilien verwendeten (wie Pinsel, Tusche und Papier) und sich auf wenige Themen beschränkten (wie Landschaften, Vögel, Bambus und Blumen). In der Nachfolge dieser Tradition stehen auch Xu Bings Landscripts. In dem Skizzenbuch, das er während einer Reise nach Nepal anfertigte, finden sich Tuschezeichnungen, in denen einzelne Objekte die Gestalt derjenigen Zeichen annehmen, die sie bezeichnen. Betrachtet man das folgende Bild genauer, dann erkennt man im Vordergrund unten links, mit dünner Tusche gemalt, das Schriftzeichen für ›Stein‹ 石 (Abb. 19). Die Zeichen, als solche selber unscheinbar und unauffällig, gehen in die Landschaft ein und verbergen sich in ihr, obwohl sie offen sichtbar sind. Sobald man aber von ihrer Existenz weiß, sind sie nicht mehr zu übersehen, nicht nur an der besagten Stelle, sondern ebenso im Hintergrund der Darstellung, und schließlich nimmt man selbst an den Steinen, die sich im Zentrum des Bildes befinden, das Schriftzeichen 石 wahr. Die Präsenz des Zeichens ist jedoch so diskret, dass die Gegenständlichkeit des Bildes dadurch in keiner Weise gestört wird – im Gegensatz zum Empfinden des Betrachters, der plötzlich überall Zeichen zu sehen glaubt. Auch in Japan gab es verschiedene Traditionen, Schriftzeichen in Landschaftsbilder einzuarbeiten. So wurden beispielsweise in goldverzierten Lackwarendekorationen (maki-e) der Heian-Zeit (794–1185) und der späteren Muromachi-Zeit (etwa 1336–1573) einzelne Zeichen (entweder Kanji oder Hiragana) zwischen Gräsern, Steinen, auf Bäumen oder in Wurzeln dargestellt, um auf bestimmte Orte oder auch auf bestimmte Gedichte anzuspielen (Abb. 20 und 21). Eine andere Möglichkeit der Verflechtung von Schrift und Bild ist die sogenannte ›Schilfschriftmalerei‹ (ashide-e), die ebenfalls während der Heian-Zeit praktiziert wurde und bei der die stilisierten Zeichen gleichermaßen als Text wie 180 Die Literatenmalerei war die Kunstform einer klassisch gebildeten Elite (vor allem vom 11. bis 13. Jahrhundert), die sich aus Dichtern oder gelehrten Beamten zusammensetzte und sich gegen die etablierte Berufsmalerei wandte, weshalb sie ihren Dilettantismus herausstellte und eine Schlichtheit im Stil betonte. Siehe dazu Susan Bush: The Chinese Literati on Painting. Su Shih (1037–1101) to Tung Ch’i-ch’ang (1555–1636), Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press 1971.

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Abb. 19: Xu Bing, Landscript, 1999, Detail.

auch als Illustration dienten. In ein Landschaftsmotiv fügte man ein Gedicht in einer kursiven Schnellschrift (so¯gana) derart ein, dass der Betrachter den Eindruck erhielt, es handle sich um ein mit Schilf oder Gras geflochtenes Zeichen. Daneben gab es auch andere Formen der Stilisierung von Schriftzeichen, z. B. als Wellen, Steine oder Vögel.181 In der Dichtung haben wir es dagegen häufig mit der sprachlichen Visualisierung poetischer Bilder zu tun, die als gemalte Bilder besonders inszeniert werden, wie in einem Gedicht des schon erwähnten Dichters und Literatenmalers Su Shi. Es trägt den Titel »Im Pavillon ›Seeblick‹ am siebenundzwanzigsten Tage des sechsten Monats im Rausche geschrieben« und seine beiden ersten Zeilen lauten auf Chinesisch (horizontal von links nach rechts zu lesen): 黑雲翻墨未遮山 白雨跳珠亂入船

Eine so weit wie möglich wortgetreue Wiedergabe wäre: Schwarz(e) – Wolke – wenden, umschlagen, umblättern – Tusche – noch nicht – verdecken – Berg(e); weißer – Regen (etwa: Schauer bei hellem Tageslicht, aber auch Hagelsturm) – 181 Vgl. Japanische Chrestomathie von der Nara-Zeit bis zur Edo-Zeit. Kommentar von Bruno Lewin, 2 Bde., Wiesbaden: Harrassowitz 1965, 1. Bd., S. 233.

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Abb. 20: Lackbild (maki-e) auf einer Schreibkiste aus dem 15. Jh., Ausstellungsobjekt des NezuMuseums in Tokyo (in das Gras sind einzelne kana-Zeichen wie z. B. け und れ integriert).

Abb. 21: Ausschnitt mit vergrößertem Schriftzeichen in Hiragana り (ri).

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hüpfen, springen, tropfen – Perle(n) – durcheinander – eindringen (ins) – Boot. Die Wortarten (die Verben befinden sich jeweils in dritter und fünfter Position) können aufgrund des vertikalen Parallelismus genau bestimmt werden. Dementsprechend ließe sich das Gedicht in etwa wie folgt übersetzen: Wolken wenden sich, werden schwarz wie Tusche, verdecken (aber) noch nicht den Berg, während weißer Regen wie Perlen durcheinander ins Boot springt.182

In der Übertragung von Ernst Schwarz heißt es dagegen: Die Wolken – verschüttete Tusche, die fließend die Berge verschlingt; ein Perlenschauer der Regen, der über den Bootsrand springt.183

Diese eindeutschende Nachdichtung, die sich zudem freiwillig einem vollkommen unnötigen Reimzwang unterwirft, macht eine grundlegende Schwierigkeit im Umgang mit fremdsprachiger lyrischer Dichtung deutlich: Zeigt sie doch geradezu exemplarisch, wie leicht auf diesem Wege ein schiefes oder sogar falsches Bild vermittelt wird. Dem Fremden wird hier das Eigene förmlich aufgezwungen, um so einen dem westlichen Leser nachvollziehbaren und ihn zu weiterer Lektüre anreizenden Imaginationsraum zu schaffen. Die Nachdichtung mag eher an ein impressionistisches Gedicht erinnern, als dass sie ihm ein Bild der fernen chinesischen Lyrik mit all ihrer Wesensfremdheit vermitteln würde. Vor allem aber die auf gegensätzlichen Bildern aufbauende Schwarz-WeißStruktur, markiert durch die Wörter ›schwarz‹ und ›Tusche‹ in der ersten Zeile und den ›weißen Regen‹ in der zweiten, geht verloren. Für eine Untersuchung der Fadheit ist insbesondere der Ausdruck ›weißer Regen‹ von Bedeutung. Das Attribut mag einem westlichen Leser zunächst als unnötig oder sogar pretentiös erscheinen. Aber der Bezug zur Tusche, die ja schwarz ist, macht den Kontrast augenscheinlich und verdeutlicht die Funktion eines Ausgleichs. Doch nicht nur als Markierung von Kontrast und Ausgleich kann dieser Ausdruck gelesen werden, sondern zugleich auch als subtile Figuration des Blassen/Faden. Das scheinbar überflüssige Attribut ›weiß‹ würde dabei das Neutrale des Wassers im Vergleich zur Dominanz der Tusche akzentuieren, während die Fülle, in der dieses ›weiße‹ Wasser als Regen präsent ist, nahelegt, dass das Bild, das hier poetisch gezeichnet wird, gleichsam mit verdünnter Tusche gemalt ist. Dergleichen Textspuren und Assoziationen bleiben 182 Übersetzung von mir. 183 Su Dong-po [Su Shi]: »Im Pavillon ›Seeblick‹ am siebenundzwanzigsten Tage des sechsten Monats im Rausche geschrieben«, in: Chrysanthemen im Spiegel. Klassische chinesische Dichtung, hg., aus dem Chin. übertragen und nachgedichtet von Ernst Schwarz, Berlin: Rütten & Loening, 2. Aufl. 1988, S. 315.

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einem Leser, der lediglich die deutsche Nachdichtung vor Augen hat, allesamt verschlossen. In der Eindeutschung von Ernst Schwarz gibt es das für die Erschließung des Gedichts zentrale Schlüsselwort ›weißer Regen‹ nicht mehr, und damit auch nicht den konstitutiven Kontrast.

Das Problem der Übersetzung Wenn ein Germanist oder Komparatist, der des Chinesischen nicht mächtig ist oder bestenfalls nur einige wenige Zeichen lesen kann, die Figurationen des Blassen/Faden in chinesischen Gedichten analysieren will, ist er unweigerlich auf Übersetzungen angewiesen, die jedoch, wie das soeben angeführte Beispiel gezeigt hat, mitunter sehr problematisch sind. In den meisten Fällen wird ein an Beispielen aus der deutschen Literatur geschulter Germanist die Angemessenheit oder Korrektheit einer solchen Übersetzung im Einzelnen nicht nachprüfen können, was ein komparatistisch orientiertes Vorgehen ungemein erschwert. Das Problem der Übersetzung ist aber nicht nur ein sprachliches, denn es werden nicht allein Wörter aus einer fremden Sprache in die eigene übertragen, sondern auch das Sprachgefühl, der Klang und die der dichterischen Darstellung implizite Ästhetik müssen vermittelt werden. Eine Übersetzung unterliegt damit nicht nur der Gefahr, neue Bedeutungszusammenhänge und Assoziationen zu schaffen, die im Original nicht zu finden oder diesem unmöglich sind; sie bringt es allzu oft auch mit sich, dass ursprünglich vorhandene Kontexte und Anspielungen verloren gehen, weil sie weder gesehen, noch verstanden wurden. Durch jede Übersetzung wird ferner ein Raum ästhetischer Wahrnehmung ausgestaltet, der sich gerade bei Übertragungen aus dem Chinesischen aufgrund des großen kulturellen Abstands zumeist generell von dem des Originals unterscheidet. Es kommen dabei literarische Traditionen, lyrische Gattungen, Stile, Vers-, Reimund Sprachformen ins Spiel, die alle mit daran beteiligt sind, beim Lesen eines Gedichts eine auf den Leser zugeschnittene spezifische ästhetische Wahrnehmung hervorzubringen. Aufschlussreich ist in diesem Kontext die Äußerung des Sinologen Eduard Horst von Tscharner, dass die »Flexionslosigkeit und allgemeine syntaktische Lockerheit in der chinesischen Sprache […] auffallend der Schattenlosigkeit und der flächenhaften und gelösten Komposition in der chinesischen Landschaftsmalerei«184 entspreche. Die Aufgabe einer Übersetzung müsse folglich darin bestehen, das »Gegeneinanderwirken von Ausgesprochenem, Angedeutetem 184 Eduard Horst von Tscharner: »Chinesische Gedichte in der deutschen Sprache«, in: Das Problem des Übersetzens, hg. von Hans Jochim Störig, Stuttgart: Goverts 1963, S. 268–198, hier S. 271 (zuerst in: Ostasiatische Zeitschrift 18, NF 8 (1932), S. 189–209).

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und Verhaltenem, Leerem«185 spürbar werden zu lassen, was bedeutet, dass nicht nur die Wortbedeutung, der gedankliche Inhalt und die sprachliche Form bei einer Übersetzung zu berücksichtigen sind, sondern in hohem Maße auch die ästhetischen Resonanzen des Textes. Aber gerade das erweist sich ganz offensichtlich als die am schwierigsten zu erfüllende conditio sine qua non. Die Nachdichtung von Ernst Schwarz ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall, wie das nächste Beispiel zeigen wird: In den »Liangchou Versen« (liang zhou ci) von Wang Zhihuan (688–742) wird eine Landschaft aus der Perspektive einer ›erhöhten Distanz‹ (gao-yuan) dargestellt. Der Betrachter befindet sich dabei auf einer verhältnismäßig niedrigen Ebene und blickt nach oben.186 Die erste Zeile des Gedichts umfasst sieben Schriftzeichen: 黄河遠上白雲間

Diese Zeichen bedeuten wörtlich: gelb – Fluss – in der Ferne – oben (nach oben gehen, hinaufsteigen, weit flussaufwärts fahren) – weiß – Wolke – zwischen. Eine an der Wortbedeutung orientierte Wiedergabe wäre also: ›Der Gelbe Fluss steigt in der Ferne in die weißen Wolken hinauf.‹ Wird auch noch die nachfolgende Zeile einbezogen, dann würde diese lauten: ›Weit entfernt, flussaufwärts des Huanghe, zwischen weißen Wolken, befindet sich eine einsame Festung.‹ Der Betrachter folgt dem Flusslauf bis zu den fernen Bergen, wo er eine Festung sieht, die der Frühling noch nicht erreicht hat. Michael von Poser hat dieses Gedicht dann wie folgt übersetzt: In der Ferne siehst du den Gelben Fluß zwischen weißen Wolken verschwinden. Verloren klebt der Festungsort im Gebirg über Felsabgründen. Die Flöte des Hirten, was sollte sie um Weidenzweige trauern? Über den Jadetorpaß hinaus kann der Frühling den Weg nicht finden.187

Auffällig an dieser Eindeutschung sind vor allem die Anrede und der umschlingende Reim, der das Gedicht dem deutschen Ohr anpasst, aber gleichzeitig die Bedeutung modifiziert, denn im chinesischen Original verschwindet der Fluss keineswegs, sondern steigt vielmehr zu den Wolken hinauf. Um Einiges genauer ist hier die Übersetzung von Barbara Maag: Der Gelbe Fluß steigt in der Ferne in weiße Wolken hinein. Einsam steht eine Festung hoch oben auf dem Berg.

185 Ebd., Tscharner bezieht sich dabei auf den Kommentar von Richard Wilhelm (ChinesischDeutsche Jahres- und Tageszeiten. Lieder und Gesänge, verdeutscht von Richard Wilhelm, Jena: Diederichs 1922, S. 105). 186 Vgl. dazu Cheng: Fülle und Leere, S. 120. 187 Poser: Chinesische Gedichte der klassischen Zeit, S. 29.

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Was klagt die Flöte der Qiang, daß hier keine Weiden sind. Noch niemals hat der Frühlingswind den Yumen Paß überwunden.188

Vergleicht man die beiden Übersetzungen, dann zeigt sich, dass die zweite immerhin einen gewissen Grad an Fremdheit bewahrt, allein schon wegen der Verwendung der chinesischen Bezeichnungen »Qiang« und »Yumen Paß«. Durch die konkrete Ortsangabe erlaubt sie es mit ein wenig Hintergrundwissen dem Leser, das Gedicht der sogenannten ›Grenzlandpoesie‹ zuzuordnen, die eine Region von Kargheit und Entbehrung zur Darstellung bringt und damit auf die Härten des Soldatenlebens aufmerksam macht.189 Der Vergleich führt uns nochmals vor Augen, dass, sobald vor dem Hintergrund der deutschen Lyriktradition übersetzt wird, das Phänomen des Blassen/Faden nicht nur unweigerlich zu verschwinden droht, sondern ganz einfach überhaupt nicht mehr vorhanden ist.

Die Tragweite des Sinns Welche Wirkung hat die Fadheit aber nun in Hinblick auf den Sinn und das Subjekt? Diese Fragestellung, die insbesondere in Bezug auf das westliche Denken mit seinem Konzept eines autonomen Subjekts interessant ist, könnte auf zweierlei Weise beantwortet werden: zum einen in Hinsicht auf das, was Jullien die »Tragweite des Sinns«190 nennt, zum anderen mit Blick auf die Loslösung des Subjekts von seinen äußeren Bezügen und Bestimmungen. In seiner Abhandlung über das Fade verknüpft Jullien die Dichtung der Fadheit mit der chinesischen Vorstellung eines »Jenseits der Worte«,191 wozu er einen Vierzeiler von Wang Wei anführt, der den Titel lu chai trägt, was einerseits soviel wie ›Hirschgehölz‹ bedeutet, andererseits aber auch ein Ortsname sein könnte: 空山不見人 但聞人語響 返景入深林 復照青苔上 188 Gedichte aus der Tang Dynastie. Aus dem Chinesischen übertragen von Barbara Maag, Norderstedt: BoD 2003, S. 71. Die Qiang waren eine eigenständige Nationalität im Nordwesten Chinas; vgl. dazu Klöpsch: Die Jadesplitter der Dichter, S. 174. 189 Der Yumen Guan, auch als ›Jadetor-Pass‹ bezeichnet, ist ein Gebirgspass westlich der Stadt Dunhuang in der Provinz Gansu. Über diesen Pass führte einst die Seidenstraße, und die dort errichtete Befestigung diente als eine Grenzstation. Das ursprüngliche ›Jade-Tor‹ ließ der Kaiser Wudi (156–87 v. Chr., Regentschaft seit 141 v. Chr.) erbauen. 190 Jullien: Über das Fade, S. 114. 191 Ebd., S. 125.

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Den verschiedenen poetisierenden Übersetzungen ins Deutsche (und ihrer Fragwürdigkeit) sei auch in diesem Falle wieder eine Wort-für-Wort-Übersetzung aus dem Chinesischen vorangestellt (gelesen von links nach rechts): leer – Berg – nicht/kein – sehen/wahrnehmen – Mensch; nur – hören – Mensch – Stimme – Schall; zurück/Rückkehr – Sicht (beide Zeichen zusammen: Widerschein (des Abendlichts)) – hinein – Tiefe – Wald; von neuem/wieder – leuchten – grün – Moos – darauf. In der Nachdichtung Michaels von Poser heißt das Gedicht »Hirschpark«: Leerer Berg, und keine Menschen zu sehn. Nur die Stimmen erreichen von fern das Ohr. Abendlicht liegt in dem tiefen Wald. Grünes Moos leuchtet daraus hervor.192

Abgesehen von der unglücklich gewählten Katachrese in der dritten Zeile, ist auch hier die Wortwahl deutschen Ohren und Sinnen angepasst worden, doch ist diese Übersetzung noch neutraler als die von Volker Klöpsch, welche mit einer Analogiebildung zu Tiecks ›Waldeinsamkeit‹ beginnt und die ebenfalls die für das Verständnis sehr wichtige konstrastive Konstellation verdunkelt: Bergeinsamkeit, so weit das Auge reicht, es hört allein das Ohr noch Menschen sprechen. Den hohen Wald durchdringen Abendstrahlen, die sich im dunklen Grün des Mooses brechen.193

Beide Übersetzungen bzw. Nachdichtungen zeigen überdeutlich, wie unerlässlich der Rekurs auf die Wort-für-Wort-Übersetzung ist, so provisorisch und prosaisch sie zunächst auch anmuten mag, um einen Einblick in die konstrastive Struktur des Gedichtes zu erhalten. Wang Weis Gedicht »Hirschgehege« kann vor allem deshalb als ein sehr zutreffendes Beispiel für eine Dichtung der Fadheit angesehen werden, weil die dargestellte Situation unbestimmt und offen bleibt, obgleich sie genau beschrieben wird: Man kann die Stimmen nur hören, aber niemanden sehen; der Berg ist ›leer‹, während gerade noch das Sonnenlicht reflektiert wird. Die Ferne spielt in diesem Gedicht offenbar eine entscheidende Rolle, denn sie eröffnet einerseits einen Raum, in dem sich der Sinn entfalten kann, andererseits ermöglicht sie eine Art Loslösung des reflektierenden Ichs von den äußeren Bezügen seiner sozialen Umwelt. Die erste und zweite Zeile des Gedichts verdeutlichen eine Balance von Ab- und Anwesenheit, Ruhe und Bewegung. Menschliche Stimmen sind zwar in der Ferne noch vernehmbar, und

192 Poser: Chinesische Gedichte der klassischen Zeit, S. 51. 193 Wang Wei: »Hirschgehege«, in: Der seidene Faden. Gedichte der Tang. Aus dem Chin. von Volker Klöpsch, Frankfurt a. M.: Insel 1991, S. 74.

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man könnte meinen, die Einsamkeit werde so relativiert oder zurückgenommen; gleichwohl bleibt der Berg verlassen, menschenleer. Jullien unterstreicht in seiner Interpretation die vorsichtige Annäherung an das Dargestellte: »Ein Thema wird angedeutet, doch nur verhalten; es wird Abstand genommen, aber dieser bleibt nur relativ: die Einsamkeit ist weder übertrieben emphatisch (was ihren Ausdruck betrifft), noch ist sie (ihrer Absicht nach) asketisch.«194 In dem Zwischenbereich von Ab- und Anwesenheit anderer Menschen ist das Bewusstsein offen für beides: sowohl für die Einsamkeit als auch für die Gesellschaft. Die Wahrnehmung richtet sich in diesem Zwischenraum ein: Das Sehen ist von der Einsamkeit konditioniert, das Hören von der Anwesenheit anderer, und im Zwischenraum leuchtet schließlich das grüne Moos auf: Teilung der Sinne, aber Ungeteiltsein in der Wahrnehmung. Gleichzeitig wird im Gedicht eine vertiefende optische Reflexion in Szene gesetzt: der Widerschein der Abendsonne, das Aufleuchten des Mooses – beides geschieht in der Vertiefung der Einsamkeit und in der Tiefe des Waldes. Einen anderen wichtigen Aspekt spricht Stephan Schuhmacher im Kommentar zu seiner Übersetzung an, in der es am Ende heißt: »Der Abendsonne Widerschein dringt in den tiefen Wald, / Blitzt abermals zurückgeworfen auf dem grünen Moos.«195 Er ist der Meinung, dass mit dem »Widerschein« das von den Wolken am östlichen Himmel zurückgeworfene Licht der Abendsonne gemeint sei, das schräg in den Wald einfalle, wo es vom Moos zurückgeworfen werde. Als eine solche Reflexion werde es im Gedicht dargestellt, während das Subjekt bereits abwesend zu sein scheint, in der Einsamkeit des Waldes gleichsam verloren. Auch in dieser Interpretation kommt dem Widerschein des Lichts und der Ferne eine besondere Funktion zu, denn beide eröffnen einen Raum signifikativer Resonanz – nicht einen klar begrenzten und definierbaren Raum von Bedeutungen, sondern eine offene Dimension. Jullien bringt in diesem Kontext die ›Tragweite des Sinns‹ ins Spiel, was sich als ein wichtiges Kriterium für jede Dichtung der Fadheit erweisen dürfte, und verwendet damit einen Ausdruck, den er den Kommentaren chinesischer Gelehrter entnommen hat, von denen einer urteilt, das dem besagten Gedicht, obgleich es doch fade sei, »ein Höchstmaß an Sinn«196 innewohne. Doch worin mag dieses Höchstmaß an Sinn bestehen? Die Basis der Fadheit ist, wie Yuan Mei (1716–1798) es formuliert, der harmonische Ausgleich: »Das Gedicht soll schlicht (pu) sein, nicht kunstfertig (qiao); aber es muß die 194 Jullien: Über das Fade, S. 127. 195 Wang Wei: »Am Wildgehege«, in: ders.: Jenseits der weißen Wolken. Die Gedichte des Weisen vom Südgebirge. Aus dem Chin. von Stephan Schuhmacher, München: Diederichs 1982, S. 36. 196 Jullien: Über das Fade, S. 126–127.

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Schlichtheit größter Kunstfertigkeit haben. Es soll blaß (dan) sein, nicht dicht (nong); aber es muß die Blässe haben, die aus der Dichte hervorgeht.«197 Dergleichen Bewegungen des Ausgleichs kommen auch in dem Gedicht von Wang Wei zur Geltung: zum einen in der Überblendung von gesellschaftlicher Welt und der Einsamkeit in der Natur, zum anderen in der Reflexion des Lichtes, denn in der letzten Zeile wird das Eindringen in den menschenleeren Wald durch das Zurückwerfen des Lichtstrahls von der grünen Oberfläche des Mooses gewissermaßen wieder ausgeglichen. In diesem Spiel von Reflexionen, Zurücknahmen und Andeutungen, die einander ergänzen, wird der Sinn nicht fixiert, sondern bleibt in der Schwebe und permanent wandelbar. Die Präsenz der Dinge scheint eingedämmt und alles, was im Begriff ist, eine bestimmte Form anzunehmen, wird sofort wieder zurückgenommen, um sich in etwas Anderes zu verwandeln: »Die Sprache der Dichtung ist dem vergleichbar, was sich ereignet, wenn – auf den Blauen Feldern unter wärmender Sonne – die vergrabene Jade zu schwitzen beginnt: wie man sie auch betrachtet, genau ins Auge fassen kann man sie nicht.«198

Das Vermögen der Fadheit Jullien hebt in seiner Abhandlung über die Fadheit vor allem deren Eigenschaft hervor, das rezeptive Vermögen des Subjekts anzuregen, woraus er den Schluss zieht, dass sie sich unendlich weiter zu entfalten vermag, ohne sich einem Zweck zu unterwerfen, und er weist darauf hin, dass ihr eine »unwägbare Qualität«199 zu eigen sei, notwendig flüchtig und vage, die sich vor allem in der harmonisierenden Wirkung zeige. Vor diesem Hintergrund begreift er die Fadheit als eine Kunst des Ausdrucks, durch die jene Harmonie, die nach chinesischer Vorstellung im Unsichtbaren verankert ist, konkret artikuliert werden kann, da sie an der Grenze des Sinnlichen in Erscheinung tritt.200 Das Blasse/Fade markiert den Übergang zwischen zwei Polen: dem einer fassbaren, wenn auch unaufdringlichen Manifestation und dem eines unwiderruflichen Vergehens, in dem sich alles verliert und alles sich ins Ungeteilte zurückzieht. Zwischen diesen Extremen

197 Yuan Mei, zit. n. Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 402 (übers. nach Marion Eggert: Nur wir Dichter – Yuan Mei: Eine Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts zwischen Selbstbehauptung und Konvention, Bochum: Brockmeyer 1989, S. 53). 198 Sikong Tu, zit. n. Jullien: Über das Fade, S. 130. Eine alternative Übersetzung bietet KarlHeinz Pohl (Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 188), wo vom »rauchige[n] [Glanz]« die Rede ist, der an einem warmen Tag der Jade »zu entströmen [scheint]«. 199 Jullien: Über das Fade, S. 103. 200 Vgl. ebd.

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wirkt das Blasse/Fade harmonisierend und fördert den Wechselausgleich, ohne sich selbst aufzulösen: Gefangen zwischen den Gefahren, auf zuviel zu verweisen und überhaupt nicht mehr als Zeichen zu existieren, ist das fade Zeichen kaum Zeichen: nicht vollständige Abwesenheit jedes Zeichens, sondern ein Zeichen, das dabei ist, sich von sich selbst zu entleeren und das zu verschwinden beginnt. Ein Anzeichen unsichtbarer Harmonie verstreuter Spuren.201

Die auf einer solchen Zeichenentleerung beruhende Dichtung der Fadheit ist für Jullien der sinnliche Ausdruck der ›Harmonie‹-›Loslösung‹-›Neutralität‹ (chong dan):202 Sie kennt keine ›vollen‹ signifikativen Zeichen, sondern nur Zeichengebärden, die sich wie Spuren in einer Landschaft zerstreuen. Das vorsichtige, unaufdringliche »Ausströmen des Sinns« begreift Jullien mit dem chinesischen Gelehrten Sikong Tu schließlich als eine »Darstellung jenseits der Darstellung«, als »Landschaft jenseits der Landschaft«.203 Die Fadheit einer gemalten Landschaft entspricht für Jullien mehr als nur einem »künstlerische[n] Effekt«: Sie ist für ihn »Ausdruck der Weisheit«, die das »fade Leben« für Gelehrte, die sich aus bestimmten Gründen aus dem politischen Leben zurückgezogen haben, zu einem Ideal werden lässt.204 Als ein Beispiel führt er wieder den Maler Ni Zan an, der nicht nur die Fadheit zum durchgängigen Thema seiner Malerei gemacht hatte, sondern auch in seinem eigenem Leben das Ideal der Fadheit anstrebte: Er trennte sich von allem Besitz, was zweifellos mit den politischen Veränderungen dieser Zeit zu tun hatte, unternahm ausgedehnte Reisen, gab seine Beamtenstellung auf und lebte zurückgezogen auf einem Hausboot und schließlich bei Mönchen. Diese Loslösung stellt in Julliens Augen den hartnäckigen Versuch dar, Eingang in eine von allen Widrigkeiten und Bedrängnissen entbundene Welt zu finden, in der man offen bleibt für jede unverhoffte Begegnung und jeglichen Genuss.205 Auf diese Weise vermittle die 201 Ebd., S. 107. 202 Als Schriftzeichen 沖淡, wörtlich: ›abmildern, abschwächen, verdünnen‹. 203 »Xiang wai zhi xiang« und »jing wai zhi jing«, siehe Sikong Tu: »Brief über die Dichtung an Herrn Ji Fu«; zit. n. Jullien: Über das Fade, S. 130. Schmidt-Glintzer erwähnt beide Redewendungen und übersetzt sie als »Bild jenseits des Bildes« und »Szenerie jenseits der Szenerie« (Geschichte der chinesischen Literatur, S. 322). Vgl. auch Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 188, wo die drei ›Jenseits-Formeln‹ von Sikong Tu zusammengefasst werden: Der Ausgangspunkt ist Dichtung als Geschmack »jenseits von salzig und sauer« (xian suan zhi wai); dann ist die Rede von einer Dichtung »jenseits des Reimes« (yu wai zhi zhi) und schließlich von der »Wirkung jenseits des Geschmacks« (wei wai zhi zhi). Die »Bilder jenseits der Bilder« sind dann das der Dichtung entsprechende Gegenstück in der Malerei. Zur »Bedeutung jenseits der Worte« bei Ouyang Xiu (1007–1072) vgl. Klöpsch: Die Jadesplitter der Dichter, S. 155ff. 204 Jullien: Über das Fade, S. 30. 205 Vgl. ebd.

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Fadheit eine unerschöpfliche Fülle, die jedoch unbestimmt und gewissermaßen virtuell bleibe. Weil sie aber stets mit einer sinnlichen Erfahrung verknüpft werde, sei sie gleichzeitig konkret.206 Die Fadheit führt gleichsam an die Grenze des Sinnlichen, wo das Sinnliche sich verflüchtigt und ein Jenseits spürbar wird. Dennoch weist sie nicht in eine metaphysische Welt hinüber, die von der Sinnlichkeit abgeschnitten wäre.207 Loslösung (chong dan) und Nachklang (yi wei) sind zwei Aspekte, die sich in China auch auf das Verständnis von Werk und Epoche ausgewirkt haben, insbesondere, was die Dichtkunst der Tang- und Song-Zeit betrifft. Während die Tang-Zeit mit ihren Dichtern Du Fu (712–770) und Li Bai (701–762) gewöhnlich als Glanzzeit angesehen wird, gilt die Zeit der Song als Nachklang, als ein poetischer Herbst, der die Farbe der langsam vergilbenden Blätter assoziiert. Doch anders als im westlichen Kulturkreis wird der Nachklang des Herbstes in China auf eine ganz besondere Weise gewürdigt. Das lässt sich nicht nur im Hinblick auf die nachfolgenden Epochen feststellen, sondern trifft auch auf die individuelle Entwicklung einzelner Dichter zu: »Jede Literatur ist anfangs glänzend und blühend, um darauf flach und fade zu werden.«208 Mit Blick auf den Dichter Du Fu hat der Song-Gelehrte Wu Ke bemerkt, dass dieser große Tang-Dichter in seiner Jugend »glänzend und erblühend«, in seinem Alter jedoch »flach und fade« (ping dan) gewesen sei,209 was keineswegs negativ gemeint ist. Als Nachklang (yiwei) bestimmt sich die Fadheit im Verhältnis zu einer ihr vorangegangenen Fülle: »Erst üppig schön, dann ebenmäßig mild.«210 Wei Qingzhi erklärt in seinen Jadesplittern der Dichter (shiren yuxie), verfasst um 1240: »Wer das Ebenmäßige und Milde schaffen will, sollte von einer üppigen Schönheit her kommen; er sollte auf alle überladene Pracht verzichten, erst dann kann er eine Welt des Ebenmäßig-Milden erstehen lassen.«211 Ein passendes Beispiel dafür sind die Bemerkungen des Poeten Ouyang Xiu (1007–1072) über seinen Dichterfreund Mei Yaochen (1006–1060), der bereits eine Vorliebe für ›poetische Fadheit‹ oder ›Blässe‹ entwickelt hatte. Ouyang Xiu schreibt in seinen Gesprächen über die Dichtung (liuyi shihua) 212 über ihn, dass er in seinen Gedichten »voller 206 207 208 209 210 211

Vgl. ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 11. Wu Ke (Anfang 12. Jh.), zit. n. Jullien: Über das Fade, S. 111. Ebd., S. 110–111. Klöpsch: Die Jadesplitter der Dichter, S. 192. Ebd. Klöpsch übersetzt pingdan als das »Ebenmäßig-Milde« und kommentiert: »Der Terminus pingdan ist von verschiedenen Literaturwissenschaftlern ausgiebig diskutiert worden. Er berührt sich mit der Qualität der Natürlichkeit, ohne sich doch mit ihr zu decken, da ein ›ebenmäßig und mildes‹ Gesicht bewußt auf die Vielfalt und Üppigkeit verzichtet, die sich der Natur bietet. ›Ebenmaß und Milde‹ sind eine bewußte Zügelung der dichterischen Sprache, eine Zurücknahme alles Übermaßes.« (Ebd., S. 191–192.) 212 Die sogen. shihua, ›Gespräche über Dichtung‹, die zum Teil beiläufig entstandene Aussagen

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Gedanken und sehr subtil« sei: »Seine Ideen sind tief und weitreichend (shen yuan), ungezwungen und blaß (xian dan).«213 Weiter heißt es dann: Was Mei Yaochen behandelt, ist rein und durchsichtig, Steinstücke, umspült vom kalten Wasser des Baches. Dreißig Jahre lang schrieb er Gedichte und läßt mich wie seinen Schüler aussehen. Selbst mit dem zunehmenden Altern seines Denkens werden doch seine Worte immer noch reiner und neuer [subtiler und frischer], gerade wie einem bezaubernden Mädchen auch noch im Alter etwas von ihrem Reize [Charme] bleibt. Die neueren Gedichte sind besonders bitter und herb [trocken und hart], beim Zergehen im Munde läßt sich diese Bitterkeit kaum auskosten, wie auch beim Genuß von Oliven der wahre Geschmack mit der Zeit zunimmt.214

Der Vergleich mit einer Frau ist, wenn es um die Kennzeichnung der Unterschiede zwischen Tang- und Song-Dichtung geht, ein gängiger Topos: »Der Geist der neuen Zeit findet sich nicht mehr auf dem Pferderücken, sondern im Frauengemach, nicht mehr in der äußeren Welt, sondern in inneren Stimmungen.«215 Der Rückzug wird zur zentralen Thematik in der Dichtung: »Anstelle von Persönlichkeiten oder Charakteren, vor allem anstelle menschlicher Aktivitäten und Unternehmungen, fanden Stimmungen und seelische Regungen des Menschen Eingang in die Kunst.«216 In dem Gedicht »Herbststimmung« von Du Fu, das vermutlich im Jahr 766 entstand, wird der Rückzug mit dem hereinbrechenden Winters assoziiert. Im Eingangsbild lässt der »jadebleiche Tau«217 den Ahornwald verdorren, und ein kalter Wind durchweht die Bergschlucht. In der vierten Strophe vernimmt das lyrische Ich dann das von den Bergen zu ihm dringende Wäscheschlagen, das zur Vorbereitung der Kleidung für den Winter gehört.218 In diesem Kontext zu sehen

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über Gedichte (shi) umfassten, bildeten in der Song-Zeit eine eigene Gattung. Es wäre aber, wie Klöpsch betont, falsch, diesen Ausdruck als »Poetik« zu übersetzen, denn es handelt sich nicht um Lehr- und Regelwerke, vgl. Klöpsch: Die Jadesplitter der Dichter, S. 8. Zit. n. Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 222. Zit. n. Klöpsch: Die Jadesplitter der Dichter, S. 223; vgl. auch Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 222, wo es heißt: »Es ist, wie wenn man Oliven äße – / Der wahre Geschmack stellt sich erst später ein.« Li Zehou: Weg des Schönen. Wesen und Geschichte der chinesischen Kunst und Ästhetik, Feiburg: Herder 1992, S. 286; vgl. auch Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 219. Weiter heißt es: »Anstelle von Tatendrang und Eroberung der Welt werden Flucht und Rückzug aus ihr zur zentralen Thematik in Kunst und Ästhetik.« Ebd. Vgl. die Übersetzung von Günther Debon: Chinesische Dichter der Tang-Zeit, Stuttgart: Reclam 1964, S. 35. Vgl. dazu Stephen Owen: An Anthology of Chinese Literature. Beginnings to 1911, New

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Grundzüge der Resonanzästhetik

sind aber auch die Motive der Härte und Herbheit bis hin zum Paradox der »beißenden Fadheit«,219 das im Bild der Olive mitschwingt: Man muss sie erst lange kauen, bis der wahre Geschmack zur Geltung kommt.220 Diesem Gedanken steht die Vorstellung vom Wasser gegenüber, das einen neutralen und klaren Geschmack hat: Es ist rein und durchsichtig und kann sich verflüchtigen, weshalb es wohl am ehesten dem atmosphärischen Charakter der Fadheit entspricht, während in der Olive die Anstrengung zum Ausdruck kommt, dass man die bittere und herbe Frucht zerkauen muss, damit sich der eigentliche Geschmack entfalten kann. Einen weiteren Einflussbereich der Fadheit sieht Jullien in der ethischen Haltung des Dichters bzw. Gelehrten. In diesem Zusammenhang bemerkt er, dass die Fadheit zu einer ›inneren Loslösung‹ auffordere und damit zu einer Tugend werden könne.221 Sie gehört zum Wesen eines Weisen, dessen Gelassenheit es ermöglicht, gegensätzliche Eigenschaften in sich aufzunehmen, ohne dass eine von ihnen die andere ausschließen müsste. Die Fadheit allein, so Jullien, erlaube die »vollkommene Vielseitigkeit des Charakters, die dem Einzelnen gestatt[e], allen Aspekten der Situation zugleich zu entsprechen und sich ohne anzuecken in ihre Entwicklung einzufügen«.222 Als Beleg zitiert er einen Kommentar zu Liu Shaos Abhandlung über die menschlichen Fähigkeiten, der besonders die Rolle des Faden in Hinblick auf die Kultivierung des Selbst hervorhebt: »Wenn der Charakter eines Menschen flach und fade ist und keine einzelne Neigung begünstigt, dann wird dieser Mensch seine Fähigkeiten kontrollieren und sie am besten ausnützen können: er paßt sich allen Veränderungen an, ohne jemals auf ein Hindernis zu stoßen.«223

Der diskursive Status der Fadheit Die Fadheit wird – bis auf wenige Ausnahmen – nicht wie ästhetische Konzepte im Abendland theoretisiert, sondern vielmehr evoziert, also durch ihre Wirkungen spürbar gemacht. Von daher sind Umschreibungen wie das ›Bild jenseits des Bildes‹ (xiang wai zhi xiang) oder die ›Landschaft jenseits der Landschaft‹

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York/London: Norton 1996, S. 433–434; für eine deutsche Nachdichtung dieses Gedichts siehe Debon (Üb.): Chinesische Dichter der Tang-Zeit, S. 35. Vgl. François Julliens Ausführungen zu der Passage von Ouyang Xiu über Mei Yaochen, in: Jullien: Über das Fade, S. 116. Einen ähnlichen Vergleich gibt es in Japan am Beispiel der süßen und der bitteren Kakifrucht. Vgl. Shu¯zu¯o Kuki: Die Struktur von »Iki«. Eine Einführung in die japanische Ästhetik und Phänomenologie, Egelsbach: Hänsel-Hohenhausen 1999, S. 25. Vgl. Jullien: Über das Fade, S. 116–120. Ebd., S. 57. Zit. n. Jullien: Über das Fade, S. 57.

Ästhetische Resonanz. Gedämpfter Nachklang und fader Geschmack

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( jing wai zhi jing) keineswegs so abwegig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, denn sie verweisen geradezu auf den Resonanzcharakter der Fadheit. Der bildhafte Vergleich der Dichtung mit der in der Erde »schwitzenden« oder im Sonnenlicht »wie Rauch ausströmenden Jade« und der Bezug auf eine »Bildlichkeit jenseits des Bildes« lenken unsere Aufmerksamkeit auf die Frage nach dem Status der Fadheit als Resonanzphänomen. Mit Sicherheit ist die Fadheit keine Erscheinung, die ausschließlich an ein bestimmtes Schriftzeichen gebunden wäre, was bedeutet, dass 淡 lediglich eine mögliche Realisierung dieses Resonanzphänomens darstellt. Einem Leser oder Betrachter aus dem westlichen Kulturkreis ist die Fadheit vor allem dadurch wahrnehmbar geworden, dass sie seit langer Zeit in Ostasien eine ästhetische Qualität darstellt und als solche in einem sehr zurückhaltend geführten Diskurs thematisiert wurde (so bei Sikong Tu), dann aber auch, weil man diese Qualität durch poetische Verfahren und Maltechniken anstrebte, wofür gewisse Kriterien erstellt wurden, und schließlich, weil das dan zu einer konkreten philosophischen Begrifflichkeit gehört und damit eine bestimmte Position in einer terminologischen Konstruktion einnimmt (in der daoistischen Philosophie bei Laozi und Zhuangzi). Als Resonanzphänomen jedoch lässt sich die Fadheit ebenso wenig mit einem Wort erfassen, wie sie sich auch nicht mit einem Schriftzeichen ausdrücken lässt. Wie aber könnte man ein solches Resonanzphänomen in ein ästhetisches System integrieren, ohne dass es dadurch den ihm immanenten Charakter einbüßen würde? In der vorliegenden Studie wurde zuerst das Erscheinungsfeld der Fadheit spezifiziert, und zwar in Hinblick auf die Bedingungen und das Feld des Erscheinens von poetischen oder figuralen Präsentationen, wie sie im alten China im Sinne der ästhetischen Qualität des Blassen/Faden aufgefasst worden sind. Im Anschluss daran sind dann die wesentlichen Züge jener Figurationen des Blassen/Faden herausgearbeitet worden, die sich in der besonderen ästhetischen Modalität der Resonanz zusammenfassen lassen. In der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Fadheit haben sich vor allem Julliens Überlegungen als hilfreich erwiesen, doch provozieren sie andererseits erhebliche Vorbehalte, insbesondere, was die von ihm benutzten Dichotomien angeht, und auch in Hinblick auf sein philosophisches Gesamtprojekt müssen Bedenken angemeldet werden. Erklärtes Ziel seines strategischen Umweges war ja, »die verborgenen Vorentscheidungen der europäischen Vernunft [in diesem Fall der ästhetischen Wahrnehmung; A.K.] neu zu befragen und bis zu unserem Nicht-Gedachten zurückzugehen«.224 Doch kommt es bei ihm im Zuge der Rückkehr nicht zu einer kritischen Reflexion der Bedingungen und Grenzen des westlichen Denkens oder der ästhetischen Wahrnehmung; stattdessen sucht er 224 Jullien: Der Umweg über China, S. 171.

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Grundzüge der Resonanzästhetik

im chinesischen Denken nach Alternativen, die er dem westlichen Denken entgegensetzt. Im Unspezifischen der Fadheit, sozusagen in ihrer Neutralität, sieht er die Möglichkeit, eine Wandlungsfähigkeit zu bewahren, eine innere Loslösung zu bewirken und zu einem umfassenderen, genauer gesagt, zu einem »endlose[n] Genuß«225 zu gelangen. In diesem Gedanken eines offenen und unbegrenzten Genusses kulminieren Julliens Überlegungen zur Fadheit und bieten Anlass dazu, eine der ›großen‹ Gegenüberstellungen vorzunehmen, wie man sie bei ihm häufig finden kann:226 Während über viele Jahrhunderte hinweg im Abendland das Sinnliche objektiviert und sublimiert worden sei und Anlass zu Klassifizierungen gegeben habe, sei der Genuss in China immer offen und unbestimmt geblieben. Im Abendland würden Empfindungen isoliert und spezifiziert, um sie wahrnehmbar zu machen; in China hingegen seien sie diskret, weshalb man dort für das, was sich im Nachklang zeige, empfänglich bleibe. Doch sind solche, zumal sehr allgemeinen Gegenüberstellungen immer der Gefahr eines philosophischen Ethnozentrismus’ ausgesetzt. Jullien glaubt, in der chinesischen Art und Weise des Genusses etwas erkennen zu können, woran es der westlichen Sinneswahrnehmung mangele bzw. was weiter führen würde als sie, nämlich zu einer tieferen Einsicht in das, was Jullien den »Immanenzfond«227 nennt, und zu einem »endlosen Genuss«. Der unendlich offene Geschmacksgenuss, den Jullien beschwört, ist nichts anderes als das Versprechen eines Übersinnlich-Absoluten innerhalb des Diskurses über die konkret sinnliche Erfahrung. Wenn es am Ende der Abhandlung über die Fadheit heißt, dass sie einen harmonisierenden Ausgleich biete und »das Bewußtsein zur Wurzel des Realen führ[e], in die Mitte, aus der der Lauf der Dinge hervorgeht«, und dass sie so »zum Weg einer Vertiefung« werde, dann werden die Züge einer hartnäckigen Metaphysik offenbar, von der sich auch Jullien nicht zu lösen vermag. »Die Fadheit«, so beschließt er seine Eloge, »ist die

225 Jullien: Über das Fade, S. 12; vgl. auch seine Studie La valeur allusive (Paris: Quadrige/ PUF 1985), in der er dem Thema ein ganzes Kapitel widmet (»Le plaisir du texte: L’expérience de la saveur littéraire«, S. 123–160). Problematisch ist, dass Jullien den Begriff saveur (Genuss) aus Roland Barthes’ poststrukturalistischer Texttheorie mit dem chinesischen Geschmack (wei) gleichsetzt, ohne auf die Voraussetzungen dieser Gleichsetzung einzugehen, und damit nichts anderes tut, als ein westliches Konzept in das chinesische Denken hineinzutragen. Aus dem operationalen Begriff des Genusses wird im Laufe seiner Betrachtungen ein ontologisierender Begriff, dem kulturelle Eigenheiten zugeschrieben werden. 226 Jullien: Der Umweg über China, S. 47, wo er von der »Gegenüberstellung des Allusiven in China und des griechischen Diskurses, […] von Schrägheit und Frontalität« spricht; vgl. auch François Jullien: Der Weise hängt an keiner Idee. Das Andere der Philosophie, München: Fink 2001, S. 111–112, wo westliche Philosophie und östliche Weisheit einander gegenübergestellt werden. 227 Jullien: Umweg über China, S. 53 und 66f.

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Erfahrung einer ›Transzendenz‹, die mit der Natur in Einklang steht – die vom Glauben entbunden ist.«228 Eine derart übersteigerte Metaphysik des Einklangs und der Tiefe ließe sich vermeiden, wenn man die Fadheit nicht anthropologisch rechtfertigen, sondern sie als ein Resonanzphänomen begreifen würde, das etwas für uns Nichtdiskursiviertes indiziert. Die Fadheit würde dann nicht mehr die Subjektivität für den Gemeinsinn allen Daseins und für die gegenseitige Abhängigkeit der Realitäten öffnen, sondern den Blick auf das Unsubjektivierbare im Subjekt richten. Man würde nicht danach fragen, welche neue, tiefere Art von Subjektivität entstehen könnte, sondern danach, welche Konsequenzen es für das abendländische Subjektdenken hätte, wenn man das Subjekt durch Resonanzeffekte hindurch wahrnimmt. Worauf es vorrangig ankommt, ist, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie man heute dieses besondere Phänomen der Resonanz in unseren ästhetischen Diskurs einbeziehen kann. Dazu müsste man sich zunächst auf die Resonanzwirkung konzentrieren und die Modi der Anregung untersuchen, die bei einer resonanzhaften Dichtung festzustellen sind. Außerdem müssten die Signifikationsprozesse und Sinnstrategien genauer beleuchtet werden, weshalb wir uns im folgenden Kapitel noch einmal der alten chinesischen Dichtung und den Kommentaren über sie zuwenden, in denen der Modus der Anregung vielfach erörtert worden ist.

5.

Poetische Resonanz. Der Modus der Anregung »Im Gedicht und in der Prosa bedarf es eines verhaltenen Andeutens (han-xu), das nicht durchsichtig wirkt, dann handelt es sich um ein gelungenes Stück. Wenn die alten Meister vom Mächtig-Tiefen (xiong-shen) und VornehmKraftvollen (ya-jian) sprechen, so meinen sie damit eben dieses verhaltene Andeuten und das Vermeiden von Durchsichtigkeit.« (aus: Die Jadesplitter der Dichter) 229

228 Jullien: Über das Fade, S. 180. Während Jullien unablässig betont, dass das chinesische Denken nicht metaphysisch sei und keine Ontologie entwickelt habe, ontologisiert er, ganz im Gegensatz zu seiner Intention, dieses vorgeblich nicht-ontologische Denken und zwängt es in eine Dialektik von Transzendenz-Immanenz, Sein-Werden, direkt-indirekt; siehe als Beleg Jullien: Der Umweg über China, S. 55 und 108. 229 Klöpsch: Die Jadesplitter der Dichter, S. 172.

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Die drei Mittel des dichterischen Ausdrucks Nach der Betrachtung der ästhetischen Subtilität in der chinesischen Dichtung der Tang- und Song-Zeit befasst sich das nun folgende Kapitel mit einer besonderen Modalität des dichterischen Ausdrucks, die in China als xing bezeichnet wird und die man im weitesten Sinne als ›Anregung‹ verstehen kann. Die Bedeutung von xing bewegt sich entlang der Begriffe ›Allegorie‹, ›Anspielung‹, ›Andeutung‹, ›Allusion‹. James Legge übersetzt xing als »allusive piece«230 und Stephen Owen als »affective image«231; Günther Debon hingegen zieht den Begriff ›Anspielung‹ vor.232 Wenn im weiteren Verlauf dieser Betrachtungen die letztgenannte Übersetzung favorisiert wird, dann deshalb, weil sie sich nicht allein auf das textuelle Spiel der Zeichen reduzieren lässt und offen bleibt für die Effekte der Resonanz, während die bisher üblichen Übersetzungen wie ›Andeutung‹ oder ›Allusion‹ das signifikative Moment zu sehr in den Mittelpunkt rücken. In den Jadesplittern der Dichter, einer Sammlung verschiedenster Überlegungen zur Poetik, die etwa in der Mitte des 13. Jahrhunderts zusammengestellt wurde, heißt es in der deutschen Übersetzung: »Von alters her kam, wer sich auf die Kunst des Dichtens verstand, nicht ohne Allegorie aus. Die Betrachtung der Dinge erweckt im Dichter Gefühle, die sich dann als allegorisch verkleidete Aussage im Gedicht wiederfinden.«233 Auch hinter dem hier als ›Allegorie‹ übersetzten Begriff verbirgt sich nichts anderes als jenes xing, allerdings ist in diesem Falle die sprachliche Übertragung als ›Allegorie‹ äußerst problematisch. Zwar handelt es sich um eine Verkleidung der Aussage, denn der Sinn wird auch hier in gewisser Weise umgelenkt, doch verweist dieser indirekte Sinn nicht, wie in der abendländisch-griechischen Tradition, auf eine andere Ebene, sondern entfaltet sich, wie Jullien meint, »gänzlich vom kontextuellen und historischem Bezug ausgehend, der jedem der Gedichte zugeschrieben wird«.234 Deshalb sei, so Julliens Schlussfolgerung, eine Übersetzung des Ausdrucks xing mit dem Wort ›Allegorie‹ inadäquat. 230 Vgl. die Übersetzung des »Großen Vorworts« in den Prolegomena bei James Legge: The Chinese Classics, Bd. 4: The Sche-King, Shanghai: Oxford Univ. Press 1935, S. 35. 231 Stephen Owen: Readings in Chinese Literary Thought, Cambridge, Mass./London: Harvard Univ. Press 1992, S. 45. 232 Vgl. Günther Debon: »Lemma ›Anspielung‹«, in: ders.: Chinesische Dichtung. Geschichte, Struktur, Theorie, S. 26–27. 233 Klöpsch: Die Jadesplitter der Dichter, S. 60. In dieser von Klöpsch übersetzten Passage der »Jadesplitter«, als deren Kompilator der sonst unbekannte Autor Wei Qingzhi gilt (das Vorwort von Huang Sheng ist auf das Jahr 1244 datiert), geht es um den dichterischen Wert des Begriffs xing und um die Spannweite zwischen der verhaltenen Anspielung und der direkten Kritik sowie um die Abgrenzung der beiden voneinander. 234 François Jullien: Umweg und Zugang. Strategien des Sinns in China und Griechenland, Wien: Passagen 2000, S. 59; siehe auch die Anmerkungen von Klöpsch, der die westliche von der chinesischen Allegorie getrennt wissen will; Klöpsch: Die Jadesplitter der Dichter, S. 62.

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Die Verwendung des Begriffs xing geht zurück auf das »Große Vorwort« vom Shijing,235 in dem drei Mittel des dichterischen Ausdrucks genannt werden, von denen man sagen könnte, dass es sich um die drei maßgeblichen Stilmittel der frühen chinesischen Dichtung handelt: die ›explizite Beschreibung‹ (fu), der ›Vergleich‹ (bi) und die ›Anspielung‹ (xing).236 Während sich die ›Beschreibung‹ einer eindeutigen Sprache bedient, haben die anderen beiden Stilmittel des Vergleichs und der Anspielung etwas mit ›bildlicher, metaphorischer Andeutung‹ zu tun. »Die Gedanken reichen hinaus über die Worte«, heißt es darüber bei Zhong Hong.237 Debon zitiert eine Passage aus dem gleichen Werk, die den ausschlaggebenden Unterschied genau definiert: »Wenn die Worte zu Ende sind, aber der Gedanke fortschwingt, so ist das hsing [xing]. Wenn man Dinge und Wesen auf einen Gedanken überträgt, so ist das pi [bi].«238 Im Wenxin diaolong, dt. Das Buch vom prächtigen Stil des Drachenschnitzens, von Liu Xie wird eine weitere wichtige Abgrenzung formuliert, der zufolge bi ein »offensichtlicher/ klarer« (xian), xing dagegen ein »dunkler« (yin) Vergleich sei.239 Die Funktion von bi bestehe darin, »die Dinge in ihrer Bedeutung so [miteinander] zu vergleichen, daß der Ausdruck noch klarer und treffender [werde].«240 Der Kommentar bietet hierzu eine Reihe von Beispielen aus dem Shijing, von denen an dieser Stelle nur einige wenige herausgegriffen und erläutert werden sollen. Um zum Beispiel die Tugend darzustellen, vergleicht man sie mit Gold und Zinn: Welch edlen Fürsten haben wir! Wie Gold, wie Zinn im Feu’r geklärt.241

Eine solche Metapher ist leicht verständlich im Vergleich zu denen, die ein mythologisches Wissen voraussetzen, wie etwa die folgende Strophe aus dem Shijing: 235 Man unterscheidet in der Editionsgeschichte das »Große Vorwort« (Shi daxu), das Wei Hong (1. Jh. n. Chr.) zugeschrieben wird, vom »Kleinen Vorwort« zu einzelnen Gedichten. Das »Große Vorwort« gilt als der älteste überlieferte poetologische Text in China. Legge gibt in den Prolegomena seiner Übersetzung des Shijing eine englische Fassung beider Vorworte einschließlich zusätzlicher Erklärungen (vgl. Legge: The Sche-King, S. 34–81; zur besagten Unterscheidung S. 34). Alternativ kann auch die Übersetzung von Stephen Owen (Readings in Chinese literary thought, S. 37–56) zu Rate gezogen werden. 236 Legge übersetzt dies mit »descriptive pieces«, »metaphorical pieces« und »allusive pieces«, ebd., S. 34. In der Übersetzung von Li Zehou (Der Weg des Schönen, S. 99) werden die drei Stilmittel wiedergegeben als »Schilderung«, »Vergleich« und »Anspielung«. Karl-Heinz Pohl (Geschichte der chinesischen Literatur. Bd. 5, S. 28) übersetzt xing als »Andeutung«. 237 Zhong Hong: Shipin, zit. n. Klöpsch: Die Jadesplitter der Dichter, S. 62. 238 Zit. n. Debon: Chinesische Dichtung, S. 27. 239 Vgl. Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 28. 240 Li: Traditionelle chinesische Literaturtheorie, S. 58 (Wenxin Diaolong, Kapitel 36). 241 Nach der deutschen Übersetzung von Victor von Strauss: Schi-King das kanonische Liederbuch der Chinesen, Heidelberg: Winter 1880, S. 129 (»Loblied auf den Fürsten Wu von Wei«, Kapitel I, 5, 1); im Folgenden als Schi-King zitiert.

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Im Felde steht die Hülsenfrucht, Und alles Volk das pflücket sie. Hat eine Maulbeerfliege Brut, Die Hummel die entrücket sie. Belehrt, erzieht die Kinder wol, Und gleiche Tugend schmücket sie.242

Die deutsche Übersetzung von Victor von Strauss gibt dazu den Kommentar: »Nach dem Volksglauben rauben die Hummeln junge Maulbeerfliegen und erziehen sie zu Hummeln«243, wodurch im Volk die Vorstellung entstand, dass sich dadurch die Maulbeerfliege in die höhere Existenz einer Hummel verwandle. Der Vergleich setzt also schon ein bestimmtes Hintergrundwissen über die Mythologie und den Volksglauben voraus; die beiden Komponenten – Pohl verwendet in seiner Erklärung die Begriffe ›Vehikel‹ und ›Tenor‹ von I. A. Richards – sind dabei auf den ersten Blick einsichtig (im ersten Beispiel wäre der edle Fürst der ›Tenor‹, und das Metall wäre das ›Vehikel‹). Um im Gegensatz dazu den ›dunklen Vergleich‹ (xing) zu verdeutlichen, zitiert Pohl den Anfang des ersten Lieds »Guan ju« aus dem Shijing: Ein Entenpaar ruft Wechsellaut, Auf Stromes Insel hat’s gebaut. Still, sittsam ist die reine Maid, Des hohen Fürsten würd’ge Braut.244

Im »Mao Kommentar« (Mao zhuan) 245 wird der Gedichtanfang als ein Beispiel für xing genannt, wobei jedoch, wie Pohl erläutert, »das Verhältnis zwischen Naturbild (Vehikel) und Menschenwelt (Tenor) nicht explizit oder eindeutig, sondern indirekt und dunkel (obskur)« sei. Von den chinesischen Schriftgelehrten werde oft eine »metaphorische Bedeutung hineingelegt, die dann autoritativ«246 erscheine. Im Buch vom prächtigen Stil des Drachenschnitzens heißt es dazu, dass der Ruf eines Entenpaares als Symbol für die Treue und Festigkeit einer Liebe aufgefasst wurde: Wenn man genau beobachtet, wie ein Gedanke durch das Stilmittel ›xing‹ eingeleitet wird, so kann man bemerken, daß es sich hier um eine geschlossene Konstruktion mit taktvoller Formulierung der sprachlichen Ausdrücke handelt. Der Gegenstand, der 242 243 244 245

Ebd., S. 321 (»Klagen und Mahnungen in bösen Zeiten«, Kapitel II, 5,3). Ebd. Fußnote 3. Schi-King, S. 65. Das Gedicht trägt die Überschrift »Zur Vermählung des Königs Wên«. Es handelt sich um einen sehr frühen Kommentar aus der Zeit der Streitenden Reiche von Mao Heng (auch Mao Gong genannt), der während der Regentschaft der Westlichen Han im Reich Lu lebte. Er wird oft zusammen mit Mao Chang erwähnt (auch als ›junger Meister Mao‹ bekannt), der im Reich Zhao tätig war. Der Kommentar Mao zhuan gehört zu den wichtigsten Auslegungen des Shijing. 246 Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 29.

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[zum Zweck des Vergleichs] erwähnt wird, ist zwar [im Wert] klein, aber der Sinn des einzuleitenden Gedankens wird [dadurch] tiefer. Auch die Enten sind nach Geschlecht unterschieden, und das Entenpaar, das ›Wechsellaut ruft‹, wurde [wegen der Zuneigung zueinander] von den Kaiserinnen als Symbol der Tugend betrachtet. […] Das, was gesagt ist, ist klar, aber was damit gemeint ist, kann erst durch eine Anmerkung deutlich gemacht werden.247

Kommentare wie dieser sind offenbar aus einem Erklärungsbedarf heraus entstanden, denn als obskures Bild und indirekte Metapher erschließt sich das xing nicht sofort und manchmal überhaupt nicht. Es musste deshalb ein zweiter Diskurs geschaffen werden, der die dunklen Stellen im Text erklärt. Daraus hat sich, beginnend mit dem »Großen Vorwort« und, ihm folgend, mit dem »Kleinen Vorwort« ein Kommentar entwickelt, der die Strategie des Indirekten, die im xing virulent ist, zum Thema hatte. Es ist bemerkenswert, dass sich im alten China bereits eine solche Art von Literaturtheorie herausgebildet hat, die allerdings andere diskursive Strategien verfolgte und mit anderen Kriterien operierte als die westliche. Die wichtigste Funktion der frühen Kommentare zum Shijing bestand darin, die vielen Andeutungen und Anspielungen in den Gedichten aufzugreifen und zu explizieren. Interessant wird es vor allem dort, wo die Subtilität des Sinns eine Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen oder am Herrscher erlaubt. Als eben eine solche Kritik versteht Jullien die Seufzer »Ah« in der folgenden Strophe: Ah! Wie vollkommen! Ah! Wie berühmt! Ah! Wie angenehm zu schauen! 248

In der Übersetzung von Strauss heißt es: Welche edlen Fürsten haben wir! Wie ausgehaun, wie ciselirt, Wie abgefeilet, wie polirt. So würdig, so erhaben, ah, So glänzend, so voll Gaben, ah! Welch edlen Fürsten haben wir! Wie kann Vergessen ihn begraben, ah! 249

Auf den ersten Blick handelt es sich um die Eloge auf einen weisen Herrscher, doch bringt dieses »Ah« Julliens Ansicht nach eine Dissonanz ins Spiel, die leicht übersehen werden kann. Schon die Kommentatoren des »Kleinen Vorworts« waren seiner Auffassung nach »übereinstimmend der Meinung, daß dieser 247 Li: Traditionelle chinesische Literaturtheorie, S. 57–58 (Wenxin Diaolong, Kapitel 36); Text in eckigen Klammern vom Herausgeber und Übersetzer. 248 Zit. n. Jullien: Umweg und Zugang, S. 61. 249 Schi-King, S. 128 (»Loblied auf den Fürsten Wu von Wei«, Kapitel I, 5, 1).

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Ausruf allein genügt[e], die Hommage zu unterminieren, diese ganze Zurschaustellung von Qualitäten suspekt werden zu lassen«.250 Das zweite Beispiel bezieht sich auf ein Gedicht, das Kritik an einer vorschnell geschlossenen Ehe übt.251 Während die erste, dritte und vierte Strophe die gesellschaftlichen Normen schildern, heißt es in der zweiten Strophe: Nun woget die Furth von Überschwall, Und es ruft der Fasanin lockender Schall. Die Höhe der Furth spült nicht nur die Achsen an, Und der Ruf der Fasanin suchet ihren Fasan.252

Diese Zeilen bringen einen Widersinn zur Sprache, der laut Jullien die Stabilität des Textes zerbricht und Zweifel aufkommen lässt: »Er genügt, um all die Unordnung anzudeuten, die die offensichtliche Ordnung der Dinge nicht zu verdecken vermag.«253 Das dritte Beispiel ist, da es sich um eine verhüllte Kritik handelt, etwas komplizierter. Das Gedicht »Empfang der Fürstin Zhuang-jiang«254 aus dem Shijing preist die neue Herrscherin, ihre vornehme Herkunft, ihre Schönheit und ihr Benehmen. Die Kommentatoren merken jedoch an, dass ihr Mann mit keinem Wort erwähnt wird, was über das Gesagte hinaus zu denken gebe. Für Jullien bildet diese Art der Kritik einen Grenzfall: Hier ist die Auslassung das Signifikative, der ganze Sinn liegt gleichsam daneben. Dieses Gedicht hat wohl zum Ziel, das Verhalten des Fürsten Zhuang von Wei zu kritisieren, der, von einer Konkubine bezaubert, seine Frau verlassen, aber von ihr noch immer kein Kind hat. […] Die Bedeutung ist so diskret […], sie operiert im Modus des Fehlens, und die Wirkung beruht auf dem Schweigen.255

Die drei hier angeführten Beispiele markieren für Jullien den Spielraum der ›indirekten Anspielung‹ (xing): Nuance, Spannung, Verhüllung (etwas verschweigen, indem unablässig über etwas Anderes geredet wird). Traditionell steht xing in engster Verbindung mit dem Natureingang eines Gedichts.256 Dieses Wissen wurde von den in China tätigen Missionaren nach Europa vermittelt und auch die Sinophilen des 19. Jahrhunderts, darunter Victor 250 Jullien: Umweg und Zugang, S. 62. 251 Es handelt sich um das 34. Gedicht, nach Strauss Kapitel I, 3,9 mit dem Titel »Leidenschaftliche Verfrühung der Vermählung gehindert«. Strauss kommentiert das Gedicht mit der Bemerkung: »Eheschließung vor der herkömmlichen Zeit galt für unsittlich« (Schi-King, S. 103). 252 Schi-king, S. 103. 253 Jullien: Umweg und Zugang, S. 62. 254 Schi-King, S. 131–132. Das Gedicht trägt den Titel: »Empfang der Fürstin Tschuang-kiang« (Kapitel I, 5, 3). 255 Jullien: Umweg und Zugang, S. 63. 256 Vgl. Kubin: Die chinesische Dichtkunst, S. 8.

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von Strauss, der erstmals das Shijing direkt aus der Originalsprache ins Deutsche übersetzte, gingen von dieser Vorstellung aus. In einer Rezension der Rückert’schen Übertragung des Schi-King aus dem Jahre 1835 heißt es: Die allermeisten Lieder beginnen damit, daß sie die Wahrnehmung irgend eines Gegenstandes oder Ereignisses der Natur aussprechen, dessen Beziehung auf den eigentlichen Inhalt des Gedichts bald in deutlicher Vergleichung offen liegt, bald verborgener und zweifelhafter ist. […] Dergleichen Eingänge bilden da, wo bestimmte Beziehung mangelt, entweder den landschaftlichen Hintergrund, auf welchem sich das Lied hervorhebt, oder sie versetzen wie ein musikalisches Präludium in eine dem Eindrucke des ganzen Liedes homogene Stimmung und regen die Phantasie zu unbestimmten, aber jenem Eindrucke günstigen Erinnerungen an.257

Der Begriff xing impliziert aber weit mehr: »Allgemein gesprochen weist xing auf die dichterische Fähigkeit hin, sich von der äußeren Welt anregen zu lassen und die entsprechenden Assoziationen durch die Blume zum Ausdruck zu bringen.«258 Ebenso bedeutet der ›Wind‹ (feng), der in der Literatur des alten China häufig als Figuration des xing zu finden ist, viel mehr als nur die Naturerscheinung: feng steht gleichermaßen für die sich wandelnde Kraft, den günstigen Einfluss, den man auf andere Menschen nimmt. Auch das Volkslied wird in China mit feng bezeichnet, was auf die doppelte gesellschaftliche Funktion dieser Gattung hindeutet: »Die Höherstehenden benutzen die ›Volkslieder‹, um die Niederstehenden zu ändern«, d. h. moralisch auf sie einzuwirken, sie zu erziehen, während die Niederstehenden sie benutzen, »um die Höherstehenden zu kritisieren (fengci)«.259 Die Volkslieder verfolgen durchaus das Ziel, auf indirektem Wege zu mahnen und zu belehren. »Wird die Kritik nicht explizit geäußert«, kommentiert Pohl das »Große Vorwort«, »sondern verhüllt durch dichterische Gestaltung (wen), so trifft die Autoren derartiger ›indirekter Mahnungen‹ (in idealer Weise) kein Tadel.«260 Das »Große Vorwort« aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. hebt besonders die moralisch-didaktische Funktion des Shijing hervor, und im »Kleinen Vorwort« findet sich dann eine ganz enge Verbindung der Moral mit dem Wind: »Der Wind bewegt [die Dinge] und die Erziehung verändert die Menschen.«261 In diesem Zusammenhang ist auch der Titel des ersten Teils des Shijing zu sehen: Guofeng

257 Blätter für literarische Unterhaltung, Nr. 162 vom 11. Juni 1835, S. 667. 258 Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 29. 259 »Großes Vorwort« aus dem Shijing (Punkt 7), zit. n. Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 30. Vgl. auch Legge: Sche-King, S. 35 und Owen: Readings in Chinese Literary Thought, S. 46. 260 Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 31. 261 »Das kleine Vorwort«, zit. n. Legge: Sche-King, S. 37 (Übers. von mir).

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wird gemeinhin mit ›Landesübliches‹ übersetzt; man könnte aber genauso gut ›Winde der Länder‹ sagen.262 Die ›indirekte Anspielung‹ (xing) wird darüber hinaus noch von einem anderen Aspekt bestimmt. Eine weitere, bislang unerwähnte Bedeutungskomponente von xing ist ›anfangen‹ bzw. ›anregen‹. Im Buch vom prächtigen Stil des Drachenschnitzens heißt es hierzu: »Das Stilmittel ›xing‹ entsteht, indem man versucht, seinen Gedanken durch einen [anderen] Gegenstand einleiten zu lassen.«263 Entsprechend haben wir es im Shijing »mit einer suggestiv-evozierenden bzw. anregenden Eröffnung eines Gedichtes zu tun«,264 wobei der Leser durch die anfängliche Naturschilderung geschickt in das jeweilige Gedicht eingestimmt wird.

Die ›allusiv-anspielende Anregung‹ als diskursiver Modus Im Buch vom prächtigen Stil des Drachenschnitzens wird festgestellt, dass das Stilmittel des ›Vergleichs‹ (bi), dem eigentlich eine geringere Bedeutung zukomme, von den Dichtern inzwischen viel häufiger verwendet werde als die ›indirekte Anspielung‹ (xing), die in mancher Hinsicht bereits in Vergessenheit geraten sei. Als Mittel der Verschönerung erfreue sich bi einer weiten Verbreitung, und so würden beispielsweise bei der Darstellung von Bergen und Flüssen oder Wolken Vergleiche eingeflochten, um »Ohren und Augen [der Leser und Hörer] zu fesseln und zu bezaubern«.265 Der Vorteil eines solchen analogischen Vergleichs bestehe in seiner relativ einfachen Interpretierbarkeit, da man sich mit ihm »einer äußeren Wirklichkeit annähert«.266 So kann das Eingangsmotiv des Shijing ohne große Schwierigkeiten moralisch interpretiert werden, während andere Vergleiche eher politisch zu deuten sind, wenn sie einen Herrscher entweder loben oder tadeln. Doch kann es gelegentlich auch vorkommen, dass die Interpretationen eines Gedichts konträr verlaufen und miteinander in Konflikt geraten, d. h. je nachdem, ob man ein sprachliches Bild im Sinne von bi versteht oder im Sinne von xing. Ein Beispiel dafür bietet das zweite Gedicht des Shijing, das ebenfalls mit einem Naturbild eröffnet wird, und zwar bezogen auf ein zur Familie der Bohnen gehörendes Rankengewächs (bei Strauss als ›ko‹ bezeichnet,

262 »Im Bild des Windes wird auf den moralischen Einfluß angespielt, der, von der Persönlichkeit des Herrschers ausgehend, jeden Staat durchdringt und ihn charakterisiert.« ( Jullien: Umweg und Zugang, S. 66.) 263 Li: Traditionelle chinesische Literaturtheorie, S. 57. 264 Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 29. 265 Li: Traditionelle chinesische Literaturtheorie, S. 59. 266 Zhang Zhong, zit. n. Jullien: Umweg und Zugang, S. 143.

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in Pinyin ge), auch ›Schlingbohne‹ genannt, dessen Fasern zum Weben von Stoffen verwendet wurden: Wie hat das Ko hinausgerankt! Es trieb bis zu des Thales Grunde, Und üppig steht der Blätterflor. Die gelben Vöglein fliegen vor Und aus der Bäume dichter Runde Schallt ihres Sanges heller Chor. Wie hat das Ko hinausgerankt! Es trieb bis zu des Thales Grunde, Und seine Blätter stehen dicht. Ich schneid’ es, brüh es ab zur Stunde, Und mache Kleider, fein und schlicht; Sie anzuzieh’n verdrießt mich nicht.267

Während man die Schlingbohne problemlos als ein konventionelles Natureingangsmotiv in Analogie zu einem heranwachsenden Mädchen interpretieren kann, versteht der Han-Kommentar dieses Motiv, wie Jullien ausführt, als »eine fortgesetzte Metapher der jungen Frau, die man ihrer Tugend wegen für würdig erachtet, Königin zu sein«.268 Das langsam bis ins Tal hinein sich ausbreitende Gewächs repräsentiert dabei die heranwachsende Frau, und das Grün der Blätter fungiert als »Bild für die Schönheit ihres Antlitzes«.269 Eine ähnliche Funktion haben auch die auffliegenden Vögel, die der Anspielung (xing) auf das Schicksal des Mädchens dienen, das seine Eltern zu verlassen im Begriff ist, um zu heiraten. Selbst der Gesang der Vögel erfüllt in dieser Analogie einen bestimmten Zweck: »Er dient der ›Anspielung‹ auf den guten Ruf der jungen Frau, der ebenfalls weithin widerhallt.«270 Der Song-Kommentator Zhu Xi (1130–1200) unterstreicht dann auch die Funktion der indirekten Anspielungen als »affektiv[e] und verbal[e] Auslöser«,271 was er folgendermaßen in Worte fasst: »Über etwas anderes zu sprechen beginnen, um von da aus in das einzuführen, was besungen wird.«272 Das heißt also, dass, während im analogen Modus (bi) das Thema gleichzeitig und parallel zum Eingangsmotiv behandelt wird, Eingangsmotiv und Thema im anregenden Modus (xing) sukzessiv verbunden werden. Eine Sinnverschiebung kündigt sich dann im Kommentar von Yan Can aus dem 13. Jahrhundert an, in dem das Eingangsmotiv nicht mehr als Metapher für das Schicksal der jungen Herrscherin 267 268 269 270 271 272

Schi-King, S. 67 (»Thai-sse als Hausfrau«, Kapitel I, 1, 2). Jullien: Umweg und Zugang, S. 144. Ebd. Ebd. Ebd., S. 146. Zhu Xi, zit. n. Jullien: Umweg und Zugang, S. 146.

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verstanden wird, sondern als eine Vorbereitung auf Tätigkeiten, die sie als Frau erwarten. Ähnliches kann über das neunzehnte Gedicht gesagt werden, das die Sehnsucht der Frau nach ihrem Ehemann zum Ausdruck bringt, der in der Ferne Dienstgeschäften nachzugehen hat: Des Donners laut Gedröhn Ist an des Südgebirges Mittagseite. Warum ist Er entfernt von hier, Wagt’ nie, daß er sich Ruh bereite? Mein hoher Herr, mein holdes Glück, O komm zurück! o komm zurück! Des Donners laut Gedröhn Ist an des Südgebirges mittlerm Hange. Warum ist Er entfernt von hier, Wagt’ nie, daß er nach Rast verlange? […] 273

Dem Han-Kommentar nach versinnbildlicht das Grollen des Donners den Befehl des Herrschers. Im Gegensatz dazu begreift der Kommentar aus der Song-Zeit274 das Donnergrollen als eine Naturerscheinung, wodurch es seine anregende Kraft entfaltet: »Deshalb spielt dieses Eingangsmotiv, ohne über einen präzisen Sinn zu verfügen, die Rolle eines unbestimmten Auslösers von Affekten – die der Rest des Gedichtes dann ausbeuten wird.«275 Paul de Man hat in seinem Essay »Semiologie und Rhetorik« einen vergleichbaren Lektüreunterschied aus Sicht der westlichen Literaturtheorie diskutiert. Für den literarischen Text überhaupt postuliert er eine grundsätzliche Spannung zwischen figurativem und referentiellem Sinn, die sich der Lektüre als eine unauflösbare Verwirrung mitteile, denn es sei keinesfalls so, dass es immer zwei Bedeutungen gebe, eine buchstäbliche (der alte ›sensus literalis‹) und eine übertragene bzw. figurative (›sensus spiritualis‹), und dass man lediglich entscheiden müsse, welche von den beiden in der jeweiligen Situation die richtige oder passende wäre. Die Rhetorik hält de Man diesbezüglich für eine radikale Suspendierung der Logik, und er glaubt, dass sie »schwindelerregende Möglichkeiten referentieller Verwirrung«276 nach sich ziehen würde. An einem Bei273 Schi-King, S. 85 (»Sehnsucht nach des diensteifrigen Gemahls Heimkehr«, Kapitel I, 2, 8). 274 Den Song-Kommentar gibt Jullien folgendermaßen wieder: »Das plötzliche Donnergrollen zu vernehmen ließ sie an ihren in der Ferne weilenden Gatten denken. Man sieht in diesem Donnergrollen kein Bild mehr, sondern es besitzt einen konkreten Gehalt, es ist so beschrieben, wie es wahrgenommen wird: Es gewinnt die Konsistenz eines in die Existenz hereinbrechenden Ereignisses; indem es über die unerschöpfliche Phänomenalität der Dinge verfügt, läßt es das Bewußtsein im Einklang dazu reagieren.« ( Jullien: Umweg und Zugang, S. 149.) 275 Ebd. 276 Paul de Man: »Semiologie und Rhetorik«, in: ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 31–51, hier S. 40.

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spiel aus William Butler Yeats’ Gedicht »Among School Children« veranschaulicht er die Spannung zwischen ›Rhetorik‹ und dem, was er als ›Grammatik‹ bezeichnet und worunter er die buchstäbliche Bedeutung des Textes versteht: O chestnut-tree, great-rooted blossomer, Are you the leaf, the blossom or the bole? O body swayed to music, O brightening glance, How can we know the dancer from the dance? 277

Diesen abschließenden Vers »Wie können wir den Tänzer vom Tanz unterscheiden?« deutet de Man zunächst als rhetorische Frage, aus der sich der Schluss ziehen lässt, dass es unmöglich sei, das eine vom anderen zu unterscheiden, weil beide miteinander identisch zu sein scheinen. Er hält es aber genauso gut für möglich, diesen Satz wörtlich statt figurativ zu lesen, und zwar als eine mit Nachdruck gestellte Frage nach der Art und Weise, wie wir überhaupt Unterschiede treffen können, die uns vor dem Irrtum bewahren, etwas zu identifizieren, was nicht miteinander identifiziert werden kann: »[D]ie figurative Lektüre, die die Frage als rhetorische auffaßt, ist vielleicht naiv, während die buchstäbliche Lektüre zu größerer Komplexität von Thema und Stellungnahme führt«.278 Damit sieht de Man das Privileg erschüttert, das man gewöhnlich einem Zweig der Rhetorik zuweist, d. h. genauer gesagt der Allegorese, die dem chinesischen bi entsprechen würde. Noch mehr liegt ihm aber daran zu zeigen, dass ausgehend von nur einem Vers »zwei völlig kohärente, aber völlig inkompatible Lektüren des Gedichts« ermöglicht werden, wobei die grammatische Struktur des Satzes unzweideutig ist, der rhetorische Modus aber »Modus und Stimmung des ganzen Gedichtes ins Gegenteil umkehrt«.279 Nun lässt sich aber das Problem, das die chinesische Poetik mit dem Begriff xing stellt, nicht in dem Antagonismus von Bildlichkeit (Figuralität) und Buchstäblichkeit auflösen. Es kommt hier vielmehr ein weiterer wichtiger Aspekt hinzu, für den die westliche Literaturtheorie bisher kein passendes Konzept gefunden hat, nämlich die Anregung, die im Sinne einer poetischen Resonanz zu verstehen ist. Wenn man Julliens und de Mans Lektüren miteinander vergleicht, dann werden sehr schnell zwei Schieflagen sichtbar. Julliens Interpretation erweist sich insofern als problematisch, als sie etwas unvermittelt Konkretes postuliert und damit sowohl den Aspekt der sprachlichen Vermittlung (den diskursiven Modus) als auch die Offenheit des Textes, die nicht zuletzt durch die indirekte Anspielung bewirkt wird, ausblendet.280 Für ihn kommt der uner277 278 279 280

Zit. n. de Man: Semiologie und Rhetorik, S. 41. Ebd. Ebd., S. 42. Das ist schon an der Begriffswahl zu erkennen: Während de Man in seiner Lektüre von der Buchstäblichkeit des Wortes ausgeht, spricht Jullien von einer »unerschöpflichen Phäno-

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schöpfliche Sinn aus der ›Phänomenalität der Dinge‹. Auf der anderen Seite aber neigt eine dekonstruktivistische Lektüre dazu, das Aporetische der Textlektüre zu verallgemeinern, ohne den Effekten der Resonanz Aufmerksamkeit zu schenken und den Modus der Anregung genauer zu untersuchen.281 Bereits Werner Hamacher hat diesbezüglich angemerkt, dass das Verhältnis von Rhetorik und Grammatik bei de Man »nicht das der Polysemie, sondern das einer radikalen semantischen Aporie« sei: Wenn zwei miteinander unverträgliche und dennoch ineinander verschlungene Bedeutungen von einem grammatisch unzweideutig konstruierten Satz erzeugt werden, dann suspendiert jede dieser Bedeutungen die Bedeutsamkeit der anderen, und der Satz revoziert als ganzer die Referenzfähigkeit, die er in jeder einzelnen seiner Bedeutungen ungebrochen behauptet. Es ist diese Struktur der wechselseitigen Suspendierung, ja, der Entdeutung der einzelnen Bedeutungselemente sprachlicher Äußerungen, die de Man – im Unterschied zur terminologischen Tradition, die in diesem Begriff nur das Moment des Figurativen und weiterhin des Ornamentalen der Sprache erfaßt – Rhetorik nennt.282

De Man erkennt in der Rhetorik nicht einfach eine Hinwendung zur Konstruktion sprachlicher Figuren, sondern die »Bewegung einer unkontrollierten Defiguration des Lesens«.283 Das führt ihn geradewegs zu der These vom »Widerstand gegen die Theorie«, worunter er eine Bewusstwerdung über die Grenzen und die Unmöglichkeit der Literaturtheorie versteht. Die Erkenntnis, die er damit verbindet, ist die Einsicht in die »Unmöglichkeit wirklichen Verstehens«.284 Eine textualistische Dekonstruktion, die an der Begrifflichkeit der Rhetorik festhält, kann lediglich die Aporie jeder Art von Sinndeutung (und damit ihre eigene Aporie) konstatieren.285 Eine komparatistische Ästhetik hingegen, die der Idee der Diversität Rechnung trägt, eröffnet eine völlig neue Perspektive, wenn sie den allusiven Modus der Anregung als Auslöser von Resonanzen begreift und auf diese Weise die auf die Mechanismen der Bedeutungszuweisung zentrierte Literaturtheorie beträchtlich erweitert.

281 282 283 284 285

menalität der Dinge« (Umweg und Zugang, S. 149), was eine referenzsprachliche Ontologie impliziert. Nichtsdestoweniger baut Jullien seine Deutung auf der Grundlage der Semiologie auf, was besonders in seiner Abhandlung La valeur allusive deutlich wird (s. Anm. 225). Paul de Man spricht in seiner Yeats-Lektüre vom »rhetorischen Modus« und von der »Stimmung« des Gedichts; vgl. de Man: Semiologie und Rhetorik, S. 42. Werner Hamacher: »Unlesbarkeit«, in: Paul de Man: Allegorien des Lebens, S. 7–26, hier S. 15–16. Ebd., S. 17. Paul de Man: »Lesen (Proust)«, in: ders.: Allegorien des Lesen, S. 91–117, hier S. 105. Das Problem bei Julliens Interpretation scheint mir vor allem darin zu liegen, dass er auf der Grundlage seiner konkreten Lektüren einen Kulturzusammenhang konstruiert, der ihm letztlich dazu dient, China und den Westen nicht nur hinsichtlich ihrer Poetikauffassungen, sondern vor allem in ihren Diskursstrategien frontal einander gegenüber zu stellen. Was für die Dekonstruktivisten ein Lektüregegensatz ist, ist für ihn ein Kulturgegensatz.

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Allusive Indikation Die westliche Semiotik versucht die anspielende Anregung vor allem mit dem Begriff der Konnotation zu erfassen. Unter ›Konnotation‹ versteht Umberto Eco zunächst ganz allgemein »andere Vorstellungen, die das Lexem [über seine denotative Bedeutung hinaus; A.K.] anklingen läßt.«286 An anderer Stelle greift Eco die Definition von Hjelmslev auf und charakterisiert die Konnotation als einen zweiten Sinngehalt, dessen Signifikant »auf andere Einheiten« verweist, »für die die erste ein – wenngleich partieller oder sehr allgemeiner – Signifikant (oder Interpretant) ist, und die ihrerseits wieder Signifikanten für andere Einheiten sind«.287 Im Gegensatz zu Saussure, der das Zeichen als Zusammenhang von Signifikant und Signifikat begreift,288 versteht Hjelmslev es als eine Relation zwischen einer Ausdrucks- und einer Inhaltsebene. Sein Modell hat den entscheidenden Vorzug, dass metasprachliche Phänomene bzw. Doppelstrukturen (Barthes spricht von »versetzten Systemen«289) mit seiner Hilfe recht gut beschrieben werden können, weshalb es in der Semiologie auch häufig genutzt wird, so von Barthes, Deleuze und Guattari.290 Doch gleichzeitig warnt Barthes vor einer bedenkenlosen Verwendung des Begriffs ›Konnotation‹, sofern dieser nämlich »das System eines Subjekts«291 voraussetzt und »eine Rückkehr zu der Geschlossenheit des abendländischen […] Diskurses« impliziert, d. h. »zu einer zentrierten Organisation, die alle Sinngehalte eines Textes kreisförmig um den Herd der Denotation anordnet (der Herd: Zentrum, Hüter, Zuflucht, Licht der Wahrheit)«.292 Barthes will die Konnotation deshalb nicht mehr als Ideenassoziation verstanden wissen, sondern als eine »den Texten immanente Korrelation«.293 Dabei sieht er die ›textuelle‹ Konnotation durch einen »Ballungsraum« bestimmt, »in dem bestimmte Orte des Textes mit anderen, dem materiellen Text 286 Umberto Eco: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 99. 287 Ebd. S. 181. 288 »Bei Saussure stellt sich das Zeichen demonstrativ als die vertikale Ausdehnung einer Tiefensituation dar: in der Sprache liegt das Signifikat gewissermaßen hinter dem Signifikanten und kann nur durch ihn hindurch erreicht werden« (Roland Barthes: Elemente der Semiologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 42). 289 Ebd., S. 42 und 75. 290 Auf diesem Konnotationsbegriff baut Barthes seine Untersuchungen zu den Mythen des Alltags (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1964, S. 92ff.) auf und auch in S/Z (Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 10–14) rekurriert er auf die Konnotation, um die Pluralität eines Textes zu erfassen. Deleuze und Guattari wiederum greifen in ihrem Buch über Kafka (Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008) und in Tausend Plateaus (Berlin: Merve 1992) auf Hjemslev zurück. 291 Barthes: S/Z, S. 12. 292 Ebd., S. 11. 293 Ebd., S. 12.

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äußeren Sinngebungen korrelieren und mit diesen so etwas wie Nebelschwaden von Signifikanten bilden.«294 Neben der Konnotation ist ein zweiter Begriff der Semiotik für die Bestimmung der anspielenden Anregung von Interesse, und zwar der des Index. Peirce definiert ihn in Abgrenzung zum Ikon und zum Symbol, wobei sein Kriterium die Objektrelation der jeweiligen Zeichen ist. Beim Index stehen Zeichen und Objekt in einer »unmittelbaren und dyadischen Beziehung, bei der ein Drittes, der Interpretant, allenfalls als eine reagierende, aber nicht als eine reflektierende und wirklich interpretierende Instanz beteiligt ist«.295 Ein Zeichen ist für Peirce genau dann ein Index, wenn es von einem Objekt, auf das es referiert, »wirklich beeinflußt« wird.296 Dazu muss das Objekt faktisch existieren: »Der Index ist mit seinem Objekt physisch verbunden; beide bilden ein organisches Paar, aber der interpretierende Geist hat mit dieser Verbindung nichts zu tun, außer daß er sie bemerkt, nachdem sie hergestellt ist.«297 Ein Index lenkt die Aufmerksamkeit in Richtung auf das Objekt, sagt aber nichts darüber aus. Beispiele für Indices sind Fußspuren oder ein Zeigefinger, der in eine bestimmte Richtung weist, ein Wetterhahn, der sich mit dem Wind dreht, aber auch das Klopfen an einer Tür. Voraussetzung ist, dass, wie beim Rauch, der das Feuer indiziert, eine existentielle Beziehung vorhanden ist. Das ist auf gleiche Weise bei der sprachontologischen Indikation der Fall, die bereits im ersten Kapitel diskutiert worden ist. Auch hier liegt eine ontologische Beziehung vor. Bestimmte Figuren der Sprachverdoppelung indizieren das Sein der Sprache. ›Indizieren‹ ist dabei im Sinne von ›hinweisen‹ zu verstehen bzw. die ›Aufmerksamkeit auf etwas richten, das als solches nicht bedeutet werden kann‹ (da es genau das ist, was im Akt des Bedeutens verdeckt wird und folglich unsichtbar bleibt). Der sprachontologischen Indikation könnte also dank des ›Umwegs‹ über die chinesische Dichtung eine weitere an die Seite gestellt werden: die allusive Indikation. Semiotisch ließe sich die Indikation mit Ecos »Aufmerksamkeitsvektoren« begreifen: »Beim Akt der Bezugnahme«, heißt es in seinen Ausführungen über die sogenannten »Vektor-Indizes«, »werden metasprachlich besondere Indextypen verwendet, deren allgemeines Signifikat sich beschreiben läßt als ›Richte deine Aufmerksamkeit auf jenes Wahrnehmungsfeld und bringe dort eine aktuelle Wahrnehmung des Bezugsgegenstandes zustande‹.«298

294 Ebd., S. 13. 295 Handbuch der Semiotik, hg. von Winfried Nöth, 2. erw. Aufl., Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 185. Vgl. auch Eco: Zeichen, S. 60ff. 296 Charles S. Peirce: Collected Papers, Bd. 2, hg. von Charles Hartshorne und Paul Weiss, 3. Aufl., Cambridge: Belknap Press of Harvard Univ. Press 1965, S. 248. 297 Ebd., S. 299. 298 Eco: Zeichen, S. 174.

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Aufmerksamkeitsvektoren verweisen auf eine Wirkung, die von Signifikationsprozessen ausgeht, und korrelieren mit dem Begriff der ›Ansteckung‹ innerhalb einer signifikativen Kette, wie er in den strukturalen Analysen von Jacques Lacan entwickelt wurde, insbesondere in seinem »Seminar über E.A. Poes ›Der entwendete Brief‹«.299 Lacan zeigt dort, wie der Brief gleichsam die Subjekte ›regiert‹ und eine Verschiebung in Gang setzt, wobei die Subjekte jeweils eine bestimmte Position einnehmen, die vom Brief als einem zirkulierenden Signifikanten determiniert wird. Indem die verschiedenen Personen (Königin, Minister und Dupin – und schließlich auch Lacan selbst, wie Derrida behauptet) 300 in den Besitz des Briefes gelangen, werden sie von seinem Sinn »besessen«,301 d. h. vom Sinn des lettre, was im Französischen gleichzeitig ›Brief‹ und ›Buchstabe‹ bedeutet. Entscheidend ist dabei, was der Brief mit seinem Besitzer ›macht‹: Der Minister verspricht sich vom Besitz des Briefes politischen Einfluss, den er aber erst erlangen kann, wenn er den Brief in einem günstigen Augenblick einsetzt – über den Inhalt des Briefes erfährt der Leser allerdings nichts, nicht einmal Dupin kennt ihn: der Brief ist und bleibt reiner Signifikant. Doch bis es soweit ist, muss er den Brief an einem sicheren Ort verstecken. Der Besitz des Briefes verurteilt ihn (wie vorher schon die Königin) zu einer Ohnmacht, zur Blindheit und zum Nicht-Handeln. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass er den Brief »vergisst«302 und ihn sich von Dupin stehlen lässt. Lacan verdeutlicht, welche Verwandlungen der Minister dabei durchläuft: »Der Mann, Mann genug, bis zur Verachtung dem gefürchteten Zorn der Frau zu trotzen, unterliegt bis zur Metamorphose dem Fluch des Zeichens, um dessen Besitz er sie beraubt hat.«303 Er glaubt, der Königin die Stirn bieten zu können, verfällt dabei aber selbst dem Einfluss des Briefes. Es ließe sich also festhalten, dass der Brief die mit ihm in Verbindung gebrachten Subjekte ›kontaminiert‹, d. h. sie mit dem Begehren des Buchstaben ›ansteckt‹. In der allusiven Indikation kommen drei Aspekte der westlichen Semiotik zusammen, die bislang immer getrennt behandelt worden sind: die ›Ansteckung‹ innerhalb einer Signifikantenkette (Lacan) sowie die Kraft der »Betörung« (Barthes),304 und dann beides zusammen in der Funktion des »Aufmerksam299 Jacques Lacan: »Das Seminar über E.A. Poes ›Der entwendete Brief‹«, in: ders.: Schriften I, Berlin/Weinheim: Quadriga, 3. Aufl. 1991, S. 7–41. 300 Jacques Derrida: »Der Facteur der Wahrheit«, in: ders.: Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und jenseits, 2 Bde., Berlin: Brinkmann & Bose 1982–87, 2. Lfg., S. 183–281, hier S. 215f. 301 Lacan: Das Seminar über E.A. Poes »Der entwendete Brief«, S. 29. 302 Bei Lacan heißt es, dass der Minister gezwungen werde, sich »nach dem Modus der Neurose [zu] verhalten« und dass er sich gleichsam auf eine »Insel zurückgezogen ha[be], um zu vergessen«, vgl. ebd., S. 33. 303 Ebd., S. 30. 304 »Von der Dynamik her gesehen ist sie [die Konnotation; A.K.] ein Überwältigtsein, dem der

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keitsvektors« (Eco). Erst der Begriff der ›Resonanz‹ erlaubt es, diese drei Komponenten im Zusammenhang zu verstehen. Zeichentheoretisch bedeutet ›Resonanz‹, dass ein Zeichen (ein Signifikant, aber auch ein nicht-signifikatives Zeichengebilde) auf sein Umfeld eine Wirkung ausübt und dadurch die Aufmerksamkeit des Lesers oder Betrachters in eine bestimmte Richtung lenkt bzw. auf etwas, was selbst nicht dargestellt oder signifiziert werden kann, entweder weil es die Bedingung dieser Darstellung ist oder weil es sich um eine ästhetische Qualität handelt, die sich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle befindet.

›Verbergen und Auffallen‹ Die allusive Indikation impliziert eine zurückhaltende Aufmerksamkeit, die sich nicht auf eine wortreiche Sinndeutung einlässt, sondern den Sinn gleichsam in der Schwebe hält.305 Dieses Zurückhalten des Sinns drückt sich auch in der chinesischen Poetik aus, die bereits im 5. Jahrhundert den Begriff 隱秀 yin-xiu (dt. ›verbergen und auffallen‹) dafür verwendete; yin bedeutet hier so viel wie ›latent‹, und zwar im Sinne einer ›Reserve‹ an Sinn (hanxu),306 und verweist auf eine Verwurzelung: »Ein langer Fluß kann nur aus einer tiefliegenden Quelle entspringen. Nur ein tief verwurzelter Baum hat üppig wuchernde Blätter. So umfaßt ein gutes Werk immer zwei Aspekte: yin und xiu.«307 Und weiter heißt es im Wenxin diaolong, dem Buch vom prächtigen Stil des Drachenschnitzens: Das »yin« ist dadurch gekennzeichnet, daß es eine unausgesprochene Bedeutung enthält, als ob der Klang des verborgenen Wortes von außen [zurück] hallt. Der verborgene Glanz der sprachlichen Ausdrücke funkelt im Dunkeln wie bei der Wandlung eines Hexagramms, bei der die Linien des einen Zeichens noch in dem anderen enthalten sind, oder wie ein Strom, in dem Perle und Jade verborgen sind.308

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Text unterworfen ist, ist sie die Möglichkeit der Betörung (der Sinn ist eine Kraft)« (Barthes: S/Z, S. 13). Nach Jullien lässt der Begriff des ›Index‹ (zhao), den er als charakteristisch für das alte chinesische Denken hält, »eine künftige Manifestation erahnen«. Der Index befinde sich in einem »Zwischenstadium zwischen dem Stadium, da die Realität sich noch nicht aktualisiert hat, und jenem, in dem sie sich vollständig aktualisiert hat und manifest geworden ist.« ( Jullien: Umweg und Zugang, S. 291.) Li: Traditionelle chinesische Literaturtheorie, S. 74f. (Wenxin diaolong, Kapitel 40). Siehe auch die englische Übersetzung in der profunden Studie von Stephen Owen: Readings in Chinese Literary Thought, S. 262. Li: Traditionelle chinesische Literaturtheorie, S. 74. Ebd.; vgl. die Übersetzung von Owen, wo es heißt: »[…] mysterious resonances get through all around, and hidden coloration emerges from the sunkenness« (Owen: Readings in Chinese Literary Thought, S. 264).

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Das schon im vorangegangen Kapitel erwähnte Ershisi shipin von Sikong Tu ist eine Abhandlung über die Dichtkunst und die Varianten des poetischen Stils aus der späten Tang-Zeit, in der die Literaturkritik die Form von Gedichten annimmt. Im elften Gedicht mit dem Titel »Unausgesprochenes in sich bergend« wird die Meisterschaft des ›verhaltenen Andeutens‹ (hanxu) thematisiert. In der ersten Strophe heißt es: Ohne es direkt in einem Zeichen zu schreiben, Tritt doch der ganze Reiz (fengliu) zutage. Ohne eigene Not zu benennen, Wird schon unerträglicher Schmerz spürbar.309

Das trifft sowohl für das Blasse/Fade zu, das, wie gezeigt wurde, als Schriftzeichen äußerst selten in Gedichten vorkommt, und über bestimmte Konstellationen im Text evoziert wird, als auch für sogenannte ›Klagegedichte‹, wie sie über Soldaten geschrieben wurden, die für lange Zeit in der Fremde an der Grenze des Reiches (vornehmlich im Norden und Nordwesten) stationiert waren. Liu Xies Buch vom prächtigen Stil des Drachenschnitzens zitiert folgende zwei Zeilen aus einem Gedicht von Wang Zan (gestorben 311): Der Nordwind streift über die Herbstgräser. Die Streitrosse im Grenzgebiet sehnen sich nach der Heimkehr.310

Die Verse seien zwar wenig spektakulär, so der Kommentar von Liu Xie, evozierten aber eine kalte und traurige Atmosphäre und machten durch eine unterschwellige Resonanz das innere Gefühl spürbar. Das Auffällige und Glanzvolle im Stil sei gar nicht das Wesentliche, sondern die Gemütsverfassung, die sich im Gedicht ausdrücke. In der dritten und letzten Strophe des Gedichts »Unausgesprochenes in sich bergend« von Sikong Tu heißt es dann: Endlos, wie ein Staubkorn in der Leere des Himmels; Flüchtig, wie die Schaumflocke auf dem Meer – Seicht oder tief, zusammen oder auseinander, Zehntausend werden von einem erfaßt.311

Dem Topos der zehntausend Dinge kann man in einem ähnlichen Zusammenhang312 schon im Buch vom prächtigen Stil des Drachenschnitzens begegnen, in dem zu lesen ist, dass das Außergewöhnliche in der Literatur gerade nicht durch den auffallenden oder perfekten Stil, sondern erst durch die Verflechtung von 309 310 311 312

Nach der Übersetzung von Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 185. Li: Traditionelle chinesische Literaturtheorie, S. 74. Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 185. Philosophisch ist der Ausdruck noch älter und geht auf die daoistische Kosmologie zurück, vgl. Laotse: Tao Te King, § 8.

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zehntausend Gedanken entstehe, die einen stillen Unterton erzeuge, wodurch schließlich das Wesentliche (das innere Gefühl) zur Sprache gebracht werde.313 Das Latente (yin) wird in der chinesischen Lyrik häufig mittels einer WindMetaphorik ausgedrückt. Doch inwiefern kann der Wind hier als eine Resonanzwirkung beschrieben werden? Ein Vers aus den Liedern von Li Yu (auch Li Yü, 937–978) 314 beginnt mit den Schriftzeichen 風情 (feng qing), was wörtlich ›Wind-Gefühl‹ bedeutet und elliptisch für 風月之情 (›Wind-Mond-Empfindung‹) steht.315 Mit ›Wind-Gefühl‹ ist hier die jugendliche Lebensfreude gemeint, die sich am sinnlichen Genuss der Schönheit vergnügt.316 Das Gedicht (rechts die wörtliche Übersetzung von Alfred Hoffmann) lautet: 風情漸老見春羞, Jugendliche Lebenslust und -freude sind allmählich geschwunden; sieht (die Schöne) den Frühling, so ist sie beschämt. 到處芳魂感舊游; All-überall wird ihre (einst) frühlingsduftende (d. h. lebensfrohe) Seele (wehmütig) ergriffen, wenn sie (d. h. die Seele, in Erinnerung) (auf) alten (Pfaden) wandelt. 多謝長條似相識, Sie (die Schöne) sieht viele schlanke (Weiden-) Zweige, die sie zu kennen scheinen. 強垂煙穗拂人頭。 Aufdringlich streicheln die lang herabhängenden dichten Strähnen (der Weidenzweige) ihren Kopf.317 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Gedicht die Bezeichnung »frühlingsduftende Seele«, auf Chinesisch 芳魂 (fang hun). Im Kommentar zur deutschen Übersetzung heißt es dazu: »Eine Seele voll Frühling, Frühlingsduft, Frühlingsempfinden und Frühlingsliebe; in seiner Zartheit ein Ausdruck für die Frauenseele.«318 Hinter dieser blumigen Redefigur verbirgt sich eine sogenannte ›Palastschönheit‹, die Konkubine Ching Nu. Der Überlieferung nach soll Li Yu das Gedicht während seiner Gefangenschaft unter dem ersten Song-Herrscher in Erinnerung an sein untergegangenes Reich und die Freuden am Hof auf einen 313 Vgl. Li: Traditionelle chinesische Literaturtheorie, S. 75. 314 Vgl. Die Lieder des Li Yü (937–978), Herrschers der südlichen T’ang-Dynastie, übers. von Alfred Hoffmann, Köln: Greven 1950. Li Yü (Pinyin: Li Yu) war der letzte Kaiser der Südlichen Tang. Er ist auch unter dem Namen Li Houzhu sowie als ›Prinz von Wu‹ bekannt. Im Jahre 976 wurde er von den Song, die die südliche Hauptstadt Nanjing erobert hatten, nach Kaifeng verschleppt und zwei Jahre später dort vergiftet. 315 Die Lieder des Li Yü, S. 72 (Lied 16). 316 Für den sinnlichen Genuss der Schönheit findet man auch die Ausdrücke 春風 (chun feng, dt. ›Frühlingswind‹) und 秋月 (qiu yue, dt. ›Herbstmond‹) am Anfang eines anderen Gedichts von Li Yü. 317 Die Lieder des Li Yü, S. 72 (Lied 16). 318 Ebd., S. 73.

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Fächer geschrieben haben, und die Vorstellung eines Fächerbildes hatte wohl auch der Übersetzer im Sinn, als er das Gedicht mit dem Satz kommentierte, dass es von den Begriffen ›Frühling‹, ›Wind‹, ›Weide‹, ›Mensch‹319 getragen werde: »[N]ur wer es vermag, diese vier Begriffe in all ihren Assoziationen vor seinem geistigen Auge zur Vision eines zarten, duftigen, getuschten Bildes zusammenwirken zu lassen, der wird die Anmut dieser Dichtung erfassen.«320 Das, was diese vier Begriffe vereint, ist der Ausdruck »frühlingsduftende Seele«, wobei ›Seele‹ als etwas Geistiges, den Körper Durchdringendes zu verstehen ist, so wie der Wind die Umgebung durchweht und das Innere des Menschen berührt. Der Wind scheint überhaupt, wie hier zu sehen ist, recht gut geeignet, um als anspielend-anregender Bildgeber zu fungieren.321 Während der Frühlingsduft zumeist auf eine Frau bezogen wird,322 eröffnet der Wind einen ›Ballungsraum‹ allusiver Beziehungen.323 Diese Ansicht teilt auch der deutsche Übersetzer, wenn er anmerkt, dass mit dem Wind, der im Gedicht gleich mit dem ersten Schriftzeichen in Erscheinung tritt, der »zarte sinnliche Unterton, der die ganze Dichtung durchweht, gleich zu Beginn angeschlagen«324 werde. Als Phänomen ist der Wind unsichtbar, verborgen (yin), doch sobald er Dinge in Bewegung versetzt oder ein Instrument zum klingen bringt, fällt er durch seine 319 Die herabhängenden ›langen Zweige‹ der Weidenbäume (長條 chang tiao) fungieren dabei als metaphorischer Vergleich (bi). In chinesischen Liebesgedichten sind die langen Weidenzweige ein Sinnbild für die Anmut einer bezaubernden Frau. Wenn in der Poesie von ›Weidenhüften‹ (柳腰) die Rede ist, dann sind damit die schlanken, schmiegsamen Hüften eines jungen Mädchens gemeint. Im weiteren Umkreis dieser Metaphorik finden sich zudem die Ausdrücke ›Weidengasse‹ (柳巷) für ›Freudenhäuser‹ und ›Weidenanmut‹ (柳媚) für eine ›kokette Schönheit‹. Dem im Vergleich damit eher unscheinbaren Bild des Windes kommt dabei die Funktion einer Anregung (xing) zu. 320 Die Lieder des Li Yü, S. 75. ¯ hashi: 321 Zum Bedeutungsspektrum von Wind-Metaphern im Japanischen siehe Ryo¯suke O »Der ›Wind‹ als Kulturbegriff in Japan«, in: ders.: Japan im interkulturellen Dialog, Mün¯ hashi, durch das Wort chen: Iudicium 1999, S. 23–39. Das Innere eines Menschen werde, so O 気風 (kifu¯) ausgedrückt, das wörtlich ›Gemütswind‹ bedeutet. Es bezeichne vor allem die Art und Weise, wie dieses Gemüt zutage trete. Als weiteres Beispiel wird 風雅 (fu¯ga) erwähnt (›Windanmut‹), was eine Person mit Sinn für Poesie und Musik bezeichnet (S. 25). Im Sinne von ›Anmut‹, ›Grazie‹, ›Geschmack‹ werden auch 風情 (fu¯zei) und 風韻 (fu¯in) verwendet. 322 Vgl. den Kommentar von Alfred Hoffmann, in: Die Lieder des Li Yü, S. 73 und 85. 323 So z. B. 風月 (feng yue) ›Wind und Mond‹, was ein Ausdruck für ›unbeschwerte, freudige Geselligkeit und Liebesflirt‹ ist (vgl. den Kommentar, in: Die Lieder des Li Yü, S. 72f.). Im weiteren Umkreis findet man die Begriffe ›Wind-Aspekt‹ 風景 (feng jing) und ›Windglanz‹ 風光 (feng guang), die in Hinsicht auf den ›schönen Anblick‹ bzw. die ›Szenerie‹ 光景 (guang jing) einer Landschaft verwendet werden. Bezogen auf eine schöne Frau gibt es den Ausdruck 風度 (feng du, dt. ›Haltung, Benehmen, Auftreten‹). Im Japanischen werden noch heute für den Bedeutungskomplex ›Aussehen, Auftreten, Grazie, Eleganz‹ die Schriftzeichen 風情 (fu¯zei) gebraucht; im Chinesischen bedeutet 風采 (fengcai) ›Anmut‹. Schließlich wäre noch der Begriff 風流 (fengliu) ›Windströmung‹ zu erwähnen, der »in allen Farben zwischen sinnlicher Lebensfreude und elegantem Lebensstil« (ebd., S. 73) schillert. 324 Die Lieder des Li Yü, S. 73.

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Wirkung auf (xiu). In dieser Funktion gehören ›Wind-Anregungen‹ zum literarischen Stil des ›Verbergens und Auffallens‹ (yin-xiu), der sich des verhaltenen Andeutens bedient.325

Äußere Natur und innere Gestimmtheit Wenn der raue Nordwestwind über die Gräser streicht und so die Trennung von Freunden bzw. die Sehnsucht nach der Heimat zum Ausdruck bringt, oder wenn der kalte Nordwind den seidenen Fenstervorhang hochweht und den Liebeskummer der verlassenen Geliebten spürbar werden lässt,326 dann wird dabei eine oftmals geradezu intime Beziehung zwischen dem Wind als einem Phänomen der äußeren Natur und der inneren Gestimmtheit einer Person hergestellt. Ein vorab schon zitiertes Beispiel für diesen Zusammenhang von »Gefühl und Außenwelt«327 ist das Gedicht »Hirschgehege« von Wang Wei, dessen Thema ganz offenkundig die Einsamkeit ist, von der man genau so gut sagen könnte, dass es sich dabei um eine ich–lose Einsamkeit handelt: eine ›Welt ohne Ich‹ (wu wo zhi jing), wie der chinesische Kritiker Wang Guowei kommentiert hat.328 Die Einsamkeit wird hier nicht über ein innerliches Subjekt ausgedrückt; stattdessen gibt das Gedicht lediglich wieder, was wahrgenommen wird und was fehlt: Verlassen ist der Berg und kein Mensch ist zu sehen. Nur von fern her erreicht das Echo von Stimmen das Ohr. Die Abendsonne ist in der Tiefe des Waldes verborgen, doch ein Lichtstrahl bricht plötzlich hervor und bringt das grüne Moos zum Leuchten, so dass sich ein helleres Grün von einem dunkleren abhebt. Hinter dem Spiel des Lichtreflexes und dem Hereindringen der Außenwelt aber verbirgt sich konstitutiv und unmissverständlich das innere Gefühl der Einsamkeit. Ein solcher Zusammenhang von äußerer Natur und innerem Gefühl ist vor allem für die chinesische Stimmungslyrik typisch und äußert sich in Titeln 325 Bei genauerer Betrachtung erweisen sich viele der ›Wind‹-Begriffe als indexikalisch motiviert: Etwas zeigt sich im Gesicht einer Person, in ihrer Aussprache, ihrem Benehmen, in ihrer Lebensweise oder in ihrem Gemüt. In Japan werden dafür die Binome 風貌 (fu¯bo¯, wörtlich ›Windgesicht‹) und 風体 (fu¯tai, soviel wie ›Windkörper‹) benutzt. Verwendung finden auch die Begriffe 風采 (fu¯sai) und 風姿 (fu¯shi), die beide wörtlich ›Windgestalt‹ bedeuten und gebraucht werden, um das Aussehen oder die äußere Erscheinung einer ¯ hashi: Person zu bezeichnen (letzteres ist die schriftsprachliche Verwendung); vgl. dazu O Der »Wind« als Kulturbegriff in Japan, S. 24. 326 Vgl. das Gedicht »Herbsteinsamkeit« von Qin Guan (1049–1101) in: Frühlingsblüten und Herbstmond (übers. von Alfred Hoffmann), S. 22. 327 Kapitel 46 in Liu Xies Buch vom prächtigen Stil des Drachenschnitzens, vgl. Li: Traditionelle chinesische Literaturtheorie, S. 99–102. Das Binom wu se bedeutet eigentlich soviel wie ›die Erscheinung der Dinge‹. 328 Vgl. James J. Y. Liu: Language, Paradox, Poetics. A Chinese Perspective, Princeton: Princeton Univ. Press 1988, S. 122.

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wie »Herbsteinsamkeit«, »Herbststimmung«329 oder »Winterstimmung«.330 Von besonderer Bedeutung sind hierbei die Jahreszeiten, sofern jede mit einer für sie charakteristischen Landschaft in Beziehung steht, und mit deren Wechsel, so ist es im Buch vom prächtigen Stil des Drachenschnitzens zu lesen, sich auch die menschlichen Gefühle verändern. Im Kapitel »Gefühl und Außenwelt« heißt es mit Blick darauf: Frühling und Herbst wechseln sich ab. Das Yin-Yang-Prinzip verkörpert das Dunkle und das Heitere. Angesichts der sich fortwährend ändernden Landschaft fließt das Herz [der Literaten] über. So setzen sich Xuan ju [schwarze Ameisen] in Bewegung, wenn der Frühling kommt. Wenn sich der Herbst nähert, fangen Dan niao [die Gottesanbeterinnen] an zu fressen. […] Wie könnte der Mensch, dessen Einsicht glänzender als Jade ist und dessen kultivierte Veranlagung die Schönheit von Blumen übertrifft, angesichts der Beeinflussung der Landschaft unberührt bleiben? 331

Die Wechselwirkung zwischen ›Landschaft‹ und ›Gefühl‹ ( jing 景 und qing 情) ist gewiss kein Spezifikum allein der chinesischen Lyrik, doch maß man ihr stets eine besonders hohe Bedeutung bei, so im Buch vom prächtigen Stil des Drachenschnitzens, in dem die Rede davon ist, dass der Dichter bei den mannigfaltigen äußeren Erscheinungen verweilen und sie innerlich nachzeichnen müsse, wobei die Beschreibung seiner Eindrücke dem Wandel der Dinge zu folgen habe. Für den Verfasser dieser Schrift sind die Dichter dabei aber nicht vorrangig Beobachter der Natur; ihr Ziel besteht vielmehr darin, im Zuhörer oder Leser etwas anzuregen, wozu sie gewissermaßen die vorhandene Wechselwirkung zwischen Landschaft (Natur) und Gefühl nutzen bzw. im Einklang mit ihr dichten. »Der Reiz eines Werkes sollte sich federleicht und wie von selbst einstellen«, liest man bei Liu Xie weiter, »dann wirken die Gefühle noch origineller.«332 Während die äußere Natur, wenn auch nicht glanzvoll, so doch augenscheinlich und auffällig (xiu) im Gedicht dargestellt werden soll, ist die innere Gestimmtheit unsichtbar (yin) und macht sich lediglich vermittels einer Allusion bemerkbar, weshalb die chinesische Literaturtheorie zwischen dem Vordergründigen (wenyi) und dem Hintergründigen (haochu) differenziert.333 Stephen Owen hat dann seinerseits dazu angemerkt, dass eine Gleichsetzung mit der westlichen Unterscheidung zwischen der Oberflächen- und Tiefenbedeutung eine Entwertung des Auffallenden bzw. Vordergründigen implizieren würde. Die geistige oder emotionale Tiefe sei keine unabhängige Qualität, sondern erfordere 329 330 331 332 333

Du Fu; vgl. Debon (Üb.): Chinesische Dichter der Tang-Zeit, S. 35. Ouyang Xiu (1007–1072), vgl. Frühlingsblüten und Herbstmond, S. 44. Li: Traditionelle chinesische Literaturtheorie, S. 99. Ebd., S. 101. Vgl. Die Jadesplitter der Dichter, S. 158.

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ein komplementäres Gegenstück wie das Auffällige, Vordergründige, welches aber, allein betrachtet, durchaus eine positive Qualität darstelle, sofern es sofort ›ins Auge sticht‹.334 Das Hintergründige der chinesischen Dichtung betrifft im besonderen Maße die ästhetische Resonanz, die durch Ausdrücke wie ›dunkler Duft‹ und ›gedämpfter Glanz‹ deutlich wird. François Cheng ist in seinen Fünf Meditationen über die Schönheit näher auf diesen Zusammenhang eingegangen und zum Ergebnis gekommen, dass für einen Chinesen die Schönheit eines Dinges in seinem yi begründet liege, »einer unsichtbaren Essenz, die es bewegt, seiner Würze, seinem Duft und dem Widerhall, den sie erzeugen«.335 Der ›Duft‹ (xiang) sei dabei als Nahtstelle der Verbindung zwischen Körper und Geist, zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren anzusehen, da er im Unsichtbaren wirke und einen geistigen Zustand evoziere. Die Chinesen, so Cheng weiter, stellen sich in der Imagination »den Duft und den harmonischen Ton als die beiden Attribute par excellence des Unsichtbaren vor, wobei sich beide […] in rhythmischen Schwingungen bewegen«.336 Dieser Zusammenhang manifestiere sich im Zeichen 馨 (xin) mit der Bedeutung ›sich ausbreitender, unvergänglicher Duft‹: »Der obere Teil dieses Ideogramms wird von dem Zeichen 殸 , dt. ›schön tönender Stein‹, der untere von dem Zeichen 香, dt. ›Duft‹, gebildet.«337 Das Zeichen suggeriert, dass der Duft mehr sei, als nur eine ›flüchtige Ausdünstung‹; seine Resonanz gleicht vielmehr dem anhaltend-vibrierenden Ton eines verklingenden Gongschlags. Doch nicht nur mit dem Klang, sondern auch mit dem Wind ist der Duft verbunden, denn es ist der Frühlingswind, der noch einmal den zurückhaltenden Glanz der Blüten zur Schau stellt, indem er die »duftigen Reste« 香屑 (xiang xie), wie es in einem Lied von Li Yu heißt, aufwirbelt.338

Insinuierter Diskurs: Fortschreiten auf Umwegen In Umweg und Zugang argumentiert Jullien, dass es seit der Ming-Zeit (1369– 1644) eine zunehmende Tendenz gegeben habe, die Dichtung bzw. Kunst generell unter kunsttechnischen Gesichtspunkten zu kodifizieren, was auch mit einem neuartigen Bemühen verbunden gewesen sei, »das Allusive zu erklären und seine Wirkung aufzuschlüsseln«.339 In diesem Zusammenhang ist besonders Jin Shengtan (1610–1661) zu erwähnen, der sich als Literaturgelehrter und Kom334 335 336 337 338 339

Vgl. Owen: Readings in Chinese Literary Thought, S. 262. François Cheng: Fünf Meditationen über die Schönheit, München: Beck 2008, S. 39. Ebd., S. 40. Ebd. Die Lieder des Li Yü, S. 27 (Lied 2). Jullien: Umweg und Zugang, S. 331.

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mentator hauptsächlich mit dem in der deutschen Übersetzung als »Singspiel« apostrophierten Theaterstück Das Westzimmer (Xixiangji) 340 beschäftigte, das um das Jahr 1300 nach der Vorlage der Erzählung Yingying zhuan von Yuan Zhen (779–831) entstanden war. Als Kommentator war er bestrebt, die Strategie des Umwegs zu kodifizieren und sie zur allgemeinen Regel zu erheben. Wie Jin Shengtan zu verstehen gibt, ist ein Werk nur dann wirklich gelungen, wenn »unsere Hand auf dieser Seite hier schreibt, während unser Blick auf jene Seite dort gerichtet ist«.341 Die erste Regel dieser Kunst des allusiven Schreibens erfordere einen »wohl überlegte[n] Abstand zwischen der Absicht des Textes und dem, wovon er namentlich handelt (also kein Abstand gegenüber der Sprache, wie es häufig von der poetischen Rede in Europa behauptet wurde, sondern ein Abstand gegenüber dem Sujet)«.342 Auge und Hand folgen zwei verschiedenen Prinzipien: das Auge dem yang, die Hand dem yin. Die ›Tiefenwirkung‹ des Textes, das Latente des Verborgenen, welches dem yin entspricht, entsteht für Jullien genau in dieser bedacht zustande gebrachten Verschiebung, die sich ergibt, wenn man gleichsam ›daneben schreibt‹. Die zweite Regel sieht Jullien in der Ermöglichung einer Rückkehr zum Ausgangspunkt, die Jin Shengtan gleichzeitig in seiner Argumentation performativ vollzieht: Das Gelungenste besteht in der Literatur darin, daß man, wenn unser Blick auf eine bestimmte Seite gerichtet ist, nicht auf eben dieser Seite schreibt, sondern daß man sich so weit wie möglich von ihr entfernt und von da aus zurückkehrt, indem man bis zu dem Moment über gewundene Wege geht, da man es anspricht und man also innehält; dann muß man sich erneut so weit wie möglich entfernen, um einen neuen Anlauf zu nehmen, und zurückkehren, indem man bis zu dem Moment über gewundene Wege geht, da man es anspricht und man erneut innehält.343

Eine solche Schleife führt zwar, für den Fall, dass man sich zu sehr vom Gegenstand entfernt haben sollte, stets zum Ausgangspunkt zurück, doch ohne ihn exakt so vorzufinden wie zuvor. Stattdessen wird eine Verschiebung zustande gebracht, die eine Transformation bewirkt, die so minimal ist, dass sie jederzeit wieder zurückgenommen werden kann. Der Text ist dabei nicht einer geraden Linie mit klar ersichtlichem Anfang und Ende vergleichbar, sondern vielmehr einer kontinuierlichen Variation ohne definitiven Schluss: 340 Vgl. Wang Shifu: Das Westzimmer. Ein Singspiel aus dem dreizehnten Jahrhundert, in deutscher Nachdichtung nach den chinesischen Urtexten von Vincenz Hundhausen, Eisenach: Röth 1926. Ausführlich zu diesem Theaterstück siehe die Einführung der Übersetzer in: Wang Shifu: The Moon and the Zither. The Story of the West Wing, übers. und eingel. von Stephen H. West und Wilt L. Idema, Berkeley/Los Angeles/Oxford: Univ. of California Press 1991. 341 Jullien: Umweg und Zugang, S. 332. 342 Ebd. 343 Jin Shengtan, zit. n. Jullien: Umweg und Zugang, S. 333.

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Wenn man auf diese Weise mehrfach den Ausgangspunkt wechselt, wenn man sich jedes Mal so weit wie möglich vom Sujet entfernt, um – auf gewundenen Wegen – zu ihm zurückzukehren, bis zu dem Punkt, da man es anspricht: Wenn man dann innehält, gibt man niemals schlicht das wieder, was man vor Augen hat, und ermöglicht den anderen, einen Blick über den Text hinaus zu werfen, um selbst zu sehen.344

Statt mit einer Schlussfolgerung endet der Diskurs mit einer Anregung. Die Kunst dieser Technik liegt also darin begründet, dass man »zunächst seine Aufmerksamkeit auf den fraglichen Punkt konzentriert, dann aber diesen Punkt mit dem Pinsel umkreist, indem man ihn unablässig in die eine oder die andere Richtung wandern läßt, ohne aber jemals seinen Gegenstand aus den Augen zu verlieren oder ihm zu nahe zu rücken«.345 Kurz, sich auf etwas zu konzentrieren und es zugleich zu umkreisen, weder am Gegenstand zu ›kleben‹, noch ihn zu ›verlassen‹ – aus dieser Spannung heraus begreift Jullien mit Jin Shengtan das, was er dann die ›allusive Distanz‹ nennt.346 Abstand, Rückkehr und allusive Distanz bilden für beide die Regeltrias des gelungenen Schreibens. Ein Beispiel für eine erfolgreiche Umsetzung der allusiven Distanz ist das gerade erwähnte Singspiel Das Westzimmer. Zu Beginn der Handlung wird der Protagonist Zhang Junrui vorgestellt, wie er in einem buddhistischen Tempel spaziert, wo er auf seiner Reise zur Hauptstadt eine Rast eingelegt hat, während der Erzähler gleichzeitig auf die sich anbahnende Liebesgeschichte ›schielt‹, denn in dem Tempel begegnet der junge Zhang zum ersten Mal der Tochter des Kanzlers Cui, in die er sich sofort verliebt: Der Blick des Erzählers »›ist auf die eine Seite gerichtet‹ (das Liebesgeschehen), doch ›seine Hand schreibt auf der anderen‹ (der Spaziergang im Tempel)«.347 Ein Pendant findet diese Technik des ›gewundenen Schreibens‹ in der chinesischen ›Literatenmalerei‹, in der es eine Tradition gibt, den Gegenstand nicht selbst darzustellen, sondern stattdessen seine Nähe anzudeuten. Will man beispielsweise ein Bergkloster darstellen, so wird kein Kloster gemalt, sondern ein Mönch, der aus einem Bach Wasser schöpft. Allein seine Anwesenheit lässt erahnen, dass sich in der Nähe ein Kloster befindet.348 Diese Art der Pinselführung über sorgfältig gewählte Umwege gestattet es, das Thema zu vertiefen, ohne dem Betrachter dessen Präsenz aufzudrängen, von der er eingenommen und von deren Sichtbarkeit sein Auge gefangen werden würde. Dieses eigentümliche Vorgehen, »neben dem Sujet zu malen«, das von der Malerei schließlich in die Literaturkritik gelangte, sieht Jullien in einem Sinnspruch zum Ausdruck gebracht, der lautet: »Wolken malen, um den Mond zu 344 345 346 347 348

Jullien: Umweg und Zugang, S. 333. Jin Shengtan, zit. n. Jullien: Umweg und Zugang, S. 333–334. Jullien: Umweg und Zugang, S. 334 und S. 351ff. Ebd., S. 335. Ebd., S. 345.

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evozieren«.349 In diesem Kontext zitiert er eine längere Passage aus dem Kommentar von Jin Shengtan, in dem dieser die Technik des ›Hervortretenlassens‹ beschreibt und selbst in Szene setzt: Habt ihr jemals die Technik »Wolken malen, um den Mond zu evozieren« bedacht? Man will den Mond malen, doch der Mond läßt sich nicht malen, deshalb malt man die Wolken. Wenn wir aber die Wolken malen, ist unser Interesse nicht auf die Wolken gerichtet, und wenn es nicht auf die Wolken gerichtet ist, dann deshalb, weil es auf den Mond gerichtet ist. Dennoch muß sich unser Interesse auf die Wolken richten. Denn wenn man bei den Wolken den geringsten Fehler macht, werden sie entweder zu schwer oder zu leicht sein, was ein Fehler bezüglich der Wolken ist; und wenn bezüglich der Wolken ein Fehler vorliegt, gibt es auch einen Fehler in bezug auf den Mond. Wenn man nun aber sowohl zu große Schwere als auch zu große Leichtigkeit zu vermeiden wußte, die Befeuchtung des Papiers aber durch eine winzige Unachtsamkeit die geringste Spur – wie zum Beispiel ein winziges Staubkörnchen – hinterlassen hat, so ist dies ein Fehler bezüglich der Wolken; und wenn bezüglich der Wolken ein Fehler vorliegt, gibt es auch einen Fehler in bezug auf den Mond. Wenn man nun aber sowohl zu große Schwere als auch zu große Leichtigkeit zu vermeiden wußte und auch von der Befeuchtung nicht die geringste Spur – zum Beispiel in Form eines winzigen Staubkorns – blieb, dann hat man, wenn man diese Wolken betrachtet, den Eindruck, daß sie wohl da seien, will man sie aber erfassen, hat man den Eindruck, daß sie unwirklich sind; nähert man sich ihnen, dann ist es, als wären sie nicht mehr da, und pustet man über sie hinweg, dann ist es, als würden sie sich in Bewegung setzen. Solche Wolken sind vollkommen gelungen. Sind die Wolken gelungen, rufen die Besucher, wenn sie am nächsten Tag kommen: »Wie schön der Mond ist!« Und man vernimmt nicht den geringsten Ausruf zum Thema Wolken. Obwohl dies sehr ungerecht ist im Hinblick auf die Mühe, die sich der Maler gemacht hat, wie auch im Hinblick auf die Verlegenheit, in der er sich befand, als er tags zuvor die Wolken malte: Wenn wir aber nun nach dem Gefühl des Malers fragen, ist es dann nicht etwa so, daß dieses voll und ganz dem Mond und überhaupt nicht den Wolken zugewandt war? 350

Der Verfasser kommt immer wieder auf das zurück, wovon er gerade gesprochen hat, fügt dabei aber dem Vorangegangenen noch eine weitere Nuance hinzu. Dergleichen ›Windungen‹ sind in der chinesischen Kunst recht häufig anzutreffen: so in der Dichtung, wenn ein Bach eine Biegung macht, um eine Ruine oder ein Dorf sehen zu lassen,351 in der Malerei, wenn Bambus nicht wie gewöhnlich gerade, sondern in Form einer S-Kurve von oben ins Bild hängt,352 oder in der Gartenästhetik, wenn ein sich am Berghang entlang schlängelnder Pfad immer wieder einen anderen Blick auf die Landschaft freigibt, und auch Sikong 349 Ebd., S. 347–348. 350 Jin Shengtan, zit. n. Jullien: Umweg und Zugang, S. 348. 351 In den Gedichten »Der Jadeblütenpalast« und »Bauernhaus« von Du Fu; vgl. Poser: Chinesische Gedichte der klassischen Zeit, S. 91. 352 Vgl. Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 239. Pohl bezieht sich hier auf die Bambusbilder von Su Shi.

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Tu führt in seiner Abhandlung über die vierundzwanzig Qualitäten der Dichtung die ›Gewundenheit‹ an, die er 委曲 (weiqu) nennt: Aufstieg auf den Taihang-Berg, Azurfarbe umgibt den gewunden Pfad. Dichter Nebel liegt über einem Bach, der wie jadefarben dahinfließt; Von Fern her weht der Duft der Blumen. Wie die Arbeiten zu jeder Jahreszeit, Die Töne der tibetischen Flöte, Scheinbar vergangen, kommt alles wieder zurück; Scheinbar verschlossen, ist es dennoch nicht verborgen. […] 353

Der in Serpentinen aufsteigende Pfad eröffnet verschiedene Aussichten auf die Berglandschaft, die ihrerseits in einen ›azurnen‹ Nebelschleier gehüllt ist, einer Farbe, die in Ostasien aufgrund der Uneindeutigkeit von blau und grün sowohl auf den bläulichen Nebel, der in den Bergen hängt, als auch auf die dichte Vegetation bezogen werden kann.354 Die Ansichten ihrerseits sind eingebunden in den Zyklus der Natur und verändern sich mit dem Wechsel der Jahreszeiten. Das Wechselverhältnis von ›Verbergen und Auffallen‹ (yin-xiu) ist rhythmisch dem Turnus der Jahreszeiten angepasst: Auch wenn eine Jahreszeit vorbei zu sein scheint, ist sie weder verloren noch verborgen, sondern existiert in der Erinnerung und in der Erwartung.

Die Resonanzwirkung als Untersuchungsgegenstand der Literaturforschung In den beiden vorangegangenen Kapiteln ist der Versuch unternommen worden, am Beispiel eines einzigen chinesischen Schriftzeichens den Wirkungsbereich einer ästhetischen Wahrnehmungsqualität zu beschreiben, die der westlichen Ästhetik ganz offenbar entgangen ist und daher von ihr auch nicht weiter berücksichtigt wurde. Charakteristisch für das Blasse/Fade ist, dass es, gerade weil es so diskret ist und nur mit einem flüchtigen und distanzierten Sinn verbunden werden kann, eine allusive Anregung bzw. eine verhaltene Andeutung impliziert. Die Ästhetik der Fadheit beruht weder auf der sichtbaren Vollkommenheit oder Schönheit, noch auf einer Verdichtung der Bedeutung bzw. einer Überdetermination des Sinns, sondern vielmehr auf einer Resonanzwirkung; ihr Prinzip ist nicht die Entfaltung, sondern die Dämpfung. Deshalb findet man im Diskurs der Fadheit im hohen Maße Indikationen wie z. B. die Andeutung und Anregung sowie Strategien des Zurückhaltens des Sinns, die als ein gleichzeitiges ›Ver353 Sikong Tu: »Weiqu« (aus dem Ershisi shiping); von mir ins Deutsche übersetzt nach Owen: Readings in Chinese Literary Thought, S. 339. 354 Vgl. Owen: Readings in Chinese Literary Thought, S. 340.

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bergen und Auffallen‹, als ein ›verhaltenes Andeuten‹ oder als ein ›Fortschreiten auf Umwegen‹ verstanden werden können. Mit Bezug auf die chinesische Dichtung und ihrer Poetik ist eine Resonanzästhetik entwickelt worden, die im Modus der Anregung operiert, womit sich der Literaturwissenschaft ein neues Untersuchungsfeld eröffnet, in dem die Zeichen nicht mehr primär nach ihrem Sinngehalt oder ihrer signifikanten Struktur befragt werden, sondern nach ihrer affektiven und ästhetischen Wirkung, was heißt, dass nun auch an sich nicht-signifikative Aspekte wie der Klang fremdsprachiger Wörter oder das Schriftbild unlesbarer bzw. unlesbar scheinender Zeichen in die Analyse einbezogen werden. Die Zeichen nicht mehr allein in ihrer signifikativen Funktion zu betrachten, bedeutet zudem, sie in ihren vielfältigen Aus- und Nachwirkungen zu untersuchen, vor allem in Hinsicht auf die ästhetische Wahrnehmung des Unscheinbaren und auf die von ihnen ausgelösten Affekte.

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Exkurs zur Klangiteration: Wenn einander fremde Zeichen sich im Klang berühren Im Zuge der Proteste von 1989 war auch die ›New Wave‹, wie die neue Künstlergeneration Chinas genannt wurde, bei der Parteiführung in Ungnade gefallen, und dem Buch des Himmels wurden »heimtückische Tendenzen« unterstellt.355 1990 erhielt Xu Bing eine Einladung an die Universität Wisconsin, wodurch sich ihm die Gelegenheit bot, in die USA überzusiedeln. Im darauffolgenden Jahr schloss er das Projekt Buch des Himmels, an dem er vier Jahre gearbeitet hatte, mit einer Ausstellung in einer Galerie in Tokyo ab, und noch im gleichen Jahr stellte er eine neue Zeichen-Installation mit dem Titel ABC… vor (Abb. 22).

Abb. 22: Xu Bing, ABC…,1991.

Im Ausstellungsraum waren längliche Tonquader aufgestellt, die wie riesige Stempel aussahen und an deren Enden jeweils ein chinesisches Schriftzeichen in Reliefform dargestellt wurde. Auf der Längsseite wiederum war ein eingravierter lateinischer Buchstabe (wie auf dem vorderen Quader das ›A‹) zu sehen, der sich in der Abbildung 22 allerdings aufgrund des Blitzlichtreflexes nicht mehr wahrnehmen lässt. Auf dem dahinterliegenden Stempel kann man das ›B‹ noch schwach erkennen. Chinesische Schriftzeichen sind hier offenbar lateinischen Buchstaben zugeordnet. Aber nach welchem Konzept, auf welcher Grundlage?

355 Vgl. die biographischen Ausführungen über Xu Bing in: Sprachräume (Ausstellungskatalog), S. 89. Zur Rezeption von Xu Bings Buch-Installation siehe auch Martina Köppel-Yang: Semiotic warfare. The Chinese avant-garde 1979–1989. A semiotic analysis, Hongkong: Timezone8 2004, S. 171. Die Parteilinie wurde vor allem von Yang Chengyin in seinem »Program of the Art of the New Wave« (»Xinchao meishu ganglin«) (1990) vertreten; vgl. ebd., S. 72ff. und 171ff.

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Was im Chinesischen wie [aɪ] gesprochen wird, klingt im Englischen annähernd wie [eɪ] und steht demzufolge an der Seite von ›A‹; bıˇ (dritter Ton) entspricht dem Englischen [bi:]; der weiche stimmlose Reibelaut des Zeichens 西, Pinyin xi (gesprochen [ɕi:]), klingt ganz ähnlich dem stimmlosen [si:] (wenn auch etwas weicher), weshalb das Schriftzeichen 西 dem ›C‹ zugeordnet ist. Jedoch: Die tatsächliche Bedeutung des Zeichens spielt hier keine Rolle mehr; die Anordnung der ausgestellten Tonblöcke beruht einzig und allein auf den Klang-Begegnungen: Dem englischen Alphabet werden reale chinesische Schriftzeichen zugeordnet, deren Artikulation jeweils der eines Buchstabens entspricht. Das, was man in der Linguistik gewöhnlich als Homophonie bezeichnet, wird hier interkulturell umgesetzt, und zwar über verschiedene Schriftkulturen hinweg, die sich so sehr unterscheiden (Buchstaben versus Ideogramme), dass der Gleichklang visuell überhaupt nicht erkennbar ist. Homophonie wird in der westlichen Linguistik vornehmlich in Bezug auf Wörter untersucht, z. B. der Gleichklang von ›Wende‹ und ›Wände‹ oder ›Verse‹ und ›Ferse‹; hier hingegen haben wir es auf der einen Seite mit Buchstaben zu tun, während auf der anderen Seite ideogrammatische Schriftzeichen bzw. Sinogramme stehen, die als Wortund Sinneinheiten funktionieren: Das Schriftzeichen 哀 [ai] bedeutet ›Trauer, Schmerz‹; 彼 [bi] bedeutet ›dieses, jenes‹; 西 [xi] bedeutet ›Westen‹. In ostasiatischen Sprachen ist die Homophonie viel häufiger anzutreffen als in den europäischen. Der chinesische Sprachwissenschaftler Zhao Yuanren (1892– 1982) 356 gibt dafür ein zumindest unter Sinologen berühmt gewordenes Beispiel: Er präsentierte einen Text aus 93 Zeichen, geschrieben im klassischen Chinesisch, wobei ausnahmslos alle Zeichen (zu lesen von rechts nach links und von oben nach unten) shi ausgesprochen werden, jedoch in vier verschiedenen Tonhöhen (Abb. 23).357 Für europäische Ohren besteht dieser Text aus einem einzigen Laut, der fortwährend wiederholt wird. Zwar kann ein Hörer mit einer gewissen Sprachund Hörkompetenz für das Chinesische die verschiedenen Tonhöhen und Tonverläufe wahrnehmen, aber allein vom Hören her ist es im Grunde unmöglich, dem Ganzen einen Sinn zu geben. Und auch für einen Chinesen ist der lediglich gesprochene bzw. gehörte Text wohl kaum zu verstehen. Erst seine Verschriftlichung ermöglicht es, ihn in seiner ganzen Bedeutung zu erfassen. Die deutsche Übersetzung lautet:

356 Er gilt im Westen als Begründer der modernen chinesischen Sprachwissenschaft und ist der Verfasser der einflussreichen Grammatik A Grammar of Spoken Chinese (Berkeley: Univ. of California Press 1968). 357 Zit. n. Nathan Dummitt: Chinese Through Tone and Color, New York: Hippocrene 2008, S. 2. Meine deutsche Übersetzung folgt der englischen Übertragung, ebd., S. 3.

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Abb. 23: Gedicht von Zhao Yuanren (1892–1982).

Der Löwen essende Dichter Shi in der Steinhöhle Der Dichter Shi, der es liebte, Löwen zu essen, lebte in einer Steinhöhle. Er schwor, zehn Löwen zu essen, und ging auf den Markt, um nach ihnen zu suchen. Eines Tages um zehn Uhr gingen gerade zehn Löwen über den Markt. Shi kam gerade zur selben Zeit auf den Markt. Er sah die zehn Löwen und tötete sie mit seinen Pfeilen. Er brachte die Leichen der zehn Löwen zur Steinhöhle. Die Höhle war feucht, so befahl er seinem Diener, sie aufzuwischen. Nachdem die Höhle gewischt worden war, versuchte er, die zehn Löwen zu essen. Während des Essens bemerkte er, dass die zehn Löwen eigentlich zehn Steinlöwenleichen waren. Versuche dies zu erklären!

Xu Bing wiederum zieht in seiner Installation eine gleichsam ›homologische‹ Verbindung zwischen der chinesischen und der englischen Sprache. Dazu ist es zunächst einmal erforderlich, den Klang der chinesischen Zeichen vom Schrift-

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bild abzusondern, um ihn dann dem Laut eines Buchstabens einer anderen Sprache, in diesem Fall dem Englischen, anzunähern. Dabei sind die Schriftzeichen nur in ihrem Klang von Interesse; ihre Bedeutung ist für die Installation vollkommen belanglos. Vor dieser Folie ließe sich nun fragen, wie beispielsweise chinesische Klänge Ende des 18. Jahrhunderts in die deutschsprachige Dichtung gelangten und was sie dort bewirkten: Welche Funktionen sie im Text ausübten, aber auch, welche Resonanzeffekte von ihnen ausgingen und wie ihre Fremdheit auf die zeitgenössischen Leser wirkte.

III.

Der Reflex ostasiatischer Ästhetik in der deutschen Literatur »[…] wird doch immer ein solches Ideal nicht ein allgemeines, für die ganze Welt empfindbares, sondern nur ein griechisches, ein chinesisches, ein kambotschadalisches, ein huronisches Ideal seyn, immer nur partial, immer nur für die Art Menschen, nach welchen und für welche es gebildet ist: denn wer vermag die Gränzen des Lokalen, Eigenthümlichen und Zufälligen genau und sicher zu bestimmen? Vielleicht geräth einmal ein chinesischer Winkelmann [sic!] bey Erblickung eines gemalten Chinesers mit Katzenaugen und dickem Kopfe in so wallendes Entzücken, als der unsrige bey der Statue des Apolls: und beide haben Recht.« (Unbekannter Rezensent, 1779) 1

Der Orient als Resonanzraum in der deutschen Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts In den folgenden Kapiteln sollen verschiedene Resonanzwirkungen ostasiatischer Zeichen bzw. ihrer Ästhetik in der deutschsprachigen Literatur aufgezeigt und in Hinblick auf ihre spezifische Funktionen untersucht werden. Dazu bietet es sich an, mit Texten zu beginnen, die im Anschluss der im späten 18. Jahrhundert verstärkt einsetzenden Rezeption chinesischer Literatur, Kunst und Philosophie entstanden sind, wie etwa Goethes Gedichtzyklus Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten, der in der literaturwissenschaftlichen Forschung als »Krone deutscher Poetik aus chinesischem Geiste«2 bezeichnet worden ist. Doch gibt es davor und danach auch noch andere poetische Experimente, die nicht einfach ihrer Fremdheit wegen von oben herab als »Kuriosität« abgetan werden sollten, wie es in der Forschung mitunter geschehen ist,3 und die es durchaus wiederzuentdecken gilt. Am Beispiel von Unzer, Goethe und Rückert werden im Folgenden drei sehr unterschiedliche Versuche vorgestellt, orientalische bzw. fernöstliche Dichtung, und hier besonders die chinesische, »dem Deutschen anzueignen« – eine For-

1 Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 23. Band, 1. Stück, 1779, S. 79–80. 2 Ursula Aurich: China im Spiegel der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin: Ebering 1935 (Repr. Nendeln, Liechtenstein: Kraus Reprint 1967), S. 150. 3 So urteilt der Literaturwissenschaftler Borgstedt über das Sonett »Tcheou« von Ludwig August Unzer; vgl. Thomas Borgstedt: Die Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, Tübingen: Niemeyer 2009, S. 390.

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mulierung, die Rückert für seine Nachdichtungen verwendet4 und die auch schon Unzer benutzt hat.5 Dabei folgen die drei genannten Autoren ganz unterschiedlichen Prämissen und Zielsetzungen. Unzers ›lyrische Chinoiserien‹ sind weit mehr als nur Anspielungen auf chinesische Mythen, religiöse Vorstellungen und Rituale, auf Lebensweisheiten und Sprichwörter, die in der Umschrift zitiert werden, um das Exotisch-Fremde in den Gedichten geschickt zu akzentuieren. Der gesamte Text läuft darauf hinaus, Empfindsamkeiten auf eine ästhetisch kunstvolle und zugleich überraschende Weise zum Ausdruck zu bringen, ein Vorhaben, bei dem unentwegt nach neuen formalen und expressiven Möglichkeiten gesucht wird. Das wesentliche Kriterium dafür, dieses Ziel zu erreichen, ist bei Unzer der Klang, von dessen Fremdheit er derart fasziniert ist, dass er ein Dutzend aus dem Chinesischen übernommener Sentenzen in seine Lyrik einstreut – für seine Zeit ein ziemliches Wagnis, mit dem er den Versuch unternimmt, der Leserschaft eine Manier zu vermitteln, die er als ›chinesisch‹ deklariert. Dabei folgt er jedoch keiner willkürlichen poetischen Laune, sondern das, was er schreibt, geht direkt aus der intensiven Beschäftigung mit diesem Land hervor, vermittelt vor allem durch die Lektüre von Du Haldes Ausführliche[r] Beschreibung des Chinesischen Reichs,6 und steht in engem Kontakt mit einer vom Autor selbst verfassten Studie zu den chinesischen Gärten. Das Eigene will er durch die Aufnahme chinesischer Ausdrücke und Motive nicht einfach nur ›exotisieren‹; vielmehr bemüht er sich darum, im Chinesischen einen anderen Geschmack sichtbar zu machen, den er dem deutschen an die Seite stellt, damit dieser von dem anderen lernen möge und sich dadurch vervollkommne. Ganz anders ist es bei Goethe, der offenbar erst sehr spät zu China findet. Ihm geht es nicht um die Aufnahme, sondern um die geistige Anschauung der Natur aus der Distanz, und dabei stellt für ihn das Fernöstliche nur eine von vielen Möglichkeiten dar. Seine Ablehnung der China-Mode des Rokoko ist so stark, dass er es über Jahrzehnte vermeidet, China als einen fernen Ort der eigenen Hoffnungen und Sehnsüchte dichterisch zu gestalten, wie es verschiedene seiner Zeitgenossen unternommen hatten, darunter Haller und Wieland. Interessanterweise geht aber der Abfassung der Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten (1827) dann doch ein langjähriges Studium der chinesischen Kultur und 4 Vgl. Schi-King. Chinesisches Liederbuch gesammelt von Confucius, dem Deutschen angeeignet von Friedrich Rückert, Altona: Hammerich 1833. 5 Vgl. Ludwig August Unzer: Über die chinesischen Gärten. Eine Abhandlung, Lemgo: Meyer 1773, S. 81. 6 Jean-Baptiste Du Halde: Description géographique, politique, et physique de l’empire de la Chine et de la Tartarie chinoise, La Haye: Scheurleer 1736. Eine deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel Ausführliche Beschreibung des Chinesischen Reichs und der grossen Tartarey. Aus dem Französischen mit Fleiß übersetzt, nebst vielen Kupfern, 4 Bde., Rostock: Koppe 1747– 1756.

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ihrer Geschichte voraus, das von der Forschung bis ins Einzelne dokumentiert worden ist.7 Anders als bei Unzer, der den chinesischen Ton zum Erklingen bringen will, ist bei Goethe das Malerische das leitende Prinzip, wenn er ›chinesisch‹ dichtet: Seine Sprache »dichtet mit Farbworten«, von unten beginnend, »indem es grundiert mit der unbestimmten neutralen Nachtfarbe«, um dann »Einzelnes« aufzusetzen: »Umrisse, Schatten, Valeurs«, die Luft gleichzeitig aufhellend: »Abendstern, Nebel, See, Mondlicht, Spiegelung der Weidenzweige, das Spiel der Strahlen«.8 Goethes Beschäftigung mit dem Orient nahm bekanntlich mit einer imaginären ›Morgenlandfahrt‹ nach Persien ihren Anfang, und sozusagen als Widerhall auf Joseph von Hammers Übersetzung von Hafis’ Diwan,9 folgte dann nur wenige Jahre später als eigene poetische Schöpfung der West-östliche Divan. Die Motive des persischen Dichters, so belegt es die Goethe-Forschung, hatten offenbar Reminiszenzen an die eigene anakreontische Jugendlyrik geweckt und ihn zu neuer Produktion angeregt.10 In seinen Tag- und Jahresheften von 1815 heißt es dazu: […] ich mußte mich dagegen productiv verhalten, weil ich sonst vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können. Die Einwirkung war zu lebhaft, die deutsche Uebersetzung lag vor, und ich mußte also hier Veranlassung finden zu eigener Theilnahme. Alles was dem Stoff und dem Sinne nach bey mir Ähnliches verwahrt und gehegt worden, that sich hervor und dies mit umsomehr Heftigkeit als ich höchst nöthig fühlte mich aus der wirklichen Welt, die sich selbst offenbar und im Stillen bedrohte, in eine ideelle zu flüchten, an welcher vergnüglichen Theil zu nehmen meiner Lust, Fähigkeit und Willen überlassen war.11

Diese Phase höchster Produktivität erregte gleichermaßen auch Goethes Interesse für die arabische Schrift und Kalligraphie. Ohne die Sprache erlernen zu wollen, konzentrierte er seine Bemühungen ganz auf die Schrift – kalligraphische Schreibübungen und Abschriften, die sich im Goethe- und Schiller-Archiv in 7 Vgl. Christine Wagner-Dittmar: »Goethe und die chinesische Literatur«, in: Erich Trunz (Hg.): Studien zu Goethes Alterswerken, Frankfurt a. M.: Athenäum 1971, S. 122–228. In diesem Zusammenhang sind weiter zu nennen: Eduard Horst von Tscharner: China in der deutschen Dichtung bis zur Klassik, München: Reinhardt 1939; Ursula Aurich: China im Spiegel der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin: Ebering 1935; Ernst Rose: Blick nach Osten. Studien zum Spätwerk Goethes und zum Chinabild in der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, hg. von Ingrid Schuster, Bern: Lang 1981. 8 Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 114. 9 Der Diwan des Mohammed Schemsed-din Hafis. Aus dem Persischen zum erstenmal ganz übersetzt von Joseph von Hammer, 2 Bde., Stuttgart/Tübingen: Cotta 1812–1813. 10 Vgl. Anke Bosse: »›Reisender‹ und ›Handelsmann‹ in Sachen orientalischer Poesie – zu einer Handschrift aus Goethes Nachlaß zum West-östlichen Divan«, in: Goethes Morgenlandfahrten. West-östliche Begegnungen, hg. von Jochen Golz, Frankfurt a. M./Leipzig: Insel 1999, S. 112–129, hier S. 112. 11 Goethe: Tag- und Jahreshefte, in: FA I, 17, S. 259–260 (vgl. auch WA I, 36, S. 91).

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Weimar befinden und vornehmlich aus der Zeit zwischen 1814 und 1818 stammen, bezeugen dies.12 Bei Goethe treffen also zwei Kriterien zusammen: die Resonanz des Geschriebenen und seine individuelle Erschließung der orientalischen Poesie, und für ihn bestand der besondere Reiz darin, das Geschriebene in der geistigen Anschauung wirken zu lassen und dann, angeregt durch die Resonanz der Schrift, selbst zu dichten. Rückert wiederum hat die Nachdichtungen chinesischer Lyrik zum Anlass genommen, über das Konzept von Weltpoesie nachzudenken. Im Titel des von ihm ins Deutsche übertragenen Liederbuchs heißt es, dass die chinesischen Gedichte »dem Deutschen angeeignet« seien. Sein gigantisches, in der Hauptsache den Dichtungen des Orients zugewandtes Übersetzungsvorhaben, das neben dem chinesischen Shijing auch persische, indische sowie hebräische Dichtungen und den Koran umfasste,13 ließe sich als poetische Aneignung des Fremden im Resonanzraum der Weltpoesie begreifen. Die im Folgenden nun näher zu besprechenden Texte unterscheiden sich also voneinander vor allem durch eine jeweils ganz unterschiedliche Zielsetzung und Vorgehensweise ihrer Verfasser: Poetisierung exotischer Klänge durch Einbeziehung chinesischer Bezeichnungen und Begriffe bei Unzer, Inszenierung von Spontaneität in der geistigen Anschauung bei Goethe, poetische Aneignung und Anverwandlung bei Rückert.

6.

Klangresonanz. Unzers poetische Experimente

Der »Buchstabe Kang«14 Nicht im Buchstaben Kang Töne mein Jammergesang; Ach! in dem weichen Tone Yeou Suche, Vou-ti, die verlorne Ruh! 15 12 Vgl. die Abb. 81–90, in: Goethes Morgenlandfahrten, S. 240–249. 13 Friedrich Rückert: Die Weisheit des Brahmanen. Ein Lehrgedicht in Bruchstücken, 6 Bde., Leipzig: Weidmann 1836–1839. Siehe auch: Friedrich Rückert: Übersetzungen persischer Texte. Ausgew. und eingel. von Annemarie Schimmel, Wiesbaden: Harrassowitz 1966. 14 Teile der Ausführungen zu Unzers »Vou-ti« basieren auf meinem Aufsatz »Poetische Kuriosität oder dichterisches Experiment? Ludwig August Unzer und seine Nänie im chinesischen Geschmack«, in: DVjs 85/4 (2011), S. 489–507. 15 Ludwig August Unzer: »Vou-ti bey Tsin-nas Grabe. Eine Elegie im chinesischen Geschmack«, in: Poetische Blumenlese auf das Jahr 1773, Göttingen/Gotha: Dieterich 1772, S. 57–66. Zuerst erschienen als selbständige Veröffentlichung Vou-ti bey Tsin-nas Grabe, eine chinesische Nänie (Braunschweig: Waysenhausbuchhandlung 1772); siehe die Besprechung im Almanach

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Mit dem fernen und zugleich doch scheinbar nahen Klang eines einzelnen »Buchstabens«16 beginnt im Jahr 1772 für die deutschsprachige Literatur eine neue Phase in der Beschäftigung mit der Kultur und Schrift Chinas. ›Kang‹ ist kein deutsches Wort, obwohl es die Klangkonfiguration durchaus zuließe. Zwar kommt dem Laut im Deutschen keinerlei Bedeutung zu, doch weckt er bestimmte Assoziationen und hinterlässt den Eindruck eines nachhallenden Gongschlags, zumal das Wort im Endreim erscheint und im Druck optisch hervorgehoben wird. Es ist der Klang dieses Wortes, nicht das dahinter stehende Schriftzeichen, mit dem diese neue Phase einsetzt, als der damals vierundzwanzigjährige Ludwig August Unzer (1748–1774) den Versuch unternahm, das erste deutsche Gedicht »im chinesischen Geschmack« zu verfassen, das im Jahre 1772 zunächst unter dem Titel Vou-ti bey Tsin-nas Grabe. Eine chinesische Nänie in Braunschweig publiziert wurde. Im Anhang zu dieser Ausgabe befinden sich zwei weitere Gedichte, von denen später noch die Rede sein wird. Noch im selben Jahr wurde dann »Vou-ti« mit verändertem Untertitel in die Poetische Blumenlese auf das Jahr 1773 des Göttinger Musenalmanachs aufgenommen. Die Überschrift lautete nun »Vou-ti bey Tsin-nas Grabe. Eine Elegie im chinesischen Geschmack«. Dass dieses »seltsam« anmutende Gedicht, das einen Chinesen präsentiert, »der halb deutsch, und halb Chinesisch redet«,17 literaturgeschichtlich einmal eine Bedeutung erlangen könnte, dürfte den Lesern und Rezensenten des Gedichts (unter ihnen war auch der junge Goethe) wohl kaum in den Sinn gekommen sein. Goethe, der schon damals der China-Mode des Rokoko gegenüber eine tiefe Abneigung empfand, erblickte in Unzers Gedicht nichts weiter als eine inhaltslose Chinoiserie. In einer Sammelrezension in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen urteilte er lakonisch über dessen eigenwilligen Versuch: »Die Arbeit des Herrn Unzer ist eingelegte Arbeit mit ihrem chinesischem Schnickschnack auf Teebrettern und Toilettenkästchen wohl zu gebrauchen.«18 der deutschen Musen auf das Jahr 1773 (Teil 1, S. 90) unter Angabe des Verlags und des Verlagsortes. Beim Wiederabdruck im Musenalmanach wurden die Anmerkungen erheblich gekürzt. Dennoch wird im Folgenden weitgehend die spätere Musenalmanach-Version benutzt, da sie nicht nur leichter zugänglich ist, sondern auch in der Forschung gemeinhin zitiert wird. 16 Die Bezeichnung »Buchstabe«, die Unzer verwendet, ist, genau genommen, falsch. Sie wird hier jedoch zur Verdeutlichung von Fehldeutungen, wie sie aus mangelnder Kenntnis der chinesischen Sprache und Schrift im Europa des 18. Jahrhunderts häufig anzutreffen sind, als Zitat übernommen. 17 Johann Georg Jacobi: »Beurtheilung der Poetischen Blumenlese in dem Göttingischen Musen-Almanach 1773«, in: Der Teutsche Merkur, 1. Band, 1773, S. 163–184, hier S. 171. 18 WA, I, 37, S. 237. Die Rezension geht wahrscheinlich auf Goethe und Merck zurück. Sie ist in den Gesamtausgaben beider Autoren zu finden, da man in der Forschung allgemein annimmt, dass es sich um eine Gemeinschaftsarbeit handelte. Der Begriff »eingelegt« wird in der Tischlersprache verwendet, wenn beispielsweise Figuren oder Muster aus edlen Hölzern,

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Goethe gab den Ton an, und die Forschung ist bis heute weitgehend bei seiner Bewertung geblieben. Wagner-Dittmar beispielsweise bezeichnete Anfang der 1970er Jahre Unzers Gedicht als eine »lyrische Chinoiserie«, die »von der Überzeugung getragen [ist], den Geist der chinesischen Dichtung zu treffen«,19 was der Verfasserin zufolge dem Autor jedoch keineswegs gelungen sei. Ihrer Ansicht nach haben »sämtliche lyrische Nachbildungen in chinesischer Manier« vor Goethe »mit chinesischer Lyrik nichts gemein« und beschränken sich »nur auf äußerliche Anklänge«.20 Die Auffassung, dass Goethe »dem wahren Geist der chinesischen Dichtung« nicht nur nahe, sondern ihm unter den deutschen Dichtern am nächsten stand, wird auch von Sinologen vertreten.21 Tscharner, der in den 1930er Jahren die erste grundlegende Studie zum Chinabild in der deutschen Dichtung vorlegte, sieht diese Wesensverwandtschaft vor allem in der innigen Naturverbundenheit und meint, dass »Wanderers Nachtlied« auch von den größten chinesischen Dichtern hätte geschrieben werden können; Unzers »lyrische Chinoiserie« hingegen hält er für mehr oder weniger misslungen.22 Dergleichen Urteile finden sich bei Debon und Hsia, die Unzer als einen »belanglosen Poeten«23 betrachten, der sich in seinen Gedichten nach »chinesischer Manier« betätigte – doch immerhin, so räumt Debon ein, sei Unzer einer der Ersten gewesen, der den Stoff alter Legenden in eine lyrische Form gebracht habe.24 Unzer dürfte bei der Abfassung seines Gedichts aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch überhaupt nicht daran gedacht haben, dem von Wagner-Dittmar beschworenen ›Geist der chinesischen Dichtung‹ nachzuspüren und ihn adäquat in Verse umzusetzen. Schon der Titel zielt auf einen vorurteilslosen, unvoreingenommenen Leser ab und bringt dabei eine andere Ästhetik ins Spiel, die es seiner Ansicht nach sehr wohl verdiene, sich mit ihr intensiver auseinanderzusetzen. Unzer inszeniert in seinem Gedicht ein für die damalige Zeit höchst ungewöhnliches, weil bislang vollkommen unerhörtes Zusammentreffen von deut-

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Elfenbein oder Perlmutt in eine Ober- oder Frontfläche aus Holz eingearbeitet worden sind. Möbel wie Tische, Sekretäre, Kabinette oder Kommoden mit Einlegearbeiten waren im 18. Jahrhundert sehr gefragt. Grimms Deutsches Wörterbuch führt dieses Zitat darüber hinaus als Beispiel unter dem Stichwort »Schnickschnack« an mit der Erläuterung, es handle sich dabei um »Krimskrams« (vgl. Bd. IX, Sp. 1329). Wagner-Dittmar: Goethe und die chinesische Literatur, S. 122–228, hier S. 136. Ebd., S. 137. Eduard Horst von Tscharner: China in der deutschen Dichtung, München: Reinhardt 1939, S. 105. Einzelne Kapitel des Buches erschienen zwischen 1934 und 1937 vorab als Aufsätze in der sinologischen Fachzeitschrift Sinica. Ebd., S. 72. Günther Debon/Adrian Hsia (Hg.): Goethe und China – China und Goethe, Bern/Frankfurt a. M./New York: Lang 1985, S. 29. Vgl. dazu Günther Debon (Hg.): Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Band 23: Ostasiatische Literaturen, Wiesbaden: Aula 1984, S. 172.

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scher und chinesischer Sprache, begleitet von einer neuen ästhetischen Form sowie dem philosophisch-religiösen Inhalt und Rückbezug auf zwei ganz unterschiedliche Kulturen. Dieses Zusammentreffen ist in mehrfacher Hinsicht interessant: Zum einen unter thematischen Gesichtspunkten, da Unzer mit seiner Adaption des chinesischen Legendenstoffs in der China-Rezeption einen Wendepunkt markiert; zum anderen unter ästhetischen Gesichtspunkten, wenn er poetisch das darzustellen versucht, was er als den ›chinesischen Geschmack‹ ansieht. In gewisser Weise steht Unzer mit einem solchen Programm den Erzeugnissen der Bardendichtung seiner Zeit wesentlich näher als der RokokoChinoiserie,25 doch ist die Zielsetzung bei ihm in jeder Hinsicht eine vollkommen andere. Es wird wohl neben einer allgemeinen Begeisterung für die ›ferne‹ Kultur Chinas insbesondere der exotische Klang der chinesischen Sprache gewesen sein (allem voran die Silben »Kang« und »Yeou«), der Unzer dazu angeregt hat, nach seiner Lektüre von Jean-Baptiste Du Haldes Ausführlicher Beschreibung des Chinesischen Reichs diese »Elegie im chinesischen Geschmack« zu verfassen. Die ungewöhnliche Klangresonanz dieses Gedichts tangiert etwas bis dahin in der deutschen Lyrik völlig Ungehörtes und Unbekanntes. Zwar siedelten auch Albrecht von Haller und Christoph Martin Wieland zur gleichen Zeit ihre philosophischen Staatsromane im fernen China an, wo sie einen politischen Musterstaat erblickten,26 und durch sie gelangte vereinzelt auch der Klang exotischer Namen (wie Usong) in die Ohren der deutschsprachigen Leserschaft dieser Zeit. Unzer jedoch geht noch weiter, indem er zusätzlich verschiedene philosophische Ausdrücke, Namen von Fabelwesen, aber auch Sinnsprüche als ganze Sätze in chinesischer Sprache in sein Gedicht einbaut, die nicht nur dazu dienen, exotisches Kolorit zu erschaffen. Wenn es aber mehr sein sollte als eine »orientalischexotische Tönung«, die der barocken Neigung zum rein äußerlichen exotischen 25 Vgl. auch Tscharner: China in der deutschen Dichtung, S. 72. 26 Sowohl Albrecht von Hallers Roman Usong (1771) als auch Wielands Roman Der goldene Spiegel, oder die Könige von Scheschian (1772) sind in erster Linie staatspolitische Erörterungen mit fiktionalem Charakter und nur nebenbei auf dem Klang der Sprache aufbauende Dichtungen. Auch in Hallers zweitem politischen Roman, Alfred, König von Angelsachsen (1773), spielt China eine wesentliche Rolle. Aber schon zuvor gab es in der Barock-Dichtung zahlreiche Anspielungen auf China, z. B. bei Opitz; und auch der Simplicissimus von Grimmelshausen, dem ungefähr alles begegnet, was einem Abenteurer des Barock so begegnen kann, gelangt (als Gefangener russischer Tartaren) nach China und von dort über Korea und Japan weiter nach Macao zu den Portugiesen, bis er, von türkischen und muslimischen Seeräubern gefangen genommen, auf die ostindischen Inseln verschleppt wird, wo man ihn schließlich an ägyptische Kaufleute verkauft, die ihn nach Konstantinopel bringen. China bildet hier lediglich einen kleinen Teil seines ostasiatischen Abenteuers. Anders verhält es sich hingegen bei Christian Wilhelm Hagdorns Aeyquan von 1670, dessen Handlung nach China und Persien verlegt wurde. Ein exotisch-orientalisches Bild Chinas zeichnet auch Lohenstein in seinem Arminius aus dem Jahr 1689/90.

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Requisit, zur »Kuriosität«, folgt,27 dann muss es so etwas wie eine ästhetische Konzeption oder Idee geben, die dem Gedicht zugrunde liegt. Damit stellt sich zwangsläufig als Erstes die Frage nach der poetischen Funktion dieser exotischen Klänge und ihrer philosophischen Bezüge.

Weder konfuzianische Staatsphilosophie noch moralische Aufklärung Bevor darauf jedoch eine Antwort gegeben werden kann, wäre zunächst einmal Unzers Versuch literaturgeschichtlich zu situieren, wozu sich ein Vergleich mit Hallers und Wielands Staatsromanen ebenso anbietet wie die Fabeldichtungen Pfeffels, die zu den wenigen Chinoiserien gehören, die in der lyrischen Dichtung dieser Zeit anzutreffen sind (sie sind allerdings erst nach Unzers Gedicht entstanden). Hallers Roman Usong, der Montesquieus Staatslehre aufgreift, in der die Behauptung aufgestellt wird, dass der Despotismus die natürliche Staatsform für tropische Regionen sei, zeichnet das Porträt eines morgenländischen Musterdespoten. Haller ist allerdings der Ansicht, dass ein solcher Despotismus als Staatsform in sich wesentlich erträglicher wäre, wenn diverse Einschränkungen und Ausgleiche in der Staatsverwaltung vorgenommen würden. Um dies zu zeigen, entwirft er die Figur des Usong, eines Nachkommen der Yuan-Dynastie, die einstmals China beherrschte. Usong gerät in chinesische Gefangenschaft (mittlerweile regieren die Ming) und wird dort, nachdem er die Tochter des Königs vor dem Ertrinken gerettet hat und sich dann als Belohnung dafür Unterweisung in Gesetzen, Gebräuchen und Wissenschaften erbittet, zum Musterschüler konfuzianischer Bildung und Tugenden. Bei seiner Reise ins Abendland, die ihn über das despotische Ägypten schließlich ins aristokratisch-republikanische Venedig führt, vergleicht er das chinesische Staatswesen mit den anderen Staatsformen und gelangt so zu einer west-östlichen Synthese. Auf dem verwaisten Thron des Perserreiches kann Usong dann als Regent das erworbene Wissen in die Tat umsetzen. Ein Jahr nach dem Erscheinen von Hallers Usong veröffentlichte Wieland seinen Staatsroman Der goldene Spiegel oder die Könige von Scheschian, den er ebenso allgemein, also scheinbar unverbindlich, wie dennoch dezidiert an die Fürsten richtete,28 um ihnen einen »Auszug des Nützlichsten« vorzulegen, »was 27 Vgl. zum China-Bild des Barock Tscharner: China in der deutschen Dichtung, S. 45. 28 In der Fortsetzung der Geschichte von Scheschian, die 1775 mit dem Titel Die Geschichte des weisen Danischmed und der drei Kalender erschien, werden viele der radikalen Standpunkte zurückgenommen. Für die Ausgabe letzter Hand (1794) verfasste Wieland noch ein Schlusskapitel, das vom Untergang des Reiches als Folge eines revolutionären Aufruhrs berichtet.

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die Großen und Edlen einer gesitteten Nation aus der Geschichte der Menschheit zu lernen haben«.29 Wieland bietet einen Abriss der Geschichte von Scheschian und zeigt am Beispiel der Herrscher und ihrer Staatsführung deren Mängel und Irrtümer auf. Der Zweck dieses Fürstenspiegels bestand für ihn in erster Linie jedoch darin, die eigene Hoffähigkeit unter Beweis zu stellen. Was Hallers und Wielands Romane miteinander verbindet, ist ihr Verweis auf die konfuzianische Staats- und Morallehre: Chinesische Bildung und Philosophie wird bei beiden durchgehend mit dem Konfuzianismus gleichgesetzt. Neben Haller und Wieland, die an das China, wie sie es aus den Briefen und Berichten der jesuitischen Missionare, den Lettres édifiantes (1702–1776) 30 sowie aus Du Haldes Description (1736) kannten, einen staatsphilosophischen Diskurs anschließen, finden sich auch in den Gedichten Gottlieb Konrad Pfeffels verschiedentlich Bezüge zu diesem Land. Pfeffel legte als Vertreter der Aufklärung vor allem Wert auf die moralische Wirkung seiner Dichtung und verfasste seine Poetischen Versuche mit dem Ziel, das sittliche Gefühl seiner Leser »zu läutern und zu erhöhen«.31 Deshalb kleidete er seine Fabeln, Epigramme und Gedichte mitunter in ein orientalisches Gewand,32 um »in der doppelten Verhüllung« (er lässt in seinen Fabeln Tiere sprechen oder verlegt die Handlung in ein fernes Land) seine Absichten »treffsicherer darzulegen«.33 Die Strategie, die er dabei verfolgt, führt die Fabel von »Tien und Xanghti«34 mehr als deutlich vor Augen: Tien hielt auf seinem Sonnenthrone Mit Xangthi, seinem himmlischen Bezier [= Wesir], Ein trauliches Gespräch vom stolzen Erdensohne. In Wahrheit, sprach der Gott, es ist ein armes Thier; Der Irrthum hüllt sein Aug in einen dichten Schleyer, Und Seklen [= Säkula] machen ihn nicht besser und nicht freyer. Die Bonzen, Herr, allein sind Schuld daran, 29 Aus einem Brief Wielands an Sophie Laroche, zit. n. Tscharner: China in der deutschen Dichtung, S. 59. 30 Eine deutsche Übersetzung einer Reihe der Briefe erschien unter dem Titel: Allerhand so Lehr- als Geistreiche Brief, Schrifften und Reis-Beschreibungen, […] von denen Missionariis der Gesellschafft Jesu aus beyden Indien und andern über Meer gelegenen Ländern seit An. 1642 biß aus das Jahr 1726 […] (3 Bde., Augsburg: Veith 1726). 31 Edgar Guhde: Gottlieb Konrad Pfeffel. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Elsass, Winterthur: Keller 1964, S. 100. 32 Zu nennen sind vor allem »Der Drache«, »Kiefuen« und »Holien« aus dem Zweiten Theil, »Das Gift« aus dem Dritten Theil und »Tien und Xangthi« aus dem Vierten Theil von Pfeffels Poetischen Versuchen (10 Bde., Tübingen: Cotta 1789–1810). Für das Gedicht »Kiefuen« gibt Pfeffel im chronologischen Verzeichnis der Texte das Entstehungsjahr 1779 an, für »Holien« 1778, für »Tien und Xangthi« 1792. In diesen Kontext gehören auch »Mutter und Tochter« von 1799 und »Die Brüder« von 1804. 33 Aurich: China im Spiegel der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, S. 114. 34 Mit den beiden Ausdrücken sind der Himmel (tian) und der Gottkaiser (shangdi) gemeint.

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Versetzte der Bezier, sie blenden seine Sinnen, Sie zeichnen ihm des Irrthums krumme Bahn, Vertilge sie, so wird der Dunst zerrinnen. Du stehest, sprach der Gott, in einem falschen Wahn: Der Mensch wär auch alsdann ein Spiel der Lügen; Sein Geist will stets auf fremden Stützen ruhn, Und wenn die Bonzen ihn nicht mehr betrügen, So werden es Sophisten thun.35

Philosophisch-religiöse Begriffe aus China werden hier genutzt, um einen moralischen Sachverhalt zu umreißen. Anschließend werden sie auf den historischen Kontext des abendländischen Denkens (die Sophisten) zurück übertragen. Auch Pfeffel macht also gewissermaßen einen Umweg über China und geht damit in etwa so vor, wie es heute François Jullien in seinen kulturkomparatistischen Studien nahelegt. Bei Pfeffel aber gleicht dieser Umweg einer »krumme[n] Bahn«, die vom »falschen Wahn« zurück zur christlichen Moral und Wahrheit führt, wie es im Gedicht heißt. Unzer hingegen, bis zu seinem Tod ein religiöser wie ästhetischer Freigeist, geht es nicht um die Moral, sondern um das ästhetische Urteilsvermögen. Die Bezeichnungen ›Nänie‹ und ›Elegie‹ verweisen zunächst auf den abendländischen Gefühls- und Empfindungsraum, der bei ihm dann jedoch sprachlich auf einzigartige Weise gefüllt wird. Angereichert mit chinesischen Klängen und Sinnsprüchen, ist das Gedicht eine wohl kalkulierte, auf die sentimentale Wirkung hin ausgerichtete Totenklage: Vou-ti betrauert seine jung verstorbene Geliebte Tsin-na, wobei er sich auf das Buch der Wandlungen (Yijing) sowie auf verschiedene philosophische Begriffe und Sprichwörter bezieht, die, wie schon gesagt, zum Teil in chinesischer Sprache wiedergegeben werden (wie z. B. »Se se ju se seng« und »Seng yo tchang«, was in der Fußnote als »Arznei des ewigen Lebens« erklärt wird),36 zum Teil aber auch direkt ins Deutsche übersetzt sind wie die Redewendung »Mein scharfgespanntes Herz«.37 Eine besondere Rolle spielt dabei der daoistische Gelehrte Li chao kiun,38 der einer Legende nach die Gestalt der verstorbenen Tsin-na mit Hilfe eines Zaubertranks wiederauferstehen ließ, worauf der Kaiser Vou ti der daoistischen Magie und dem Glauben an den legendären Unsterblichkeitstrank verfiel, jener »Arznei des ewigen Lebens«, »tchang seng yo«. Einen Hinweis auf diese Legende gibt es in der Ausführlichen 35 36 37 38

Gottlieb Conrad Pfeffel: Poetische Versuche. Vierter Theil, Tübingen: Cotta 1803, S. 144. Unzer: Vou-ti bey Tsin-nas Grabe. Eine Elegie im chinesischen Geschmack, S. 58. Ebd., S. 65. Hier in der von Du Halde verwendeten Umschrift, die auch Unzer übernimmt; vgl. Johann Baptista Du Halde: Ausführliche Beschreibung des Chinesischen Reichs und der grossen Tartarey. Aus dem Französischen mit Fleiß übersetzet, nebst vielen Kupfern, 4 Theile, Rostock: Koppe 1747–1756, III. Theil (1749), S. 28.

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Beschreibung des Chinesischen Reichs von Du Halde, wo u. a. die chinesischen Kaiser in chronologischer Reihenfolge in Hinblick auf ihre Regierungstätigkeiten und Reformen geschildert werden. Kaiser Wudi (d.i. Vou-ti) wird insbesondere wegen seiner Förderung der Künste und Wissenschaften gerühmt. Doch dann heißt es weiter: Diese schönen Eigenschaften des Kaysers wurden durch die Schwachheit beflecket, daß er allerley Betrügern Gehör gab, die ihm von einem gewissen ausserordentlichen Elexir vieles vorhersagten, und ihm einen Trank zuzubereiten versprachen, der ihn unsterblich machen solte. Als nun einstens ein solcher Windbeutel den zubereiteten Trank der Unsterblichkeit brachte, denselben auf die Tafel setzte und ihn beschwor denselben zu trinken, und einer seiner Minister sich vergeblich bemühete, ihm solches aus dem Sinne zu reden; so grief dieser Minister endlich dreiste zu, nahm den Becher weg und trunk den zubereiteten Trank selbst aus. Der Kayser, der voller Verzweiflung darüber war, daß ihm die Unsterblichkeit geraubt worden, wolte die äusserste Rache zu diesem Freveler ausüben, der aber lächelnd zum Kayser sagte; Gnädiger Kayser, wenn dieser Trank die Leute unsterblich macht, werden Sie mir denn das Leben nehmen können? Haben Sie aber die Macht mich zu tödten, solte denn der Raub eines nichtswürdigen Dinges hinlänglich seyn, mich zum Tode zu verutheilen? Der Kayser lies sich dadurch besänftigen, lobte die Klugheit seines Ministers, war aber in diesem Fall aufs künftige nicht behutsamer als vorher.39

Und noch ein weiteres Motiv verdankt Unzers Gedicht Du Halde, denn in dessen Werk wird anschließend berichtet, wie bald darauf »sich ein Zauberer am Hofe melden [ließ], der durch Gaukeleyen den Kayser sehr aufmerksam machte«: Er machte sich anheischig ihm eine von seinen Gemahlinnen vom zweyten Rang, die bereits verstorben war, und die der Kayser zärtlich geliebt hatte, so oft zu zeigen, als er sie sehen wolte. Sie wohnet, sagte er, im Mond, wo sie lebet, munter und gesund ist, weil sie von dem Trank der Unsterblichkeit getrunken hat. Er lies einen sehr hohen Turm aufbauen, wo selbst er, vermöge seiner Kraft über die Geister, sie selbst so oft herab bringen wolle, als es der Kayser verlange.40

Erst der herannahende Tod öffnet dem Kaiser die Augen und lässt ihn Abstand gewinnen zu den Zaubereien dieser »schädlichen Secte«.41 Unzers Darstellung des Daoismus, die bislang in der Forschung, abgesehen von Willy Richard Berger, der das Gedicht immerhin als einen Wendepunkt in der China-Rezeption würdigt, nicht näher untersucht worden ist, verdient besondere Aufmerksamkeit. »In einem unscheinbaren Detail«, schreibt Berger mit Blick auf den magischen Trank, der dem Kaiser die Verstorbene wiedererscheinen lässt, »kündigt sich hier eine Wende in der europäischen Rezeption der asiatischen Welt an, die mit der geistesgeschichtlichen Wende von Aufklärung 39 Ebd., I. Theil, S. 322. 40 Ebd. 41 Ebd., III. Theil, S. 28.

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und Klassizismus zu Empfindsamkeit und Romantik parallel läuft«,42 wozu angemerkt werden muss, dass es dann im 19. Jahrhundert nicht mehr der Konfuzianismus war, sondern vor allem der Buddhismus und Daoismus, die ins Zentrum des europäischen Interesses rückten, womit Berger auch die Verschiebung des europäischen Blickes in Richtung Indien zu erklären vermag. Inhaltlich hat Unzer also unbestreitbar etwas gänzlich Neues gewagt, doch wie verhält es sich mit dessen ästhetischer Umsetzung? Erwähnenswert scheinen mir in diesem Zusammenhang vor allem folgende vier Gesichtspunkte: An erster Stelle steht dabei die elegische Grundstimmung des Gedichts, die sich dermaßen in den Vordergrund drängt, dass sie selbst Vou-tis Zweifel und seine Absage an die daoistische Magie zu überlagern vermag, jene Erkenntnis eben, dass auch die Arznei des ewigen Lebens nicht imstande ist, dem Kaiser Unsterblichkeit zu verleihen: Wenn dann meine Augen brechen, Wenn ich reif bin für das Grab, Werden meine Freunde sprechen: Diese Blume, die uns Freude gab, Pflücke der Liebe Finger ab. Dann, Tsin-na, ruh’ an deiner Seite Mein abgehärmter Aschenrest, Und über unsern Schlaf verbreite Auf Rosenschwingen sich der West. Dann vereint mein erdenloses Wesen Wiederum mit Tsin-na sich; War ich hier zum Gram erlesen, Dort erwarten hohe Freuden mich.43

Berger sieht in der empfindsam-elegischen Grundstimmung, die das Gedicht durchzieht, einen Nachklang der seinerzeit durchaus geschätzten ›Friedhofspoesie‹ – eine These, die er damit zu untermauern sucht, dass gerade 1771 im Göttinger Musenalmanach ein solches Gedicht veröffentlicht worden war, das Unzer sicherlich gekannt haben wird: Gotters Übersetzung von Thomas Grays »Elegy Written in a Country Churchyard«,44 und in diesem Kontext wären dann 42 Willy Richard Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, Köln/Wien: Böhlau 1990, S. 254. 43 Unzer: Vou-ti bey Tsin-nas Grabe. Eine Elegie im chinesischen Geschmack, S. 65–66. 44 »Elegie auf einem Dorfkirchhofe geschrieben. Nach dem Gray«, in: Göttinger Musenalmanach, Göttingen: Dieterich 1771, S. 125–135. Wichtig in diesem Kontext sind auch Edward Youngs Klagen oder Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit in neun Nächten, die als Fortsetzungsstücke geschrieben wurden und im englischen Original von 1742 bis 1745 erschienen; die ersten vier Nächte wurden nicht lange darauf (1752) in einer zweisprachigen Ausgabe auf Deutsch und Englisch publiziert, eine zweite verbesserte Auflage erschien 1768.

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zusätzlich auch noch Höltys Nachempfindungen »Elegie auf einen Dorfkirchhof« und »Elegie auf einen Stadtkirchhof« (beide ebenfalls 1771) zu nennen. Bezeichnend für dieses eher marginale Genre ist, dass der Trauernde eine ästhetische Lust aus seinen Wehklagen zieht, so dass er sich »in seiner Trauer […] geradezu genüßlich das eigene Ende ausmalt«.45 Überhaupt war die Elegie in den 1770er Jahren eine relativ weit verbreitete Form der lyrischen Dichtung: So findet sich im Göttinger Musenalmanach auf das Jahr 1771 z. B. eine »Nänie auf den Tod einer Wachtel«,46 ein Gedicht, das heute zwar nicht ohne Ironie zu lesen ist, doch das in der Epoche der Empfindsamkeit im sentimentalischen Sinne durchaus ernst gemeint war. Der zweite, und das wäre dann der ästhetische Aspekt, betrifft die Landschaftsdarstellung in Unzers Gedicht. Betrachtet man das Ambiente der letzten Ruhestätte Tsin-nas, dann fällt auf, dass sich hier mehrere Landschaftsbilder gewissermaßen übereinanderschieben. Zuerst ist von einem »reißenden Wasserfall« die Rede, der sich »durch Felsenthäler« schlängelt, dann von »kleine[n] Blumengräber[n]« und schließlich von einer »Wüsteney«, in der es jedoch einen blühenden Hain gibt: Hier, wo der hundertstimmige Schall Vom reissenden Wasserfall Durch Felsenthäler sich windet, Wo der knotichte Baum Seine Zweig’ an die Zypresse bindet, Hier, in diesem öden Raum, Will ich, Tsin-na, deinem Angedenken Trauerblumen und Gesänge schenken. Unterirdischer Bach, Tose dumpf durch meine Klagen! Seufze, Felsenhall, mir nach! Locke mich, mein tiefes Leid zu sagen! Sitzend unter einem Stamm, Den der Rache Blitz zersplittert, Nähr’ ich mich, von Schrecken unerschüttert, Nur mit jenem ewigen Gram, Der, gleich Fluten, über meine Seele kam. In der Ferne schau’ ich nur, Unter halbvermoosten Hütten, Von Bedürfniß, wilden Sitten,

45 Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 255. 46 Göttinger Musenalmanach auf das Jahr 1771, Göttingen: Dieterich 1770, S. 88–91. Der Verfasser der Nänie war Karl Wilhelm Ramler (1725–1798), der auch als der ›deutsche Horaz‹ bezeichnet wurde. Die Tradition solcher ›Nänien‹ geht auf Catull zurück, dessen berühmte »Nänie auf den Tod eines Sperlings« sich Ramler – sie missverstehend – zum Vorbild nahm.

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Und Verzweiflung die betrübte Spur. Ahndungsvolle Vögel singen Mir den trauten Sterbegesang; Aus den offnen Hölen dringen Schauerlüfte mit rauschendem Klang. In sandigter Wüste verbreiten Kleine Blumengräber sich; Schmerz und Zärtlichkeit begleiten Zwischen Gräber mich. Mitten in der Wüsteney Blüht ein Hain von Talg- und Maulbeerbäumen; Mit Akazien ließ ich ihn umzäunen, Daß er meiner Tsin-na heilig sey.47

Wie aber passen diese Bilder zusammen? Die Darstellung in Unzers Gedicht wirkt wie die Bildbeschreibung einer chinesischen Tuschmalerei: Berge, voneinander durch Wolkenschleier getrennt, darunter ein bewaldetes Plateau, ein Bach bahnt sich den Weg durch den Wald und stürzt den Fels hinab ins Tal; abseits davon steht eine Hütte, gegenüber ist eine Felswand mit spärlichem Pflanzenwuchs und knorrigen Bäumen, die sich ins Gestein krallen und den Zugang zu einer Höhle verdecken. Doch dann schiebt sich ein neues Bild vor das innere Auge des Lesers: eine Sandwüste mit einem blühenden Hain. Man wird wohl kaum davon ausgehen können, dass Unzer wirkliche Beispiele der chinesischen Landschaftsmalerei gekannt hat, aber er hat sich doch eingehend mit den ihm aus der Literatur bekannten chinesischen Gärten beschäftigt. 1773 veröffentlichte er eine Abhandlung darüber,48 in der er ein Idealbild dieser Gärten entwirft, deren Kunst darin bestehe, die Bäume, Stauden und andere Gewächse so anzulegen, dass sie wie ein Spiel der Natur erschienen. Sowohl Tscharner als auch Berger sind der Ansicht, das Unzer schon in seiner Nänie (1772) versucht habe, verschiedene dieser Vorstellungen über chinesische Gärten dichterisch umzusetzen.49 Vor allem die Tatsache, dass er den Aspekt des Schaurigen und Schrecklichen, den er in seiner Schrift ausführlich behandelt, mit in sein Gedicht aufnahm (»Schauerlüfte mit rauschendem Klang«), stützt diese Vermutung, und gerade hierin manifestiert sich ein wesentlicher Unterschied zu den zeitgenössischen Vorstellungen der Gartenkunst:50 47 Unzer: Vou-ti bey Tsin-nas Grabe. Eine Elegie im chinesischen Geschmack, S. 62–64. 48 Ludwig August Unzer: Über die chinesischen Gärten. Eine Abhandlung, Lemgo: Meyer 1773. Unzer betont in dieser Schrift insbesondere die gewundenen, schlangenförmigen Linien und Kurven, z. B. bei den chinesischen Brücken, die er als Ausdruck der Lebhaftigkeit und Beweglichkeit des chinesischen Geistes begreift (ebd., S. 30f.). 49 Vgl. Tscharner: China in der deutschen Dichtung, S. 70 und Berger: China-Bild und ChinaMode im Europa der Aufklärung, S. 257. 50 Unzers Quelle für Vorstellungen wie diese ist der Engländer William Chambers, der selbst

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In den Scenen, die zu Hervorbringung eines heftigern Affects, besonders des Schrekkens und der Furcht, bestimmt sind, erblikt man ungestüme Cataracten, finstre Hölen und hängende Felsen, die alle Augenblikke den Einsturz drohen. Die Bäume haben einen schrecklichen Anblik. Einige sind vorgestellt, als wenn sie vom Sturmwinde zerrissen wären. Andre liegen umgestürzt, und hemmen den reissenden Lauf der Ströme, die sie mit sich hinweggeführt zu haben scheinen. Noch andre sehen aus, als wenn der Donnerstral sie gerührt hätte. Die Bäche rauschen über große Felsenstücke daher, und zuweilen sieht man drey bis vier große Wasserfälle, die so dicht gegen einander über stehn, daß sie sich einer in den andern hineinstürzen. Welch ein ungewöhnlicher Anblik! 51

Trotz ihrer starken Affektwirkung bilden die Landschaftsbeschreibungen und die Staffage der chinesischen Gärten nur einen Teil der ästhetischen Darstellung im Gedicht. Von besonderer Bedeutung sind vor allem die sprachlichen Komponenten, und zwar weit über die bloße Zusammenstellung chinesischer Namen, Begriffe und Sprichwörter hinaus, womit wir (nach der elegischen Grundstimmung und den Landschaftsbeschreibungen) beim dritten Punkt unserer Analyse angelangt wären: dem Effekt fremder Klänge. Unzer hat in seiner Elegie die dem Leser vollkommen neuen und ungewohnten chinesischen Töne in deutsche Reime eingebettet, um auf diese Weise das Landschaftsszenarium auf eine ganz spezifische Weise klanglich zu untermalen. Sichtbares und Hörbares gehen bei ihm Hand in Hand bei der Konstruktion einer fernen ästhetischen Welt: Während die gemalten Gärten alle damals bekannten Elemente der chinoisen Gärten in sich versammeln, sorgt die Klangfärbung für die Schaffung einer damit kongruenten chinesischen Atmosphäre, die gleichsam über dem Wasserfall, dem knorrigen Baum und den Felsentälern mit ihren halbvermoosten Hütten schwebt. Unzers Gedicht bedient sich ausgiebig atmosphärischer Mittel, nach dem Geschmack der meisten zeitgenössischen Kunstrichter allerdings zu sehr, wie aus den Rezensionen herauszulesen ist. Schon Jacobi vermerkte in seiner Kritik, die China bereiste und von einem chinesischen Maler namens Lopqua (der Name wird auch in Reiseberichten einer holländischen Gesandtschaft erwähnt und leitet sich vermutlich vom Kantonesischen Lo-kwa her) von den drei Gattungen chinesischer Gärten erfahren hatte: the »pleasing, horrid, and enchanting« (The London Magazine, or, Gentleman’s Monthly Intelligencer, Vol. XXVI (1757), S. 230). Unzer übersetzt die drei Aspekte als »sanfte Schwermut«, »Schrecken und Furcht« sowie »Erstaunen und täuschende Bewunderung« (Unzer: Über die chinesischen Gärten, S. 35–36). Seine Abhandlung steht im Gegensatz zu Hirschfelds Theorie der Gartenkunst (5 Bde., 1779–1785), der die Existenz der von Chambers beschriebenen chinesischen Gärten strikt leugnete und ad absurdum zu führen versuchte (vgl. Christian Cajus Lorenz Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst. Erster Band, Leipzig: Weidmann 1779, S. 94–101). Hirschfelds Anmerkungen über die Landhäuser und die Gartenkunst (Leipzig: Weidmann 1773) in der er die Aussicht und Mannigfaltigkeit der chinesischen Gärten zunächst noch lobend hervorgehoben hatte, erschienen im gleichen Jahr wie Unzers Buch. 51 Unzer: Über die chinesischen Gärten, S. 42–43.

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in Wielands Teutschem Merkur erschien, Unzers Gedicht sei »eine der wunderbarsten Comischen Erscheinungen, die man seit langer Zeit gesehen«52 habe, und noch zweihundert Jahre später war die germanistische Forschung in ihrem ästhetischen Urteil der gleichen Ansicht. So heißt es bei Berger in seiner Studie aus dem Jahr 1990: »Man wird diese makkaronische Poesie kaum sehr geglückt finden, abgesehen davon, daß auch die deutschen Verse des Gedichts nur zu oft die Grenze zum Unfreiwillig-Komischen überschreiten.«53 Es ist eine sonderbare und zugleich einzigartige Stellung, die der junge Unzer mit seinem ungewöhnlichen Gedicht im Umfeld von empfindsamer Lyrik, Bardendichtung, staatspolitischer Aufklärung und dem aufkommenden Sturm und Drang einnimmt. Und dennoch lässt sich seine Elegie keineswegs auf den Begriff einer ›lyrischen Chinoiserie‹ reduzieren. Um das zu verdeutlichen, sei den drei ästhetischen Kriterien (der elegisch-empfindsamen Grundstimmung, der Staffage chinoiser Gärten und der fremden Klangfärbung), die auf der Darstellungsebene des Textes zu beobachten sind und dem Gedicht eine Kohärenz verleihen, als Viertes noch eine vom Dichter offenbar bewusst gewollte Strategie hinzugefügt, die ausgehend von der im Gedicht in Szene gesetzten Begegnung fremder Kulturen verständlich wird. Unzers Gedicht bietet einen poetischen Raum für eine provokative Begegnung nicht nur philosophischer Themen und religiöser Anschauungen verschiedener Kulturen, sondern auch von ästhetischen Formen. Die Nänie bzw. Elegie ist eben keine chinesische Gedichtform, sondern entstammt der griechisch-römischen Antike, wobei gleichzeitig darauf hingewiesen werden muss, dass die chinesische Dichtung zu Unzers Zeit in Europa so gut wie unbekannt war. In diese von ihm bewusst gewählte Form lässt Unzer dann etwas vom ›chinesischen Geist‹ und ästhetischen Geschmack einfließen und hineinklingen, d. h. er benutzt beides gleichsam als einen Rahmen für ein Gemälde ›chinoiser Empfindsamkeit‹. Der Ausgangspunkt für diese Begegnung zweier einander so fremder Kulturen wie auch das beiden Gemeinsame, ist der Trauergesang, während andererseits das Landschaftsszenarium und die Klangfärbung das Trennende bezeichnen. Man kann wohl mit Recht sagen, dass mit Unzers Elegie ein bislang nie gehörter Resonanzraum eröffnet wurde, der, ausgestattet mit chinoisen Landschaften und gefüllt mit Klängen, die dem deutschen Geschmack der damaligen Zeit mehr als befremdlich erscheinen mussten, nur irritieren konnte. Sehr deutlich bringt dies ein Brief Göckingks an Unzer zum Ausdruck, in dem es über die Elegie »Vou-ti« heißt: »[…] soviel ich weiß, ist es das einzige von seiner Art, was wir haben«. Doch dann bekräftigt Göckingk noch einmal seine Vorbehalte gegenüber Unzers poetischem Experiment: »Es ge52 Jacobi: Beurtheilung der Poetischen Blumenlese in dem Göttingischen Musen-Almanach 1773, S. 171. 53 Berger: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung, S. 258.

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braucht erst einer großen Präparation, ehe wir Gedichte im Chinesischen Geschmacke mit Leichtigkeit lesen können. Denn wir müssen erst mit der Geschichte und den Sitten dieses guten Volkes bekannt werden.«54

Die zeitgenössische Kritik und ihr blinder Fleck Unzers Gedicht wurde von der zeitgenössischen Kritik ausnahmslos als Provokation empfunden, wobei deren Reaktion wiederum manches über den damals vorherrschenden deutschen Geschmack verrät, ganz der »Warnung« folgend, wie sie im Göttinger Musenalmanach für das Jahr 1770 zu finden ist: In unsre Sprache mischten wir Latein Und Gallisch auch schon ehemals ein, Und dachten nicht: jetzt denken wir; allein Wird drum der neuen Mischung Schicksal anders seyn? Die Sprache duldet’s nicht! Das fremde Wort Muß wieder fort! 55

Die Fremdartigkeit der philosophischen Sentenzen, die in Unzers Gedicht in ungewöhnlicher Dichte auftreten, die Idealisierung der chinesischen Gartenkunst mit ihren Schnörkeln und Windungen, die Assoziationen von Schauer und selbstverzehrendem Gram, all das sorgte für Aufsehen, doch die einschlägigen Rezensionsorgane reagierten vornehmlich unfreundlich auf die Wehklagen des Chinesen Vou-ti. Besonders deutlich kommt diese ablehnende Haltung im Kommentar jenes ungenannten Rezensenten zum Ausdruck, der im Magazin der deutschen Critik von 1773 zwar näher auf Unzers Gedicht einging, doch dessen scheinbarer Spielerei mit den chinesischen Vorstellungen und Wörtern insgesamt eher ablehnend gegenüberstand. »Es ist schade«, heißt es dort, »daß ein junger Verfasser, der nicht ganz ohne Talente zu seyn scheint, sich der Welt durch eine Broschüre zeigt, in der ich wenig sonderliches sehe, und zu der, welches für ihn vielleicht ein Glück ist, sich auch wenig Leser finden werden.«56 Und weiter:

54 Der Brief vom 18. Oktober 1772 ist vollständig abgedruckt bei: Eduard Jacobs: »Ludwig August Unzer. Dichter und Kunstrichter«, in: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 28 (1895), S. 117–252, hier S. 227. Vgl. auch Tscharner: China in der deutschen Dichtung, S. 74 und S. 90. Anerkennung fand Unzers Elegie lediglich bei Klamer Schmidt, der wie Göckingk zu seinem engeren Freundeskreis gehörte, und dessen Rezension über die Elegie in der Neuen Braunschweigischen Zeitung, Nr. 153 vom 2. Oktober 1772 erschien. 55 Göttinger Musenalmanach für das Jahr 1770, Göttingen: Dieterich 1769, S. 84. 56 Magazin der deutschen Critik, hg. von Gottlob Benedict von Schirach, Bd. 2, Theil 1, 1773, S. 291. Der Rezensent, der mit der Sigle »L.« unterzeichnet hat, ist vermutlich Friedrich Karl Freyherr von der Lühe (1752–1801), Regierungsassessor zu Glückstadt. (Vgl. Johann Georg

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Das Stück, in dem wirklich einige gute Strophen sind, ist durch die Einmischung einer Menge chinesischer Nahmen, Sprichwörter, Bäume und Gottheiten so entstellt, daß es jedem vernünftigen Leser unmöglich seyn würde, alle diese Räthsel aufzulösen, wenn der Verfasser nach seiner weisen Vorsorge nicht die Güte gehabt hätte, eine Menge Noten und Erklärungen hinzuzufügen, die sich gegen den Text, wie 100 gegen 10 verhalten, und wobey mir des seel. Rabeners Noten ohne Text einfielen.57

Gewiss übertreibt hier der Rezensent, um seine Kritik zu akzentuieren. Vor allem aber beklagt er, dass die vielen Anmerkungen zum Text den »Faden der Empfindung«58 und damit den Lesefluss unterbrechen würden. Besonders das ZuViel an Fremdheit und das Übermaß der beigegebenen Fußnoten störten ihn offenbar ganz erheblich, und sein Verweis auf Gottlieb Wilhelm Rabeners Satire Hinkmars von Repkow Noten ohne Text,59 die dergleichen Praxis aufs Korn genommen und einen Text produziert hatte, der quasi nur noch aus Fußnoten besteht, ist ganz in diesem Sinne zu verstehen. Wenn Unzer seinerseits nun den umgekehrten Weg geht und möglichst viel Fremdes in seine Elegie selbst aufnimmt, dann geschieht dies mit dem Ziel, aus den erklärenden Fußnoten zu den exotisch klingenden Namen der Fabelwesen, Gottheiten und zu den Sprichwörtern eine Art Schutzwall zu errichten, um innerhalb dieses in sich geschlossenen Raumes eine genuin chinoise Klanglandschaft zu erzeugen. Diese wirkt dadurch ähnlich entfernt und verschlossen, wie das damalige China selbst, das der europäischen Sicht als eine durch und durch fremde Welt erschien. Unzers derartig ästhetisiertes China zielt jedoch insofern auf den Eindruck, etwas ganz Neues und Anderes zu sein, als es nicht länger eine Chinoiserie ist »mit ihrem chinesischen Schnickschnack auf Teebrettern und Toilettenkästen«, wie Goethe ebenso überheblich wie abwertend geurteilt hatte, sondern weil es in seiner Eigenwilligkeit dem Leser, gemessen an dessen oberflächlichem Verständnis, ein in sich unzugänglicheres und noch ferneres Land suggeriert. Diese Vorstellung von Ferne und Verschlossenheit wird man wohl als den eigentlichen Gegenstand von Unzers Gedicht ansehen dürfen, wobei er zu

Meusel: Nachtrag zu der Dritten Ausgabe des Gelehrten Deutschlands, Lemgo: Meyer 1778, S. 295.) 57 Magazin der deutschen Critik, Bd. 2, Theil 1, S. 291–292. 58 Ebd., S. 293. 59 Im Titel dieser Schrift sind zwei Namen verschmolzen: Hinkmar von Reims (um 810–882), Erzbischof und Historiograph, und Eike von Repgow (auch Repkow, um 1180–1233), dessen Name eng mit dem Sachsenspiegel verbunden ist, der in dieser Zeit als Rechtsbuch wiederentdeckt wurde. Zuerst erschienen in: Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes. 2. Band, 4. Stück, 1745, S. 263–306; wiederholt in der Sammlung satyrischer Schriften in 4 Bdn. (1751–1755), die es in 25 Jahren auf 11 Auflagen brachte, sowie in: Gottlieb Wilhelm Rabener’s Sämtliche Werke, hg. von Ernst Ortlepp. Erster Band, Stuttgart: Scheible 1839, S. 378–431.

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zeigen versucht hat, wie unergründlich die Unzugänglichkeit dieses fremden Landes für seine Zeitgenossen war. Unzer verstand sich aber nicht nur als Dichter. Seine Gedichtsammlung Naivetäten und Einfälle (1773) hatte er wie viele andere Autoren der damaligen Zeit mit umfangreichen ästhetischen Erläuterungen versehen, und seine poetischen Versuche ›im chinesischen Geschmack‹ wurden von der Abhandlung Über die chinesischen Gärten (1773) begleitet. Seine kunstkritische Hauptschrift jedoch, den zunächst anonym veröffentlichten, mit Jakob Mauvillon geführten Briefwechsel Über den Werth einiger Deutschen Dichter,60 hatte Unzer zusammen mit seinem Mentor als ebenso direkten wie provokativen Angriff gegen die herrschende Meinung des Publikums und des ›gelehrten Deutschlands‹ konzipiert. Obgleich die Zeitgenossen über die Anmaßung der beiden noch sehr jungen Kritiker, derart scharf und pointiert über den deutschen Geschmack zu urteilen und dabei allgemein geschätzte literarische Größen wie Gellert zu attackieren, fast ausnahmslos empört waren,61 konnte selbst das in seinen Anfängen eher konservativ orientierte, von Schirach herausgegebene Magazin der deutschen Critik den Verfassern eine gewisse Anerkennung nicht versagen.62 Vor dem Hintergrund dieser großangelegten Kritik erscheinen die poetischen Versuche ›im chinesischen Geschmack‹ nunmehr in einem ganz neuen Licht, was erlaubt, sie als Suche nach einem anderen Geschmack zu lesen, als Suche nach noch unausgeschöpften Möglichkeiten, wie sie Unzer dann in seinem Gedicht innerhalb eines diskursiv streng abgegrenzten und genau fixierten Raumes entfaltet hat. Und wohl genauso verstand Unzer auch seine Beschäftigung mit den chinesischen Gärten, denn am Ende dieser Schrift heißt es, mit unmittelbarem Bezug auf Lessings »Ankündigung« der Hamburgischen Dramaturgie: »Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen einseitigen Geschmack hat.«63 Eine nähere Beschäftigung mit der Manier der Chinesen könnte bei der Bildung des eigenen Geschmacks durchaus hilfreich sein, denn: »[W]ir werden nicht eher zur Vervollkommnung in diesem Stücke gelangen, als bis wir uns die Manier dieser Nation zu eigen gemacht haben«.64 60 Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend, 2 Stücke, Frankfurt und Leipzig [d. i. Lemgo: Meyer] 1771/72. 61 Anders jedoch Goethe in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen von 1772 und der Kommentar Mercks, in: Johann Heinrich Merck: Werke, hg. von Arthur Henkel, Frankfurt a. M.: Insel 1968, S. 542–544. 62 Magazin der deutschen Critik, Bd. 1, Theil 2, 1772, S. 198. Vgl. auch den Artikel »Unzer, Ludwig August« von Eduard Jacobs in: Allgemeine Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 336–343, hier S. 340–341. 63 Unzer: Über die chinesischen Gärten, S. 82. 64 Ebd., S. 81.

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Inszenierungen einer fernen Ästhetik Bei eben dieser Suche nach einem anderen Geschmack spielte vor allem die von Jean-Baptiste Du Halde verfasste Ausführliche Beschreibung des Chinesischen Reichs eine besondere Rolle, die 1736 in Frankreich unter dem Titel Description géographique, politique, et physique de l’empire de la Chine et de la Tartarie chinoise in vier Bänden erschienen war und Unzer als direkte Vorlage diente.65 Du Haldes Ausführliche Beschreibung war – obwohl der Verfasser selbst nie China bereist hatte – für die Europäer bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht nur eine unerschöpfliche Quelle für alle möglichen Informationen und die damit verbundenen Kenntnisse chinesischer Staats- und Kulturgeschichte; sie war darüber hinaus auch das einzige Werk, das den Lesern seiner Zeit erste Einblicke in die chinesische Ästhetik vermittelte. Nachdichtungen chinesischer Lyrik in deutscher Sprache, wie sie später beispielsweise Rückert vornehmen sollte,66 gab es gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht, und man kannte die chinesische Sprache und Dichtung nur aus den Schilderungen jesuitischer Missionare und aus Du Haldes damals maßgeblichem Werk, wo sich an entsprechender Stelle dann auch die von Unzer erwähnten Verweise auf ›Kang‹ und ›Yeou‹ finden. Im dritten Band des französischen Originals heißt es dazu: Venons au moral: ces folles & languissantes passions pour le Sexe, ne viennent-elles pas d’un coeur mol? Si le Sexe avoit de la fermeté, oseroit-on se donner la moindre liberté en sa présence? On n’en approcheroit que comme du feu, auquel on ne se joüe pas impunément. Nôtre Y king, ce don précieux de Fo hi, exalte fort al lettre Kang, c’est-à-dire, ce qui a de la fermeté. Au contraire vôtre Lao tsé ne loüe que le Yeou, c’est-à-dire, ce qui est mol: & par-là il est tout-à-fait opposé à la doctrine de nos Livres Canoniques.67

Der im Zitat erwähnte Fo hi wird von Du Halde als Verfasser des Buchs der Wandlungen (Yijing) ausgegeben, aus dem angeblich auch das Wort ›Kang‹ stammt. Der zweite Terminus ›Yeou‹, der im Gegensatz zur ›Stärke‹ und 65 Vgl. die Rezension im Magazin der deutschen Critik. Unzer übernahm sowohl die Handlung als auch verschiedene damit verbundene religiöse und philosophische Vorstellungen direkt aus Du Halde, vgl. dazu auch Wagner-Dittmar: Goethe und die chinesische Literatur, S. 136. 66 Die lateinische Version des Shijing oder Schi-King, wie es in deutscher Umschrift heißt, des Paters Lacharme erschien erst 1830. Sie wiederum diente Rückert als Vorlage für seine Nachdichtungen (s. das Kapitel zu Rückert). Bei Du Halde selbst gibt es nur einige wenige Gedichtbeispiele aus dem Shijing sowie vier kleine chinesische Novellen. Außerdem findet sich im 3. Band der französischen Ausgabe ein chinesisches Drama, und zwar Zhao shi gu er, dt. Der Waise des Hauses Tschao. Der erste chinesische Roman, den man in Europa kennenlernte, war Hau Kiu Dschuan oder Die Geschichte einer glücklichen Gattenwahl, 1761 von Thomas Percey ins Englische und von Christoph Gottlieb Murr (Haoh Kjöh Tschwen, d.i. die angenehme Geschichte des Haoh Kjöh. Ein chinesischer Roman in vier Büchern, Leipzig: Junius 1766) ins Deutsche übersetzt. 67 Du Halde: Description, Bd. III, S. 58.

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›Standfestigkeit‹ das ›Weiche‹ versinnbildlichen soll,68 ist jedoch nicht dem Buch der Wandlungen entnommen, sondern findet sich bei Laotse, der in seinem Tao Te King (Daodejing) lehrte, dass das Weiche das Harte besiegt (§ 36). Die Passage lautet in der deutschen Übersetzung von Richard Wilhelm: Das heißt die geheime Erleuchtung. Das Weiche siegt über das Harte. Das Schwache siegt über das Starke.69

Tatsächlich gehen jedoch beide Begriffe auf Laotses Tao Te King zurück. Das ›Schwache‹ wird bei ihm durch das Zeichen 弱 wiedergegeben (ruo), wobei das ›r‹ wie [ʐ] ausgesprochen wird, ähnlich wie im französischen Wort bonjour; das ›Starke‹ durch 強 (qiang) – gesprochen etwa: [tchiang], am Anfang stark behaucht [tɕʰ], also ähnlich wie ›Kang‹. Die Erklärung, die Unzer in seiner Fußnote gibt, dass beide ›Figuren‹, wie er sie nennt, dem »Ye-kim«, d. h. dem Buch der Wandlungen (Yijing) entnommen worden seien, ist damit offensichtlich falsch. Was die ästhetische Positionierung der Begriffe und ihre poetische Funktion betrifft, sind diese offenbaren Fehler der Quelle gegenüber jedoch irrelevant, zumal in dem Gedicht selbst etwas höchst Spannendes passiert. Denn indem Unzer die beiden Wörter aus Laotses Tao Te King aufgreift und sie primär klangbezogen thematisiert (»Nicht im starken Laute Kang / Hallet ferner mein Gesang; / Nein! Der weiche Ton Yeou / Fiel mir im Loose des Lebens zu.«70), kehrt er die daoistische Philosophie in ihr Gegenteil um. Sein Gedicht beginnt, zunächst Mitleid erweckend, als »Jammergesang« »in dem weichen Tone Yeou«71 und endet triumphierend mit wiedergewonnener Lebensfreude: Dort sing’ ich im Buchstaben Kang Freudig den Triumphgesang, Und der weiche Ton Yeou Stört nicht ferner meine Ruh! 72

Bei Unzer siegt am Ende das kraftvolle Kang über das schwächliche, wehklagende Yeou. Im Gegensatz zu Brecht, für den vor allem jener Gedanke Laotses von 68 Der deutschen Übersetzung der Ausführlichen Beschreibung ist im ersten Band ein Appendix mit den wichtigsten chinesischen Begriffen angefügt. Dort liest man unter dem Lemma ›Kang‹: »algemeine Benennung dessen, was fest ist; ingleichen der Name eines der 28 Gestirne« (Du Halde: Ausführliche Beschreibung, Bd. I, S. 444) und unter ›Yeou‹: »helfen, beyspringen; in diesem Verstande braucht man dieses Wort nur eine menschliche Hülfe damit anzuzeigen; in der Weltweisheit ist es eine algemeine Bedeutung dessen, was weich ist« (Bd. I, S. 471). 69 Laotse: Tao Te King. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben. Übers. von Richard Wilhelm, Düsseldorf/Köln: Diederichs 1952, S. 38. 70 Unzer: Vou-ti bey Tsin-nas Grabe. Eine Elegie im chinesischen Geschmack, S. 62. 71 Ebd., S. 57. 72 Ebd., S. 66.

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Interesse war, »[d]ass das weiche Wasser in Bewegung / Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt«, woraus er dann den Schluss zog, dass »das Harte unterliegt«,73 fügt Unzer seine daoistische Vorlage in den europäisch-christlichen Diskurs der consolatio ein. Schon die in dem Gedicht dargestellte Situation, von der aus der »Jammergesang« seinen Ausgang nimmt, erinnert an Trostgesänge und Trostschriften (consolationes) der Antike, die mit der Consolatio Philosophiae des Boëthius (entstanden 524) ihren Höhepunkt erreichten. Vor diesem Hintergrund ließe sich Unzers »Vou-ti« geradezu als eine chinesische Consolatio lesen, und auch der Untertitel der Erstveröffentlichung aus dem Jahr 1772 »eine chinesische Nänie« stützt diese Deutung.74 Die einen solchen Trost verheißenden Mittel entsprechen nun ihrerseits wiederum ganz dem chinesischen Geschmack, zumindest so, wie man ihn sich am Ende des 18. Jahrhunderts nach der Lektüre von Du Halde und den Briefen der Missionare vorstellte: Seng yo tchang! Verführerischer Trank! Der kühne Wunsch, Unsterblichkeit zu geben, Ist ewig nur ein Wunsch, sonst würde Tsin-na leben. Li chao kiun, ferner nicht Glaubt mein erhellter Geist dein schmeichelndes Gedicht! Willig werd’ ich erblassen, Denn Tsin-na hat die Welt verlassen, Und wallet itzt – o, wie beneid’ ich sie – Befreit vom Ki, Im Schleyer eines ewigen Li. Gleich dem Kilin oder Fong-hoang Hob sich schnell ihr Geist empor; Furchtlos stellt’ er sich dem Yen-ouang Im Lichte seiner Reinigkeit vor. Ohne den Richter durch Gold zu gewinnen, Sprach ihn dieser von der Macht der Sinnen, Von den Flecken der Erde los, Und der Geist flog auf in Tiens [lies: Ti-ens] Schooß.75

73 Bertolt Brecht: »Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration«, in: Bertolt Brecht: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1967, Band 9, S. 661. Doch spricht hier nicht Laotse selbst, sondern der Knabe, der den Ochsen führt; zu Brechts Laotse-Rezeption s. Heinrich Detering: Bertolt Brecht und Laotse, Göttingen: Wallstein 2008. 74 Nänie (lat. nenia, auch naenia) bezeichnet einen Trauergesang, der bei Leichenzügen im antiken Rom angestimmt wurde. 75 Unzer: Vou-ti bey Tsin-nas Grabe. Eine Elegie im chinesischen Geschmack, S. 58–59.

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Als Tröster erscheint hier eine Gestalt der chinesischen Mythologie: der Wundervogel Fong-hoang, der sich in den Himmel (in deutscher Umschrift tien, in Pinyin tian) erhebt. Unzer bezieht sämtliche Begriffe, Sprichwörter und Namen der Fabelwesen direkt aus den Beschreibungen von Du Halde. Was er als »Seng yo tchang« wiedergibt, heißt bei Du Halde ursprünglich »Tchang seng yo«,76 und wurde von Unzer offensichtlich des Reimes willen umgestellt, ohne zu wissen, dass eine solche Umstellung im Chinesischen grammatikalisch nicht möglich ist. In der Description Du Haldes wird der die vermeintliche Unsterblichkeit verleihende Trank, wie oben bereits erwähnt, tatsächlich im Zusammenhang mit Vou ti (Wudi) genannt (er regierte von 140/141 bis 87 v. Chr.), und ebenso der daoistische Priester Li chao kiun, der hier als Li erscheint. Auf der folgenden Seite der Description ist dann von Chang ti die Rede, was Unzer als Synonym zu Tien, also dem ›Himmel‹ oder ›Gott‹, auffasst. Was sich bei Unzer auf engem Raum verdichtet und zusammendrängt und eher bunt zusammengewürfelt zu sein scheint, als überlegt eingesetzt, ist bei Du Halde ausführlich erklärt, so z. B. wie der daoistische Kult des Chang ti in der Song-Zeit an Einfluss gewonnen und eine Menge von Geisterwesen als Gottheiten etabliert habe. Kilin und Fong hoang ihrerseits sind zwei ganz unterschiedliche Fabelwesen, die jedoch bei Du Halde in einem Atemzug genannt werden: Fong hoang ist ein Vogel, der mit dem Phoenix verglichen wird, während es sich bei Kilin um ein Fantasiegebilde handelt, das sich aus den Körperteilen ganz verschiedener Tiere zusammensetzt.77 76 Du Halde: Description, Bd. II, S. 20. Es setzt sich zusammen aus 長 (chang, dt. ›lang‹, ›ewig‹) und 生 (sheng, dt. ›das Leben‹; heute meistens als 人生 (rensheng), wörtlich ›MenschenLeben‹) sowie 藥 (yao, dt. ›Arznei‹, ›Medizin‹). In der deutschen Übersetzung werden in der Wortliste am Ende des ersten Bandes sowohl »Tchang seng« als auch »Tchang seng yo« aufgeführt. In dem ersten Eintrag findet man folgende Erklärung: »Tchang seng, von denen Chinesischen Priestern gelehrtes, beygebrachtes Geheimniß, sich unsterblich zu machen; Diese Redensart bedeutet in ihrem rechten und eigentlichen Verstande so viel, als die Kunst sich ein gesundes und langes Leben zu verschaffen« (Du Halde: Ausführliche Beschreibung, Bd. I, S. 463). Der Begriff verweist also eher auf ein Ensemble von Selbstpraktiken im Sinne Foucaults. Tatsächlich sind große Teile des zweiten Bandes der deutschen Übersetzung solchen Praktiken gewidmet. Vgl. das Kapitel »Reguln wie ein jeder sein Herz wohl regieren soll« (II, 427ff.). In dem zweiten Eintrag heißt es: »Tchang seng yo, Benennung des vermeintlichen Getränks der Unsterblichkeit der Secte, Lehre derer Tao ssee.« (I, S. 463) Sehr ausführlich wird Tchang seng als lebensverlängerndes Heilmittel dann im dritten Band dargestellt (Description, III, S. 631–632; Ausführliche Beschreibung, III, 529–532). 77 »[…] la monnaye sur laquelle le Fong hoang & le Kilin, deux animaux fableux dont les Chinoise racontent cent merveilles. Ce Fong hoang est un oyseau dont nous avons eû souvent occasion de parler. Le Kilin est un animal, selon eux, qui est composé de différentes parties de plusieurs animaux.« (Du Halde: Description, Bd. II, S. 203) Der Vogel wird auch im Band I, S. 273 erwähnt, wo er mit dem Phoenix verglichen wird. Im Kommentar zum ersten Band der deutschen Übersetzung von Du Halde heißt es außerdem: »Ki lin, ein erdichtetes Thier; die Chineser geben vor, es sey vierfüßig, habe eine gute Vorbedeutung, sey aber rar, weil, wie sie sagen, man nur solche unter den glücklichen Regierungen siehet.« (Du Halde: Ausführliche Beschreibung, Bd. I, S. 445.)

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Der Rekurs auf Du Halde zeigt, dass Unzer mythische wie reale Wesen, aber auch historische Ereignisse aus der Han-Zeit bis zur Song-Zeit (dazwischen liegen gut 1000 Jahre!) für seine Zwecke ziemlich frei ausgewählt und nebeneinandergestellt hat. Doch ging es ihm nicht um historische Korrektheit. Was ihn wirklich interessierte, war der poetische Effekt: die ästhetische Resonanz einer in sich hermetisch geschlossenen, fernen Welt. In etwa dem gleichen Maße wie Marco Polos Reisebeschreibungen die Vorstellungen des europäischen Mittelalters über China bestimmt hatten, prägte nun Du Haldes Kompendium das China-Bild der Aufklärungszeit ebenso nachhaltig. Du Haldes Ausführliche Beschreibung entwarf das Bild eines von der Außenwelt abgeschlossenen, in sich ruhenden Chinas, das um so ferner wirkte, je mehr man in seine Kultur einzudringen versuchte, und das in dieser schier unüberwindlichen Distanz den heterotopischen Raum einer Kompensation entstehen ließ. Eine dem entsprechende Funktion von kompensierender Ferne findet man auch bei Unzer, und es scheint ganz so, als ob er diesen Gedanken bei Du Halde herausgelesen und aufgegriffen hätte. Zunächst als Illusionsheterotopie entworfen (der Garten als die kleinste Parzelle der Welt, die als Mikrokosmos diese in ihrer Ganzheit beinhaltet), fungiert Unzers China als eine Art Ausgleich. Der mit Hilfe der Staffage chinoiser Landschaftsgärten skizzierte und durch den exotischen Klang fremder Wörter und Sentenzen auch sprachlich abgesetzte ferne Raum wirkt viel weniger illusorisch, als der Leser anfangs glauben mag; eher verstört er, scheint ungeordnet, wirr und – wie es das Beispiel der zeitgenössischen Rezensenten bezeugt – missraten. Dabei wohnt dem Gedicht jedoch eine affektive Wirkung inne, die bei seelischem Schmerz ebenfalls Trost spendet und neue Lebenskraft zu geben vermag. Diese Kompensationsheterotopie erweist sich damit als ein in sich harmonisches System.78 Unzers poetisches Experiment beruht zum einen auf einem ästhetischen ›Umweg‹, der mit der Suche nach einem ›chinesischen Geschmack‹ eingeschlagen wird, und andererseits auf der mit Bedacht vorgenommenen Konstruktion einer ›fernen Ästhetik‹, die nicht länger unzugänglich bleibt, sondern als Heterotopie Wirkung zeigt – und zwar in einem zweifachen Sinne: als Kompensation, wenn Vou-ti seine Trauer überwindet und das starke Kang ihm neue Lebenskraft gibt, und als Illusion, deren Aufgabe es gerade nicht ist, die herkömmliche Utopie eines locus amoenus zu entwerfen, sondern diesen viel eher in Umkehr des ursprünglichen Gedankens als einen Raum der Enge sichtbar zu machen, in dem das menschliche Leben und das ästhetische Urteilsvermögen eingeschlossen sind, und ihn damit als eine noch viel größere Illusion zu entlarven. 78 Zum Begriff ›Kompensationsheterotopie‹ vgl. Michel Foucault: »Von anderen Räumen«, in: Schriften IV, S. 941.

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Deutsche Verse auf chinesischem Seidenpapier Mit seiner Elegie eröffnet Unzer bewusst ein transkulturelles Resonanzfeld, das erst langsam, d. h. über einen sehr langen Zeitraum hinweg, mit Dichtung angereichert, in Schwingung versetzt werden sollte. In seinen Versuchen in kleinen Gedichten (1772) finden sich aber noch einige weitere Gedichte mit Bezugnahme auf China, die allerdings in der Forschung keine Beachtung gefunden haben. Zu nennen wäre dabei zunächst ein empfindsames Gedicht, das auf eine in seiner Zeit höchst ungewöhnliche Weise die innige Verbundenheit mit einem ihm besonders nahestehenden Dichterfreund beschreibt: An Herrn Secretarius Schmidt in Halberstadt. Auf ein blatt chinesisches papier geschrieben. Dich, zartes blaettgen, weich wie seide, Die meine holde Chloe spinnt, Dich hat weit ueber sand und meere Ein Genius zu mir gebracht, Um meinem sanften Schmidt zu sagen, Daß ihn mein herz empfindend liebt; Zu einem schoeneren geschäfte Warst du in China nicht bestimmt. Dir haette dort ein Mandarine Vielleicht sein siegel aufgedrückt, Wenn nicht die sanfte oberfläche Ein spruch des weisen Fo geziert. Ja was noch mehr ist, *) Kang-hi selber Durch heldenmuth und wiz berühmt, Berühmt durch jene feinen scherze, Die Mezzabarben **) oft gequaelt, Er, Chinens würdigster beherrscher, Er hätte dich vielleicht geküßt, Wenn dich als brief, erweicht von traehnen, Sein lieblingsmaedgen ihm gesandt. Und dennoch schaezz’ ich dich beglükter, Wenn Schmidt dich mit empfindung küßt, Und dann an meine treue liebe, An meine stille sehnsucht denkt. Sanft toenen, gleich den silberglökchen Auf Nankings stralenreichen thurm

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Von buntem porzellan, die lieder, Die seine muntre leyer singt. O eile zu ihm, liebes blättgen, Auf flügeln eines Colibri, Und sag’ ihm, daß mein herz ihn liebet, Den süßen, anmuthsvollen freund. *) Einer der weisesten regenten in China. **) Siehe Viani Reise nach China.79

Der »Secretarius Schmidt« ist der Dichter Klamer Eberhard Karl Schmidt (1746– 1824), der, wie Unzer eine Zeit lang auch, dem Kreis um Gleim nahestand und sich besonders um die Wiederbelebung des deutschsprachigen Sonetts bemühte. 1772 veröffentlichte er zunächst seine Phantasien nach Petrarka’s Manier und nahm dann auch an der Übersetzung der dreibändigen Mémoires pour la vie de Francois Pétrarque des Abbé de Sade teil, die 1764–1767 erschienen waren und deren Übertragung ins Deutsche 1779 abgeschlossen werden konnte.80 In der deutschen Literaturwissenschaft gilt Klamer Schmidt, ansonsten eher vergessen, als einer der »Sonettpionier[e]«81 der 1770er Jahre. In dem Dichterkreis um Gleim war es gang und gäbe, poetisch miteinander in einen ›Dichterdialog‹ zu treten. So richtete zum Beispiel Klamer Schmidt »in einem geschenckten Petrarch«, datiert mit dem 25. Dezember 1770, folgende Verse an Gleim: Werd’ uns Petrarch Amintas; es zu werden Hast du das Herz, hast du den Geist: Nur Laura fehlet, und auf Erden Ist keine, keine reiszt Zu staunender Betrachtung dich empor, Als, die Petrarch verlor. Im Himmel nur, im Himmel suche Das Mädchen, und in diesem Buche! 82

79 Ludwig August Unzer: Versuche in kleinen Gedichten, Halberstadt [Lemgo: Meyer] 1772, S. 6–7. Eine gekürzte Fassung mit veränderter Orthographie und modifiziertem Titel »Fragment eines Gedichts an Herrn Schmid (den Verfasser der frölichen Gedichte in Halberstadt). Auf ein Blatt chinesisch Papier 1770.« erschien mehrere Jahre nach Unzers Tod in der Zeitschrift Olla Potrida. Drittes Stück, Berlin: Weversche Buchhandlung 1781, S. 6. Der im Gedicht erwähnte Carlo Ambrogio Mezzabarba (1685–1741) war päpstlicher Sekretär in Rom, 1718 zum Bischof geweiht und 1719 als päpstlicher Legat nach China entsandt. 80 Jacques-François de Sade: Nachrichten zu dem Leben des Franz Petrarca, Lemgo: Meyer 1774–79. 81 Borgstedt: Topik des Sonetts, S. 390. 82 Klamer Eberhard Karl Schmidt: Phantasien nach Petrarka’s Manier, Halberstadt [Lemgo: Meyer] 1772, S. 110–111.

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Gleim, der Schmidts Brief umgehend beantwortete, wünscht ihm nun seinerseits die Begegnung mit einer Petrarchischen »Laura«, worauf Schmidt den Dialog mit den Zeilen fortsetzt: »Für meinen höchsten Wunsch auf Erden / Den Deutschen ein Petrarch zu werden. / Fehlt Laurens Gegenwart und eine Quelle mir!«83 Es lässt sich vermuten, dass das eingangs zitierte Gedicht Unzers ebenfalls Teil eines solchen poetischen Wechselgesprächs war, das sich auf dem Hintergrund von Petrarcas Biographie entsponnen hatte. Aufschlussreich ist besonders die den Neudruck in der Olla Potrida von 1781 begleitende Datierung auf das Jahr 1770, denn sie legt nahe, dass der Dialog zwischen Unzer und Schmidt in etwa zeitgleich zu dem zwischen Gleim und Schmidt abgelaufen sein dürfte. Ebenso bemerkenswert ist die Form der Anrede, die Unzer in seinem an Schmidt gerichteten Gedicht höchst geschickt konstruiert hat: Direkt angesprochen wird nämlich nicht der Dichterfreund selbst, sondern vielmehr das Blatt Papier, »weich wie Seide«, das aus der Ferne zu ihm gelangt sei.84 Das chinesische Papier wird quasi in den Status des Subjekts erhoben: Es ist gleichzeitig sowohl der Vermittler als auch der Empfänger der Botschaft. Zudem darf nicht übersehen werden, dass dieses seidene Papier insofern ein wichtiges Element im Dichterdialog ist, als es eben nicht nur als dessen materieller Träger fungiert, sondern darüber hinaus eine ganz besondere Inszenierung erlaubt: die einer für diese Zeit schier unermesslichen räumlichen und kulturellen Ferne. Während Unzer dem chinesischen Papier, auf dem er (wenngleich als imaginäres lyrisches Ich im Rahmen der poetischen Inszenierung) seine Verse niederschreibt, besondere Aufmerksamkeit schenkt, fehlt jeglicher Rückbezug auf die charakteristischen Formen der chinesischen Dichtung. Dies ist wohl vor allem damit zu erklären, dass Unzer von Du Halde nur wenig über die chinesischen Gedichtformen erfahren hatte,85 der in seinen relativ kurzen Ausführungen zur Dichtkunst, wie er selbst eingesteht, lediglich eine »sehr oberflächliche Idee«86

83 Ebd., S. 114. Vgl. dazu Borgstedt: Topik des Sonetts, S. 391. 84 Auch sein Wissen über chinesisches Papier bezog Unzer wohl aus den Beschreibungen von Du Halde. Dort werden vor allem folgende Vorteile des chinesischen Papiers hervorgehoben: »Il est certain que le papier Chinois a un avantage sur celui d’Europe, en ce qu’on en fait des feuilles d’une longueur extraordinaire, & que d’ailleurs étant également blanc, il est beaucoup plus doux, & plus uni: le pinceau dont le Chinois se servant pour écrire, ne s’accommoderoit point d’un fond tant foit raboteux, & auroit de la peine à bien finir certains traits délicats.« (Du Halde: Description, Bd. II, S. 289–291) 85 Du Haldes Interesse richtete sich mehr auf das chinesische Theater. In seiner Description de la Chine (III, 417–460) ist das Yuan-Drama Zhao shi gu er, dt. Die Waise aus dem Hause Tschao, abgedruckt, das dann Voltaire in seinem Orphelin de la Chine (1755) bearbeitete und das auch Goethe als Anregung diente; vgl. Woldemar von Biedermann: »Die chinesische Quelle von Goethes Elpenor«, in: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte. N. F. 1 (1888), S. 373– 375. 86 Du Halde: Description, Bd. III, S. 359. Seine Ausführungen zur Dichtung umfassen lediglich

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davon zu geben vermochte. Um zumindest einen ersten Eindruck von dem zu vermitteln, was die chinesische Poesie sei, vergleicht Du Halde die in China etablierten Dichtungsformen mit den in Europa bekannten: Les pieces de vers que les Chinois composent, sont à-peu-près semblables aux Sonnets, aux Rondeaux, aux Madrigaux, & aux Chansons qui sont en usage parmi les Poëtes d’Europe. Leurs vers se mesurent par le nombre des caractères, qui sont autant de mots monosyllabes: ils sont de vers les uns plus grands, & les autres plus petits; c’est-à-dire, de plus ou de moins de mots qu’ils entrelassent, & qui plaisent par la variété de la cadence & de l’harmonie.87

Darüber hinaus wird darauf verwiesen, dass die chinesische Dichtung oft allegorisch sei und die Dichter gern Figuren in einer sehr lebhaften, bewegenden und zugleich pathetischen Art und Weise benutzen würden.88 Zudem gebe es dann auch noch eine besondere Art der Dichtung, die keine Reime verwende, sondern stattdessen Antithesen wie beispielsweise den Gegensatz von Feuer und Wasser.89 Auch wenn Unzer nur wenig von der chinesischen Dichtung gewusst haben wird, so gibt es doch einige beachtenswerte Versuche von ihm, ›nach chinesischem Geschmack‹ zu dichten. Als »Vou-ti bey Tsin-nas Grabe« 1773 mit dem veränderten Untertitel »Eine Elegie im chinesischen Geschmack« im Göttinger Musenalmanach erscheint, findet sich nur einige Seiten weiter noch ein weiteres Gedicht von ihm: das Sonett »Tcheou«. Unzer entlehnt auch hier verschiedene Motive seiner Lektüre Du Haldes, doch gießt er sie erneut in eine europäische Form: Habt ihr nicht, ihr palmenreichen Höhen, Habt ihr meine Siang nicht gesehen? Wandelte, dem Zimmetlüftchen gleich, Nicht ihr kleiner Silberfuß auf euch? Sank sie nicht im Cokosschatten nieder? Tönten nicht dem Tcheou Sehnsuchtslieder? Zwitscherte der Colibri Gesang Nicht in ihrer Zitter Wechselklang?

eine halbe Seite (im Band II nur drei Seiten), wohingegen andere Texte wie die kanonischen Gesetzes- und Geschichtsbücher sehr ausführlich behandelt werden. 87 Ebd. 88 Ebd.: »leurs expressions sont souvent allégorique, & ils sçavent employer à propos les figures qui rendent le stile plus animé & plus pathétique«. 89 Ebd.: »Ils sont une autre espece de Poësie, qui ne consiste point dans la rime, mais dans une espece d’antithese pour le pensees; encore que si la prémiere pensée est sur le Printemps, la seconde fera sur l’Automne; ou si celle-là est sur le feu, celle-ci fera sur l’eau. Cette manière de composer a son art & ses difficultez.«

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Hier, in lichten Pomeranzengründen, Wähnt’ ich, meines Lebens Stern zu finden; O wo bist du, jugendlicher Schein? Welche Grotte, welche Felsenhöle Schließt dich, Abgott meiner trunknen Seele, Neidisch in ihr Zauberdunkel ein? 90

Die Kokospalmen hatten sich, wie bei Tscharner nachzulesen ist, durch Johan Nieuhofs Kupferstiche in die europäischen Chinavorstellungen eingeschlichen und waren seitdem aus ihnen nicht mehr wegzudenken (Abb. 24).91

Abb. 24: Kupferstich von Johan Nieuhof, Gaukler bei einer Aufführung, 1655.

Darüber hinaus finden sich im Sonett verschiedene Anklänge an Unzers vorab zitierte Elegie: die Faszination für chinesische Namen, begleitet von der Erwähnung exotischer Tiere (obwohl der Kolibri nicht gerade zur typisch chinesischen Fauna gehört), weiblicher Schönheitsideale, wie sie aus China bekannt waren (so die gebundenen Füße), chinesischer Kultur, vor allem der Musik, und schließlich 90 Ludwig August Unzer: »Tcheou«, in: ders.: Vou-ti bey Tsin-nas Grabe, eine chinesische Nänie. Anhang, S. 19–20, vgl. auch den Göttinger Musenalmanach auf das Jahr 1773, S. 124. In der späteren Version wurde der Untertitel »Ein chinesisches Sonnet« hinzugefügt, und in Zeile 10 heißt es statt des ursprünglichen »Stern« nun »Reiz«. Inwieweit diese Änderungen im Musenalmanach auf Unzer selbst zurückgehen, muss offen bleiben. Der Titel des Gedichts spielt vermutlich auf die Dynastie der Zhou an. 91 Vgl. Tscharner: China in der deutschen Dichtung, S. 73; ausführlicher siehe Friederike Ulrichs: Johan Nieuhofs Blick auf China (1655–1657). Die Kupferstiche in seinem Chinabuch und ihre Wirkung auf den Verleger Jacob von Meurs, Wiesbaden: Harrassowitz 2003.

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der chinoisen Landschaft, wie wir sie aus der Gartenbeschreibung kennen, mit all ihren Grotten und Felsenhöhlen. Wie in der Elegie »Vou-ti« geht es auch hier um die Suche nach einer verlorenen Liebe bzw. nach der Geliebten, die womöglich gestorben ist, was vor allem das »Zauberdunkel« der Grotte nahelegt. Das Gedicht ist auffallend reich an Sinneseindrücken: Im ersten Quartett wird vor allem der Gesichtssinn angesprochen (»Habt ihr […] gesehen?«) und im zweiten dann das Gehör (»Tönten […] Gesang/Wechselklang«). Die Terzette hingegen eröffnen eine Opposition von Licht (»in lichten Pomeranzengründen […] Stern zu finden«) und jenem Dunkel (Grotte, Felsenhöhle, Zauberdunkel), in dem sich am Ende die Spuren der Geliebten verlieren. Außerdem werden in der ersten Strophe der Geruch (der Zimtduft) und in der dritten Strophe mit der Pomeranze, einer Bitterorange, die ursprünglich aus Südchina stammt, der Geschmackssinn angesprochen. Was jedoch fehlt, ist der Tastsinn, weil dessen Erwähnung der Tradition folgend implizieren würde, dass der Suchende seine Geliebte schließlich auch findet. So endet das Sonett in Hinblick auf die Form weder mit der Aufhebung eines Widerspruchs, noch im Hinblick auf den Inhalt mit einem Sich-Wiederfinden der Liebenden im idyllischen Orangenhain, sondern mit dem bitteren Nachgeschmack einer ergebnislosen Suche, der mit der Anspielung auf die »Pomeranzengründe« und mit dem Bild der die Geliebte einschließenden Grotte suggeriert wird – ganz im Sinne von Unzers SonettTheorie, wonach die ersten beiden Quartette dazu dienen sollten, eine Empfindung zu schildern, während die beiden Terzette »einen beruhigten, gemäßigtern Affekt, oder die Sprache der Application, der Betrachtung« verlangten und »einen gelasseneren Ton, einen ruhigern Gang nehmen, der der Stimmung des Herzens angemessen ist«.92 Nach der Reinigung von den Affekten bleiben am Schluss von Unzers chinesischem Sonett nur der bittere Nachgeschmack der Pomeranze, der Nachduft (»Zimmetlüftchen«) und die nachhallende Melodie, welche die Felsenhöhle durchweht und in Erinnerung übergeht. Und genau das ist die Besonderheit, die Unzers chinesisches Sonett ausmacht: die Verbindung einer auf die Besänftigung des Affekts zielenden Wirkungsästhetik mit genuin chinesischen Elementen einer Ästhetik des Nachgeschmacks. Während das Sonett »Tcheou« vereinzelt in der Forschung noch erwähnt wird (bei Tscharner und Aurich, aber auch bei Wagner-Dittmar und Borgstedt), ist Unzers zweites chinesisches Sonett ihr völlig unbekannt geblieben. Das liegt mit Sicherheit daran, dass stets auf den Göttinger Musenalmanach zurückgegriffen wurde und nicht auf Unzers Einzelpublikation, in der die beiden Gedichte zuerst

92 Ludwig August Unzer: Nachrichten von den älteren erotischen Dichtern der Italiener, Hannover: Helwing 1774, S. 24.

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gemeinsam erschienen sind.93 Der Titel des zweiten Sonetts lautet »Als Saou-kin sang«: Auf gondelreichen Seen fuhr, Geschmückt mit Perlen und Saphiren, Saou-kin [lies: Sa-ou-kin], um die blühende Natur Durch ihren Glanz noch mehr zu zieren. Mit sieben Tönen überspannt, (*) Die Nangkings Glockenspiel beschämen, (**) Lag die Guitarr’ in ihrer sanften Hand, Gemacht um Tiger zu bezähmen. Sie sang; der Betel (***) neigte sich, Es schwiegen alle Grottenlüfte, Und Melodien umbebten mich. Die Lien (****) [lies: Li-en] hauchte süßre Düfte, Und ein verliebter Seufzer schlich Durch die geheimen Felsenklüfte. (*) Die Chineser pflegen auf einer Art von Leier zu spielen, die mit sieben Sayten bezogen ist. (**) Der Porzellanthurm in Nangking, an welchem silberne Glöckchen hangen, ist bekannt. (***) Betel ist ein Baum. (****) Lien ist eine wohlriechende Blume, der die Chineser denselben Werth beylegen, den die Rose für uns besitzt.94

Die vielen Berührungspunkte zwischen den Gedichten sind wohl ein Grund dafür, dass Unzer nur zwei solcher Sonette geschrieben hat, da ansonsten der Effekt des Neuen verlorengegangen wäre. Denn gerade die Neuartigkeit ist bezeichnend für sein Programm, sofern er Gedichte hervorbringt, die, wie Ursula Aurich treffend zur Nänie angemerkt hat, ihre Vorlage selbst geschaffen haben.95 War »Vou-ti«, wie Unzer selbst äußerte, in erster Linie »neu in Absicht des Stoffes«,96 so erweist sich sein außergewöhnliches Experiment eines chinesischen Sonetts als doppelt innovativ: zum einen in Hinblick auf die Re-Etablierung des Sonetts als lyrische Form in der deutschsprachigen Literatur und zum anderen in Hinblick auf den Stoff und die chinesische Ästhetik. Man könnte sagen, dass 93 Eine ausführliche Interpretation dieser beiden Sonette findet sich in meinem Aufsatz »Gedichte ohne Vorlage. Ludwig August Unzers chinesische Sonette«, in: Euphorion 107/4 (2013), S. 421–436. 94 Unzer: Vou-ti bey Tsin-nas Grabe, eine chinesische Nänie. Anhang, S. 21–22. 95 Aurich: China im Spiegel der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, S. 147. 96 Mauvillons Briefwechsel oder Briefe von verschiedenen Gelehrten an den in Herzogl. Braunschweigischen Diensten verstorbenen Obristlieutenant Mauvillon, ges. u. hg. von F. Mauvillon, Deutschland [d.i. Brauschweig: Waysenhausbuchhandlung] 1801, S. 60.

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Unzer gewissermaßen doppelseitig die Grenzen der deutschen Dichtung, die gerade dabei war, sich als eine Nationalliteratur zu konstituieren, öffnen wollte, wobei für ihn zwei sehr unterschiedliche Referenzpunkte wichtig sind: China und Italien. Bei der literaturgeschichtlichen Bewertung von Unzers poetischen Experimenten darf nicht übersehen werden, dass das Sonett zu dieser Zeit in der deutschen Dichtung keineswegs eine fest etablierte Gattung war. Die barocken Sonette von Opitz, Fleming und Gryphius waren längst vergessen, als der Kreis um Gleim sich erneut Petrarca zuwandte und den Versuch unternahm, dem Sonett als Ausdrucksform dichterischer Empfindsamkeit Anerkennung zu verschaffen.97 Hat man nur den deutschen Petrarkismus im Blick, dann mag Unzers Sonett »Tcheou« vielleicht als eine ›Kuriosität‹ erscheinen, doch reicht der Hinweis darauf, dass dieses Sonett im Kontext seiner Abhandlung über die chinesische Gartenkunst geschrieben wurde,98 nicht zur Erklärung seiner Entstehung aus. Denn Unzers poetisches Programm, das 1772 mit »Vou-ti« seinen Anfang genommen hatte, basierte von vornherein auf zwei sehr unterschiedlichen Herkunftslinien, die er eng miteinander zu verbinden suchte – ein Konzept, das in seiner Zeit ohne Beispiel ist – und die er zudem jeweils mit einer Abhandlung auch theoretisch beleuchtete: Während die Schrift Über die chinesischen Gärten (1773) eine Vielfalt stofflichen Materials in Hinblick auf die chinesische Ästhetik liefert, bieten die Nachrichten von den älteren erotischen Dichtern der Italiener (1774) einen Abriss der Formentwicklung des Sonetts, wobei betont wird, dass sich diese lyrische Form besonders gut »zum Ausdruck aller sanften Empfindungen« eigne: »Der gemäßigte Gang des Sonetts stimmt sehr gut mit der zärtlichen Leidenschaft überein, wenn sie zumal so viel Spekulatives besitzt, wie die platonische Liebe der wälschen Dichter.«99 »Es wäre zu wünschen«, heißt es dann in einer Fußnote, »daß wir diese Dichtungsform nicht ganz aus unseren lyrischen Gedichten verbannten, welche ohnehin bey uns sehr sententiös sind.«100 Vor dem Hintergrund dieser beiden Herkunftslinien ließen sich die zwei zitierten Sonette auch als Bestandteil eines bislang in der Forschung unbemerkten Dichterdialogs zwischen Unzer und Schmidt lesen, der sich thematisch entlang 97 Im Jahre 1764 veröffentlichte Gleim seine Petrarchischen Gedichte und Klamer Schmidt publizierte 1772 seine Phantasien nach Petrarkas Manier. 98 Vgl. Borgstedt: Die Topik des Sonetts, S. 390. 99 Unzer: Nachrichten von den älteren erotischen Dichtern der Italiener, S. 9. 100 Ebd., S. 9–10 (Anmerkung). Laut Borgstedt führt Unzers Darstellung erstmals die »neue italianisierende Schreibweise ›Sonett‹ ein« (statt Sonnet) (Borgstedt: Topik des Sonetts, S. 393), die dann auch Gottfried August Bürger 1789 in seinem Sonettzyklus verwenden wird, mit dem er dieser Form lyrischer Dichtung die gewünschte Anerkennung in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts verschaffen sollte.

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dieser Diagonalen, d. h. des ›chinesischen Geschmacks‹ und des ›Sonetts nach Petrarcas Manier‹ entfaltet. Zudem spricht ein ebenso winziges, wie dennoch sehr wichtiges Indiz dafür, dass es tatsächlich einen solchen Dichterdialog zwischen Unzer und Schmidt gegeben hat, der dann, bedingt durch den frühen Tod Unzers, jäh abbrach, denn zwanzig Jahre später nimmt Schmidt das eine Ende des Dialogs wieder auf – wenn auch nur mit einer einzigen Zeile, die hier im Kontext der Strophe wiedergegeben wird: Meine Wehmuth löste sich Endlich auf in süße Thränen, Ueberwältigte das Sehnen Fern nach meinem Unzer mich! 101

Bemerkenswert daran ist, dass zusammen mit dem Namen Unzer das Motiv der Ferne wiederaufgegriffen wird, das dieser bereits in seinem Schmidt dedizierten Gedicht hatte anklingen lassen. Allerdings wird hier aus der ehemals räumlichen Distanz eine spirituelle Ferne zwischen der Welt der Lebenden und derjenigen der Toten. Der Kommentar, den Schmidt zu dieser Zeile gibt, ist unverhältnismäßig lang und überaus aufschlussreich: Ludwig August Unzer, ein Jüngling von den glücklichsten Geistesanlagen, der erste und vertrauteste Freund meiner Jugend, ist schon weit über zwanzig Jahre todt. Nur von Wenigen gekannt und geschätzt (Diez, Benzler, Göckingk waren darunter), noch voll von den lebhaftesten Entwürfen für Philosophie und Dichtkunst, die nun leider alle unerfüllt bleiben mußten, ward er im Jahr 1774 zu Altenburg ein Opfer der Auszehrung. Mit Mauvillon wagte er schon sehr früh gegen das klassische Ansehn einiger ältern Dichter Zweifel, die bescheidener und gedrängter aufgestellt, wenn nicht Beifall, doch Schonung würden gefunden haben. So aber ward das Buch von Kunstrichtern, die er ohne dies durch die Devisen auf deutsche Gelehrte, Dichter und Künstler zu arg beleidigt hatte, gemißhandelt; und nun ist’s vergessen. Ein fast gleiches Schicksal haben seine kleinen Gedichte gehabt, die wahrlich nicht ohne poetisches Verdienst sind. Eine Auswahl von wenigen Bogen daraus, sein Leben voran, nun endlich gegeben, da das Unwetter gegen ihn ausgestürmt hat, würde selbst Kennern nicht unwillkommen sein. Ein anderes Todten-opfer hätte Er selbst nicht verlangt, der den Tod in so mildem Lichte sah, und noch wenige Zeit vor dem entscheidenden Schritte mir schreiben konnte: »Nicht wenig harte Fäden spann die Parze in meinen Lebenslauf. Sie krank, unser Göckingk krank, mein Oheim sterbend, und ich selbst eine baufällige Hütte, die jeden Augenblick dem Einsturz droht. In der That, grausam! – Und doch bin ich so ruhig, so ruhig! – Spotten Sie, bester S., ja nicht ferner der Philosophie!« Und in einem seiner letzten Briefe: »Daß Sie triumphieren, ist schön. Nur hüten Sie sich vor Youngs Manier. Bleiben Sie ganz dem Petrarch getreu, und schildern Sie sanft, aber nicht fürchterlich den Triumph 101 Klamer Eberhard Karl Schmidt: Leben und auserlesene Werke, hg. von dessen Sohne Wilhelm Werner Johann Schmidt und Schwiegersohne Friedrich Lautsch, Dritter Band, Stuttgart/Tübingen: Cotta 1828, S. 228.

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des Todes! doch warum eben des Todes? O über die jämmerliche Philosophie, die uns lehrt, beständig an den Tod zu denken! Unsäglich ist der Schaden, den die Todesscribenten aller Zeiten angestiftet haben.«102

Auf seinem Sterbebett, so berichtet der damals 22-jährige Heinrich Friedrich Diez (1751–1817), später preußischer Gesandter in Konstantinopel, in einem Brief an Mauvillon, lehnte Unzer jeden christlichen Zuspruch durch das Wort der Heiligen Schrift ab und verzichtete auf die letzte Kommunion.103

Fehlendes Verständnis und mangelnde Resonanz Unzer verfolgte das Ziel, den chinesischen Geschmack – ganz unter dem Eindruck der Beschreibungen du Haldes – nachzubilden und ihn in die deutsche Dichtung einfließen zu lassen, um dieser damit neue, bislang unbeschrittene Wege zu bahnen und ihr, vergleichbar der Skalden- und Bardendichtung, bislang nicht gehörte Dimensionen zu eröffnen, verbunden in diesem Falle mit dem Diktum, dass man nicht eher zur Vollkommenheit des eigenen Geschmacks kommen werde, »als bis wir uns die Manier dieser Nation [der Chinesen] zu eigen gemacht haben«.104 Diesen Gedanken hatte er auch der Abfassung seiner Elegie »im chinesischen Geschmack« zugrunde gelegt, was ihm bei den Kunstrichtern und Lesern seiner Zeit – wie auch später noch – nichts als Miss- und Unverständnis eintrug. Wieland z. B. hielt die Elegie für »chinesischen Unsinn« und für eine »Mißgeburt der Nachahmungssucht«.105 Den zeitgenössischen Kunstrichtern erschien Unzers Elegie im chinesischen Geschmack als eine rein äußerliche Nachahmung, die es nicht vermochte, den ›Geist‹ der Chinesen so zu treffen, wie die deutschen Kunstrichter ihn sich vorstellten, und dementsprechend heißt es dann bei Johann Georg Jacobi über Unzers Gedicht: »Dieser Geschmack besteht

102 Ebd., S. 239. Vgl. dazu Gotthold Ephraim Lessing: Wie die Alten den Tod gebildet. Eine Untersuchung, Berlin: Voß 1769 und die zeitgenössische Diskussion darüber. Lessing stellt in dieser Abhandlung die These auf, dass bei den antiken Künstlern der Tod nie als alter Mann, sondern vielmehr als schöner Jüngling erscheine, der eine Fackel umdreht, die dadurch erlischt. Der ›Triumph des Todes‹ hingegen ist eine rein christliche Vorstellung. 103 Brief von Diez an Mauvillon vom 3. März 1774, in: Mauvillons Briefwechsel, S. 101. Vgl. dazu den Artikel »Unzer, Ludwig August« von Eduard Jacobs in: Allgemeine Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 39 (1895), S. 336–343, hier S. 338–339. 104 Unzer: Über die chinesischen Gärten, S. 81. 105 Wieland in einem Brief an Boie, zit. n. Hans Grantzow: Geschichte des Göttinger und des Vossischen Musenalmanachs, Diss. Berlin 1908, S. 44.

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in Chinesischen Sprüchwörtern, Redensarten, Gottheiten, Fabeln, Bäumen, Vögeln u.s.w.; nicht im eigenthümlichen Geiste dieser Nation.«106 Derartige Voreingenommenheiten und Besserwissereien waren bezeichnend für die zeitgenössische Diskussion über die englisch-chinoisen Gärten. Sich vor allem auf den Briten William Chambers beziehend, hatte Hirschfeld zunächst ausführlich dessen Ansichten über die Vorzüglichkeit der chinesischen Gärten dargelegt, um dann aber vehement zu bestreiten, dass es solche Gärten in China überhaupt geben könne, da sie in keinerlei Einklang mit dem chinesischen Charakter stünden. In dem Kapitel »Gründe gegen die Wirklichkeit der chinesischen Gärten, wie sie Chambers beschreibt« erklärt er, wie er zunächst »von so vielen reizenden Scenen entzückt [gewesen sei]«, und dass er »vergaß bey dieser Bewegung nachzudenken, ob sich auch alles wirklich so verhalten möchte«.107 »Bey einer nähern Vergleichung verschiedener Schriftsteller, die von China handeln«, seien aber Bedenken in ihm aufgekommen, die ihn »noch mehr an dem Daseyn solcher Gärten zweifeln mach[t]en, wie sie Chambers beschreibt«: Sei es doch so, dass es zum einen ja in China viele Wüsten und dazu große Hungersnöte gäbe, weshalb man dort kaum Zeit und Ruhe zur Anlegung »ländlicher Lustplätze« haben dürfte. Zum anderen sei bekannt, »daß die Chineser wenig Liebe zum Landbau besitzen, die überdieß mit dem heißen Wuchergeist, einer fast allgemeinen Seuche der Nation, nicht vereinbar ist«.108 Den Briefen des Jesuitenpaters Le Comte konnte Hirschfeld überdies entnehmen, dass die Chinesen in ihren Gärten »noch nachläßiger« seien als in ihren Wohnungen: »[S]ie haben in diesem Punkt Begriffe, die von den unsrigen sehr verschieden sind. Regelmäßige Plätze anzulegen, Blumen zu pflanzen, Alleen und Hecken zu ziehen, würden sie für widersinnig halten.«109 Hirschfelds Kommentare zur chinesischen Kunst sind höchst aufschlussreich und geben eine offenbar zu dieser Zeit sehr gängige Vorstellung vom ›Charakter‹ der Chinesen wieder: Es ist ausgemacht, daß keine der schönen Künste bey den Chinesern zur Vollkommenheit emporgestiegen ist. Von der Perfectio haben sie nicht den geringsten Begriff. In der Malerey klecken sie Landschaften, worin weder Sehepunkt noch Ferne ist. Die dem Gesicht sich entfernenden Linien sind ihnen eben so unbekannt, als der Punkt, worin sie sich vereinen müssen, indem sie nicht die geringste Kenntniß von den Regeln haben, denen die Wirkungen des Lichts unterworfen sind. Mit den Gegenstellungen oder den großen Massen von Schatten sind sie, wie man leicht hinzudenken kann, ebenfalls ganz unbekannt. Sie wissen nichts von der Kunst, die Farben zu brechen und zu versetzen. Sie 106 Jacobi: Beurtheilung der Poetischen Blumenlese in dem Göttingischen Musen-Almanach 1773, S. 172. 107 Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, 1. Bd., S. 95. 108 Ebd. 109 Ebd., S. 101.

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müßten also sehr verlegen seyn, wenn sie den Prospect eines Gartens vorstellen sollten. Ihre Zeichnung ist, wie man weiß, sehr schlecht. Nicht einmal den Blumen, die doch so häufig gemalt werden, verstehen sie die Richtigkeit der Zeichnung zu geben. Ihre wilde Einbildungskraft zieht sie von dem Studium der Natur ab, die eine ruhige und bedächtige Betrachtung erfordert, wozu die Chineser so wenig, als andere morgenländische Völker, aufgelegt sind.110

In welcher Hinsicht also könnte man, wie Unzer es vorgeschlagen hatte, von den Chinesen lernen,111 ging doch Hirschfeld sogar so weit zu behaupten, dass die Beschreibungen der chinesischen Gärten in Wahrheit nichts anderem als der ebenso lebhaften wie geistreichen Einbildungskraft von Chambers entsprungen seien: Er [Chambers] glaubte, daß diese Ideen mehr Aufmerksamkeit erregen, mehr Aufnahme finden müssten, wenn sie einer entfernten Nation untergeschoben würden, die schon eine wirkliche Anwendung davon gemacht hätte. Er hatte Klugheit genug, unter diese Ideen Zusätze zu mischen, die dem Nationalgeist der Chineser eigen sind. Kurz, er pflanzte brittische Ideen auf chinesischen Boden, um ihnen ein mehr auffallendes Ansehen zu geben, und sie eindringlicher zu machen.112

Mit Bedacht aber hat Unzer gerade Begriffe wie ›Geist‹ und ›Charakter‹ in seiner ästhetischen Aneignung vermieden, womit das Außergewöhnliche seines Versuchs umso deutlicher hervorsticht. Gleichwohl: Die Forderung, sich doch besser auf die eigene Kultur zurückzubesinnen, wird selbst von den engsten Freunden Unzers an ihn herangetragen. In dem oben schon zitierten Brief von Göckingk findet sich diesbezüglich ein bemerkenswerter Nebensatz. Nachdem dieser zunächst durchaus beeindruckt auf die Einzigartigkeit verwiesen hatte, die Unzers Versuch innewohne, äußert er doch gleich darauf unumwunden und eigentlich sogar ablehnend den Wunsch, dass Unzer sein »Genie mehr auf vaterländische Gegenstände«113 wenden möge. Und auch sein Herzensfreund und Weggefährte Mauvillon hat nur Spott für die Nänie übrig, was Unzer nun seinerseits dazu veranlasst, dem guten Freund und Kritiker eine ebenso ironische wie gelassene Absage zu erteilen:

110 Ebd., S. 96. 111 Erst Christian August Semler sollte gut 30 Jahre später in einer Reihe von Aufsätzen Hirschfelds Einstellung zu den chinesischen Gärten revidieren; vgl. Christian August Semler: »Beiträge zur Geschichte der Gartenkunst. I. William Chambers«, in: Zeitung für die elegante Welt, 10. Jg. (1810), S. 785–788, 793–797; ders: »Beiträge zur Geschichte der Gartenkunst. Das Alter der chinesischen Gärten«, in: Zeitung für die elegante Welt, 11. Jg. (1811), S. 89–93, 101–103; ders.: »Beiträge zur Geschichte der Gartenkunst. Das Alter der chinesischen Gärten«, in: Zeitung für die elegante Welt, 12. Jg. (1812), S. 345–349, 353–357, 365–367. 112 Hirschfeld: Theorie der Gartenkunst, 1. Bd., S. 99. 113 Zit. n. Jacobs: Ludwig August Unzer. Dichter und Kunstrichter, S. 227.

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Ihr Urtheil über meine [N]änie ist das Urtheil vieler Leute, und enthält manches wahre. Aber ich muß doch lächeln, daß man über einen Bogen so gefährliche Gesichter macht, als wenn nun schon der ganze Deutsche Parnaß chinesisch geworden wäre. Habe ich denn einen mächtigen Band in Folioform, oder einen kleinen Versuch geliefert? Habe ich denn schon Nachahmer gezeugt? Und billig sollte man sich doch zuvor mit meiner Native bekannter machen, ehe man dies Stück so decisiv herabsetzte. Uebrigens gebe ich Ihnen mein Wort, daß nichts mehr von der Art erscheinen wird […].114

Die einzige poetische Resonanz, die Unzers Elegie über den trauernden Vou-ti hervorrief, war eine Parodie, die den fremden Klang als Mittel der Komik einsetzte und Unzers progressive Idee in nuce quasi ad absurdum zu führen suchte. Erschienen ist sie in der heute so gut wie völlig vergessenen Zeitschrift Die neue Deutschheit nuniger Zeitverstreichungen (1776), verfasst von Johann Heinrich Christian Meyer (1741–1783) 115 unter dem Titel »Okoo, bey dem Grabe seiner Ölla. Eine Mississageische Nänie«: Wenn an jeden Tierham (1) sie sich zeigt, Loak, (2) wenn sie aus Cahyunghaw (3) steigt, Sieht sie mich um dich zu Ischto (4) weinen, Mich mit meiner Ölla wieder zu vereinen. O! wie war ich Echingowana! (5) Freudig tönte dann das Yo-he-wah (6) Wenn in Ölla mir der Tierham lachte, Wenn sie dann das Cadagcariax (7) mir brachte 114 Mauvillons Briefwechsel, S. 66 (Brief von Unzer am Mauvillon vom 30. 12. 1772). 115 Johann Heinrich Christian Meyer war Lieutenant in dem in Göttingen stehenden ChurHannoverischen Infanterie-Regiment Sachsen-Gotha (vgl. Meusel: Nachtrag zu der Dritten Ausgabe des Gelehrten Deutschlands, S. 322). Sein Name wird in einem Brief Johann Caspar Lavaters (vom 24. August 1774) erwähnt ( Johann Heinrich Merck: Briefwechsel, 5 Bde., hg. von Ulrike Leuscher und Matthias Luserki-Laqui, Göttingen: Wallstein 2007, Bd. 2, S. 488), und aus einer Anmerkung ist zu erfahren, dass Meyer bereits sechs Jahre in Frankreich gedient hatte, ehe er in einem Duell verwundet wurde, was den Verbleib im Dienst unmöglich machte (ebd., S. 489). Meyer hielt dann statistische Vorlesungen in Göttingen und gab eine satirische Zeitschrift in 13 Heften (1776–77) heraus, eben jene Die neue Deutschheit nuniger Zeitverstreichungen, mit boshaften Bemerkungen über zeitgenössische Literaten wie u. a. Wieland und Goethe, gegen die Stürmer und Dränger sowie Persiflagen auf die Empfindsamkeit des Göttinger Hains. Das letzte »Pröbgen« enthält eine recht ungewöhnliche Betrachtung über das deutsche Schauspiel in einem Rückblick aus dem Jahre 2776. Meyer wird außerdem in einem Brief Lichtenbergs vom 28. März 1776 erwähnt (vgl. Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel, hg. von Ulrich Joost und Albrecht Schöne. Bd. I: 1765– 1779, München: Beck 1983, S. 611). Für einen Teil des in dem Gedicht »Okoo…« verwendeten, offensichtlich authentischen Vokabulars lassen sich als Quelle die im Annual Register, hg. von Edmund Burke, abgedruckten »Extracts of some Letters from Sir William Johnson, Bart. to Arthur Lee, M.D.F.R.S. on the Customs, Manners, and Language of the Northern Indians of America«, datiert mit dem 12. November 1772, bestimmen (The Annual Register, or a view of the History, Politics, and Literature, For the Year 1773, 5th edition, London: Dodsley 1803, part II »Characters«, S. 85–88).

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Whoo-whoop-whoop (8) ach möchte der Gesang, Der an Öllas Brust mir schrecklich klang Jetzt ins Ohr des armen Echin (9) schallen, Würd ich, könnt ich gleich nicht singen, doch ihn lallen. Tirhemsaga! (10) kommt zu Esogee, (11) Wenn ich eur Eloha (12) wieder seh, Will ich nicht bey Öllas Grabe sitzen, Nana Ischtohoollo (13) soll mich nicht beschützen. Freudig geh ich, wenn Shi-lu-yo (14) klingt, In den Streit, der mich zu Ölla bringt, Der Pakahle, (15) alle Hirschen (16) heeo, (17) Singen will ich, singen dort mit dir Me-shi-yo (18). Jetzt da Schmerz aus Hagas (19) Augen scheint, Pakahliske (20) und auch Eso (21) weint, Will Okoo sich den Kummer kürzen, Sich, zu dir zu eilen, in Cahyungha (22) stürzen. (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7) (8) (9) (10) (11) (12) (13) (14) (15) (16) (17) (18) (19) (20) (21) (22)

Tierham. Der Morgen. Loak. Die Sonne, wird auch sonst wohl gebraucht das höchste Wesen zu benennen. Cahyunghaw. Der Meerbusen. Ischto. Gott. Echingowana. Ein großer Mann. Yo-he-wa. Ein Triumphlied. Cadagcariax. Speise der Erwachsenen. Whoo-whoop-whoop. Kriegslied der Amerikaner. Echin. Der Mann. Tirhemsaga. Morgenländer; so benennen die Amerikaner alle Europäer. Esogee. Eine große Menge. Eloha. Donner und Blitz; auch Feuer Gewehr der Europäer. Nana Ischtohoolo. Schutzgeist, sie glauben, jeder Mensch habe einen besondern. Schi-lu-yo. Jubelgesang. Pakahle. Blume. Die verschiedene Stämme der Wilden unterscheiden sich durch die Nahmen verschiedner Thiere. heeo. schön. Me-shi-yo. Der Gottesdienstliche Gesang. Haga. Bewohner eines Landes. Pakahliske. Mutter der Pakahle. Eso. Eine Vielheit. Cahyungha. Ein Fluß.116

116 Johann Heinrich Christian Meyer: »Okoo, bey dem Grabe seiner Ölla. Eine Mississageische Nänie«, in: Die neue Deutschheit nuniger Zeitverstreichungen. Viertes Pröbgen, Göttingen: Dieterich 1776, S. 14–16; freundlicher Hinweis von Dr. Bernd Neumann, Kyoto.

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Meyer verlegt seine Parodie unter die »nordamerikanischen Wilden«, denn der Untertitel und das gesamte ›fremde‹ Vokabular spielen unverkennbar auf Nordamerika und auf den Mississippi an. Als Motto setzte der Verfasser seiner Parodie einen Satz von Joseph Addison aus dem Spectator voran: – by that Means, they are not understood, once in a twelwe [sic!] Month.117

Und das ist dann wohl auch die Essenz dessen, was Meyer von Unzers dichterischen China-Exkursionen gehalten haben dürfte. Unzer nimmt die Antwort darauf in seinen Neuen Naivetäten und Einfällen (1773) gewissermaßen schon vorweg und beharrt auf seinem poetischen Programm, wenn er in dem Vierzeiler »In die Lieder der Deutschen«118 schreibt: In der Engel Jubelreyhn Möge Semma’s Octochordon klingen! Unter Tänzen, Scherz und Wein Laßt uns, Freunde, diese Lieder singen! 119

7.

»Entlegener Stil« und nahe Ferne. Ausdrucksformen des Exotismus beim späten Goethe Mit Wasser tuschen wir die Zeichen, Die unsern eignen Chiffren gleichen. Zu deuten nicht. Doch sie gehören Zum Spiel der Welt, uns zu betören. (Hermann Kasack) 120

Goethe und die Chinoiserien des Rokoko Für den jungen Goethe, der der China-Begeisterung des Rokoko mit ihrem affektierten Dekor nur Geringschätzung und Spott entgegenbringen konnte, war dieses ferne Land lange Jahre nichts weiter als eine »exotisch drapierte Variante europäischen Geschmacks«,121 und damit ohne jegliches Interesse. Er verband 117 Ebd., S. 14. 118 Unzer spielt hier auf Karl Wilhelm Ramlers »Lieder der Deutschen mit Melodien« (4 Bde., Berlin: Winter 1767/68, zuerst 1766 in einem Band) an. 119 Ludwig August Unzer: Neue Naivetäten und Einfälle, Göttingen: Dieterich 1773, S. 16. 120 Hermann Kasack: Aus dem chinesischen Bilderbuch, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1955, S. 7 (»Heiterer Sinn«). 121 Wagner-Dittmar: Goethe und die chinesische Literatur, S. 140.

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die Chinoiserie vor allem mit der Mode tändelnder Verspieltheit122 und brachte im Theaterstück Der Triumph der Empfindsamkeit (1778) seine Abneigung gegen den chinesischen Gartenstil mit dessen verschlungenen Wegen, krummen Linien und Grotten allein schon dadurch zum Ausdruck, dass er das Szenarium einfach in die Unterwelt verlagerte. Pluto lässt hier, dem Geschmack der Zeit folgend, einen Garten anlegen, der sich wie eine Parodie auf Unzers Abhandlung über chinesische Gärten liest: Titanen müssen Berge heranschleppen und übereinandersetzen, um auf ihnen einen Aussichtspunkt zu errichten. Von dort aus blickt man dann auf ein Tal mit Grotten, Gräbern, Pagoden und Pavillons. Alles Chinesische wird zusammengehäuft, Banalitäten des Alltags werden verziert und verkleidet, allein um des Effekts willen: Denn, Notabene! in einem Park Muß alles Ideal sein, Und, Salva Venia, jeden Quark Wickeln wir in eine schöne Schal’ ein. So verstecken wir zum Exempel Einen Schweinstall hinter einen Tempel; Und wieder ein Stall, versteht mich schon, Wird geradeswegs ein Pantheon.123

In den Anmerkungen der Weimarer Ausgabe findet sich eine frühere Version mit noch deutlicherem China-Bezug: So wird zum Exempel Ein Kühstall zum chinesischen Tempel.124

Im Prolog zum vierten Akt schildert Askalaphus, der Hofgärtner des Pluto, den für den Empfang von Proserpina gestalteten Garten folgendermaßen: Was ich sagen wollte! Zum vollkommnen Park Wird uns wenig mehr abgehn. Wir haben Tiefen und Höhn, Eine Musterkarte von allem Gesträuche, Krumme Gänge, Wasserfälle, Teiche, Pagoden, Höhlen, Wieschen, Felsen und Klüfte, Eine Menge Reseda und andres Gedüfte, 122 So deutet beispielsweise Wagner-Dittmar die chinesische Dekoration im zweiten Akt der »dramatischen Grille« Der Triumph der Empfindsamkeit, wo ein »Saal im chinesischem Geschmack, der Grund gelb mit bunten Figuren« beschrieben wird, als »Signum des Empfindsamen und des Werthertums« (Wagner-Dittmar: Goethe und die chinesische Literatur, S. 142). 123 FA I, 5, S. 95–96; WA I, 17, S. 37. 124 WA I, 17, S. 343. Vgl. dazu den Beitrag »Eine ältere Gestalt von Goethe’s ›Triumph der Empfindsamkeit‹«, in: Blätter für literarische Unterhaltung, Nr. 24 vom 27. Januar 1849, S. 95–96, hier S. 96.

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Weimutsfichten, Babylonische Weiden, Ruinen, Einsiedler in Löchern, Schäfer im Grünen, Moscheen und Türme mit Kabinetten, Von Moos sehr unbequeme Betten, Obelisken, Labyrinthe, Triumphbögen, Arkaden, Fischerhütten, Pavillons zum Baden, Chinesisch-Gotische Grotten, Kioske, Tings, Maurische Tempel und Monumente, Gräber, ob wir gleich niemand begraben, Man muß es alles zum Ganzen haben.125

Für den Sinologen Tscharner bezeichnet das »Chinesisch-Gotische« in Goethescher Sicht das »naturwidrig Verschrobene, spielerisch Schnörkelhafte, phantastisch, ja krankhaft Wuchernde«.126 Goethes Aversion dem gegenüber drückt sich besonders im Gedicht »Der Chinese in Rom« (1796) aus, das gegen Jean Paul gerichtet ist, dessen schwärmerischer Stil von Goethe mit dem »chinesischen Geschmack« gleichgesetzt wird: Einen Chinesen sah ich in Rom, die gesamten Gebäude Alter und neuerer Zeit schienen ihm lästig und schwer. Ach! so seufzt’ er, die Armen! ich hoffe, sie sollen begreifen, Wie erst Säulchen von Holz tragen des Daches Gezelt, Daß an Latten und Pappen, und Schnitzwerk und bunter Vergoldung Sich des gebildeten Aug’s feinerer Sinn nur erfreut. Siehe, da glaubt’ ich, im Bilde, so manchen Schwärmer zu schauen, Der sein luftig Gespinst mit der soliden Natur Ewigem Teppich vergleicht, den echten reinen Gesunden Krank nennt, daß ja nur er heiße, der Kranke, gesund.127

Hervorzuheben ist, dass Goethes Abneigung sich gegen das ästhetisch Abgeschmackte und überzogen Verspielte des chinesischen Geschmacks richtete, vor allem gegen das, was ihm als dessen »europäische Abart« galt.128 Mit der eigentlichen Kulturgeschichte Chinas hat er sich dagegen schon relativ früh zu beschäftigen begonnen. Eine Tagebuchnotiz (vom 10. Januar 1781) gibt zu der Vermutung Anlass, dass Goethe damals entweder Du Haldes Ausführliche Beschreibung des Chinesischen Reichs oder die Mémoires concernant […] les […] Chinois der Jesuiten zumindest auszugsweise gelesen haben könnte oder einiges daraus aus Rezensionen kannte.129 Sein eigenes China findet Goethe jedoch erst 125 FA I, 5, S. 96; WA I, 17, S. 37–38; vgl. die Lesarten WA I, 17, S. 343: »Ting, genauer t’ing, ist chinesisch und bedeutet Kiosk, Pavillon.« (Stellenkommentar FA I, 5, S. 986.) 126 Vgl. Tscharner: China in der deutschen Dichtung, S. 81. 127 FA I, 2, S. 331; WA I, 2, S. 132. 128 Vgl. Tscharner: China in der deutschen Dichtung, S. 81. 129 Goethe zitiert in dieser Notiz den Namen »Ouen Ouang«, was Anlass zu der Annahme gibt, dass Goethe zumindest Teile der Beschreibungen Du Haldes oder die Mémoires gekannt hat;

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im hohen Alter, »ganz still, ganz für sich selbst,« als ein nunmehr »Uralter, der ein fast magisches Dasein führt«.130 Man wird annehmen dürfen, dass es vermutlich eines großen Abstands zur China-Mode des Rokoko und einer verhältnismäßig langen Zeit der Vertiefung bedurfte, bis seine China-Studien ihm zur eigenen Erfahrung wurden, zu einer Art Spiegel, in dem er sich selbst erkennen konnte, ganz nach dem Motto: Ach in der Ferne zeigt sich alles reiner Was in der Gegenwart uns nur verwirrt.131

Diese Worte, die er Leonore im Tasso sprechen lässt, werfen geradezu ein Schlaglicht auf die Betrachtungsweise, die Goethe bei der Beschäftigung mit der persischen oder chinesischen Dichtung seinem Gegenstand gegenüber einnimmt. Monika Lemmel betont,132 dass Goethe mit seinen Studien den Orient gleichsam »durchwandern« wollte, »insofern es unerläßlich war«, wie er es selbst einmal formulierte, »jene Luft zu athmen«.133 An Knebel schrieb Goethe 1813 mit Bezug auf seine China-Studien: »Ich hatte mir dieses wichtige Land gleichsam aufgehoben und abgesondert, um mich im Fall der Noth, wie es auch jetzt geschehen, dahin zu flüchten. Sich in einem ganz neuen Zustande auch nur in Gedanken zu finden ist sehr heilsam.«134 So wertvoll und förderlich diese Studien auch für ihn gewesen sein mochten, so sollten sie doch erst 1827 in die Dichtung einfließen.135

130 131 132 133 134 135

vgl. auch Erich Jenisch: »Goethe und das ferne Asien«, in: DVjs 1 (1923) 2, S. 309–338, hier S. 330 (gemeint sind die von den Jesuitenmissionaren zusammengestellten Mémoires concernant l’histoire, les sciences, les arts, les moeurs, les usages etc. des Chinois. Par les Missionaires de Pekin, 16 Bde., Paris: Nyon 1776–1814). Vgl. dazu auch Günther Debon: »Goethes Berührungen mit China«, in: Goethe-Jahrbuch 117 (2000), S. 46–55, hier S. 46. Max Kommerell: Gedanken über Gedichte, Frankfurt a. M.: Klostermann, 4. Aufl. 1985, S. 113. Goethe: Torquato Tasso, Vers 2402/2403; FA I, 5, S. 803. Monika Lemmel: »Der Gedichtzyklus ›Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten‹ und sein Ort in Goethes Spätwerk«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 143–166. Goethe: Tag- und Jahreshefte 1815, FA I, 17, S. 260. Goethe an Karl Ludwig von Knebel am 10. 11. 1813; WA IV, 24, S. 28. Bis dahin bewegte sich Goethes Beschäftigung mit China sehr langsam. 1798 las er das Gespräch eines chinesischen Gelehrten mit einem Jesuiten, in dem sich der Chinese als »schaffender Idealist« zeigte, was ihm Goethes Sympathien einbrachte. Er sandte den Text mit einer Empfehlung an Schiller (Briefe vom 3., 6. und 13. Januar 1798), danach las er den chinesischen Roman Hao kiu tschuen, im Herbst 1817 dann das Drama Lau Scheng ör, übersetzt von J. F. Davis als Laou-Seng-Urh, or An Heir in his old Age. A Chinese Drama (London: Murray 1817). August von Kotzebue hat eine Besprechung dieser Übersetzung im Weimarer Literarischen Wochenblatt (1. Band, Weimar: Hoffmanische Hof-Buchhandlung 1818, S. 408 und S. 413–414) abdrucken lassen. Zu Goethes Lektüre von Übersetzungen chinesischer Literatur siehe Wagner-Dittmar: Goethe und die chinesische Literatur, S. 152ff.

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Goethes chinesische Alterslyrik Der Druck der Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten erfolgte im Berliner Musenalmanach für das Jahr 1830.136 Da diese Gedichtzusammenstellung bereits 1827 entstanden war und erst drei Jahre später an einem so »entlegenen Ort« veröffentlicht wurde, hat man sie lange Zeit als eine Art »Nebenwerk« angesehen.137 Erich Trunz zufolge nahm sich dieser Goethesche Zyklus von 14 Kurzgedichten im Musenalmanach »seltsam fremdartig aus«,138 der ansonsten nur mit Gedichten der Spätromantik gefüllt war, von denen sich Goethes Alterslyrik sehr unterschied. Den Reiz der Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten sieht Trunz vor allem in der Einfachheit der Motive: »[S]ie bringen kleine Bilder; und so erblüht in ihnen noch einmal das lyrische Kurzgedicht, diesmal ganz sachgebunden, aber von vollendeter Technik.«139 Darin erkennt Trunz auch ihre spezielle Beziehung zum Chinesischen: »Hier wie dort ein Minimum an Mitteln und ein Maximum an Ausdruck; virtuos, aber ohne Ehrgeiz; streng im Ausscheiden alles Willkürlichen oder Unwesentlichen und zugleich ganz leicht in Zeichnung und Farbe. Lächelnd und zugleich ganz ernst und fromm.«140 Seine Motive bezog Goethe aus den chinesischen Romanen und Novellen, mit denen er sich beschäftigt hatte:141 Mandarine, die sich vom Hofe zurückziehen, 136 FA I, 2, S. 695–699; WA I, 4, S. 110–115 (für die Korrekturen und Lesarten: WA, I, 5.2, S. 77f.); vgl. auch Goethe: Gedichte, hg. und kommentiert von Erich Trunz, München: Beck 1974, S. 387–390 (Text nach HA 1). Im Folgenden wird nach der Frankfurter Ausgabe (Deutscher Klassiker Verlag) zitiert. 137 Vgl. Joachim Wohlleben: »Über Goethes Gedichtzyklus ›Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten‹«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 266–300, hier S. 266. (Der von Moritz Veit herausgegebene Berliner Musenalmanach erlebte tatsächlich nur zwei Jahrgänge.) 138 [Erich Trunz:] »Anmerkungen des Herausgebers«, in: Goethe: Gedichte, S. 714 (= HA 1). 139 Ebd., S. 688. 140 Ebd. 141 Nachgewiesen ist (vgl. Tscharner: China in der deutschen Dichtung, S. 90), dass ihm die englische Übersetzung des chinesischen Versromans Hua dsien gi (Pinyin: hua jian ji, dt. Geschichte vom Blumenpapier; englisch als Chinese Courtship in Verse, übers. von Peter Perring Thoms, Macao: East India Company Press 1824) vorlag. Im Anhang sind unter dem Titel Bai Me Tu Sin Yung (Pinyin: bai mei tu xin yong, dt. Gedichte von hundert schönen Frauen) Verse abgedruckt, von denen Goethe einige übersetzte und in seinen Aufsatz Chinesisches integrierte (vgl. hierzu Johann Wolfgang Goethe: Gedichte 1800–1932, hg. von Karl Eibl, Frankfurt a. M.: Dt. Klassiker Vlg. 1988, S. 1212–1214). Der erste chinesische Roman aber, der europäischen Lesern zugänglich gemacht wurde und den auch Goethe kannte, war Haoh Kjöh Tschwen, d. i. die angenehme Geschichte des Haoh Kjöh. Ein chinesischer Roman in vier Büchern, übers. von Christoph Gottlieb von Murr, Leipzig: Junius 1766 (zuerst ins Englische übersetzt als Hau Kio Choaan or The pleasing History, erschienen in London: Dodsley 1761; in Pinyin: hao qiu zhuan, dt. Die Geschichte einer glücklichen Gattenwahl). Zu Schillers Bearbeitung dieses Romans siehe Ingrid Schuster: Vorbilder und Zerrbilder. China und Japan im Spiegel der deutschen Literatur, Bern u. a.: Lang 1988.

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und Liebende, die sich in Gärten mit Pfauen und Blumen ein Stelldichein geben. Goethe hat diese Vorstellungen vom Epischen ins Lyrische übertragen und ihnen, so Trunz, durch seine besondere Art der Darstellung die »Gegenständlichkeit und Symbolik seines Altersstils«142 verliehen. Wie im Titel angekündigt, mischen sich in den Gedichten sowohl deutsche wie chinesische Motive: so der chinesische Pavillon (Gedicht VI), aber auch Utensilien wie »Pinsel, Farbe und Wein im Grünen« kommen zur Sprache (Gedicht XII), an eine deutsche Landschaft erinnern andererseits die Schafe auf der Wiese (Gedicht III). Die Gartenszenerie wird nur leicht chinesisch koloriert und einige Gedichte verweisen mit dem Motiv der Rose (Gedichte IX–XI), wie Günther Debon bereits herausgestellt hat, eher nach Persien als nach China, was Debon damit zu erklären sucht, dass der Herausgeber des Berliner Musenalmanachs Goethe den gesamten ersten Bogen freigehalten habe, dessen Seiten nun von diesem gefüllt werden mussten. Dies mag darüber hinaus der Grund dafür gewesen sein, dass Goethe den chinesisch-deutschen Gedichten auch drei unter persischem Einfluss stehende hinzufügte.143 In stilistischer Hinsicht hält Debon Goethes Gedichte durchweg für westlich, zumal sie keinerlei »historisch-literarische[] Anspielungen oder Zitate enthalten, während in China gerade sie den Rang eines Dichters ausmachen«.144 Zu fragen wäre nun, inwiefern diese Gedichte Goethes überhaupt als »chinesisch« bezeichnet werden können – vom Mandarin als Identifikationsfigur und vom aufgetragenen Kolorit einmal abgesehen. Was für eine Idee bzw. welche Vorstellungen hatte Goethe vom Chinesischen und wie hat er diese in seinem Gedichtzyklus sprachlich und stilistisch umgesetzt? Bei dem Versuch, darauf eine Antwort geben zu können, wird im Folgenden auf Max Kommerells Überlegungen zu Goethes Gedichten und auf den damit verbundenen Begriff der ›Stimmung‹ Bezug genommen, jedoch mit kritischer Distanz, um jenseits der Motive einen ästhetischen Resonanzraum in Goethes Alterslyrik deutlich werden zu lassen, in dem seine Idee vom Chinesischen Außerdem las Goethe im Mai 1827 den Roman Yü Giau Li, der 1826 als Ju-Kiao-Li, ou Les deux Cousines von Jean-Pierre Abel-Rémusat ins Französische übersetzt worden war (Pinyin: yu jiao li, dt. Jade, Anmut und Birne). Im August desselben Jahres befasste er sich mit den Contes chinoises (zehn Novellen, bekannt als Gin Gu Ki Guan, Pinyin: jiu gu qi guan, dt. Wundersame Geschichten aus alter und neuer Zeit), die ebenfalls von Rémusat übersetzt worden waren, vgl. Aurich: China im Spiegel der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, S. 103, sowie Tscharner: China in der deutschen Dichtung, S. 90. Im März 1827 wurden im Weimarer Journal für Literatur, Kunst und geselliges Leben (No. 26 vom 1. 3. 1827, S. 206) drei Titel chinesischer Literatur angezeigt, und zwar Die Waise von Tchao, Hau-kio-Choaan, oder die wohlgewählte Vereinigung sowie Ju-Kiao-Li. 142 »Anmerkungen des Herausgebers«, in: Goethe: Gedichte, S. 714 (= HA 1). 143 Debon: Goethes Berührungen mit China, S. 50. 144 Ebd.

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greifbarer und verständlicher wird. Zu der Frage, was an Goethes Gedichtzyklus chinesisch sei, meint Kommerell: Vor allem das Talent zum Glück, zum feinen, geistigen Glück, allein oder zu mehreren; die Einsamkeit, deren jede Minute genüßlich, wie ein köstlicher Tee, geschlürft wird; Gesellschaft, die gern trinkt, aber auch trunken noch gern mit den für uns einsamen Geschäften spielt, mit Dichten, Malen, Schreiben, das Schreiben selbst als eine Kunst, und zwar eine sehr geistige; das Engenglück [sic!] der Gärten, der Naturgenuß, der alsbald griechisch-goethisch wird; dann das Vereinzeln eines Naturgebildes, das die ganze Natur vertritt; Nord und Süden als Gegenbegriffe eines mehr staatlichen und mehr geschöpflichen Zustandes; endlich der Hang zur Verniedlichung, zur Miniatur, das sich Entziehen, sich Einspinnen, die vagen Ähnlichkeiten und Nebenbedeutungen, mit denen der Gedanke spielt, und die tiefe Seh-Seligkeit.145

»Chinesisch« an dem Gedichtzyklus wäre vor allem das, was Kommerell »Stimmung«146 nennt. Mit Blick auf Goethes Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten spricht er konkret von »Lebensstimmung«, welche hier die »inneren Momente« der einzelnen Gedichte miteinander verbindet.147 Der Begriff ›Stimmung‹ war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter Literaturwissenschaftlern ein Modewort und ist auch bei Kommerell ein Schlüsselbegriff, den er aus der Zeitlichkeit eines Gedichtes ableitet, genauer gesagt, aus dem Umstand, dass in der Reflexionssituation eines lyrischen Gedichts ein Augenblick aus der Zeit herausgehoben wird, in welchem sich ein Aspekt des Daseins ausdrückt.148 Was Goethes Alterslyrik als solche charakterisiere, sei vor allem, dass die langmütig gehegten Erinnerungen des Dichters auf besondere Weise vergegenwärtigt würden. Der gealterte Dichter mache eine (vielleicht etwas verlegene oder undeutliche) Liebesbeziehung durch Kulissen und spannungsreichen Wechsel gegenwärtig und reizvoll: Ein schon bejahrter Liebhaber schütze sich dadurch, dass »er den Ton der Liebe durch eine scherzende väterliche Güte milder[e]«.149 Damit hängt für Kommerell auch »das Bedürfnis nach Szenerie«150 zusammen, das in Goethes Alterslyrik so sehr ausgeprägt sei. Inhaltlich werden die einzelnen Situationen oder »inneren Momente« der Gedichte durch den Zyklus der Jahreszeiten zusammengehalten. Die Jahreszeitenfolge ist in den Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten leicht auszumachen: Die Gedichte I–V thematisieren den Frühling, die Gedichte VI–VIII den Sommer und die Gedichte IX–XIV den Herbst. Der Winter bleibt jedoch aus-

145 146 147 148 149 150

Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 112. Ebd., S. 19. Ebd., S. 113. Ebd., S. 19. Ebd., S. 103. Ebd.

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gespart, und eine Tageszeitenfolge ist überraschenderweise nicht zu erkennen.151 Doch im Vergleich zu anderen Monatsgedichten wie z. B. »März«, »April«, »Mai«, »Juni«,152 wo die Monate eine feste Verbindung mit Lebens- oder Liebeszuständen eingehen, scheint es hier – ähnlich wie im Gedicht »Frühling übers Jahr«153 – viel mehr um die »gesicherte Idylle«154 eines »Ehefrühlings«155 zu gehen, wie das Gedicht IX verdeutlicht: Nun weiß man erst, was Rosenknospe sei, Jetzt, da die Rosenzeit vorbei; Ein Spätling noch am Stocke glänzt Und ganz allein die Blumenwelt ergänzt.156

Kommerell sieht im Gedicht »Frühling übers Jahr« »eine Art erinnerte Jugendlyrik«, die »von ganz anderem Ton« sei, »als die Lieder wirklicher Verjüngung«,157 zu denen z. B. die Gedichte aus dem Divan gehören. Die Frage wäre hier, wie sich die Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten diesbezüglich einordnen lassen. Handelt es sich um Gedichte »wirklicher Verjüngung« oder in der Tat um nichts weiter als »erinnerte Jugendlyrik«? Oder zeichnen sich die ChinesischDeutschen Jahres- und Tageszeiten nicht doch durch eine andere Strategie und einen anderen Stil aus?

Der »entlegene Stil« als Mittel zur Entrückung der Person Die »Lebensstimmung«, die sich laut Kommerell in den Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten ausspricht, ist mit einem besonderen Kunststil verbunden, den er als »entlegene[n] Stil«158 charakterisiert. Noch weniger als im Divan halte Goethe in diesem Gedichtzyklus »an Kostüm und Stil« fest, »noch luftiger 151 Einen wichtigen Hinweis dazu gibt Burkhardt mit seiner Beobachtung, dass allerdings der Abend sehr wohl Erwähnung finde, und zwar immer dann, wenn eine neue Jahreszeit angekündigt wird (Gedicht V, 2 und VIII); Friedrich Burkhardt: »Goethes ›ChinesischDeutsche Jahres- und Tageszeiten‹. Eine Ergänzung zur Entdeckung des biographischen Hintergrundes durch Wolfgang Preisendanz«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 13 (1969), S. 180–195, hier S. 181. 152 Vgl. FA I, 2, S. 465–469 und FA I, 20, S. 469–472; WA I, 3, 33–37. In der Hamburger Ausgabe ist nur das Gedicht »März« abgedruckt, vgl. HA 1, S. 372. 153 FA I, 2, S. 469–470 und FA I, 20, S. 472–473; WA I, 3, S. 38–39; HA 1, S. 371. 154 Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 109. 155 Vgl. ebd. Dass dies auch für die Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten zutrifft, belegen jene Zeilen aus dem Gedicht X, wo es heißt: »Als Allerschönste bist du anerkannt, / Bist Königin des Blumenreichs genannt« (FA, I, 2, S. 698; HA 1, S. 389; WA, I, 4, S. 114). 156 FA, I, 2, S. 698; WA, I, 4, S. 114; HA 1, S. 389. 157 Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 110. 158 Ebd., S. 113.

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behandel[e] er den Exotismus«.159 Alles in den Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten erscheine dadurch »kostbar, fern, spöttisch«.160 Den entlegenen Stil begreift Kommerell »als ein Mittel zur Entrückung der Person«161 – als ihre Entrückung in einen imaginären Osten: Wohin mein Auge spähend brach, Dort ewig bleibt mein Osten.162

Diese »Entrückung« ließe sich aber auch mit jener »selbstverliebte[n] Abgezogenheit«163 in Einklang bringen, womit der Rückzug von den Verpflichtungen des Hofes in die Natur des Blumengartens gemeint ist, der Genuss eines »eingeübten Schauens«,164 das hier nur wenig durch Leidenschaft unterbrochen wird. Zugleich äußert sich darin ein Abrücken des Dichters von seinen früheren Positionen China und der Rokokokultur gegenüber. Das Aufbrechen alter Vorurteile geht bei Goethe also mit einem, wenn auch verspäteten, Aufbruch in den fernen Osten einher, wie der bereits erwähnte Brief an Knebel bezeugt. Die entrückte Person ist ohne Zweifel der Dichter selbst, der seinen eigenen Zustand reflektiert, denn schließlich heißt es im Gedicht »mein Osten«.165 Der ›entlegene Stil‹ und seine ›Entrückung der Person‹ lassen einen deutlichen Bezug zum Divan erkennen, dessen Gedichte für den Dichter ja schon zuvor gleichsam zum Medium seiner Selbstbespiegelung geworden waren: Der Orient im Divan besteht darin, daß Goethe eine Form ergreift und darin, daß er sich in dieser Form begreift. Etwas dem Ähnliches, was der Divan-Leser erfährt: daß ihn auf einmal das Gesicht Goethes – eines bestimmten, unverwechselbaren Goethe – aus dem zerteilten Duft morgenländischer Schattierungen anblickt, mag den Dichter selbst überfallen haben. Was östliche Dichtart schien, war plötzlich sein ihm geschenktes neues Selbst.166

Im Divan hatte sich Goethe als Person in der Gestalt Hatems verjüngt, während er als Dichter weiterhin am eigenen Stil festhielt: »Es war ja alles bei ihm schon so oft da, sogar im Lieben, und auf die etwas bedenkliche Frage der Suleika, die sich auf

159 Ebd. Emil Staiger bezeichnete die Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten einmal sehr treffend als einen »Nachklang« zum Divan; Staiger in GA 2, S. 651. 160 Ebd. 161 Ebd. 162 FA I, 2, S. 697; HA 1, S. 388; WA I, 4, S. 112. 163 Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 113. 164 Ebd. 165 Vgl. dazu Goethes Gedicht über das zweigeteilte Blatt des Ginko-Baumes (»Gin[k]go biloba« im West-Östlichen Divan, in: WA I, 6, S. 152) und Günther Debon: »Das Blatt vom Osten. Gedanken zum Gingo-biloba-Gedicht«, in: Euphorion 73 (1979), S. 227–236. 166 Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 267.

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diesen Punkt bezieht, hilft sich Hatem mit der Auskunft, daß in allen Vorgängerinnen Suleika prophezeit war.«167 Es ist diese Fähigkeit zur Spontaneität, die Goethes Stil im Divan kennzeichnet: »Spontan zu sein in einem ausgebildeten Stil: das ist hier Altersdichtung.«168 Leicht und ungezwungen-direkt klingen seine Umdichtungen der HammerPurgstall’schen Übersetzungen von Hâfiz;169 hingebungsvoll verwandelt er islamische Gebetsformeln in ein Liebeslied:170 Spontan zu sein ist das Prinzip seines Dichtens; auf Ausgebildetes zurückzugreifen ist das Prinzip des Alters und der Kultur, und erst recht der Kultur dieses Gealterten! Goethe benutzt jetzt den Tropenreichtum, die Fähigkeit verblümten Sprechens, die Phrasen und die Variantenbildung der Dichtersprache.171

Spontaneität entsteht aber nicht dadurch, dass man einfach auf Vorhandenes zurückgreift und vortäuscht, dass es neu sei. Entscheidend ist die Haltung, die man gegenüber der Sprache einnimmt, über die man verfügt. Goethe benutzt nicht einfach die ihm geläufige Dichtersprache; »er schwelgt darin«, und das »ist mehr als Benutzen, ist fast wieder spontan!«172 Doch trifft das auch auf die Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten zu, wo die Dinge oft einfach nur benannt werden, ohne dass der Dichter im Chinesischen schwelgt? Hier ist der Blick distanzierter als im Divan und der Stil abgeklärter; zu schwelgen beginnt das Ich erst im Gedicht VIII, wenn sich die Dämmerung von oben nieder senkt. Doch scheinen die Mandarine hier eine ähnliche Funktion zu haben wie Hatem im Divan. Goethes Idee der spontanen Verjüngung hat Kommerell in seinen Gedanken über Gedichte an einem Bild veranschaulicht, das sich gleichermaßen auf die Chinesisch-Deutschen Jahresund Tageszeiten beziehen lässt, wenn er fragt: »Kann man ein Herbarium in einen Blumengarten zurückverwandeln?«,173 wobei das Herbarium dann ein Bild für die künstliche Welt des Rokoko und seiner Chinoiserien wäre, wie sie sich dann auch 167 Ebd., S. 268. 168 Ebd., S. 269. 169 Der Diwan. Von Mohammed Schemsed-din Hafis. Aus dem Persischen von Joseph v. Hammer, 2 Bde., Stuttgart/Tübingen: Cotta 1812–13 sowie: Joseph von Hammer-Purgstall: Geschichte der schönen Redekünste Persiens: mit einer Blüthenlese aus zweyhundert persischen Dichtern, Wien: Heubner und Volke 1818. Kommerell weist darauf hin, dass Goethe bisweilen die Hammerschen Übersetzungen des persischen Dichters Hâfiz übernimmt, jedoch leichte Veränderungen in Tonfall, Rhythmus und Satzbau einfügt, mitunter auch eigene Worte, und sie so mit der »Grazie einer vollkommen persönlich gewordenen Sprache« belebt (Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 267–268). 170 »Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne, / Mit jedem klingt ein Name nach für dich.« (Goethe: West-östlicher Divan; FA I, 3.1, S. 102.) 171 Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 268. 172 Ebd. 173 Ebd., S. 268–269.

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im englisch-chinesischen Garten äußert, der die Natur ebenfalls nur ›nachäfft‹,174 ohne sie in ihrem ewigen Gesetz zu erkennen. Wie aber ließe sich diese Rückverwandlung an dem Gedichtzyklus aufzeigen? Das erste Gedicht der Sammlung beginnt mit dem Aufbruch der Hofbeamten, mit denen sich der Dichter in gewisser Weise identifiziert, in den Frühlingsgarten: Sag was könnt’ uns Mandarinen, Satt zu herrschen, müd zu dienen, Sag was könnt’ uns übrigbleiben, Als in solchen Frühlingstagen Uns des Nordens zu entschlagen Und am Wasser und im Grünen Fröhlich trinken, geistig schreiben, Schal’ auf Schale, Zug in Zügen? 175

Das Eingangsgedicht wiederholt die Geste der Hegire aus dem Divan – hier als Flucht der Mandarine aus der nördlichen Hauptstadt Beijing in einen vermutlich südlichen Garten,176 die in der Erinnerung des gealterten Dichters auch Reminiszenzen an die Italienreise wachgerufen haben mag, an seinen plötzlichen Aufbruch, um der Belastung durch den Staatsdienst in Weimar zu entkommen, oder an die Reise in die Schweiz bzw. die Flucht vor der Heirat mit Anna Elisabeth (»Lili«) Schönemann. Andererseits ist das Eingangsgedicht eine Einladung, insofern hier ein Mandarin die anderen dazu auffordert, alle Verpflichtungen beiseite zu schieben und stattdessen am geselligen Leben im Garten teilzuhaben.177 »Nicht Ideen, die er dem exotischen Wesen entnahm«, schreibt Jenisch, »sondern Ideen, die er in selbsterlebter Wirklichkeit erkannt hatte, zogen ihn an fremden Kulturen an.«178 Diese Herangehensweise unterscheidet Goethe grundlegend von Unzer: Für Goethe gibt es, was in der Forschung betont wur-

174 Goethe benutzt den Begriff des ›Nachäffens‹ in seinem Aufsatz Ueber den Dilettantismus im Zusammenhang mit der Gartenkunst: »Englischer Geschmack hat die Basis des Nützlichen, welches der französische aufopfern muß. Nachgeäffter englischer Geschmack hat den Schein des Nützlichen. Chinesischer Geschmack.« (FA I, 18, S. 739–785, hier S. 761; WA I, 47, S. 299– 326, hier S. 311.) 175 FA I, 2, S. 695; WA I, 4, S. 110; HA 1, S. 387. 176 Ob es sich wirklich um eine Flucht in den Süden handelt, bleibt jedoch offen, denn das Gedicht spricht nicht expressis verbis davon. Doch war gerade der Süden mit den Städten Suzhou und Guangzhou (Kanton) für seine Gärten berühmt. 177 Vgl. Andreas Anglet: »Die lyrische Bewegung in Goethes ›Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten‹«, in: Goethe-Jahrbuch 113 (1996), S. 179–198, hier S. 181. Anglet sieht diese Gegenläufigkeit durch eine Reihe von Wortpaaren wie »satt«/»müd«, »herrschen«/»dienen« besonders betont. 178 Jenisch: Goethe und das ferne Asien, S. 333.

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de,179 stets einen grundsätzlichen Zusammenhang von selbsterlebter Wirklichkeit und dichterisch gestaltetem Lebensgefühl. Der oben schon zitierte Sinologe Debon vertritt in Übereinstimmung damit die Ansicht, dass hier mit dem chinesischen Norden nicht (nur) Peking gemeint sei, sondern zugleich der Norden, in dem Goethe lebte, wie etwa die »Dunst- und Nebelwege« in Faust I, der Harz, aber auch die Lage seines Gartenhauses in Weimar.180 Zweierlei sollte bei der Interpretation dieser Gedichte nicht aus den Augen verloren werden: erstens der Charakter des Zyklischen,181 auf den ja schon der Titel hinweist, und zweitens der Aspekt der ›west-östlichen Begegnung‹ im Kontext der Bedingungen, die dieses Zusammentreffen mit dem Orient überhaupt erst möglich gemacht haben. Das Zyklische akzentuiert das Eingebundensein in den Kreislauf der Natur und lässt sich gut als »Rundgang durch einen imaginativen Bildersaal«182 interpretieren, wobei die Bilder zwischen Fremdheit und Vertrautheit wechseln und entsprechend den Jahreszeiten gruppiert werden können. Die Lilie gehört dabei zum ersten Teil, während die Rose im zweiten dominiert. Der »Spätling« des dritten Teils, also die »Rosenknospe« im Herbst, wurde in der Forschung einerseits als Symbol der Liebe Goethes zu Ulrike von Levetzow interpretiert,183 andererseits aber auch als Metapher für einen künftigen Neuanfang gesehen, als ein vorausgeahnter Frühling, der bereits im Herbst angelegt ist, was »das Werden und Vergehen, die ›Dauer im Wechsel‹« erkennen lasse und »um so tröstender und beglückender [wirke], als sie [die Rosenknospe; A.K.] zur Unzeit erschein[e]«.184 179 Siehe Jenisch: Goethe und das ferne Asien, S. 333f. und Lemmel: Der Gedichtzyklus »Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten« und seine Verortung in Goethes Spätwerk, S. 165. 180 Debon: Goethes Berührungen mit China, S. 51. Das Weimarer Schloss liegt nördlich des Gartenhauses, in das sich Goethe am 12. Mai 1827 zurückzog, um den Gedichtzyklus niederzuschreiben. 181 Das Motiv der Jahreszeiten ist bei Goethe schon früher präsent, z. B. in den 1796 zusammen mit Schiller verfassten »Xenien«, von denen Goethe später einige als »Vier Jahreszeiten« zusammenfasste (s. die Anmerkungen von Trunz in HA 1, S. 594–595, abgedruckt in FA I, 2, S. 237–249). 182 Anglet: Die lyrische Bewegung in Goethes »Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten«, S. 180. 183 Vgl. Wolfgang Preisendanz: »Goethes ›Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten‹«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 8 (1964), S. 137–152, hier S. 147–148. Preisendanz bezieht den Jahreszeitenzyklus der Natur auf die Liebe mit den Zuständen der »Liebe, Erwartung, Hoffnung, Werbung, Trennung« (ebd., S. 145), was sehr an die Deutung von Goethes Frühlingsgedichten (»März«, »April«, »Mai«, »Juni«) von Kommerell erinnert, aber zu den Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten meiner Ansicht nach nicht zu passen scheint. 184 Monika Lemmel: »Der Orient, China und klassische Poetologie in Goethes Spätwerk«, in: Begegnung mit dem »Fremden«. Grenzen, Traditionen, Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990, hg. von Eijiro¯ Iwasaki, München: Iudicium 1991, S. 136–144, hier S. 143.

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Weitgehend einig ist man sich in der Goethe-Forschung darin, dass die Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten »aus dem Gefühl desselben intensiven Naturerlebens, das Goethe bei den Chinesen in den Romanen gefunden hatte«,185 entstanden sind. Wagner-Dittmar zieht dazu als Beleg eine Äußerung Goethes über die chinesische Literatur in einem Gespräch mit Eckermann (vom 31. Januar 1827) heran. Goethe betont dort, dass die Chinesen sich insbesondere dadurch auszeichneten, dass in ihren Romanen »die äußre Natur neben den menschlichen Figuren immer mitleb[e]«: Die Goldfische in den Teichen hört man immer plätschern, die Vögel auf den Zweigen singen immerfort, der Tag ist immer heiter und sonnig, die Nacht immer klar; vom Mond ist viel die Rede, allein er verändert die Landschaft nicht, sein Schein ist so helle gedacht wie der Tag selber.186

Diese sonderbar lichterfüllte Idylle klärt sich als solche erst dann auf, wenn man bedenkt, dass hier vom eingeübten geistigen Schauen der Natur und jener chinesischen »Seh-Seligkeit« (Kommerell) die Rede ist. In der Klarheit dieser geistigen Anschauung, wie sie im Gedicht VIII gerade im Moment der Dämmerung deutlich wird (durch den wechselnden Blick von oben nach unten, von unten nach oben, vom Fernen zum Nahen sowie vom Nahen zum Fernen), offenbart sich, was Goethe im Gedicht XI als »[d]as Unvergängliche, […] das ewige Gesetz« ansieht, »[w]onach die Ros’ und Lilie blüht.«187 Zwei Jahre nach der Entstehung des Gedichts bekräftigt Goethe in einem Brief an Zelter noch einmal diesen Gedanken: »Je älter ich werde, je mehr vertrau ich auf das Gesetz wornach die Rose und Lilie blüht.«188 – In dieser Gesetzmäßigkeit scheint sich für Goethe der »Sinn des Zyklus« erschlossen zu haben.189

185 Wagner-Dittmar: Goethe und die chinesische Literatur, S. 182. 186 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. von Christoph Michel, Frankfurt a. M.: Dt. Klassiker Vlg. 1985, S. 223 (= FA II, 12). 187 FA I, 2, S. 698; WA I, 4, S. 114; HA 1, S. 390. 188 Johann Wolfgang Goethe: Die letzten Jahre. Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis zu Goethes Tod, Teil II: Vom Dornburger Aufenthalt 1828 bis zum Tode, hg. von Horst Fleig, FA II, 11, S. 191; vgl. WA IV, 46, S. 350 (Brief an Zelter vom 9. November 1829, nicht abgesandter Briefschluss vom 7. November). 189 Vgl. dazu Jenisch: Goethe und das ferne Asien, S. 336. Preisendanz hat in diesem Zusammenhang gezeigt, wie sich für das Auge des Betrachters im Wechsel der Jahreszeiten und in der Dynamik des Lebens das unumstößliche Gesetz der Natur reflektiert und wie die Gedichtstruktur die »Leibhaftigkeit von Systole und Diastole« (Preisendanz: Goethes »Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten«, S. 140) vermittelt. Deutlich wird dies vor allem durch das Wirken polarer Kräfte (Licht versus Finsternis), durch die Spannung von Stillstand und Bewegung (der ruhende See, das zitternde Mondlicht) und durch den Wechsel von Nord und Süd bzw. oben und unten. Das Bild des Frühlings lädt zur Diastole ein, denn es öffnet das Herz und erfüllt es mit geistreichem Gespräch und Vergnügen am Schreiben, während sich im Gedicht VIII das Herz wieder ›zusammenzieht‹.

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Der Reflex ostasiatischer Ästhetik in der deutschen Literatur

Die Kühle des Mondlichts im Herzen der Sichtbarkeit Es gibt allerdings eine sehr bezeichnende Leerstelle im Wechsel der Jahreszeiten, denn der Winter ist, wie schon gesagt, in ihrer Darstellung ausgespart. Das könnte seinen Grund ganz einfach darin haben, dass der Dichter sich der Idylle, die er aus der Ferne sah und beschrieb, versichern wollte, weshalb er hier einfach die mit dem Winter gemeinhin verbundene Melancholie und Trübseligkeit umging, obschon sich unter seinen anderen Jahresgedichten sehr wohl Gedichte über den Winter finden.190 Hinzu kommt, dass der Süden als Fluchtidylle – wie übrigens auch das Herbarium – keinen Winter kennt. Den Schluss- oder Wendepunkt, den der Winter im Zyklus der Jahreszeiten für gewöhnlich markiert, setzt Goethe an einer anderen Stelle, und zwar in jenem schon erwähnten Gedicht VIII, das in der Forschung uneingeschränkt als ein »Gipfelereignis der Goetheschen Lyrik«191 gilt: Dämmrung senkte sich von oben, Schon ist alle Nähe fern; Doch zuerst emporgehoben Holden Lichts der Abendstern! Alles schwankt in’s Ungewisse Nebel schleichen in die Höh; Schwarzvertiefte Finsternisse Widerspiegelnd ruht der See. Nun im östlichen Bereiche Ahnd’ ich Mondenglanz und Glut, Schlanker Weiden Haargezweige Scherzen auf der nächsten Flut. Durch bewegter Schatten Spiele Zittert Luna’s Zauberschein, Und durch’s Auge schleicht die Kühle Sänftigend in’s Herz hinein.192

Beachtung fand in der Goethe-Philologie vornehmlich die Gegenbildlichkeit von Sonnenuntergang und Mondaufgang, der »Wechsel von Lichtschwund zu 190 Siehe z. B. den schon erwähnten Zyklus »Vier Jahreszeiten«; FA I, 2, S. 237–249, zum Winter S. 247–249. 191 Wohlleben: Goethes »Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten«, S. 271, ebenso Richard Wilhelm: »Goethe und die chinesische Kultur«, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1927, S. 301–316, hier S. 313. Auch Viëtor würdigt die außergewöhnliche Meisterschaft dieses Altersgedichts (vgl. Karl Viëtor: »Goethes Altersgedichte«, in: Euphorion 33 (1932), S. 105–152, hier S. 122), und Korff nennt es das »schönste und vollkommenste« unter den »ganz reinen Naturstimmungsgedichten« Goethes (Hermann August Korff: Goethe im Bildwandel seiner Lyrik, Bd. 2, Hanau: Dausien 1958, S. 331). 192 FA I, 2, S. 697; WA, I, 4, S. 113; HA 1, S. 389.

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nächtlichem Fahllicht«, der als ein »scheinbar rein optische[r] Vorgang«193 zur Darstellung gebracht werde. Emil Staiger erinnert die Szenerie an Chinoiserien aus der Malerei, was auch zu anderen Gedichten dieses Zyklus’ bemerkt wurde. Allerdings gibt es hier markante Unterschiede. Über das Gedicht II heißt es bei Staiger, dass die Blumen dort »so leicht und meisterhaft hingepinselt« seien, »daß sie chinesischen Farbholzschnitten zum Verwechseln ähnel[te]n«.194 Das wäre die eine Seite des Farbenspiels: das Spektrum. Das Nachtgedicht aber setzt der sommerlichen Farbenpracht ein jähes Ende und taucht das Farbenspiel in eine Finsternis: »Alles schwankt ins Ungewisse,/ Nebel schleichen in die Höh;/ Schwarzvertiefte Finsternisse/ Widerspiegelnd ruht der See.« Das Bild dieser Abenddämmerung ist jedoch, wie Hideo Fukuda meint, »zu farbig, um eine schlichte Tuschzeichnung zu sein«: »Es ist mit Nachtfarbe grundiert, darauf schwankende Umrisse der Gegenstände gezeichnet, durch Nebel abgestuft, durch Abendstern und Mondlicht aufgehellt; soll es solch ein reizendes, in Abschattierung und Perspektive geschickt Gemaltes sein?«195 Viel eher wirke es wie ein in fahles Mondlicht getauchtes Bild von Ni Zan, jenem Maler aus der YuanZeit (Mitte des 14. Jahrhunderts), von dem bereits im Kapitel 4 die Rede war. Die genau kalkulierte und effektvolle Verwendung der die verschiedenen Farben bezeichnenden Wörter ist in diesem Gedicht höchst bemerkenswert und verdeutlicht, wie hier Malen und Dichten zusammengeführt werden. »Das Nachtgedicht«, schreibt Kommerell, dichtet mit Farbworten, und zwar beginnt es von unten, indem es grundiert mit der unbestimmten neutralen Nachtfarbe. Dann wird Einzelnes aufgesetzt: Umrisse, Schatten, Valeurs, und zugleich die Luft aufgehellt: Abendstern, Nebel, See, Mondlicht, Spiegelung der Weidenzweige, das Spiel der Strahlen. Endlich das Reimwort »Kühle«, nichts Sichtbares mehr, ein Gefühl, das zu dem bisher verschwiegenen Herzen überleitet; aber diese Kühle wird durchs Auge wahrgenommen, das als der eigentlich geistige Sinn hier auch die Gefühle aus und eingeleitet. Es ist, als ob Luna die Kühle in der Sichtbarkeit wäre.196

Nicht nur, dass hier geschickt eine synästhetische Wahrnehmung poetisiert wird (»Und durchs Auge schleicht die Kühle / Sänftigend ins Herz hinein.«), was die Unmittelbarkeit der Anschauung verstärkt und haptisch erscheinen lässt; gleichzeitig wird versucht, eine unsichtbare Empfindung durch das Auge spürbar 193 Wohlleben: Über Goethes Gedichtzyklus »Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten«, S. 272. 194 Emil Staigers Einleitung, in: GA 2, S. 651. Abgesehen davon, dass ein Holzschnitt nicht »hingepinselt« wird, bleibt fraglich, ob die Gedichte wirklich an die Chinoiserien des Rokoko erinnern oder nicht schon einen neuen Umgang mit China sichtbar werden lassen. 195 Hideo Fukuda: »Über Goethes letzten Gedichtzyklus »›Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten‹«, in: Goethe-Jahrbuch 30 (1968), S. 200. 196 Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 114.

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werden zu lassen. Die Sichtbarkeit wird dabei bis hin zu »schwarzvertiefte[n] Finsternisse[n]« reduziert, doch endet diese Vertiefung nicht in absoluter Dunkelheit, sondern in »Lunas Zauberschein«, d. h. in einem matten Weiß und einer fahlen Trübung. Wolfgang Preisendanz hat in seinen Ergänzungen zur Farbenlehre als Erster dezidiert nach der Bedeutung des lunarischen Lichts in Goethes Altersgedichten gefragt und auf ein Zitat Goethes aus dem Naturae naturantis et naturatae Mysterium197 hingewiesen: »Die Weiße [gehört] der Lunae«.198 In seiner alchemistisch inspirierten Farbsymbolik heißt es weiter: »In dem Roten ist suchen und begehren; in dem Gelben ist finden und erkennen; in dem Weißen ist besitzen und genießen: hinwiederum in dem Grünen ist hoffen und erwarten; in dem Blauen ist merken und denken, in dem Schwarzen ist vergessen und entbehren.«199 Preisendanz überträgt in seiner Interpretation das Farbenspiel auf den Zyklus der Liebe, genauer gesagt, des Sich-Verliebens und deutet die Farbsymbolik als lyrische Chiffrierung von Liebeserlebnissen, die im Gedicht VIII vorübergehend in eine »seelische Katastrophe« münden, denn das »Zwischenspiel der absoluten Farb- und Lichtlosigkeit« komme schließlich »einer Todeserfahrung gleich«.200 Goethe betrachtet in seiner Farbenlehre Licht und Finsternis ausschließlich im Verhältnis zum Auge, wie die folgende Passage verdeutlicht: »Das Schwarze, als Repräsentant der Finsternis, läßt das Organ im Zustande der Ruhe, das Weiße, als Stellvertreter des Lichts, versetzt es in Tätigkeit.«201 Bezogen auf das Gedicht VIII lassen sich Goethes Überlegungen zur Farbenlehre dann wohl wie folgt interpretieren: Das Hervortreten der Gegenstände im Licht der Luna ist auf das Engste verbunden mit der Aufhebung jener »befriedigende[n] Berührung«, die das Auge in der Finsternis erfährt. Wenn Luna die Welt in ein Helldunkel taucht, impliziert das laut Preisendanz eine Art Weltverbundenheit, die durch jene »sänftigende Kühle« gekennzeichnet sei, welche das Auge dem Herzen vermittle. In diesem Helldunkel werde das Verhältnis des Auges zur Finsternis aber nicht aufgehoben; 197 Die Schrift erschien anonym 1724 in Berleburg. 198 Johann Wolfgang Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft, hg. im Auftrag der Deutschen Akademie der Naturforscher (Leopoldina) zu Halle von Rupprecht Matthaei, Wilhelm Troll und K. Lothar Wolf, bearbeitet von Dorothea Kuhn, I. Abt., Bd. 8, Weimar: Böhlaus Nachfolger 1962, S. 230. 199 Ebd. 200 Vgl. zusammenfassend Wohlleben: Über Goethes Gedichtzyklus »Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten«, S. 275. Diese »Nullstelle« deutet Wohlleben als einen »tragische[n] Abschied« und als einen »Umschlag zu einer neuen Lebensstimmung«, wobei »das Mondlicht als Lebenssymbol« fungiere (ebd., S. 276). 201 Johann Wolfgang Goethe: Die Schriften zur Naturwissenschaft, hg. im Auftrage der Deutschen Akademie der Naturforscher (Leopoldina) zu Halle von Rupprecht Matthaei, Wilhelm Troll und Lothar Wolf, I. Abt., Bd. 4, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1955, S. 28.

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es sei jedoch nur ein Verhältnis innerhalb einer Konstellation, die sowohl das Schwarze (als Vergessen und Entbehren) als auch das Weiße (als Besitzen und Genießen) einschließt: »Wenn Licht und Finsternis im Ganzen verschiedene Stimmungen geben; so werden schwarze und weiße Bilder, die zu gleicher Zeit ins Auge fallen, diejenigen Zustände neben einander bewirken, welche durch Licht und Finsternis in einer Folge hervorgebracht wurden.«202 Das bedeutet letztlich, dass »Lunas Zauberschein«, wie es im Gedicht heißt, »die körperhafte Welt aus schwarzvertieften Finsternissen wieder erscheinen läßt«,203 was wie eine Erinnerung wirkt, die dem Vergessen entsteigt, das ja für Goethe mit der Farbe schwarz assoziiert wird. Das Gedicht ist nicht nur farbästhetisch, sondern vor allem auch wirkungsästhetisch interessant, denn die effektvolle Verwendung der Farben, die geschickte Grundierung und die darauf gesetzten Umrisse und Schatten, schließlich die durch Synästhesie evozierte haptische Unmittelbarkeit (die »sänftigende Kühle«, die ins Herz »schleicht«) schaffen eine besondere affektive Disposition. Diese Disposition ist als etwas Potentielles zukunfts- und handlungsbezogen,204 d. h. der Tat und dem strebenden Bemühen vorgelagert, mit dem der Gedichtzyklus ausklingt.

Nahe Ferne. Goethes »luftiger« Exotismus In Goethes Gedichten scheint China wie eine Ferne, die als trüber Mondglanz »am östlichen Bereiche« sichtbar wird, doch wirkt das Chinesische in den Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten keinesfalls so fern. Goethe sieht durch das Chinesische hindurch das Deutsche, und umgekehrt lässt er durch das Deutsche hindurch das von ihm imaginierte Chinesische hervortreten, wenn er sagt: »Dort ewig bleibt mein Osten.«205 Dies ist auch, wie Jenisch beobachtet hat, ein Grund dafür, dass der Gedichtzyklus letztlich »gar nicht exotisch« anmutet: Abgesehen von der nur flüchtig angedeuteten chinesischen Szenerie wirken die Gedichte deutsch, und das stimmungsstärkste der Sammlung ist sogar ganz frei von exotischen Einzelheiten. […] Es ist das deutsche Frühjahr, was Goethe schildert, die deutsche Natur, wie er sie im schönen Mai 1827 erlebte.206

202 Ebd. 203 Preisendanz: Goethes »Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten«, S. 144. 204 Vgl. dazu David E. Wellbery: Der gestimmte Raum. Von der Stimmungslyrik zur absoluten Dichtung, in: Anna-Katharina Gisbertz (Hg.): Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie, München: Fink 2011, S. 157–176, insbes. S. 157. 205 FA I, 2, S. 697; HA 1, S. 388; WA I, 4, S. 112. 206 Jenisch: Goethe und das ferne Asien, S. 335.

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In Hinblick auf den Umgang mit exotischen Klischees heißt es bei Jenisch, dass Goethe sehr wenig »[a]n der stofflichen Aneignung, der technischen Nachahmung des Exotischen« liegt: »Nur wo er die fremden Formen geistig durchdrungen, ihre seelischen Gründe erkannt und das Lebensgefühl, dem sie entsprungen, als das seine wiedererkannt hat, da verwendet er das Fremde, das ihm nun eigentlich nicht mehr fremd ist.«207 Was also in den Gedichten gezielt verfolgt wird, ließe sich als eine Ent-Fremdung der Fremde und eine Ent-Fernung der Ferne begreifen. Diese Ferne ist bei Goethe so blass, so leicht koloriert, so wenig exotisch, dass sie wiederum nah erscheint. Und genau das ist es auch, was laut Jenisch Goethe grundlegend von den Weltreisenden am Ende des 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts unterscheidet: »Ihm war nicht wie dem Grafen Keyserling die Reise um die Welt der kürzeste Weg zu sich selbst, sondern umgekehrt, der gerade Weg aus sich selbst führte ihn um die Welt«.208 Das erklärt schließlich auch, warum die Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten viel weniger ›chinesisch‹ sind, als der West-östliche Divan ›persisch‹ ist, denn »das Exotische liegt eher dort, wo es gar nicht vermutet und bemerkt wird: in der Art, wie dem Dichter die Natur erscheint«.209 Die nahe Ferne ist bei Goethe ein poetisches Programm, und für die dichterische Umsetzung ist die angemessene Form entscheidend. Durch den »entlegenen Stil« wird die Nähe ent-fernt, so dass alle Nähe fern erscheint, zugleich aber wird auch die Ferne ent-fernt. Das einzige, was in diesem Prozess der Ent-Fernung nah bleibt, ist in ihrer geistigen Anschauung die Natur, die Idylle eines ewigen Frühlings, die alle Jahreszeiten durchzieht (mit Ausnahme des Winters). Der Genuss am vergeistigten Schauen der Natur, der laut Kommerell in den Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten zum Ausdruck komme, bildet den eigentlichen Bezug zum »scheinbar fernsten Kunststil«, dessen »mütterliche Nähe zur Rokokokultur zu erkennen unsere großen Geister ihr Humanismus gehindert hat«.210 In dieser Hinsicht erweisen sich die Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten als ein aufschlussreiches Beispiel für die Ausprägung von Goethes ›entlegenem‹ Altersstil. Dabei muss jedoch genau unterschieden werden zwischen den Zwittergebilden einer Chinoiserie wie dem »englisch-chinesischen Garten«,211 den Goethe im Triumph der Empfindsamkeit verspottet, und dem 207 Ebd., S. 333. 208 Ebd.; vgl. dazu Hermann Graf Keyserling: Das Reisetagebuch eines Philosophen, 2 Bde., Darmstadt: Reichl 1919. Beiden Bänden ist das Motto vorangestellt: »Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum.« 209 Jenisch: Goethe und das ferne Asien, S. 334. 210 Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 113. Im Anschluss an Kommerell konstatierte dann auch Staiger in dem Gedichtzyklus einen Anklang von Rokokostimmung, vgl. Emil Staiger: Goethe. Band III, Zürich: Atlantis 1959, S. 230 und 232. 211 Diese Bezeichnung wurde in Frankreich von George Louis Le Rouge (Cahiers de jardins anglo-chinois à la mode, 21 Bde., Paris: Le Rouge 1776–1788 und Détails de nouveau jardins

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»Mischgebilde entlegener, weise bezogener Stile«,212 wie sie in seinem Alterswerk zu finden sind, im Faust II genauso wie in den Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten. Somit lässt sich jenes ›Entlegene‹ des Stils auch dahingehend verstehen, dass Goethe, der das Rokoko scheinbar längst überwunden hat, sich auf eine neue Weise auf China und damit dann doch noch einmal auf die Rokokokultur bezieht, was den Einfluss »eines verspäteten Rokoko in Goethes Lyrik«213 erklären würde. Im Zuge einer Art von Verjüngung214 lässt der nun weiser gewordene Dichter von seinen Vorbehalten gegenüber China ab und kreiert einen, wie Kommerell sagt, »luftige[n]«215 Exotismus. Im »entlegenen Stil« drückt sich eine gewisse Art von Abgeklärtheit aus, wobei die Chinoiserien des Rokoko in der Reminiszenz für ein tieferes Wissen (über Geschichte, Kultur und Sitten Chinas) »erst eigentlich schätzenswert«216 werden. Für den gealterten Goethe ermöglicht dieser ›ferne‹ Kunststil eine doppelte Distanz, sowohl zum Deutschen als auch zum Chinesischen, die es dem Dichter gestattet, sich betrachtend und kontemplativ im Dazwischen aufzuhalten. Die kalkuliert konstruierte ›nahe Ferne‹ lässt das Dargestellte als wertvoll erscheinen, idyllisch zum einen, ironisch zum anderen, und genau so scherzhaft-ernst klingen auch die Verse aus dem letzten Gedicht, die sich als die am Ende unvermittelt vorgebrachte Lebensmaxime des deutschen Mandarins deuten lassen, für den das strebende Bemühen ja schon im Faust von größter Bedeutung gewesen war: »Nun denn! Eh’ wir von hinnen eilen, Hast noch was Kluges mitzuteilen?« – Sehnsucht ins Ferne, Künftige zu beschwichtigen, Beschäftige dich hier und heut’ im Tüchtigen.217

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à la mode. Jardins anglo-chinois, Paris: Le Rouge 1777) und in Deutschland von Christian Cajus Lorenz Hirschfeld eingeführt, der in seiner Theorie der Gartenkunst (Bd. 1, S. 99ff.) behauptete, dass die chinesischen Gärten, wie sie der Engländer William Chambers beschrieben hatte, eigentlich dessen Erfindung seien, die er den Chinesen untergeschoben habe, um seinen Vorstellungen den Anstrich von Realität zu verleihen. Die Beziehung zwischen den chinesischen und englischen Gärten stellte Hirschfeld bereits in seinen Anmerkungen über die Landhäuser und die Gartenkunst (Leipzig: Weidmann 1773, S. 67ff.) heraus. Die hybride Gartenform selbst entstand, nachdem der Franziskaner Matteo Ripa 1724 über dreißig Kupferstiche des kaiserlichen Sommerpalastes in Chengde nach Europa mitgebracht hatte. Max Kommerell: »Faust II. Teil. Zum Verständnis der Form«, in: Geist und Buchstabe der Dichtung, Frankfurt a. M.: Klostermann 1991, S. 63. Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 109. Zum Aspekt der Verjüngung durch die Begegnung mit dem Orient vgl. bei Fritz Strich: Goethe und die Weltliteratur, Bern: Francke 1946, S. 167ff. Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 113. Ebd., S. 109. FA, I, 2, S. 699; WA, I, 4, S. 115; HA 1, S. 390.

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Die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit Jetzt, da sich eine Weltliteratur einleitet, hat, genau besehen, der Deutsche am meisten zu verlieren; er wird wohl thun dieser Warnung nachzudenken.218

Im Winter 1826/27 bereitete Goethe die Edition seiner Werke (›letzter Hand‹) vor und begann zur gleichen Zeit mit der Lektüre eines chinesischen Sittenromans aus der frühen Qing-Dynastie (Mitte des 17. Jh.), dessen Titel er in den Gesprächen mit Eckermann jedoch nicht erwähnt. Wie der Forschung aber seit langem bekannt ist, handelte es sich dabei um den Roman Ju-kiao-li,219 den Goethe noch vor der Übertragung ins Deutsche in seiner französischen Übersetzung las.220 Am 31. Januar 1827 äußerte er gegenüber Eckermann, dass dieser Roman sich gar nicht so »fremdartig« ausnehme, »als man glauben sollte«,221 und dass er ihn an Hermann und Dorothea oder auch an Romane von Samuel Richardson erinnere. Er lobte die »strenge Mäßigung«222 des chinesischen Sittenromans und zog im Anschluss daran ein Fazit, das in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft seitdem viel zitiert wurde: Ich sehe immer mehr […], daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist und daß sie überall und zu allen Zeiten in Hunderten und aber Hunderten von Menschen hervortritt. […] Aber freilich, wenn wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gerne bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.223

218 Goethe FA I, 13, S. 176. 219 Ju-kiao-li, ou, Les deux cousines. Roman chinois, trad. [ Jean Pierre] Abel-Rémusat, Paris : Moutardier 1826. Die deutsche Erstübersetzung wurde bereits 1827 unter dem Titel Ju kiao li, oder die beiden Basen. Ein chinesischer Roman. Mit einer Vergleichung der chinesischen und europäischen Romane als Vorrede in 4 Bänden bei den Gebrüdern Franckh in Stuttgart publiziert. Die erste datierte chinesische Ausgabe stammt aus dem Jahr 1658. Die verschlungene Handlung ist in der Ming-Zeit angesiedelt und erzählt von zwei Kusinen, die nach vielerlei Wirren den gemeinsamen idealen Gatten finden. Der Roman steht am Anfang der chinesischen Tradition von Romanzen, in deren Mittelpunkt »talentierte Gelehrte und schöne Mädchen« stehen, vgl. Lexikon der chinesischen Literatur, hg. von Volker Klöpsch und Eva Müller, München: Beck 2004, S. 376; neu übersetzt von Anna von Rottauscher als Rotjade und Blütentraum. Ein chinesischer Liebesroman (Wien: Frick 1941). 220 Vgl. Hendrik Birus: »Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung«, in: Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven, hg. von Manfred Schmeling, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 5–28, hier S. 7; ebenso Christine Wagner-Dittmar: Goethe und die chinesische Literatur, S. 153. 221 FA II, 12, S. 223. 222 Ebd., S. 224. 223 Ebd.

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In der Goethe-Forschung ist viel darüber gestritten worden, ob die Sätze, die Goethe dann seiner Vision noch im selben Gespräch nachreichte, eine Zurücknahme des Projekts ›Weltliteratur‹ bedeuten. Mit Sicherheit aber implizieren sie eine gewisse Einschränkung: Aber auch bei solcher Schätzung des Ausländischen dürfen wir nicht bei etwas Besonderem haften bleiben und dieses für musterhaft ansehen wollen. Wir müssen nicht denken, das Chinesische wäre es, oder das Serbische, oder Calderon, oder die Nibelungen; sondern im Bedürfnis von etwas Musterhaftem müssen wir immer zu den alten Griechen zurückgehen, in deren Werken stets der schöne Mensch dargestellt ist. Alles übrige müssen wir nur historisch betrachten und das Gute, so weit es gehen will, uns daraus aneignen.224

Goethe bleibt bis zum Ende seines Lebens der Klassik und damit dem GriechischRömischen verpflichtet, das ihm die Grundlage für einen »differenzierenden Universalismus« sicherte. Er bewahrt, wie Michael Hofmann gezeigt hat, für sich selbst ganz konsequent diesen »normativen Universalismus mit klassizistischer Orientierung«.225 Doch wenn er sich in einer »überlegenen Distanz« zum Osten hält, so war die Öffnung gegenüber dem Orientalischen für Goethe immerhin eine vorsichtige Abwendung vom deutschen (europäischen) Klassizismus.226 Die Idee der Weltliteratur bedeutet für Goethe jedoch keine Entgrenzung. Wenn die Grenzen der Nationalliteraturen überschritten werden, dann unter der Voraussetzung, dass sie als geistige Individualitäten miteinander kommunizieren und über die jeweilige Kultur hinausgehend, auf ein Allgemeines verweisen. Entsprechend lassen sich auch die Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten »als ein Versuch im weltliterarischen Schreiben« verstehen, und insofern sei, so Reiner Wild, »die Allgemeinheit der Verweise auf chinesische Literatur und Kultur, in denen weniger das Spezifische und damit das Trennende als vielmehr das Gemeinsame der Kulturen betont wird, durchaus konsequent«.227 An einer anderen Stelle, an der Goethe sich zum Ideal der höheren Bildung äußert, kommt sein unnachgiebiges Festhalten am Leitbild der Klassik noch stärker zum Ausdruck: »Möge das Studium der griechischen und römischen Literatur immerfort die Basis der höheren Bildung bleiben.« Und er fügt hinzu: »Chinesische, Indische, Aegyptische Althertümer sind immer nur Curiositäten; es ist sehr wohlgethan, sich und die Welt damit bekannt zu machen; zu sittlicher und ästhetischer Bildung aber werden sie uns wenig fruchten.«228 Eben derselbe 224 Ebd., S. 225. 225 Michael Hofmann: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Paderborn: Fink 2006, S. 84. 226 Ebd. 227 Reiner Wild: »Chinesisch-Deutsche Jahres- und Tageszeiten«, in: Goethe Handbuch. Bd. 1: Gedichte, hg. von Regine Otto und Bernd Witte, Stuttgart/Weimar: Metzler 1996, S. 457. 228 FA, I, 13, S. 175; WA I, 42.2, S. 201; HA 8, S. 483.

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humanistisch-klassische Geist sollte noch hundert Jahre nach Goethes Tod verächtlich die lyrischen Versuche Unzers als »poetische Kuriosität« abtun.229 Für Friedrich Rückert war das Orientalische zu keiner Zeit bloß eine Kuriosität. Ohne Goethes dichterische Leistung seiner Divan-Nachdichtung in Frage oder gar in Abrede zu stellen, muss dennoch festgehalten werden, dass es Rückert war und nicht Goethe, der die deutsche Dichtung im fernen Orient ankommen ließ. Für Rückert bedeutet ›Weltliteratur‹ in erster Linie Aneignung der Literaturen anderer Völker. Der ›Geist‹ der Poesie ist für ihn weder durch nationale Grenzen festgelegt, noch ist er kulturgebundenen Bildungsidealen verpflichtet. Während Wieland, der den Begriff ›Weltliteratur‹ schon vor Goethe verwendet hat,230 ihn im Sinne von ›Gelehrsamkeit, Wissen von Geschriebenem besitzen‹ versteht231 und Goethe ihn im Kontext von geistigem Handelsverkehr und Weltverständigungsprozess ansiedelt,232 klingt in Rückerts Vorstellung einer Weltpoesie die utopische Idee einer alle Grenzen überschreitenden Weltversöhnung an. Weltversöhnende Weltpoesie233 – das genau ist es, was Rückert umzu-

229 Diese Tendenz setzt sich, von Goethe ausgehend, bis in die gegenwärtige Forschung fort. Es ist bemerkenswert, dass dieses Urteil erst wieder in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. aufkommt, während Tscharner und Aurich in ihren Studien aus den 1930er Jahren Unzer eher positiv oder neutral bewerten, auch wenn Goethes Kritik an Unzer offen dargelegt wird. 230 Vgl. Hans-Joachim Weitz: »Weltliteratur zuerst bei Wieland«, in: Arcadia. Zeitschrift für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 22/1 (1987), S. 206–208. Nun ist aber bekannt, dass der Historiker August Ludwig Schlözer in seiner Isländischen Litteratur und Geschichte (Göttingen/Gotha: Dieterich 1773, S. 2) bereits viele Jahre vor Christoph Martin Wieland und lange vor Goethe als Erster den Begriff geprägt und ins europäische Denken eingeführt hatte; vgl. Rüdiger Schmitt: »Grußwort«, in: Weltliteratur heute. Konzepte und Perspektiven, hg. von Manfred Schmeling, Würzburg: Königshausen & Neumann 1995, S. 1– 4, hier S. 1. Schmitt verweist dabei auf den Aufsatz von Árpád Berczik: »Zur Entwicklung des Begriffs ›Weltliteratur‹ und Anfänge der Vergleichenden Literaturgeschichte«. In: Acta Germanica et Romanica 2 (1967), S. 3–22, hier S. 7 Anm. 9. Zu Wieland siehe den Kommentar von Anne Bohnenkamp in: Goethes Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, FA I, 22, S. 937f. Ebenso aufschlussreich ist der Aufsatz von Wolfgang Schamoni: »›Weltliteratur‹ zuerst 1773 bei August Ludwig Schlözer«, in: Arcadia 43/2 (2008), S. 288–298 und dessen Postskriptum, ebd., S. 515–516, in dem Schamoni anmerkt, dass bereits der skandinavische Germanist Gauti Kristmannsson 2007 in seinem Aufsatz »The Nordic Turn in German Literature« (Edinburgh German Yearbook, Vol. 1, S. 63–72) auf Schlözers Verwendung des Begriffs hingewiesen habe. Sic transit gloria mundi: Das entscheidende Zitat Schlözers wird schon Jahrzehnte zuvor in Sigmund von Lempickis Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1920, ergänzte Neuauflage 1968), S. 418 erwähnt und entsprechend gewürdigt. 231 Manfred Koch: Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff »Weltliteratur«, Tübingen: Niemeyer 2002, S. 44. 232 Ebd., S. 2. 233 Vgl. die Einleitung, die Rückert für seine Nachdichtung des Shijing geschrieben hat: SchiKing. Chinesisches Liederbuch, gesammelt von Confucius, dem Deutschen angeeignet von Friedrich Rückert, Altona: Hammerich 1833, S. 6.

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setzen versucht, und exakt das ist sein poetologisches Programm, für das er eine bestimmte Form benutzt: die Nachdichtung bzw. die Aneignung. Deutsche Nachdichtungen der Literaturen anderer Völker sollten nicht nur den deutschen Lesern die poetischen Schätze anderer Kulturen zugänglich machen, sondern darüber hinaus dazu dienen, die in so viele Sprachen zersprengten Geister in einer Sprache zusammenzuführen. Das Fremde erhält in der Nachdichtung eine spezifische Funktion, wie sie vorher noch nicht vorhanden war. Durch das Fremde will Rückert die »schmeichelnde Gewöhnung«,234 die sich bei der poetischen Selbstbespiegelung einstellt, abwehren, damit sie den Lesern am Ende, wenn sie Einsicht in die Weltpoesie erlangt haben, selbst befremdlich erscheint. Es gilt also, sich des Fremden zu bedienen, um das Eigene unablässig zu erweitern. Das ist schwieriger, als es klingt, denn es erfordert, diejenigen Grenzen, die das Eigene umreißen und festlegen, d. h. Grenzen, an die man sich gewöhnt hat, zu überwinden bzw. ganz zu verabschieden. Den entscheidenden Anstoß für diese Idee und ihre Durchführung erhielt Rückert von dem damals führenden Orientalisten und Übersetzer Joseph von Hammer (1774–1856), später Freiherr von Hammer-Purgstall. Nach dem Philologie-Studium in Würzburg und einer Dozentenanstellung in Jena reiste Rückert nach Rom, immer noch unschlüssig, in welche Richtung er sein Interesse lenken sollte. Auf der Rückreise kam es dann in Wien zu einer ersten Begegnung mit dem berühmten Orientalisten, der ihm den Rat gab, orientalische Sprachen zu studieren, und ihn auch gleich im Persischen unterrichtete. Zurück in Deutschland, siedelte Rückert 1820 nach Coburg über, weil die dortige Hofbibliothek ihm die notwendigen Materialien für sein Studium der orientalischen Sprachen zur Verfügung stellen konnte. Außerdem befasste er sich in dieser Zeit intensiv mit dem Koran, aus dem er einige Stücke übersetzte, die aber erst nach seinem Tode veröffentlicht wurden.235 In die Coburger Zeit fällt Rückerts erste intensive Beschäftigung mit der persischen Literatur. Schon 1821 veröffentlichte er bei Cotta in Tübingen erste ˇ ala¯l-ad-Dı¯n Ru¯mı¯ (auch Dschelaleddin Rumi Nachahmungen der Ghasele von G genannt; 1207–1273), der neben Hafiz (1325/26–1390) zu denjenigen persischen Dichtern zählte, mit denen sich Rückert in seinen philologischen Studien als Erstes befasst hatte.236 Das Resultat seiner Beschäftigung mit der persischen 234 Ebd. 235 Der Koran. Im Auszuge übers. von Friedrich Rückert, hg. von August Müller, Frankfurt a. M.: Sauerländer 1888. Wegen mangelnden Interesses des Verlegers ist zu Rückerts Lebzeiten keine Publikation zustande gekommen. Die Veröffentlichung geschah erst posthum auf Wunsch seiner Nachkommen. Eine überarbeitete Neuausgabe der Übersetzung erschien 1995 unter dem Titel: Der Koran in der Übersetzung von Friedrich Rückert, hg. von Hartmut Bobzin, Würzburg: Ergon 1995. 236 In: Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1821, Tübingen: Cotta, S. 211–248. In der Forschung

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Poesie erscheint ein Jahr später und trägt den Titel Oestliche Rosen: drei Lesen, angeregt einerseits durch die Übersetzung Josephs von Hammer, andererseits durch Goethes Nachdichtungen im Divan. In einem Brief an Christian Freiherr von Truchseß im September 1819 heißt es dazu: Ich saß eben noch im vollsten Zuge eigener persischer Fabrikationen, aber es wollte nicht mehr von der Hand, da ich den Popanz neben mir wußte.237 Ich las ihn courirmäßig in wenigen Stunden durch, und manches hat mich vor Wollust ganz außer mich gebracht. Ich konnte über manche Teufelsstücke gar nicht aufhören zu lachen, zu schreyn und zu fluchen, etwas zu seufzen neben bey. Aber meine eigene Kost war mit durch diese im eigentlichsten Sinne derbere (weniger ätherische) schreckl. verleidet, und ich konnte gestern Nichts mehr zu Stande bringen als ein Loblied auf den alten Teufelskerl selbst.238

An Joseph von Hammer schreibt er drei Monate später: »Nun habe ich wirklich ein gut Theil deutsche Gasele elaborirt, zum Theil ganz ohne Unterlage vom Hafisischen, nur wo möglich in seinem Ton, und wenigstens soll sich das deutsche Gasel künftig so gut ausnehmen und so gut seinen Platz behaupten als das deutsche Sonett.«239 Diesen Zeilen ist deutlich genug zu entnehmen, dass es Rückert im eigentlichen Sinne gar nicht um die wortgetreue Übersetzung ging, sondern vielmehr um eine Eindeutschung der persischen Ghasele und um die Etablierung einer neuen lyrischen Form in der deutsche Dichtung.

8.

Wohltönende Ferne. Rückerts Nachbildungen orientalischer Dichtungen »Von der chinesischen, japanischen, arabischen Lyrik rede ich nicht, da ich sie nicht im Original lesen kann und den Verdacht hege, daß sie durch die Übersetzung in einen Anpassungsmechanismus gerät, der angemessenes Verständnis überhaupt unmöglich macht.« (Theodor W. Adorno) 240

237 238

239 240

werden diese Gedichte gewöhnlich nicht als Übersetzungen angesehen, allein schon deshalb, weil Rückerts Kenntnisse des Persischen zu diesem Zeitpunkt noch nicht umfassend genug waren. Als Goethes Divan erschien, war Rückert äußerst überrascht. – Mit dem Begriff ›Popanz‹ ist eine vermummte, Schrecken einjagende Gestalt gemeint. Dieses ›Loblied auf Goethe‹ setzte Rückert der Erstausgabe seiner Oestlichen Rosen voran; vgl. Friedrich Rückert: Oestliche Rosen. Drei Lesen, Leipzig: Brockhaus 1822, S. 1–3; zit. n. 200 Jahre Friedrich Rückert. 1788–1866. Dichter und Gelehrter. Katalog der Ausstellung, hg. von Jürgen Erdmann, Coburg: Landesbibliothek Coburg 1988, S. 156. Brief vom 12. 12. 1819, in: Friedrich Rückert: Briefe. Band 1, hg. von Rüdiger Rückert, Schweinfurt: Revista 1977 (= Sonderband der Veröffentlichungen der Rückert-Gesellschaft), S. 146–147, Nr. 98. Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1958, S. 79.

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»Die Geister der Lieder« Aus seiner Biographie weiß man, dass Rückert ein »Sprachgenie«241 gewesen ist, das in nur jeweils sechs bis acht Wochen eine neue Sprache erlernen konnte und schließlich insgesamt gut vierzig Sprachen beherrschte. Seine Methode war ebenso mühsam wie zeitraubend, aber, wie sein Beispiel zeigt, zweifellos effektiv. Sie bestand darin, einschlägige Elementarbücher und Lexika abzuschreiben; so verfuhr er mit griechischen Lehrbüchern, mit lateinischen und slawischen Kompendien, und in gleicher Weise ging er auch mit persischen, türkischen und arabischen Lehrbüchern vor. Außerdem lernte er Hebräisch, Sanskrit, Syrisch, Aramäisch, Koptisch, Albanisch, Litauisch, Finnisch, Äthiopisch, Afghanisch, Altpersisch, Malaiisch, Armenisch und sogar einige südindische Sprachen wie das Tamilische; ganz zu schweigen vom Englischen, Französischen, Italienischen, Spanischen und Portugiesischen, wobei man vermuten darf, dass selbst diese lange Liste seiner Sprachfähigkeiten keineswegs vollständig ist. Chinesisch allerdings hat Rückert wohl nicht verstanden. Seine Übertragung des Shijing basiert nicht auf dem Original, sondern auf einer lateinischen Übersetzung des Jesuitenpaters und Missionars Lacharme, die, obwohl bereits 1733 angefertigt, erst 1830 veröffentlicht wurde,242 da sie nach dessen Tod zuerst im Besitz des französischen Astronomen und Kartographen Joseph-Nicolas Delisle war, dann in die Bibliothek des Seeministeriums kam und danach lange Zeit in der Pariser Sternwarte lagerte. Dort hatte man sie seinerzeit irrtümlich der astronomischen Literatur zugeordnet, weil Lacharme in China vorrangig als Naturwissenschaftler und Astronom tätig gewesen war. Bevor Julius Mohl, der sich über viele Jahre hinweg in Paris mit orientalischen Studien beschäftigte und dabei auf das lateinische Manuskript gestoßen war, die erste vollständige Übersetzung des Shijing in Europa herausgab, waren westlichen Lesern nur einige Texte daraus bekannt geworden: Acht Gedichte hatte Jean-Baptiste Du Halde in seiner Description de la Chine abdrucken lassen, zehn weitere sowie das Fragment eines elften veröffentlichte Pierre-Martial Cibot in den Mémoires concernant l’histoire, les sciences, les arts, les moeurs, les usages […] des Chinois: par les missionaires de Pékin (in 16 Bdn., Paris 1776–89), drei Fragmente finden sich bei William Jones im zweiten Band seiner Asiatick Researches, und auch in Morrisons chinesischem Wörterbuch sowie in Landresses Journal asiatique kann man an mehreren Stellen Gedichte aus dem Shijing nachlesen. 1828 publizierte 241 Vgl. Conrad Beyer: Friedrich Rückert. Ein biographisches Denkmal. Mit vielen bis jetzt ungedruckten und unbekannten Aktenstücken, Briefen und Poesien Friedrich Rückert’s, Frankfurt a. M.: Sauerländer 1868, S. 304; ebenso ders.: Neue Mittheilungen über Friedrich Rückert, und kritische Gänge und Studien. Zweiter Theil, Leipzig: Frohberg 1873, S. 3. 242 Confucii Chi-King, sive, Liber carminum: ex latina P. Lacharme interpretatione, edidit Julius Mohl, Stuttgart: Cotta 1830.

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dann Marie Felicité Brosset seinen 30 Seiten umfassenden Essai sur le Chi-king, et sur l’ancienne poésie chinoise, in dem sieben weitere Lieder abgedruckt wurden.243 Bei Lacharmes Text handelt es sich jedoch nicht um eine Interlinearversion, wie es dann später bei Albert Ehrenstein fälschlicherweise heißt,244 sondern um eine lateinische Prosaübersetzung, weshalb im Falle Rückerts eher von einer Nachdichtung gesprochen werden sollte und nicht von einer wortgetreuen Übersetzung. Eine solche wurde erst 1880 von dem Sinologen Viktor von Strauß erstellt und auch publiziert. Dazu gab es bereits zuvor eine weitere Bearbeitung des Originals durch Johann Cramer,245 die allerdings so gut wie keine Beachtung fand, weil sie sprachlich weit hinter die Nachdichtung Rückerts zurückfiel.246 Großen Einfluss auf die Sinologie hatte hingegen die englische Übersetzung von James Legge aus dem Jahr 1871 mit dem Titel The She-Ching or Book of Poetry. Zu nennen wäre schließlich noch die von Hans-Conon von der Gabelentz veröffentlichte Übertragung aus dem Jahre 1864,247 die das Original »mit photographischer Treue wiederzugeben sucht«, der aber, wie der zeitgenössische Rezensent anmerkt, »der eigenthümliche Duft der Poesie«248 fehle. Während die Übersetzung von Strauß die volle Akzeptanz der Sinologen fand und von ihnen bis heute sehr geschätzt wird,249 kritisierten Dichter wie Ehrenstein sie vor allem auf Grund ihres poetischen Unvermögens und ihres spröden Geistes,250 doch verkannten sie damit völlig die Strauß’sche Intention. Dessen 243 Vgl. Morgenblatt für gebildete Stände, 27. Jg., Nr. 15 vom 17. Januar 1833, S. 58. 244 Albert Ehrenstein: Werke. Band 3/I: Chinesische Dichtungen. Lyrik, hg. von Hanni Mittelmann, München: Boer 1995, S. 107 (im Nachwort zu den Nachdichtungen aus dem SchiKing). 245 Schi-King, oder Chinesische Lieder, gesammelt von Confucius. Neu und frei nach P. La Charmes lateinischer Übertragung bearbeitet. Fürs deutsche Volk herausgegeben von Johann Cramer, Crefeld: Funcke 1844. 246 »Komisch erschien es, als Joh. Cramer (1844) eine freie Bearbeitung des Lacharme zu geben versicherte, da sein Buch nur eine Verschlechterung der Rückert’schen Phantasien enthält. Erst Victor Strauß hat eine dem Originale entsprechende Uebersetzung geliefert.« (Karl Ludwig Friedrich Gödeke: Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen, 3. Bd., 2. Abt., Dresden: Ehlermann 1881, S. 1282.) Gemeint ist Schi-King das kanonische Liederbuch der Chinesen (Heidelberg: Winter 1880). 247 Hans-Conon von der Gabelentz (Üb.): Sse-schu, Schu-king, Schi-king, in mandschurischer Uebersetzung mit einem Mandschu-Deutschen Wörterbuch, 2 Bde., Leipzig: Brockhaus 1864. 248 Blätter für literarische Unterhaltung, Jg. 1880, 1. Band, Leipzig: Brockhaus 1880, S. 350. 249 Wilhelm Grube hält die Übersetzung für eine »unübertreffliche Wiedergabe«, die zu einem »unveräußerlichen Besitz unserer klassischen Übersetzungslitteratur« geworden sei (Wilhelm Grube: Geschichte der chinesischen Litteratur, Leipzig: Amelang 1909, S. 47). Vgl. auch Günther Debon: Chinesische Dichtung. Geschichte, Struktur, Theorie. Leiden u. a.: Brill 1989, insbes. S. 218, wo die Übersetzung von Strauß als eine »geniale« Arbeit bezeichnet wird. 250 Ehrenstein nennt sie die im Vergleich zu Rückerts Nachdichtung »philologisch wertvollere, dichterisch schwächere Professorenarbeit« (Ehrenstein: Werke. Band 3/I, S. 142.)

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Ziel war es nämlich einzig und allein gewesen, die chinesischen Lieder in größtmöglicher Nähe zum Original wiederzugeben. In der Einleitung zu seiner Übersetzung heißt es nicht nur, dass er »überall sinngetreu, dann aber auch möglichst wörtlich […] übersetzen«251 wolle: Strauß übernahm außerdem die ursprüngliche Anordnung, Reihenfolge und Einteilung der Lieder in vier Gruppen, und auch hinsichtlich des Vers- und Strophenbaus sowie des Reimschemas bemühte er sich um eine »getreue Nachbildung«252 der ursprünglichen Form. Dazu führte er ein Prinzip ein, das seitdem viele Übersetzer beibehalten haben: Jede Silbe bzw. jedes chinesische Wort wurde von ihm mit einer Hebung wiedergegeben.253 In der Regel umfasst jede einzelne Zeile eines chinesischen Liedes vier Schriftzeichen, die jedes für sich einem Wort entsprechen. Alle diese Wörter sind gewöhnlich »inhaltsschwer« und müssen, weil sie sich nicht durch vier einsilbige deutsche Begriffe wiedergeben lassen, im Deutschen durch Füllwörter ergänzt werden, die aber nicht betont werden dürfen: »Allein ein chinesisches Wort füllt auch das Ohr ganz anders, als etwa eine unserer kurzen oder halbkurzen unbetonten Silben. Daher scheint es dem chinesischen Verse am nächsten zu kommen, wenn für jede seiner wuchtigen Silben im Deutschen ein einfacher Versfuß gesetzt wurde«.254 Daraus ergibt sich als Metrum ein Jambus oder Trochäus. Außerdem sind die Lieder des Shijing bis auf wenige Ausnahmen (einige Feiergesänge des vierten Teils) im Original immer gereimt, wobei die Reimstellung aber variabel ist. Auch diesen Umstand sucht Strauß in seiner Übersetzung so weit wie möglich zu beachten. Bei all diesen Bemühungen um Formtreue steht jedoch stets die Sinntreue an erster Stelle. Selbst wenn manchmal die wörtliche Bedeutung zurückstehen musste, war dieser Kompromiss dem Umstand geschuldet, dass zumindest »der volle Sinn des Verses getreu wiedergegeben wurde«.255 Rückert hingegen war es nicht möglich gewesen, einer solchen Forderung nachzukommen, denn schon die lateinische Übertragung war, wie Strauß seinerseits anmerkte, »voller Fehler und Missverständnisse, meist nur Umschreibung des ungefähren Sinnes«.256 Im Gegensatz zum sprachkompetenten Sinologen ging Rückert von vornherein mit einer viel größeren Formfreiheit an seine Nachdichtung heran. Er löste sowohl die ursprüngliche Einteilung der Lieder als auch ihre Reihenfolge auf und stellte die Gedichte um, indem er sie nach bestimmten Themen und Motiven neu gruppierte, womit er auch gewisse dramatische Entwicklungen mit einbaute. Frei seiner Phantasie folgend, ergänzte er 251 252 253 254 255 256

Schi-King, übers. von Strauß, S. 60. Ebd. Vgl. dazu Debon: Chinesische Dichtung, S. 208. Schi-King, übers. von Strauß, S. 59–60. Ebd., S. 61. Ebd., S. 58.

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einige Gedichte oder paraphrasierte andere. Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass Rückert in seiner Nachdichtung in erster Linie versucht hat, die chinesischen Lieder einzudeutschen, d. h. sie der deutschen Sprache und dem deutschen Geschmack anzueignen, um sie so für das zeitgenössische deutschsprachige Publikum zugänglicher zu machen. Ebenso neu ist das aus 14 Strophen bestehende Proömium mit dem Titel »Die Geister der Lieder«, in dem er seine Auffassung über die Weltpoesie gleichermaßen ›welt-poetisch‹ darlegt und in dem er eine Reihe von Motiven zusammenbringt, um die historische und dichterische Bedeutung seiner Nachdichtung zu unterstreichen. Die Stimmen der Lied-Geister sind dabei in direkter Rede an den Leser gerichtet: »Wir eingesperrten in der Nacht, Wir eingefangnen armen Geister! Wer lös’t des starren Zaubers Macht, Und sprengt den Kerker, welcher Meister? Wir, hell von Klang und Glanz umflossen, Beseelt aus Seelen einst ergossen, Nun stummes Erz im dumpfen Schacht, Der Luft, dem Licht verschlossen! Wie mancher ist an diesem Ort Unachtsam schon vorbeigegangen, Und hat nicht den vergrabnen Hort Geahnet, der hier liegt gefangen. Und wirst auch du vorübergehen Und nicht vernehmen unser Flehen, So werden wir noch lang’ hinfort Zum Leben nicht erstehen.«257

Das Shijing wird als ein geistiger Schatz dargestellt, als ein »Hort«, was offensichtlich auf das Nibelungenlied anspielt – eine Wortwahl, durch die Rückert die chinesische Volksdichtung bewusst dem deutschen Nationalepos an die Seite zu stellen sucht. Die Bergung eines solchen Schatzes verlangt vom Dichter, zum Bergmann zu werden, dem die Geister zurufen: »O grabe doch und dring’ herein / Und laß nicht hart Gestein dich schrecken!«,258 womit sie auch den Leser zur Fahrt in die Erzgrube drängen. Es folgen Bilder einer Geisterbeschwörung und der Befreiung der im unterirdischen Grab gefangenen »Geister der Lieder« durch das lyrische Verfasser-Ich, die allerdings nur dadurch möglich geworden ist, dass im Gegenzug die Geister das Ich von seinem »Wahne« befreiten, »daß am gelben

257 Rückert: Schi-King, S. 1–2. 258 Ebd.

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Flusse […] Nichts blühe zum Genuße.«259 Dies liest sich wie eine Reaktion auf das überkommene Vorurteil China gegenüber, wie es z. B. bei Herder und anfangs auch bei Goethe zu finden ist. Offen bleibt, ob das Ich hier stellvertretend für den deutschen Gelehrtengeist oder für Rückert spricht, denn spätestens gegen Mitte der 1820er Jahre hatte sich das China-Bild unter den deutschen Gelehrten deutlich verändert.260 Bezug nehmend auf das Drama L’Orphelin de la Chine261 und die von Murr und Rémusat übersetzten Romane heißt es im »Vorspiel« von Rückerts Nachdichtung weiter: Denn was in Schauspiel und Roman Mir kam vom Wesen der Chinesen, Das sprach mich doch auch gar nicht an, Ich hab’s, aufrichtig, nie gelesen. Und jetzo seh’ ich’s um mich walten, Sich glänzend einen Lenz entfalten, Mir eine Neuwelt aufgethan In der urält’sten alten.262

Die Bedingung dafür, dass sich diese neue poetische Welt dem Dichter eröffnet, ist der vereinende Geist, der »in verschiednen Zungen« redet und »Völker, Zeiten, nah und fern, / Durchhaucht, durchleuchtet und durchdrungen« hat, weshalb die Dichtungen der verschiedenen Völker für Rückert wie selbstverständlich ein »Gewächs’ aus Einem Kern«263 sind.

Die »poetische Wünschelruthe« des ›wahren‹ Dichters In welchem Verhältnis steht aber nun Rückerts Bearbeitung zu Lacharmes lateinischer Prosaübersetzung? Worin begründen sich der sprachliche Reichtum und die poetische Fülle seiner Nachdichtung? Diese Fragen versuchte ein namentlich nicht genannter Rezensent in einer Besprechung des Schi-King zu be259 Ebd., S. 4. 260 Vgl. die im vorigen Kapitel zitierte Bemerkung Goethes gegenüber Eckermann vom 31. Januar 1827. 261 In der Bearbeitung von Voltaire (1755). Zur Wirkung des Dramenstoffes auf die deutsche Literatur siehe Aurich: China im Spiegel der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, S. 78– 90. Es könnte mit dem Schauspiel jedoch auch Schillers dramatische Bearbeitung des tragikomischen Märchens nach Carlo Gozzi »Turandot, Prinzessin von China« gemeint sein, die am 30. Januar 1802 in Weimar aufgeführt wurde, oder das von John Francis Davis ins Englische übersetzte Drama Laou-Seng-Urh, or An heir in his old age (London: Murray 1817), s. Anm. 135. 262 Rückert: Schi-King, S. 4. 263 Ebd., S. 5.

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antworten, die noch vor der Publikation von Rückerts Übertragung im Januar 1833 im Morgenblatt für gebildete Stände in mehreren Fortsetzungen erschien. Sie geht davon aus, dass, ganz gleich, wie unbeholfen und unpoetisch die lateinische Übertragung auch sei, man in ihr doch schon beim flüchtigen Lesen »einzelne Züge einer poetischen Oekonomie«264 erkenne, wie sie bereits Du Halde beschrieben hatte, die darin bestehen, dass ein Gedanke mit denselben oder ähnlichen Bildern in den drei Strophen eines Gedichts durchgespielt werde, wobei sich die Wörter nur leicht verändern oder als Synonyme wiederkehren. Was man bei einer Übersetzung dieser Art lyrischer Dichtung benötige, sei der »Spürsinn des wahren Dichters, um den poetischen Gehalt hier auszuspüren«, und mit Blick auf die Bearbeitung von Rückert fügt der Rezensent hinzu: »[E]s war nur ihm gegeben, daß die poetische Wünschelruthe auf dieß unscheinbare Gold schlug«.265 Wie die Chinesen selbst ihre Dichtung geformt hätten, wisse man nicht genau, heißt es in der Besprechung weiter, doch liege mit Rückerts Bearbeitung »dasjenige vor uns, was, nach Göthes Bemerkung, rein Dichterisches vom Dichter übrig bleibt, wenn man ihn in Prosa übersezt«.266 Als Erklärung entwickelt der Rezensent eine für seine Zeit bemerkenswerte Resonanzpoetik: In den für andere unscheinbaren Klängen eines »verwandten Genius« erkenne der ›wahre‹ Dichter »wenn nicht Klang und Ton«, sofern er dessen Sprache nicht versteht, so »doch Gehalt, Seele und Motive«, und [s]o wie er den unbehülflichen Laut hört, erwacht in seiner Seele die Ahnung dessen, was dieser Laut ursprünglich gewesen seyn müsse, und es regt sich in ihm jene gestaltende Sehnsucht, welche, wie die wahre Weihe, so die höchste Wonne des Dichters ist, und zwingt ihn, dem Gedanken, den er als poetisch erkannt hat, das angemessene, von keiner regellosen Willkühr abhängige, sondern von den strengen Gesetzen der Kunst gebotene Gewand zu geben. Es möchte aber immer bedenklich scheinen, sich in dieser Hinsicht dem Dichter anzuvertrauen, und es könnte sich leicht der Zweifel regen, ob er uns nicht, eben weil er Dichter ist, anstatt des Fremden, doch nur das Eigene gebe. Diese Zweifel werden beschwichtigt werden, wenn der Sänger, der uns die fremden Lieder im vaterländischen Laute tönen läßt, zu den Eigenschaften des ächten Dichters die ausgebreitetste und innigste Kunde fremden Gesanges gesellt.267

Genau das aber sei bei Rückert der Fall: »Ihm, der im Verständnisse und in der reichsten Nachbildung fremder Poesie lebt und webt und mit ihren Formen als unumschränkter Herrscher schaltet«, würde ein kundiger Leser gewiss zutrauen,

264 265 266 267

Morgenblatt für gebildete Stände, 27. Jg., Nr. 24 vom 28. Januar 1833, S. 93. Ebd. Ebd. Ebd., S. 94.

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»daß er in der wörtlichen, treuen Uebersetzung die Poesie des Originals nicht nur ahnet, sondern mit Sicherheit empfindet und dargestellt.«268 Der Dichter wird hier als ein in Schwingung versetzter Resonanzkörper vorgestellt. Das Wissen über einige Formaspekte der chinesischen Poesie, das er von Du Halde beziehen konnte, genügt ihm, um aus der lateinischen Prosavorlage ›wirkliche‹ Dichtung zu schaffen. Ein Vergleich zwischen Rückerts Bearbeitung und der prosaischen Übersetzung Lacharmes zeige deutlich, dass Rückert »zuweilen fast wörtlich das Lateinische wiedergegeben [habe], am häufigsten den Sinn, den das Lateinische ausdrückt, genau in deutsche Metra gegossen, zuweilen auch aus den Anmerkungen genauere Bestimmungen in die Lieder selbst aufgenommen.«269 Dazu übersetzt der Rezensent zunächst das Lateinische wörtlich ins Deutsche und fügt dann Rückerts lyrische Bearbeitung hinzu. Die ›RohÜbersetzung‹ lautet: Eine Frau sehnt sich nach ihrem Manne, der rastlos in den Geschäften des Kaisers thätig ist, und lobt ihn. Der Himmel donnert im Süden vom Berge Nan-schan. Warum ist er von hier fortgegangen? Wie doch geschieht es, daß ihm keine Ruhe gelassen wird? ein Mann von höchster Tugend! Warum sollte er nicht kommen? Der Himmel donnert an der Seite des Berges. Warum schied er von hier? Wie geschieht es, daß ihm keine Muße gegeben wird? ein Mann von höchster Tugend! Warum sollte er nicht kommen? Der Himmel donnert am Fuße des Berges. Warum etc.270

Bei Rückert erscheint das Gedicht unter dem Titel »Die Staatsboten-Frau« in folgender Gestalt: Südwerts rollt der Donner um den Berg Nan-Schan; Wo verweilt der edle Mann? Darf er nie im Hause ruhn? Muß er immer das Geschäft des Kaisers thun? Südwerts rollt der Donner um des Berges Haupt; Ist ihm nie die Ruh erlaubt? Giebt es keinen andern nun? Muß er einzig das Geschäft des Kaisers thun? Südwerts rollt der Donner um des Berges Fuß; O vernähm’ ich seinen Gruß! Dürft’ er mir am Herzen ruhn! Doch er muß nun das Geschäft des Kaisers thun.271

268 269 270 271

Ebd. Ebd. Ebd. Rückert: Schi-King, S. 25. Zwischen Rückerts Übertragung und dem im Morgenblatt zitierten Text gibt es kleinere Differenzen in der Orthographie.

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Während das Donnergrollen am Nan-shan sich an verschiedenen Stellen wiederholt, mal am Gipfel, mal im Tal, wird die Sehnsucht der Ehefrau vor den leicht variierten Landschaftsbildern in deutschen Reimen und Metren ausgedrückt. Der Endreim sowie die Strukturen der Wiederholung und Variation entsprechen voll und ganz der Vorstellung, die man damals von der »poetischen Oekonomie« chinesischer Dichtung hatte. In diese Gussform musste der formgewandte Rückert nach der Erklärung des Rezensenten die aus der lateinischen Übersetzung extrahierten deutschen Klänge bringen, und zwar so, dass die poetische Bearbeitung »eine solche Fülle auf ’s Vollendetste behandelter deutscher Metra enth[alte]«.272 Etwas komplizierter verhält es sich bei der zweiten Probe, einer poetischen Beschreibung des chinesischen Einhorns (Ki-ling). Weil dem deutschen Leser jegliche Vorstellung davon fehlte, sah sich Rückert gezwungen, dessen in den Anmerkungen gelieferte Beschreibung in seine Dichtung mit aufzunehmen. Er musste dafür also die Prägnanz und Schlichtheit der klassisch-chinesischen Form modifizieren und aus der recht kurzen lateinischen Übersetzung ein erheblich längeres Gedicht machen. Die wörtliche Übersetzung aus dem Lateinischen lautet: Wer sollte nicht das Thier, das Ki-ling heißt, bewundern, mit seinen Füßen? O bewundernswürdiges Ding! Alle Kinder, die der Fürst hat, jedes derselben ist ein anderes Ki-ling. O Ki-ling mit deiner Stirne! wundernswerthes Ding! Alle Verwandte, die der Fürst hat, jeder derselben ist ein anderes Ki-ling. O Ki-ling mit deinem Horne! Leute des Fürsten des berühmten Volkes, wunderswürdiges Ding! jeder von ihnen ist ein anderes Ki-ling.273

In den Anmerkungen heißt es dann über dieses Fabeltier: Das Ki-ling hat den Leib eines Damhirsches, den Kopf eines Schaafes, den Schwanz und Huf eines Ochsen, die Schenkel eines Pferdes, ein einziges Horn mit fleischerner Spitze, einen Schuppenleib. Es hat fünf Farben, ist zwölf Fuß hoch, verlezt kein Gras, zertritt kein Insekt in seinem Gange, stößt kein Thier mit seinem Horne.274

Bei Du Halde ist über dieses Fabeltier auch noch zu lesen, dass die Chinesen vorgeben, »es sey vierfüßig, habe eine gute Vorbedeutung, sey aber rar, weil sie sagen, daß man nur solches unter den glücklichen Regierungen siehet«.275 Das Gedicht »Ki-ling, das chinesische Einhorn« lautet dann bei Rückert:

272 273 274 275

Morgenblatt für gebildete Stände, 27. Jg., Nr. 25 vom 29. Januar 1833, S. 99. Ebd., S. 98. Ebd. Du Halde: Ausführliche Beschreibung des chinesischen Reichs, I. Theil (1747), S. 445. Vgl. auch das Kilin in Unzers Gedicht »Vou-ti bey Tsin-nas Grabe« in Kapitel 6.

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Das edle Thier Ki-ling, Ein Wunder nicht gering, Ist wohl ein seltnes Ding. Es trägt ein ehern Horn An seiner Stirne vorn, Stößt doch kein Thier im Zorn. Es gehet nie geschaart, Es gehet nie gepaart, Ist einzig seiner Art. O welches Wunder! von den schönen, Von allen unsres Königs Söhnen Ist jeder einzig ein Ki-ling. Das edle Thier Ki-ling, Das nie ein Jäger fing, Ist wohl ein Wunderding. Es trägt ein ehern Huf, Doch nie sein Fußtritt schuf Des Gräsleins Weheruf. An seinem Leib vereint Fünffache Farb’ erscheint, Daß man zu träumen meint. O welches Wunder! von gesammten Des Königstammes Angestammten Ist jeder einzeln ein Ki-ling. Das edle Thier Ki-ling, Einzig im Weltenring, Ist wohl ein Wunderding. Es führet starken Schritt, Tritt hart nicht auf damit, Kein Wurm darunter litt. Es hat des Rosses Kraft, Des Lammes Eigenschaft, Ein Thier so musterhaft. Was kann das Wunder übertreffen? Ein jeder von des Kaisers Neffen In seiner Art ist ein Ki-ling.276

Die eigentliche Pointe der Rezension, um noch den letzten Zweifel an der Möglichkeit der Übertragung »ächter Poesie« aus einer wörtlichen lateinischen Übersetzung zu beseitigen, liegt in der Rückübertragung »eines der herrlichsten Gedichte eines deutschen Dichters in ein Latein […], das […] sich dem Latein

276 Rückert: Schi-King, S. 17–18.

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des Pater Lacharme so viel als möglich nähern sollte«.277 Der Leser wird nun aufgefordert, den lateinischen Prosatext ins Deutsche zurück zu übersetzen und das Gedicht, indem er die Prosa in Reime bringt, zu erraten: Puro lumine fertur solis currus super valle et super flumine. Eheu! excitat quotidie in cursu suo sicut tuos ita meos etiam dolores alte in corde manentes. Nox quoque vix prodesse mihi potest. Nam ipsa somnia tristi sub specie nunc veniunt. Sentio vim horum dolorum quae tacite in corde secreto format. Multi, multi sunt anni quod hic infra video naves vehere, quarum quaevis ad locum suum venit. Sed eheu! sempiterni dolores, qui firmi sunt in corde, a fluvio non auferuntur. Pulchris in vestibus venire cogor. Sumpti sunt ex scrinio; nam festus dies est hodiernus. Nemo suspicatur, quam dire dilaniatum sit cor meum in corde doloribus. Clam semper lacrymas fundere cogor; sed hilaris videri possum, immo tanquam bona valetudine fruens, rubrisque genis. Hi dolores letiferi si essent cordi meo, mortuus essem jam pridem.278

Um das Rätsel zu lösen und das Gedicht zu finden, müsste man also nach einer Wort-für-Wort-Übersetzung die syntaktische Struktur dem Deutschen anpassen, woraus sich folgender Wortlaut ergibt: ›Im reinen Licht wird der Sonnenwagen über Tal und über Fluss fortgetragen usw.‹ Abschließend wäre die Prosa nur noch in ausgewogene Reime zu bringen. Bei einem Dichter wie Goethe liest sich das dann so: Über Tal und Fluß getragen Ziehet rein der Sonne Wagen. Ach! sie regt, in ihrem Lauf, So wie deine, meine Schmerzen, Tief im Herzen, Immer Morgens wieder auf. Kaum will mir die Nacht noch frommen; Denn die Träume selber kommen Nun in trauriger Gestalt, Und ich fühle dieser Schmerzen, Still im Herzen, Heimlich bildende Gewalt. […] 279

277 Morgenblatt für gebildete Stände, 27. Jg., Nr. 25 vom 29. Januar 1833, S. 99. 278 Ebd. 279 Goethe, FA I, 1, S. 647f.

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Weltliteratur und Weltpoesie Für Rückert gibt es in der Dichtung keine trennenden Mauern und Barrieren, denn in ihr waltet ein universaler Weltgeist. Die beiden letzten Zeilen des Proömiums fassen den Grundgedanken seiner Nachdichtung exemplarisch zusammen: Daß ihr erkennt: Weltpoesie Allein ist Weltversöhnung.280

Rückert spricht hier nicht von ›Weltliteratur‹ sondern von ›Weltpoesie‹. Goethe kennt beide Begriffe und verwendet sie in unterschiedlicher Bedeutung, wie Fritz Strich verdeutlicht: Weltliteratur ist die zwischen den Nationen vermittelnde, sie miteinander bekanntmachende Literatur, der geistige Raum, in dem sich die Völker begegnen und ihre geistigen Güter zum Austausch bringen. Weltpoesie ist die allgemein menschliche, allen Völkern und Zeiten von der Natur verliehene Gabe der Dichtung, die sich ganz unabhängig von Stand und Bildung überall hervortun kann und daher besonders klar in dem, was man Volksdichtung nennt, zur Erscheinung kommt.281

Goethes Auffassung von ›Weltpoesie‹ als eine »Welt- und Völkergabe«282 ist, wie man aus Dichtung und Wahrheit weiß, stark von Herder beeinflusst, der in der Volksdichtung die echte und reine Ausdrucksform der Poesie erblickte. Je nach den kulturellen Umständen prägt sich in der jeweiligen Volksdichtung die Weltpoesie auf jeweils verschiedene Weise aus. Für Goethes Überlegungen spielten vor allem die slawischen Völker eine Rolle, denn bei der Lektüre ihrer Volksdichtung scheint ihm der Gedanke einer Weltpoesie gekommen zu sein.283 Der erste Beleg für das Wort ›Weltliteratur‹ wiederum findet sich bei Goethe in einer kurzen Tagebuchnotiz vom 15. Januar 1827,284 also zwei Wochen vor dem denkwürdigen Gespräch mit Eckermann. In kurzen Bemerkungen, Briefen und als Gedankenbaustein in einigen Abhandlungen kommt er in den folgenden 280 Rückert: Schi-King, S. 6. 281 Fritz Strich: Goethe und die Weltliteratur, Bern: Francke 1946, S. 351. Strich verweist außerdem darauf, »wie häufig Goethe den geistigen Güteraustausch zwischen den Nationen mit dem materiellen verglich, dem Handelsverkehr, dem Weltmarkt, auf dem die Völker ihre Waren zum Austausch bringen« (ebd., S. 44). 282 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit (Teil II, 10. Buch), in: WA, I, 27, S. 313. 283 Dokumentiert wird dies durch die erstmalige Verwendung des Begriffs bei Goethe in dem Aufsatz »Serbische Gedichte« (1827); WA, I, 41.2, S. 281–284, hier S. 283. Vgl. dazu Talvj [d.i. Therese Albertine Louise von Jacob, verh. Robinson]: Volkslieder der Serben. Metrisch übersetzt und historisch eingeleitet, 2 Bde., Halle: Renger 1825–26, ebenso Strich: Goethe und die Weltliteratur, S. 353. 284 Goethe WA, III, 11, S. 8.

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Jahren immer wieder auf den Begriff ›Weltliteratur‹ zurück, ohne ihn jedoch ausführlicher zu entwickeln. Er spricht davon, dass die Literaturen einander kennenlernen, aufeinander Bezug nehmen, ihre Ansichten und Urteile ausgleichen und sogar Neigung und Anlass finden sollten, gemeinsam »gesellschaftlich zu wirken«.285 Goethe misst also die Zukunft der Literatur an ihrer Resonanzwirkung. Indem er das Literarisch-Ästhetische mit dem Gesellschaftlichen verknüpft, eröffnet er einen Resonanzraum, in den Literatur hineinklingen und mehr noch: eingreifen möge. Damit wird auch deutlich, dass er den Begriff der Weltliteratur nicht im Sinne eines auf bestimmte Werke eingeschränkten Literaturkanons missverstanden wissen wollte. Im Gegensatz zu Goethe denkt Rückert beide Begriffe zusammen. Mit seinen Nachdichtungen offeriert er ein Stück vermittelnder Weltliteratur, das er als weltversöhnende Weltpoesie konzipiert, oder, um mit Hans Wollschläger zu sprechen: Während Wieland und Goethe den Begriff der ›Weltliteratur‹ prägten, definierte ihn Rückert neu als »Weltpoesie«.286 Für ihn bezeichnet dieser Begriff den weltoffenen Resonanzraum des Poetischen schlechthin: »Die Poesie ist überall nur zufällig durch Sprache, Charaktere, Situationen u. dgl. national; an sich aber ist sie rein menschlich«.287 Dieser Gedanke wird auch von seinem Zeitgenossen Johannes Scherr geteilt, wenn dieser 1848 in seiner zweibändigen Zusammenstellung Bildersaal der Weltliteratur ein »›Weltkonzert‹ der Poesie« anstimmt, »in dessen Universalsymphonie die dichterischen Stimmen- und Instrumentalklänge der verschiedenen Zeiten und Völker dereinst zusammenfließen könnten und sollten«.288 Scherrs umfangreiche Sammlung von Dichtungen verschiedener Völker289 trägt als Motto die letzten Verse aus dem SchiKing-Vorspiel und setzt dann auch mit Auszügen aus Rückerts Schi-KingÜbersetzungen ein. 285 Goethe auf einer Zusammenkunft von Naturwissenschaftlern 1828 in Berlin, vgl. FA I, 25, S. 79. 286 Vgl. Hans Wollschläger: »Rückerts ist der Orient, Rückerts ist der Okzident… Das übertragene Morgenland«, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 2003, Göttingen: Wallstein 2004, S. 112–141, hier S. 114. 287 So der Kommentar eines unbekannten Rezensenten in der Allgemeinen Literatur-Zeitung 32 (1835), 3. Band, Nr. 157 (September 1835), Sp. 34. 288 Zitiert nach der Neuauflage: Johannes Scherr: Bildersaal der Weltliteratur. Erster Band, Stuttgart: Kröner 1869, S. 5. 289 Ähnliche Versuche wurden vorher unternommen von Oskar Ludwig Bernhard Wolff (Hg.): Halle der Völker. Sammlung vorzüglicher Volkslieder der bekanntesten Nationen, 2 Bde. Frankfurt a. M.: Sauerländer 1837; Karl Maria Kertbeny (Üb.): Gedichte aus fremden Sprachen, Jena: Mauke 1849; Remigius Grau (Üb.): Zwölf Monde in Anderlei, Pressburg: Wigand 1851; Wolfgang Menzel (Hg.): Die Gesänge der Völker. Lyrische Mustersammlung in nationalen Parallelen, Leipzig: Mayer 1851; Georg Friedrich Daumer (Üb.): Polydora. Ein weltpoetisches Liederbuch, Frankfurt a. M.: Literarische Anstalt (Rütten) 1855.

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Maßgeblich für Rückerts Auffassung eines weltpoetischen Raums ist der Aspekt der Entgrenzung, und zwar sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Hinsicht: Was vor Jahrtausenden gerauscht Im Wipfel ind’scher Palmen, Wie wird es heut von dir erlauscht Im Strohdach nord’scher Halmen! 290,

was ihn allerdings nicht daran hindert, sein einleitendes Gedicht stilistisch und formal dem deutschen Volkslied anzugleichen und nicht etwa dem arabischen Ghasel oder der chinesischen Liedform – ein Vorgehen, das er in der letzten Strophe des Gedichts dem Leser dann, wenn nicht gerade zwingend, so doch wenigstens einprägsam zu explizieren sucht: Daß über ihrer Bildung Gang Die Menschheit sich verständ’ge, Dazu wirkt jeder Urweltsklang, Den ich verdeutschend bänd’ge.291

Rückerts Ideal einer poetischen Endosmose Rückerts Vorstellung von Weltpoesie trägt die Züge einer Sprachutopie, die das Deutsche als eine universelle Sprache imaginiert und die mit der Suche nach einer »inneren Sprache des Denkens«292 verbunden ist. Wie Stefan Willer gezeigt hat, begründet Rückert seine Sprachutopie vom Deutschen im Modus einer Übersetzungstheorie.293 Willer zieht als Beleg die Dissertatio philologico-philosophica de idea philologiae aus dem Jahr 1811 heran, in der Rückert auf die besonderen Eigenschaften des Deutschen zu sprechen kommt: »Was man unserer Sprache früher zum Vorwurf gemacht hat, nämlich daß sie keinen eigenen Charakter habe und in der Nachahmung aller ausländischen Sprachen richtungslos zerfließe, gerade darin liegt ihre höchste Universalität.« (§ 33) Rückert, so kommentiert Willer die Passage, entwerfe »die deutsche Sprache gleichsam im Zustand einer Immunschwäche: Sie kann ihre Grenzen nicht stabil halten und 290 Friedrich Rückert: »Weltpoesie« [1832], in: Rückerts Werke, hg. von Georg Ellinger. Kritisch durchges. u. erl. Ausg., 2 Bde. Leipzig/Wien: Bibl. Institut 1898, hier Bd. II, S. 13. 291 Ebd. 292 Zit. n. Friedrich Rückert: »Jetzt am Ende der Zeiten«. Unveröffentlichte Gedichte, hg. von Richard Dove, Bodenheim: Athenäum 1989, S. 11. 293 Siehe dazu Stefan Willer: Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik, Berlin: Akademie 2003, S. 183. Die Zitate aus Rückerts Dissertatio philologicophilosophica de idea philologiae sind ebenfalls Willer entnommen, ebd. S. 183–184.

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läßt daher alle anderen Sprachen in sich einwandern.«294 Allerdings war das für Rückert keineswegs eine Schwäche. Bereits in seiner Dissertatio entwickelte er die Vorstellung einer poetischen Endosmose, die durch das unablässige Einströmen fremder Dichtung ins Deutsche gekennzeichnet ist und die davon ausgeht, dass die Sprache gleichsam poröse Wände besitze, wenn nicht gar offene Grenzen. Für Rückert macht diese Durchlässigkeit die spezifische Besonderheit des Deutschen aus: »Denn während alle anderen Sprachen jeweils in ihre eigentümliche Gestalt eingeschlossen sind, deren Grenze sie nicht überschreiten können, versucht unsere Sprache, alle diese Gestalten zur Einheit zusammenzufassen und sich eine universelle Sprachgestalt, die wahre Idealsprache auszubilden.« (§ 33) Die deutsche Sprache, die eben ihre Grenzen nicht geschlossen hält und das Fremde in sich aufnimmt, wird Rückert zum »Muster sprachlicher Inklusion«,295 als deren Transportmittel ihm die Übersetzung gilt. Übersetzungen sind für ihn versiones im buchstäblichen Sinne des lateinischen Wortes: »Wenn sie ihren Namen verdienen und das leisten, was sie versprechen, so sieht man, wie hoch sie zu schätzen sind! Und gerade durch ihren Namen zeigen die versiones, daß sie sich das Fremde zum Eigenen anverwandeln [vertere] wollen.« (§ 37) Die Übersetzung durch Anverwandlung ließe sich mit Willer als Inklusion verstehen. Die an ihren Rändern durchlässige deutsche Sprache werde dabei zur ›Umgebung‹ für jede andere Sprache. Übersetzen, so Willer weiter, sei »nichts anderes als der Entzug von Fremdheit; ein Entzug, der aber keiner assimilatorischen Anstrengung bedarf, sondern selbst ein Apriori der Übersetzung darstellt«.296 Das Deutsche als Zielsprache der Übersetzung werde bei Rückert zu einem »Bereich vollendeter Extension, in dem sich alle anderen Sprachen überschneiden«.297 Es erfüllt damit zugleich die Bedingungen einer Idealsprache, die gleichsam zwischen allen Sprachen steht, und inkorporiert mit ihrer endosmotischen Ästhetik Rückerts Vorstellung von der Weltpoesie. An dieser Stelle wird ein weiterer Unterschied zu Goethe deutlich, denn fernab von der Vision einer Idealsprache, sieht Goethe das Konzept Weltliteratur in der praktischen Tätigkeit des Übersetzens fortgeführt.298 Das wird an Goethes Ein294 Ebd., S. 183. 295 Ebd. 296 Ebd., S. 183–184. Die Auffassung Rückerts ließe sich wiederum der Goethes entgegensetzen. Goethe denkt die Leistung des Übersetzers dialektisch: Sie besteht nur zum einen Teil darin, eine bislang unzugängliche, fremde Welt sich anzueignen, denn auf der anderen Seite erzeugen die Übersetzer auch eine Gegenbewegung, die sich der Aneignung der fremden Kultur entgegenstellt. Laut Goethe sind sie »geschäftige Kuppler«, die uns eine »halbverschleyerte Schöne als höchst liebenswürdig anpreisen« und »eine unwiderstehliche Neigung nach dem Original« erregen, das aber unerreichbar bleibt (FA, I, 13, S. 32; vgl. HA 13, S. 499). 297 Willer: Poetik der Etymologie, S. 184. 298 Auch der späte Goethe sah das Deutsche als eine Vermittlersprache für die Weltliteratur an. In »Serbische Lieder« (1824) rühmt er die deutsche Sprache wegen ihrer anpassungsfähigen

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schätzung der gemeinsamen Arbeit mit Frédéric Jacob Soret deutlich, der mit der französischen Übersetzung von Goethes Versuch über die Metamorphose der Pflanzen, die erstmals 1790 bei Ettinger in Gotha erschien, beauftragt worden war. In einem Brief vom 24. April 1831 an den Kölner Kunstsammler Sulpiz Boisserée äußert sich Goethe höchst positiv über diese Zusammenarbeit, in der er ein Ergebnis der neuen Funktionsform ›Weltliteratur‹ erblickte: Bey der Übersetzung meiner letzten botanischen Arbeiten ist es ganz zugegangen wie bey Ihnen. Ein paar Hauptstellen, welche Freund Soret in meinem Deutsch nicht verstehen konnte, übersetzt ich in mein Französisch; er übertrug sie in das seinige, und so glaub ich fest, sie werden in jener Sprache allgemeiner verständig seyn, als vielleicht im Deutschen. Einer französischen Dame soll dieß Kunststück auch schon eingeleuchtet haben; sie läßt sich das Deutsche verständlich und ungeschmückt übersetzen und ertheilt ihm alsdann eine Anmuth, die ihrer Sprache und ihrem Geschlechte eigen ist. Dieß sind die unmittelbaren Folgen der allgemeinen Weltliteratur; die Nationen werden sich geschwinder der wechselseitigen Vortheile bemächtigen können. Mehr sag ich nicht, denn das ist ein weit auszuführendes Capitel.299

Als Goethe 1827 den Beginn der »Epoche der Welt-Literatur« proklamierte, handelte es sich weniger um eine Prognose als vielmehr um eine Feststellung: »Welt-Literatur« war ein Phänomen, das er, seitdem er mit anderen europäischen Autoren in Kontakt stand, selbst miterlebte, und die »Epoche der Welt-Literatur« bedeutete für ihn in erster Linie Austausch mit einigen wenigen Dichtern und Forschern, wie Alessandro Manzoni, Lord Byron, Thomas Carlyle und Germaine de Staël – auch wenn diese Bündnisse mitunter mit Bedenken und Ärger verbunden waren oder wie im Falle Byrons nur über eine große räumliche Distanz geführt werden konnten.300 Eigenschaften und erklärt, dass sie zum assimilierenden Übersetzen »besonders geeignet« sei: »[S]ie schließt sich an die Idiome sämmtlich mit Leichtigkeit an, sie entsagt allem Eigensinn und fürchtet nicht, daß man ihr Ungewöhnliches, Unzulässiges vorwerfe; sie weiß sich in Worte, Wortbildungen, Wortfügungen, Redewendungen und was alles zur Grammatik und Rhetorik gehören mag, so wohl zu finden, daß, wenn man auch ihren Autoren bei selbsteignen Productionen irgend eine seltsamliche Kühnheit vorwerfen möchte, man ihr doch vorgeben wird, sie dürfe sich bei Übersetzung dem Original in jedem Sinne nahe halten. […] Wenn uns eine solche Annäherung ohne Affectation wie bisher nach mehrern Seiten hin gelingt, so wird der Ausheimische in kurzer Zeit bei uns zu Markte gehen müssen und die Waaren, die er aus der ersten Hand zu nehmen beschwerlich fände, durch unsere Vermittelung empfangen.« (WA I, 41.2, S. 151–152). In »Volkslieder der Serben« von 1826 heißt es weiter: »Anlockung für Fremde, Deutsch zu lernen; nicht allein der Verdienste unserer Literatur [wegen], sondern daß die deutsche Sprache immer mehr Vermittlerin werden wird, daß alle Literaturen sich vereinigen.« (WA I, 42.1, S. 253; unter »Lesarten« zu »Volkslieder der Serben«.) 299 WA IV, 48, S. 189–190. 300 Richard Friedenthal stellte in diesem Zusammenhang die Frage, ob eine persönliche Be-

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Rückert hingegen zog sich zurück. Seit 1846 publizierte er nur noch wenig. Er entfloh dichterisch in den Orient, um der deutschen Sprache und Dichtung, wie Loerke es ausdrückt, »neue Großreiche zu erwerben«.301 Doch dahin wollten ihm auf Dauer nur wenige folgen, und das Bild des zu seiner Zeit hochgeschätzten Rückert verblasste schnell. Schon Franz Muncker beschließt 1890 seine Kurzbiographie Rückerts mit dem Befund, dass, obgleich dessen Verdeutschungen »für alle neueren, wirklich künstlerischen Übersetzungen aus der morgenländischen Litteratur massgebend geworden«302 seien, seine eigene Dichtung »nur noch ganz wenige Verehrer« finden würde, die »in übertriebener Begeisterung den Sänger des ›Liebesfrühlings‹ unsern grössten Meistern Goethe und Schiller als ebenbürtig beizugesellen wagen«.303

Dichtung im orientalischen Geschmack Rückerts Poesien und Übersetzungsarbeiten wurden von der zeitgenössischen Kritik höchst beifällig aufgenommen. Das gilt sowohl für die 1834–1838 herausgegebenen Gesammelten Gedichte in sechs Bänden als auch für die zweibändige Übersetzung der Hamâsa, die 1846 erschien. In seiner Besprechung des ersten Gedichtbandes feierte ihn der Rezensent in den Blättern für literarische Unterhaltung als einen »Virtuosen in der Poesie«,304 und auch die Allgemeine Literatur-Zeitung lobte in ihm besonders den Sprachkünstler. Rückert, so heißt es dort, erweise sich als »Meister aller Formen, der einheimischen wie der fremden und fremdesten, der alten wie der neuen«: »Man erstaunt über die Gewandtheit und Fertigkeit, mit der jede Form, nach einem sicheren rhythmischen Gefühl, unserer Sprache von ihm anbequemt ist, ohne daß ihr übergroße Gewalt angethan wird.«305 Das Gesagte unterstreicht bereits, was die Biographien und Werkdarstellungen dann weiter ausführen sollten: die meisterhafte Beherrschung der äußeren Formen, seinen leichten Umgang mit der Sprache, wenn er wie »ein schwärmender Kolibri […] den Honig aus den Blumen aufsaugt«, »die ganz mühelose

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gegnung für beide Seiten vorteilhaft verlaufen wäre, was wohl offen bleiben muss; vgl. ders: Goethe. Sein Leben und seine Zeit, München: Piper 1963, S. 667. Über Goethes Verhältnis zu den genannten Dichtern siehe außerdem Dieter Lamping: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere, Stuttgart: Kröner 2010, S. 26–45. Oskar Loerke: »Friedrich Rückert«, in: Gedichte und Prosa. Zweiter Band: Die Schriften, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1958, S. 431–480, hier S. 434. Franz Muncker: Friedrich Rückert, Bamberg: Buchner 1890, S. 69. Ebd., S. 69–70. »Liebesfrühling« erschien 1844 und war Rückerts größter Erfolg. Blätter für literarische Unterhaltung, Jg. 1835, Nr. 60 (Ausgabe vom 1. März), S. 245. Der Rezensent ist Gustav Theodor Fechner (hier unter dem Pseudonym Dr. Mises). Allgemeine Literatur-Zeitung 32 (1835), Nr. 156, Sp. 25.

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ungezwungene Weise, in der bei ihm die Sprache in seinen schönsten Gedichten dem Gedanken folgt«,306 und schließlich seinen Einfluss auf die dichterische Sprache überhaupt: »Rückert wirkte als Sprachkünstler auf die deutsche Sprache ein; dieselbe stand vollkommen in seinem Dienste, sie war unter seiner Hand biegsam und wohltönend«, heißt es zwei Jahre nach Rückerts Tod bei Conrad Beyer.307 Die meisten Rückert-Biographen sehen ihren Dichter in der Nachfolge Goethes. Bereits Franz Muncker merkte an, dass keiner Goethes Idee der Weltliteratur »so praktisch aufgefasst, keiner so unermüdlich gearbeitet [habe], sie zur That zu machen, wie Friedrich Rückert«. Und selbst, was nach ihm geleistet worden sei, stehe doch, so Muncker weiter, »zum grossen Teile unter seiner Einwirkung«.308 Als Übersetzer und »künstlerischer Nachbildner« habe Rückert sich die Aufgabe gestellt, »die mannigfachen Töne zu treffen, welche in der Poesie der verschiedensten Völker des Abend- und Morgenlandes ihm erklangen«:309 Er hatte sich in die Sprache und Anschauungen, in die Vorzüge und Schwächen namentlich der morgenländischen Dichter vollständig eingelebt. So ausgerüstet, ging er an die Übersetzung, war aber nunmehr bemüht, all dieses philologische Einzelwissen, so weit es der rein dichterischen Wirkung Eintrag thun könnte, zu verbergen und besonders jede schulmeisterlich pedantische Genauigkeit zu vermeiden. Er übersetzte stets im Geist und Ton der Originale; aber wie seine Sprache, so sollte auch sein ganzer dichterischer Stil, die äussere Form seiner Übertragung im weitesten Umfange deutsch sein. Er gab nicht sklavisch Wort für Wort und Vers für Vers wieder; er vertauschte oft ausländische Bezeichnungen, deren Fremdartigkeit uns unnötigerweise stören würde, mit deutschen Begriffen und nannte z. B. in seinen Übersetzungen aus dem Chinesischen öfters lauter deutsche Namen von Bäumen, Früchten, Fischen und andern Tieren; er wandte sehr oft verhältnismässig einfache Vers- und Reimformen der neueren deutschen Poesie an.310

Diese Eindeutschungen in seiner Schi-King-Nachdichtung sind allerdings mit Sicherheit auf Rückerts nicht vorhandene Chinesischkenntnisse zurückzuführen. Doch auch in einigen seiner Übertragungen aus dem Persischen, so Muncker, fänden sich mitunter Abschweifungen in breite Paraphrasen und Erweiterungen von Bildern und Gleichnissen, die von den persischen Dichtern nur angedeutet würden. Dessen ungeachtet habe dennoch die Dichtung durch dergleichen Zusätze nichts an Kraft und Wirkung eingebüßt; »sprachlich tadellos« biete Rückerts Wiedergabe die persische Dichtung »in einem neuen, in der That ganz deutschen, durchaus schönen Gewande dar«.311 Mit Blick auf eine Episode 306 307 308 309 310 311

Blätter für literarische Unterhaltung, Jg. 1835, Nr. 60, S. 246. Beyer: Friedrich Rückert. Ein biographisches Denkmal, S. 306. Muncker: Friedrich Rückert, S. 3. Ebd., S. 3. Ebd., S. 35. Ebd., S. 39.

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aus dem Mahabharata glaubt Muncker dann aber doch anmerken zu müssen, dass Rückert, um auch noch seiner sprachlichen Nachbildung »das eigentümliche Kolorit des Originals zu geben, in dieselbe sprachliche Formen aufgenommen [habe], die, so bezeichnend sie auch für die indische Poesie sein mögen, im Deutschen doch äusserst gewagt erscheinen«.312 Zu ihnen zählt er zunächst einmal die »durch kühne Zusammensetzung neu gebildeten malenden Substantiva und Adjektiva, die zwar die Herrschaft des Dichters über die Sprache beweisen, aber auch den Zwang, den er der Sprache anthut«,313 ferner dann »die zahlreichen Participia Praesentis, die im Deutschen immer etwas unnatürlich klingen« wie z. B. »zeitortkundig, gliederzart-wuchsrichtig, gewölbtaugenbrauenbogig, sanftlächelredewogig, feindestodumerzt, lotosblumenkelchgeaugt, haupt-himmelan-entrückt, gattensehnsuchtsthränumflossen, [und das im Verein mit Komposita wie] Schlangen-Tigerwald, Kummer-Gramverzehrung u. dgl. m.«314 Darüber hinaus verwende er gänzlich »undeutsche Partizipialkonstruktionen« wie in den beiden Versen »Der König, an einem Abend / Den Leib verunreint habend«.315 Solche Überschreitungen und sprachliche Exzesse sieht Muncker keineswegs in einer sprachlichen Unbeholfenheit begründet, sondern viel eher in einem Streben nach formaler Meisterschaft, das den Dichter »über das erlaubte Mass hinaus zu Kühnheiten verleitete, die der Genius der deutschen Sprache nicht verträgt«,316 womit er eben jenes »Zuviel« anspricht, das schon Fechner in seiner Rezension beklagt hatte.317 Oskar Loerke hat dann diese Liste noch um einige bezeichnende Wortprägungen erweitert, wie etwa Nachttäuschungstruggespenst – Herbstabendpurpurlicht – Traumschattengaukelei – Kraftübertragungsmeisterwerk – Graunjammerüberwältigung – Gassenfliegenschwärme – Weltumkehrungsdünste – großmuthuldig – Menschenbundgestaltung – Menschenbusendämmerungen – Liebesäthersonnenmacht.318

312 313 314 315 316 317

Ebd., S. 36. Ebd., S. 36–37. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd. »Den Umstand haben allerdings mehre Dichter mit Rückert gemein, daß das Fehlerhafte ihrer Poesie im Zuviel liegt, aber nicht den, daß durch Beschränkung dieses Zuviel etwas Gutes entsteht; blos ein Uebel wird entfernt.« (Blätter für literarische Unterhaltung, Jg. 1835, Nr. 63 (Ausgabe vom 4. März), S. 257.) 318 Loerke: Friedrich Rückert, S. 466. Man möge dabei aber nicht Goethes »Knabenmorgenblütenträume« aus dem Gedicht »Prometheus« vergessen (FA I, 1, S. 204) oder die Wortschöpfungen von Johann Heinrich Voß in seinen Übersetzungen aus dem Griechischen, wie z. B. »fernhintreffend«, das seitdem zur Bezeichnung des Gottes Apoll eine feststehende Wendung ist (vgl. Homer’s Ilias, übers. von Johann Heinrich Voss, Tübingen: Cotta, 3. Aufl. 1806 (1. Aufl. 1793), S. 6).

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Dabei wirkten, wie Loerke anmerkt, manche dieser »Vorstellungsanhäufungen« als »Verdichtungen entfallender umständlicher Beschreibungen«, einige der kürzeren hingegen weckten Leselust: »Schwalbenreiseschar – frühlingsneugrün – Lüfte maioktoberisch«. Rückerts »stete Versuchsbereitschaft«319 mit Blick auf unerhörte Wortzusammensetzungen findet ihre Parallelen bei August von Platen-Hallermünde (1796–1835), dessen Wortkolosse ebenso wörterbuchwürdig sind wie die Rückerts, wie zum Beispiel: »Froschmolluskenbreinatur – Demagogenriechernashornsangesicht – Obertollhausüberschnappungsnarrenschiff«.320 Was Rückert in sprachlicher Hinsicht geleistet habe, so Fechner, sei »bisher unerreicht, ja ungeahnt gewesen«.321 In seiner Dichtung bezähme er die Sprache, dehne und strecke ihre Gelenke, vor allem aber erziehe er sie: Er lehrt sie ja gradezu indisch und arabisch sprechen, und in den künstlichsten Windungen und Verschlingungen und Schnörkeln, worin sich die orientalische Sprache geberdet, folgt er ihr nicht nur auf das genaueste, sondern thut es ihr, gleichsam mit ihr wetteifernd, oft zuvor, wenngleich diese den Vortheil voraus hatte, in freier Entwickelung, blos ihrem Genius folgend, ihr Product haben gestalten zu können, während Rückert der deutschen Sprache dieselben Bewegungen, die der orientalischen von Natur eigen sind, als Taschenspielerkunststücke erst lehren muß.322

So habe denn auch Rückert nicht versucht, wie Fechner an dessen Oestliche[n] Rosen erläutert, diese »in orientalischem Geiste« zu dichten; vielmehr habe »der orientalische Geist Rückert’s […] sie gedichtet«.323

Übersetzung als Expropriation Fechners und dann auch Munckers Bemerkungen zu den »undeutschen« Satzkonstruktionen und den sonderbaren »künstlichen Windungen und Schnörkeln«, die den Anschein erweckten, als habe Rückert eine arabische Kalligraphie in deutsche Dichtung übertragen, weisen bereits auf ein modernes Übersetzungsdenken hin, wie man es bei Rudolf Pannwitz im Anhang seiner Schrift Die Krisis der europäischen Kultur von 1917 finden kann. Die meisten aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammenden Übersetzungen, auch diejenigen von A. W. Schlegel, erklärt Pannwitz dort, beruhten auf einer falschen Prämisse:

319 Ebd. 320 Gesammelte Werke des Grafen August von Platen in 5 Bänden, Stuttgart/Tübingen: Cotta 1847, Bd. IV, S. 16, 62, 49 (aus dem Lustspiel Die verhängnisvolle Gabel, 1826); vgl. auch Beyer: Friedrich Rückert. Ein biographisches Denkmal, S. 312. 321 Blätter für literarische Unterhaltung, Jg. 1835, Nr. 60 (Ausgabe vom 1. März), S. 246. 322 Ebd. 323 Blätter für literarische Unterhaltung, Jg. 1835, Nr. 61 (Ausgabe vom 2. März), S. 250.

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Unsre übertragungen auch die besten gehen von einem falschen grundsatz aus sie wollen das indische griechische englische verdeutschen anstatt das deutsche zu verindischen vergriechischen verenglischen. sie haben eine viel bedeutendere ehrfurcht vor den eigenen sprachgebräuchen als vor dem geiste des fremden werks.324

Dergleichen Verdeutschungen eliminieren das Fremde und bringen es im Bemühen, den Sinn des Originals zu verstehen, zum Verschwinden, da hier die Sprachen, so unterschiedlich sie in ihrer Form und Struktur nun einmal sind, angeglichen und in Übereinstimmung gebracht würden. Pannwitz beruft sich auf Hölderlin als Zeugen für eine Art und Weise von Übersetzung, die das Griechische nicht einfach verdeutscht, sondern das Fremdartige des Griechischen innerhalb der deutschen Übersetzung allein schon dadurch spürbar werden lässt, dass die deutsche Syntax widerborstig und permanent umstrukturiert wird. Sein eigenes Schreiben sieht Pannwitz davon nicht ausgenommen: Mit Hilfe einer beharrlichen Kleinschreibung und einer bewusst reduzierten Interpunktion, die den Lesefluss erschwert und den Leser dazu zwingt, immer wieder innezuhalten und die Satzstruktur zu überdenken, schafft er eine Distanz zum gewohnten Lesemechanismus. Die Form wird gegenüber dem Sinn privilegiert; der Wortsinn stellt sich erst vermittels einer Reflexion der verdichteten Sprachform her. Benjamin, der diese Gedanken in seinen Aufsatz »Die Aufgabe des Übersetzers« einfließen ließ, verglich das Übersetzen mit einem tangentialen Schreiben: Wie die Tangente den Kreis flüchtig und nur in einem Punkte berührt und wie ihr wohl diese Berührung, nicht aber der Punkt, das Gesetz vorschreibt, nach dem sie weiter ins Unendliche ihre gerade Bahn zieht, so berührt die Übersetzung flüchtig und nur in dem unendlich kleinen Punkte des Sinnes das Original, um nach dem Gesetze der Treue in der Freiheit der Sprachbewegung ihre eigenste Bahn zu verfolgen.325

Den Grund dafür, dass Übersetzungen genau genommen eigentlich unmöglich seien, sieht Benjamin nicht in der Schwere des Sinns, sondern im Gegenteil in der »allzu großen Flüchtigkeit, mit welcher der Sinn an ihnen haft[e]«.326 Pannwitz seinerseits richtete seine Kritik in erster Linie gegen die »massengeschmacklich[e] [Z]urechtmachung«327 von Übersetzungen, die insgeheim nach dem Leser schielten und um den Preis eines erzwungenen (falschen) Verständnisses das Fremde ohne Vorbehalt aufgeben würden. Ausdrücke wie ›freie Übertragung‹ und ›dichterische Bearbeitung‹ würden dem Übersetzer eine Freiheit gegenüber der fremden Sprache des Originals zubilligen, die im Grunde nur dazu diene, im Namen eines tendenziellen Sinns die Übersetzung zurechtzustutzen. Praktiken 324 Rudolf Pannwitz: Die Krisis der europäischen Kultur, Nürnberg: Carl 1917, S. 240. 325 Walter Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: Gesammelte Schriften, hg. von Tillman Rexroth, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, Bd. IV/1, S. 9–21, hier S. 19–20. 326 Ebd., S. 20. 327 Pannwitz: Die Krisis der europäischen Kultur, S. 240.

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wie diese lehnt Pannwitz jedoch vehement ab: »ein werk das überhaupt sprache hat lässt sich nicht frei übertragen sondern nur wörtlich und es lässt sich noch weniger bearbeiten sondern nur völlig umgiessen von einem dessen geist seinen geist überwältigen könnte anstatt dessen mit ihm verschmilzt.«328 Ein solches Vorgehen schließt auch die Möglichkeit von Fehldeutungen ein. Anders ausgedrückt: Bedeutende Übersetzungen können sehr wohl aus ›Fehllektüren‹ hervorgehen – aber Fehllektüren bleiben sie nur, solange man den Maßstab einer Inhaltsübertragung anlegt: das erstaunens werteste sind hölderlins übertragungen der griechen sie beruhen durchaus auf einem missverständnis das man heute besonders liebt sie nehmen jede stelle tief lesen das platteste als unendliche andeutung hüllen das ganze in göttliche schleier aus denen überhelle gesichte treten. dies ist die romantik im augenblicke des übergangs zur klassik. da hölderlin selbst ein tragisches zeitalter verkörperte vermochte er werke eines früheren in eine obwohl sehr willkürliche doch vielfach höhere form umzugebären wunderbar wie die beiden sophokles dramen allein durch das erhabene und tiefsinnige missverständnis zahlloser einzelnen worte und gruppen einen neuen erschütternderen sinn erhalten. also wenn eine übertragung nicht wörtlich ist so bedarf sie aussergewöhnlicher umstände und meistens sogar des geniusrangs ihres hervorbringers um etwas anderes als eine unanständige verballhornung zu sein.329

Auch die ›bescheideneren‹ Übersetzer wie Schlegel oder Voß würden genau dort zu Größe anwachsen, wo sie treu übersetzten, aber eben ohne den Sinn schlichtweg in deutsche Worte zu übertragen. Das Ziel einer Übersetzung bestehe darin, so Pannwitz, das Fremde in die eigene Sprache hineinragen zu lassen, sodass diese bewegt und verändert werde: Der grundsätzliche irrtum des übertragenden ist dass er den zufälligen stand der eignen sprache festhält anstatt sie durch die fremde sprache gewaltig bewegen zu lassen. er muss zumal wenn er aus einer sehr fernen sprache überträgt auf die letzten elemente der sprache selbst wo wort bild ton in eins geht zurück dringen er muss seine sprache durch die fremde erweitern und vertiefen man hat keinen begriff in welchem masze das möglich ist bis zu welchem grade jede sprache sich verwandeln kann sprache von sprache fast nur wie mundart von mundart sich unterscheidet dieses aber nicht wenn man sie allzu leicht sondern gerade wenn man sie schwer genug nimmt.330

Pannwitz bezieht einen beträchtlichen Teil seiner Ideen zur Übersetzungstheorie von Goethe, der in den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans drei Arten von Übersetzung unterschieden hatte, die er zugleich als drei historische Epochen verstand.331 Die erste sei die »schlicht-

328 329 330 331

Ebd. 240. Ebd., S. 241–242. Ebd., S. 242. Ausführlich zu diesem Thema s. Antonella Nicoletti: Übersetzung als Auslegung in Goethes

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prosaische«332 und diene dazu, sich überhaupt mit dem Auslande bekannt zu machen; die zweite sei »parodistisch«333 und werde vor allem von ›geistreichen‹ Menschen gepflegt, die sich zwar in die Zustände des Auslands zu versetzen suchten, »aber eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eignem Sinne wieder darzustellen«334 vermochten. Goethe nennt in diesem Zusammenhang unter den Franzosen Delille und als deutsches Beispiel Wieland, der »einen eigenthümlichen Verstands- und Geschmackssinn« gehabt habe, »mit dem er sich dem Altertum, dem Auslande nur insofern annäherte, als er seine Convenienz dabey fand«.335 Die dritte Art der Übersetzung hingegen stelle etwas völlig Neues dar und sei deshalb auch anfangs auf »größten Widerstand« gestoßen, »denn der Uebersetzer der sich fest an sein Original anschließ[e], [gebe] mehr oder weniger die Originalität seiner Nation auf, und so entsteh[e] ein Drittes, wozu der Geschmack der Menge sich erst heran bilden«336 müsse. Voß sei mit seinen Homer-Übertragungen einer der ersten gewesen, die eine solche Art der Übersetzung gewagt hätten. Ebenso könne man bei Hammer-Purgstall eine vorzügliche Annäherung an die äußere Form der orientalischen Dichtung erkennen. Auch Rückert gehört in diese dritte Kategorie, in der man, wie es bei Goethe heißt, »die Uebersetzung dem Original identisch machen möchte, so daß eins nicht anstatt des andern, sondern an der Stelle des andern gelten solle«.337 Rückert, so vermerkte es ein zeitgenössischer Rezensent, habe sich so sehr ins Poetisch-Orientalische eingelebt, dass dort seine geistige Heimat zu sein schien: »Ihm ist die Sprache der Poesie, die Andere erst wie eine ausländische erlernen müssen, die angeborene, die Muttersprache; er braucht den Mund nur zu öffnen, so entquillt ihm, wie jener märchenhaften Prinzessin, eine Blume und eine Perle.«338 Viel stärker noch als Goethe in seinem West-östlichen Divan sei Rückert bestrebt gewesen, den Horizont der eigenen Sprache durch eine fremde zu erweitern und dem Deutschen die orientalischen Sprachgebärden anzueignen, ein Verfahren, dessen sich die zeitgenössische Kritik durchaus bewusst war: Wenn es nun Rückert zum Verdienst angerechnet wird, daß er unsere Rhythmik mit den schönsten Formen musterhaft bereichert hat, wie überall zugestanden wird: so muß es ihm auch zum Verdienst zugerechnet werden, daß er die Sprache mit Wörtern, gram-

332 333 334 335 336 337 338

West-östlichem Divan im Kontext frühromantischer Übersetzungstheorie und Hermeneutik, Tübingen/Basel: Francke 2002. Goethe FA I, 3.1, S. 280. Ebd. Ebd. Ebd., S. 281. Ebd. Ebd. Blätter für literarische Unterhaltung, Jg. 1835, Nr. 60 (Ausgabe vom 1. März), S. 245.

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matischen Formen und Satzgliederungen jeder Art bereichert hat, falls diese nur allgemeinverständlich sind, insbesondere aber in dem Gehalt der Poesie selbst der Grund und Anlaß zur Spracherweiterung gegeben ist.339

Auch Conrad Beyer ist der Ansicht, dass Rückert »die Grenzen des Sprachgebiets« erweitert, »den Schatz der Wörter und Wendungen« vermehrt und »den Geist der Sprache«340 bereichert habe. Spätestens mit Rückert setzt der Übergang vom Übersetzen im Sinne einer Abbildung des Fremden zum Übersetzen als einer Erzeugung von Fremdheit innerhalb der Muttersprache ein. Übersetzung wird bei Rückert in dem Maße, wie er die Sprache, aus der er übersetzt, beherrscht, zur Expropriation, d. h. sie ist weniger Aneignung des Fremden, wie es noch bei der Nachdichtung aus dem Chinesischen der Fall war, als vielmehr Verfremdung der eigenen Sprache, um sie schöpferisch zu verändern. Mit Hilfe außergewöhnlicher Wortformen konstruiert er einen Grad an Unverständlichkeit, durch die das Fremde als erratischer Block spürbar bleibt, die Sprache aber dennoch als dehnbar und wandlungsfähig erscheint: Mit den schwerfälligsten Ausdrücken wirft er da so behend um sich, daß er fast wie der Indianer erscheint, der mit dem Wurfe schwerer eiserner Kugeln leichte Bogen und Ringe durch die Luft zieht. Die widerspenstigsten Worte und Reime zäumt er auf und koppelt sie zusammen, daß sie den Gedankenwagen ziehen müssen, wohin er will, manchmal ein wunderbares Gespann! […] Manches Wort sieht bei ihm aus wie ein kleiner indischer Götze, so vielgliedrig und heterogen ist es zusammengesetzt. Die Worte wachsen, wachsen zusammen, verlieren und gewinnen Formen unter seinen Händen; es ist, als wenn er die Sprache nicht schon geschaffen vorfände, sondern selbst erst schaffte […].341

Bei Rückert wird die deutsche Muttersprache gleichsam zu einer Sprache umgeformt, die Fremdes in sich aufnimmt, ohne es auszulöschen, sodass die eigene Identität, vermittelt durch die Muttersprache und kulturelle Traditionen, einerseits nicht nur erweitert, sondern andererseits auch entgrenzt wird. Pannwitz wird in Fortsetzung dieser Entgrenzung am Ende des Ersten Weltkrieges sagen, dass Kultur schlechthin etwas Orientalisches, etwas Außer- und Übereuropäisches sei, das dem Subjektivismus und Experiment als etwas spezifisch Europäischem gewissermaßen gegenüberstehe, und dass die ernsthafte Suche nach den »groszen orientalischen klassischen kulturen«,342 denen Europa sein geistiges wie zivilisatorisches Fundament verdanke, zwar nicht den Ausweg aus der Krise des modernen Europa bedeute (»Einen ausweg aus der krisis der europäischen kultur auf irgend einem begangenem wege gibt es nicht mehr […]«), 339 340 341 342

Allgemeine Literatur-Zeitung 32 (1835), Nr. 156, Sp. 27. Beyer: Friedrich Rückert. Ein biographisches Denkmal, S. 306. Blätter für literarische Unterhaltung, Jg. 1835, Nr. 60 (Ausgabe vom 1. März), S. 246. Pannwitz: Die Krisis der europäischen Kultur, S. 226.

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aber doch wenigstens die Möglichkeit einer Einsicht in die Herkunft der »europäischen halbkultur« und deren Kolonisierung durch das Orientalische (»geschehe wieder was immer geschehn dass die jüngeren völker scheinbar die älteren kolonisieren wahrhaft von ihnen sich kolonisieren lassen!«343). Nicht erst an der historischen Wende von 1917 werden die Übersetzungen zu einem Instrument globaler Geopolitik. Schon Rückerts Zeitgenossen sahen in seinem großangelegten Übersetzungsprojekt eine sprachliche Territorialisierung. Das lässt sich beispielsweise an einer Rezension Varnhagens von Ense aus dem Jahre 1822 ablesen. Dort heißt es über Rückert: »Sein Dichten ist […] ein gewaffnetes Ausrücken in bisher verlassene oder zweifelhaft gewordene Gebiete, ein Wiedererobern oder Vermehren des poetischen Sprachreiches«, und, als berichte er über eine Militäraktion, fährt er fort: Natürlich ist man in neubetretenen Ländern nicht gleich so kundig und bequem wie in der bisherigen alten Gewöhnung, man wird wohl sogar in dieser etwas fremd; auch geht es nur unter Kämpfen und Blutvergießen vorwärts, und selbst bei dem glücklichsten Geschicke wird es Verletzungen und Verstümmelungen zu sehn geben; an diese aber lediglich sich halten zu wollen, um die siegreichen Fortschritte zu läugnen, wäre so thöricht als ungerecht; doch hat man dieses schon öfters gegen Rückert versucht, wie man es in früherer Zeit gegen Klopstock und Voß und Schlegel […] gethan hat.344

Varnhagen von Ense bedient sich diverser Kriegsmetaphern, in denen die Sprache als ein Territorium vorgestellt wird, was die Theoreme von Deleuze und Guattari assoziiert, die in Tausend Plateaus als Erweiterung von Foucaults archäologischem Vokabular (Strata, Schichten, Stratifizierungen) den Begriff des Gefüges als Territorium dann weiterentwickelt haben. Die erste konkrete Regel solcher Gefüge besteht für die Verfasser darin, »daß man die Territorialität, die sie umschließen, entdecken«,345 und unter Umständen auch erobern müsse. Ein Territorium bestehe immer aus codierten Fragmenten, doch gebe es gleichzeitig Deterritorialisierungslinien,346 die das Territorium durchqueren und es zu anderen Gebieten hin öffnet, es in andere übergehen lässt oder als eine Art an-

343 Ebd. 344 Karl August Varnhagen von Ense: Zur Geschichtsschreibung und Litteratur. Berichte und Beurtheilungen. Aus den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik und andern Zeitschriften gesammelt, Hamburg: Perthes 1833, S. 574. Das Zitat stammt aus einer Rezension von 1822, die im Titel »Kleine Gedichte, von Fr. Rückert« nennt. Als Neuerscheinungen lassen sich für dieses Jahr allerdings lediglich die Oestlichen Rosen nachweisen. Das Patriotische, das Varnhagen von Ense anspricht, ließe sich jedoch am ehesten auf das beziehen, was Rückert unter dem Pseudonym Freimund Reimar schrieb, d. h. auf die Geharnischten Sonette, die in den Deutschen Gedichten (1814) enthalten sind. 345 Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 698. 346 »Das Territorium kann genausowenig von der Deterritorialisierung getrennt werden wie der Code von der Decodierung.« (Ebd., S. 699.)

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deutende ›Fluchtlinie‹ auf Alternativen oder auf etwas Zukünftiges verweist.347 Die Funktion der Deterritorialisierung sehen Deleuze und Guattari in der »Bewegung, durch die ›man‹ das Territorium verläßt«, doch könne die Deterritorialisierung »durch eine Reterritorialisierung verdeckt werden, die sie so kompensiert, daß die Fluchtlinie blockiert bleibt«.348 Varnhagen von Enses Metapher vom ›verlorenen‹ bzw. ›verlassenen‹ Territorium ist in dieser Hinsicht aufschlussreich. Während er bei Rückerts Übersetzungen damit den Aspekt der Reterritorialisierung betont, akzentuieren Fechner, Beyer und Muncker ihrerseits die Deterritorialisierungslinien, die quer durch Rückerts Sprachgebiet verlaufen und sich zu einer Sprachmaschinerie verbinden, die, wie oben schon gezeigt, unablässig neue Wortschöpfungen produziert. Das Fremde wird hier nicht wie bei Ludwig Unzers chinesischer Nänie in die deutsche Sprache hineingeholt; stattdessen wird bei Rückert die Muttersprache dazu gebracht, Ungewöhnliches aus sich selbst hervorzubringen. Das wird vor allem an den Übertragungen aus dem Indischen deutlich (z. B. in Nal und Damajanti), während seine Nachdichtungen aus dem Chinesischen im Gegensatz dazu sprachlich glatt wirken und aus der unpersönlichen Subjektlosigkeit der chinesischen Originale subjektiv-gegenständliche Gedichte machen. Hier überwiegt der Aspekt der Reterritorialisierung: das sehnsuchtsvolle Ich, das sich im lyrischen Lied ausdrückt, die gleichmäßigen Reime, die sich gefügig dem Ohr anbequemen, und der leicht fließende Rhythmus bewirken alles andere als eine Deterritorialisierung; die Fluchtlinie bleibt »blockiert«. Das mag auch einer der Gründe dafür sein, weshalb es im Zuge eines neu erwachenden Interesses seitens der Künstler und Schriftsteller für Ostasien Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer grundlegenden Neubearbeitung des chinesischen Liederbuchs kam.

Wie man chinesisch dichtet, ohne Chinesisch zu verstehen: Umdichtungen in der Nachfolge Rückerts349 »Aber Verschollenheit, abwechselnd mit häufigem Erklingen des Namens, ist geeignet, den Erkennenden wach zu erhalten, der sich, bei aller Liebe für Griechenland oder China, niemals von irgend welchen klassischen Smokingoder Zopftraditionen einschläfern ließ.«350 347 Vgl. ebd., S. 705. 348 Ebd., S. 703. 349 Teile der Ausführungen zu Ehrenstein basieren auf meinem Aufsatz »Wie man chinesisch dichtet, ohne chinesisch zu verstehen. Deutsche Nach- und Umdichtungen chinesischer Lyrik von Rückert bis Ehrenstein«, in: Arcadia. Zeitschrift für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 48/1 (2013), S. 98–115. 350 Albert Ehrenstein: »Lebensbericht«, in: Werke. Bd. 5: Aufsätze und Essays, Göttingen: Wallstein 2004, S. 492.

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Es ist erstaunlich, wie viele der richtungweisenden Übertragungen chinesischer Lyrik ins Deutsche von Dichtern geschaffen wurden, die chinesische Schriftzeichen weder lesen noch verstehen konnten und folglich auch nicht in der Lage waren, direkt und unmittelbar aus dieser Sprache zu übersetzen. Otto Hauser weist in seiner Einführung in die chinesische Dichtung ausdrücklich darauf hin, dass Rückert des Chinesischen in keiner Weise mächtig gewesen sei und zieht daraus eine bemerkenswerte Schlussfolgerung: So mangelhaft nun notgedrungen diese Übertragungen trotz ihrer oft recht gelungenen Form sein müssen, so ist doch durch sie das Schi-king dem Bestande unserer Weltliteratur dauernd eingereiht. Viktor von Strauß konnte sie durch seine Nachdichtungen, um wie vieles textgerechter sie auch sind, nicht verdrängen.351

Albert Ehrenstein, der mit zwanzig Gedichten in der von Kurt Pinthus herausgegebenen Anthologie Menschheitsdämmerung (1919/20) vertreten ist, publizierte im Jahre 1922 eine Neubearbeitung des chinesischen Buchs der Lieder.352 Er gehörte wie Klabund, Döblin und Goll zu denjenigen Dichtern, die sich, nachdem der Expressionismus seine Wirkung eingebüßt hatte und die Wellen des Aktionismus langsam abflachten, auf der Suche nach neuer Inspiration dem fernen Osten zuwandten. Es ging ihm, wie in einer Rezension von Otto Zarek in der unabhängigen Wochenschrift Das Tage-Buch nachzulesen ist, darum, »vom revolutionären Pathos zur Intimität der erlebnishaften Lyrik« zu gelangen. Mittels der chinesischen Dichtung versuchte er, »den Übergang [zu] finden von der typischen (und darum verkrampften) Form eines korporativen Stiles zur höchst individuellen Form einer Persönlichkeits-Dichtung«.353 Dieser Weg führte ihn zu den chinesischen Dichtern Du Fu, Li Bo (bei Ehrenstein Li-Tai-Pe) und zu Bo Juyi (entweder Pe-lo-thien oder Po-Chü-i, auch Po Tschü I), einem Dichter, der bis dahin nur in einem kleinen Kreis von Fachgelehrten Beachtung gefunden hatte und den er nun für das deutschsprachige Publikum neu zu entdecken suchte. Ehrenstein war keiner jener China-Enthusiasten, die ein realitätsfernes Idealbild – welcher Art auch immer – zu konstruieren suchten und dabei die realen Verhältnisse des Landes ignorierten, sondern reiste selbst nach China. Trotzdem beherrschte er die Sprache bei weitem nicht so gut, als dass er Gedichte aus dem Original hätte übersetzen können. Er griff stattdessen auf bereits vorhandene Übersetzungen zurück: Als Hauptquelle für seine Pe-lo-thien-Nachdichtungen nennt er die wortgetreuen Übersetzungen des Orientalisten August Pfizmaier,354 351 352 353 354

Otto Hauser: Die chinesische Dichtung, Berlin: Marquardt 1908, S. 10. Albert Ehrenstein: Schi-King. Nachdichtungen chinesischer Lyrik, Wien: Tal 1922. Otto Zarek: »Lyrik«, in: Das Tage-Buch, 6. Jg. (1. Halbjahr 1925), S. 584–586, hier S. 584. August Pfizmaier (1808–1887) war Dozent für morgenländische Sprachen und Literatur an der Universität Wien und veröffentlichte 1847 die erste Übersetzung eines japanischen Romans in eine westliche Sprache: Sechs Wandschirme in Gestalten der vergänglichen Welt.

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die er einmal als eine »genaue Prosa«355 lobt, ein anderes Mal aber als »überaltert dunkle Übertragungsexperimente«356 kritisiert. Weniger zwiespältig ist sein Verhältnis zum englischen Sinologen Arthur Waley, dessen Übersetzungen er ebenso zu Rate zog, wie die des deutschen Sinologen Erwin Ritter von Zach, über dessen Gesamtwerk er einen kurzen Abriss verfasste.357 Seiner Bearbeitung des Schi-King legt Ehrenstein die Nachdichtung Rückerts zugrunde und umgeht soweit wie möglich die Übersetzung von Strauß, der er, egal wie »textgerecht« sie auch sein möge, einen erheblich geringeren Rang zuweist: Rückerts Nachdichtung übertrifft jedenfalls die philologisch wertvollere, dichterisch schwächere Professorenarbeit von Victor Strauß weitaus. Wenn auch Strauß durch Kenntnis des Originals und seiner Kommentare vor jenen Verballhornungen und krassen Mißverständnissen gefeit ist, denen der auf eine ungefähre wörtliche Inhaltsangabe chinesischer Gedichte als einzige, sehr oft trübe Quelle [gemeint ist der Text von Lacharme; A.K.] angewiesene Rückert auf Schritt und Tritt ausgesetzt war.358

Ehrenstein hebt ganz besonders hervor, dass trotz der außergewöhnlichen Geschwindigkeit, mit der Rückert seine Nachdichtung vorgenommen habe,359 über ihr »der Zauber des Gelingens« ruhe. Selbst wenn sich mitunter »virtuoses Reimgeklingel« einmenge sowie »eine der Knappheit des Urtextes entgegengesetzte Geschwätzigkeit«, so sei doch sein Werk im Ganzen »eine sprachmeisterliche Leistung«, die, was Ehrenstein zugleich als Ansporn für seine eigene Nachdichtung begreift, »wenigstens in einer verbesserten Auswahl wieder bekannt gemacht zu werden«360 verdiene. Hier stellt sich natürlich die Frage, was sich eigentlich de facto hinter der Formulierung einer »verbesserte[n] Auswahl« verbirgt. Die Tatsache, dass Ehrenstein gerade nicht auf die sinologisch abgesicherte Übersetzung von Strauß

355 356 357 358 359

360

[d.i. Ukiyogata rokumai byobu, Edo 1821] Ein japanischer Roman im Originaltexte sammt den Facsimiles von 57 japanischen Holzschnitten, übers. und hg. von Dr. August Pfizmaier (Wien: Kaiserl. königl. Hof- und Staatsdruckerei 1847). Ehrenstein griff seinerseits insbesondere auf zwei Arbeiten Pfizmaiers zurück, und zwar auf »Die elegische Dichtung der Chinesen« (Wien: Vlg. d. Österr. Akademie d. Wiss. 1887) und »Der chinesische Dichter PeLo-Thien« (Wien: Tempsky 1888). Vgl. Ehrenstein: »Mitwort« (zu Pe-lo-thien), in: Werke. Bd. 3/I, S. 159. So Albert Ehrenstein in seiner Einleitung zur Anthologie Das Gelbe Lied, in: Ehrenstein: Werke. Bd. 3/I, S. 303. Der Wortlaut wurde hier dem Original gegenüber leicht verändert. Vgl. »Chinoiserien«, in: Ehrenstein: Werke, Bd. 5, S. 414–417. Ehrenstein: »Nachwort« (zum Schi-King), in: Werke. Bd. 3/I, S. 107. Es dauerte nur knapp ein Jahr, bis Rückert seine Nachdichtung abgeschlossen hatte, die immerhin vierhundert Seiten umfasst. Die lateinische Ausgabe war 1830 erschienen, und bereits am Ende desselben Jahres konnte Rückert seine Übersetzung zum Abschluss bringen. Einen Verleger dafür zu finden, dauerte dann entgegen allen Erwartungen zwei weitere Jahre. Ehrenstein: »Nachwort« (zum Schi-King), in: Werke. Bd. 3/I, S. 107.

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zurückgreift, sondern auf die über eine Drittsprache erstellte Nachdichtung von Rückert, zeugt davon, dass er ganz offenbar eine eigene poetische Neufassung anvisierte. Der Ausdruck ›Auswahl‹ impliziert einerseits eine Beschränkung, wirft aber andererseits auch Fragen hinsichtlich der Anordnung und Reihenfolge der Gedichte auf. Die im Chinesischen überlieferte Auswahl und Einteilung des Shijing geht auf Konfuzius zurück. Aber Ehrenstein, der die chinesische Sprache eben nicht beherrschte, konnte, bedingt durch die doppelte Filterung (Lacharme, Rückert), nicht sicher sein, welche die ursprüngliche war – zumal er in der Übersetzung von Strauß eine ganz andere kompositorische Konzeption vor sich hatte. Er befand sich in der ganz neuen und überaus vorteilhaften Position, zwischen einer wörtlichen, fachlich abgesicherten, obgleich poetisch unzulänglichen Übersetzung und einer poetisch respektablen Nachdichtung alternativ wählen zu können. Auf genau dieselbe Art und Weise arbeiten auch heute noch viele Übersetzer, so z. B. wenn sie Romane des japanischen Autors Haruki Murakami aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen, ohne auch nur ein Wort Japanisch zu verstehen. Im Unterschied zu solchen Auftragsübersetzungen muss im Falle Ehrensteins, der sich selbst durch und durch als Poet verstand, die Frage gestellt werden, ob ihm überhaupt daran gelegen war, ein ›ursprüngliches Urbild‹ des Shijing zu vermitteln, oder ob es ihm nicht vielmehr um eine aktualisierte, d. h. politisch aktuelle Übersetzung ging. Der Sinologe Eduard Horst von Tscharner vertritt in einem die verschiedenen Übersetzungen lyrischer Dichtungen aus dem Chinesischen vergleichenden Essay den Standpunkt, dass eine dichterische Übersetzung oder Nachdichtung primär »den Geist des Urbildes«361 vermitteln müsse. Er bespricht dabei u. a. Übersetzungen von Rückert, Strauß, Hauser, Forke, Bethge, Hundhausen, von den Steinen, Klabund und Böhme, doch lässt er Albert Ehrenstein völlig außer acht, und Richard Dehmel wird mit der Bemerkung beiseite geschoben, dass die Gestalt des chinesischen Gedichts in seiner Nachdichtung »völlig gesprengt« sei: »Freiheit des Metrums, des Rhythmus, Enjambements, Fülle der Reime«.362 Diese Beurteilung, die im Grunde auch auf Ehrenstein zutrifft, erweckt den Anschein, als vertrage sich für den Sinologen eine moderne lyrische Form nicht mit klassischen chinesischen Gedichten. Die Tatsache, dass Tscharner bei seinen Ausführungen den in seinen Anfängen expressionistischen Dichter Ehrenstein umgeht und für Dehmel nur kritische Worte übrig hat, könnte man auch symptomatisch lesen. Denn ihre Nachdichtungen verfolgten nicht das Ziel, »den Geist des Urbildes« zu vermitteln oder 361 Eduard Horst von Tscharner: »Chinesische Gedichte in deutscher Sprache«, in: Das Problem des Übersetzens, hg. von Hans Joachim Störig, Stuttgart: Goverts 1963, S. 268–298, hier S. 295. 362 Ebd., S. 290.

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die ursprüngliche Form des Shijing getreu nachzubilden, wie Strauß es wollte. Für Ehrenstein spielen die politische Situation am Ende des Ersten Weltkriegs und die tiefgreifenden Veränderungen im Gesellschafts- und Menschenbild, in deren Folge auch die Dichtung eine ganz andere gesellschaftliche Funktion und Bestimmung erhielt, eine wesentliche Rolle. Bei ihm haben wir es nicht mehr, wie noch bei Rückert, mit einer Nachdichtung zu tun, sondern mit einer Umdichtung, bei der die Textvorlage, mag sie nun eine Übersetzung sein oder eine Nachdichtung, unter ganz anderen Gesichtspunkten, d. h. vornehmlich politisch oder weltanschaulich bearbeitet wird.363 So beabsichtigte Ehrenstein, wie er es selbst formulierte, »durch Kürzungen, lebendigeren Rhythmus, Entfernung sinnstörender Zutaten, Umbau, in vielen Fällen durch Neudichtung etwas von der sinnlicheren Unmittelbarkeit der ersten Schöpfung wiederzugeben«.364 Er wählt aus den dreihundertfünf Gedichten einhundert aus und nimmt eine Einteilung vor, die mit der klassischen Struktur der Liedersammlung nichts mehr zu tun hat.365 Die Überschriften der Kapitel lauten nun für deutsche Leser ebenso zeitbezogen wie suggestiv: »Liebe«, »Gestalten«, »Krieg«, »Der Kaiser«. Ebenso knapp und pointiert sind bei ihm die Titel der Gedichte: »Die Witwe«, »Sehnsucht«, »Trauer«, »Kalender«, »Mäuse«, »Wirt«, »Der Gast« usw. Ehrenstein geht es nicht mehr um Originaltreue, nicht um das ›Ur-Chinesische‹. Ohne zu zögern mischt er westliche Symbole in die Gedichte hinein (z. B. die Rose für ›Liebe‹), er benutzt deutsche Kosewörter und verwestlicht gewissermaßen die chinesische Gedichtform durch Subjektivierungen und durch die Konkretisierung der sinnlich-erotischen Liebe.366 Im Vergleich zur Nachdichtung Rückerts oder zur Übersetzung von Strauß strafft und komprimiert er die Verse erheblich. Füllwörter wie Artikel, Pronomen, Konjunktionen werden weggelassen, wodurch in einigen Versen auch das grammatische Subjekt wegfällt. Andererseits bemüht sich Ehrenstein um eine klangliche Auffüllung durch Endund Binnenreime sowie Assonanzen. Daneben gibt es eine Reihe von Wortumbildungen wie z. B. »Waldmitternacht« oder »Kriegerwehren«,367 und verschiedene kompositorische Neologismen wie »sehnsuchtvonsinnen«, »ackerüber« oder »Mondenaufgangslicht«368 erinnern an Rückerts Spracherweiterungen, 363 Loerke spricht an einer Stelle von »poetischen Umbildungen« (vgl. Oskar Loerke: »Betrachtungen«, in: Gedichte und Prosa. Zweiter Band, S. 611.) 364 Ehrenstein: »Nachwort« (zum Schi-King), in: Werke. Bd. 3/I, S. 107. 365 Zur ursprünglichen Aufteilung siehe Yunru Zou: Schi-King. Das »Liederbuch China« in Albert Ehrensteins Nachdichtung. Ein Beispiel der Rezeption chinesischer Lyrik in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, St. Ingbert: Röhrig 2006, S. 33ff. 366 Zou spricht dabei von einer Europäisierung; vgl. Zou: Schi-King, S. 110. 367 Vgl. Ehrenstein: Schi-King, S. 36 und 109. Ehrenstein formt dazu Wortprägungen Rückerts um, und zwar im ersten Fall »Wald gen Mitternacht« und im zweiten Fall »Kriegerische Wehren« (Rückert: Schi-King, S. 142 und 159). 368 Ehrenstein: Schi-King, S. 35, 125 und 137; vgl. Zou: Schi-King, S. 135. Beim Kompositum

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während andere Neubildungen wie »zauberstark«, »totgekost« oder »todesschmal« darauf abzielen, eine inhaltliche Steigerung zu erreichen.369 Auch an Sprachspielen fehlt es nicht, wie z. B. im Gedicht »Dürre«: »Der Mensch, das Vieh irrt hin / Zum Schattenwald – der Wald hat keinen Schatten!«370 Worauf laufen alle diese Abänderungen hinaus? Als Anlass und Ziel seiner Umdichtung formuliert Ehrenstein durchaus programmatisch, dass es seine Absicht gewesen sei, eine »sinnliche Unmittelbarkeit« wiederherzustellen, eine Intention, die in den Bemerkungen in der Wochenschrift Das Tage-Buch ihre Bestätigung findet, wo in einer anonymen Rezension zu Ehrensteins Schi-King von der Suche nach einer neuen Erlebnisdichtung die Rede ist.371 Auf die Wirkung dieser neuen Erlebnisdichtung kommt auch Oskar Loerke in einer kurzen Betrachtung mit dem Titel »Chinesen« zu sprechen, in der es um deutschsprachige Übersetzungen chinesischer Dichtung geht. Er stellt fest, dass im Schi-King Ehrensteins der Osten aufgehört habe, »Osten zu sein« und »zum stellvertretenden Orte für die ganze Menschheit«372 geworden sei. Diesen Gedanken führt Loerke dann am Beispiel von Ehrensteins Bearbeitung der Gedichte von Pe-lothien weiter aus, indem er erklärt, dass dieser Dichter viel mehr sei, als »bloß einer der hervorragenden chinesischen Dichter aus der Tang-Zeit«: [E]r ist eine so ungeheure Kraft, durch Anschauen der Welt diese Welt zu verwandeln, zu zerstören und fest wieder aufzubauen, zu entdecken in der Ferne ihrer Nähen und in der Nähe ihrer Fernen, daß der Ort und das Jahr seiner Geburt davor belanglos wird. Er ist kein chinesischer Dichter, sobald man ihn kennt, er ist ein großer Dichter schlechthin.373

Für Loerke ist Pe-lo-thien ein Dichter, der dem deutschen Publikum erst durch Ehrenstein wirklich nahegebracht wurde, und das Schi-King ist für ihn ein Stück Weltliteratur, in dem die chinesische Landschaft und ihre Kultur in Gestalt von kleinen Liedern »auf wundersame Weise einen unbegrenzten Raum« finden, »wie ihn eigentlich nur riesenhafte Epen gewähren könnten«374. In Bezug auf Ehrensteins Sprache hebt er insbesondere die »scharfen, unverfaserten Prägungen« und ebenso seine Binnenreime und »geistreichen Wortspiele« hervor, die seiner Ansicht nach »überzeugen« und »jeden versuchten Widerspruch« niederschlagen.375

369 370 371 372 373 374 375

»Mondenaufgangslicht« greift Ehrenstein auf die Formulierung »Mondenaufgangs Licht« des Schi-King in der Übersetzung von Strauß, S. 175, zurück. Ehrenstein: Schi-King, S. 32, 49, 96; vgl. Zou: Schi-King, S. 139. Ebd., S. 128. Vgl. Das Tage-Buch, 4. Jg., 1. Halbjahr 1923, S. 424. Oskar Loerke: »Chinesen«, in: Gedichte und Prosa. Zweiter Band, S. 608. Ebd., S. 609. Ebd., S. 608. Ebd., S. 612. Ein ganz anderes Urteil fällt der Chinese Chen Chuan in seiner Dissertation, in der er feststellt, dass Ehrensteins Schi-King »keinen Wert« besitze, »ebenso wie seine an-

Funktions- u. Formerweiterungen in der frühmodernen deutschsprachigen Dichtung

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Ehrensteins Umdichtungen sind nicht nur eine Fortsetzung der Entgrenzung von Dichtung, wie sie im 18. Jahrhundert begonnen hatte. Selbst Loerke bleibt mit seinen Bemerkungen immer noch auf jener Traditionslinie, die von Goethe und Rückert bis ins 20. Jahrhundert verläuft und in der auch Rudolf Pannwitz mit seinem Übersetzungsdenken ebenso zu sehen ist wie Martin Buber, der sich nicht nur als Vermittler zwischen der traditionellen jüdischen Welt und der westlichen wissenschaftlichen und aufgeklärten Moderne verstand, sondern auch als ein Sammler von Werken der Weltliteratur, bestimmt von der Absicht, diese zu bereichern und zu erweitern.376 Bei Ehrensteins Umdichtungen jedoch tritt noch ein ganz anderer Aspekt zu Tage, der während der ersten zwei Dekaden des 20. Jahrhunderts für das Selbstverständnis moderner Dichtung eine zunehmend wichtigere Rolle spielen sollte: die Funktions- und Formenerweiterung jeglicher Dichtung in deutscher Sprache überhaupt.

9.

Funktions- und Formerweiterungen in der frühmodernen deutschsprachigen Dichtung »Was wir gewöhnlich in den chinesischen Romanen, die bis zu uns dringen, kennenlernen, sind: kleinfüßige Prinzessinnen, blaustrümpfige Turandots, die in der Lyrik brillieren, ehe der gleichfalls lyrisch bewanderte, aber auch körperkräftige Mandarin sie endlich schnappt. […] Abneigungen gegen den penetranten Zuckerguß derartiger Süßspeisen trieb mein Interesse für chinesische Epik in minder ätherische Gegenden – […] Hinter den mordrot phosphoreszierenden Irrlichtern des Menschensumpfes ringt der Geist mit dem gefangenen Menschenfleisch, über den Blutfarben des allzu irdischen, allzu rohen Piratenlebens spannt sich, türmt sich ein fast versöhnlicher Regenbogen bis in den Himmel.« (Albert Ehrenstein) 377

deren beiden Sammlungen«; sie seien »bombastisch und von hohem Pathos« und stünden deshalb »im scharfen Gegensatz zum Wert der chinesischen Dichtungen« (Chuan Chen: Die chinesische schöne Literatur im deutschen Schrifttum, Diss. Kiel 1933, S. 104.) Chen promovierte bei Wolfgang Liepe und Hans Jensen in Kiel und war später Professor für Germanistik an verschiedenen Universitäten in China, u. a. an der Qinghua in Peking, ebenso in Kunming, Chongqing und Nanking sowie an der Tongji und Fudan in Shanghai. In den 1920er Jahren war Chen Mitglied der Guomindang, weshalb seine politischen Ansichten denen Ehrensteins völlig konträr gegenüberstanden. 376 Hermann Hesse schrieb 1950 in einem Brief: »Buber hat, wie kein anderer lebender Autor, die Weltliteratur um einen echten Schatz bereichert.« (Hermann Hesse: Gesammelte Schriften, Bd. 7: Betrachtungen. Briefe. Rundbriefe. Tagebuchblätter, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, S. 710.) 377 Albert Ehrenstein: »Nachwort«, in: ders.: Werke. Band 3/II: Chinesische Dichtungen. Prosa, hg. von Hanni Mittelmann, München: Boer 1995, S. 198–200.

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Die Konzept-Übersetzung Die zweite Welle der Chinabegeisterung, die in Europa in den 1860er Jahren einsetzte, nahm ihren Ausgang in Frankreich und gelangte über diesen nunmehr ›westlichen Umweg‹ nach Deutschland. Es waren vor allem zwei französische Anthologien chinesischer Dichtung, die auf die deutschen Dichter eine »nachhaltige Wirkung ausübten«:378 Poésies de l’époque des Thang aus dem Jahr 1862 und Le livre de jade von 1867,379 dessen Herausgeberin Judith Gautier (1845– 1917), die Tochter von Théophile Gautier, war. Dieser hatte 1863 den Chinesen Tin-Tun-Ling als Sprachlehrer eingestellt, und mit seiner Hilfe konnte dann vier Jahre später die bereits erwähnte Anthologie mit Prosaübersetzungen chinesischer Gedichte veröffentlicht werden. Nachdem der erste Versuch, die Anthologie Le livre de jade ins Deutsche zu übertragen, beim Publikum ohne Resonanz blieb,380 setzte mit einiger Verzögerung in den 1890er Jahren schließlich doch eine Rezeption dieser französischen Übersetzungen ein. Eine wichtige Rolle spielte dabei Otto Julius Bierbaum (1865– 1910), der in Berlin Sinologie studiert hatte und von 1899 bis 1901 die Literaturund Kunstzeitschrift Die Insel herausgab, zu deren Autoren u. a. Franz Blei, Max Dauthendey, Richard Dehmel, Arno Holz und Hugo von Hofmannsthal zählten. Im Jahre 1899 erschien Bierbaums China-Roman Das schöne Mädchen von Pao, dessen bibliophile Ausgabe vor allem wegen der erotischen Illustrationen von Franz von Bayros sehr schnell großes Aufsehen erregte und es deshalb zu einer gewissen Berühmtheit brachte. Bereits 1890 hatte Bierbaum in der Zeitschrift Die Gesellschaft die Nachdichtungen zweier chinesischer Lieder publiziert, die als der Beginn moderner deutscher Um- oder Neudichtungen chinesischer Texte angesehen werden können,381 und drei Jahre später erschien dann in seinem Modernen Musenalmanach auf das Jahr 1893 Richard Dehmels »Chinesisches Trinklied. Nach Li-tai-po«. Die Jahre nach der Jahrhundertwende zeichnen sich 378 Ingrid Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur 1890–1925, Bern/München: Francke 1977, S. 90. Die Studie bietet einen guten und übersichtlichen Abriss der Rezeption chinesischer Lyrik in Deutschland, auf deren Ergebnisse in diesem Kapitel immer wieder zurückgegriffen wird. 379 Poésies de l’époque des Thang, traduites du chinois pour la première fois avec une étude sur l’art poétique en Chine et des notes explicatives par le Marquis d’Hervey-Saint-Denys. Paris: Amyot 1862; Le Livre de Jade, recueil de poèmes chinois anciens, Paris: Lemerre 1867 (unter dem Pseudonym Judith Walter). 380 Chinesische Lieder aus dem Livre de Jade von Judith Mendès, München: Ackermann 1873. (Nach der Heirat mit dem Schriftsteller Catulle Mendès nahm Judith Gautier den Namen ihres Gatten an.) 381 Otto Julius Bierbaum: »Trennung« und »Chinesisches Lied. (Nach dem Originale des Li-t’aipo aus den T’ang-Liedern, 8. Jahrh. n. Chr.)«, in: Die Gesellschaft 6 (1890), S. 257–258. Ingrid Schuster vermutet, dass dabei Hervey-Saint-Denys Anthologie als Vorlage diente. Vgl. dazu Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur, S. 91.

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nun ihrerseits durch eine erstaunlich rasche Zunahme von Nach-, Um- und Neudichtungen chinesischer Literatur aus. 1899 hatte Alfred Forke seine Blüthen chinesischer Dichtung veröffentlicht, denen 1905 Hans Heilmanns Chinesische Lyrik und ein Jahr später Otto Hausers Nachdichtungen des Dichters Li-Tai-Pe folgten. Zwei Jahre darauf erschien die Gedichtsammlung Die chinesische Flöte von Hans Bethge.382 Während Heilmann sich auf die beiden genannten französischen Ausgaben stützte und die Prosaform weitgehend beibehielt (in Einzelfällen wie bei dem Gedicht »Der Porzellan-Pavillon« von Li-Tai-Pe handelt es sich um eine fast wörtliche Wiedergabe der französischen Prosafassung von Judith Gautier),383 übertrug Bethge die Texte vollständig in Reime.384 Heilmann hatte in der Einleitung zu seiner Anthologie mit Verve verkündet, dass er »ein kontrapunktisch durchgearbeitetes, kompliziertes Gebilde« der chinesischen Dichtung liefern wolle: »Nicht ein Wort kann verrückt oder herausgenommen werden, ohne dass sofort das ganze kunstvolle Gebäude zusammenstürzt.«385 Lakonismus und Prägnanz bilden bei ihm nicht nur die Leitkriterien für die Übersetzung; sie sind gleichzeitig auch die erklärten Kennzeichen chinesischer Dichtung und die Voraussetzung für jene visuelle Anregung, die von ihr ausgeht: »Jedes Wort in seiner Isoliertheit wirkt wie ein Bild, und jeder Satz regt mit seinem Lakonismus die Phantasie mächtig an, die sich den Zusammenhang erst kombinieren muß.«386 Bemerkenswert ist, dass es gerade Prosafassungen sind, die sich am Beginn der Nachdichtungen finden (auch Lacharmes lateinische Übersetzung des Shijing war in Prosa), und dass sie aus Sicht der Textgenese dem chinesischen Original am nächsten stehen. Der große Erfolg von Heilmanns Anthologie könnte zum großen Teil aber auch darauf zurückzuführen sein, dass seine Prosa einen Anreiz schuf, die Sätze in Reimform zu bringen, und so viele Schriftsteller zu poetischen Nachdichtungen anregte. Seine Übertragung von Li Bos »Ein Frühlingstag« wurde u. a. von Dehmel, Hauser, Bethge, Holz und Klabund nachgedichtet, wobei die Ergebnisse in ihrer sprachlichen Form und in ihrer Bildlichkeit höchst unterschiedlich ausfielen.387 Germanistische Untersuchungen haben hauptsächlich die sprachlichen Qualitäten der Nachdichtungen miteinander verglichen, doch 382 Vgl. die umfangreiche Liste solcher Nachdichtungen bei Ingrid Schuster: Faszination Ostasien. Zur kulturellen Interaktion Europa-Japan-China. Aufsätze aus drei Jahrzehnten, Bern u. a.: Lang 2007, S. 13f. 383 Vgl. Hans Heilmann: Chinesische Lyrik, vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, München/Leipzig: Piper 1905, S. 53–54 und Le livre de jade. Poésies traduites du Chinois, hier zit. n. der Ausg. Paris: Juven 1967, S. 183–184. 384 Hans Bethge: Die chinesische Flöte, Leipzig: Insel 1907. Das Gedicht von Li-Tai-Pe (Li Bo) findet sich dort auf Seite 23f. 385 Heilmann: Chinesische Lyrik, S. XXX. 386 Ebd. 387 Vgl. dazu Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur, S. 96–101.

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ist bislang wenig über die Intentionen gesagt worden, die ihnen zugrunde lagen. Dabei wäre es literaturwissenschaftlich höchst interessant zu ergründen, warum Dichter wie Dehmel, Holz oder Ehrenstein sich überhaupt mit chinesischer Lyrik beschäftigt haben, und warum es so viele unterschiedliche Nachdichtungen gibt, und das nicht nur in sprachlicher Hinsicht. Welche Ziele verfolgten die Schriftsteller damit? Oder anders gefragt: Inwieweit erhält Dichtung eine neue oder erweiterte Funktion, sobald die Nachdichtung nicht einfach mehr ›nachdichtet‹? Diese Entwicklung lässt sich recht gut an den wenigen Übertragungen Dehmels aufzeigen, der ein Jahr nach dem chinesischen Trinklied von 1893 nach einer Vorlage von Li-tai-pe das Gedicht »In stiller Nacht« verfasste. Allerdings war damit seine China-Begeisterung erst einmal erschöpft. Inspiriert durch Heilmanns Gedichtsammlung, veröffentlichte er 1906 in der Zeitschrift Die neue Rundschau dann erneut drei Nachdichtungen (»Die ferne Laute«, »Der Dritte im Bunde«, »Frühlingsrausch«),388 doch war sein Interesse für chinesische Dichtung auch jetzt wieder nur von kurzer Dauer. Den Grund dafür benennt er in einem Brief an Julius Bab: »Gedichte nach Li-Tai-Pe kenne ich schon mehrere Dutzend und trage kein Verlangen nach mehr; wer aus diesem alten Chinesen keinen neuen Menschen zu gestalten vermag, was allein durch die Rhythmik eigenster Gefühlskraft möglich ist, der sollte sich nicht an ihm vergreifen.«389 Für Dehmel ist die chinesische Dichtung nicht Ausdruck einer vergangenen Hochkultur, deren Exotik durch die Verwestlichung nun langsam verschwindet.390 Das Vermögen dieser Dichtung müsse sich vielmehr in der Gegenwart erweisen. Anders als Bethge trauert Dehmel nicht dem »lyrischen Zauber d[er] Originale«391 nach. Bethge hatte gemeint, dass es unmöglich sei, »den Duft lyrischer Versgebilde in fremde Sprachen zu übertragen«, weshalb seiner Ansicht nach »Übersetzungen aus dem Chinesischen notgedrungen nur einen dumpfen Abglanz geben von der Schönheit ihres ursprünglichen Wesens«.392 Für Dehmel aber ist das nachgedichtete Gedicht sprachlich eigenständig; wichtig sei, dass es eine eigene Suggestionskraft entwickle, ähnlich der seines fremdsprachlichen Vorbildes. Doch müsse, um einen »neuen Menschen« zu gestalten, auf andere Mittel zurückgegriffen werden.

388 Vgl. auch Richard Dehmel: Gesammelte Werke. Zweiter Band, Berlin: Fischer 1907, S. 62–65. 389 Richard Dehmel: Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1902 bis 1920, Berlin: Fischer 1923, Bd. II, S. 116. 390 Wie z. B. Bethge, der am Ende seines Nachworts zu den Nachdichtungen schreibt: »Auch China wird ein modernes Reich werden. Es wird sich die Vorteile der europäischen Zivilisation aneignen, aber den holden Blütenstaub seiner alten und großen Kultur, auch der dichterischen, wird es hierbei verlieren. Mir scheint, das ist kein guter Tausch.« (Bethge: Die chinesische Flöte, S. 110.) 391 Ebd., S. 106. 392 Ebd.

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Auch die Nachdichtungen von Arno Holz unterscheiden sich auffallend von den gängigen, gewollt poetischen Nachdichtungen der Jahrhundertwende. Schon im »Phantasus« von 1898 spielt er auf Li-tai-pe an, wobei er einige typische Motive aus dessen Dichtung aufnimmt.393 Seine Fassung von Li Bos »Frühlingstag« hält Ingrid Schuster, verglichen mit denen von Heilmann, Dehmel, Hauser, Bethge und Klabund für die »eigenwilligste«.394 Die chinesische Form sei hier völlig aufgegeben und das Bild des chinesischen Originals werde nicht einfach nachgebildet, sondern weiter ausgeführt. Arno Holz geht es ebenfalls um die Gestaltung eines neuen Menschen, aber in einem noch weiteren Sinne, als bei Dehmel intendiert, denn für ihn ist diese Neuschaffung mit der Suche nach einer poetischen Welteinheit verbunden. In seinem »Phantasus« erscheint der Dichter als »der letzte, gesteigertste Menschheitstyp«, der alles in sich vereinigen muss: »alle Qual, alle Angst, alle Not, alle Klage, alle Plage, alle Wonnen, alle Verzücktheiten, alle Jubel, alle Beglücktheiten, alle Seligkeiten, alle Ekstasen, alle Entrücktheiten!«395 Ein Dichter wie Li-tai-pe darf dabei natürlich nicht fehlen.396 Mit dem »Phantasus« wollte Holz ein wirkliches Weltgedicht schaffen, ein »Riesen-Phantasus-Nonplusultra-Poem«,397 das alle lyrischen Stimmen und Stimmungen einschließen sollte, wobei er sich dazu versteigt, nicht einmal Goethes Faust den Rang eines Weltgedichts zuzuerkennen, da dieser nicht komplex genug sei.398 Vor dem Hintergrund dieser knappen Charakterisierungen dürfte deutlich geworden sein, dass die beiden Nachdichtungen von Dehmel und Holz weit über die gängigen Übertragungen hinausgehen, welche in erster Linie die lyrische Kunst des alten Chinas zu vermitteln suchen. Sie vermeiden jegliches Reimgeklingel, wie man es z. B. bei Bethge so oft finden kann. Mit Klabund (d.i. Alfred Henschke) wendet sich dann 1915 ein erklärter Expressionist der chinesischen Dichtung zu. Seine »Improvisationen«399 sind zum einen erotisch-impressionistisch gefärbt, zum anderen angereichert mit einer

393 Arno Holz: »Phantasus«, in: Jugend 3 (1898), Nr. 3, S. 40; hier zit. n. Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur, S. 94. 394 Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur, S. 100. 395 Das Werk von Arno Holz. 10 Bde, hg. von Hans W. Fischer, Berlin: Dietz 1924/25, Bd. X, S. 653 (vgl. auch »Phantasus«, in: Werke. 7 Bde, hg. von Wilhelm Emrich und Anita Holz, Neuwied: Luchterhand 1961–64, hier Bd. III, S. 486ff.). 396 So sieht man den chinesischen Dichter beim deutschen Dichterjubiläum mit Shakespeare und Schopenhauer anstoßen; vgl. Deutsches Dichterjubiläum. Sonderdruck eines Gedichtes aus dem Ecce Poeta zu Holz’ 60. Geburtstag (1923); hier zit. n.: Gerhard Schulz: Arno Holz. Dilemma eines bürgerlichen Dichterlebens, München: Beck 1974, S. 209. 397 Holz: Werke. Bd. I, S. 454. 398 Vgl. die Ausführungen von Arno Holz, in: Das Werk von Arno Holz, Bd. X, S. 650f. und von Gerhard Schulz: Arno Holz, S. 177. 399 Schuster verwendet diesen Begriff, um den »modernen« Ton von Klabunds Nachdichtungen hervorzuheben; vgl. Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur, S. 102.

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expressionistischen Bildlichkeit wie in der zweiten Strophe des Gedichts »Im Boot«: Wie eine Kette klirrte an den Ufern Metallgeschweißt der Affen Schrei um Schrei. An welchen Bergen, welchen Klageufern Trieb nicht mein Segel fühllos schon vorbei…400

Der eindringliche, moderne Ton erweckt keineswegs den Eindruck, dass es sich hier um nachgedichtete chinesische Verse handelt. »Kann man Lyrik ›nachdichten‹ ohne sie zu verfälschen?«,401 fragt in diesem Zusammenhang Ingrid Schuster, und meint weiter, dass, um eine Antwort zu finden, man sehr genau zwischen den beiden Positionen des Philologen und Lyrikers abwägen müsse. Der Philologe, so Schuster, verstehe zwar das Gedicht im Original und kenne den sprachlichen, kulturellen und sozialgeschichtlichen Hintergrund sehr genau, doch würden in neunzig Prozent der Fälle philologische Nachdichtungen nur wenig sprachschöpferische Qualitäten offenbaren. Auch der Assoziationsreichtum eines chinesischen Gedichts lasse sich in einer wörtlichen Übersetzung kaum zum Ausdruck bringen: »Literarische Anspielungen, die in Namen verborgen sein können, Anspielungen, die sich aus dem Bildcharakter der Zeichen ergeben, Anspielungen, die im gleichen Klang verschiedener Worte versteckt sind – alle diese fast nicht greifbaren Feinheiten der chinesischen Sprache entziehen sich einer Übersetzung.«402 Die Lyriker hingegen würden eine Nachdichtung wie jedes andere Gedicht an seiner sprachlichen Qualität messen, was den Einwand der Sinologen provoziere, »der Dichter reproduziere nicht das Gedicht selbst, sondern seine Vorstellung davon; durch die zweimalige Spiegelung – Übersetzer/ Nachdichter – verliere das Gedicht seinen ursprünglichen Charakter«.403 Wenn man aber diesen Maßstab anlege, so schlussfolgert Schuster, dann müsse man dem Urteil der Literaturhistoriker wohl zustimmen, dass Dehmel, Holz und Klabund nur als Lyriker Geltung hätten, dass Bethges und Hausers »Dichtungen« heute zu Recht vergessen und wie Bierbaum nur noch von historischem Interesse seien.404 Die Nachdichtungen als solche wären damit nichts anderes als eigentlich nur ein bedeutungsloses Kapitel der deutschen Literaturgeschichte. Schusters Reflexionen verdeutlichen das Dilemma, dem man nicht entkommen kann, solange man am Begriff ›Nachdichtung‹ festhält. Die Frage, ob Dehmels chinesisches Trinklied oder die Fassung des »Frühlingsrausches« in Holz’ »Phantasus« Verfälschungen sind, ist nämlich unter den Bedingungen einer 400 401 402 403 404

Klabund: Li-Tai-Pe, Leipzig: Insel 1916, S. 6 (im Original kursiv). Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur, S. 102. Ebd., S. 103. Ebd. Ebd.

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funktionalen Umdichtung nicht mehr relevant. Wenn Dehmel aus dem ›alten Chinesen‹ einen ›neuen Menschen‹ machen will, und Holz sich die poetische Gestaltung des Weltdichters zum Ziel setzt, dann folgen sie mit ihrer Umdichtung einem Konzept, einer Idee. Ihnen geht es schon lange nicht mehr um die wortgetreue Nachbildung eines chinesischen Gedichtes. Man müsste, um der Art und Weise gerecht zu werden, mit der sie chinesische Vorlagen benutzen oder nachbzw. umdichten, von einer ›Konzept-Übersetzung‹ sprechen. (Dieser Neologismus ist dem Ausdruck ›Konzept-Kunst‹ nachgebildet.) Als Konzept-Übersetzungen wiederum erhielten diese Umdichtungen eine literaturgeschichtliche Bedeutung, allein schon deshalb, weil sie ein poetisches Programm beinhalten, so, wie es bei den Dichtern Dehmel und Holz deutlich geworden ist, und auch bei Albert Ehrenstein lässt sich, wie im Folgenden gezeigt wird, eine politisch-poetische Konzeption finden.

»Schmutziger Weltstaub«. Ehrenstein nach dem Ersten Weltkrieg In der Ankündigung ausgewählter chinesischer Umdichtungen Albert Ehrensteins heißt es in der literarischen Wochenschrift Das Tage-Buch: Chinesische Lyrik – das war ins Deutsche übertragen meist chinesisch angemalter Geibel. Lag’s an der Auswahl, lag’s an den Mittlern – die Pfirsichblüten chinesischer Dichter dufteten im Deutschen meistens ein bißchen parfümiert. Von solcher Süßigkeit sind die Dichtungen ›Pe-Lo-Thien‹ frei, die Albert Ehrenstein soeben in einem wunderschön ausgestatteten Bande bei Ernst Rowohlt herausgegeben hat. Es sind Dichtungen der edelsten Schwermut, deren Meister und Opfer ja nicht nur Pe-Lo-Thien, sondern auch der deutsche Albert Ehrenstein ist.405

Die Gedichte haben modern anmutende und gegenwartsbezogene Überschriften wie z. B. »Krankheitsurlaub«: Auf Kissen matt Zwei Tage lag ich Menschenfern. Wen ein Amt hält, Findet Frieden Erst im Fieber. Für Gedanken und Ruhe Gewährt man Beamten Keine Zeit. 405 Das Tage-Buch, 4. Jg., 2. Halbjahr 1923, S. 968. Mit dem Wort »Pfirsichblüten« wird hier wohl auf Hans Bethges Pfirsichblüten aus China (1920) sowie auf Klabunds Blumenschiff (1921) angespielt.

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Mein Zimmer ist klein. Zwischen Traufe und Bambusgebüsch Vom Lager hebt sich mein Aug zu den Weißen Gipfeln. Aber die Wolken, die über Den fernen Schneebergen schweben Treiben Schamröte mir in mein Antlitz, Das immer noch schmutzig vergraben ist in den Weltstaub.406

Nichts erinnert mehr an den »Blütenstaub« (Bethge) alter chinesischer Dichtung. Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs ist das Antlitz selbst des Dichters schmutzig vom Weltstaub – selten ist eine treffendere Metapher für die Veränderungen gefunden worden, die sich im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vollzogen haben. Die Nach- und »Neudichtungen«,407 wie Ehrenstein selbst seine Bearbeitungen nennt, zeichnen sich durch Kürze und Klarheit aus. Die Darstellung konzentriert sich auf das Wesentliche: das schlichte Aus- und das direkte Ansprechen. Nun war Ehrenstein keineswegs der erste deutschsprachige Autor, der Gedichte von Pe-lo-thien nach- bzw. umgedichtet hat, denn schon bei Bethge und Hauser kann man Übertragungen aus dessen Werk finden. Ehrenstein aber machte auf seine Weise den bislang wenig beachteten chinesischen Dichter dem deutschen Publikum erst richtig bekannt, das diesen nun für sich als einen großen Dichter der Tang-Zeit entdecken konnte.408 Wer seinen literarischen Rang erahnen wolle, erklärt er, müsse wissen, dass der Elegiker Pe-lo-thien mit Li-taipe und Du Fu »das sogenannte goldene Thang-Zeitalter der Dichtung« bilde: Seine der höchsten Richterpflicht getreuen Satiren noch haben mehr Herz und Mit– Leid, tieferes Sozialgefühl, Mitgefühl, Schamgefühl als ein Dutzend Menschheitsdichter. Das Altern blies Asche in sein Feuer, aber über den Sorgenfalten des eingedüsterten Leides saß ruhig seine Seele und sang ihr ewiges Lied von Wald und Herbst, Blumen und Vergänglichkeit.409

406 Albert Ehrenstein: »Krankheitsurlaub«, in: Das Tage-Buch, 5. Jg., 2. Halbjahr 1924, S. 1453; wiederabgedruckt in: Ehrenstein: Werke, Bd. 3/I, S. 252. 407 Ehrenstein: Werke, Bd. 3/I, S. 159. 408 Otto Hauser wies in seiner 1908 publizierten Einführung Die chinesische Dichtung darauf hin, dass Pe-lo-thien »in Europa fast unbekannt« geblieben sei: »Nur im sechsunddreißigsten Bande der ›Denkschriften der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften‹ (Wien 1888) findet man, dem Laienkreise fast unzugänglich, eine sehr reiche Auswahl aus seinen Dichtungen im Original und von August Pfizmaier in ein ganz unmögliches Deutsch übersetzt, das auch nur für den Fachgelehrten bestimmt und von Wert ist.« (Hauser: Die chinesische Dichtung, S. 41–42.) 409 Ehrenstein: Werke. Bd. 3/I, S. 159.

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Für Ehrenstein waren die Gedichte des chinesischen Lyrikers eine Fundgrube, die er für seine literarischen Umarbeitungen zu nutzen wusste. Man kann durchaus sagen – wie es übrigens auch die von den Herausgebern der Literaturzeitschrift Tage-Buch verfasste Einführung in seinen Gedichtzyklus nahelegt –,410 dass sich Ehrenstein in gewisser Weise mit diesem Autor identifizierte. Das wird vor allem im folgenden Gedicht deutlich, das den Titel »Das alte Grab« trägt und den Gedichtband Pe-lo-thien beschließt: Die Augen bedeck ich, Aus meinem Heimatdorf treibt mich ein Stern, In Sturmeswehn wandre ich fern. Weit und groß in grüner Wildnis Der Frühling ist wüst wie mein, des Verwaisten, Gemüt. Einherjagend das Roß ersteigt die Erdhügel, Hoch und tief geht der Weg. Der Wind bläst durch die wilden Birnblüten, Ein weinender Vogel – kein anderer Laut. Ein altes Grab fragt mich nach seinen Jahren, Niemand kennt den Namen des Toten, Er wandelt sich neben dem Weg in Erde, Jahr um Jahr seines Frühlings Pflanzen wachsen. Mein Herz regt sich, es schlägt: Dies Haus gehört mir.411

Es sind vor allem die Themen der Einsamkeit, des Gefangen-Seins in Sachzwängen oder Lebensumständen, des Alterns, aber auch die Naturempfindungen, die für Ehrenstein einen Erlebnis- und Erfahrungsraum eröffnet haben, in dem er sich nach dem expressionistischen Aktionismus wiederfinden konnte. Voraussetzung dafür war, dass die Gedichte gleichsam ›entsinisiert‹ wurden, d. h. ihnen wurde das typisch Chinesische entzogen, was aber nicht unbedingt heißen muss, dass sie gleichzeitig verwestlicht würden. Vielmehr wurden sie auf das Existentielle reduziert und soweit verallgemeinert, sodass man sie sowohl auf die Situation in Europa, als auch auf die Lage in China um 1920 übertragen konnte. Dazu musste einerseits auf exotisches Kolorit verzichtet werden (bis auf einige Namen, Ortsbezeichnungen sowie die für China typischen Maulbeerbäume und die ›Ursymbole‹ Yin und Yang) 412 und andererseits durften nur möglichst wenige westliche Gefühlsmetaphern hineingebracht werden. Im Vergleich zu den SchiKing-Umdichtungen fehlen hier sämtliche westlichen Liebessymbole und Per410 Die Einführung bezieht sich allerdings auf den zweiten Band von Nach- und Neudichtungen des Dichters Bo Juyi, für dessen Dichternamen Ehrenstein unterschiedliche Umschriften benutzt: Während der erste Band Pe-lo-thien (1923) heißt, lautet der zweite Po-Chü-i (1924). 411 Ehrenstein: Werke. Bd. 3/I, S. 158. 412 Siehe z. B. das Gedicht »Die verdorrten Maulbeerbäume«, ebd., S. 240.

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sonifizierungen. Wenn dennoch einmal von »weinenden Vögeln« die Rede ist, dann wohl vor allem wegen der Eindringlichkeit des Bildes. Gleichzeitig hat Ehrenstein wichtige sinnstrategische Veränderungen vorgenommen, die er dem Leser im Anhang durch einen Vergleich mit den »Bambusdickichte[n]«413 der Übertragungen Pfizmaiers vor Augen zu führen versuchte. Zu diesem Zweck wählte er drei Gedichte ganz unterschiedlicher Länge aus: ein Langgedicht mit zweiundvierzig Strophen, ein zweistrophiges Gedicht und schließlich ein Kurzgedicht mit nur einer Strophe. Auffällig in ihnen sind die ausführlichen Natur- und Landschaftsschilderungen, durch die hindurch nur kaum vernehmbar ein menschliches Gefühl oder ein Existenzzustand nach außen dringt. Das wird besonders im Kurzgedicht »In der Landschaft« deutlich: Auf des Bezirkes Weg die Nachricht abgeschnitten, In der Bergfeste die Sonne, der Mond spät. Will man wissen, ob der Landstrich nahe oder fern, Vor den Stufen man pflückt Li-tschi.414

Dass die Gegend, in die die Nachricht verschickt wurde, tatsächlich weit von der Hauptstadt entfernt ist (gesetzt den Fall, es handelt sich um eine kaiserliche Botschaft), wird dadurch angedeutet, dass Sonne und Mond spät aufgehen; und die Tatsache, dass sie offenbar nicht angekommen ist, wird durch die gewohnte Verrichtung des Arbeitsalltags nahegelegt. Darüber hinaus erfährt man nichts. Der Grund dafür, warum die Nachricht den Empfänger nicht erreicht hat, bleibt offen. In Pfizmaiers Nachdichtungen ist die chinesische Form der anregenden Anspielung (xing) in den Naturbeschreibungen noch zu spüren. Für Ehrenstein hingegen sind die verschlungenen Pfade des allusiven Sinns »Bambusdickichte chinesischer Lyrik« und »blühende Wildnis« und nichts als Hindernisse für eine direkte Kritik der bestehenden sozialen Verhältnisse. Die Offenheit des Sinns bedeutet für ihn zugleich auch die Möglichkeit von vielerlei Missverständnissen, weshalb er bemüht war, sämtliche Schatten der Anspielung so weit wie möglich aufzuhellen. In seinen Um- und Neudichtungen weicht deshalb die allusive Naturbeschreibung einer klarsichtigen Reflexionssituation, wie z. B. im Gedicht »Frost«: Ich blicke umher zwischen den engen Dorfdurchgängen 413 »Daß das zweifache Dunkel des Pe-lo-thien und seines verläßlichen Interpreten auch zu Mißverständnissen führen muß, könnte der drei Gedichte in ihrem pfizmaierischen Wortlaut überliefernde Anhang lehren, in dem deutschen Lesern das Vergnügen wird, Bambusdickichte chinesischer Lyrik am eigenen Leib zu fühlen, oder in ihre blühende Wildnis vorzudringen.« (Ebd., S. 160.) 414 Pfizmaier, zit. n. Ehrenstein; ebd., S. 169.

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Von zehn Hütten verfallen hier neun Bambus und Pistazien sind erfroren, Erfroren kleiderloses Volk vor tauben Toren. Der Nordwind schwingt sein scharfes Schwert, Dünntuch, Hauchseide schützt nicht den Leib. Magere Dornen, Strohfeuer am Herd – Die Dorfarmen können nicht erwarmen, Traurige Nacht erwartet den finsteren Morgen. Ihr habt die Sorgen, ihr des Unkrauts Plage, Ich Wintergartens Lust, Gehalt und Freudentage. In Frost und Mühsal, Hitze, Durst Verhungert, Arme, ihr auf Ackerhügeln; In warme Wolle, Taft und Pelz gehüllt, Lieg, sitze ich, gestillt, gefüllt. In Worten geht mein Leben hin Und euer Gram wird meine Scham. Ich frage mich, was für ein Mensch ich bin? 415

Das lyrische Ich von Pe-lo-thien spricht hier als Hofbeamter,416 der das Leid der Bauern um sich herum beklagt. Ehrenstein behält diese Position des BeamtenDichters bei und steigert sie sogar noch durch den häufigen Einsatz des Personalpronomens »ich«, in dessen Reflexion sich die Lage der Armen (das »Ihr«) widerspiegelt. Neben den Schi-King- und Pe-lo-thien-Umdichtungen hat Ehrenstein dann auch noch drei Anthologien chinesischer Lyrik herausgegeben. Im gleichen Jahr (1924) wie sein Band Po-Chü-i erschien im Berliner Malik-Verlag die Sammlung China klagt: Nachdichtungen revolutionärer chinesischer Lyrik aus drei Jahrtausenden. Hier stellt er mit denselben Dichtern Du Fu und Pe-lo-thien ein noch kämpferischeres China vor, das die Last des gelehrten Beamtentums abgeworfen hat und seine Gedichte an die Freiheit richtet. Auch dreizehn Gedichte aus dem Schi-King hat er für diese Sammlung ausgewählt, denn schon hier finde man, wie er im Vorwort betont, »viele Verse des Unmutes, des Ärgers, der Empörung über die unfähige Gewaltherrschaft und vor allem eine stetig zunehmende Unlust und Aversion gegen den Soldatendienst und die Kriegführerei«.417 Doch erst in der 415 Ehrenstein: Werke. Bd. 3/I, S. 120. Die Verse wurden als Abschlussgedicht in China klagt wieder veröffentlicht (S. 47). Statt »Dorfdurchgängen« heißt es jetzt »Hofdurchgängen«, außerdem stehen »Gehalt und Freudentage« dort als selbständige Zeile. 416 Ehrenstein versäumt es nicht, in einer kurzen biographischen Notiz zu erwähnen, dass der Dichter nach Beendigung seiner Beamtenprüfung vom Jahre 801 an am Kaiserhof in Xi’an tätig war. Danach bekleidete er kleine Ämter, wurde kurzzeitig strafversetzt, bevor er schließlich Statthalter (Präfekt) von Hangzhou (822–24) und später von Suzhou (825–27) wurde; vgl. Ehrenstein: Werke. Bd. 3/I, S. 183–187. 417 Albert Ehrenstein: China klagt. Nachdichtungen revolutionärer chinesischer Lyrik aus drei Jahrtausenden, Berlin: Malik 1924, S. 5.

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Tang-Zeit, etwa um 800, habe es mit Pe-lo-thien einen dichtenden »Ankläger« gegeben, »der den Übermut und die Verschwendung der Mandarine und Fürsten geißelte, den Schrei der leidenden und hungernden Masse ausstieß«.418 Von dem Band Das Gelbe Lied hatte die Deutsche Buchgemeinschaft 1933 erst siebzehn Exemplare fertiggestellt, als der weitere Druck und die Auslieferung wegen Ehrensteins jüdischer Abstammung gestoppt wurden.419

Vom epigrammatischen Dreizeiler zum deutschen Haikai »D[as] Haiku hat jene etwas trügerische Eigenschaft, daß man stets meint, leicht selbst einige schreiben zu können.« (Roland Barthes) 420

Die japanische Dichtung erreichte im Vergleich zur chinesischen das deutsche Publikum erst viel später und hatte dem entsprechend auch einen viel geringeren Einfluss. Dichtern wie Rilke oder Goll war die Form des Haikai421 über Frankreich vermittelt worden, doch hätte man in Deutschland durchaus Gelegenheit gehabt, schon vorher mit dem japanischen Haiku bekannt zu werden, und zwar durch die Geschichte der japanischen Litteratur des seit 1889 als Sprachlektor und Professor in Japan tätigen Karl Florenz, die 1906 erschien und in der ein Kapitel dem »japanischen Epigramm« gewidmet ist, sowie durch die von Julius Kurth herausgegebene Anthologie Japanische Lyrik aus dem Jahre 1909.422 Aber philolo418 Ebd. 419 Vgl. das Vorwort zur Werkausgabe Ehrensteins von Hanni Mittelmann, in: Ehrenstein: Werke. Bd. 3/I, S. 7. Siehe außerdem die kurze Einführung zu Das Gelbe Lied, wo ein Brief an Hermann Kesten zitiert wird, in dem es heißt: »Meine chinesische Lyrik ›Das gelbe Lied‹, fertig ausgesetzt, will die Deutsche Buchgemeinschaft nicht herausgeben, weil ich Jude u. auf allerlei Listen stehe.« (Brief von Albert Ehrenstein an Hermann Kesten vom 12. 7. 1933, in: Albert Ehrenstein: Werke. Bd. 1: Briefe, München: Boer 1987, S. 265.) 420 Barthes: Das Reich der Zeichen, S. 94. 421 Am Anfang des 20. Jahrhunderts fand der ältere japanische Begriff ›Haikai‹ über das Französische Eingang in die deutsche Sprache. Er wird im Folgenden beibehalten, um die Haikais von Goll und Rilke zu bezeichnen, wobei die begriffliche Differenz zu ›Haiku‹ den Unterschied zur japanischen Form, die sich vor allem an der Silbenstruktur 5–7–5 festmachen lässt, unterstreichen soll. 422 Zwar gibt es auch in Karl Florenz’ Anthologie Dichtergrüße aus dem Osten (1894) ein Haiku, doch übersetzt er es nicht als Dreizeiler, sondern als gereimten Fünfzeiler (vgl. Karl Florenz: Dichtergrüße aus dem Osten, Leipzig: Amelang 1894, S. 41; das Gedicht heißt »Augentäuschung«). Florenz scheint große Vorbehalte gegenüber dem Haiku gehabt zu haben: Er spricht einmal vom »Liliputanertum der poetischen Form« und stellt fest, »daß die Vorliebe der Japaner für das Kleine und Kleinste ihre Fähigkeit zur Darstellung des Großen, Tiefen, Gewaltigen in der Lyrik verkrüppelt« habe und »daß eine Lyrik, die sich praktisch auf Aphorismen beschränkt, auch nur eine beschränkte Wertschätzung genießen« könne (Karl Florenz: Geschichte der japanischen Litteratur, Leipzig: Amelang 1906, S. 448–449). An

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gische Studien über fremde Literaturen wurden offenbar viel seltener für die eigene Inspiration genutzt, als man es hätte erwarten dürfen. In Frankreich hingegen gab es zu dieser Zeit bereits eine eigene Gattung: »le Haï-Kaï français«. Paul-Louis Couchoud machte einige seiner eigenen, nach japanischem Vorbild verfassten Haiku 1905 in der Gedichtsammlung Au fil de l’eau der Öffentlichkeit bekannt, womit eine regelrechte Haikai-Welle ausgelöst wurde.423 Im September 1920 erschien in der Nouvelle Revue Française eine von Jean Paulhan eingeleitete Anthologie, die Kurzgedichte in japanischer Manier von zwölf Autoren, darunter Paul Eluard und Pierre Albert-Biron, ein Freund Yvan Golls, vereinte.424 In seinem kurzen Einleitungstext ging es Paulhan keineswegs darum, ein genaues Bild der japanischen Form zu geben – eine Haltung, die auch für Golls Verwendung der Haikai-Form prägend bleiben wird. Er vermerkt lediglich, dass es sich um Gedichte von drei Zeilen mit dem Schema 5–7–5 handle.425 Ein Leser, der dann Übersetzungen japanischer Haiku erwartet haben mag oder doch Nachdichtungen, die getreu ihr fernöstliches Vorbild widerspiegeln, dürfte sehr enttäuscht gewesen sein, stattdessen Zeilen wie die folgenden vorzufinden: Le convoi glisse déjà Adieu Notre-Dame Tiens!… la Gare de Lyon! 426

423 424 425 426

anderer Stelle erklärt er, dass »das leicht zu dichtende Haikai sogar bei den Ungebildetsten Anklang und tätige Nachahmung« gefunden habe (Karl Florenz: »Die japanische Literatur«, in: Paul Hinneberg (Hg.): Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele. Teil I. Abt. VII. Die orientalischen Literaturen, Berlin/Leipzig: Teubner 1906, S. 360–401, hier S. 374). Einen Überblick über das Haiku in westlichen Literaturgeschichten gibt Thomas Pekar: Der Japan-Diskurs im westlichen Kulturkontext (1860–1920). Reiseberichte-Literatur-Kunst, München: Iudicium 2003, S. 122–125. Im englisch- und französischsprachigen Raum lagen hingegen um die Jahrhundertwende zum Haiku bereits eine Reihe von Monographien und Aufsätzen vor, z. B. A History of Japanese Literature von William George Aston (1899), »Basho¯ and the Japanese Poetical Epigram« von Basil Hall Chamberlain (in: Transactions of the Asiatic Society in Japan 30/2 (1902), S. 243–263 und auf Französisch Le Haïkaï. Les Épigrammes lyriques du Japon von Paul-Louis Couchoud (1906). Der in drei Teilen in Les Lettres publizierte Aufsatz fand in überarbeiteter Form Eingang in das Buch Sages et Poètes d’Asie (1916). Bis zum ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert hielt man das Haiku noch für eine Form des Epigramms. In den 1920er Jahren setzte sich dann die Bezeichnung Haikai durch. (Vgl. Jan Walsh Hokenson: Japan, France, and East-West Aesthetics. French Literature, 1867–2000, Madison/Teaneck: Fairleigh Dickinson Univ. Press 2004, S. 249–250.) Vgl. dazu Mizue Motoyoshi: »Das japanische Kurzgedicht in der europäischen Moderne«, in: Humanität in einer pluralistischen Welt? Hg. von Christian Kluwe und Jost Schneider, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, S. 203–218, hier S. 205. Haïkaïs. Hg. von Jean Paulhan, in: La Nouvelle Revue Française 7, Nr. 84, 1. September 1920, S. 329–345. »Les haï-kaïs sont des poèmes japonais de trois vers; le premier vers a cinq pieds, le second sept, le troisième cinq.« (Ebd., S. 329.) Ebd., S. 331.

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Die in der Nouvelle Revue Française veröffentlichten Haikais orientieren sich nicht an Form und Inhalt der japanischen Gattung, sondern nutzen sie als Inspiration, um Phänomene der modernen Welt auf neue Weise darzustellen – und vielleicht auch mit anderen Augen zu sehen.427 Obgleich die Anthologie von Paulhan die wohl einflussreichste dieser Zeit in Frankreich und Deutschland war, hatte es bereits einige Zeit zuvor schon einen Versuch gegeben, die japanische Kurzform in die moderne westliche Lyrik einzuführen. 1916 publizierte Julien Vocance mit Cent Visions de Guerre einhundert Haikais, um seine Erlebnisse auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs festzuhalten.428 Wer aber hat als Erster versucht, ein Haikai in deutscher Sprache nachzudichten? Nach unserem jetzigen Kenntnisstand haben Rilke und Goll vermutlich etwa zeitgleich im Jahr 1920 als Reaktion auf die französischen Haïkaï damit begonnen. Rilke berichtet in einem Brief an Gudi Nölke von seiner Begegnung mit dem japanischen Kurzgedicht und fügt ein französisches Haïkaï aus der Nouvelle Revue Française bei: Kennen Sie die kleine japanische (dreizeilige) Strophe, die ›Haï-Kaïs‹ heißt? Die Nouvelle Revue Française bringt eben Übertragungen dieser, in ihrer Kleinheit unbeschreiblich reifen und reinen Gestaltung: zum Beispiel: »Elles s’épanouissent, alors On les regards, – alors les fleurs Se flétrissent, – alors…« (rien des plus! C’est délicieux!) 429

Im September 1920 verfasst Rilke dann in Genf sein erstes eigenes Haiku – auf Französisch:

427 Pouthier vertritt die These, dass Goll seine ersten Haikais bereits 1920 unter dem Eindruck der Lektüre jener französischen Haïkaïs geschrieben habe (Pierre Georges Pouthier: Yvan à Claire – Yvan an Claire – Yvan to Claire. Studien zur Thematik und Symbolik der ›Clairelyrik‹ Yvan Golls, Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris: Lang 1988, S. 149–151). Pouthier datiert Golls Haikais mit dem 8. September 1920 und bezieht sich dabei auf eine Anmerkung der 1968 im Magica-Verlag veröffentlichten Ausgabe, vgl. Yvan Goll: Gedichte. Eine Auswahl. Mit vierzehn Gedichten von Claire Goll, hg. von René A. Strasser, Meilen: Magica 1968, S. 389. Allerdings herrscht in dieser Frage keine Übereinstimmung, denn die Herausgeberin von Golls Gesamtausgabe Glauert-Hesse weist in ihrem Kommentar im Band 1 (S. 393–394) darauf hin, dass dieses Datum von fremder Hand eingefügt und zu früh angesetzt sei. 428 Julien Vocance: »Cent Visions de Guerre«, in: La Grande Revue, 1. Mai 1916, S. 424–435. Obgleich Couchoud die Haïkaïs von Vocance sehr schätzte, fanden sie in der literarischen Welt kaum Beachtung. 429 Rainer Maria Rilke: Die Briefe an Frau Gudi Nölke. Aus Rilkes Schweizer Jahren. Hg. von Paul Obermüller, Wiesbaden: Insel 1953, S. 63 (Brief vom 4. 9. 1920).

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C’est pourtant plus lourd de porter des fruits que des fleurs Mais ce n’est pas un arbre qui parle – C’est un amoureux.430

Im Dezember folgt ein zweites Haiku auf Deutsch, das er Baladine Klossowska brieflich zukommen lässt: Kleine Motten taumeln schauernd quer aus dem Buchs; sie sterben heute Abend und werden nie wissen, daß es nicht Frühling war.431

Beide Kurzgedichte sind von der japanischen Form weit entfernt. Es handelt sich, wie Herman Meyer es formuliert hat, eher um »ephemere Gebilde, die in ihrer gefühlvollen und etwas zerflossenen Art ganz ins literarisch abgehobene, im brieflichen Austausch sich vollziehende Liebesgespräch der beiden aufgenommen sind«.432 Danach wendet sich Rilke dann nur noch vereinzelt dieser Form zu.433 In der literaturwissenschaftlichen Forschung wird lediglich ein Situationsgedicht erwähnt, weil es eine große Nähe zum japanischen Vorbild aufweist. Rilke schrieb es im Herbst 1926 kurz vor seinem Tode: Entre ses vingt fards elle cherche un pot plein: devenu pierre.434

In den 1920er Jahren wurde das Haikai in Europa noch als epigrammatischer Dreizeiler verstanden. Entsprechend erkennt Mizue Motoyoshi in Rilkes Versuchen ein Verfahren, das darin besteht, »Bilder oder Begriffe analogisch oder gegensätzlich, syllogistisch oder dialektisch zu konstituieren – eine Methode, die der zeitgenössischen Auffassung entsprang, das Haiku sei ein epigrammatischer Dreizeiler«.435 Auch Andreas Wittbrodt ist sich nicht sicher, ob es sich wirklich

430 Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Hg. v. Rilke-Archiv. In Verb. mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn, Frankfurt a. M.: Insel, 6. Aufl., 1992, Bd. 2, S. 638. (»Und gleichwohl ist es schwerer, Früchte als Blumen zu tragen. Doch es ist kein Baum, der so spricht, sondern ein – Liebender.« Übers. nach Rilkes Werkausgabe.) 431 Ebd., S. 245. 432 Herman Meyer: »Rilkes Begegnung mit dem Haiku«, in: Euphorion 74/2 (1980), S. 134–168, hier S. 159. 433 Aus seiner Korrespondenz lässt sich nachweisen, dass Rilke Couchouds Buch Sages et Poètes d’Asie gelesen und dass er für Sophie Giauque etwa 30 Haiku daraus abgeschrieben hat. Vgl. dazu ausführlich Meyer: Rilkes Begegnung mit dem Haiku, S. 134–168. 434 Rilke: Sämtliche Werke. Bd. 2, S. 745. (»Unter ihren zwanzig Schminktiegeln sucht sie, zu Stein geworden, einen vollen Topf.«) 435 Motoyoshi: Das japanische Kurzgedicht in der europäischen Moderne, S. 208. Es ist allerdings übertrieben zu behaupten, dass Rilke in der Zeit, in der er seine Kenntnisse über das Haiku zu vertiefen suchte, »die eigene Poetik mit der des Haiku verschmolz« (ebd.), weil gerade die wesentlichen Aspekte der japanischen Haiku-Poetik bei Rilke nicht zu erkennen

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um ein Haiku handelt, doch spricht er dem Gedicht eine gewisse Evokationskraft zu. Der Leser sei versucht, »an eine Statue zu denken oder auch an eine Frau, die vor dem Spiegel, ihrer Lebenssituation oder Alters eingedenk, vor lauter Verzweiflung erstarrt ist«.436 So literaturgeschichtlich bemerkenswert der Umstand auch sein mag, dass Rilke allem Anschein nach als erster deutscher Dichter ein Haiku geschrieben hat, so steht andererseits jedoch fest, dass er die Form dieser höchst spezifischen Gebilde nicht voll erfasste und nicht an den ihnen innewohnenden Möglichkeiten interessiert war. Er hielt das Haiku für nicht mehr als eine epigrammatische Form, in der sich eine Lebenssituation in einem poetischen Bild verdichten lässt. Bei Yvan Goll ist es viel schwieriger zu ermitteln, wann genau er mit dem Schreiben von Haikais begonnen hat. Zwar legt eine Datierung ebenfalls den September 1920 als Zeitpunkt dafür nahe, doch gilt sie der Forschung nicht als gesichert.437 Es ist zu vermuten, dass es eines weiteren Anstoßes bedurfte, der wohl in der Randbemerkung »Das Hai-Kai« (1925) von Franz Blei zu sehen sein dürfte,438 um Goll gänzlich davon zu überzeugen, seine Kurzgedichte zu publizieren. Auch wenn er vielleicht nicht der erste deutschsprachige Schriftsteller gewesen sein mag, der Kurzgedichte nach dem Vorbild japanischer Haikus geschrieben und veröffentlicht hat, so kann er doch als derjenige gelten, der, angeregt durch Bleis Text, eine ganz neue lyrische Form in die deutschsprachige Dichtung eingeführt hat.439 Für Goll ergaben sich mit dem Rekurs auf die japanische Gedichtform neue Möglichkeiten, die er in einer kurzen Einführung re-

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439

sind; auch, wenn das zweite Kurzgedicht Rilkes »ein konkretes, augenblickshaftes Geschehen« (ebd.) beschreibt, reicht dies allein für die Bestimmung seiner Poetik nicht aus. Andreas Wittbrodt: Hototogisu ist keine Nachtigall. Traditionelle japanische Gedichtformen in der deutschsprachigen Lyrik (1849–1999), Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2005, S. 187. Einem Hinweis von Glauert-Hesse zufolge ist eine der Haiku-Niederschriften mit dem 8. 9. 1920 datiert. Die Herausgeberin bemerkt allerdings dazu: »Dieses Datum von fremder Hand steht auf dem 1. Bl. rechts oben und ist zu früh angesetzt, da Goll die ersten Hai-Kais erst 1926 veröffentlichte.« (vgl. Yvan Goll: Die Lyrik in vier Bänden. Bd. I: Frühe Gedichte 1906– 1930, hg. u. komm. v. Barbara Glauert-Hesse, Berlin: Argon 1996, S. 393f.) Nimmt man allerdings an, dass Goll genauso wie Rilke die französische Anthologie in der Nouvelle Revue Française gelesen und daraufhin eigene Haikai verfasst hat, dann wäre diese Datierung durchaus denkbar. Franz Blei: »Das Hai-Kai«, in: Roland 23 (1925) 12, S. 40. Das Haiku wird hier als ein »Bildchen im kleinsten Raum mit einem pointierten Akzent in der dritten oder auch schon in der zweiten Zeile« definiert (vgl. auch Anthologie der deutschen Haiku, hg. von Hachiro¯ Sakanishi, Herbert Fussy u. a., Sapporo: Dairyman 1978, S. 45). Wittbrodt meint allerdings, dass die zehn dem Text beigefügten Gedichte keinerlei Merkmale eines japanischen Haikus aufweisen würden (vgl. Wittbrodt: Hototogisu ist keine Nachtigall, S. 148). Die Zeitschrift Zwiebelfisch geht 1927 auf die ersten Haikais von Goll näher ein und spricht von einer »Verpflanzung des japanischen Dreizeilers, des ›Hai-Kai‹ in die deutsche Lyrik«; vgl. Der Zwiebelfisch. Zeitschrift über Bücher, Kunst und Kultur 20 (1927), S. 86.

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flektiert und mit seinen Kurzgedichten, welche er nach dem japanischen Vorbild ›Haikais‹ nennt, auszuschöpfen versucht. Er ist damit der erste deutschsprachige Dichter, der sich programmatisch der Form des Haikus annähert, denn es kann, wie gleich zu zeigen sein wird, tatsächlich nur von einer Annäherung gesprochen werden. Goll hat insgesamt 53 Haikais geschrieben. Die ersten erschienen 1926 als Zwölf Haikai’s der Liebe in der Zeitschrift Die Literarische Welt.440 Im Jahr darauf folgte eben dort eine zweite Serie mit zehn Kurzgedichten unter dem Titel Moderne Haikais.441 Zwei weitere geplante Fortsetzungen mit 12 bzw. 19 Kurzgedichten blieben bis zur Zusammenstellung der Werkausgabe 1996 unveröffentlicht.442

»Komprimierte Kunstpillen«. Moderne Haikais von Yvan Goll443 Schon in seinem 1921 publizierten Aufsatz »Das Wort an sich. Versuch einer neuen Poetik« erwägt Goll die »Lakonik der japanischen Tanka« als eine Möglichkeit, das poetische Wort in eine neue Form zu bringen.444 Die Ausgangssituation ist bei ihm ähnlich wie bei Ehrenstein. Beide sind der Ansicht, dass man als Dichter nicht weiter am Expressionismus festhalten könne, denn dieser habe die Sprache »vergewaltigt und verhurt«.445 Wie Ehrenstein sucht auch Goll nach einer neuen Erlebnislyrik, setzt aber andere Bezugspunkte und wählt andere Kriterien. Für Goll muss sich moderne Dichtung an den technologischen Veränderungen der menschlichen Umgebung orientieren; »es gilt, tiefstes Erlebnis in Telegramme zu komprimieren, und zwar stenographiert. Es gilt, den größtmöglichen Inhalt in die akuteste und zugleich einfachste Form zu bringen.«446 In 440 Yvan Goll: »Zwölf Haikai’s der Liebe«, in: Die literarische Welt 2 (1926), Nr. 46, S. 3; wiederabgedruckt in: Yvan Goll: Die Lyrik in vier Bänden. Band 1: Frühe Gedichte 1906–1930, hg. und kommentiert von Barbara Glauert-Hesse, Berlin: Argon 1996, S. 333–334. 441 Yvan Goll: »Moderne Hai-Kais«, in: Die literarische Welt 3 (1927), Nr. 46, S. 3; wiederabgedruckt in: Yvan Goll: Die Lyrik in vier Bänden. Band 1: Frühe Gedichte 1906–1930, S. 335– 336. 442 Vgl. die Serien »Neue Hai-Kais« und »Hai-Kais« in: Yvan Goll: Die Lyrik in vier Bänden. Band 1: Frühe Gedichte 1906–1930, S. 336–337 und 338–340. 443 Teile der nun folgenden Ausführungen basieren auf meinem Aufsatz »›Komprimierte Kunstpillen‹. Das moderne Haikai bei Yvan Goll«, in: Etudes Germaniques 68/3 (2013), S. 475–488. 444 Iwan [Yvan] Goll: »Das Wort an sich. Versuch einer neuen Poetik«, in: Die neue Rundschau 32 (1921), H. 10 (Oktober), S. 1082–1085; wiederabgedruckt in: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920, hg. von Thomas Anz und Michael Stark, Stuttgart: Metzler 1982, S. 613–617, hier S. 613. 445 Ebd., S. 614. 446 Ebd., S. 615.

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dem Text ist zwar nicht die Rede vom Haikai, aber ein Satz verrät doch das damalige westliche Verständnis des japanischen Haiku als epigrammatischen Dreizeiler: »Die japanischen Gedichte«, schreibt Goll, »brauchen nur drei Verse, um die Welt auszudrücken.«447 Entscheidend ist für Goll die Formfrage – war sie es doch, an der er den Expressionismus scheitern sah. »Form muß der adäquate, innerlich wie äußerlich begründete Ausdruck eines Zeitinhalts sein.«448 Das Sonett war viereckig, das klassische Drama dreieckig, Shakespeare rund und Whitmans Poesie begeisterte sich an Parallelen – jedes Mal war es der »Ausdruck eines Zeitinhaltes«. Aber in welcher Form sollte der Zeitinhalt am Anfang der 1920er Jahre ausgedrückt werden? »Die heutige Form«, antwortet Goll, »ist eine Vertikale«: »Unsere Zeit ist steil. Wir bewegen uns nach oben. Wir sind Aeroplane. In Wolkenkratzern leben die Lifts immer senkrecht. Telegraphenstangen und Antennen und Schlote. Wir nähern uns dem Zenit.«449 In diese Form müsse auch die Dichtung gebracht werden, um durch und durch zeitgemäß zu sein: »Steil müßte unsere Sprache sein: steil, schmal, steinern, wie ein Obelisk. Steil wie die Strahlen der Mittagssonne. Hart. Nackt. Und vor allem eindeutig, denn das Telegraphenamt hat keine Zeit, Phrasen zu funken: Strom ist zu teuer.«450 Diese Zeilen lassen keinen Zweifel, dass Goll auch nach dem Expressionismus an vorderster Front der literarischen Avantgarde stehen wollte und bemüht war, mit seiner Dichtung dem Einzug der modernen Kommunikationstechnik ins gesellschaftliche Leben Rechnung zu tragen. Doch nach dem Expressionismus erscheint ihm die Sprache verbraucht und kraftlos, die lyrische allemal: »Unsere Sprache ist abgenutzt wie ein Zehnpfennigstück, von Pathos geschwollen wie ein rheumatischer Lüstling, schwach, schlapp.«451 Goll fordert daher, sich die Ergebnisse der Avantgarde vor Augen zu führen, und das damit verbundene Schlagwort heißt »Zenitismus«:452 Mit dem Luftschiff aufsteigen und vom Zenit aus den zusammenschrumpfenden Globus beäugen. Zenitismus könnte man nennen die Bändigung und Zusammenballung 447 448 449 450 451 452

Ebd., S. 616. Ebd., S. 614. Ebd. Ebd. Ebd. Die Bewegung des Zenitismus wurde am 1. Februar 1921 von dem Dichter Lioubomir Mitzitch (Micicˇ) mit dem Erscheinen der Zeitschrift Zenit ins Leben gerufen, für die Goll sein Gedicht »Paris brennt« und den Text Der Expressionismus stirbt sowie sein Zenitistisches Manifest (1921) verfasste. Das Manifest von Mitzitch »No made in Serbia. Zenitosophie oder Energetik des schöpferischen Zenitismus« wurde in Herwarth Waldens Zeitschrift Der Sturm 15 (1924), H. 4, S. 219–222 und 224–226 abgedruckt. Es umfasst zehn Punkte und wird von dem Gedanken der »Erweckung des Elementaren und der vitalen Arbeitstriebe, die allen Menschen mitgeboren sind«, zusammengehalten (ebd., S. 220).

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aller Ismen, und man müßte das Beste nehmen aus allen, die da hießen: Futurismus, Kubismus, Kreationismus, Ultraismus, Dadaismus […].453

Gesamtschau der Avantgardebewegungen ist für Goll aber nur eine Option; eine andere wäre, sich in der Dichtung anderer Kulturen umzusehen: »Europa ist kaputt und hat den größten Heldenmut, zu sagen: ›Schluß. Unsere Kultur ist Gerümpel. Kommt, Barbaren, Skythen, Neger, Indianer, stampft.‹«454 Bei seiner Suche nach derart Neuem stieß er offenbar auch auf die japanische Lyrik. Die »Lakonik der japanischen Tanka« erschien ihm als der »andere[] Weg« überhaupt, um ein Erlebnis zu komprimieren. »So ein spartanisches Kablogramm der Seele« könne man getrost im Lift lesen, »zwischen Abschied von einer Frau und fiebriger Börsenorder«.455 Als Beispiel zitiert er ein Gedicht von Horiguchi Daigaku: Schmerz, ein Lebender zu sein; Schmerz, Mensch zu sein; Schmerz, ein Japaner zu sein: Das alles ist schuld an meiner Magerkeit.456

Der neue, telegraphierende Mensch lese »nur noch Titel, andeutende Hauptworte«,457 Schlagzeilen sozusagen, und dieser Maßgabe werde das Gedicht von Horiguchi voll und ganz gerecht. Goll formuliert in seinem kurzen Aufsatz die Kriterien einer neuen nachexpressionistischen Poetik, die in der Forschung im Anschluss daran als »›Wort an sich‹-Dichtung« apostrophiert worden ist.458 Sie zeichnet sich durch Einfachheit und Kürze aus, durch gedankliche Prägnanz, einen lakonischen Ausdruck, durch die Konzentration auf einige wenige Hauptwörter sowie durch die knappe Andeutung des Themas. Bestenfalls bringe jeder Satz nur einen selbständigen Gedanken zum Ausdruck, diesen dafür aber deutlich. In der Einleitung zu den »Zwölf Hai-Kais der Liebe« betont Goll dann nochmals, dass eine poetische Form gefunden werden müsse, »die der inneren Denkweise des modernen Menschen« entspreche: »Die Menschen können nicht mehr so essen und denken wie früher. Man bereitet ihnen destillierte Speisen vor. Und der Künstler seinerseits setze ihnen komprimierte Kunstpillen vor.«459 Als Schlüsselbegriff zum Verständnis 453 454 455 456

Goll: Das Wort an sich, S. 614. Ebd. Ebd. Ebd. Wie Andreas Wittbrodt nachgewiesen hat, wurde die Übersetzung dieses Gedichts zuerst im Juni 1921 im Mercure de France veröffentlicht; vgl. Wittbrodt: Hototogisu ist keine Nachtigall, S. 158. 457 Goll: Das Wort an sich, S. 616. 458 Vgl. Wittbrodt: Hototogisu ist keine Nachtigall, S. 157. 459 Yvan Goll: »Hai-Kai«, in: Die Lyrik in vier Bänden. Band 1, S. 332 (zuerst in: Die literarische Welt 2 (1926), Nr. 46, S. 3).

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der modernen Denkweise verwendet Goll den Ausdruck ›Rapidität‹. Es müsse einem jeden die Gelegenheit gegeben werden, »ein Gedicht zu goutieren, in welcher Lage er sich auch befind[e]: in der Stadtbahn oder im Lift.«460 Wenn die alte Lyrik dem Wiener Café entspreche (»behäbiges Plätschern in sentimentalen Wassern«), dann finde der Haikai seinen Ort in der »neuen Bar an der Straßenecke, wo man den Kognak hinunterschluckt: der brennt und lange nachhält und den Organismus peitscht«.461 Es liegt Goll weniger daran, das Haiku in seiner ursprünglichen Form wiederzugeben. Er scheint sich auch nicht tiefgehend mit der japanischen HaikuTradition beschäftigt zu haben, was erklärt, wieso er in seinen einführenden Bemerkungen Tanka und Haiku miteinander verwechselt,462 wenn er das Hai-Kai als »die klassische Gedichtform der Japaner« bezeichnet, »die jahrhundertelang die einzige Art ihrer Lyrik geblieben ist«.463 Auch die daran anschließende Definition des Haikai als »lyrische[s] Epigramm, dessen Zweck ist, in möglichst wenig Worten ein möglichst intensives Bild und weites Gefühl hervorzurufen«464 erinnert eher an die von Jean Paulhan in der Revue Nouvelle Française propagierte Vorstellung vom Haikai. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, wie pragmatisch Goll mit dieser lyrischen Form umging und wie wenig nutzbringend eine philologische Kritik seitens der Japanologie an dieser Stelle wäre. Es ging ihm ausschließlich um die mögliche Funktion seiner Haikai-Adaption unter den Bedingungen der modernen Welt und keineswegs um eine Übernahme oder Fortführung der japanischen Tradition. Die Essenz, die er aus dem Haikai zieht, formuliert Goll knapp und präzis in drei Punkten: »Rapides Bild. Überzeugender Ausdruck. Und langes Nachklingen der berührten Seele.«465 Hinzu kommt dann aber noch ein viertes Element, das in seinen Augen das wichtigste ist: die Überraschung. Diese Charakterisierung deckt sich im Wesentlichen mit der im Aufsatz über das »Wort an sich« skizzierten Poetik. Interessant ist in Hinblick auf die Resonanzästhetik vor allem der dritte Aspekt: das Nachklingen. In seinem Aufsatz über das »Wort an sich«

460 Ebd. 461 Ebd. 462 Das Tanka, die am häufigsten anzutreffende japanische Gedichtform, ist ein Gedicht mit 31 Silben, wobei die sog. Oberstrophe 5–7–5 Silben und die Unterstrophe 7–7 Silben umfasst. Großer Beliebtheit erfreute sich daneben auch das Kettengedicht, genannt Renga, das aus mehreren Tankas besteht, wobei ein Dichter die Oberstrophe verfasste und ein anderer mit seiner Unterstrophe darauf antwortete. Durch die Abkopplung der Oberstrophe entstand dann im 17. Jahrhundert das Haiku. 463 Goll: Hai-Kai, S. 332. Siehe dazu die Richtigstellung durch Wittbrodt: Hototogisu ist keine Nachtigall, S. 161–162. 464 Goll: Hai-Kai, S. 332. 465 Ebd.

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fordert Goll von der Lyrik, dass sie »elektro-radial werden«466 und von ihr so etwas wie eine elektro-magnetische Resonanz ausgehen müsse. Wie er diese Forderung in seinen Haikais realisiert, lässt sich am Eingangsgedicht von »Zwölf Hai-Kai’s der Liebe« zeigen, das folgendermaßen lautet: Wir arbeiten zu Hunderten zusammen. Wir lieben zu zweit. Wir sterben jeder allein.467

Die Strukturierung ist sichtlich einfach. Auffällig sind zunächst einmal der rhythmische Gleichklang und der Parallelismus, der sich nicht nur im Satzbau und dem Personalpronomen bemerkbar macht, sondern auch im unbetonten Auftakt, der die Aufmerksamkeit auf die drei Verben lenkt, welche die wesentlichen Merkmale der menschlichen Existenz darstellen: Arbeit, Liebe, Tod.468 Wenn Wittbrodt zu dem Ergebnis kommt, dass hier »die Form von Golls Haiku der ›Wort an sich‹-Poetik gerecht«469 werde, dann trifft dies mit Sicherheit auf das sprachliche Bild und den überzeugenden Ausdruck (in Gestalt des Parallelismus und der Steigerung) zu, viel weniger aber auf den Überraschungseffekt und am allerwenigsten auf die Resonanz. Das »Nachklingen der berührten Seele« beschränkt sich auf eine den Intellekt ansprechende Anregung, über den Sinn des menschlichen Lebens nachzudenken, doch sind die Vorgaben in diesem Haikai zu strikt, die Gedankenspiele zu offensichtlich, als dass sie wirklich ›nachklingen‹ würden; sie veranlassen den Leser lediglich zu einer Geste der Affirmation bzw. Resignation. Die japanische Literaturwissenschaftlerin Mizue Motoyoshi hält den Umstand für bemerkenswert, dass Goll seine Haikai nicht als Einzelgedichte, sondern in Gruppen bzw. Ketten veröffentlichte, womit sie einen Hinweis auf die ursprüngliche Form des Renga, des Kettengedichts, gegeben sieht,470 als dessen erstes Glied das Haiku bzw. Hokku entstanden war. Diese Form, so ihre Schlussfolgerung, verstärke noch den Fragmentcharakter seiner Haikais, die damit ähnlich wie eine Collage oder Montage wirkten. Allerdings habe Goll nicht die Intersubjektivität der Kettengedichte im Sinne einer pluralen Dichtung berücksichtigt,471 was auch nicht seiner Intention, die Subjektivität in seinen Haikais keineswegs zurücknehmen zu wollen, entsprochen hätte – handelt es sich

466 467 468 469 470 471

Goll: Das Wort an sich, S. 614. Goll: Zwölf Hai-Kai’s der Liebe, in: Die Lyrik in vier Bänden. Band 1, S. 333. Vgl. die ausführliche Analyse von Wittbrodt: Hototogisu ist keine Nachtigall, S. 165–166. Ebd., S. 166. Vgl. Motoyoshi: Das japanische Kurzgedicht in der europäischen Moderne, S. 217. Vgl. ebd., S. 218.

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doch um Haikais, die unmissverständlich an seine Geliebte und spätere Frau Claire gerichtet sind:472 Fünf Kontinente zittern, wenn der Kornpreis steigt: Und nicht, wenn du weinst! 473

Das dritte der »Zwölf Hai-Kai’s der Liebe« ist vor allem wegen des darin enthaltenen geometrischen Bildes erwähnenswert, denn es impliziert die Vertikale, von der bereits in Golls poetologischem Aufsatz die Rede gewesen war: Treffpunkt Orion: Du von Paris, ich von Berlin. Jeden Abend steigen wir hinauf.474

Der Blick der von einander getrennten Liebenden auf einen bestimmten Stern ist seit der Antike ein ebenso beliebter wie konventioneller Topos, um die alle Distanzen überwindende Liebe in Wort und Bild zu fassen, hat aber wenig Überraschendes an sich, und, einmal abgesehen davon, dass ab und zu so traditionelle Topoi wie die Sterne oder der Mond angesprochen werden, strahlen Golls Haikais auch sonst nicht gerade »elektro-radial«. Sie verharren vielmehr bei Bild und Ausdruck. Vor allem der Aspekt der Andeutung, den Goll in seinem Aufsatz über das »Wort an sich« so sehr betont hatte, erweist sich als besonders problematisch. »Wort-an-sich-Dichtung«, hieß es dort, sei »nicht Ausdruck, sondern Andeutung«.475 Der Gedanke, dass das Haikai schon seiner Kürze wegen die Form einer Andeutung besäße, findet sich bereits bei Karl Florenz, der darauf verweist, dass diese Eigenschaft den Dichter gewissermaßen dazu zwinge, die Dinge lediglich anzudeuten: »Das Hokku«, schreibt Florenz, »läßt infolge der extremen Kürze ein Ausmalen des Gegenstandes noch viel weniger zu als das Tanka: es ist ganz Skizze, ganz Suggestion. Der Dichter greift aus seiner Vorstellung einen einzigen Zug heraus, stellt ihn brüsk hin und überläßt alles andere dem Spiel der Phantasie.«476 Als dergleichen Andeutungen wollte Goll sicher auch seine Haikais verstanden wissen, die allerdings eher der Tradition der Sinngedichte des 18. Jahrhunderts verhaftet sind477 und eine Form der Gedankenlyrik verkörpern, 472 Auf den Zusammenhang mit der ›Claire-Lyrik‹ weist u. a. Wittbrodt hin: Hototogisu ist keine Nachtigall, S. 168. 473 Goll: Zwölf Hai-Kai’s der Liebe, S. 334. 474 Ebd., S. 333. 475 Goll: Das Wort an sich, S. 615. 476 Florenz: Die japanische Litteratur, S. 374. 477 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Bemerkung Otto Hausers in seinem Buch Die japanische Dichtung (Berlin: Brandus 1921; EA 1904), wo er Basho¯ als den »japanische[n] Logau« (S. 39) bezeichnet. Der Barockdichter Friedrich von Logau (1605–1655) war

Indikative Resonanz. Kommerells Poesie mit gleichsam chinesischem Pinsel

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insofern sie einen Gedanken poetisch verbildlichen und diesen mit dem modernen Lakonismus des frühen 20. Jahrhunderts verbinden, wie es z. B. am folgenden Haikai deutlich wird: Mondasche und Sternensand im Mund Wachen die Schläfer auf: Aurorenrosa ist die beste Zahnpasta478

In den Haikais Golls, die keine Liebesgedichte sind, ist der Effekt der Überraschung spürbarer, doch auch hier verhallt der poetische Nachklang recht schnell. Die Haikais vermögen zwar ein Erlebnisgefühl intensiv auszudrücken und mitunter ein überraschendes Bild zu kreieren;479 ihnen fehlt aber die Räumlichkeit eines Resonanzkörpers, der ein Mitschwingen ermöglichen und ein affektives Nachklingen garantieren würde. Aber selbst, wenn der Aspekt der ästhetischen Resonanz bei Golls Haikais problematisch bleibt, kann doch mit der Einführung des japanischen Kurzgedichts durchaus eine Funktions- und Formenerweiterung der deutschen Dichtung verzeichnet werden, die bis heute fortwirkt.480

10.

Indikative Resonanz. Kommerells Poesie mit gleichsam chinesischem Pinsel »Welche Sachen schreiben und malen wir denn ab, wir Mandarinen mit chinesischem Pinsel, wir Verewiger der Dinge, welche sich schreiben lassen, was vermögen wir denn allein abzumalen?« (Friedrich Nietzsche) 481

478 479

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wegen seiner Epigramme und Sinnsprüche bekannt, in denen er Heuchelei, Habsucht sowie andere Alltagssünden seiner Mitmenschen geißelte und die verheerenden Folgen des Dreißigjährigen Krieges beklagte. Goll: »Hai-Kais«, in: Die Lyrik in vier Bänden. Band 1, S. 338. Diese Gedichte wurden erstmalig in der Werkausgabe 1996 veröffentlicht; vgl. Anm. ebd., S. 394. Insbes. mit den »Modernen Hai-Kais«, die 1927 in der Zeitschrift Die literarische Welt erschienen, verfolgt Goll das Ziel, die subjektive Erlebniswelt des modernen Individuums poetisch-bildlich einzufangen. Im gleichen Jahr erklärt er in derselben Zeitschrift: »In den japanischen Hai-Kais liegt Gehalt von reinem Gold, ist Erlebnisgefühl bis zu letzter Intensität gestanzt.« (Yvan Goll: »Liederkämpfe in Madagaskar«, in: Die literarische Welt 3 (1927) Nr. 4, S. 5.) Vgl. z. B. Friedrich Christian Delius: Japanische Rolltreppen. Tanka-Gedichte, Reinbek: Rowohlt 1989; Günter Bruno Fuchs: »Berliner Haikus«, in: Das Lesebuch des Günter Bruno Fuchs, München: Hanser 1970, S. 164–165; Thomas Kling: Gesammelte Gedichte 1981–2005, hg. von Marcel Beyer und Christian Döring, Köln: Dumont 2006, S. 268–308; Durs Grünbein: Lob des Taifuns. Reisetagebücher in Haikus, Frankfurt a. M./Leipzig: Insel 2008. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, § 296, KSA 5, S. 239.

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Der Reflex ostasiatischer Ästhetik in der deutschen Literatur

Offenheit für das Andere482 Es mag überraschen, gerade bei Max Kommerell, der anfangs dem George-Kreis angehörte und später einer der bedeutendsten Germanisten seiner Zeit werden sollte (bis zu seinem frühen Tod im Jahre 1944 war er Ordinarius für deutsche Philologie an der Universität Marburg), Gedichte zu finden, die der chinesischen Ästhetik verpflichtet sind. Obgleich Kommerell schon vor geraumer Zeit als Literaturhistoriker und Essayist wieder entdeckt wurde,483 ist er als Romancier und Dichter immer noch ein nahezu Unbekannter geblieben,484 und es wurde kaum zur Kenntnis genommen, dass er neben dem Roman Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern. Eine Erzählung von gestern (1940) 485 und den 482 Teile dieser Ausführungen basieren auf meinem Aufsatz »›Kein Umriß – nur ein weißer Schatte‹. Fernöstliche Ästhetik in Max Kommerells Gedichten Mit gleichsam chinesischen Pinsel«, in: DVjs 88/1 (2014), S. 95–111. 483 Agamben bezeichnete ihn 1991 als eine der letzten großen Persönlichkeiten der Zwischenkriegszeit, die es noch zu entdecken gelte; vgl. Giorgio Agamben: »Kommerell, oder von der Geste«, in: ders.: Die Macht des Denkens. Gesammelte Essays, Frankfurt a. M.: Fischer 2013, S. 271–286, hier S. 274. Seitdem hat die Forschung begonnen, dieses Desiderat aufzuarbeiten. Für das gegenwärtige Interesse an Kommerell als Literaturwissenschaftler sprechen vor allem die beiden Monographien von Matthias Weichelt: Gewaltsame Horizontbildungen. Max Kommerells lyriktheoretischer Ansatz und die Krisen der Moderne, Heidelberg: Winter 2006 und Christian Weber: Max Kommerell. Eine intellektuelle Biographie, Berlin: de Gruyter 2011. Erwähnenswert ist außerdem der von Walter Busch und Gerhart Pickerodt herausgegebene Sammelband Max Kommerell. Leben, Werk, Aktualität, Göttingen: Wallstein 2003 sowie das von Blanche Kommerell veröffentlichte Buch Max Kommerell – Spurensuche. Mit einem Beitrag von Gert Mattenklott, Gießen: Literarischer Salon 1993. 484 Neben Heißenbüttels Einführungstext »Zur Lyrik Max Kommerells« sind folgende seine Dichtung betreffende Aufsätze zu nennen: Dorothea Hölscher: Augenblick der Verwandlung, in: Frankfurter Anthologie, Bd. 7, hg. von Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt a. M.: Insel 1983, S. 204–206 und Dieter Hoffmann: Max Kommerell. Spiegelung der Sonne zwischen Seerosenblättern, in: ders.: Arbeitsbuch Deutschsprachiger Lyrik 1916–1945, Tübingen/ Basel: Francke 2001, S. 360–362. Mattenklott kommt in seinem Porträt Kommerells auch kurz auf das Gedicht »Der Gelehrte« zu sprechen: Gert Mattenklott: »Max Kommerell – Versuch eines Porträts«, in: Merkur 40 (1986), H. 7, S. 451–554 (auch in: Joachim W. Storck/ Gert Mattenklott: Über Max Kommerell. Zwei Vorträge, Marburg: Universitätsbibliothek 1986, S. 11–27). Der Aufsatz »Mit gleichsam chinesischem Pinsel« von Ralf Klausnitzer (in: Spielräume des einzelnen. Deutsche Literatur in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, hg. von Walter Delabar, Horst Denkler und Erhard Schütz, Berlin: Weidler 1999, S. 71– 104) behandelt nicht den gleichnamigen Gedichtband, sondern gibt eine wissenschaftliche Biographie Kommerells und fasst die Inhalte der wichtigsten Studien zusammen. Klausnitzer weist dabei auf die »Verschränkung von metaphorisch-poetischer Entdeckung und argumentativer Erklärung« (ebd., S. 93) in Kommerells wissenschaftlichem Werk hin. 485 Zwar trägt der 1940 im S. Fischer Verlag erschienene Roman im Untertitel die Bezeichnung »Erzählung«, aber es handelt sich, gattungsgemäß gesehen, um einen Roman (vgl. Weber: Max Kommerell, S. 184). Siehe dazu Dorothea Hölscher: Der Roman vom Ich. Max Kommerells ›Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern‹, in: Merkur 35 (1981), H. 3, S. 325– 329; Dorothea Hölscher-Lohmeyer: Das moderne Ich. Eine Analyse des Romans von Max

Indikative Resonanz. Kommerells Poesie mit gleichsam chinesischem Pinsel

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Kasperlespiele[n] für große Leute (posthum 1948) eine Reihe kleinerer Gedichtbände publiziert hatte, darunter auch Mit gleichsam chinesischem Pinsel (1944). In seinem einführenden Essay zur Edition der Gedichte, Gespräche, Übertragungen Kommerells geht Helmut Heißenbüttel u. a. darauf ein, wie er selbst 1944 noch als Student dessen Gedichtband Mit gleichsam chinesischem Pinsel abgeschrieben habe.486 Dass dieses Buch erst nach Kommerells Tod erscheinen konnte, lag daran, dass Peter Suhrkamp, der ihm bereits 1938 den Vorschlag unterbreitet hatte, seine Dichtungen im S. Fischer Verlag zu publizieren, letztendlich dann aber doch von einer Veröffentlichung absah. Die erste Auflage, die schließlich im Jahre 1944 bei Vittorio Klostermann erschien, verbrannte bis auf wenige Vorausexemplare fast vollständig. Dem jungen Heißenbüttel ist es zu verdanken, dass der Gedichtband kurz nach Kriegsende dank seiner Abschrift nochmals veröffentlicht werden konnte, und zwar 1946 im gleichen Verlag. Heißenbüttel ist einer der wenigen, die sich eingehender mit Kommerells Lyrik auseinandergesetzt haben. Mit Blick auf das Gedicht »Lebenslauf« stellt er die Frage, auf welche Art von Lebenslauf mit dem Bild des vom Frühjahrsschnee abgelösten Pflaumenblütenblattes hier eigentlich angespielt werde. Das Gedicht lautet: Weiß wie sie Ist der Pflaumenblüte Das Tödliche. Ihr zartes Haften Am schwarzen Zweig wird dünn, Wenn Flocke kommt um Flocke Aus einem Himmel, den sie nicht mehr kennt; Selbst Flocke, gleitet die Gelöste Durch die schon heitre Luft Und ruht, Weiß auf Weißem. […] 487

Sind diese Zeilen eine metaphorische Umschreibung für den Verlauf und vor allem das Ende des menschlichen Lebens? »Weiß der Blüte, Weiß des Schnees, Schwarz des Zweiges, Zerschmelzen des Verderblichen am vollen Strahl? Eine Weiß-in-Weiß-Metaphorik? Das Positive im Weiß nicht unterscheidbar vom Negativen im Weiß?« Das Wort »Schnee« selbst, so fährt Heißenbüttel fort,

Kommerell ›Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern‹, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 24 (1980), S. 399–418. 486 Helmut Heißenbüttel: »Zur Lyrik Max Kommerells. Ein Versuch in Hermeneutik«, in: Max Kommerell: Gedichte, Gespräche, Übertragungen, Olten/Freiburg i. Br.: Walter 1973, S. 9–10. 487 Max Kommerell: »Lebenslauf«, in: Gedichte, Gespräche, Übertragungen, S. 245.

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komme nicht vor, sondern werde ersetzt durch das Wort »Flocke«: »Dieses aber wird ebenso auf das Blütenblatt bezogen: Flocke um Flocke, selbst Flocke.«488 Mit Überlegungen wie diesen eröffnet uns Heißenbüttel den Problemkreis der weißen Leere und einer Reihe von Transformationen, die sich im Weißen abspielen: Auflösung, Übergang, Verwandlung. Vor allem das undeutliche »Dazwischen« habe ihn damals fasziniert.489 Die »Schlüsselzeile« sei für ihn jene gewesen, in der es heißt, dass der Blüte das Verderbliche »aus einem Himmel [komme], den sie nicht mehr kenn[e]«.490 Der chinesische Himmel zwischen Metapher und Nicht-Metapher: Gerade mit Hilfe des Umwegs, den er über China nimmt, erreicht Kommerell in seinen Gedichten eine Loslösung der Wörter von den Fundamenten des abendländischen Denkens und Interpretierens, die, wie seine Reflexionen zeigen, ihre Wirkung auf den jungen Heißenbüttel nicht verfehlte: Solange Himmel Metapher war, konnte man von ihm nicht sprechen als von etwas, das man nicht mehr kennt. Was man nicht mehr kennt, ist aus seiner Bedeutung, seiner Bedeutsamkeit herausgefallen. Wer sagt: Gott ist tot, hat im Toten noch den vollen metaphorischen Bedeutungskreis, wenn auch als Negativ, bewahrt. Der Himmel, den ich nicht mehr kenne, ist als Metapher nur noch eine Erinnerung an eine Metapher, ist, in dieser Erinnerung bereits bloße Vokabel, nicht sinnleer, aber renominalisiert, aus seinen vielfältigen Bedeutungsbezügen zurückversetzt in ein Wörterbuch, in dem alle Wörter gleich in ihrem sachbezogenen Bennennungswert sind.491

Ein wichtiges Merkmal von Kommerells Dichtung sieht Heißenbüttel in der Offenheit für das Andere, für dasjenige, was in der bedrohlichen Zeit, in der man sich als Intellektueller Anfang der 1940er Jahre in Deutschland befand, neue Sichtweisen und Denkansätze zu eröffnen vermochte: Was beunruhigte, was die tödliche Unausweichbarkeit des Verhängnisses ins Bewußtsein brachte, in den Rand des Bewußtseins zumindest, das war etwas, das sprachlich vermittelt wurde; nichts Widerständlerisches auch, nichts Gewaltsames, nichts Revolutionäres, sondern Rede, die sozusagen von selbst anders war; die die andere Möglichkeit selbstverständlich aufschlug, wie ein Buch, an das man gar nicht mehr gedacht hatte.492

Heißenbüttel schildert seine Begegnung mit der Dichtung Kommerells in einer Zeit, in der das Mittel der Andeutung für einen Intellektuellen lebensnotwendig war: »Der Spielraum, der noch vorhanden war, wurde wahrgenommen. Der Wechsel zwischen Bombenangriffen und Serenadenabenden vorm Gohliser 488 489 490 491 492

Heißenbüttel: Zur Lyrik Max Kommerells, S. 11–12. Ebd., S. 12. Ebd., Bezug nehmend auf die Verszeile aus dem Gedicht »Lebenslauf« auf Seite 245. Ebd. Ebd., S. 13.

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Schlößchen ohne Frage hingenommen. Der stärker spürbar werdende Druck von Partei und SS mit nur geheimem Widerspruch ertragen.«493 Neben der Andeutung benutzt Kommerell noch ein anderes Mittel, um seiner Dichtung etwas ganz Individuelles zu verleihen. Bei Heißenbüttel heißt es dazu: »Im Kontrast kam das zur Wirkung, was ganz und gar aus der Besinnung auf das Eigene, die subjektive Erfahrung, die individuelle Formulierung dieser Erfahrung stammte. Was an Kommerells späten Gedichten so selbstverständlich anders wirkte, war das unbeirrt Eigene, das sich darin aussprach.«494 Dabei geht es nicht nur um die Unterscheidung zur Lyrik anderer Dichter seiner Zeit, sondern auch um den Kontrast als Darstellungsmittel wie in dem zitierten Gedicht »Lebenslauf«, wenn »Weiß auf Weißem« schließlich wahrnehmbar wird. Das Gedicht endet mit dem Bild der durch den Schnee abgelösten Pflaumenblüte: Aber unter ihr Am vollen Strahl Schmolz das Verderbliche, Und eine Weile scheint sie Der Blumen eine Auf grünem Grund.495

China bot Kommerell eine dieser »anderen Möglichkeiten«, von denen bei Heißenbüttel die Rede ist. Im Gegensatz zur Deutung Christian Webers, wonach Kommerells letzte Gedichte »nur im Sinne einer leichten, gleitenden Niederschrift als chinesisch anzusehen« seien, in Inhalt und Form aber »keine chinesischen Elemente« aufnehmen würden,496 gehen die folgenden Überlegungen davon aus, dass sie ganz im Gegenteil eine nicht geringe Zahl chinesischer Motive beinhalten und darüber hinaus wesentliche Aspekte der chinesischen Ästhetik des Blassen/Faden vermitteln. Sie sind eng mit den ästhetischen Vorstellungen und dem Denken Chinas verflochten, was auf eine mehrjährige Beschäftigung Kommerells mit diesem Land sowie seiner Kultur und Ästhetik zurückgeht.497 493 494 495 496 497

Ebd. Ebd. Kommerell: Mit gleichsam chinesischem Pinsel, S. 245. Weber: Max Kommerell, S. 330. Weber macht darauf aufmerksam, dass Kommerells China-Rezeption mehrfach dokumentarisch belegt ist, u. a. durch ein undatiertes Buch mit dem Titel »Ostasien« aus seinem Besitz (vgl. DLA Marbach, Kommerell, Max: Ostasien, Nachlaß Kommerell, D: 86.479; vgl. Weber: Max Kommerell, S. 328). Außerdem hat Kommerell Anfang 1933 Richard Wilhelms Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 20: Die chinesische Literatur gelesen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Kommerell sich seit 1935, wie aus dem Briefwechsel mit Heinrich Zimmer hervorgeht (DLA Marbach Nachlaß Zimmer, A: 74.118/ 1f.), eingehender mit der chinesischen Literatur beschäftigte. In einem Brief an Karl Reinhardt vom 23. September 1943 heißt es schließlich: »2 Länder möchte ich sehen und sie von innen und von außen, so weit möglich, mir zueignen: Spanien und China.« (Weber: Max

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Der Reflex ostasiatischer Ästhetik in der deutschen Literatur

Das Durchscheinende und das Umschließende Das erste Gedicht der Sammlung Mit gleichsam chinesischem Pinsel trägt den Titel »Eine Zeichnung« und assoziiert den Pinselstrich und die Geste, mit der man in China mit denselben Utensilien und auf ähnliche Weise Schriftzeichen und Tuschezeichnungen aufs Papier bringt: Er wollte deine Reinheit malen Und ließ in geisterhaft und leis Gehauchten Nebeln einen schmalen, Dem Zweige leichten Vogel weiß – Kein Umriß – nur ein weißer Schatte. Ein Umriß wäre viel zu hart. So wurdest du auf seinem Blatte, Du Ungreifbare! Gegenwart.498

Das in dem Gedicht angesprochene Thema betrifft die scheinbar unmögliche Aufgabe, die Idee der Reinheit, die sich in der Farbe Weiß ausdrückt, losgelöst von etwaigen Umrissen oder Schatten unverfälscht wiederzugeben, wobei sich die Frage stellt, ob jemand wirklich in der Lage sein könnte, die Reinheit selbst zu malen, denn gleichermaßen könnte man sich auch zur Aufgabe setzen, den Wind oder den Duft bildlich darzustellen.499 Kommerell, S. 329.) Darüber hinaus wird in seinen Gedanken über Gedichte an einigen Stellen deutlich, dass sich Kommerell in der Zwischenzeit doch einige nicht nur oberflächliche Kenntnisse der chinesischen Tradition ästhetischen Denkens erworben hatte. Auf die Frage, was an Goethes Chinesisch-Deutschen Jahres- und Tageszeiten überhaupt chinesisch sei, antwortet er: »das Schreiben selbst als eine Kunst, und zwar als eine sehr geistige« (Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 112), und später, als es um die Beschreibung der Wolken bei Goethe geht, heißt es dann: »[A]ber man muß bis zur chinesischen Tuschmalerei zurückgehen, um einer gleichen Bezauberung des Auges durch Wolkenphänomene zu begegnen. Dort ist ganz eigentlich der Nebel der Schöpfer des Raums in der Kunst.« (ebd., S. 206). In diesen Kontext fügt sich auch der 1938 veröffentlichte Essay »Dame Dichterin« ein, der, nun bezogen auf Japan, eine ausführliche und einfühlsame Einführung in Murasaki Shikibus Genji monogatari bietet und in dem bereits einzelne Motive wie der Vogel auf dem Pflaumenblütenzweig aufscheinen (vgl. Max Kommerell, »Dame Dichterin«, in: ders.: Dichterische Welterfahrung. Essays, Frankfurt a. M.: Klostermann 1952, S. 83–108, hier: S. 92). 498 Kommerell: Mit gleichsam chinesischem Pinsel, S. 243. 499 Man denke in diesem Zusammenhang auch an die Überlegungen in Thomas Manns Zauberberg über den Versuch, die Zeit zum Gegenstand einer Erzählung zu machen: »Kann man die Zeit erzählen, diese selbst, als solche, an und für sich? Wahrhaftig, nein, das wäre ein närrisches Unterfangen! Eine Erzählung, die ginge: ›Die Zeit verfloß, sie verrann, es strömte die Zeit‹ und so immer fort – das könnte gesunden Sinnes wohl niemand eine Erzählung nennen. Es wäre, als wollte man hirnverbrannterweise eine Stunde lang ein und denselben Ton oder Akkord aushalten und das – für Musik ausgeben.« (Thomas Mann: Der Zauberberg, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1974, S. 748.) Nach einigen weiteren Überlegungen räumt der

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In der abendländischen Malerei hat es immer wieder den Versuch gegeben, durch Nuancen und Abtönungen oder durch Weißhöhung auf getöntem Untergrund ein immer reineres Weiß zu erzielen und so durch eine fortwährende Steigerung die gleichsam absolute Reinheit zu erreichen. Wenn aber ein chinesischer Maler es darauf anlegen würde, diese Art von Reinheit sichtbar zu machen, dann würde er mit Sicherheit nicht ein abgestuftes Weiß auf ein bereits vorhandenes setzen, sondern vielmehr einen sogenannten ›trocknen‹ Pinsel verwenden und so wenig Tusche wie möglich benutzen. Auch in der chinesischen Kunst finden sich verschiedene, zum Teil höchst ausgeklügelte Techniken, mit deren Hilfe man versucht hat, die Idee der Reinheit bzw. Leere darzustellen. Daneben aber gibt es eine unverkennbare Tendenz der Negation, d. h. zu zeigen, dass Reinheit oder Leere im Grunde undarstellbar sind. Worauf es ihr – so der ausschlaggebende Gedanke –ankommt und womit sie die Basis aller überkommenen Konventionen hinter sich lässt, ist nicht mehr der an die Materie gebundene Akt des Malens selbst, sondern allein die Nachahmung dieser Geste, d. h., so zu tun, als ob man male, ohne dabei aber wirklich etwas aufs Papier zu bringen, womit sich das Darzustellende in der Geste auflösen und verflüchtigen würde. Ein Maler würde, diesem Prinzip folgend, also nicht mehr Dinge, Landschaften oder Personen abbilden, sondern in seinem gesamten Bemühen einzig und allein nur noch den Gestus des Malens verkörpern. Der Verkörperung eines idealen Künstlers ist Kommerell dann in Richard Wilhelms Geschichte der chinesischen Literatur begegnet, die er, wie aus einem Brief an Heinrich Zimmer hervorgeht, mit Sicherheit gekannt hat.500 Gemeint ist damit der Dichter Tao Yuanming (365–427), von dem es heißt, dass er sich zwar nicht auf Musik verstanden habe, aber doch, wenn ihm der Sinn danach stand, eine saitenlose Zither hervorholte und so tat, als ob er auf ihr spiele, indem er lediglich die Handbewegungen des Musikers nachahmte, ohne dabei irgendeinen Ton zum Erklingen zu bringen.501 Bezogen auf die Malerei würde das bedeuten, auktoriale Erzähler dann aber doch ein, dass man immerhin von der Zeit erzählen könne und dass er mit seiner Geschichte wirklich dergleichen vorhabe. Dass es sehr wohl möglich ist, einen Ton lange auszuhalten und das für Musik auszugeben, wissen wir spätestens seit der minimalistischen Musik von John Cage und aus der Ethnologie (schon lange vor Cage). 500 DLA Marbach, Brief Kommerells an Heinrich Zimmer vom 22. Januar 1933; vgl. Weber: Max Kommerell, S. 328. Es handelt sich dabei um das Handbuch der Literaturwissenschaft, hrsg. Oskar Walzel, Bd. 20: Richard Wilhelm: Die chinesische Literatur, Wildpark/Potsdam: Athenaion 1929. Über Tao Yuanming heißt es dort: »Er hatte zwar eine Zither, aber ohne Saiten, und es war nur eine symbolische Handlung, wenn er seine saitenlose Zither streichelte.« (129) Im selben Buch sind unter anderem auch zwei Abbildungen zu finden, die hinsichtlich ihres Stils und ihrer Machart Kommerell zu seinem Gedicht »Eine Zeichnung« inspiriert haben könnten, und zwar »Vogel auf einem Zweig, Sungzeit, Sammlung Eumorfopoulos« und »Vogel auf Blütenzweig« (S. 159 und 165). 501 François Jullien sieht in dieser Virtualisierung der Töne keineswegs den Zweck einer Täuschung: »[D]ie zwar nur angedeutete, aber doch reale Geste, mit der Hand über den Korpus

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dass allein die reine Geste des Pinselstrichs bereits das Problem der Darstellbarkeit des Undarstellbaren in sich fasst und damit auf ein Undarstellbares verweist, das dann seinerseits mit eben jenen anderen Mitteln dennoch zum Ausdruck gebracht werden kann. Im vorletzten Gedicht der Sammlung (»Der Heilige während eines Erdbebens«) wird dieses Thema von Kommerell wieder aufgenommen, jedoch in leicht modifizierter Form, da es jetzt zugleich um einen Maler und Kalligraphen geht: Aber er Wird sich selber zum Zeichen Und lernt Das neue, leisere Sein. Alles wie vorher: Nur blasser – Stufenweis durch einen weichen Duft entfernt, Fast gering, Aber im reinen Beziehn Unverwesbar; Viel Raum! Ding um Ding, Wie vom Pinsel, der kaum Aber sicher im Fliehn die Seide trifft, Hingezaubert, wird Schrift: Zart, lesbar.502

Obgleich hauchdünn und zart aufs Papier bzw. auf die Seide gebracht, sind diese Zeichen keineswegs unbestimmt oder vage, sondern vielmehr gut lesbar. Zwar ›flieht‹ der Pinsel über das Seidenpapier (hier im Sinne von ›fliegen‹), doch werden dadurch weder das Können noch die Präzision des Schreibers in Frage gestellt. Bei der angesprochenen ›Flüchtigkeit‹ ist daher wohl eher an eine mit größter Sensibilität ausgeführte Bewegung zu denken, die erst den wahren Könner auszeichnet. Dieses scheinbar schwerelose Hinweggleiten des Pinsels über das Papier setzt eine Loslösung sowohl vom Gegenstand als auch von der Schreibunterlage voraus und schafft damit jene Distanz, die ein Maler oder Kalligraph in der Regel erst nach jahrelanger Übung erlangen kann. In dem Moment, in dem der Heilige in Kommerells Gedicht seine Schriftzeichen mit gleichsam ›fliehendem Pinsel‹ aufzeichnet, erscheinen diese noch blasser und »zart[er]« als gewohnt. Die stark verdünnte Tusche assoziiert die Vergänglichkeit der Zither zu streichen, […] trägt […] die ganze Musikalität der Musik in sich und spielt auf das gesamte harmonische Vermögen aller Klänge an« ( Jullien: Über das Fade, S. 84). 502 Kommerell: Mit gleichsam chinesischem Pinsel, S. 261.

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und den Tod503 und, mit Bezug auf das im Gedicht geschilderte Erdbeben, die durchlebte Todgefahr sowie das »neue, leisere Sein« nach dem Überstehen der Bedrohung. Mit dem Bild des ›fliehenden Pinsels‹ spielt das Gedicht aber auch auf eine ganz spezielle Technik an, die in der chinesischen Malerei genauso wie in der Kalligraphie benutzt wird und die man, wörtlich übersetzt, als das ›fliegende Weiß‹ (feibai) bezeichnen könnte (Abb. 25). Sie besteht darin, den nur mit größter Vorsicht so gut wie gar nicht mit Tusche befeuchteten Pinsel, etwas angehoben, schnell über das Papier gleiten zu lassen, so dass die Pinselspitze sich ein wenig spreizt und nur einige Haare ihre Striche über das Papier ziehen, so dass zwischen den Haarstrichen deutlich wahrnehmbar noch das Weiß bzw. die ursprüngliche Farbe des Papiers hindurchscheint.504 Geschätzt wird diese Maltechnik vor allem deshalb, weil hier der Strich spontan und wie zufällig entsteht und die Energie, der Atem (qi), durch die weißen Auslassungsstreifen hindurch weiterströmen kann. Das Weiß scheint dabei durch die Textur hervorzubrechen, oder wird, wie es im Gedicht »Eine Zeichnung« heißt, wie von selbst »Gegenwart«.505 In der fernöstlichen Kalligraphie wird gerade dieser Art von dynamischer Schriftführung eine geistige Resonanz zugesprochen.506

Abb. 25: Pinselstrichansätze mit abnehmender Menge von Tusche und zunehmender Menge von Wasser; rechts der Effekt des »fliegenden Weiß«.

503 In Japan gibt es noch heute die Tradition, für Trauerschreiben eine Kalligraphie mit stark verdünnter Tusche zu benutzen, die tamboku (淡墨) heißt. Die Tusche ist hier symbolisch mit den Tränen vermengt, welche die Trauer ausdrücken. Tamboku bedeutet wörtlich soviel wie ›mit dünner Tusche schreiben‹ – boku ist die Tusche und tam die lautliche Anpassung von tan an den folgenden Verschlusslaut. Wie oben bereits erwähnt, handelt es sich bei tan um den sinojapanischen Ausdruck für das Blasse/Fade (im Chinesischen dan). Vgl. dazu den Eintrag im Nihon kokugo daijiten (2. Aufl., Tokyo: Sho¯gakukan 2001), Bd. 8, S. 1264, wo zwei Bedeutungen genannt werden: 1. eine Tinte mit dünner Farbe und 2. mit dünner Tinte gemalte Schriftzeichen oder Bilder, wobei auf zwei japanische Quellen verwiesen wird: das Keikokushû, eine Sammlung von Gedichten und Sinnsprüchen, und Texte im chinesischen Stil (chukosen kanshi-bunshû), fertiggestellt im Jahr 827. 504 Vgl. die Ausführungen zur »Malerei der Fadheit« in dieser Untersuchung. Die Technik des feibai wurde mit Vorliebe von der Kaiserin Wu Zetian (625–705) verwendet, die dazu besondere flache Pinsel benutzte. 505 Kommerell: Mit gleichsam chinesischem Pinsel, S. 243. 506 Vgl. dazu Pohl: Ästhetik und Literaturtheorie in China, S. 139.

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In dem Gedicht »Der Heilige während eines Erdbebens« wird aber nicht nur auf das durchscheinende Weiß verwiesen, sondern auch auf den die Farbe der Reinheit umschließenden Raum: Viel Raum! Ding um Ding, Wie vom Pinsel […] 507

Die Worte »Wie vom Pinsel« unterstreichen vor allem die Tatsache, dass es der Pinsel ist, der den Raum um die Dinge herum schafft. Das Ausrufungszeichen lässt sich entweder als Erstaunen über die Präsenz des Raums interpretieren (»Welch ein Raum!«) oder als ein Ausdruck des Erstaunens über dessen Größe (»So viel Raum!«) bzw. sogar beides, denn gemeint ist hier einerseits der Raum, der um die Dinge herum als Leere entsteht, und andererseits die Dimension dieser Leere. Diese Deutung entspricht einem alten Grundsatz der chinesischen Malerei, dem zufolge in Gemälden aus der Song-Zeit (960–1279) und der danach folgenden Epoche der Yuan (1280–1368) immer wieder der nicht bemalte Raum fast zwei Drittel der gesamten Fläche einnimmt. Die Leere hat dabei weder etwas Vages oder Undeutliches an sich, noch ist sie eine passive Präsenz, sondern sie ist vielmehr durchzogen von ›Lebensenergie‹, welche nach Ansicht der Gelehrten die sichtbare Welt mit der unsichtbaren verbindet. Selbst im Sichtbaren zirkuliert die Leere: Als Wolke nimmt sie in der Distanz zwischen Berg und Wasser eine flüchtige, fragile Gestalt an, indem sie die Form des Berges nachbildet: Die Wolke wird mit satten, weichen Vertiefungen, und mit Bereichen, Die sanft erglühen im Erbleichen, Ein Land, das durch die Lüfte streicht, Nicht für die Menschen, doch vielleicht Für müde Vögel zu erreichen.508

Ihre Leichtigkeit und Beweglichkeit sowie die Beschaffenheit, willkürlich ihre Form verändern zu können, verleihen ihr Eigenschaften des Geistigen, und Kommerell erkennt – wie die bereits zitierte Passage aus den Gedanken über Gedichte nahelegt, dass nämlich in der chinesischen Kunst der Nebel der eigentliche Schöpfer des Raums sei – in der Wolke ganz offensichtlich jenes Geistige, das, unabhängig von den Naturprozessen, die er in seinen Gedichten darstellt, für ihn ein ästhetisches Grundprinzip bleibt. Doch auch der Berg erhält in diesem Kontext, sobald er mit der Wolke in Wechselbeziehung tritt, die Möglichkeit, seine Gestalt zu wandeln. Gerade das hier besprochene Gedicht »Berg und Wolke« bringt augenfällig zum Ausdruck, wie sehr die beiden sich 507 Kommerell: Mit gleichsam chinesischem Pinsel, S. 261. 508 Ebd., S. 247 (»Berg und Wolke«).

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einander angleichen, um schließlich ihre Gestalt nicht nur miteinander zu vertauschen, sondern sogar ineinander übergehen zu lassen: Der Berg, vom Abend angetönt, Scheint seine Strahlung durchzulassen – Der veilchenfarbene gewöhnt Die fast unkörperlichen Massen Allmählich um nach jenem blassen Umriß der Wolke, die ihn krönt: In seiner Festigkeit gelassen, Doch mit der leisen Luft versöhnt.509

Die so verstandene ›Aussöhnung‹ von Berg und Wolke kann als Übersetzung des chinesischen Harmonie-Gedankens im Sinne eines bipolaren Einklangs oder Ausgleichs gelesen werden, der sich direkt mit dem Titel des Gedichts »Berg und Wolke« in Verbindung bringen lässt, wobei die Wolke für das Wasser steht. Der Ausdruck ›Berg-Wasser‹ bedeutet im Chinesischen ›Landschaft‹ ( jing) und bildet den Gegenstand der Landschaftsmalerei, wörtlich ›Berg-Wasser-Malerei‹ (shan shui hua).510 Berge und Gewässer sind dabei nicht als Gegensatz zu verstehen, sondern als Pole, zwischen denen in einem Prozess wechselseitigen Ineinandergreifens die Landschaft erst an Gestalt gewinnt. Der Schauplatz, an dem sich die Verwandlung der Dinge vollzieht, ist die Leere: Ihr kommt nicht nur als wesentlichem Moment der Pinseltechnik und als philosophischem Gedanken in der chinesischen Malerei eine wichtige Funktion zu, sondern sie ist auch ein grundlegender Aspekt der Raumvorstellung, sofern die Zwischenräume zwischen den dargestellten Objekten weiß bleiben, und zwar gleichermaßen um die Dinge herum als auch durch das sogenannte ›fliegende Weiß‹ inmitten der Dinge, wenn deren Textur von der Leere durchsetzt wird. Indem sie Diskontinuität und Umkehrbarkeit in ein vorgegebenes Verhältnis oder eine Polarität einführt, gestattet sie den einzelnen Elementen, binäre Oppositionen und einseitige Entwicklungen zu überwinden.511 Die Wolke fungiert dabei gleichsam als Mittler zwischen Berg und Wasser: Selbst Wasser, hüllt sie den Berg ein, »krönt« ihn, wie es im Gedicht heißt, und verwandelt ihn so, dass er seine »fast unkörperlichen Massen« dem »blassen Umriß der Wolke« folgend umgewöhnt, um ihr schließlich zu gleichen.

509 Ebd. 510 Vgl. dazu Mathias Obert: Welt als Bild. Die theoretische Grundlegung der chinesischen BergWasser-Malerei zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert, Freiburg/München: Alber 2007, S. 93ff. 511 Vgl. Cheng: Fülle und Leere, S. 52.

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Auflösung und Übergang Genau in diesem Augenblick, in dem Berg und Wasser durch einen wechselseitigen Prozess des Übergangs Gestalt gewinnen, wird die Malerei zur Idee, besser gesagt: zu einer Art visuellem Denken, das die Bedingungen der Wahrnehmung reflektiert. Weit davon entfernt, nur Kompromiss oder Auslöschung zu sein, ermöglicht die Leere den Prozess der Verwandlung, den die Malerei zur Darstellung bringt und den die Philosophie mittels der Sprache zu erfassen versucht. Berg und Wasser bilden bei Kommerell zwei Existenzweisen, die ungeachtet ihrer scheinbaren Gegensätzlichkeit der Tendenz folgen, einerseits ihre Gestalt zu verändern, aber andererseits auch ineinander überzugehen. Mit anderen Worten: Das Thema dieses Gedichts ist die Idee des Übergangs selbst. Dergleichen Übergänge haben in Kommerells literaturwissenschaftlichen Überlegungen immer wieder eine maßgebliche Rolle gespielt. Sowohl in seiner Faust-Interpretation als auch in seiner Hölderlin-Auslegung ist dies ein wichtiger Leitgedanke: »Der Dichter ist der Dichter des Übergangs, zumeist dessen, was an einem Übergang ein Anfang ist«, heißt es in seinem Aufsatz zur Dichtung Hölderlins.512 Und auch in seiner eigenen Dichtung sind Verwandlung, Umformung und Gestaltwechsel wichtige und immer wiederkehrende Themen. Von den Schwierigkeiten, eben einen solchen Moment des Übergangs festzuhalten, berichtet ein Brief an Jutta Gadamer, der sich auf eine Szene aus Kommerells Puppenspiel Kasperle wird Einsiedler (1940) bezieht und dabei genau jenen Augenblick in den Blick nimmt, in dem der Prinz in das Krokodil Biribi verzaubert wird.513 Eine ganze Reihe solcher Übergänge, wie z. B. der von der Pflaumenblüte zur Schneeflocke, dann der Übergang von Seerosenblättern zu der im Wasser sich spiegelnden Sonne (»An der Seerose statt/ Die Sonne sich geschoben«514), der Übergang vom Berg zur Wolke, vom Feuer zum Wasser, von der Anschauung zum 512 Max Kommerell: »Problem der Aktualität in Hölderlins Dichtung«, in: Dichterische Welterfahrung, hg. von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a. M.: Klostermann 1952, S. 174–194, hier S. 181. 513 In Kommerells Brief heißt es dazu: »Du hast dir eine sehr schwere Aufgabe gestellt: eine Verwandlung zu malen. Man kann entweder das Schon-Biribi oder den Noch-Prinzen zeichnen, aber schwer den Prinzen im Übergang zum Biribi. Ein Biribikopf auf einem Prinzenrumpf, ein Prinzenkopf auf einem Biribirumpf wäre auch unbefriedigend für einen geläuterten Geschmack; und dann würde man doch wieder meinen, das wäre halt so, halb das eine halb das andre, und nicht, daß es eben in der Verwandlung begriffen ist.« (Max Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen 1919–1944, aus dem Nachlaß, hg. von Inge Jens, Olten/Freiburg: Walter 1967, S. 350; Brief an Jutta Gadamer vom 4. März 1940.) Das Puppenspiel mit dem Titel »Kasperle wird Einsiedler. Eine musikalische Zauberposse im Stil des Kasperle-Theaters« ist erneut abgedruckt in: Max Kommerell: Kasperle-Spiele für große Leute, Göttingen: Wallstein 2002, S. 29–62. 514 Kommerell: Mit gleichsam chinesischem Pinsel, S. 246.

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Bild und umgekehrt vom Bild zum geschriebenen Wort (»Hingezaubert, wird Schrift«) finden sich dementsprechend in den Gedichten Mit gleichsam chinesischem Pinsel. Die abschließende Bewegung gleicht einmal einer Auflösung (»Am vollen Strahl / Schmolz das Verderbliche«515), ein anderes Mal einem »tröstliche[n] Verändern«516, wie in dem bereits zitierten Beispiel, wenn der vom Abendlicht »angetönte« Berg seine Farbe wechselt und sich »mit der leisen Luft versöhnt«.517 Im chinesischen Denken manifestiert sich die Vorstellung des Übergangs u. a. im Buch der Wandlungen (Yijing) 518 und in der Landschafts- (»Berg-Wasser«-) Malerei, in der »durch den Reichtum ihrer Inhalte, ihre kontrastiven Beziehungen und die zwischen ihnen bestehende Komplementarität […] Berg und Wasser zu den Hauptfiguren der universellen Verwandlung [werden]. […] Genauso wie das Yang im Yin und das Yin im Yang enthalten ist, ist der Berg, der für das Yang steht, potentiell Wasser, und das Wasser, das für das Yin steht, potentiell Berg.«519 Der chinesische Maler Shitao (1640/1–1707) deutet in seinen Bemerkungen über die Malerei die Wandelbarkeit von Berg und Wasser folgendermaßen: Das Meer hat eine gewaltige Brandung, der Berg besitzt eine latente Aufnahmefähigkeit. Das Meer verschlingt und verstößt, der Berg kniet nieder und neigt sich. Das Meer kann eine Seele spiegeln, der Berg einen Rhythmus befördern. Der Berg läßt uns durch die Überlagerung seiner Felsvorsprünge, die Abfolge seiner Felswände, seine verborgenen Täler und Abgründe, seine steilen, unvermittelt aufragenden Gipfel, durch Dunst, Nebel und Tau und durch seine Rauchschwaden und Wolken an das Meer mit seiner Brandung, seinem Verschlingen und dem Sprühen der Gischt denken. All das ist dennoch nicht die Seele, die das Meer selbst offenbart; es sind nur diejenigen Eigenschaften des Meeres, die sich die Berge aneignen.520

Wenn durch die Brandung des Meeres das Gestein abgetragen wird und ein Berg in den Wogen verschwindet, so bezeichnet dies jedoch nur die eine Richtung der Bewegung: Das Meer kann seinerseits ebenfalls den Charakter der Berge annehmen: die Unermeßlichkeit des Meeres, seine Untiefen, sein wildes Gelächter, seine verwirrenden Trugbilder, seine springenden Wale und seine stolz aufgerichteten Drachen, seine Gezeiten, die in ihren aufeinanderfolgenden Wogen Felsvorsprüngen gleichen: dies sind die Dinge, durch die das Meer sich Eigenschaften der Berge aneignet, und nicht umgekehrt.521

515 516 517 518 519 520 521

Ebd., S. 245 (»Lebenslauf«). Ebd., S. 246 (»Spiegelung der Sonne zwischen Seerosenblättern«). Ebd., S. 247 (»Berg und Wolke«). Vgl. dazu François Jullien: Die stillen Wandlungen, Berlin: Merve 2010. Cheng: Fülle und Leere, S. 109. Zit. n. Cheng: Fülle und Leere, S. 109–110. Shitao, zit. n. Cheng: Fülle und Leere, S. 110.

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In der chinesischen Malerei erzeugt dieser Prozess des wechselseitigen Ineinanderübergehens eine Zirkelbewegung, die Shitao als »universelle Strömung« (zhouliu) oder als »universelle Umarmung« (huanbao) charakterisiert,522 und um diese »universelle Strömung« sichtbar werden zu lassen, müsse im Bild ein Bezug zwischen Berg und Wasser hergestellt werden. Aber auch in Kommerells chinesischen Gedichten lassen sich solche kreisförmigen Bewegungen beobachten, wobei das Wasser in der Wolke repräsentiert ist, so im Gedicht »Berg und Wolke«, und der Berg, vom Abendlicht angestrahlt, seine Farbe ändert und sich allmählich in eine unkörperliche Masse verwandelt, die das Licht hindurchzulassen scheint, um schließlich in den blassen Umriss der Wolke überzugehen, dies aber nicht, ohne am Ende bereits den Beginn einer Rückverwandlung anzudeuten. In dem Gedicht »Sonne und Mond zugleich« werden der Symbolik der Verwandlung noch zwei genuin chinesische Aspekte hinzugefügt: einerseits die Beziehung zwischen Himmel und Mensch und andererseits die Idee der Mitte (zhong). Die Beziehung Himmel-Mensch verweist dabei auf ein vertikales Verhältnis, während die Beziehung Berg-Wasser (bei Kommerell Berg-Wolke) die Horizontale repräsentiert. Die Vertikale war schon in verschiedenen vorangegangenen Gedichten augenscheinlich geworden, wie z. B. im Gedicht »Ausgerissene Baumwurzel im Gebirge«, wo der Erde gewaltsam entrissene Baumwurzeln nun plötzlich nackt und bloß ins Leere ragen. Am Ende des Gedichts findet sich eine pointiert formulierte Deutung des Gesehenen, die in jener überraschenden Metapher resultiert, die das Gewirr der Wurzeln zu einem Kamm für die Wolken des Himmels werden lässt: Wurzelgewirr Gerauft aus dem Schoß Der Erde – wie bloß Ragt es dort oben ins Leere […] Ein den feinen Wolken ihr Haar Kämmendes! 523

Die vertikale Beziehung zwischen Himmel und Erde wird auch in den Gedichten »Die Laute zur Äolsharfe« und »In den Himmel hören« zum Leitgedanken. Im ersten dieser beiden Gedichte öffnet sich der unendliche Raum über den »Häuptern«, ohne dass jedoch der Himmel als solcher namhaft gemacht würde:

522 Vgl. ebd., S. 110. 523 Kommerell: Mit gleichsam chinesischem Pinsel, S. 252.

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Über den Häuptern Empfängst im Zucken der Luft Niemand weiß welch Lied […] 524

Im zweiten Gedicht wird eine Saite »[v]om Himmel zur Erde«525 gespannt, die das Tönen des Windes als eine himmlische Musik vernehmbar macht, ohne dabei jedoch den Menschen explizit in den Text mit einzubeziehen. Erst im Gedicht »Der Gelehrte« tritt, und zwar dann, wenn plötzlich von »mein[em] Ich« die Rede ist, eben dieses Ich als Bezugsperson wieder in Erscheinung. Gleichzeitig wird mit der Unterscheidung von Tag und Nacht eine neue Polarität eingeführt, die die Aktivitäten dieses Ichs bestimmt: Tag. Das Fenster. Im Quadrat Mir genug des Weltgesichtes. Hohe Blumen, schlanke Tiere, Bild der Wolke, Gang des Lichtes: Was da in den Rahmen trat, Wird geheim und innerlich, Und ich reinige und ziere Seinen Aufenthalt: mein Ich.526

Erst mit dem Licht des Tages werden die in den vorangegangenen Gedichten beschriebenen Landschaften und Tiere in ihrer geistigen Form im Innern des Ichs vereint. In der Nacht liest der Gelehrte die Texte bereits Verstorbener, die durch die von ihnen niedergeschriebenen Worte zu ihm sprechen und dadurch wieder lebendig werden, und er ist sich dessen bewusst, dass auch er – und dies ist für ihn ein tröstlicher Gedanke – eines Tages ein Glied in dieser langen Kette sein wird: Nacht. Die Lampe. Wo ihr gelber Lichtkreis schwebt auf dem Papiere, Reden mich die Lettern an: Tote, die ihr Schweigen brechen. Meine Lippen ahmen ihre Sprache leise nach. So kann, Ach wie bald gestorben, selber Mit den Lebenden ich sprechen.527

524 525 526 527

Ebd., S. 243. Ebd., S. 250. Ebd., S. 251. Ebd., S. 251–252.

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Das letzte Gedicht (»Sonne und Mond zugleich«) überträgt schließlich das Gesehene in eine Landschaftsgeometrie,528 die schon mit dem »Quadrat […] des Weltgesichtes« im Gedicht »Der Gelehrte« eingeführt wurde: Der Berg des Westens aber hält In einer blütenweißen Flocke Die Sonne auf, daß weich sie fällt. Die Sonne, kaum darin empfangen, Tritt durch die Flocke, groß und rot; Und diese ist noch kaum zergangen In reiner Mitglut, als die Glocke Des Himmels bis zum Aufgang loht. Der Berg des Ostens, angeschlagen Von klingend weichen Lüften, bricht Sein Schweigen. Rein emporgetragen In den gestillten Raum entsteigt ihm Der Mond, der volle, dunkelgelbe, Der staunende. Die Sonne zeigt ihm Ihr nie gesehenes Gesicht. Sie schaudern. Denn sie sind dasselbe. Der Mensch steht auf dem Berg der Mitte. Bei der Verständigung der Nacht Ist mit dem Tage er der Dritte, Den die von einem seltnen Lose Vereinigten Gestirne weiden. Er sagt zur Sonne: meine Rose, Zum Mond: o Lilie! Und lacht, Im Schlafe wach, und spielt mit beiden.529

528 Diese Geometrie ist bereits im ältesten überlieferten Werk der chinesischen Mythologie Shanhaijing (Das Buch der Berge und Meere; auch Klassiker der Berge und Meere genannt, erste Versionen stammen vermutlich aus dem 4. oder 5. vorchristlichen Jh.) ausgeführt. Das Buch entwirft die für China charakteristische Geometrie der Mitte. Es heißt dort, dass am Rande des Reiches Monster leben würden, die im Buch als hybride Wesen aus Mensch und Tier dargestellt werden. Der zivilisierte Mensch hingegen lebe nur in der »Mitte«. Das Buch umfasst 18 Kapitel, von denen die ersten vier die »Klassiker der Berge« sind: Nanshan jing (Klassiker des Südbergs), Xishan jing (Klassiker des Westbergs), Beishan jing (Klassiker des Nordbergs) und Dongshan jing (Klassiker des Ostbergs). Als Fünftes folgt Zhongshan jing (Klassiker des Bergs der Mitte). Das Konzept der Mitte, das dem chinesischen Reich seinen Namen gab, besitzt in China sowohl eine identitätsstiftende als auch eine philosophische Funktion, indem es den Ausgleich zwischen Extremen durch die Stabilisierung der Mitte zu regeln sucht. 529 Kommerell: Mit gleichsam chinesischem Pinsel, S. 261–262.

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Ein Spiel von Übergängen und Verwandlungen also, in dem Berg und Sonne, Sonne und Mond, Tag und Nacht miteinander in Verbindung stehen und vermittelt werden durch einen Dritten: Das Spiel zwischen Himmel und Erde ist kein Spiel zu zweit, sondern eines zu dritt, weil auf dieser Ebene immer auch der Mensch gegenwärtig ist, einerseits durch seine privilegierte Bindung an die feste Erde, andererseits durch die ihm ebenso eigene Dimension des Himmlischen; vor allem aber durch den Blick, den er (als Maler oder Betrachter) auf die gesamte Landschaft wirft, der er gleichzeitig als integraler Bestandteil angehört.530

Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen den beiden Gedichten »Der Gelehrte« und »Sonne und Mond zugleich«. Dem Gelehrten eröffnet sich im Rechteck des Fensters die Welt, die, nachdem er sie verinnerlicht und verschriftlicht hat, wieder zum Leben erweckt werden kann, sobald die Dinge mit Worten benannt und ihnen damit eine Art zweites Sein gegeben wird. Im Mikrokosmos des vergeistigten Bildes wiederholt sich der Zyklus der Natur, wobei sich die Beziehung zur Außenwelt nicht auf das Bildliche reduzieren lässt. Denn sobald das Ich beginnt, die Außenwelt zu verinnerlichen, wird das Sichtbare mit Affekten verbunden, ein Vorgang, der in der chinesischen Malerei durch den Begriff qingjing, dt. ›Gefühlslandschaft‹, verdeutlicht wird.531 Für den Kenner der chinesischen Malerei ist die Außenwelt gleichsam Ausdruck einer menschlichen ›Gefühlslandschaft‹:532 Daraus ergibt sich zugleich die Bedeutung, die den »Haltungen«, »Gesten« und »wechselseitigen Beziehungen« in gemalten Gruppen von Bergen, Bäumen oder Felsen zugesprochen wird. Berge und Gewässer zu malen, heißt in diesem Zusammenhang, ein Porträt des Menschen anzufertigen, und zwar nicht so sehr eines seiner physischen Gestalt (auch wenn dieser Aspekt nicht völlig fehlt), als vielmehr seines Geistes: ein Porträt seines Rhythmus, seiner Gangart und Wendungen, seiner Widersprüche und Ängste, seiner beschaulichen und überschäumenden Freuden, seiner verborgenen Leidenschaften, seiner unverwirklichten Träume, usw. Berg und Wasser dürfen daher nicht als schlichte Vergleichsgegenstände oder bloße Metaphern aufgefaßt werden.533

530 Cheng: Fülle und Leere, S. 113. 531 Vgl. ebd., S. 108. 532 In Bezug auf die chinesische Malerei deutet der Begriff zhuke (dt. ›Hausherr und Gast‹) eine Distanz zwischen dem wichtigeren und dem weniger bedeutsamen Berg an, während in kaihe (dt. ›Öffnen und Schließen‹) der Gedanke einer kontrastiven Gestaltung der Landschaft angesprochen wird. Die in Kommerells Gedicht »Berg und Wolke« implizierte Beziehung hingegen entspricht am ehesten der chinesischen Vorstellung von yanyun (dt. ›Wolkendunst‹), die ein Zusammenspiel von Berg und Gewässern beinhaltet (vgl. Cheng: Fülle und Leere, S. 130f.). 533 Ebd., S. 108.

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Damit wird das Arrangement des Gemalten zum Ausdruck eines Resonanzimpulses, der beim Betrachter bzw. beim Leser der Gedichte, welche die Landschaften versprachlichen, eine affektive Wirkung auslöst, die Kommerell in seinen literaturwissenschaftlichen Schriften mit dem Begriff der ›Stimmung‹ zu erfassen versucht hat.534

Auffüllung und Entleerung Die Pointe des wechselseitigen Ineinanderübergehens von Berg und Wasser liegt in der besonderen Art und Weise einer unvoreingenommenen und wertungsfreien Wahrnehmung. Werden die Eigenschaften eines Gegenstandes von den potentiellen Eigenschaften seines Komplements isoliert und nur für sich allein betrachtet, dann wird seine Anschauung dadurch beschränkt. Wer also das Meer unter Zurücksetzung des Berges wahrnimmt oder umgekehrt, »der besitzt in Wahrheit lediglich eine stumpfe Anschauung«, heißt es bei Shitao, der von sich selbst sagt, dass er ohne jegliche Beschränkung beide gleichermaßen wahrnehme: »Der Berg ist das Meer und das Meer der Berg […]: alles liegt im Menschen, im freien Schwung des Einen Pinsels und der Einen Tusche!«535 Der Pinsel ermöglicht eine ausgleichende Bewegung zwischen Leere und Fülle, je nachdem, wie viel Tusche oder Wasser er aufgenommen hat: »Wenn ein Berg zu ›voll‹ ist, muß er mit Dunst und Nebelschwaden ›geleert‹ werden; ist er zu ›leer‹ geworden, muß man ihn durch Hinzufügen von Pavillons und Terrassen ›auffüllen‹.«536 Solche Auffüllungen gibt es auch in Kommerells chinesischen Versen. In »Berg und Wolke« sind es die »müde[n] Vögel«, die den Berg, der zugleich Wolke ist, erreichen, was, wie betont wird, den Menschen unmöglich sei; und in dem Gedicht »Sonne und Mond zugleich« ist es der Klang einer Glocke, der von der ersten Strophe in die zweite hinübertönt, um den »Berg des Ostens«, »angeschlagen [v]on klingend weichen Lüften«,537 mit seiner Resonanz gleichsam anzustimmen. Die Auffüllung wird hier nicht über die dingliche Präsenz der Glocke erzeugt, sondern vollzieht sich als ein lang anhaltender Nachhall, der die gesamte Landschaft erfüllt, und, als ob auch er von der Glocke gleichsam angestoßen worden wäre, steigt schließlich der Mond in den »gestillten Raum« empor. In der chinesischen Malerei setzt sich das Motiv der (an)gestimmten Landschaft über die Tang- und Song-Zeit bis in die Qing-Zeit fort. Auffüllung und 534 535 536 537

Vgl. Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 19ff. Zit. n. Cheng: Fülle und Leere, S. 110. Tang Yifen, zit. n. Cheng: Fülle und Leere, S. 99. Kommerell: Mit gleichsam chinesischem Pinsel, S. 262.

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Entleerung bilden dabei eine Einheit, die durch das Mischungsverhältnis von Tusche und Wasser geregelt wird. Dass sich auch mit der Verwendung von etwas so Materiellem wie Tusche etwas ganz Gegensätzliches wie die Leere erzeugen lässt, beschreibt der chinesische Gelehrte Bu Yantu (frühe Qing-Zeit, 17. Jh.) folgendermaßen: Es gibt dann Pinsel jenseits des Pinsels und Tusche jenseits der Tusche. […] Mit den Sechs Farben der Tusche läßt der Maler die Gesetze der Schöpfung Gestalt annehmen. Selbst das sogenannte »ohne Tusche« ist nicht völlig frei von Tusche; es ist eine Weiterung des »Trocken-Verdünnten«. Während das »Trocken-Verdünnte« von der Fülle geprägt bleibt, ist das »ohne Tusche« völlig leer. Es gibt noch einen Zwischenzustand, qiuran, der darin besteht, die Leere durch die Fülle anzudeuten. Indem man Leere und Fülle abwechselt, schöpft man die Möglichkeiten der Tusche aus.538

Eben dieser Zwischenzustand ist hier von besonderem Interesse, denn im Wechsel der Übergänge, der sich zwischen den jeweiligen Polen abspielt (yinyang, dunkel-hell, Berg-Wasser usw.), ist das Zwischen der eigentliche Raum der Darstellung: Hier präsentiert sich gewissermaßen das eigentlich Unsichtbare. Für Bu Yantu stellt sich in diesem Zusammenhang ein ganz konkretes Problem: Während es Pinsel und Tusche leicht fällt, das Sichtbare, und damit die Fülle, zu malen, ist es viel schwieriger, das Unsichtbare, die Leere, darzustellen. Zwischen Berg und Wasser sind das Licht des Dunstes und die Schatten der Vogelschwärme in unaufhörlichem Wandel begriffen. Bald tauchen beide auf, bald verblassen sie. In vollem Glanz oder verhüllt, bergen sie in ihrer Mitte Atem und Geist. Die Alten versuchten mit allen Mitteln, das Geheimnis zu ergründen: durch den Pinsel-ohne-Pinsel wollten sie seinen Atem erfassen, mit der Tusche-ohne-Tusche seinen Geist ergreifen.539

Reduktion und Entleerung sind in der chinesischen Malerei ganz spezielle Strategien, mit denen das Unsichtbare evoziert werden kann, aber nicht als etwas Undarstellbares, Unterdrücktes oder Tabuisiertes, sondern als reine, weiße Leere. Erst im Zusammenspiel von Auffüllung und Entleerung wird sie als solche sichtbar, denn ihre bloße Präsenz macht sie gleichermaßen unsichtbar: »Wenn die Malerei an dem Punkt anlangt, wo sie keine Spuren mehr hinterläßt, erscheint sie auf dem Papier als eine natürliche und notwendige Emanation des ursprünglichen Papiers, das nichts anderes ist als die Leere selbst.«540 Schon mit dem ersten Gedicht aus der Sammlung Mit gleichsam chinesischem Pinsel wird deutlich, dass auch Kommerell einer ähnlichen ästhetischen Vorstellung folgt, wenn er das geisterhafte und »leicht[e]« Bild eines Vogels in weißer

538 Zit. n. Cheng: Fülle und Leere, S. 105. Seine Quelle ist Hualun congkan, hg. von Yu Anlan, Beijing: Renmin meishu chubanshe 1960, S. 275–309. 539 Zit. n. Cheng: Fülle und Leere, S. 105–106. 540 Hua Lin, zit. n. Cheng: Fülle und Leere, S. 124.

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Farbe zwischen »[g]ehauchten Nebeln«541 aufscheinen lässt. Immer wieder kommt er auf die Leere zurück, gemalt in »Weiß auf Weißem«.542 Nicht allein die Geste des ›fliehenden Pinsels‹, sondern auch das Wissen um die dabei angewendeten Maltechniken und die Verinnerlichung des Prinzips von Auffüllung und Entleerung sind kennzeichnend für Kommerells Dichtung mit gleichsam chinesischem Pinsel.

Die ›geistige Resonanz‹ Kommerells Gedichte erwecken den Eindruck des Skizzenhaften, so, als seien auch sie mit »fliehendem Pinsel« und verdünnter Tusche blass gezeichnete Entwürfe, wodurch die dargestellten Dinge ebenso geistig wie geisterhaft wirken. Ein beständig wiederkehrendes Motiv in ihnen ist das Zeich(n)en. Dem Begriff ›Zeichnung‹, so, wie er im ersten Gedicht Anwendung findet, wohnt bereits eine für den gesamten Gedichtband maßgebliche Ambivalenz inne, da er über seine primäre Bedeutung hinaus die kalligraphisch ausgeformten Schriftzeichen ins Spiel bringt, was dem Leser wiederum suggeriert, dass es sich einerseits durchaus um ein Bild, andererseits aber ebenso gut um einen Text oder eine Kalligraphie handeln könnte. Doch vielleicht verweist die mit dem Pinsel ›hingezauberte‹ Schrift auch ganz bewusst auf die bereits in der Tang-Zeit eingeführte Praxis, Gedichte in ein Bild einzuschreiben. Wie schon im dritten Kapitel erläutert wurde, gibt es in der chinesischen Tradition keine eigentliche Opposition zwischen Bild und Text wie dann in der westlichen Malerei nach dem Barock. Hinzu kommt, dass beides mit ein- und demselben Pinsel ausgeführt werden kann. In seinen Gedichten versucht Kommerell, die Gesten des Schreibens und des Zeichnens zusammenzuführen und zu harmonisieren oder, wie man auch sagen könnte, übereinander zu legen und zu überblenden. Aus der Perspektive der westlichen Poetik erscheint der dynamische Pinselstrich als ein Schreibvorgang, der anderen Regeln folgt und der nach anderen ästhetischen Maßstäben beurteilt wird, als man es im Westen gewohnt ist. Es ist eine Art Szenarium, bei dem der Pinsel und die Tusche die wichtigsten Utensilien sind, das eine allem zugrunde 541 Kommerell: Mit gleichsam chinesischem Pinsel, S. 243. 542 Nicht nur in dem Gedicht »Ausgerissene Baumwurzel im Gebirge« spielt die Leere eine maßgebliche Rolle; sie kehrt als das »gestaltlos Reine« in »Die Laute zur Äolsharfe« wieder und wird in anderen Gedichten vor allem durch die Weiß-in-Weiß-Metaphorik konnotiert, so in dem anfangs erwähnten Gedicht »Lebenslauf«, aber auch »In den Himmel hören« (tausend weiße Blüten), »Wiederkehr des ersten Gefühls« (der weiße Abend), »Der Tod des Buckligen« (der Bucklige, heißt es, sei »blind [v]or Weißem«), und schließlich wäre auch noch das Motiv des Blassen zu nennen, dem als pingdan in China eine besondere ästhetische Qualität beigemessen wird; vgl. »Berg und Wolke« (das Blasse), »Der Heilige während eines Erdbebens« (das blassere Sein der Dinge und die »zart[en]« Schriftzeichen).

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liegende Idee und den Strom der Lebensenergie (qi) sowie einen spürbaren Nachhall bzw. eine Resonanz (yun) in sich begreift und dem Ziel dient, im ausgewogenen Zusammenspiel dieser Komponenten eine »Resonanz des Geistes und lebendiger Atmosphäre« zu evozieren.543 Aus westlicher Sicht ist allein schon die Tatsache bemerkenswert, dass Kommerells Gedichte, in ihrer Gesamtheit gesehen, alle maßgeblichen Aspekte der chinesischen Malerei in sich vereinen: erstens den besonderen Pinselstrich (die Technik des ›fliehenden Weiß‹), zweitens das Mischungsverhältnis von Tusche und Wasser, drittens die horizontale Beziehung Berg-Wasser, viertens die Vertikale Mensch-Himmel und schließlich jene »fünfte Dimension« der »geistigen Resonanz«,544 wie François Cheng sie bezeichnet, von denen in den bisherigen Ausführungen die ersten vier Aspekte bereits behandelt worden sind. Ihr Vorhandensein bestätigt die Vermutung, dass in Kommerells »China-Verse[n]«545 sowohl Naturerscheinungen, als auch Lebenserinnerungen oder einfach bestimmte Dinge der Wahrnehmung als (vor)gezeichnete Dinge versprachlicht werden.546 Die »fünfte Dimension« wiederum kam schon in einigen Gedichten zum Vorschein, z. B. in dem »angetönt[en]« Berg im Abendlicht (»Berg und Wolke«) oder in der tönenden Äolsharfe in den Gedichten »In den Himmel hören« und »Die Laute zur Äolsharfe«: Du aber, aufgehangene Über den Häuptern Empfängst im Zucken der Luft Niemand weiß welch Lied, Nur atmend wenn Das gestaltlos Reine Tönen will.547

In dem Gedicht »Berg und Wolke« wird das ästhetische Prinzip der ›Resonanz des Geistes‹ am impliziten Betrachter, der hier als »ich« auftritt, vorgeführt. Zu Be543 Vgl. die »Sechs Wesentlichkeiten« (liu yao) der Aufzeichnungen über die Regeln des Pinselgebrauchs (bi fa ji) von Jing Hao (ca. 870–930). Mit diesen sechs Kriterien hatte er die »Sechs Regeln«, die der Maler und Gelehrte Xie He im 6. Jahrhundert für die Figurenmalerei aufgestellt hatte, ergänzt, um sie auf die Landschaftsmalerei anzuwenden. Nach Ansicht von Li Zehou bekam die alte ästhetische Norm dadurch einen neuen Inhalt und einen neuen Sinn und wurde so »zum ästhetischen Merkmal der gesamten chinesischen Malerei« (Li: Der Weg des Schönen, S. 318) Siehe ferner Obert: Welt als Bild, S. 183ff. 544 Cheng: Fülle und Leere, S. 123. 545 So nennt Kommerell seinen Gedichtband in einem Brief an Hans Carossa, vgl. Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen, S. 433 (Brief vom 30. November 1943). 546 Der Begriff »gezeichnet« scheint hier besser zu passen, denn zum einen lässt Kommerell seinen Gedichtband mit dem Gedicht »Eine Zeichnung« beginnen, zum anderen impliziert der Ausdruck »gezeichnet« aber auch das Zeichen, was die enge Verbindung von Schriftzeichen und Figürlichem betont. 547 Kommerell: Mit gleichsam chinesischem Pinsel, S. 243.

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ginn des Gedichtes heißt es: »So möchte ich den Geistern gleichen / Wie jetzt sich Berg und Wolke gleicht.«548 Das Ich betrachtet nicht einfach nur mit »interesselosem Wohlgefallen« (Kant) die Landschaft, sondern sucht die Wandlung, um so in den sich ständig verändernden Kreislauf der Dinge eintreten zu können. Chinesische Ästhetik ist weit mehr als nur ein kontemplatives Wohlgefallen und beruht demzufolge nicht allein auf Anschauung und Vertiefung. Es geht darum, die ›Idee des Bildes‹ in sich aufzunehmen und mit dem Dargestellten in eine Wechselwirkung zu treten. Für den zeitgenössischen chinesischen Philosophen Li Zehou besteht das Ziel der Landschaftsmalerei nicht darin, »ein von sinnlicher Vision bestimmtes Gefühl der Echtheit« zu erzeugen; sie versuche vielmehr, »eine Art visionären und phantasievollen Empfindens«549 zustande zu bringen. Er beruft sich dabei auf den Maler Guo Xi (1020–1090), der über die ästhetische Konzeption der Landschaftsmalerei550 Folgendes bemerkt: Es gibt Landschaften, durch die man gehen kann; solche, die man anschauen kann; solche, durch die man streifen kann; solche, in denen man wohnen kann; […] aber die, durch die man gehen und die man anschauen kann, scheinen der Vollendung jener Landschaften nicht gleichzukommen, in denen man wohnen und durch die man streifen kann.551

Auch in Kommerells Gedicht haben wir es nicht einfach mit einem Naturbild zu tun, das den Ausschnitt einer chinesischen Realität wiedergibt, und die im Gedicht zum Ausdruck gebrachte Empfindung entspringt nicht allein der sinnlichen Anschauung. Der Wunsch, den »Geistern [zu] gleichen«, verdeutlicht eher das Streben des Ich, in die Landschaft einzugehen. Auffallend ist, dass in den nachfolgenden Zeilen des Gedichts das Ich nicht mehr vorkommt, obwohl es noch indirekt anwesend zu sein scheint. So wie die Wolke, die zu einem Land wird, »das durch die Lüfte streicht«, verwandelt es sich in etwas, was durch die Lüfte zu jenem Wolkenberg zu fliegen vermag, d. h. es wird zu einem Vogel, zu einem »müde[n] Vogel«, wie es im Gedicht »Berg und Wolke« heißt, denn für gewöhnliche Menschen ist das Wolkenland unerreichbar, erreichbar aber vielleicht für solche, die sich im Geiste in Vögel verwandeln.

548 Ebd., S. 247. 549 Li: Der Weg des Schönen, S. 319. 550 In diesem Zusammenhang sollte daran erinnert werden, dass es im 10. und 11. Jahrhundert im Abendland, wo alles ikonographisch festgelegt war (z. B. Goldgrund statt Landschaft), keine vergleichbare Landschaftsmalerei gegeben hat. Überlegungen wie die von Guo Xi waren in Europa zu dieser Zeit ebenso unbekannt wie unvorstellbar. 551 Guo Xi, zit.n. Li: Der Weg des Schönen, S. 319.

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Der Pinselstrich als Geste Das eigentliche Problem, das Kommerell in seinen Gedichten mit der Fragestellung, wie man denn die Idee der Reinheit darstellen könne, sehr pointiert formuliert hat, ließe sich noch durch die Frage erweitern, wie man der poetischen Sprache jene Unbeschwertheit zu geben vermag, die über ihre referentielle Bedeutung hinaus etwas sichtbar macht, um so das »Ungreifbare« als solches darzustellen und damit die malerische Leichtigkeit auch sprachlich überzeugend vermitteln zu können. Die Antwort liegt für Kommerell ganz offensichtlich in der sprachlichen Geste, genauer gesagt, im Pinselstrich als einer Geste, die bildhafte und sprachliche Zeichen in sich vereint, bietet er doch die Möglichkeit, aus der Sprache eine Bewegung zu machen – eine Funktion, die er in der Dichtung ansonsten dem Rhythmus zuweist.552 In den Gedanken über Gedichte geht Kommerell ausführlich auf die Rolle der Geste bzw. der Sprachgebärde ein. Er unterscheidet dabei grundsätzlich zwei Kräfte der Sprache: zum einen das begriffliche Bezeichnen (die »semiotische Kraft des Wortes«553) und daneben eine weitere Kraft, die über diese Bezeichnung hinausgeht, etwas, das sich durch die nicht festgelegte Stellung der Wörter, den Tonfall einer Äußerung oder durch einen Gesichtsausdruck bemerkbar macht. Diese Kraft ist für ihn die der Gebärde, welche er als ein »anderes, weit über die Sprache hinausgehendes System von Verständigungen«554 charakterisiert. Für Kommerell ist sie immer etwas Sekundäres, »etwas, womit der Mensch antwortet auf das, was ihn trifft«,555 also eine Re-Aktion. Dies mag erklären, warum er in seiner Abhandlung über Kleist die Schlussworte Penthesileas nicht, wie viele Literaturwissenschaftler es heute tun würden, als performative Handlung interpretiert, sondern als etwas, was mit ihr oder »an ihr geschieht«: »Die Worte, in denen sie stirbt, sind innere Gebärden: sie deuten nicht auf etwas, was sie an sich tut, sondern auf etwas, was an ihr geschieht.«556 Gewöhnlich begleitet die Gebärde das gesprochene Wort, doch im lyrischen Gedicht tritt die Kraft der Bezeichnung hinter sie zurück. Während die Bezeichnung sich dem »Geist« (dem Verstand oder der Vernunft) mitteilt, verständigt sich die Gebärde mit der »Seele« (dem Gemüt), die, so Kommerell, »vom Ausdruck betroffen das entsprechende Gefühl in sich nachahmt«.557 Vor diesem 552 553 554 555 556

Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 38. Ebd., S. 37. Ebd., S. 35. Ebd., S. 36. Max Kommerell: »Die Sprache und das Unaussprechliche«, in: ders.: Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin, Frankfurt a. M.: Klostermann, 6. Aufl. 1991, S. 308. 557 Kommerell: Gedanken über Gedichte, S. 35.

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Der Reflex ostasiatischer Ästhetik in der deutschen Literatur

Hintergrund unterscheidet er dann auch die Poesie von der Prosa: In der Prosa überwiege das Begriffliche, in der Poesie das Mimetische und damit die Gebärde: »Prosa ist in erster Linie Verständigung über einen Inhalt, der Vers ist dazuhin und vielleicht stärker eine Ausdrucksgebärde, als Gebärde unmittelbar wie eine Bewegung oder ein Ton, zunächst ohne an den Zweiten, den Vernehmenden zu denken, und gerade darum mit Allmacht über ihn begabt.«558 Als Ausdrucksgebärde ist der lyrische Vers »unmittelbar wie eine Bewegung«.559 Der Pinselstrich, und zwar nicht als einzelner Strich gedacht, sondern als gestischer Prozess des Schreibens und Zeichnens, verbindet das Schreiben mit dem Körper, wie es Kommerell am Beispiel von Jean Pauls »Tanz der Sprache« aufzeigt, sofern »in der Seele das Leibverlangen nach[zuckt]«.560

Gebärde und Index In Kommerells Mit gleichsam chinesischem Pinsel gibt es ein Gedicht, in dem die Geste auch inhaltlich von immanenter Bedeutung ist. Es hat den Titel »Kamelie in weißer Porzellanvase« und erinnert in seiner Bildlichkeit, Satzstruktur und Wortwahl gewollt oder ungewollt durchaus an Gedichte Rilkes: Erde – nicht die Krume Die dich trug, noch gestern O Kamelie – nein: Erde, die durchscheinend ward und klingt, Hält als Gefäß Dich, von deiner Schwestern Keinem Laube mehr umringt, In dein zweites Sein: Form, der Blume So gemäß, Daß sie gestillt in deinen Frieden steigt. Aber du, Mit allem was du bist, Tödlich rein In dich gehend, Fügest, leise dein Haupt geneigt, Einem Menschen zu, 558 Max Kommerell: »Der Vers im Drama«, in: Dichterische Welterfahrung, S. 155. 559 Ebd. 560 Max Kommerell: Jean Paul, Frankfurt a. M.: Klostermann, 5. Aufl. 1977, S. 65. Weitere Anhaltspunkte finden sich in den Briefen Kommerells, wo es an einer Stelle heißt, es gelte, »den Geschmack der Orange zu tanzen« (Kommerell: Briefe und Aufzeichnungen, S. 450; Brief an Rudolf Bultmann vom 7. Juni 1944).

Indikative Resonanz. Kommerells Poesie mit gleichsam chinesischem Pinsel

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Daß Blume und Gefäß als eins verstehend, Er weise ist.561

Mittels einer doppelten Verneinung werden zwei verschiedene semantische Aspekte des Wortes »Erde« ausdifferenziert. Von der ersten Bedeutung (Erde, verstanden als die mit Humuserde angereicherte Bodenschicht, in der die Pflanze naturgemäß gedeiht) abgesetzt, tritt die zweite nur im Negativum der Verneinung ans Licht: die Tonerde, die, künstlerisch vervollkommnet und gebrannt, zum weißen Porzellan wird, um als passendes Gefäß die Kamelie einzufassen. Die Attribute »durchscheinend«, »kling[end]« und »weiß« verweisen im Kontext der chinesischen Kultur auf eine Ming-Vase, die von ihrem Hersteller jene hohe Kunstfertigkeit beansprucht, für die das China-Porzellan in Europa spätestens seit dem Rokoko allgemein berühmt war. Obgleich die Blume von ihren »Schwestern« getrennt ist, wird ihr zweites, gleichsam entnaturalisiertes Sein nicht als Entfremdung wahrgenommen, sondern als eine Harmonie von Blume und Gefäß, als eine Einheit von Natur und Kunst. Die Form, und nichts anderes als diese, kennzeichnet das zweite Sein dieser Blume. Die Formgebung impliziert hier keinen Zwang, keine Gewalt; nicht einmal von Beschränkung ist die Rede. Die erreichte Vereinigung erinnert an die Tradition der unio mystica, wenn es in der vorletzten Zeile heißt, dass die Blume und das Gefäß von dem sie betrachteten Menschen ›als eins‹ verstanden werden, wobei das ›Tödlich-Reine‹ das Nichts andeutet, wie es in der Zen-Meditation angestrebt wird. Das legt den Gedanken nahe, dass hier die Kamelie ihr natürliches Dasein als Blume verloren hat und zum reinen Objekt der intellektuellen Anschauung geworden ist.562 In Kommerells Gedichten fällt zudem ein häufig wiederkehrendes sprachliches Element ins Auge, das für die chinesische Dichtung eigentlich untypisch ist, und zwar die direkte Anrede im Sinne der rhetorischen Figur der Apostrophe.563 Charakteristisch für die Apostrophe ist, dass sie ähnlich der ihr verwandten Prosopopöie (oder prosopopoiia) 564 nicht die Bedeutung dessen, was gesagt wird, herausstellt, sondern die Sprechsituation. Folgt man Jonathan Culler, dann bietet sie keine Repräsentation eines Ereignisses, sondern bringt vielmehr ein fiktives, 561 Kommerell: Mit gleichsam chinesischem Pinsel, S. 246. 562 In China wird die Kamelie als Sinnbild der Großzügigkeit geschätzt; in Japan spielt sie bei der Teezeremonie eine wichtige Rolle und gilt als Symbol der Unsterblichkeit, da sie in großen Teilen des Landes auch im Winter noch Blüten trägt. 563 Vgl. Albert W. Halsall: »Apostrophe«, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen: Niemeyer 1992, S. 830–835; siehe darüber hinaus: Paul de Man: »Hypogram and Inscription«, in: ders.: Resistance of Theory, Minneapolis: Univ. of Minnesota Press 1986, S. 27–53 und Jonathan Culler: »Apostrophe«, in: ders.: The Pursuit of Signs. Semiotics, Literature, deconstruction, London: Henley/Ithaca: Cornell State Univ. Press 1981, S. 135–154. 564 Vgl. dazu Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka, München: Fink 2000, insbes. S. 163–172.

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Der Reflex ostasiatischer Ästhetik in der deutschen Literatur

diskursives Ereignis in seiner Gegenwärtigkeit hervor, wobei die Präsenz der angeredeten Figur immer mit vorausgesetzt wird.565 In Kommerells Gedichten hingegen bildet die Apostrophe ein Pendant zur Geste des Pinselstrichs: Beide indizieren die Gegenwärtigkeit eines diskursiv-figurativen Ereignisses und inszenieren eine Präsenz im Gedicht (nämlich die einer Idee oder des lyrischen Ichs). Die direkte Anrede in der Apostrophe scheint zu einem Sprechgestus zu gehören, mit dem gleichermaßen ein die Welt verinnerlichendes Ich verbunden ist. Die mehrfache Wiederholung des Personalpronomens ›ich‹ ist in Kommerells Gedichten ebenso auffällig wie das ›Du‹ der Adressierung: Lediglich in sieben der einundzwanzig Gedichte gibt es keine Apostrophe bzw. kein verinnerlichendes ›Ich‹. Das Personalpronomen, das die strukturalistischen Linguisten zu den Doppelstrukturen oder »shifter« rechnen (shifter, weil die deiktischen Bezüge dieser Pronomen im Gespräch wechseln), hat Barthes in Anschluss an Jakobson als ein »indizielles Symbol« charakterisiert, »welches das konventionelle Band sowie das existentielle Band in sich vereint«: [I]ch kann in der Tat seinen Gegenstand nur mittels einer konventionellen Regel darstellen (die bewirkt, daß ich im Lateinischen zu ego, im Französischen zu je wird usw.), aber da es andererseits den Sprechenden bezeichnet, kann es sich existentiell nur auf den Sprechvorgang beziehen.566

Die zur Anrede verwendeten Personalpronomina gehören zu den Indexausdrücken oder Deiktika, deren Funktion im Gedicht hauptsächlich darin besteht, die »haecceitas« (Diesheit) 567 im gemalten Bild, wie es in dem ersten Gedicht »Eine Zeichnung« beschrieben wird, zu indizieren.568 Was in der ersten Zeile noch Intention ist, wird erst in der letzten Zeile durch die Anrede »Du Ungreifbare!« 565 Im originalen Wortlaut: »Apostrophe is not the representation of an event; if it works, it produces a fictive, discursive event.« (Culler: Apostrophe, S. 152–153.) 566 Roland Barthes: Elemente der Semiologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, S. 20. 567 Nach Duns Scotus bezeichnet die ›Haecceitas‹ das Spezifische von einzelnen Objekten (im Gegensatz zu den Allgemeinheiten, den Quidditas). In der Literaturwissenschaft wird der Begriff (wenn auch selten) für eine Detaillierung des Sinneseindrucks gebraucht, die der Bestimmung einer Spezies dient, so bei Michael Hamburger (Die Dialektik der modernen Lyrik, München: List 1972, S. 317, wo es um die Differenz zwischen der modernen französischen und britischen Lyrik geht), und bei Gilles Deleuze und Félix Guattari in Tausend Plateaus (S. 354ff.), wo sich die Verfasser mit Individuationen vermittels Jahres- oder Tageszeiten und Intensitäten befassen. 568 Dahingehend sind auch Eco und Prieto zu verstehen, wenn sie von einem Akt der Bezugnahme sprechen, der zwar Semiose voraussetzt, aber bereits außersemiotisch ist (Umberto Eco: Zeichen. Einführung in den Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 175.) In der neueren Semiotik wird der Begriff ›Index‹ für dasjenige verwendet, was nach Prieto »eine Information über etwas anderes außer über sich selbst vermittelt« (zit.n. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik, 2., vollst. neu bearb. und erw. Aufl. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2000, S. 189).

Indikative Resonanz. Kommerells Poesie mit gleichsam chinesischem Pinsel

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dann wirklich gegenwärtig. Durch die Anrede und den mit ihr verbundenen Wechsel zwischen dunklen und hellen Vokalen aber tritt unvermittelt ein weißer Schatten aus dem weißen Hintergrund hervor, und die Aufmerksamkeit des Lesers wird für dieses Unscheinbare sensibilisiert. Erst dadurch wird es überhaupt möglich, den weißen Schatten als solchen wahrzunehmen und sich zugleich dessen bewusst zu werden, dass hier jede fixe Kontur und jeder feste Umriss viel zu hart wären und die Idee der weißen Reinheit nur stören würden. Ähnlich wie im Diskurs den Personalpronomen ›ich‹ oder Adverbien wie ›hier‹ oder ›jetzt‹ eine bestimmte Funktion zukommt, die darin besteht, eine Sprecherposition oder eine Äußerungszeit, also die lokalen und temporalen Charakteristika der Sprechsituation zu markieren, übernimmt die direkte Anrede ihrerseits die Aufgabe, auf dem Blatt Papier eine Präsenz zu indizieren, die sich lediglich durch eine blasse Kontur bemerkbar macht, von der es im Gedicht heißt: »Kein Umriß – nur ein weißer Schatte.«569 Die fehlende Wortendung ist zweifellos dem Kreuzreim zu »Blatte« geschuldet.570 Mag dies auch der primäre Grund gewesen sein, so hat diese Tilgung gleichwohl einen überraschenden Nebeneffekt: So, als fehle selbst dem Wort ›Schatten‹ etwas, um ganz Schatten zu sein, gibt das willkürlich seiner korrekten Endung beraubte Wort ›Schatte‹ ein Beispiel für ein gleichsam konturloses Wort, das nun selbst nur noch ein Schatten seines Ausdrucks ist.

Die Verflüchtigung des Bildes Die Deixis der Anrede und die Geste des Pinselstrichs dienen bei Kommerell aber nicht nur dazu, den Leser auf etwas Unscheinbares hinzuweisen; sie eröffnen vielmehr einen Gesprächsraum. Die Gedichte der Sammlung Mit gleichsam chinesischem Pinsel wirken wie ein Zwiegespräch mit der für westliche Augen unscheinbaren chinesischen Ästhetik, und im Raum dieses Gesprächs, so ließe sich mit Paul Celan sagen, »konstituiert sich erst das Angesprochene, versammelt sich um das es ansprechende und nennende Ich«.571 Kommerell steht Celans Auffassung von Dichtung viel näher als dem Versuch Golls, durch die Eindeutschung des japanischen Haiku die ästhetische Wahrnehmung zu bereichern, wobei anzumerken ist, dass Goll über eine Erweiterung 569 Kommerell: Mit gleichsam chinesischem Pinsel, S. 243. 570 Ein zweites Mal findet sich das Wort »Schatte« im Gedicht »Die versäumte Begehung«, wo es sich mit »matte« reimt (vgl. ebd., S. 256); und darüber hinaus auch in einem Gedicht aus dem Dichterische[n] Tagebuch (ebd., S. 138). 571 Paul Celan: Gesammelte Werke in sieben Bänden, hg. von Beda Allemann und Stefan Reichert unter Mitwirkung von Rolf Bücher, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983, Bd. 3: Gedichte III, Prosa, Reden, S. 198.

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Der Reflex ostasiatischer Ästhetik in der deutschen Literatur

der Form nicht hinausgelangt. Es kommt in seinen Haikai zu keinem Dialog mit der japanischen Ästhetik, und was er leistet, ist nichts weiter als eine Übertragung struktureller Elemente japanischer Haiku in einen europäischen Kontext: Die moderne westliche Wahrnehmung wird in die Form eines Dreizeilers gegossen, um blitzartig Vorstellungsbilder wechseln zu lassen und Assoziationen zu wecken, verstand er doch seine Haikai als Reaktion auf die rapiden technischen Veränderungen der modernen Kommunikation und begriff sie als »Ausdruck eines Zeitinhaltes«, der nach einem höheren Tempo verlange. Diesen modernen Haikai fehlen aber gerade die Resonanzeffekte, wie sie für das poetische Zwiegespräch Kommerells mit der chinesischen Ästhetik charakteristisch sind. Über eine solche Art von dichterischer Begegnung heißt es bei Paul Celan: Die Aufmerksamkeit, die das Gedicht allem ihm Begegnenden zu widmen versucht, sein schärferer Sinn für das Detail, für Umriß, für Struktur, für Farbe, aber auch für die »Zuckungen« und die »Andeutungen«, das alles ist, glaube ich, keine Errungenschaft des mit den täglich perfekteren Apparaten wetteifernden (oder miteifernden) Auges, es ist vielmehr eine aller unserer Daten eingedenk bleibende Konzentration.572

Eben diese Konzentration auf das Ästhetische ist auch den Gedichten Kommerells eigen. Indem er sich so spezifischer Mittel wie der direkten Anrede und der Zeigegeste bedient, gelingt es ihm, seine Verse auf ein Unscheinbares oder Unsichtbares hin auszurichten, oder, um mit Celan zu sprechen: Gedichte »halten auf etwas zu, […] [a]uf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit«.573 Kommerells Gedichte liefern nicht die sinnliche Vision eines authentisch dargestellten China, sondern geben ein ästhetisches Empfinden wieder, das in einer genuin am chinesischen Vorbild orientierten Geste dargeboten wird. Das Chinesische in ihnen liegt nicht in den Motiven oder der Ähnlichkeit zu den Dingen begründet, die man als ›typisch chinesisch‹ bezeichnen könnte, denn Kommerell erfasst nicht nur die Form, sondern bringt in seinen Gedichten darüber hinaus eine Resonanz von Idee und Geist zur Wirkung, die auf der chinesischen Ästhetik entlehnten Prinzipien und Regeln basiert. Seine Lyrik erhält durch die Geste der Pinselführung nicht einfach nur einen chinesischen Anstrich; die gesamte Sprache der Dichtung, ihre Metaphorik und ihre Darstellungsmittel eingeschlossen, wird bei ihm auf den Prüfstand gestellt.574 Auch darin ist er Celan nahe, der sagt, dass das Gedicht derjenige Ort sei, »wo alle 572 Ebd. 573 Celan: GW III, S. 186 (aus: »Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen«). 574 Vgl. dazu mit Blick auf Kommerells literaturwissenschaftliche Schriften Eva Geulen: »Aktualität im Übergang. Kunst und Moderne bei Max Kommerell«, in: Max Kommerell. Leben, Werk, Aktualität, hg. von Walter Busch und Gerhardt Pickerodt, S. 32–52, hier S. 42.

Indikative Resonanz. Kommerells Poesie mit gleichsam chinesischem Pinsel

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Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen«.575 Während Celan seinerseits jedoch die Metaphern zu schwer verständlichen, wenn nicht sogar unlesbaren Chiffren verabsolutiert und die Zeichen auf der Sinnebene wieder zu Hieroglyphen werden lässt, verflüchtigt sich das sprachliche Bild bei Kommerell in einer Weiß-in-Weiß-Metaphorik, die sich am Rande des Gestaltlosen bewegt und lediglich als ein weißer Schatten aufscheint, um den Dingen, ästhetisch vergeistigt, ein noch leiseres, blasseres Sein zu geben.

575 Celan: GW III, S. 199 (aus: »Der Meridian«).

IV.

Transkulturelle Resonanzen

Exkurs zur Geometrie der offenen Grenze »Warum beginnt die Rezeption von Texten gewöhnlich mit einer Erfahrung von Resonanz und nicht mit Staunen? Weil Sprache die Kodierung von Lauten ist – nicht einer einzelnen Stimme, sondern aller Stimmen, welche die betreffende Sprache gestaltet und benutzt und verändert haben. Und warum spielt das Staunen bei dieser Erfahrung überhaupt eine Rolle? Weil in der Mitte dieses Labyrinths an Stimmen die Worte von völlig Fremden verborgen sind, die sich dennoch direkt an Sie, die Leserin oder den Leser, zu wenden scheinen.« (Stephen Greenblatt) 1

Abb. 26: Xu Bing, ABC…,1991, Detail.

In seiner Installation ABC… (1991) nähert Xu Bing auf der Grundlage klanglicher Ähnlichkeiten zwei verschiedene Schriftkulturen einander an (Abb. 26). Wie am Ende des fünften Kapitels bereits gezeigt worden ist, brachte er auf jedem der von 1 Stephen Greenblatt: »Resonanz und Staunen revisited«, in: Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur, hg. von Karsten Lichau u. a., S. 33–51, hier S. 49.

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Transkulturelle Resonanzen

ihm zu diesem Zweck verfertigten Tonquader ein chinesisches Schriftzeichen mit einem Buchstaben des lateinischen Alphabets in Verbindung, wobei das Vermittelnde nicht die äußere Gestalt, sondern vielmehr die Lautung der Zeichen ist. Das Sinogramm 哀, das [aɪ] ausgesprochen wird, ist dem Buchstaben A zugeordnet; das Sinogramm 彼 dem Buchstaben B und das Sinogramm 西 dem Buchstaben C usw. Wenn man nun die chinesischen Schriftzeichen ausspricht, fällt sofort auf, dass hier in einer ganz bestimmten Absicht Klangrelationen zur englischen Aussprache des Alphabets hergestellt werden. Ein solches Vorgehen impliziert förmlich die Forderung nach einer zweispaltigen Tabelle, in der jedem Buchstaben ein chinesisches Schriftzeichen (gegebenenfalls sind es auch mehrere) zugeordnet ist, dem entweder der gleiche oder doch ein sehr ähnlicher Klang innewohnt, und die Xu Bing in dem unvollendeten Projekt My Book (1992) dann schließlich auch präsentiert. Obgleich die Zeichen auf den Quadern keinen in sich geschlossenen Text ergeben, ermöglichen sie das Zusammentreffen zweier verschiedener Schriftkulturen, vergleichbar jener Granodiorittafel, die Jean-François Champollion dazu verhalf, die ägyptischen Hieroglyphen zu entziffern (mit dem Unterschied allerdings, dass der berühmte Stein die Zeichen dreier Schriftsprachen wiedergibt), und eben mit dem Verweis auf den historischen ›Stein von Rosette‹ inszeniert Xu Bings ABC… die symbolische Begegnung zweier einander zutiefst fremder Schriftkulturen. Die überraschenden Gleichklänge und unerwarteten Ähnlichkeiten im Schriftbild, wie sie Xu Bing dann in seiner Square Word Calligraphy (1995) aufzeigt, können als Punkte der Koinzidenz verstanden werden, die eine Linie bilden, welche nicht mehr den Regeln der euklidischen Geometrie gehorcht. Der Ort, an dem die Sprach- und Klang-Begegnungen stattfinden, ist nicht mehr vereinbar mit der Vorstellung von klar umrissenen, voneinander abgrenzbaren Kulturen. Er konstituiert sich als ein In-Between, das entsteht, wenn Kulturen einander durchdringen, wenn sie plötzlich ihre Grenzen verschieben oder diese porös und durchlässig werden, wenn Grenzen im Begriff sind, sich zugunsten von dynamischen und offenen Randzonen aufzulösen, die neue Formen und Existenzweisen hervorbringen und keineswegs in Lücken resultieren. Die fraktale Geometrie bietet uns die Möglichkeit, die Auflösung einer Grenzlinie zwischen zwei Kulturräumen graphisch zu veranschaulichen, und zwar in Gestalt der Koch-Kurve, benannt nach dem schwedischen Mathematiker Helge von Koch (1870–1924), die auch als ›Schneeflockenkurve‹ apostrophiert wird. Dazu teilt man eine Linie, die zugleich als Grenzlinie zwischen zwei Kulturen angenommen werden kann, in drei Teile und errichtet anstelle des Mittelsegments zwei Seiten eines gleichseitigen Dreiecks. Es entsteht eine sogenannte ›Verkrumpelung‹, die gewissermaßen die Begegnung zwischen verschiedenen Kulturen repräsentiert. Diese Transformation setzt man für jedes der entstandenen Segmente fort, bis man eine Zackenkurve erhält. Der Vorgang ließe

Klangexperimente um 1900. Dauthendeys poetische Klangiterationen

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sich unendlich fortführen, was auf eine äußerst feine Strukturierung der Grenzlinie hinausläuft (theoretisch unendlich und praktisch dynamisch und offen), so dass sich ein künstliches Fraktal ergibt. Bemerkenswert an dieser Kurve ist, dass ihre Konstruktionsvorschrift streng selbstähnlich ist, d. h. es entstehen immer wieder dieselben Strukturen, die wie aus sich selbst heraus produziert werden, was zu verdeutlichen hilft, wie und wieso eine scheinbar homogene Kultur dennoch durchaus Formen von Verfremdung produzieren kann.2 Noch interessanter wird es, wenn man den Grenzwert der Iteration (d. h. der wiederholten mathematischen Transformation und damit der wiederholten Kulturbegegnungen) bestimmt. Zu ihm gehören all diejenigen Punkte, die von einem beliebigen Iterationsschritt an in allen nachfolgenden Iterationen enthalten sind, einschließlich aller Häufungspunkte der gebildeten Punktmenge (ein Häufungspunkt ist ein Punkt, der unendlich viele Punkte der Menge in seiner Nähe hat). Während der Endpunkt der Anfangslinie in jeder Iteration enthalten ist, gehört der Mittelpunkt der Anfangsstrecke schon ab der ersten Transformation nicht mehr zur Kurve und damit nicht mehr zur Ausgangskultur. Das bedeutet in unserer Analogie, dass mit jedem Kulturkontakt die ursprünglich als homogen angenommene Ausgangskultur verändert wird, dass es zu Durchmischungen kommt und die Grenzlinie sich zu einer unendlich wachsenden Zone des Da-Zwischen transformiert. Bemerkenswert ist weiterhin, dass die Kurve, obgleich mathematisch stetig, was heißt, dass man sie zeichnen kann, ohne den Stift abzusetzen, dennoch nicht differenzierbar ist, denn sie besteht aus unendlich vielen ›Knickstellen‹. Sie scheint zwar unendlich lang, trotzdem umschließt sie de facto eine endliche Fläche.

11.

Klangexperimente um 1900. Dauthendeys poetische Klangiterationen »Natürlich bin ich voll Enthusiasmus für das, was ich sehe, aber ich erlebe es erst wirklich, wenn ich darüber dichten werde.« (Max Dauthendey) 3

2 »Auf befremdliche Weise ist der Fremde in uns selbst: Er ist die verborgene Seite unserer Identität, der Raum, der unsere Bleibe zunichte macht, die Zeit, in der das Einverständnis und die Sympathie zugrunde gehen.« ( Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 11.) 3 Max Dauthendey: Mich ruft dein Bild. Briefe an seine Frau, München: Langen 1930, S. 97.

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Transkulturelle Resonanzen

Poetisch-philosophische Klangkammern Der Klang der Totenkammer Auch tief im Innern der Pyramide ward meinem Herzen kein dauernder Friede, sondern ein schauernd Erinnern. Beim Schallen und Hallen der Schritte, die von den Mauern fallen, War da ein Klang, wie ein Sang im Gang einer Muschel. Und bei dem Läuten und Klingen in der Pyramide Mitte, umfingen mich Liebesgedanken mit dem seltsamen Bedeuten: Daß Lieben und Sehnen noch in das Steinherz des Todes dringen und sich nicht scheuten Und unter dem Wüstensand sich ihres Atems noch freuten. Daß Liebende, beim Hinuntersteigen zu den schwanken Reichen der Leichen nicht dem Sterben versanken; Daß sie noch unter der Erden zu einer Geige werden, Die, im Geschweige der Totenkammer, mit Sang aus den Steinen drang; Daß die Geliebte, wie ein Geigenlied unsichtbar, auch unter den Toten noch um mich war.4

Dieses ungewöhnliche Spiel mit dem Klang lyrischer Fußschritte und ihrem Widerhall in altägyptischen Grabkammern ist Max Dauthendeys Reiseversepos Die geflügelte Erde. Ein Lied der Liebe und der Wunder um sieben Meere (1910) entnommen, das nach dem Vorbild von Alfons Paquets Auf Erden. Zeit- und Reisebuch in fünf Passionen (1906) geschrieben wurde. Aber während Paquet den vers libre nutzt, experimentiert Dauthendey mit einer eigenartigen Verknüpfung von Binnenreimen, die sich wie ein Netz von sich wiederholenden Klangwörtern durch das gesamte Opus zieht, wobei der Eindruck eines lyrischen Nachhalls inmitten der Prosa eines in freien Langzeilen verfassten Reiseberichts entsteht: Aus drei Balken stand ein Tempeltor als Zeichen seiner Heiligkeit davor. Der Baum ist Japans ältester Riese, Er steht im weißen Unterkiese, von Hunderten Holzfüßen gestützt. Ohne Krone, zerbrochen, zerspalten und von hundert Krücken gehalten, […] 5

Ingrid Schuster hält dieses Klangexperiment für »mißlungen«, denn all zu oft wählt Dauthendey ihrer Meinung nach »Wörter nicht nach ihrer inhaltlichen Nuance, sondern nach ihrem Klang«.6 Damit übernimmt die neuere Forschung das Urteil der zeitgenössischen Literaturkritik,7 die in Dauthendeys Spielerei mit 4 Max Dauthendey: Die geflügelte Erde. Ein Lied der Liebe und der Wunder um sieben Meere, München: Langen 1910, S. 22 (Vgl. auch Max Dauthendey: Gesammelte Werke in sechs Bänden, 5. Band: Die großen Versdichtungen, München: Langen 1925, S. 24 (= GW 5). 5 Ebd., S. 402; GW 5, S. 404. 6 Ingrid Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur, S. 70. 7 Eine ausführliche Besprechung von Ernst Lissauer erschien unter der Überschrift »Neue Ly-

Klangexperimente um 1900. Dauthendeys poetische Klangiterationen

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den Binnenreimen eine mangelnde Beherrschung der Sprache erblickte. In der Halbmonatsschrift Das literarische Echo heißt es sehr abschätzig, dass »die dürftigen oder begrifflichen Wendungen und Bilder […] zum Teil durch eine beständige Abhängigkeit vom Reim erzwungen« würden.8 Der Rezensent Ernst Lissauer bemängelt nicht nur, dass durch die ungewöhnlichen Häufungen von Binnenreimen und Alliterationen die Sprache gekünstelt und gestelzt erscheinen würde; missglückt seien auch die »unsinnlichen« Bilder und Vergleiche, die einander »ersticken«,9 wie in der Beschreibung der ägyptischen Palmen »mit den langen, straffen Blätterzungen, hoch wie Fontänen aufgesprungen«, welche »lebten mit schlaffen Mähnen in der Schwüle, wie überbürdete Gefühle«.10 Fast alle Wörter, die »beim Lesen stören, weil sie aus Sinn und Sinnlichkeit des Satzes herausfallen«,11 würden sich, so Lissauer, als reimgesetzt erweisen und damit die Meinung bestätigen, dass Dauthendey sich all zu sehr von Reim und Klang abhängig gemacht habe. Wieder steht der Klang im Mittelpunkt der Kritik, genauer gesagt, seine Favorisierung gegenüber dem Inhalt und der sprachlichen Genauigkeit. Ein weiterer Kritikpunkt an Dauthendeys Reiseepos bei Schuster ist, dass zu oft »in gleicher Ausführlichkeit unwichtige Details neben Wichtigem [stehen]« und zu oft »vom Gefühl des Helden die Rede [ist], das zwischen Heimweh und Fernweh schwankt«.12 Auch Peter Sprengel sieht in der übermäßig spürbaren »Sehnsucht, die sein reisendes Ich nach der in Würzburg verbliebenen Ehehälfte empfindet«, eine Schwachstelle dieser »Mischung aus Odyssee und Reisetagebuch«.13 Gerade der offen zur Schau gestellte Trennungsschmerz bewirke, so Sprengel, dass die Reiseerlebnisse selbst erheblich an Wert einbüßen würden.14

8 9 10 11 12 13 14

rikbücher« in der Halbmonatsschrift Das literarische Echo 13 (1910/11), Sp. 1742–1751 (speziell zu Dauthendey siehe Sp. 1747–1751). Die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Dauthendeys Werk unternahm Carl Mumm in seiner Dissertation Max Dauthendeys Sprache und Stil, Diss. masch., Frankfurt a. M. 1925. Lissauer: Neue Lyrikbücher, Sp. 1750. Ebd. Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 249; vgl. GW 5, S. 251. Lissauer: Neue Lyrikbücher, Sp. 1750. Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur, S. 70. Peter Sprengel: »Poetik der Evidenz«, in: Die Herausforderung der Bilder in der Literatur um 1900, hg. von Helmut Pfotenhauer, Wolfgang Riedel, Sabine Schneider, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 129–140, hier S. 136. Das gleiche Argument findet sich in der Rezension von Arthur Holitscher, der bemängelt, dass Dauthendey »auf seiner weiten Reise […] mehr auf seine Sehnsucht auf[passe] als auf die Dinge, die sich ihm darbieten« (Arthur Holitscher: »Lyrikers Weltreise«, in: Die Neue Rundschau 22 (1911), S. 260–264, hier S. 262). Auch Wolfgang Reif nennt das Reiseepos ein »fehlgeschlagenes Unternehmen« (Wolfgang Reif: »Exotismus im Reisebericht des frühen 20. Jahrhunderts«, in: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, hg. von Peter J. Brenner, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 434–462, hier S. 450; vgl.

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Schusters und Sprengels Kritiken beruhen auf der allgemein akzeptierten Annahme, dass eine Reisebeschreibung sich auf die dargestellten Inhalte zu konzentrieren habe und dass ihre Sprache dazu ›natürlich‹ sein müsse, wozu eine neutrale, reimlose Prosa am Besten geeignet sei. Der Klang der Binnenreime und Alliterationen ist für sie nichts weiter als ein – allerdings ganz erheblicher – Störfaktor. Ein solcher Standpunkt aber schließt von vornherein jedes Verständnis für das aus, was sich Dauthendey als dichterisches Ziel gesetzt hatte: die Poetisierung der Welt als Ganzes.15 Sein Werk will beides sein: einerseits ein beschreibendes Epos, das die mannigfaltigen Dinge der Weltreise zusammenbringt, und andererseits eine lyrische Rhapsodie, die diese Dinge besingt. Als Dauthendey 1906 auf seiner Weltreise u. a. Japan besuchte16 und einige Jahre später das Reiseepos Die geflügelte Erde veröffentlichte (1910), war er bereits ein erfolgreicher Dichter, der vor allem wegen seiner impressionistischen Lyrik sehr geschätzt wurde. In seinem Gedichtband Ultra Violett (1893) kommen komplexe, synästhetische Sinneseindrücke zur Darstellung, die in den Zyklen »Stimmen des Schweigens«, »Gesänge der Düfte« sowie »Töne und Farben« lyrisch gestaltet werden. Dauthendey reiste also nicht einfach als Beobachter, sondern als Dichter um die Welt, und er versuchte, in seinem Buch diese Ferne zu poetisieren. Lissauer war sich dessen durchaus bewusst, als er seine Kritik niederschrieb, wie die folgenden Sätze verdeutlichen: Mittels eines vielfüßigen Rhythmus, der wie ein Tier geschmeidig läuft und mit Binnenreimen gleichsam wie mit Fangarmen bewaffnet ist, will er die Fülle eines Raumes ergreifen, wie ihn frühere Generationen kaum gekannt, gewiß nicht überschaut und erst recht nicht erobert hatten. Und er will nicht nur die großen Tatsachen der Erde packen, sondern, ohne Größe einzubüßen, alle Färblein und Nüancen, alle Stufungen und Tönungen, und selbst das Unwichtigste und Nebensächlichste, einfangen.17

Bei Dauthendeys Text handelt es sich nicht um einen Reisebericht im Sinne einer Beschreibung, sondern, und dies vor allem in Bezug auf Japan, um eine poetische Vision, die sich viel mehr mit seinen Erwartungen und Sehnsüchten auseinandersetzt, als mit dem ›wirklichen‹ Japan. So verstand es zwar auch die zeitgenössische Kritik, doch war sie vom dichterischen Wert des Dargebotenen alles andere als überzeugt und äußerte allein schon deshalb erhebliche Vorbehalte dem ungewohnten Reiseepos gegenüber. Hans Friedrich zog in seiner Rezension das Resümee, dass Dauthendeys Epos zwar »wertvoll im Inhalt, aber völlig verauch Volker Zenk: Innere Forschungsreisen. Literarischer Exotismus in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Oldenburg: Igel 2003, S. 229). 15 Vgl. dazu das Kapitel »Fernweh als Sehnsucht dichterischer Selbsterfahrung« in: Zenk: Innere Forschungsreisen, S. 219–262. 16 Dauthendey bereiste Japan vier Wochen lang: Am 23. April 1906 kam er in Nagasaki an und am 22. Mai verließ er Yokohama, um nach Nordamerika weiterzureisen. 17 Lissauer: Neue Lyrikbücher, Sp. 1747.

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fehlt in der Form« sei, ein »Mißgebilde zwischen Vers und Prosa«,18 während Ernst Lissauer bemerkte: »Die Vision, die Dauthendey groß und tausendfarbig vor den Augen gebrannt hat, ist nicht erreicht; fast in jedem Sinne ist seine Dichtung mißraten.«19 Zur Rechtfertigung dieses Urteils gibt er mehrere Gründe an: Zunächst ermangle dem Epos ein planvoller Aufbau, der die Teile zu einem organischen Gebilde zusammenführe, denn Dauthendey verwechsle die praktische Ordnung mit der künstlerischen, wenn er den Plan seiner Reise einfach zum Plan seines Werkes mache. Höchst problematisch ist für Lissauer zudem das Motiv der Sehnsucht, welches das gesamte Werk durchzieht. Für ihn ist es ein »kleines und unmännliches Gefühl«20, das mit einem »Unmaß« vorgetragen werde und dadurch den poetischen Kern des Buches vernichte. Der Leser gewinne den Eindruck, als ob Dauthendey »niemals eigentlich in den fremden Ländern [sei], ein Fuß steht immer auf fränkischer Erde, während der andere in Kanton oder Birma wandert«.21 Bewunderung (für die betrachteten Dinge) und Sehnsucht (nach der Geliebten und der Heimat), die Lissauer als die zwei Leitmotive des Reise-Versepos ansieht, würden einander »Licht und Luft« nehmen: »Die Dinge verlieren ihren Urwert und -charakter, ihren Duft und ihre Kraft, sie werden nicht unbefangen aufgenommen, sondern gleichsam von einem sentimentalen Abendrot beständig retuschiert.«22 Darüber hinaus diagnostiziert der Rezensent eine elementare Indifferenz in dem lyrischen Reiseepos, denn bei Dauthendey verschwimme »Gegenwart und Sehnsucht, Jubel und Leid in einer verworrenen und schwächlichen Art«.23 Ein Dichter müsse stattdessen »den Augenblick ergreifen und bewältigen als ein Atom von Zeit, das mit Ewigkeit geweiht ist; nicht aber soll er ihn sich verfälschen lassen durch eine Sehnsucht, die noch dazu klein ist, da es sich um eine Trennung von nur wenigen Monaten handelt.«24 Diese Indifferenz ist nach Ansicht Lissauers auch in der dichterischen Sprache Dauthendeys zu spüren. Die selbst auferlegte Abhängigkeit vom Reim nehme der Sprache ihre Kraft und Lebendigkeit: »Das Wesen des Reims, zwei Worte mit eiserner Kraft aneinanderzubinden, hat sich hier vollkommen verflüchtigt; diese Reime sind wie aufgemaltes Eisen.«25

18 Hans Friedrich: »Max Dauthendey: Lingam, Die acht Gesichter am Biwasee, Die geflügelte Erde«, in: Janus 1 (1911/12), S. 93–94, hier S. 94. 19 Lissauer: Neue Lyrikbücher, Sp. 1748. 20 Ebd., Sp. 1748–1749. 21 Ebd., Sp. 1749. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Ebd., Sp. 1751.

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Die sprachlichen Bilder erscheinen dem Literaturkritiker durchweg als blasse Schemen, denen jede Lebendigkeit fehle, und so zieht er das Fazit, dass Dauthendeys Epos eben deshalb und auch aufgrund der mangelnden formalen Einheit nichts anderes sei, als ein in Verse gebrachtes Notizbuch einer langen Reise – von Dichtung ist nicht mehr die Rede. Die einzelnen Zeilen und Motive seien nichts als Individuen, die unverbunden nebeneinander stünden und sich nicht zum Ganzen ordnen würden: »Auch das Ergebnis der Lyrik Max Dauthendeys sind nur Atome.«26

Fernöstliche Klangiterationen Bereits in dem 1897 publizierten Gedichtband Die schwarze Sonne verwendete Dauthendey den Binnenreim. Wie er selbst ausführt, stellte er »die Reimworte mitten in die Zeilen«, um auf diese Weise »das Echo des Wanderns auszudrücken«.27 Volker Zenk hat daraus den Schluss gezogen, dass diese Form des Reims den Reiserhythmus imitiere, d. h. die Schritte des Wandernden gleichsam nachhallen lasse, und damit auch die Verwendung des Binnenreims begründe, denn »dieser replizier[e] das Reisemotiv auf formaler Ebene«.28 Eine andere Möglichkeit, die Funktion des Reims bei Dauthendey zu erklären, ist von dem in Deutschland geborenen amerikanischen Germanisten Herman George Wendt in seiner 1936 veröffentlichten Dissertation zur Diskussion gestellt worden. Sie ist vor allem deshalb interessant, weil sie eine interkulturelle Perspektive auf die poetische Funktion der klangvollen Reime eröffnet. Wendt vertritt hier die These, dass die Binnenreimtechnik Dauthendeys von den sogenannten ›pillow words‹ der japanischen Dichtung inspiriert worden sein könnte: Oriental poems depend a great deal for their effects, on what to our minds may seem mere mechanical devices, such as the so-called »pillow words« of Japanese poetry. To the severely critical, Dauthendey’s use of Binnenreim may be such a restraining device. He had early realized that conventional poetic forms were unsuited to his philosophy, that the characteristic nature of each land in its landscape, latitude, and language suggests a definite verse measure. Internal rhyme seemed to afford this flexibility.29

Wendt geht nicht näher auf die Herkunft und Funktion dieser ›Kissenwörter‹ in der japanischen Dichtung ein, da für seine philosophische Argumentation ein 26 Ebd. 27 Max Dauthendey: Gedankengut aus meinen Wanderjahren. Zwei Bände, München: Langen 1913, Bd. 2, S. 17; vgl. Gesammelte Werke in sechs Bänden, 1. Bd. (= GW 1), S. 555. 28 Zenk: Innere Forschungsreisen, S. 227–228. 29 Herman George Wendt: Max Dauthendey. Poet-Philosopher, New York: Columbia Univ. Press 1936, S. 101.

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weiteres Hintergrundwissen nicht notwendig war. Für ihn handelt es sich bei der das gesamte Epos prägenden Reimstruktur weniger um lyrische Klangexperimente, als vielmehr um den lyrischen Ausdruck einer Art poetischer Philosophie, die Dauthendey veranlasste, nach neuen Formen zu suchen und dabei den Binnenreim in einem so außergewöhnlichen Maße einzusetzen. In diesem Zusammenhang verweist Wendt in einer Fußnote auf die autobiographische Schrift Gedankengut aus meinen Wanderjahren, in der Dauthendey seine poetischphilosophische Weltanschauung der »Weltfestlichkeit« erläutert: Durch die neue Weltanschauung war ich aus dem Gleichgewicht der griechischen Rhythmen und einlullenden gutmütigen Melodien der alten Dichterwelt aufgerüttelt worden, und die Trochäen und die Jamben und der Hexameter, alle die uns von den Griechen überkommenen Versmaße, schienen mir undeutsch, zu feierlich und nicht auf die heutigen Lebensäußerungen und Lebenszerrissenheiten anwendbar, mit denen der Arbeitsgeist uns Menschen einer neuen Welt umgibt.30

Dauthendey zufolge wirken die äußeren Bedingungen auf die innere Lebensstimmung ein, und da man in Deutschland »fast ein halbes Jahr Winter kennt« und nur einen »kurzatmigen Sommer«,31 bedarf es eines eigenen Versmaßes, was im Übrigen für jede Kultur gilt: »Die Natur jedes Landes – Landschaft, Himmelsstrich und Sprache – gibt ihren Dichtern ein bestimmtes Versmaß ein«:32 Die Länder der Zypressen und Pinien, die Länder des heißen Südweines, die südlichen Länder, wo keine Singvögel nisten, können nicht in demselben Verstakt dichten wie deutsche Haine, deutsche Wiesen und Buschlandschaften voll fliegender Sänger und kühler lauschiger Grashügel.33

Man kann vor dem Hintergrund dieser Äußerungen wohl davon ausgehen, dass Dauthendey für seine poetische Reisebeschreibung bewusst nach einem außerdeutschen Vorbild gesucht hat, um darauf seine Klang- und Sinnstrukturen aufzubauen, die sich so sehr von der zeitgenössischen deutschen Dichtung unterscheiden, ja sich geradezu von ihr absetzen. Die poetische Darstellung fremder Länder und Kulturen erfordert seiner Ansicht nach eine Form, die nur aus der Begegnung mit der Dichtung dieser Kulturen hervorgehen kann, zunächst der Südeuropas und dann im zunehmenden Maße der Asiens.34 30 Max Dauthendey: Gedankengut aus meinen Wanderjahren, Bd. 1, S. 170; GW 1, S. 410. Dauthendey spricht hier allerdings, was Wendt nicht berücksichtigt, über eine frühere Zeit seines Schaffens, und zwar die Zeit zwischen 1890 und 1900, die er als seine »Wanderjahre« bezeichnet (vgl. GW 1, S. 810 sowie zur zitierten Passage die Jahresangabe 1892 auf S. 415). 31 Ebd., S. 171; GW 1, S. 411. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Dass für Dauthendey die süd- und ostasiatische Kunst eine besondere Rolle spielt, verdeutlicht folgende Passage, in der er seiner weltanschaulichen Nähe zum buddhistischen Asien Ausdruck gibt: »Die Künstler der Japaner, der Chinesen, der Inder, die die Tiere und

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Könnte es also sein, dass, wie Wendt es nahelegt, eine japanische Klangstrukturierung das Vorbild für Dauthendeys Nutzung des Binnenreims ist? Volker Zenk lehnt dies mit dem Hinweis darauf ab, dass Dauthendey von sich behauptete, kaum jemals japanische Literatur gelesen zu haben.35 Dabei übersieht er, dass die Lektüre einschlägiger Literaturgeschichten für Dauthendey völlig ausgereicht hätte, um sich eine Vorstellung davon zu machen, was diese ›Kissenwörter‹, jap. makura kotoba, genau sind und welche Funktion sie besitzen. Karl Florenz geht in seiner 1906 veröffentlichten Geschichte der japanischen Litteratur, die Dauthendey mit Sicherheit gelesen hat, ausführlich auf die ›Kissenwörter‹ und ihre Bedeutung in der japanischen Dichtung ein und gibt auch einige Beispiele. Der gemeinhin gebräuchliche Terminus ›Kissenwörter‹ ist allerdings insofern irreführend, als es hier eher um ›schmückende Beiwörter‹ geht, genauer gesagt, um ergänzende Beifügungen, die einem bestimmten Wort im Gedicht vorangestellt sind. Über die Herkunft des Begriffs schreibt Florenz: »Die Kissenwörter, die so heißen, weil das folgende Wort sich auf sie wie ein Kopf aufs Schlafkissen stützt, sind zur stehenden Phrase gewordene attributische Beiwörter, Epitheta ornatia«.36 Es handelt sich in der Regel um fünfsilbige Ausdrücke, die, weil im hohen Grade konventionalisiert, in semantischer Hinsicht für das Gedicht eigentlich unwichtig sind. Ihre Funktion liegt ausschließlich darin, im Vers einen füllenden Klang zu erzeugen. Zur Verbreitung der ›Kissenwörter‹ heißt es bei Florenz: Die Makura-kotoba sind […] in Langgedichten […] überall hin verstreut, in Kurzgedichten stehen sie gewöhnlich als erster Vers und verringern dann noch den ohnehin knapp bemessenen Raum. Sie sind ein berechtigtes und anmutiges Schmuckmittel, wo sie mit Diskretion gebraucht werden; leider dienen sie aber nur zu oft denkfauler

Menschen, Landschaft und Pflanzen seit Hunderten von Jahren mit tiefster Kenntnis und künstlerischer Liebe umfassen und darstellen können, sind von der buddhistischen Weltanschauung beeinflußt, die alle Wesen gleich achtet. Die Lebenstreue und die Feinheit, mit der jene asiatischen Künstler die feinsten Lebensregungen in der Natur in großzügigen Linien auf ihren Bildern einzufangen verstehen, die Knappheit und Kürze und Anschaulichkeit ihrer Gedichte, die wenig ermüdend nie den dichterischen Eindruck übertreiben, sondern das Erlebte und Tiefste in sparsamer Kürze hinzusingen verstehen, ebenso die wunderbare Einfalt ihrer in Naturlauten summenden träumerischen und unaufdringlichen Musik, die nicht zum Anfüllen steinerner Hallen, sondern zum Einwiegen des Menschenohres berechnet ist, diese Kunstausübung nähert sich der festlichen Anschauungsweise des gesamten Weltallebens.« (Ebd., S. 195; GW 1, S. 428–429.) 35 Vgl. Zenk: Innere Forschungsreisen, S. 228. Die Bemerkung findet sich in: Dauthendey: Gedankengut aus meinen Wanderjahren, Bd. 1, S. 56 (GW 1, S. 325–326). Der genaue Wortlaut ist: »Ich habe aber niemals weder chinesische noch japanische Literatur studiert. Ich kenne von diesen Literaturen nur einige wenige Gedichte, die in den letzten Jahren in Übersetzungen zu uns gekommen sind.« Diese Aussage bezieht sich jedoch nur auf seine kürzeren Gedichte, die »oft mit den kurzen gedrungenen Liedern der Asiaten verglichen« worden seien (ebd.). 36 Florenz: Geschichte der japanischen Litteratur, S. 24–25.

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Bequemlichkeit und werden zur geistlosen Manier, und erinnern dann an die berüchtigten Triebe und Liebe, Schmerzen auf Herzen. Als feststehende Epitheta gehören sie zu dem allerältesten Sprachgut der japanischen Sprache und sind darum, auch von ihrem ästhetischen Werte abgesehen, hoch schätzbar.37

Die makura kotoba werden vor allem in der Waka-Dichtung verwendet. Sie tauchen bereits in den frühen Liedern auf, und zwar im Kojiki aus dem Jahr 712 und Nihon Shoki von 720, und wurden insbesondere durch den Dichter Kakinomoto no Hitomaro im ausgehenden 7. Jahrhundert als feste poetische Redefigur etabliert.38 Mit den makura kotoba kann der Dichter auf frühere, bekannte Dichtungen anspielen und seiner Sprache eine gewisse Tiefe geben. Dafür wurden im Manyo¯shu¯, der im Jahre 759 abgeschlossenen »Sammlung der zehntausend Blätter«, auch utamakura gebraucht, d. h. poetische Ortsbezeichnungen, mit denen auf legendäre Stätten oder Gegenden des alten Japan verwiesen wird, wie z. B. auf den Ort Yoshino, der für die Kirschblüte steht, oder Tatsutagawa für die Herbstfärbung. Wären die Bedeutungen der makura kotoba nicht festgelegt, dann würde man sie auf den ersten Blick nicht als solche erkennen können. Ein Beispiel für ein makura kotoba, das gewöhnlich mit dem Altjapanischen shitahi (dt. ›sich rot färben‹) oder mit iro natukashi, dem Erröten des Gesichts (eigentlich ›anmutige Farbe‹), verbunden wird, ist der Ausdruck akiyama no (dt. ›Herbstberge‹ als Anspielung auf die herbstliche Blätterfärbung). Vor allem Ortsnamen stehen mit den Kissenwörtern im Zusammenhang, so gibt es für die Stadt Nara die Bezeichnung ao ni yoshi, was soviel bedeutet wie ›reich an blauer Erde‹. Durch die lange Tradition ihrer wiederholten Verwendung wuchs den Kissenwörtern hauptsächlich eine dekorative Funktion zu. Ihr Effekt ist in erster Linie der einer Resonanz: Sie erzeugen einen Klangreichtum und regen über ihre Anspielungen zu Assoziationen an, was im Sinne einer textuellen Resonanz verstanden werden kann. Diese Ansicht wird auch von den Japanologen Robert H. Brower und Earl Miner vertreten, die in der von ihnen herausgegebenen Anthologie der Gedichte Fujiwara Teikas von der »ungewissen Bedeutung« der ›pillow words‹ sprechen und ihre Kraft vor allem in der Klangfülle sehen: »[…] its amplifying force is clearly that of a loftiness and brightness of tone«.39

37 Ebd., S. 25–26. 38 Florenz bemerkt, dass viele der makura kotoba so alt seien, dass ihre Bedeutung bei ihrer ersten schriftlichen Fixierung im achten Jahrhundert schon nicht mehr bekannt gewesen sei, vgl. ebd., S. 26. 39 Fujiwara Teika’s Superior Poems of Our Time. A Thirteenth-Century Poetic Treatise and Sequence, übers. und eingel. von Robert H. Brower und Earl Miner, Tokyo: Univ. of Tokyo Press 1967, S. 48.

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Der Bezug zu dieser japanischen Redefigur erlaubt nun einen neuen Blick auf Dauthendeys Binnenreimstruktur. Betrachten wir nochmals die eingangs zitierte Passage, in der es heißt: Auch tief im Innern der Pyramide ward meinem Herzen kein dauernder Friede […] Beim Schallen und Hallen der Schritte, die von den Mauern fallen, War da ein Klang, wie ein Sang im Gang einer Muschel. Und bei dem Läuten und Klingen in der Pyramide Mitte, umfingen mich Liebesgedanken […] 40

Während »Pyramide« und »Friede« noch als ein in den Langvers eingeflochtener Endreim aufgefasst werden können, entsteht in der darauf folgenden Zeile mit »Schallen«, »Hallen« und »fallen« ein Binnenreim, der mit dem Reim »Klang«, »Sang« und »Gang« eine Fortsetzung findet und durch den wiederum eingeschobenen Endreim »Schritte, […] Mitte« überkreuzt wird, so dass sich eine Art Strickmuster ergibt. Ein anderes Beispiel zeigt, wie über den Klang hinausgehend, mittels bestimmter Beifügungen metaphorische Bilder evoziert werden: Wenn ich vorwärts sah, lag Japan wie ein Gespräch nur da, nur als erzählte Worte, die ich in der Erinnerung schwach hörte, wie durch das Schlüsselloch einer Pforte.41

Der beigefügte Teilsatz »nur als erzählte Worte« ist, semantisch gesehen, eine erklärende Umschreibung für »Gespräch« und des Reims zu »Pforte« wegen eingeschoben worden, während der abschließende Vergleich »wie durch das Schlüsselloch einer Pforte« ein sprachliches Bild nachreicht, das zwar nicht gerade von Erfindungsreichtum zeugt, aber die Funktion hat, den Klang von »Worte« weiterzutragen und jene »schwache Erinnerung« zu assoziieren. Mittels der Binnenreimstruktur webt Dauthendey ein Netz von Klangbezügen und Sinnassoziationen und stellt damit eine signifikative Resonanzfläche her, die durch das Klangecho gewissermaßen zu einem stereophonen, dreidimensionalen Raum ausgeweitet wird. Auf diese Weise überträgt er die Dreidimensionalität der erlebten Welt in die Zweidimensionalität des Buches. Diesem Programm folgend werden die ägyptischen Totenkammern in Dauthendeys poetischer Reisebeschreibung zu Klangkammern, in denen, wie in dem Eingangszitat beschrieben, die Schritte dermaßen schallen und hallen und »von den Mauern fallen«, dass es scheint, als klinge der Klang »wie ein Sang im Gang einer Muschel«. Nach alledem kann übereinstimmend mit H. G. Wendt immerhin ein vorläufiges Fazit gezogen werden: »Far from being a limiting element, Binnenreim was for Dauthendey an intuitive rhythmic phenomenon as natural to him as his vivid color sense and his striking figures of speech, which are also characteristics 40 Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 22; GW 5, S. 24. 41 Ebd., S. 331; GW 5, S. 333.

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of Oriental poetry.«42 Das, was die damaligen Kritiker und Rezensenten wie Lissauer von einer erzwungenen, selbst auferlegten Abhängigkeit vom Reim, von poetischer Schwäche und unsinnlichen Vergleichen sprechen lässt und sie schließlich zu einem Pauschalurteil verleitet, kann somit sehr wohl auch ganz anders betrachtet werden, nämlich als die Schaffung eines Resonanzraums voller Klänge und Affekte.

Reim, Assonanz und Klangaura Einer der wesentlichen Aspekte der Wirkung eines literarischen Textes ist der Klang. Das Netz der Klangbeziehungen bildet das sogenannte »sound stratum«, d. h. die »sinnlich faßbare Klangschicht des Sprachkunstwerks, die in je unterschiedliche Beziehungen wechselseitiger Art zu den anderen Schichten des Sprachkunstwerks eintritt«.43 Die Lyrikanalyse konzentriert sich vorrangig auf die Form und Struktur der Reime, zieht aber auch Effekte der Vokalhäufung (vokalische Halbreime wie Assonanzen) oder der Lautmalerei in Betracht. Besonders im lyrischen Gedicht erscheint das Wort häufig in einer doppelten Funktion als Sinn- und als Klangträger. Man muss hier wohl von zwei verschiedenen Dimensionen sprechen, doch wird in der Literaturanalyse gewöhnlich die Sinnfunktion privilegiert.44 Der Klang bzw. die Klangresonanz ist zwar nicht signifikativ, aber sie kann durchaus eine strukturierend-indizierende (und in diesem Sinne quasi-signifikative) Wirkung haben. Die literaturwissenschaftliche, d. h. die am Text orientierte Klanganalyse beschränkt sich zumeist auf die rein formale Klassifikation der Reimstrukturen. Schlüsse aus der Klangstruktur für den Sinn zu ziehen, wird weitgehend als problematisch angesehen, denn: Klang-Sinn-Beziehungen konstituieren sich ebenso wie Vers-Sinn-Beziehungen jeweils nur im Kontext des konkreten Einzeltextes und werden gewissermaßen a posteriori interpretierbar. Deshalb sind auch Versuche, dem Wortklang apriorisch bestimmte Ausdrucksvalenzen zuzuschreiben – etwa dunklen Vokalen Trauer, hellen Vokalen Freude usw. – insgesamt zum Scheitern verurteilt – womit […] durchaus nicht ausge42 Wendt: Max Dauthendey. Poet-Philosopher, S. 102. Der Begriff »oriental poetry« ist an dieser Stelle allerdings viel zu allgemein und nur im Kontext des bereits Erörterten, insbesondere der makura kotoba, zu verstehen. 43 Hans-Werner Ludwig: Arbeitsbuch Lyrikanalyse, 3. Aufl., Tübingen: Narr 1990, S. 73. 44 Formalisten wie Lotman fassen das Verhältnis von Klang und Bedeutung als ein dialektisches auf. Ihre Gegensätzlichkeit wird im Begriff der »Information« gleichsam ›aufgehoben‹: »Der musikalische Klang der poetischen Rede ist ebenfalls eine Art der Übermittlung von Information, also von Inhalt, und er kann in diesem Sinne nicht in Gegensatz treten zu allen anderen Arten von Informationsvermittlung, die der Sprache als semiotisches System eigen ist.« ( Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink 1972, S. 180.)

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schlossen ist, daß sich nicht im Einzelgedicht solche Ausdrucksvalenzen konkret konstatieren lassen.45

Die Visualisierung der vokalen Klangqualitäten wird in der Phonologie gewöhnlich mit Hilfe eines Vokaldreiecks realisiert, in dem die Vokale entsprechend ihrer Klangwerte gemäß den Kriterien von hell bis dunkel angeordnet werden, wobei das [i] als der hellste Vokal und das [u] als der dunkelste angesehen werden können. Darüber hinaus wird bei der Klanganalyse der Begriff ›Klangfarbe‹ verwendet, jedoch zumeist ohne definitorische Strenge. Generell begreift man die Klangfarbe als ein Attribut eines Klanges, mit dessen Hilfe man zwei synchron präsente Töne mit gleicher Lautstärke und Tonhöhe unterscheiden kann. Sie wird durch sogenannte Formanten geprägt, d. h. durch resonanzartig verstärkte Frequenzbereiche von Teiltönen bei Stimmen (vor allem Gesangsstimmen) und Musikinstrumenten; Formanten sind also Resonanzen bestimmter Obertöne.46 Frequenzmessungen der gemittelten Formantlagen ergeben die folgende Abstufung, beginnend mit dem dunkelsten Vokal: [u – o – ɑ (für å) – a – ø (für ö) – y (für ü) – ɛ (für ä) – e – i]. Die Klangempfindung ließe sich mit zunehmender Frequenz folgendermaßen charakterisieren: sonor, voll, markant, näselnd, hell, brillant, spitz, scharf. (Der letzte scharfe Ton wird auch als ›Oberton-Glanz‹ bezeichnet.) Arnold Schönberg charakterisierte in seiner Harmonielehre die Klangfarbe als die »zweite Dimension« des Klangs und hat versucht, auf diesem Prinzip aufbauend, eine Syntax der Klangfarben zu erstellen.47 Das grundsätzliche Problem solcher textualistischen Klanganalysen besteht darin, dass sie nicht allein nur anhand des gedruckten bzw. geschriebenen oder handschriftlich aufgezeichneten Textes vorgenommen werden können, sondern die Wahrnehmbarkeit solcher Klangphänomene berücksichtigen müssen, da lyrische Gedichte ja nicht nur still gelesen und imaginiert, sondern vielmehr vorgetragen wurden und werden.48 Eine detaillierte Klanganalyse auch nur eines Kapitels von Dauthendeys Reiseversepos (die dann außerdem die Konsonanten einzubeziehen hätte) wäre bereits mit einem unangemessen großen Aufwand verbunden. Um aber doch 45 Ludwig: Arbeitsbuch Lyrikanalyse, S. 74–75. 46 Vgl. dazu Paul-Heinrich Mertens: Die Schumannschen Klangfarbengesetze und ihre Bedeutung für die Übertragung von Sprache und Musik, Frankfurt a. M.: Bochinsky 1975. Erich Schumann formulierte seine Klangfarbengesetze 1929. 47 Vgl. dazu Daniel Muzzulini: Genealogie der Klangfarbe, Bern: Lang 2006, insbes. S. 479. Schönberg spricht am Ende der Harmonielehre von der »Klangfarbenmelodie« als »eine[r] Zukunftsphantasie«, die er dadurch zu realisieren gedenkt, dass er die Instrumentation gezielt zur Gestaltung der Klangfarbenmelodie einsetzt und diese gegenüber der Tonhöhenmelodie aufwertet (vgl. Arnold Schönberg: Harmonielehre (1911), Wien: Universal Edition 1966, S. 503.) Historisch bemerkenswert ist, dass Schönbergs Harmonielehre fast zeitgleich mit Dauthendeys Reiseversepos erschien. 48 Vgl. Ludwig: Arbeitsbuch Lyrikanalyse, S. 96.

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zumindest eine Vorstellung von den verschiedenartigen intendierten Klangeffekten zu geben, seien im Folgenden einige Langverse für eine Analyse ausgewählt: zunächst zwei Langverse aus der Episode »Glocke und Schildkrötenteich im Tennoyitempel [eigentlich: Tenno¯ji-Tempel] in Osaka«: Wie wunderbar muß der Klang sein, denkt diese Glocke ihr Leben lang an die schönsten Augen und Lippen und Wangen, Die einst an ihrem Metall mit Blicken und Seufzern gehangen. Von der Glocke nicht weit ist unter einem Dach ein Steinbecken tief und breit.49

Betrachtet man ausschließlich die betonten Vokale, beginnend mit [i: – u – a: – u – a – ə – o – e – a – ø – au – i – a] usw., kann man einen fortlaufenden Wechsel von ansteigender, abschwellender und wieder ansteigender Klanghöhe feststellen. Setzt man dies graphisch um, erhält man eine Welle, welche die Schwingung der Glocke auf der Klangebene des Textes ›nachempfindet‹. Zu bemerken ist auch, wie sich in der zweiten Welle der volle Klang des Umlauts und Diphthongs [ø] bzw. [au] öffnet. Ebenso wichtig ist, zwischen Kurz- und Langvokalen zu differenzieren, was keineswegs identisch ist mit der Unterscheidung zwischen betont und unbetont und in der graphischen Darstellung aus der Sinuskurve einen durch Dehnung und Raffung charakterisierten Linienverlauf macht. Ein weiterer beachtenswerter Klangeffekt ist die Abtönungsreihe. Die bereits zitierte Passage »Der Klang der Totenkammer« ist ein sprechendes Beispiel für eine solche Klangfolge, die mit hellen Vokalen ansetzt und sich dann in ihrer Klangfarbe langsam absenkt: Auch tief im Innern der Pyramide ward meinem Herzen kein dauernder Friede, sondern ein schauernd Erinnern.50

Die Vokalreihe beginnt mit einem Auftakt und hält sich dann eine Weile auf dieser Höhe mit dem hellen [i], bevor sich die Vokale langsam absenken, um durch das Reimwort »Friede« erneut angehoben zu werden. Das helle [i:] ist hier aber nicht nur klanglich an das [i:] von »Pyramide« gebunden, sondern auch semantisch, sofern die Pyramide eine Ruhestätte für die verstorbenen Pharaonen ist. Die letzten beiden betonten Laute der Verszeile ([au] und [i]) wirken wie ein ansteigender Nachklang, der sich dem Ausgangston anzunähern versucht oder eine »Erinnerung« an ihn aufbewahrt. Die zweite Verszeile wird durch den Binnenreim und dessen Echo am Zeilenende strukturiert: Beim Schallen und Hallen der Schritte, die von den Mauern fallen, War da ein Klang, wie ein Sang im Gang einer Muschel.51 49 Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 369; vgl. GW 5, S. 371. 50 Ebd., S. 22; GW 5, S. 24. 51 Ebd.

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Die markante Wiederholung des Vokals [a] realisiert in der Verbindung mit dem doppelten ›l‹ das Schallen und Hallen klanglich und setzt sich in den Binnenreimen auf ›-ang‹ (vgl. auch Unzers ›kang‹) fort. Der dadurch bewirkte anhaltende konsonantische Gleichklang assoziiert den langen Weg ins Innere der Pyramide, ohne dass man zunächst abzusteigen scheint. Der dunkle Vokal [u] geht dann plötzlich in eine klangliche Tiefe über, während das Wort »Muschel«, in dem ebenfalls die Konsonantenverbindung dominiert, auch semantisch eine räumliche Tiefe suggeriert – Dauthendey dachte offenbar an die Ohrmuschel, was erklären würde, weshalb er die Wörter »Klang« und »Sang« in den »Gang« der Muschel übergehen lässt. In der vierten Verszeile wird der Binnenreim durch weit voneinander entfernte Diphthonge realisiert: Und bei dem Läuten und Klingen in der Pyramide Mitte, umfingen mich Liebesgedanken mit dem seltsamen Bedeuten…52

Der Rückbezug auf das Wort »Pyramide« hat darüber hinaus den Zweck, die Tonhöhe wieder zu heben. Eine besondere Rolle kommt in der fünften Verszeile dem Wort »Tod« mit seinem langen, dunklen Vokal [o] zu, angekündigt durch das kurze [o] der Partikel »noch«, die in der Zeile darauf wiederholt wird: Daß Lieben und Sehnen noch in das Steinherz des Todes dringen und sich nicht scheuten Und unter dem Wüstensand sich ihres Atems noch freuten.53

In der darauffolgenden Zeile wird dann – parallel geschaltet durch die Figur der Anapher – auch semantisch das Hinabsteigen und Herabsinken vollzogen: Daß Liebende, beim Hinuntersteigen zu den schwanken Reichen der Leichen nicht dem Sterben versanken;54

Der letzte erläuternde Nebensatz greift schließlich den Gedanken der musikalischen Resonanz auf; die Liebesgedanken verwandeln sich in der Tiefe zu den Klängen eines Liebeslieds: »Daß sie noch unter der Erden zu einer Geige werden«, und als »Geigenlied« unsichtbar in der räumlichen Tiefe der Muschel (klanglich markiert durch den dunklen Vokal [o]) nachhallen: Die, im Geschweige der Totenkammer, mit Sang aus den Steinen drang; Daß die Geliebte, wie ein Geigenlied unsichtbar, auch unter den Toten noch um mich war.55

52 53 54 55

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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Der Klang ermöglicht zudem eine tonale Verbindung (von »unsichtbar« zu »um mich war«), die den ungleichen Rhythmus im Vers überspielt. Eine besondere Bedeutung kommt in Dauthendeys Reiseversepos dem Langvers zu, der gewöhnlich drei oder vier Zeilen umfasst. Eine solche prägnante und das Epos dominierende Binnenreimstruktur fordert aber den Leser geradezu dazu heraus, den Langvers probehalber in ihm gewohnte Kurzverse mit Endreimen umzuschreiben, allein schon, um die Qualität zu überprüfen, oder aber auch aus sprachspielerischen Gründen. Das sähe dann für den ersten Langvers des Abschnitts »Zwischen China und Japan« so aus: Wenn ich vorwärts sah, lag Japan wie ein Gespräch nur da, nur als erzählte Worte, die ich in der Erinnerung schwach hörte, wie durch das Schlüsselloch einer Pforte.56

Vermittels einer solchen Umstellungsprobe werden die Binnenreime in Endreime umgewandelt, so dass wir das Reimschema aabcb erhalten, in dem einem Paarreim ein umschlingender Reim folgt. Tatsächlich lassen sich, wenn man das Experiment weiter fortführt, noch andere Paarreime finden, wie z. B. in der folgenden Passage: Und ein paar große Vögel zogen Kreise; das war der erste leise Anblick von Japan nach der langen Reise. – Mit schwarzer Tusche auf weißes Silber gemalt, erschien der Schwarzkiefer Gestalt, / Und die Vögel, die, ohne zu schreien, im Nebel aus- und einflogen und ihr Spiegelbild dunkel im Wasser nachzogen, erschienen auf der Nebelheide, / Wie japanische Malereien auf Porzellan oder Seide. Und wie auf weißem Papier, bemalte sich mehr und mehr die dunkle Inselwelt hier. /57

Durch den Langvers wird der Reim gleichsam in den Text versenkt. Er bleibt aber dennoch weiterhin wahrnehmbar und wird sogar, wenn Rhythmus und Interpunktion Pausen markieren, die genau dem Reim entsprechen, intensiviert (siehe Umstellungsprobe 1), während ein unregelmäßiger Rhythmus die Klangwirkung eher mindert (siehe Umstellungsprobe 2).

56 Ebd., S. 331; GW 5, S. 333. 57 Ebd., S. 335; GW 5, S. 337. Die drei Virgeln markieren das Ende des jeweiligen Langverses bei Dauthendey.

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Transkulturelle Resonanzen

Die Binnenreime, die sich hier als in Langverse eingelagerte Endreime erweisen, generieren einen Klangteppich, der dem Versepos eine Art tonalen Hintergrund verleiht und dem Werk damit eine räumliche Tiefe gibt. Das wird besonders in der eingangs zitierten Episode »Der Klang der Totenkammer« deutlich, in der die Schritte in der altägyptischen Grabkammer gleichsam einen klanglichen Widerhall erzeugen, der den Eindruck von Räumlichkeit evoziert. Indem Dauthendey dann diese Klangwirkung mit dem Motiv der Sehnsucht kombiniert, füllt er den assoziierten Klangraum signifikativ auf und schafft auf diese Weise einen eigentümlichen Resonanzraum von Klängen und Affekten.

Der Klang als Körpererlebnis Die bisherige Analyse der Reime und Assonanzen ist an bestimmten Stellen dazu übergegangen, Visualisierungen nahezulegen, die man als ›Klangbilder‹ bezeichnen könnte, so z. B. eine leicht abfallende Gerade, die den langsamen Abstieg in die Totenkammer der Cheopspyramide versinnbildlicht, klanglich indiziert durch eine Abtönungsreihe, oder die Sinuskurve als Klangwelle der Glocke des Tenno¯ji-Tempels in Osaka. Klangbilder gehören zu den in der Literaturwissenschaft eher selten erforschten Erscheinungen. Mit der Untersuchung von Wahrnehmungstheorien an den Schnittstellen von Wissenschaft, Ästhetik und Literatur zur Zeit der Spätaufklärung sind sie jedoch wieder in den Gesichtskreis der Forschung gerückt. Caroline Welsh befasst sich in ihrem Buch Hirnhöhlenpoetiken ausführlich mit dem Phänomen der Klangbilder und ergründet den Zusammenhang zwischen Sinnesphysiologie, Ästhetik und Literatur in der Zeit um 1800, wobei sie hauptsächlich auf das physiologische Modell von Leonhard Euler, auf Samuel Thomas Soemmerrings Theorie von Klangfiguren in den Hirnhöhlen und auf Johann Wilhelm Ritters Vorstellung einer die Klangfiguren lesenden Seele zurückgreift. Die frühromantische Autonomieästhetik versteht sie als Reaktion auf die subjekttheoretischen Implikationen des anhand von sinnesphysiologischen Modellen entwickelten Resonanzmodells. Den Begriff ›Hirnhöhlenpoetik‹ bezieht Welsh auf eine Literatur, »die über die (utopische) Möglichkeit einer Verwandlung von Schrift in vor dem inneren Sinn des Lesers ablaufende Ton-Bilder als Produkt der individuellen Einbildungskraft des Lesers reflektierte, indem sie die wahrnehmungstheoretischen Bedingungen dieser Möglichkeit zugleich selbstreflexiv zum Inhalt ihrer poetischen Darstellung macht«.58 Für Novalis

58 Caroline Welsh: Hirnhöhlenpoetiken. Theorien zur Wahrnehmung in Wissenschaft, Ästhetik und Literatur um 1800, Freiburg: Rombach 2003, S. 203–204.

Klangexperimente um 1900. Dauthendeys poetische Klangiterationen

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beispielsweise zählten die Klangfiguren zu jener »Chiffrenschrift im Innern des Menschen«,59 in der sich die äußere Natur im Inneren des Subjekts manifestiert. Von der praktischen Seite und das Körperliche betonend, nähert sich Vilma Mönckeberg-Kollmar in ihrem 1946 publizierten Buch Der Klangleib der Dichtung dem Klangbild. Eigentlich handelt es sich um einen längeren Essay, dem im Anhang zehn Gedichte und Klangbilder hinzugefügt worden sind. Die Sprachpädagogin erörtert dort, unter welchen Voraussetzungen Dichtung als Körpererlebnis wahrgenommen werden kann. Für sie ist Dichtung über die sprachliche Form und den Gehalt hinaus Mittlerin zwischen der Körperlichkeit sowohl des Dichters als auch des Lesers und darüber hinaus selbst »Klangleib«. Diese Mittlerfunktion erfordere ein ständiges Übersetzen zwischen einem Innen (der Psyche, den Affekten) und einem Außen (dem Gedicht): Der Dichter übertrage beim Dichten die »innerlich erlebte Klanggestalt in ein sichtbares optisches Bild«, heißt es bei Mönckeberg. Wenn wir ein Gedicht lesen, versuchen wir, mittels äußerer Zeichen »das innere Leben des Gedichts [zu] erschließen«.60 Mönckeberg, die in den 1920er Jahren an der Universität Hamburg Sprechtechnik und Vortragskunst unterrichtete, bettet ihre Überlegungen in einen resonanzästhetischen Kontext ein und bezieht sich, ohne dies jedoch zu reflektieren, auf sinnesphysiologische Modelle der Spätaufklärung: Die innerlich erlebte Klanggestalt übersetzt der Dichter ihr zufolge in die sprachliche Form des Gedichts, die sich in einem optischen Bild präsentiert und nun einer Rückübersetzung bedarf. Die äußeren Zeichen des Gedichts erzeugen beim Leser bestimmte Reaktionen, er beginnt »mitzuschwingen«, d. h. »er erlebt die ›Schwingung‹ und gerät in die ›Schwingung‹, die den Dichter bewegte, die ihn in ›Schwung‹ brachte, als das Erlebnis in ihm ›nachschwang‹«.61 Die Schwingung ist laut Mönckeberg »der Ausgangspunkt jedes musischen Erlebens – wohl jeder Art Erlebens überhaupt«: »Die innere Schwingung geht in jede äußere Handlung des Menschen ein, in seinen Gang, in seine Sprache, in seine Schrift.«62 Eine ähnliche Vorstellung liegt Carl Orffs Schulwerk zugrunde und seiner Idee von einer »elementaren Musik«, die nie Musik allein ist, sondern mit Bewegung, Tanz und Sprache verbunden.63 Was Orff mit seiner musikpädagogischen Konzeption bezweckte, war eine Animation durch Noten. Aufschlussreich ist die Bemerkung Mönckebergs, dass das optische Bild, in das der Dichter die innerlich erlebte Klanggestalt übersetze, gewissermaßen eine 59 60 61 62 63

Ebd., S. 205. Vilma Mönckeberg: Der Klangleib der Dichtung, Hamburg: Claassen & Goverts 1946, S. 9. Ebd., S. 9–10. Ebd., S. 10. Vgl. Carl Orff/Gunhild Keetman: Orff-Schulwerk. Elementare Musikübung, Mainz: Schott 1932–35; Werner Thomas (Hg): Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. III: Schulwerk. Elementare Musik, Tutzing: Schneider 1976.

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Transkulturelle Resonanzen

Partitur für den Sprecher sei und »als eine Art Notenschrift für innere Klangordnungen«64 entziffert werden müsse. Der Begriff ›Notenschrift‹ impliziert hier eigene Schriftzeichen (oder Bewegungslinien), etwa vergleichbar den Neumen, die seit dem 9. Jahrhundert zur Notation Gregorianischer Gesänge verwendet wurden. Für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung würde das bedeuten, ein Gedicht als ein Schreibbild zu verstehen und aus Rhythmus, Metrum, Melodie sowie anhand visueller Markierungen ein Klangbild zu (re)konstruieren und in Linien festzuhalten. Problematisch an Mönckebergs Ansatz ist jedoch, dass sie ganz unreflektiert Begriffe wie ›Klang‹, ›Rhythmus‹, ›Melodie‹ und ›Dynamik‹ verwendet, die unspezifisch bleiben in Hinblick darauf, was für Bewegungslinien sie genau innerhalb eines Klangbildes indizieren.65 Der Gedanke einer innerlich erlebten Klanggestalt, die sich in einem äußeren optischen Bild ausdrückt, ist – trotz der Einwände gegen Mönckebergs Begrifflichkeit und trotz mangelnder Methodik – auch für die Analyse des Reiseepos’ Die geflügelte Erde nicht uninteressant. Allerdings orientiert sich Dauthendey, wie in der folgenden Passage deutlich wird, mehr am Sichtbaren der Welt, die der Künstler bzw. Dichter einzufangen versucht, und betrachtet das Verhältnis von Wirklichkeit und der künstlerischen Gestaltung von Wirklichkeit : Und wenn ich an japanische Bilder dachte, mußte ich mir gestehen, daß auch die japanischen Künstler und Dichter mehr Farben, als die Wirklichkeit täglich hat, sehen. Denn der Künstler wird ja nie am Leben satt und muß mit seiner großen Sehnsucht vergehen, darf er nicht zeigen, Was seine Augen hinter den Dingen an neuen Himmeln und neuen Höllen einfingen, darf er nicht das zweite Gesicht sich und den andern zur Welt bringen […].66

Dauthendey nennt diese inneren Bilder, die sich der Künstler von der äußeren Welt macht (oder die er von ihr hat), um sie anschließend ins Werk zu setzen, »Unwirklichkeitsbilder«: Jene Unwirklichkeitsbilder, die mit ihm stündlich überwältigend ringen, die ihn zum Singen und Malen zwingen, Die ihn mit ihrer Sehnsucht umbringen, läßt er nicht sein Herz mit der Unwirklichkeit schwingen. –67

64 Mönckeberg: Der Klangleib der Dichtung, S. 17. 65 Vgl. Christine Fischer: Musik und Dichtung. Das musikalische Element in der Lyrik Pasternaks, München: Sagner 1998, S. 11. Hinzu kommt, dass die graphischen Klangbilder im Anhang zu Mönckebergs Buch nur sehr schwer nachzuvollziehen sind. Es bleibt weitgehend unklar, was genau eine Vertikale oder eine seitliche Stoßbewegung im Klangbild begründet, wie es zu einer ansteigenden Spirale kommt und wie sich ein doppelt geschwungenes Gebilde erklärt. 66 Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 355; GW 5, S. 357. Hierbei dachte Dauthendey wohl an die ihm bekannten japanischen Farbholzschnitte. 67 Ebd.

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Die klangvollen Langverse können als ein Indiz dafür aufgefasst werden, wie stark diese »Unwirklichkeitsbilder« im Künstler präsent sind: »Der Künstler muß den Unwirklichkeitsbildern frönen, die mit ihm reden, lachen, weinen, stöhnen, die in der Künstlerseele kommen und gehen«,68 denn nur im Kunstwerk können sie sich mit der Wirklichkeit versöhnen, wenn der Künstler versuche, seine Einsamkeit und Schmerzen in »sichtbare Edelsteine«69 umzuwandeln. Ihm komme die Aufgabe zu, ein »zweite[s] Gesicht«, d. h. eine ästhetische Ansicht von der Welt hervorzubringen, indem er »sein Herz mit der Unwirklichkeit schwingen« lässt und die inneren »Unwirklichkeitsbilder« in die äußere Gestalt eines Kunstwerkes verwandelt.70 Während bei Mönckeberg die Klangresonanz vom Ohr in die Hand übergeht, wobei »der unwillkürlichen inneren Feinmotorik bewußt die äußere Grobmotorik hinzugefügt«71 werde, stellt sich für Dauthendey das Problem, die im Innern des Dichters vibrierenden »Unwirklichkeitsbilder« in eine lyrische Prosasprache umzusetzen, die ›lyrischer‹ sein muss als die gewöhnliche Sprache, um die Intensität dieser Unwirklichkeitsbilder auszudrücken. Dichtung, wie sie Dauthendey im Reiseversepos Die geflügelte Erde realisiert, ist gefiltert durch eine ästhetische Wahrnehmung in Bildern, die nicht Abbild des Wirklichen sind, sondern eine Ins-Werk-Setzung von »Unwirklichkeitsbildern«, die ihrerseits eine besondere lyrische Form erhalten, und insofern, als diese Bilder in eine ihnen adäquate Langversform mit auffällig klangreichen Binnenreimen gebracht werden, handelt es sich im Endeffekt gewissermaßen um klingende Unwirklichkeitsbilder: Wie wunderbar muß der Klang sein, denkt diese Glocke ihr Leben lang an die schönsten Augen und Lippen und Wangen, Die einst an ihrem Metall mit Blicken und Seufzern gehangen. Von der Glocke nicht weit ist unter einem Dach ein Steinbecken tief und breit. Ein Wasserbach springt aus dem Maul einer steinernen Schildkröte schnell in den Trog; ungezählt schwammen feine Papierstreifen drinnen dem Wasserstrom nach, Und von mancher Hand ein neuer Zettel hin zum Wasser flog über den Brunnenrand. Die gelben, langen Papierstreifen, die da im Trog fort trieben, Waren alle beschrieben; es sind Briefe, Nachrichten an die Toten, Bitten mit Gedichten an die gestorbenen Lieben, Welche untröstliche Lebende an das Totenreich richten. – O Sehnsucht, wie du rings um die Erde dir gleich bleibst! 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Als solche ›Unwirklichkeitsbilder‹ wären vielleicht auch Hanne Darbovens Visualisierungen von Dauthendeys Reiseversepos zu verstehen; vgl. Hanne Darboven: Die geflügelte Erde. Requiem. Deichtorhallen Hamburg, 22. Oktober bis 24. November 1991, Hamburg: Ed. Cantz 1991. 71 Mönckeberg: Der Klangleib der Dichtung, S. 58.

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Transkulturelle Resonanzen

Es ist dir kein Weg zu unmöglich, auch nicht, wenn du gläubig mit Tinte an Tote schreibst.72

Die resonanzästhetische Übertragung eines Bildes oder in diesem Fall sogar eines Klangbildes in Sprache wird an vielen Stellen des Reiseversepos offenbar. Hier ist es das Bild der Glocke, die den Blick des Betrachters auf sich zieht und bei ihm Seufzer hervorruft, deren Klang sich fortsetzt in dem Wasserschwall eines Brunnens, der sich in ein großes Becken ergießt, in dem Papierstreifen mit den aufgeschriebenen Wünschen der Besucher, also deren Unwirklichkeitsbildern, schwimmen. In Japan, so legt es Dauthendey nahe, ist die Verwandlung der Unwirklichkeitsbilder in Gedichte nicht auf Künstler beschränkt, sondern sie gehört zum alltäglich praktizierten, religiösen Ritual, das in der japanischen Kultur verwurzelt ist und für den deutschen Dichter von großer Anziehungskraft gewesen sein muss. Am Ende der Reise, wenn schließlich von der Rückkehr nach Franken berichtet wird, ertönen die Abendglocken und bringen noch einmal ein synästhetisches Bild mit poetischer Klangresonanz hervor, so, als habe der Dichter den Klang der Unwirklichkeitsbilder mit nach Hause genommen: Zur Stunde, wenn die Abendglocken den Wein im Becher anrühren und alle Dächer in der Runde die Glocken wie Pulsschläge spüren, Dann eilen die Lieder herbei über der Erde gehügelte Ränder, dann eilen zu dir, wie Vögel, der Erde geflügelte Länder.73

Im abschließenden Bild werden die Klangfiguren in die Wortbedeutungen aufgenommen: Die von den Glocken verursachten Klangwellen im Wein finden ihre Entsprechung im Bild der von ihnen ebenso betroffenen »Dächer in der Runde« – was sich reimt auf »Stunde« –, und schließlich findet der Klang der Glocke seine Resonanz im Pulsschlag des Menschen. Als Klangwelle breitet sich das Tönen der Abendglocken in der Landschaft aus und setzt sich fort in den Liedern, die über »der Erde gehügelte Ränder« herbeieilen, und sich durch den Reim in »geflügelte Länder« verwandeln, was nichts anderes ist, als der ultimative sprachliche Ausdruck für Dauthendeys »Unwirklichkeitsbild« seiner ganzen Reise.

72 Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 369; GW 5, S. 371. 73 Ebd., S. 540; GW 5, S. 542.

Affektive Resonanzräume. Dauthendeys ästhetisiertes Japan

12.

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Affektive Resonanzräume. Dauthendeys ästhetisiertes Japan »Schreibkunst und Dichtkunst erreichen dieselbe Grenze des Möglichen, die man aus den Landschaftszeichnungen der Japaner kennt: Die Verständigung geht so weit, daß durch ein fast absolutes Weglassen die körperlichen Umrisse verschwinden und dafür das Undarstellbare: Licht, Raum, Dunst, Ferne darstellbar wird.« (Max Kommerell) 74

Das Bild hinter dem Bild Im gerade behandelten Reiseversepos, aber auch in seinen Briefen betont Dauthendey immer wieder, wie sehr sein Japan-Bild durch die eigenen Kenntnisse von der japanischen Kunst vorgeprägt worden sei.75 Dieser Umstand legt nahe, dass er sich bei der poetischen Gestaltung seiner Reisebeschreibung bestimmter Elemente der japanischen Ästhetik bedient hat, was sich schon an der Schilderung seiner Ankunft in Japan (»Erste japanische Eindrücke in Nagasaki«) aufzeigen lässt: Wir näherten uns neuem Land. Der Himmel, der sonst täglich, gleichwie ein Spiegel, klar gewaschen stand, Er musizierte endlos jetzt mit Regen leise an des Schiffes Wand, und ich empfand des neuen Landes Gruß mit Wohlgenuß auf meiner ausgestreckten Hand.76

Noch ist die japanische Inselwelt den Blicken entzogen, eingehüllt in Regendunst und Nebel. Die Schiffswand, die hier den Betrachter vom Betrachteten trennt, dämpft zugleich die Wahrnehmung. Wie das Land, das im Morgennebel verborgen liegt, ist der Wolken verhangene Himmel für das Auge nicht sichtbar und lediglich durch den musikalischen Klang der Regentropfen auf der Schiffswand vernehmbar. Auf diese Weise wird ein Bild hinter dem Sichtbaren evoziert, das ebenso unzugänglich wie geheimnisvoll erscheint und im Leser eine bestimmte Erwartungshaltung erzeugt. Nur zögerlich löst sich der Nebel auf: Es war zur frühesten Morgenstunde; allmählich erst hob sich der Nebel über Inseln in der Runde. Vom Nebel wie zerstückt erschienen Schwarzkiefern, weitgeästet und tief in sich gebückt. 74 Max Kommerell: »Dame Dichterin«, in: ders.: Dichterische Welterfahrung, S. 104. 75 Vgl. z. B. die bereits zitierte Passage, in der das Kreisen der Vögel mit »japanische[n] Malereien auf Porzellan oder Seide / Und wie auf weißem Papier« verglichen wurde; Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 335; GW 5, S. 337. 76 Ebd., S. 335, GW 5, S. 337.

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Transkulturelle Resonanzen

Und ein paar große Vögel zogen Kreise; das war der erste leise Anblick von Japan nach der langen Reise.77

Der erste Eindruck von Japan mit dem Bild knorriger Schwarzkiefern im Nebel, das zweifellos dem kulturellen Gedächtnis Japans entstammt, assoziiert etwas Ursprüngliches und Unberührtes. Auffällig ist, dass sich alles leise vollzieht, fast klanglos. Eine ästhetische Modalität, die dieser Stimmung nahekommt, wird im Japanischen mit dem Wort ›yu¯gen‹ (chin. yu-xuan) bezeichnet. Dieser Begriff ist schwer zu übersetzen; häufig werden Ausdrücke benutzt wie ›mystische Tiefe‹ oder das ›Dunkel-Mysteriöse‹. Nach der Einführung dieses ursprünglich aus dem Chinesischen stammenden Begriffs in die japanische Ästhetik wurde er während der Muromachi-Zeit (1336–1573) in der Bedeutung einer ›stillen und verborgenen Schönheit‹ gebraucht.78 Dombrády und Schneider bemerken in ihrem Beitrag für das Handbuch für Ostasiatische Literaturen, dass yu¯gen »zu den schwierigsten Wortkomplexen« gehöre und »im ostasiatischen Raum auf eine etwa zweitausendjährige Geschichte zurückblicken k[önne]«.79 Das Wort besteht aus zwei Zeichen 幽玄, wobei der erste Teil, gesprochen yu¯, soviel wie ›sinnlich kaum fassbar‹, ›nebelhaft‹ oder ›undurchsichtig‹ bedeutet80 und der zweite (gen) auf ein ›rotgetöntes Tiefschwarz‹ verweist, der Farbe des als undurchdringlich geltenden Himmel-

77 Ebd. 78 Die erste Verwendung von yu¯gen lässt sich in dem buddhistischen Werk Isshin-kongo¯-kaitaihiketsu nachweisen, das auf Dengyo¯ Daishi (767–822) zurückgeht (vgl. Asaji Nose: Yu¯genron, Tokyo: Kawade Shobo 1944). In der japanischen Poesie und Poetik finden sich sehr differente Auffassungen von yu¯gen, zunächst im chinesischen Vorwort (mana-jo) der ersten kaiserlichen Anthologie Kokinshu¯ (905) in der Bedeutung einer Art von »unergründlicher Tiefe«, dann bei Tadamine (868–965) als »eine stille Sehnsucht nach etwas unerreichbar Fernem« und bei Mototoshi (1055?-1142) als »eine vage geheimnisvolle Stimmung«. Für diese drei Dichter entsprach yu¯gen in etwa dem Sinn von yojo¯ als »eine Art über die Worte hinausreichenden Gefühls«. Shunzei (1114–1204) verstand yu¯gen als »eine ins Weite reichende schwebende Stimmung«, Kamo no Cho¯mei (1154–1216) als »ein in die Sphäre einer besonderen, geheimnisvollen Schönheit gehobenes yojo¯« und Teika schließlich als »Stil geheimnisvollen Nachklingens«. Shinkei (1406–1475) wiederum erblickte in yu¯gen »eine nur vage angedeutete Atmosphäre« und »das Ideal der farblosen Stille« bzw. eine »kühle, zarte, farblose, suggestive Schlichtheit«. Der Begriff wurde schließlich von Zeami Motokiyo (1363– 1443) auf das No¯-Theater übertragen und hat dort eine enorme ästhetische Wirkung im Sinne einer »inneren Anmut« und »Grazie« entfaltet. (Vgl. dazu Gésa S. Dombrády/Roland Schneider: »Japanische Poetik und kommentatorische Literaturkritik«, in: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Ostasiatische Literaturen, hg. von Günther Debon, Wiesbaden: Aula 1984, S. 371–372.) 79 Ebd., S. 371. 80 Nach dem »Großen Wörterbuch der japanischen Landessprache«, jap. Nihon kokugo daijiten (Tokyo: Sho¯gakkan 1979–81, Bd. 13, S. 320) bedeutet yu¯ ›schwach, undeutlich, tiefgründig‹.

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raumes. In yu¯gen vereinigen sich beide Bedeutungsinhalte zu einer »Amalgamierung von ›unfaßbarer Unnahbarkeit‹ und ›geheimnisvollem Dunkel‹«.81 Das yu¯gen wird in der japanischen Ästhetik als eine Art Stimmung oder Ausstrahlung angesehen, die im Ausgesprochenen nicht wirklich aufscheint und gewissermaßen durch den Ausdruck hindurchschimmert. Kamo no Cho¯mei beschreibt es als »lingering emotion not apparent in the diction, a mood not visible in the configuration of the verse« und vergleicht es mit einer Ansicht, die, weil verhangen, die klare Anschauung weit übertrifft: When looking at autumn mountains through mist, the view may be indistinct yet have great depth. Although few autumn leaves may be visible through the mist, it is alluring. The limitless vista created in imagination far surpasses anything one can see more clearly.82

In der Malerei werden, um das Stimmungshafte und Atmosphärische des yu¯gen auszudrücken, häufig Nebel und Wolken verwendet, beispielsweise im Zyklus der Acht Ansichten, wenn Nebeldunst einen Flusslauf umschwebt oder Wolken einen Berg einhüllen. Auch Zeami verbindet die Empfindung des yu¯gen mit ganz spezifischen Landschaftsdarstellungen: To watch the sun sink behind a flower clad hill. To wander on in a huge forest without thought of return. To stand upon the shore and gaze after a boat that disappears behind distant islands. To contemplate the flight of wild geese seen and lost among the clouds. And, subtle shadows of bamboo on bamboo.83

Der Anblick der aus dem Nebel auftauchenden japanischen Insel Kyu¯shu¯ ließe sich in diese Aufzählung gut einreihen. In der zitierten Passage »Erste japanische Eindrücke in Nagasaki« wird eine Landschaft geschildert, die in ihrer äußerlichen Gestalt unnahbar und geheimnisvoll wirkt. Unterstützt wird diese Empfindung durch bestimmte Details, wie z. B. die geräuschlos am Himmel kreisenden Vögel. Eine wichtige Funktion kommt dabei der atmosphärischen Synästhesie zu (»der leise Anblick«), die mit dem Bild der Vögel, die »ohne zu schreien« das Schiff überfliegen, vorbereitet wird. Besondere Aufmerksamkeit verdienen ebenfalls die weitgeästeten, tief in sich gebückten Schwarzkiefern, in denen sich so etwas wie eine ›unergründliche Tiefe‹ ausdrückt. Ihre äußerliche Gestalt weist über sich hinaus und evoziert ein äs81 Dombrády/Schneider: Japanische Poetik und kommentatorische Literaturkritik, S. 372. 82 Kamo no Cho¯mei zit. n. Haga Ko¯shiro¯: »The Wabi Aesthetic through the ages«, in: H. Paul Varley, Isao Kumakura (Hg.): Tea in Japan. Essays on the history of chanoyu, Honolulu: Univ. of Hawaii Press 1989, S. 204. (Das japanische Original ist: Kamo no Cho¯mei: »Mumyo¯sho¯«, in: Hisamatsu Shin’ichi und Minoru Nishio (Hg.): Karonshu¯, No¯gakuronshu¯, Tokyo: Iwanami Shoten 1961, S. 224.) 83 Zeami zit. n. Alan Watts: The Book. On the Taboo Against Knowing who you are, New York: Vintage 1972, S. 30.

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thetisches Bild Japans: Beim Anblick der Schwarzkiefer wird diese sofort zu einem künstlerischen Motiv, das dem reisenden Dichter von Malereien und Holzschnitten bereits bekannt war: Mit schwarzer Tusche auf weißes Silber gemalt, erschien der Schwarzkiefern Gestalt, Und die Vögel, die, ohne zu schreien, im Nebel aus- und einflogen und ihr Spiegelbild dunkel im Wasser nachzogen, erschienen auf der Nebelheide, Wie japanische Malereien auf Porzellan oder Seide. Und wie auf weißem Papier, bemalte sich mehr und mehr die dunkle Inselwelt im Nebel hier.84

Dauthendey evoziert ein Bild, das sich von selbst zu zeichnen scheint und in dem verschiedene Perzeptionsweisen zusammenkommen: eine durch die Kunst ästhetisch vorgeprägte Wahrnehmung, dann die Erlebnisse des Reisenden in Japan und endlich die Auseinandersetzung mit Vorurteilen über das Land und seine Bewohner sowie mit den eigenen Erwartungen. Das alles impliziert den Gedanken einer geschichteten Wahrnehmung, wobei das Wort ›Schichtung‹ auch so zu verstehen ist, als ob man Farben auf einen Malgrund aufträgt, wie bei der Lasur, nach und nach und übereinander geschichtet.

Nuancierte Wahrnehmung Statt von »geeichter Wahrnehmung«, worunter nach Christiane Günther das »Wiedererkennen« von exotischen Topoi in der konkreten Fremde zu verstehen ist,85 müsste in diesem Zusammenhang eher von geschichteter oder besser noch, von nuancierter Wahrnehmung gesprochen werden. Die »geeichte Wahrnehmung« bildet lediglich einen Aspekt in der weitaus komplexeren Wahrnehmungsstruktur, wie man sie in Dauthendeys Reiseversepos erkennen kann. Außerdem sollte nicht übersehen werden, dass Dauthendey eine Reihe von Stereotypen demontiert, wie z. B. das den Japanern nachgesagte Lächeln und die von den japanischen Holzschnitten her bekannte Farbenpracht.86 Gerade an 84 Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 335; GW 5, S. 337. 85 Christiane C. Günther: Aufbruch nach Asien. Kulturelle Fremde in der deutschen Literatur um 1900, München: Iudicium 1988, S. 31. Günther stellt am Beispiel von Dauthendeys ersten Eindrücken von China dar, wie sich seine Wahrnehmung im vorgeprägten Rahmen chinesischer Rollbilder und Literatur abspielt (ebd., S. 32) und hebt an seiner Japan-Darstellung insbesondere den stereotyp wiederkehrenden Topos des »Zwergenlands« hervor (ebd., S. 38). 86 Das erste Beispiel ist bereits im vorangegangenen Kapitel im Zusammenhang mit den »Unwirklichkeitsbildern«, welche die wirkliche Farbenpracht des japanischen Lebens einfangen, angesprochen worden (vgl. Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 355; GW 5, S. 357). Ein anderes Beispiel für eine Demontage von Stereotypen ist das Gegen-Bild, das Dauthendey in der Episode »In der kaiserlichen Dschiudschitsu-Schule in Kioto« entwirft und das in dem Kontrast zwischen den zierlichen Gärten, der Blumenbewunderung und Papierfenster einerseits und den »kampfheulenden«, »adeligen Frauen, die Hände um Speere geballt,« an-

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diesen Beispielen ließe sich veranschaulichen, wie der Dichter gleichsam durch das Bekannte hindurch auf ein dahinterliegendes, tiefgründigeres Bild verweist, welches er als das Ergebnis seiner eigenen Erfahrung ausgibt und dichterisch ausarbeitet, um einen ästhetischen Wahrnehmungsraum zu öffnen, in dem kulturell differente Perzeptionsweisen oder Sinnlichkeiten vermittelt werden können.87 Mit seinen Reflexionen über das japanische Lächeln antwortet Dauthendey auf ein weitläufiges Klischee, wie es u. a. von Franz Blei kolportiert wurde.88 Seine Reise war zwar, wie aus der folgenden Passage zu entnehmen ist, gleichzeitig eine Suche nach bekannten exotischen Topoi; sie impliziert aber nicht notwendigerweise deren Wiederfinden: Ich suchte in Japan von der ersten Stunde an das Lächeln, das wir an den Japanern loben. Ich suchte vom ersten bis letzten Tag, aber mir scheint, Das Lächeln hat er heut daheim nur für sein Haus noch aufgehoben. Das Lächeln heut nicht leicht mehr auf der Straße lag. Der Chinese dagegen lächelt ungebunden und liebt, sich lächelnd stolz durch die Straßen zu bewegen, strotzend vor Ahnenkraft, wie ein Baum vor Holz. Aber aus dem Japaner strahlt ein unsichtbares Lächeln, da[s] sich wie die reine Luft am Morgen ihren Weg schafft, Aber die weiß, daß ihr Duft unterm Mittag verstaubt unter Arbeitssorgen. Die Seelenaugen der Japaner stehlen sich zu den zarten Blumenfiguren des Feldes, zu den

dererseits gipfelt. Solche »kämpfenden, schwarzmaskierten Frauen«, die »Mut und Dolchmesser« zeigten (gemeint sind die legendären Ninja) und »die gern dem Landesfeind das Herzblut tranken«, widersprechen gänzlich dem gängigen Bild des niedlichen Teemädchens oder der puppenhaft wirkenden Geisha, wie man es in der deutschen Vorstellung von Japan gewohnt war. Dauthendey pointiert seine eindrucksvolle Inszenierung mit dem Satz: »Seit diesem Frauengefecht hat mich vor Japan ein Grauen erschreckt, / Als hätt’ ich ein neues Liebesgeschlecht auf einem fremden Stern entdeckt.« (Ebd., S. 416; GW 5, S. 418) 87 Diese These deckt sich im Wesentlichen mit der von Ulrike Stamm, die diesen Sachverhalt zwar nur beiläufig behandelt, aber pointiert in dem Satz zum Ausdruck bringt: »Obwohl Dauthendey bekannte Stereotypen reproduziert, deutet er sie gleichzeitig um und entdeckt so in ihnen eine andere Welt.« (Stamm: »Die ›Schrift der Natur‹ in Max Dauthendeys Novellen Die acht Gesichter am Biwasee«, S. 59–82, hier S. 67.) 88 Im ersten Jahrgang (1899/1900) der Literaturzeitschrift Die Insel erschien der damals epochemachende Aufsatz »Der japanische Theegarten« von Franz Blei (in zwei Teilen), ein locker verknüpfter Essay, zusammengesetzt aus Buchbesprechungen, Inhaltsangaben des Romans vom Prinzen Genji, über die japanische Lyrik und den japanischen Tanz, sowie Anmerkungen zum Theater. Am Ende seines Beitrags geht der Verfasser auch auf das »liebenswürdige« Lächeln der Japaner ein, welches er als »die feinste Blüte japanischer Kultur« und als »die Philosophie dieses Volkes« beschreibt: »Wir lächerlich ernsten Europäer halten es für Oberflächlichkeit, für Schwäche, für Mangel an Größe – aber dieses Lächeln bedeutet mehr, als unser ernstester Ernst. Es ist eine ausgearbeitete und langmotivierte Etikette, aber es ist auch eine stumme Sprache, die von einem Glück spricht, das wir nicht kennen. Die Japaner – O’Detsu sagte es mir – finden unsere Gesichter ›wie geärgert‹ und unser lautes Lachen ›zornig‹.« (Franz Blei: »Der japanische Theegarten«, in: Die Insel, 1. Jg., Band 2 (1900), S. 168.)

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Wäldern und Landschaften hin, Sie gehen auf darin in der Spur der Natur, in einer lächelnden Luft am friedlichsten Sinn; ein Grashalm, der eine Mücke wiegt, Gibt jedem Japaner ein Lebensstück, bei dem sein demütig Auge angeregt still liegt.89

Dauthendey begnügt sich nicht einfach damit, einem kulturellen Vorurteil zu widersprechen und die Erwartungshaltung des Lesers mit seiner Darstellung zu durchbrechen. Er zeigt keinerlei Enttäuschung, als er das japanische Lächeln nicht finden kann, sondern er sucht es weiter und meint schließlich, es im Verborgenen entdecken zu können. Die Vorstellung eines verborgenen, inneren Lächelns lässt sich wiederum mit der Ästhetik des yu¯gen als eine innere Anmut oder Grazie in Beziehung setzen, wie sie von Zeami in seinen Abhandlungen über das No¯-Theater dargelegt und erörtert wurde.90 Das Lächeln, so wie Dauthendey es beschreibt, evaporiert, strömt aus wie ein Duft, verbreitet sich still und vermittels minimaler Gebärden. Es ist vor allem die Raffinesse dieser minimalistischen Gestik, die vorsichtige Beschreibung der Konstellation von Gesichtszügen und Blicken (die Blicke der »Seelenaugen«), die jene verborgene Tiefe suggeriert, welche aber keine psychologische Tiefe ist, sondern, wie Dauthendey es darstellt, eine Verbindung mit der Natur, in der die Grenzen zwischen Innen und Außen, Subjekt und Natur aufgehoben werden. Wir haben es hier mit der Figuration einer affektiv durchströmten Landschaft zu tun, die dann doch in letzter Konsequenz zu einer konkreten Anschauung führt: zum Bild eines dünnen fragilen Grashalms, auf dem eine Mücke sitzt.

Landschaft als ein resonanter Wahrnehmungsraum Die japanische Ästhetik gilt aus westlicher Sicht als ein schwer zugängliches Gebiet. Auffällig ist, wie sehr ex negativo formulierte Begriffe den Diskurs über japanische Ästhetik beherrschen, z. B. das ›Unsichtbare‹, ›Unfassbare‹ oder ›Unausdrückbare‹. Die japanische Ästhetik arbeitet eher mit begrifflichen Verknüpfungen als mit scharfen Differenzierungen; es geht weniger darum, Unterscheidungen zu treffen und semantische Felder ein- bzw. voneinander abzugrenzen, als vielmehr darum, Begriffe in Konstellationen zu arrangieren und sie miteinander zu einem aus westlicher Sicht assoziativ wirkenden Sinngewebe zu verbinden. Die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für das Verständnis werden auf westlicher Seite hauptsächlich von Komparatisten und Übersetzern 89 Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 339; GW 5, S. 341. 90 Vgl. dazu die vier Texte Zeamis in Toshihiko und Toyo Izutsu: Die Theorie des Schönen in Japan. Beiträge zur klassischen japanischen Ästhetik, Köln: Dumont 1988, S. 131–175.

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reflektiert, denen das Nicht-Fassbare ästhetischer Modalitäten wie dem yu¯gen sehr wohl bewusst ist, die aber trotzdem den Anspruch auf begriffliche Genauigkeit nicht aufgegeben haben. Speziell auf Japan Bezug nehmend, schreibt Kenneth Yasuda: For sensibility is an area where artists feel at ease but scholars and interpreters often find themselves lost. For the artist is satisfied if he senses immediately and directly the aesthetic message; he is not usually compelled to explain or convey what it is he has grasped. Scholars and interpreters, however, are expected to explain. Thus they are often embarrassed as they have tried to translate a poem to convey its meaning, often over formidable cultural gaps, until it has been explained quite away or expanded with interpretation and commentary, evaporating its subtleties and destroying directness by circumlocution.91

Um westlichen Lesern die äußerst subtilen Begriffe japanischer Ästhetik zu vermitteln, genügt es nicht, eine, wenn schon nicht genaue, so doch in etwa angemessene deutsche oder englische Übersetzung für sie zu finden. Hinzu kommt, dass die wichtigsten dieser ästhetischen Modalitäten auf etwas verweisen, was für westliche Betrachter nicht unbedingt zur Welt ihrer ästhetischen Wahrnehmung gehört und worauf ihre Aufmerksamkeit erst gelenkt werden muss, wie es beispielsweise bei der Ästhetik der Dämpfung92 oder, wie bereits ausführlich erläutert wurde, bei der Ästhetik des Blassen/Faden der Fall ist. Die ästhetische Modalität des yu¯gen ist in dieser Hinsicht allein schon deshalb von Interesse, weil sie häufig als ein wichtiger Bestandteil der japanischen Ästhetik angeführt wird.93 Doch obwohl der Begriff mit dem Verweis auf eine ›uner91 »Translator’s Preface«, in: Yuichiro Kojiro: Forms in Japan, übers. von Kenneth Yasuda, Honolulu: Univ. of Hawaii Press 1965, S. 7. Über seine eigene Übersetzungsarbeit sagt Yasuda: »During the course of translating the text, I could easily find the English equivalent of Japanese words on a concrete plan: for instance, miru for ›see‹, ki for ›tree‹, aka for ›red‹, etc. However with those Japanese words that describe a more nicely discriminated aesthetic level, often I could find no happy equivalent in English; the more subtle the discrimination, the more difficult it became. The difficulty reminded me once again that we in the West are not aware of the need to name certain aesthetic qualities and the distinctions between them which the Japanese have created and named with the special kind of sensibility cultivated by them as their exclusive preoccupation over their long history. Take for instance the term shibui, now in vogue among our interior decorators, who have of course exploited only one nexus of its meaning. Other equally recondite terms are yu¯gen, sabi, mono no aware, sugata, and so on. But the effort to seize such terms in their full range of meaning is profitable. For they enrich our perceptions.« (Ebd., S. 8.) 92 Vgl. Jun’ichiro¯ Tanizaki: Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik, Zürich: ¯ rai). Der japanische Ausdruck in’ei Manesse 2002 (zuerst 1933 in der Zeitschrift Keizai O raisan bedeutet genaugenommen ›Lob des Halbschattens‹ (im Sinne von ›Lobpreisung‹ – in’ei verweist auf das durch ein Papierfenster bzw. eine Papierschiebetür (sho¯ji) gedämpfte Licht oder auf eine diffuse Schattierung). 93 So heißt es bei Junzo¯ Karaki: »The concept of yu¯gen, moreover, has been employed as the standard of judgment and evaluation without our intentional application. It is because the

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gründliche Tiefe‹ ein Jenseits des rationalen Zugriffs suggeriert, heißt dies nicht, dass das mit diesem Begriff bezeichnete Phänomen gänzlich unbestimmbar und unzugänglich wäre. Der japanische Philosoph Daisetz Suzuki gibt dazu folgende Erklärung: Yu¯gen is a compound word, each part, yu¯ and gen, meaning »cloudy impenetrability«, and the combination meaning »obscurity«, »unknowability«, »mystery«, »beyond intellectual calculability«, but not »utter darkness«. An object so designed is not subject to dialectical analysis or to a clear-cut definition. It is not at all presentable to our senseintellect as this or that, but this does not mean that the object is altogether beyond the reach of human experience. […] It is hidden behind the clouds, but not entirely out of sight, for we feel its presence, its secret message being transmitted through the darkness however impenetrable to the intellect.94

Suzukis Ausführungen kreisen um das Phänomen der Halb-Sichtbarkeit: Wesentlich an der Erfahrung des yu¯gen ist seiner Ansicht nach, dass es dem Intellekt entzogen sei, aber dennoch gespürt werde (»[i]n fact, it is experienced by us«95). Diese Eigenschaft veranschaulicht er an einem Landschaftsbild, auf dem Wolken den direkten Blick auf das Objekt (einen Berg beispielsweise) verhindern: Obwohl man das Objekt andeutungsweise sehen, seine Umrisse erahnen kann, bleibt trotzdem eine Unsicherheit über seine tatsächliche Gestalt bestehen. In der HalbSichtbarkeit des Unscheinbaren entfaltet das yu¯gen eine affektive Resonanz. Die im Innenraum oder in der Umgebung sich ausbreitende Resonanz lässt sich nicht mit einem Wort erfassen, sondern bedarf, da sie einer Schwingung im Raum gleicht, einer Kette von Assoziationen bzw. einer Begriffskonstellation, um diskursiv eingekreist zu werden. In der westlichen Philosophie hat die Neue Phänomenologie die Räumlichkeit des Affekts akzentuiert und Gefühle als eine räumliche Gestimmtheit definiert, um die atmosphärische Komponente des Affekts herauszuheben,96 und auch im ästhetischen Denken Japans spielt der affektiv gestimmte Raum eine wichtige concept has been deeply rooted in the mind and emotion of the Japanese people since the middle ages, despite its subtle and elusive nature. This concept denotes a common feeling or a common world found at the depth of sensibility which could only be described with such words as ›somehow‹ or ›somewhere‹. It is a kind of a term that any Japanese would accept tacitly. Yu¯gen is an exceedingly fitting term to depict an aspect of Japanese sensibility.« ( Junzo¯ Karaki: »Yu¯gen to Iu¯koto«, in: Yuya, Gendai Yo¯kyoku Zenshu¯, Bd. XII, hg. von Akira Maruoka, Tokyo: Chikuma Shobo¯ 1963, S. 16; zit. n.: Andrew A. Tsubaki: »Zeami and the Transition of the Concept of Yu¯gen: A Note on Japanese Aesthetics«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 30/1 (1971), S. 55–67, hier S. 56.) 94 Daisetz T. Suzuki: Zen and Japanese Culture, New York: Princeton Univ. Press 1959, S. 220– 221. Die im Rowohlt-Verlag erschienene deutsche Übersetzung ist stark gekürzt und hat diese Passage über den Zusammenhang von Zen, Haiku und Satori ausgespart. 95 Ebd., S. 220. 96 Siehe dazu die Ausführungen zum Atmosphärebegriff bei Hermann Schmitz und Hartmut Böhme in Kapitel 2.

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Rolle, die sich an dem Bedeutungsfeld des Begriffs ki erkennen lässt.97 Redewendungen wie »ki ga haru (ki spannt sich, wenn man verkrampft oder steif wird), ki ga tsumaru (ki stockt, wenn man betrübt und niedergeschlagen ist) oder ki ga raku ni naru (ki wird bequem, wenn man sich wohlfühlt)« sind laut Kimura »nicht Ausdruck eines subjektiven Spannungszustandes, sie beschreiben vielmehr […] eine Befindlichkeit, die dadurch charakterisiert ist, daß man einen atmosphärischen Spannungszustand im ki außerhalb von sich selbst wahrnimmt«.98 Max Dauthendey bietet in seinem Reiseepos bemerkenswerte Beispiele für affektive Wirkungen innerhalb eines Empfindungsraumes. In der folgenden Szene wird ein roter Garten beschrieben, dessen Erscheinung äußerlich an die herbstliche Blätterfärbung erinnert, und der doch nicht mit dem Herbst verbunden ist (die Azaleen blühen im Mai): […] Im Weiterfliegen sah ich vom Wagen, Als hatte mir einer mit der Faust ins Auge geschlagen, blutrot einen Garten erscheinen. Von allen seinen Blättern hatte keines ein anderes Licht als Rot, Rot, hell und dunkel, in allen Schatten, rot in jeder Schicht, rot wie ein Rubingefunkel; am Boden stehen rotes Schiefblatt und rote Azaleen, Ohne einen grünen Halm zu sehen, darüber die Bäume alle hochrot voll Scharlach und Purpur sich blähen. Rote, junge Ahornblätter, die im Frühling über ganz Japan blutrot aufgehen und wie brennendes Herbstlaub wehen.99

Besonders aufschlussreich ist die Deutung, die Dauthendey seiner Schilderung des in Rot getauchten Gartens mitgibt, weil sie der Farbbeschreibung einen affektiven Gehalt verleiht: In diesem roten Garten, wo noch der Staub und der Schatten rot erscheinen, standen die Blätter wie Menschenhände vor die Sonne gehalten, Als siehst du lebende Blutröte durch Menschadern ziehen; als böte einer dem Frühling alles Blut, Damit dieser Gärten und Blumen aus seinem roten Blut aufbaut für das Mädchen, dem

97 Beispiele sind kibun (ki-Anteil, Stimmung), kimochi (ki-Habe, Gefühl) oder kiraku (ki ist gemütlich). Ausführlicher zum ki siehe Bin Kimura: Zwischen Mensch und Mensch. Strukturen japanischer Subjektivität. Übers. u. hg. von Elmar Weinmayr, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1995, S. 119–131. Die Begriffe kibun und kimochi bringen für Kimura »die Teilhabe des individuellen Ich am überindividuellen ki zum Ausdruck« (S. 128), während kiraku verwendet wird, »wenn die Atmosphäre oder Situation gemütlich und entspannt ist« (S. 121). Zum philosophischen Gehalt des ki siehe Ichiro¯ Yamaguchi: Ki als leibhaftige Vernunft. Beitrag zur interkulturellen Phänomenologie der Leiblichkeit, München: Fink 1997. 98 Kimura: Zwischen Mensch und Mensch, S. 128. 99 Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 401–402; GW 5, S. 403–404.

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er gut: einen roten Brautgarten für seine Braut, In den kein Schatten ergraut hineinschaut.100

In dieser Schilderung wirkt die Landschaft wie von einem Gefühl durchströmt, das, symbolisiert durch den Farbwert Rot, den Raum der Landschaft nach und nach einnimmt und ihn schließlich vollständig ausfüllt. Eine metaphorische Interpretation würde aus diesen Zeilen die totale Hingabe und Aufopferung des Mannes herauslesen. Die Blutröte verwiese dann auf das Herzblut und das Herz wiederum auf seine Liebe. Resonanzästhetisch ließe sich diese Passage dahingehend verstehen, dass die Landschaft als ein Empfindungsraum dargestellt wird, in dem die Unterscheidung von Subjekt und Objekt zumindest temporär aufgehoben und das Subjekt mit seiner Umwelt affektiv in Einklang gebracht wird. Der Symbolwert der Farbe Rot wäre dabei sekundär und außerdem kulturell kodiert; die Liebe muss in diesem Falle nicht unbedingt mit dem Gedanken der Aufopferung in Verbindung gebracht werden. Es geht hier zunächst allgemein um einen Affekt, der in die Landschaft hinausgetragen wird und diese verwandelt (und zugleich denaturiert). Der Affekt muss dabei nicht vom Subjekt ausgehen; es kann ebenso von außen ergriffen oder durch einen bestimmten Anblick angeregt werden, vom Anblick roter Azaleen, von Ahornblättern oder vom Anblick des Abendrots, wie in der Erzählung Das Abendrot zu Seta, wo sich das Glühen und Sprühen der Farbe Rot am Horizont entzündet und das damit verbundene Gefühl die ganze Geschichte ausfüllt.101 In Dauthendeys Reiseversepos findet sich noch eine weitere Passage, in der sich die Farbe Rot in einen Empfindungsraum ergießt: Und die Tempelbalken in roter Lackfarbe wie in ewigem Sonnenuntergang glühen, um rot wie dein Blut in die Ferne zu sprühen. Die roten Tempel leuchten ungeheuer, als fängt das Tempelholz von deiner Nähe Feuer, wenn zu ihm dein Herz um die Erde kommt und ist auf seine Liebe und Sehnsucht stolz.102

Dieses Beispiel macht deutlich, dass die rote Farbe nicht kurzerhand mit der westlichen Vorstellung von Liebe assoziiert werden sollte, denn die dadurch vollzogene Einengung behindert den Blick auf die resonante Räumlichkeit der Affektvermittlung sowie auf den spezifisch japanischen Kontext: In diesem Fall handelt es sich z. B. um eine religiös konnotierte Farbe.103 Zudem zeichnet sich 100 Ebd., S. 402; GW 5, S. 404. 101 Dauthendey: »Das Abenrot zu Seta«, in: Die acht Gesichter am Biwasee, S. 205–231; GW 3, S. 202–215. 102 Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 379; GW 5, S. 381. 103 Dauthendey verwechselt hier die religiösen Bezeichnungen: Der Ausdruck Tempel ist in der Regel buddhistischen Heiligtümern vorbehalten, während die oft grell organgerot oder hellrot gefärbten Schreine zum Shintoismus gehören.

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die japanische Ästhetik gerade durch eine topologische Offenheit aus, die ganz unterschiedlich konkretisiert werden kann. Es geht vor allem darum, »eine spezifische Art ästhetischer Fülle zu erbringen«, und zwar »gestützt durch ein in konventioneller Weise errichtetes assoziatives Netzwerk von speziellen Vorstellungen und Ideen, die durch sie [d. h. die stereotypisch dargestellten Naturgegenstände; A.K.] hervorgerufen werden«.104 Diese Fülle wird in der japanischen Ästhetik durch die Begriffskonstellation yojo¯, ushin, yu¯gen charakterisiert.105 Auch wenn Dauthendey sich sehr zu Japan und seiner Ästhetik hingezogen fühlte und an verschiedenen Stellen seine ›Seelenverwandtschaft‹ mit der asiatischen Kultur betont hat, sollte es vermieden werden, ihn als einen quasi-asiatischen oder gar japanischen Dichter zu begreifen.106 Es kann nicht darum gehen zu beurteilen, inwieweit Dauthendey tatsächlich, wie der Rezensent Leonhardt Adelt einmal meinte, »die Fremde überwunden« habe, indem er »jene künstlerische Identifizierung der fremden und der eigenen Seele [erreichte], die Kipling und Hearn erhoffen ließen«.107 Aus Sicht einer komparatistischen Ästhetik ist Dauthendey vor allem als Vermittler von Wahrnehmungsqualitäten von Bedeutung, die für europäische Leser unscheinbar und ungewohnt sind.108 Dabei war er, wie bereits angesprochen worden ist, der Überzeugung, dass jede Landschaft, jede Kultur und jede Sprache ein bestimmtes Versmaß verlange bzw. dem Dichter

104 Izutsu: Die Theorie des Schönen in Japan, S. 32. 105 Der Ausdruck ushin (dt. etwa ›intensives Gefühl‹, ›mit Herz‹) ist von Fujiwara no Shunzei und Fujiwara no Teika als Kriterium höchster Dichtkunst gepriesen worden. Toshihiko und Toyo Izutsu bemerken, dass aware und yu¯gen in Wirklichkeit nichts anderes seien, »als zwei spezielle Ableitungen des ästhetischen Wertes yojo¯«, wobei sich beide »dieselbe innere Figuration des Übersprachlichen teilen« (Izutsu: Die Theorie des Schönen in Japan, S. 27). 106 Für viele seiner deutschen Zeitgenossen schien Dauthendey sich als Person tatsächlich in einen Asiaten verwandelt zu haben. So berichtet Julius Maria Becker in »Begegnung mit Max Dauthendey«: »So sah kein deutscher Dichter aus. Eher ein indischer Prinz, ein Maharadscha«, in: Bavaria. Wochenschrift für bayrische Kulturpolitik, 1. Jg., Heft 8 (17. Mai 1930), S. 6; zit. n. Wendt: Max Dauthendey. Poet-philosopher, S. 98. 107 Leonhard Adelt: »Bilder aus der Fremde«, in: Literarisches Echo 13 (1910/11), Sp. 792–800, hier Sp. 797 (über »Lingam. Zwölf asiatische Novellen« von Max Dauthendey). 108 In diesem Zusammenhang wird ein grundlegendes methodisches Problem deutlich, das sich aus einem intertextuellen Ansatz ergibt, vorrangig nach Textspuren und Zitaten zu suchen, die man als Beleg dafür werten könnte, dass Dauthendey die asiatische Literatur intensiv studiert und in seinen Texten verarbeitet habe. Zwar hat Dauthendey, wie er selbst sagt, »nichts von japanischen oder chinesischen Urtexten« gekannt (Dauthendey: Gedankengut aus meinen Wanderjahren, Bd. 1, S. 56; GW 1, S. 326), und nur weniges, was in Übersetzungen zugänglich war, gelesen, doch betont er gleichzeitig, dass er der asiatischen Seele verwandt sei – seine Weltanschauung der Weltfestlichkeit habe ihn »der Seele der Asiaten sozusagen zum Zwillingsbruder« (ebd.) gemacht. Auch wenn diese Aussage literaturwissenschaftlich kein sonderliches Gewicht haben mag, weist sie dennoch auf eine besondere Resonanz hin, die sich gerade nicht in Zitaten und textuellen Anspielungen nachweisen lässt, sondern in der Vermittlung ästhetischer Wahrnehmungsweisen.

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dieses eingebe.109 Gleiches ließe sich auch von der ästhetischen Darstellungs- und Wahrnehmungsweise sagen, wobei es die Aufgabe eines weltreisenden Dichters wäre, die vorgefundene Diversität in seine Beschreibungen aufzunehmen und sie abzubilden. Ohne diese Poetologie des Diversen für das Gesamtwerk Dauthendeys beanspruchen zu wollen, lässt sie sich dennoch ohne Weiteres auf die lyrischen Dichtungen, Reisebeschreibungen und Novellen beziehen, die in der Nachwirkung der Weltreise sowie im Umfeld weiterer Aufenthalte in Übersee entstanden sind.

Dauthendeys anderer Exotismus Die Germanistik hat Dauthendey – wohl aus einer gewissen Hilflosigkeit bezüglich seiner Zuordnung zu einer bestimmten Epoche – »am Kreuzungspunkt von Neuromantik und Moderne, Impressionismus und Expressionismus, Symbolismus und Jugendstil«110 situiert. Er gilt als aufgeschlossen für die ästhetischen Innovationen der Moderne, was auch seine Experimente mit Klängen und Farben bezeugen; andererseits drücke sich in seinen Werken eine sentimentale und oft nostalgische Weltsicht aus, »die in naiver Weise versuch[e], die Brüche der Moderne durch den Entwurf idealisierter Welten zu überwinden«.111 Ingrid Schuster geht sogar soweit zu sagen, dass Dauthendey Japan »in einer impressionistisch-dichterischen Sprache als eine Art Märchenland«112 verherrlicht habe. Wie an der Kritik verschiedener Germanisten und Komparatisten deutlich wird (darunter Ingrid Schuster und Wolfgang Reif, lediglich Peter Sprengel erkennt in Dauthendeys Texten eine Art von Subdiskurs113), folgt die literaturwissenschaftliche Forschung in ihrem Urteil mit wenigen Ausnahmen immer noch den von der Literaturkritik der ersten und zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts vorgegebenen Mustern. Positive Stimmen sind rar und fast ausnahmslos unter 109 Dauthendey: Gedankengut aus meinen Wanderjahren, Bd. 1, S. 171; GW 1, S. 411. 110 Hans Christoph Buch: Die Nähe und die Ferne. Frankfurter Vorlesungen, Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 115. Dauthendey selbst bemerkte in seiner autobiographischen Schrift Gedankengut aus meinen Wanderjahren: »Viele Kritiker sagten Jahre hindurch, meine Bücher und ich selbst seien nirgends einzureihen.« (Bd. 1, S. 56; GW 1, S. 325) Die in der Forschung vorherrschende Meinung und die Selbstaussage Dauthendeys bezeugen das Transitive seiner Dichtung. 111 So z. B. Stamm: Die »Schrift der Natur« in Max Dauthendeys Novellen, S. 59. 112 Ingrid Schuster: Vorbilder und Zerrbilder. China und Japan im Spiegel der deutschen Literatur, S. 265. 113 Wenn es bei ihm heißt, »daß durch den poetischen Firnis dieser Texte manches sehr konkrete Detail der kolonialistischen Praxis und Ära des Imperialismus hindurchschimmer[e]« (Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918, S. 398).

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Dichterkollegen zu finden, wie bei Alfred Kubin,114 Franz Blei115 und Stefan George, der, wie Walter Benjamin überliefert, Dauthendeys Dichtung als »vollständig neu« einschätzte und in ihr »eine eigenartige Kunst« erblickte, »die reicher genießen lasse als Musik und Malerei, da sie beides zusammen sei«.116 Mögen solche Formulierungen auf den ersten Blick vielleicht unkritisch erscheinen, so verraten sie doch, wie es bei Benjamin weiter heißt, »vieles von dem […], was später zu verdecken die Aufgabe gereifterer Formeln ist«.117 Was durch sie nach Ansicht Benjamins kaschiert wird, ist exakt das tiefe Paradoxon des Jugendstils: einerseits die »wiederkehrende Bereitschaft für die Sprache der großen Dichtung« und der Versuch, die Dichtung »in dem Kreis der übrigen Reiz- und Genußprodukte festzuhalten«, andererseits die »morbiden und gebrochenen Situationen und Stimmungen«,118 die in Dauthendeys Dichtung zum Ausdruck kämen; kurz: Idealismus und Morbidität vereint in ein und derselben Sprachgebärde. In den Reisebeschreibungen und Briefen Dauthendeys sei, so Benjamin, keine dichterische Schwäche zu erkennen, sondern vielmehr eine außergewöhnliche »Feinnervigkeit«, gepaart mit überaus »gewichtige[n] Reserven an Lebenskraft und Lebenslust«.119 Aus der Briefsammlung Ein Herz im Lärm der Welt, auf die er in seiner Rezension genauer eingeht, spreche »eine andere Exotik«, die »viel kräftiger [sei] als die entlegener Länderstriche, welche dieser Dichter gern in den gleichen satten Farben schildert, mit denen schon die Heimat ihn berauscht«.120 Diese »andere Exotik« ist für Benjamin dann die Konkretisierung einer »Exotik des Jugendstils«.121 Eine Neubewertung von Dauthendeys Reiseversepos könnte genau an diesem Punkt ansetzen, und eben daran anknüpfend, hat Ulrike Stamm zu entschlüsseln versucht, wie sich die Exotik des Jugendstils in Dauthendeys Texten artikuliert. In ihrem Aufsatz zu den sogenannten ›japanischen Novellen‹ befasst sie sich unter anderem mit der Imagination von Weiblichkeit, einem Thema, das ihrer Ansicht 114 »Ich habe Ihr wuchtiges Hauptwerk schon bei mehreren Bekannten gesehen. Teile davon kannte ich schon, etwas so überreiches, gleichmäßig herrliches ist überhaupt nicht auszuschöpfen. – – Alle Völker, nein alle Pflanzen und Tiere und der Boden und die Luft singt darin – –« (Brief von Alfred Kubin an Max Dauthendey vom 21. 1. 1911, in: Gabriele Geibig: Der Würzburger Dichter Max Dauthendey (1867–1918). Sein Nachlaß als Spiegel von Leben und Werk, Würzburg: Schöningh 1992, S. 135.) 115 Franz Blei: Porträts, hg. von Anne Gabrisch, Wien: Böhlau 1987, S. 447. 116 Siehe Benjamins Rezension zu Dauthendeys Ein Herz im Lärm der Welt. Briefe an Freunde in: Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Band III, hg. von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, S. 383–384. 117 Ebd., S. 384. 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Ebd., S. 383. 121 Ebd.

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nach für die Jugendstil-Literatur der Jahrhundertwende sehr charakteristisch war. In der Figur der Hanake aus der Erzählung Die Segelboote von Yabase im Abend heimkehren sehen erkennt sie eine femme fragile, die zugleich erotisch und mortifiziert gezeigt wird, und richtet dabei das Augenmerk besonders auf die Darstellung ihrer äußeren Erscheinung: Ihr Hals war biegsam wie eine Reiherfeder, ihre Arme kurz wie die Flügel eines noch nicht flüggen Sperlings. Saß sie auf der Matte und bereitete Tee, so arbeitete sie vorsichtig wie unter einer Glasglocke. Ging sie abends mit ihrer Dienerin auf den hohen Holzschuhen zum Theater, so war sie unauffällig, als hätte sich ihr Körper mit der Sonne zur Ruhe gelegt und als ginge nur ihr Schatten mit der Dienerin und der Papierlaterne den Weg zu den Schatten.122

Auffällig sind bei dieser Beschreibung die wiederholt auftauchenden Vogel- und Schattenmotive, die, so Stamm weiter, dafür sorgten, dass in den Schilderungen eine »Entkörperlichung und Distanzierung des Weiblichen« spürbar werde. Obwohl solche Vergleiche durchaus eine »exotische Atmosphäre erzeug[t]en«, bleibe dabei doch »das Ideal einer schwerelosen entkörperlichten Weiblichkeit deutlich der Ästhetik des Jugendstils verpflichtet«.123 Auch die Beschreibung von Hanakes Gesicht, das wie »aus Jadestein geschnitten« sei und »unzerbrechlich und unvergänglich« erscheint, gehört für Stamm »in den Kanon der literarischen Geschlechterdarstellung der Jahrhundertwende, die das Weibliche häufig als Kunstwerk oder als künstlich imaginiert und mit künstlichen Gegenständen überlagert«.124 Die für den Jugendstil typische Verbindung von Erotik und Künstlichkeit sowie die ›Verkostbarung‹ des weiblichen Körpers bestimmen schließlich auch die Form des selbst erwählten Todes von Hanake, wenn sie an feinen Goldplättchen erstickt: »Die Frau, die durch eine leblose, aber kostbare Substanz verkörpert wird, stirbt schließlich an der tödlichen Einverleibung derselben.«125 Der stilisierte Tod Hanakes ließe sich darüber hinaus mit der 122 Dauthendey: Die acht Gesichter am Biwasee, S. 11; GW 3, S. 100. 123 Stamm: Die »Schrift der Natur« in Max Dauthendeys Novellen, S. 76. 124 Ebd. S. 77. Das wird besonders in den Gemälden von Gustav Klimt und dem von ihm mit Vorliebe verwendeten Goldgrund deutlich. 125 Ebd. In einer Fußnote zitiert Stamm die Germanistin Heide Eilert, die in der Assoziation von Weiblichkeit und künstlichen Materialien eine »Emanzipation des Reizes zum Selbstzweck« erblickt, der die »Frau ihrer biologischen Funktion« entfremdet (vgl. Heide Eilert: »Die Vorliebe für kostbar-erlesene Materialien und ihre Funktion in der Lyrik des Fin de siècle«, in: Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, hg. von Roger Bauer u. a., Frankfurt a. M.: Klostermann 1977, S. 426). Doch lassen sich bei Dauthendey auch genügend Gegenbeispiele zu Eilerts Auffassung finden, dass in der Jugendstil-Dichtung die »Verkostbarung« des weiblichen Körpers »durch anorganische Schmuckstücke« ein Ausdruck der »Sterilität und Lebensfeindlichkeit« des fin de siècle sei. Gerade Dauthendeys Beschreibung der »fünftausend Mädchen im Yoshiwara in Tokio« ist ein sehr anschauliches Gegenbeispiel, sofern hier inmitten des wertvollen und überaus artifiziellen Äußeren etwas Organisches zum Vorschein kommt: Die sich darbietende Frau »zeigt sich wie ein zartes Ei,

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Auffassung von Japan als einer toten, künstlich sowie künstlerisch ›stillgestellten‹ Natur in Verbindung bringen, was man ebenso wie die oben bereits angesprochene Entmaterialisierung als ein spezifisches Merkmal des Jugendstils ausdeuten könnte.126 Hierin sieht Stamm dann auch die Vorbedingung dafür, dass die Linien eines Landschaftsbildes in Schriftzeichen transformiert werden: »Eine derart auf einzelne Reize reduzierte und stillgestellte Welt erscheint besonders geeignet, in und als Schrift dargestellt zu werden – diese farblose, ruhende Natur kann besonders leicht in die Linien von Schriftzeichen aufgelöst werden.«127 Wolfdietrich Rasch hat in diesem Kontext gezeigt, wie sehr die Malerei ab etwa 1890 das körperliche Volumen der Objekte zugunsten der Fläche zurückdrängte, »um jenen Zusammenhang der Dinge, die totale Einheit spürbar zu machen, die den Grundzug der Weltinterpretation jener Epoche ausmacht.«128 Eine kulturkomparatistische Untersuchung bringt eine bemerkenswerte Differenz zwischen der Interpretation, die bei der okzidentalen Dekadenzästhetik ihren Ausgang nimmt, und einer Deutung, die die japanische Ästhetik einbezieht, ans Licht, denn das yu¯gen impliziert einen Resonanzraum mit einer dem Auge undurchdringlichen Tiefe und steht damit der Idee vom Privileg der Fläche prinzipiell entgegen. Der ästhetische Resonanzraum besitzt eine dreifache Funktion: einmal als Klangraum, in dem das Echo der Weltreise und die fernöstlichen Klangiterationen vernehmbar sind, dann als geschichtete Sichtbarkeit, wenn ein Bild hinter dem Bild in Erscheinung tritt, und zwar als ein »Unwirklichkeitsbild«,129 das intensiver und bunter leuchtet als die Wirklichkeit, und schließlich als ein affektiver Resonanzraum, in dem eine Farbe, ein Affekt oder ein bestimmter Sinn sich ausbreitet wie ein Dunst oder Duft und die Dinge anregt, sich zu verwandeln. Während also die westliche Ästhetik der Jahrhundertwende die Fläche entdeckt hat und favorisiert, um den Zusammenhang der Dinge in einer Ganzheit sichtbar zu machen, ist die japanische Ästhetik bei Dauthendey, wie sie hier auf der Folie einer Resonanzästhetik dargestellt wurde, im Gegensatz dazu räumlich organisiert und befördert eine geschichtete Wahrnehmung. Sein Exotismus ist dabei jedoch keineswegs reduzierbar auf eine

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das man hier auf zarte Matte vorsichtig zur Schau gelegt« (Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 448; GW 5, S. 450). Inwieweit Dauthendeys Japan-Wahrnehmung durch Feminisierungen gekennzeichnet ist, wird für Stamm besonders an den Landschaftsdarstellungen deutlich, wie an dem Satz »Die untergehende Sonne schminkte den Himmel wie das Gesicht eines Freudenmädchens.« (Dauthendey: Die acht Gesichter am Biwasee, S. 34–35; GW 3, S. 113.) Vgl. Stamm: Die »Schrift der Natur« in Max Dauthendeys Novellen, S. 69. Ebd., S. 70. Wolfdietrich Rasch: »Fläche, Welle, Ornament. Zur Deutung der nachimpressionistischen Malerei und des Jugendstils«, in: Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundertwende. Gesammelte Aufsätze, Stuttgart: Metzler 1967, S. 186–220, hier S. 191. Vgl. die Ausführungen über die »Unwirklichkeitsbilder«; Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 355; GW 5, S. 357.

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Exotik des Jugendstils. Wenn Benjamin über Dauthendey sagt, er sei aus dem bürgerlichen Kreis der Bohème ausgebrochen und als »Träumer«, der er immer blieb, dem Fernweh gefolgt und »Planetenbürger« geworden,130 dann ist dies viel mehr als nur eine Aussage über das Wanderleben oder über die Frage der Staatszugehörigkeit zu Zeiten des Ersten Weltkriegs. »Planetenbürger« zu sein, setzt eine Ver-Äußerung des Eigenen voraus und eine doppelte Perspektive. Ähnlich wie Victor Segalen glaubt Dauthendey daran, dass es möglich sei, aus den Vorstellungen einer anderen Kultur heraus zu denken und wahrzunehmen, doch bleibt er gleichzeitig mit Deutschland und seiner Heimatstadt Würzburg verbunden, ebenso wie Segalen Franzose bleibt und bewusst nur das von der fremden Kultur wahrnimmt, »was mit seinen eigenen Möglichkeiten der Wahrnehmung, des Denkens, des Fühlens, des Ausdrückens zusammengeht«.131 Dauthendeys Exotismus ließe sich vor diesem Hintergrund durchaus im Sinne einer »Ästhetik des Diversen«, wie sie Victor Segalen entworfen hat, verstehen. Exotismus ist für Segalen »keine Anpassung« und auch »nicht das vollkommene Begreifen eines Nicht-Ich, das man sich einverleiben könnte, sondern die scharfe, unmittelbare Wahrnehmung einer ewigen Unverständlichkeit«.132 Seine Ästhetik des Diversen hat er in Abgrenzung zu dem Effekte heischenden Exotismus von Kolonialschriftstellern und Tourismusdichtern lanciert, die er »Zuhälter des Exotismus«133 nennt und über die er verächtlich sagt: »Sehen bedeutet für manche Reisende nur noch, die Augen zu öffnen und ausdrucksvolle Worte zu rezitieren. Oft ist der Rhythmus des Gesehenen bereits im voraus in Sätze gepreßt und in Abschnitte unterteilt.«134 Segalens Kritik richtet sich gegen vorgefertigte Sichtweisen ebenso wie gegen den Habitus des Einverleibens von Fremdem, wie er sich beispielsweise in den selbstironischen Worten Kellermanns äußert: »Ich bin einmal hier und […] gedenke einen gehörigen Schluck Japan zu nehmen…«.135 Auch für Dauthendey bedeutet der Exotismus weder Anpassung an das Fremde noch Assimilation des Fremdartigen; er erfordert vielmehr, ein sensibles Instrumentarium für die Kennzeichnung von Diversität zu entwickeln, und setzt die Fähigkeit voraus, anders bzw. differenzierter wahrzunehmen.136 Wie bei Se130 Benjamin: Gesammelte Schriften. Band III, S. 384–385. 131 »Gespräche über Victor Segalen«, in: Segalen: Die Ästhetik des Diversen, S. 14. Das Zitat stammt aus einem Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs. 132 Segalen, Die Ästhetik des Diversen, S. 44. 133 Ebd., S. 55. 134 Victor Segalen: Aufbruch in das Land der Wirklichkeit, Frankfurt a. M.: Fischer 1984, S. 97. 135 Bernhard Kellermann: Ein Spaziergang in Japan, Berlin: Cassirer 1910, S. 14. 136 In diesem Sinne wäre Dauthendeys Exotismus auch von einem »Exotismus der Sinne«, d. h. einer künstlich gesteigerten Intensität der Sinnesempfindungen abzugrenzen, wie ihn Friedrich Brie konzipiert hat (vgl. Friedrich Brie: Exotismus der Sinne. Eine Studie der Psychologie der Romantik, Heidelberg: Winter 1920). Die »pauschale Identifikation von

Affektive Resonanzräume. Dauthendeys ästhetisiertes Japan

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galen ist das Exotische für Dauthendey etwas im Vergleich zum gewohnten sensuellen Umfeld Divergentes. Davon zeugen sowohl seine Versuche, im Westen verbreitete Stereotypen zu demontieren, als auch seine feinsinnigen Beschreibungen des »japanischen Seelenbildes«,137 des Wohnhauses und seiner ästhetischen Leere sowie der Wahrnehmung des gedämpften Lichts. Aber auch die Verwendung der ungewöhnlichen Binnenreimstruktur in Dauthendeys Reiseversepos, die Bezüge zur japanischen Dichtung aufweist, ist in diesem Zusammenhang als Beleg zu nennen. Vor diesem Hintergrund ergeben sich zwei verschiedene Perspektiven: eine kritisch-westliche, die von der Jugendstil-Exotik ausgeht, damit aber kulturzentristisch bleibt, und eine genuin kulturkomparatistische, die beim Gedanken ästhetischer Diversität ansetzt und die Texte Dauthendeys vor dem Hintergrund von Austausch- und Transformationsprozessen literarischer Formen und ästhetischer Modalitäten liest. Das literarische Werk erscheint aus dieser Perspektive als eine Art Resonanzraum von Klangeffekten, unleserlich-unlesbaren Schriftzeichen, ästhetischer Wahrnehmungen und Affektwirkungen. Eine solche Betrachtungsweise entspringt einer Ästhetik des Diversen, die versucht, durch feinere Abstufungen und Vergleiche Phänomene, die zuvor als homogen erschienen waren, in ihrer Differenziertheit sichtbar zu machen, um so noch bessere Möglichkeiten der Nuancierung zu bieten. Ihr Ziel wäre es, den durch stereotype und klischeehafte Darstellung, durch Kulturzentrismus und ideologische Vereinnahmung vorgeprägten und eingeengten westlichen Wahrnehmungsund Denkraum zu erweitern oder ihn, wenn nötig, zu reorganisieren, wie es bereits schon während der europäischen Kulturkrise zur Zeit des Ersten Weltkriegs gefordert worden war.138

Exotismus und Eskapismus«, so kritisiert Zenk, beherrsche »leider bis heute die germanistische Forschung« und finde sich in der von Brie kolportierten Auffassung wieder, dass der Exotismus eine Flucht aus der Wirklichkeit in die Welt der Träume und Phantasievorstellungen impliziere (vgl. Zenk: Innere Forschungsreisen, S. 24). Dieses Deutungsschema dominiert vor allem bei Wolfgang Reif (Zivilisationsflucht und literarische Wunschträume. Der exotistische Roman im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts) und findet sich ebenso bei Ingrid Schuster (China und Japan in der deutschen Literatur 1890–1925). 137 Dauthendey: Die geflügelte Erde, S. 338–340: GW 5, S. 340–342. 138 Vgl. dazu Rudolf Pannwitz: Die Krisis der europäischen Kultur, Nürnberg: Carl 1917, S. 226ff., und auch Max Dauthendey: Ein Herz im Lärm der Welt. Briefe an Freunde, München: Langen 1933, wo es heißt: »Die Erde häutet sich. Das alte Europa verblutet. Der alte Erdteil Asien ist an der Reihe, aufzuleben und die Führung der Erde zu übernehmen.« (S. 195.)

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Transkulturelle Resonanzen

13.

Diskursive Resonanzen. Chinesische Schriftzeichen im Lichte der Bilderschrifttradition »Denn die chinesischen Charakteres sind eigentliche Hieroglyphen, daß ist Zeichen der Dinge und nicht der Worte, welches das Wesen einer Hieroglyphe ausmacht; dem zu folge werden auch diese chinesischen Zeichen von allen Missionaren, von denen wir einige verläßliche Nachrichten von China haben, so genennet.« (William Warburton) 139

Fremde und verfremdete Zeichen Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert konzentrieren sich die poetischen Experimente mit der chinesischen Sprache nicht mehr allein auf einzelne Wörter und deren Klang, sondern weiten sich auf die Schriftbildlichkeit aus. Ein Beispiel sind die Illustrationen, die Henri Caruchet für die Neuauflage von Théophile Gautiers Novelle Le pavillon sur l’eau (in der deutschen Übersetzung »Das Lusthaus am Wasser«) 140 anfertigte, die bereits im September 1846 im Literaturmagazin Musée des familles erschienen war und dann im Jahr 1900 neu herausgegeben wurde.141 Interessant sind die Illustrationen aus zwei Gründen: zum einen, weil sie die Buchstaben verfremden, so dass diese, obgleich noch auf Französisch lesbar, fast schon wie chinesische Zeichen aussehen; zum anderen, weil die mit ihnen abgebildeten fremdländischen Schriftzeichen unleserlich sind und damit überhaupt keinen Sinn vermitteln. Die Verfremdung der lateinischen Buchstaben lässt sich anschaulich am Titelblatt aufzeigen. Hier sind mehrere graphische Anklänge an chinesische Schriftzeichen zu erkennen. So ähnelt der letzte Buchstabe in l’eau dem chinesischen Zeichen 止 (zhi, dt. ›aufhören‹, ›anhalten‹), und der letzte Buchstabe in pavillon hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem chinesischen Zeichen für ›Quelle‹ oder ›Brunnen‹, chin. 井 ( jing). Es bleibt allerdings immer nur bei Andeutungen. So fehlt für das chinesische Zeichen 止 der rechte horizontale Mittelstrich und für das Zeichen 井 der untere Querstrich. Lediglich im betont eckig geschriebenen ›o‹ könnte man das chinesische Zeichen für ›Mund‹ erkennen: 口 (kou) (Abb. 27).

139 William Warburton: Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter. Mit einem Beitrag von Jacques Derrida, hg. von Peter Krumme, Frankfurt a. M./ Bern/Wien: Ullstein 1980, S. 60 (EA 1741). 140 Vgl. Théophile Gautier: Avatar. Mit 59 Zeichnungen von Karl M. Schultheiss. Ins Deutsche übertragen von Alastair, Hellerau bei Dresden: Avalun 1925. 141 Théophile Gautier: Le Pavillon sur l’Eau. Compositions en couleurs de Henri Caruchet, Paris: Ferroud 1900.

Chinesische Schriftzeichen im Lichte der Bilderschrifttradition

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Neben den Verfremdungen der lateinischen Buchstaben auf dem Titelblatt gibt es in den Illustrationen Caruchets aber auch tatsächlich fremde Zeichen, die ihrerseits dann allerdings zumeist so gut wie unleserlich sind. Die ersten finden sich auf den auf Seite 2 und 3 abgebildeten Kalligraphien (Abb. 28). Mit ziemlicher Sicherheit kann man sagen, dass es sich um reale chinesische Zeichen handelt, die jedoch nicht gemäß den Regeln der chinesischen Kalligraphie geschrieben worden sind, und das allein schon, weil der Pinselstrich viel zu dick aufgetragen ist. Auf dem zweiten Blatt lassen sich die Zeichen 挽 (wan) und 和 (he oder huo) erkennen. Das erste Schriftzeichen bedeutet soviel wie ›trauern‹, auch im Sinne von ›Trauergesang‹ (ursprünglich: ›einen Wagen ziehen‹, d. h. ›bei einer Trauerfeier die Seile des Sarges ziehen‹, woraus sich die Bedeutung ›trauern‹ herleitet), das zweite ›harmonisch, friedlich‹. Da jedoch die folgenden Zeichen verdeckt sind, lässt sich der Sinn der gesamten Kalligraphie – womöglich handelt es sich um ein klassisches Gedicht – nicht entziffern. Bemerkenswert dabei ist, dass Caruchet die Schriftzeichen auf der gegenüberliegenden Buchseite sich widerspiegeln lässt. Das Arrangement nimmt in gewisser Weise Dauthendeys Spiel mit den Zeichen in »Der Wildgänse Flug in Katata nachschauen« vorweg, wo ein solches Zeichen in seiner Bedeutung durch die Spiegelung auf der Wasseroberfläche fiktiv negiert wird.142

Abb. 27: Titelblatt der Erzählung Le Pavillon sur l’eau (Detail), illustriert von Henri Caruchet.

142 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 3.

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Transkulturelle Resonanzen

Abb. 28: Le Pavillon sur l’eau, Seite 2 und 3 mit Kalligraphien, illustriert von Henri Caruchet.

Caruchets Illustration mit den verfremdeten Buchstaben unterscheidet sich grundlegend von der Einbandgestaltung der bibliophilen Ausgabe des Romans Das schöne Mädchen von Pao (1910),143 auf dessen vorderem Buchdeckel fünf gut lesbare chinesische Schriftzeichen zu sehen sind (Abb. 29).

Abb. 29: Originaleinband von Otto Julius Bierbaums Roman Das schöne Mädchen von Pao (1910).

143 Otto Julius Bierbaum: Das schöne Mädchen von Pao. Ein chinesischer Roman. Prachtausgabe mit Bildern von Bayros, Berlin: Müller 1910 (EA Berlin: Schuster & Loeffler 1899 ohne Illustrationen).

Chinesische Schriftzeichen im Lichte der Bilderschrifttradition

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Unvermittelt damit konfrontiert, dürften diese Schriftzeichen aufgrund ihrer Fremdheit beim Betrachter zunächst einmal ein Gefühl großer Ferne und mit ihm zugleich auch etwas Geheimnisvolles ausgelöst haben, ohne jedoch ihrerseits Exotisches einfach nur vorzutäuschen. Die abgebildeten Zeichen wirken in ihrer unprätentiös-kompakten Darstellung authentisch und wollen geradezu von einem sprachkompetenten Leser aufgenommen und gedeutet werden (Bierbaum selbst hatte in Berlin Sinologie studiert). Verglichen mit der unübersehbaren Exotik und Erotik, die durch die von Franz von Bayros angefertigten Radierungen sehr freizügig in Szene gesetzt wird (insgesamt sind es sieben ganzseitige Illustrationen), zielen die Schriftzüge auf dem Buchdeckel auf eine viel subtilere Resonanz ab, die sich an ein gut informiertes Bildungsbürgertum richtet. Im Gegensatz zur eher süßlich-aufdringlichen Jugendstil-Exotik der Illustrationen wirkt die sich völlig auf die Wirkung der Kalligraphie verlassende Einbandgestaltung in ihrer Präsentation geradezu monolithisch und abweisend, und ihre Zeichen sind Bedeutungsträger einer ganz anderen Dimension. Die ersten zwei Schriftzüge stellen unmittelbar den Bezug zu einem König der Zhou-Dynastie her, dessen eigentlicher Name Zhou You Wang (周幽王, 795–771 v. Chr., Regent seit 781) war, und die letzten beiden spielen auf eine Konkubine namens Baosi (褒姒) an, die der König der Legende nach im Jahre 779 v. Chr. zu seiner Favoritin und später zur Königin machte, wobei er seine bisherige Frau und seinen Sohn enterbte. Das mittlere Schriftzeichen 寵 (chong) bedeutet ›lieben, verwöhnen‹, was in wörtlicher Übersetzung folglich heißen müsste: ›König (Zhou) You Wang liebt (das Mädchen, die Konkubine) Baosi‹, oder auf den angemessenen Ausdruck gehoben: »König Yu erweist der Pao-Szê seine Liebe«.144 Der Romantitel Das schöne Mädchen von Pao145 ist demnach nichts anderes als eine freie Übersetzung einer jener historischen Legenden, die in China als 野史 (yeshi) bezeichnet werden, was soviel wie ›wilde Geschichten‹ bedeutet. Es handelt sich dabei um einen Bereich der Geschichtsschreibung, der sich auf Begebenheiten bezieht, die nicht von den kaiserlichen Beamten aufgezeichnet und deshalb offiziell auch nicht anerkannt wurden. Die ›wilden Geschichten‹ speisen sich vorwiegend aus Anekdoten und Legenden und sind häufig Geister-, Dämonen- und Liebesgeschichten. Durch die Bezugnahme auf jene marginale Form der Geschichtsschreibung wird der chinesische Leser gleichsam auf die Romanhandlung vorbereitet und eingestimmt, wogegen der deutsche Leser erst langsam, im Zuge seiner Lektüre das allusive Feld der auf dem Buchdeckel kalligraphierten Zeichen zu erkunden beginnt. 144 So in der Schreibung und Übersetzung Bierbaums; Otto Julius Bierbaum: Das schöne Mädchen von Pao. Ein chinesischer Roman, Berlin: Schuster & Loeffler 1899, S. X. 145 Durch die Zufügung ›von‹ gewinnt man den Eindruck, dass Pao ein Ortsname sei, was aber nicht richtig ist, denn der Name der Konkubine Baosi ist historisch überliefert.

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Während die Illustrationen von Bayros allein mit der Exotik und Erotik des ›schönen Mädchens‹ spielen, macht im Gegensatz dazu die Kalligraphie auf dem vorderen Buchdeckel China zum Gegenstand eines kulturhistorischen Studiums. Sie eröffnet dem kompetenten Leser einen Kontext, in den er die Liebesgeschichte des Romans einordnen kann.146 Ganz anders funktionieren dagegen die Abbildungen von Caruchet. Sie tauchen in die fremdartige Zeichenwelt Chinas ein, indem sie die Schriftzüge auf doppelte Weise verfremden: Auf dem Titelblatt werden die Buchstaben des französischen Alphabets derart modifiziert, dass sie fast schon chinesische Gestalt annehmen, um dann aber doch für westliche Augen immer noch lesbar zu bleiben. Die Illustrationen anderer Episoden zeigen hingegen Kalligraphien, die vermutlich aus Unkenntnis der chinesischen Schrift so ungeschickt ausgeführt worden sind, dass sie sich überhaupt nicht mehr lesen lassen. Auch wenn einzelne Schriftzeichen entziffert werden können, bleibt eine Unsicherheit bezüglich ihrer Bedeutung, da sich der Sinn des Ganzen erst aus dem Zusammenhang aller Zeichen erschließt. Durch diese Art radikaler Verfremdung wird auch dem sich kompetent fühlenden Leser offenbar, wie fremdartig und unzugänglich diese Schriftzeichen für einen westlichen Betrachter tatsächlich sind und wie groß hier die Diskrepanz zwischen dem interessierten Blick und der Möglichkeit des wirklichen Verstehens ist. Schriftverfremdungen wie diese gehören jedoch keineswegs zu den Innovationen der Moderne, sondern sind schon viel früher zu finden, wobei sie sich aber in der Regel im Bereich europäischer Schriften bewegt haben. Als Beispiel sei hier auf das Titelblatt der im Jahr 1773 erschienenen Gedichte im Geschmack des Grecourt von Johann George Scheffner (1736–1820) verwiesen: Über die Titelvignette ließ Scheffner ein vierzeiliges Motto in griechischer Schrift setzen (Abb. 30), hinter dem sich jedoch ein französisch zu lesender Text verbirgt: Ma verve est indiscrète, Je la condamne: en effet, Est-il un sage poète? Est-il un amant discret?

Ihm folgt, ebenfalls in griechischer Schrift, der Name Chaulieu, womit der Abbé Guillaume Amfrye de Chaulieu (1639–1720) gemeint ist, aus dessen Gedicht »Portrait« diese Zeilen stammen.

146 Darüber hinaus haben einige der Zeichen auf dem Buchdeckel, wenn man sie gesondert betrachtet, ganz spezifische Konnotationen. 幽 (you) konnotiert etwas Unergründliches; es bedeutet soviel wie ›abgelegen, abgeschlossen, versteckt, entlegen‹, aber auch ›undeutlich, vage, verschwommen‹. Das Schriftzeichen wird heute noch im Japanischen gebraucht, um ein Gespenst 幽霊 (yu¯rei) oder das Toten- und Schattenreich 幽冥 (yu¯mei) zu bezeichnen; im ästhetischen Konzept 幽玄 (yu¯gen) drückt es eine unergründliche Tiefe aus (vgl. Kapitel 12).

Chinesische Schriftzeichen im Lichte der Bilderschrifttradition

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Abb. 30 und 31, links: Johann George Scheffner, Titelblatt der Gedichte im Geschmack des Grecourt (Frankfurt und Leipzig: Dodsley und Compagnie 1773 [= Königsberg: Kanter]). Auch die Erstausgabe von 1771 (gleicher Verlagsort) trägt bereits dieses Motto auf dem Titelblatt; rechts: Frontispiz der Erstausgabe von Goethes West-östlichem Divan (1819).

In der Literatur des 18. und 19. Jahrhundert gab es nur wenige deutsche Autoren, die das Titelblatt ihrer Werke mit den einer fremden Sprache entlehnten Schriftzeichen, das Griechische und Hebräische einmal ausgenommen, versehen ließen. Zu ihnen gehörte auch Goethe, der den Kupfertitel für die Erstausgabe seines West-östlichen Divans (1819) sowohl in arabischer als auch in deutscher Schrift stechen ließ (Abb. 31). Goethe sah darin die Konkretisierung einer westöstlichen Begegnung, und dem entsprechend lautet der arabische Titel, den man in der Kartusche lesen kann, in der deutschen Übersetzung: »Der östliche Divan des westlichen Autors.«147 Auch Joseph von Hammer versah das Titelblatt seines Morgenländische[n] Kleeblatt[s] bestehend aus persischen Hymnen, arabischen Elegien, türkischen Eklogen, das 1819 in Wien erschien, mit arabischen Schriftzügen.148 Chinesische Schriftzeichen hingegen sind in deutschsprachigen Büchern und gelehrten Zeitschriften bis zum Ende des 18. Jahrhundert nur sehr selten zu finden. Das mag vor allem zwei Gründe gehabt haben: Zum einen wusste man bis dahin verhältnismäßig wenig über das Land und seine Kultur (ein Defizit, das die 147 Vgl. Goethes Morgenlandfahrten. West-östliche Begegnungen, hg. von Jochen Golz, Frankfurt a. M./Leipzig: Insel 1999, S. 246. 148 Ebd., S. 187. Weitere Beispiele wären William Jones: Asiaticae commentatorium libri sex cum appendices, London: Richardson 1774 (S. 8), dt. Leipzig: Weidmann & Reich 1777 (S. 6) und Heinrich Friedrich von Diez: Denkwürdigkeiten von Asien in Künsten, und Wissenschaften, Sitten, Gebräuchen und Alterthümern, Religion und Regierungsverfassung, Band 1, Berlin: Nicolai 1811.

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Transkulturelle Resonanzen

gelehrten Zeitschriften zwischen 1770 und 1790 nach und nach auszugleichen versuchten), zum anderen aber war es extrem aufwendig, die notwendigen Druckvorlagen herzustellen. Ihre Kenntnisse über China bezogen die europäischen Gelehrten fast ausschließlich über die dort tätigen Missionare, zumeist Jesuiten. Eine andere Informationsquelle waren dann vor allem die Reiseberichte, die von Sprach- oder Naturwissenschaftlern sowie von Geschäftsreisenden und Gesandten verfasst worden waren.149 Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Reisebeschreibung von Chrétien-Louis-Joseph de Guignes (1759–1845),150 dem Sohn eines Sinologen, der 1794 den kaiserlichen Hof in Peking besucht hatte und im selben Jahr, als sein Bericht über diese Reise erschien (1808), von Napoleon den Auftrag erhielt, ein Wörterbuch anzufertigen, das dann fünf Jahre später als Dictionnaire Chinois, Français et Latin publiziert werden konnte.151 Allerdings stellte sich bald heraus, dass de Guignes mehr oder weniger nichts als ein altes Wörterbuch kopiert hatte, und zwar das des italienischen Missionars Basile de Glemona, das in Abschriften in China kursierte, ohne dass jedoch dabei der Name des ursprünglichen Autors genannt wurde. Allerdings nahm de Guignes seiner Vorlage gegenüber eine entscheidende Veränderung vor: Hatte Glemona sein Wörterbuch noch nach dem Wortlaut und den verschiedenen Tönen geordnet, so unterwarf de Guignes sein Wörterbuch einem neuen Gliederungsprinzip, basierend auf den 214 Radikalen der chinesischen Schriftzeichen. Dieser Paradigmenwechsel ist der Ausdruck einer grundlegenden Neuerung, denn mit dem Ordnungsprinzip des Wörterbuchs veränderten sich gleichzeitig auch die kulturellen Erfahrungsschemata, auf deren Grundlage man die chinesische Schrift in ihrer Fremdheit wahrnahm und begriff. Der Zugang zum Chinesischen verschob sich von nun an allmählich ausgehend vom Wortlaut zum Schriftzeichen in seiner visuellen Grundstruktur. Etwa zur selben Zeit begannen auch Orientalisten damit, vermehrt Drucktypen mit chinesischen Schriftzeichen anfertigen zu lassen, um so beispielsweise Kataloge chinesischer Bücher drucken zu können. Sehr schön lässt sich dies im Einzelnen für den Orientalisten Julius Klaproth belegen, der 1804 solch einen Katalog in Weimar herausgab.152 149 Vgl. Reise der Gesandtschaft der holländisch-ostindischen Gesellschaft an den Kaiser von China, in den Jahren 1794 und 1795, worinn man eine Beschreibung von mehrern den Europäern unbekannten Theilen dieses Reiches findet. Aus dem Tagebuche des Herrn André Everard Van-Braam Hockgeest, hg. von Médéric Louis Elie Moreau von Saint-Méry. Aus dem Franz., 2 Bde., Leipzig: Heinsius 1798/99. 150 Chrétien-Louis-Joseph de Guignes: Voyages à Péking, Manille et l’île de France, faits dans l’intervalle des années 1784 à 1801 par M. de Guignes, 3 Bde., Paris: Imprimerie Impériale 1808. 151 Chrétien-Louis-Joseph de Guignes: Dictionnaire Chinois, Français et Latin, le Vocabulaire Chinois Latin, Paris: Imprimerie Impériale 1813. 152 Martin Gimm: »Zu Klaproths erstem Katalog chinesischer Bücher, Weimar 1804 – oder:

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Obgleich in China bereits um das Jahr 1040 der Druck mit beweglichen Lettern erfunden worden war, nutzte man dort diese Technik nur selten, da es einfacher war und weniger Zeit in Anspruch nahm, die Druckplatten im Ganzen zu schnitzen, statt die einzelnen Typen für die Schriftzeichen unter vielen Tausenden herauszusuchen. In Europa aber lagen die Dinge anders, denn man druckte nicht ganze Bücher auf Chinesisch, sondern benötigte lediglich eine bestimmte Anzahl von Zeichen, um Buchtitel oder Namen wiederzugeben. Aus diesem Grunde verfügten hier nur einzelne Verlage über Druckstöcke mit chinesischen Schriftzeichen.153

Heilsgeschichtliche Schrifthalluzinationen bei Athanasius Kircher154 Eines der frühen Zeugnisse für die Verwendung chinesischer Schriftzeichen in Büchern der westlichen Welt ist Athanasius Kirchers (1602–1680) China Monumentis […] illustrata, das 1667 in Amsterdam veröffentlicht wurde.155 Das Buch enthält eine Reihe von Sinogrammen, doch wirkt der Druck recht unbeholfen und »ungestaltet«156 (Abb. 32). Kircher war Professor für Mathematik, Physik und orientalische Sprachen am Collegium Romanum und verwendete viel Zeit und Mühe darauf, die ägyptischen Hieroglyphen zu entschlüsseln. Seinen Deutungsversuchen lag jedoch ein grundsätzliches Missverständnis zugrunde, denn er begriff die Hieroglyphen nicht als Zeichen eines phonetischen Systems, sondern als Symbole. Dennoch hat Kircher eine beachtliche Vorarbeit zur Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen geleistet, vor allem deshalb, weil er dem Koptischen eine Vermittlerfunktion

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Julius Klaproth als ›studentische Hilfskraft‹ bei Goethe?«, in: Das andere China. Festschrift für Wolfgang Bauer zum 65. Geburtstag, hg. von Helwig Schmidt-Glintzer, Wiesbaden: Harrassowitz 1995, S. 559–599. Der Sinologe Günther Debon weist darauf hin, dass Goethe sich um die Jahreswende 1818– 1819 in der Großherzoglichen Bibliothek in Weimar verschiedene Druckstöcke mit chinesischen Schriftzügen ausgeliehen habe, vgl. Günther Debon: »Was wußte Goethe von der chinesischen Sprache und Schrift?«, in: Goethes Morgenlandfahrten, S. 54–65, hier S. 58–59; ausführlich zu dem Thema siehe Georg Lehner: Der Druck chinesischer Zeichen in Europa. Entwicklungen im 19. Jahrhundert, Wiesbaden: Harrassowitz 2004. Teile der Ausführungen zu Kircher basieren auf meinem Aufsatz »Christologische Schrifthalluzinationen. Athanasius Kircher als Exeget ägyptischer Hieroglyphen und chinesischer Schriftzeichen«, erscheint in: Daphnis 43/2 (2015). Athanasius Kircher: China Monumentis, qua sacris qua profanis, necnon variis naturae et artis spectaculis aliarumque rerum memorabilium argumentis illustrata, Amsterdam: Meurs 1667. Johann Gottfried Eichhorn äußerte 1807 über Kirchers China illustrata: »Alle eingedruckte [sic!] Sinesische Charactere sind in diesen Werken noch sehr ungestaltet.« ( Johann Gottfried Eichhorn: Geschichte der neuern Sprachenkunde, Göttingen: Vandenhoeck 1807, S. 68; zit. n. Lehner: Der Druck chinesischer Zeichen in Europa, S. 16.)

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Transkulturelle Resonanzen

Abb. 32: Chinesische Schriftzeichen bei Athanasius Kircher, Ausschnitt aus China illustrata.

zugestand und den hieroglyphischen Begriff als solchen auf seinen Anfangsbuchstaben reduzierte. (Champollion bezeichnet diese Reduktion auf den Anfangslaut später als das »akrophonische Prinzip«.157) Der Stellenwert von Kirchers Forschungen ist in der Wissenschaft immer noch äußerst umstritten, obgleich er auch unter Semiotikern Bewunderer hat, wie z. B. Umberto Eco, der in seinem Buch Die Suche nach der vollkommenen Sprache anmerkt, dass Kircher »nicht dafür zu tadeln [sei], daß er eine grammatologische Struktur nicht verstanden hatte, zu der niemand in seiner Zeit den Schlüssel besaß«. Man müsse vielmehr »die Ideologie erkennen, die ihn dazu gebracht hat, seine Irrtümer ins Gigantische zu vergrößern«.158 In der Forschung werden Kirchers Entzifferungsversuche der Hieroglyphen inzwischen vor allem mit der Bilderschrifttradition in Verbindung gebracht. Im Gegensatz zur Ägyptologie, welche in den hieroglyphischen Schriftzeichen einen Verweis auf das Gesprochene erblickt, egal, ob phonetisch oder ideographisch, lässt die Bilderschrifttradition diese Beziehung zwischen Schrift und Sprache nicht nur unberücksichtigt, wie Astrid Keiner in ihrer Untersuchung zur Hieroglyphenromantik aufgezeigt hat, »sondern erhebt hieroglyphische Zeichen gerade dadurch zum Faszinationsobjekt, daß sie auf einen sprachunabhängigen, ganzheitlich-ontologischen Sinn verweisen. Nicht die Schriftzeichen, sondern die Schrift als Zeichen ist hier gefragt. Folglich werden Hieroglyphen als signaturenhafte Bilder ›gelesen‹.«159 Der westlichen Hieroglyphendiskussion habe, so Keiner weiter, über Jahrhunderte ein »figuratives Vorurteil« zugrunde gelegen, wonach die Bildlichkeit der Zeichen »zur allegorisch-symbolischen Signifikanz überformt« wird, »was Schrift im Sinne schlichter Sprachnotation aus diesem Hieroglyphenverständnis herauskürzt«.160 Dieses figurative Vorurteil über157 Von Akrophonie spricht man, wenn die Buchstaben (wie z. B. bei der phönizischen Schrift) nach einem Gegenstand oder Tier benannt sind, dessen Bezeichnung mit eben diesem Buchstaben beginnt, so wie das Aleph mit dem Rind in Beziehung steht, das Beth mit dem Grundriss eines Hauses, das Gimel mit einem Kamel usw. 158 Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München: Beck 1994, S. 171. 159 Astrid Keiner: Hieroglyphenromantik. Zur Genese und Destruktion eines Bilderschriftmodells und zu seiner Überforderung in Friedrich Schlegels Spätphilosophie, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 32. 160 Ebd.

Chinesische Schriftzeichen im Lichte der Bilderschrifttradition

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schneidet sich mit einer weiteren Voreingenommenheit, und zwar dem »piktographische[n] Vorurteil«, dem folgend die Hieroglyphen als »profane Bilderschrift«161 betrachtet werden. Ein anschauliches Beispiel für eine solche Hieroglyphendeutung gibt Kircher in seinem Werk Obeliscus Pamphilius (1650).

Abb. 33: Hieroglyphendeutung bei Athanasius Kircher, Obeliscus Pamphilius; hoc est interpretatio nova & hucusque intentata obelisci hieroglyphici (1650).

161 Ebd. Hervorhebung im Original.

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Transkulturelle Resonanzen

Aus der Hieroglyphe eines Ibis’ mit herunter gebeugtem Hals (Abb. 33) leitet sich für Kircher aufgrund der koptischen Akrophonie das »A« ab.162 Seiner Ansicht nach steht diese Hieroglyphe für ›gute Geister‹, gr. agathodaimon, und ist der Ursprung für den griechischen Buchstaben Alpha. Kirchers Auffassung von den ägyptischen Hieroglyphen und seine Fehldeutungen beruhen auf Seh- und Lesegewohnheiten, die von der Emblemliteratur geprägt waren, wonach eine pictura (für Kircher eine Hieroglyphe) in Beziehung zu einem Text (inscriptio, subscriptio) zu entziffern sei. Durch diese Sichtweise wurde er dazu verleitet, die fremden Schriftzeichen »über ihren bildhaften Sinn und nicht im Sinne eines Silbenalphabets aufzufassen«.163 Bei den Deutungen, die er in Oedipus Aegyptiacus (1652–54) vornimmt, hält er an der Annahme fest, dass die bildlichen Hieroglyphen Symbole ohne Sprache seien, gleichsam absolute Zeichen mit einem idealen Gehalt.164 Der Prä-Text wird bei Kircher durch das neuplatonische Weltbild vorgegeben, das er in die ägyptischen Inschriften hineinliest. Die hieroglyphischen Konfigurationen wurden dabei zu einer »Art halluzinatorischer Versuchsanordnung« arrangiert, in der er »alle möglichen Interpretationen zusammenfließen lassen [konnte]«.165 So vermochte er einerseits unzählige aktuelle Themen aufzugreifen und andererseits an alte Traditionen anzuknüpfen. Auch in seiner Wahrnehmung der ägyptischen Hieroglyphen war Kircher durch und durch vom neuplatonischen Denken beeinflusst. Er vertrat die Auffassung, dass die Hieroglyphenschrift im Wesentlichen dazu gedient habe, esoterisches Wissen anzusammeln und zu bewahren. Diese Auffassung versinnbildlicht das Frontispiz seines Obeliscus Pamphilius, welches das Bild der Philomantia zeigt, der Hermes die Mysterien erklärt, während Harpokrates die Profanen abweist. Schon lange vor dieser Zeit hatten sich verschiedene griechische Philosophen (namentlich Plutarch, Plotin und Iamblichos) mit den ägyptischen Hieroglyphen befasst und so den Grundstein für das abendländische Hieroglyphenverständnis gelegt.166 Sie gingen davon aus, dass es im alten Ägypten zwei unterschiedliche 162 Vgl. dazu Keiner: Hieroglyphenromantik, S. 81. 163 Felicia Englmann: Sphärenharmonie und Mikrokosmos. Das politische Denken des Athanasius Kircher (1602–1680), Köln: Böhlau 2006, S. 151. 164 »Praeterea literae hieroglyphicae non simplices voces, aut nomina, sed integros conceptus ideales involvebant.« (Athanasius Kircher: Oedipus Aegyptiacus; hoc est universalis hieroglyphicae veterum doctrinae temporum iniuria abolitae instauratio, 4 Bde., Rom: Mascardi 1652–54, hier Bd. 1, S. 13.) Kircher wiederholt diesen Satz dann auch wortwörtlich in seiner China illustrata, S. 234. 165 Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, S. 171. 166 Vgl. dazu Jan Assmann: »Zur Ästhetik des Geheimnisses. Kryptographie als Kalligraphie im alten Ägypten«, in: Schleier und Schwelle. Archäologie der literarischen Kommunikation. Bd. 1: Geheimnis und Öffentlichkeit, hg. von Aleida und Jan Assmann, München: Fink 1997, S. 313–327, hier S. 313; zur Rezeption des griechischen Hieroglyphenverständnisses s. Erik

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Schriften gegeben habe, eine Priesterschrift und eine Volksschrift (tatsächlich existierten drei: das Demotische, das Hieratische und die Hieroglyphen),167 und dass die Priesterschrift vor dem Volk geheim gehalten wurde. Von Bedeutung für deren Verständnis war außerdem ein Traktat des Chaeremon aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert, in dem behauptet wird, dass die Hieroglyphen keine Schriftzeichen seien, sondern dass es sich »um Bilder handele, in denen die Priester-Schreiber ihre allegorischen Ideen über Gott und Welt verschlüsselten«.168 Dieser Denktradition folgend, begriff Kircher die Hieroglyphen als Kryptogramme, die er mit Hilfe bekannter Verfahren aus der Emblematik entziffern zu können glaubte. Zwar gehen sämtliche seiner Deutungsversuche fehl, doch werden sie noch heute mit Recht als »creative misreadings«169 bewertet. Sie geben darüber hinaus Einblick in die Wahrnehmungsweise und Deutungsverfahren fremder und unleserlicher Zeichen, wie sie im 17. Jahrhundert vorherrschend waren. Heute wissen wir, dass eine Hieroglyphe im Altägyptischen als ein Phonogramm und auch als ein Piktogramm fungieren konnte. Das heißt, das schriftbildliche Zeichen einer hockenden Eule kann einerseits als das Ideogramm für ›Eule‹ aufgefasst werden, gleichzeitig aber auch für den Konsonanten m stehen.170 Solch eine Kombination von ideographischen und phonetischen Elementen ist nicht nur im ägyptischen Schriftsystem anzutreffen, sondern auch in den verschiedenen Keilschriften, dem Sumerischen, Akkadischen und Hethitischen, sowie im Chinesischen.171 Ausgehend von Champollion hat sich die Auffassung von der hieroglyphischen Schrift als einem komplexen System durchgesetzt, in dem gleichzeitig figurative, symbolische und phonetische Funktionen zur Geltung kommen: Was die Hieroglyphenschrift demnach von einer Bilderschrift unterscheidet, ist die Fähigkeit, einen Text nicht nur inhaltlich abzubilden, sondern sprachlich genau zu

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Iversen: The Myth of Egypt and its Hieroglyphs in European Tradition, Princeton: Princeton Univ. Press 1993 (EA Kopenhagen: Munskgard 1961) und Lieselotte Dieckmann: Hieroglyphics. The History of a Literary Symbol, St. Louis: Washington Univ. Press 1970. Vgl. Jan Assmann: Zur Ästhetik des Geheimnisses, S. 313, Fußnote 3. Bei Porphyrios und Clemens Alexandrinus finden sich Hinweise auf drei Schriften. Wie Assmann darlegt, benutzten die Priester das Demotische für den Alltag und die beiden anderen für sakrale Zwecke, d. h. das Hieratische für Handschriften und Bücher, die Hieroglyphen jedoch für Inschriften. Ebd., S. 313–314 (Fußnote 4). Rupert Gaderer/Ludwig D. Morenz: »Schriftgeschichte als Missverständnis. Bild – Hieroglyphe – Buchstabe – Emblem – Isotype«, in: Goofy History. Fehler machen Geschichte, hg. von Butis Butis, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2009, S. 58–69, hier S. 65. Zur Einführung s. auch Keiner: Hieroglyphenromantik, S. 21–29. William Bright/Peter T. Daniels (Hg.): The World’s Writing Systems, New York: Oxford Univ. Press 1996. Vgl. außerdem Wolfgang Schenkel: Die hieroglyphische Schriftlehre und die Realität der hieroglyphischen Graphien, Stuttgart: Hirzel 2003.

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fixieren; was sie mit ihr gemein hat, ist die Verwendung gegenständlicher Zeichen. Die am Alphabetschriftsystem orientierte Beschreibungsterminologie bleibt aber unvermeidbar. Die relative Gleichordnung ganz verschiedener Zeichenfunktionen läßt die Hieroglyphenschrift als Mischform erscheinen. Die verschiedenen Zeichenfunktionen im einzelnen zu benennen, verstrickt noch tiefer in terminologische Schwierigkeiten. Vor allem die von Champollion ideographisch (figurativ und symbolisch) genannten Zeichen haben unterschiedliche Rubrizierungen erfahren. Faßt man sie als Semogramme (Sinnzeichen) auf, referiert man damit auf eine sprachunabhängige Bedeutung, die zusätzlich zur ideographischen Funktion noch eine rein abbildliche (Piktogramme) umfaßt. Faßt man sie dagegen als Logogramme (Wortzeichen) auf, geht es um die bildliche Erfassung auch sprachlicher Einheiten. Tatsächlich operieren die Termini an der Grenze zwischen Zeichen und Bild, d. h. zwischen Repräsentation und Abbildlichkeit. Sie geben notgedrungen Auskunft über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit sprachunabhängiger Referenzialität.172

Auch die ihm bekannten chinesischen Zeichen versuchte Kircher auf entsprechende Weise vor dem Hintergrund einer solchen allegorisch-bildlichen Signifikation zu entziffern und herzuleiten. Zu diesem Zweck verglich er sie mit den ägyptischen Hieroglyphen, denn er glaubte fest an deren Tradierung durch Noahs Sohn Cham (Ham), in welchem er zudem Zarathustra zu erkennen meinte.173 Auf die Schriftzeichen selbst kommt Kircher im sechsten Teil (»De sinensium literatura«) der China illustrata zu sprechen. In seinen historischen Ausführungen legt er gleich zu Beginn die Meinung dar, dass die Schrift in China dreihundert Jahre nach der Sintflut durch den Kaiser Fohi eingeführt worden sei.174 Allerdings revidiert er diese These wenig später unter Berufung auf Michael Boym175 und behauptet nun, dass die Schrift nicht wirklich in China erfunden worden sei, sondern von den ägyptischen Hieroglyphen abstamme, was er mit dem bereits erwähnten Mythos zu erklären sucht, dass Noahs Sohn Cham (Ham) sein Volk aus Ägypten nach Persien geführt und später auch China kolonisierte habe. Zeuge dafür seien die chinesischen Schriftzeichen, da sie die ägyptischen Hieroglyphen imitierten: »[…] magni momenti argumentum sunt veteres isti Sinensium Characteres, hieroglyphicorum in omnibus æmuli«.176

172 Keiner: Hieroglyphenromantik, S. 26. 173 Ebd., S. 83; dazu Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, S. 168ff. 174 « […] primam literarum inventionem ponunt trecentis ferè annis post Diluvium, quarum primus institutor & Rex fuit nomine Fohi« (Kircher: China illustrata, S. 225). Mit Fohi ist der legendäre Kaiser Fu Xi gemeint, der in China als einer der ›drei mythologischen Herrscher‹ gilt. 175 Eigentlich Michał Piotr Boym (1612–1659); er war ein jesuitischer Missionar aus Polen, der sich von 1653 bis 1656 in Rom aufhielt und Kircher in chinesischer Sprache und Schrift unterrichtete; 1656 veröffentlichte er seine Flora Sinensis. 176 Kircher: China illustrata, S. 226.

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Im Kontext dieser Beweisführung war für Kircher eine Stele aus dem Jahr 781 von großer Wichtigkeit, die man in der Stadt Xi’an gefunden hatte und die von in China ansässigen Nestorianern stammte. Kircher war der festen Überzeugung, dass der christliche Glaube schon sehr früh nach China gelangt sei, wofür ihm diese Stele mit ihrer Inschrift ein eindeutiger Beweis war. Eben dieser Fund war dann auch der Anlass dafür, das Buch China illustrata zu verfassen, in dem die genannte Stele ausführlich beschrieben wird. Für Kircher zeigt sich die Verwandtschaft der chinesischen Schriftzeichen mit den ägyptischen Hieroglyphen darin, dass beide der sichtbaren Welt entnommen wurden und eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der jeweiligen Gestalt des Zeichens und der bedeuteten Sache besteht – in beiden vermutete er so etwas wie eine gemeinsame bildhafte Ursprache. Er beruft sich dabei auch auf chinesische Quellen, deren Kenntnis er zum Großteil den jesuitischen Missionaren verdankte, so u. a. auf das Vorwort des großen Wörterbuchs (Shouwen jiezi), in dem von einer ursprünglichen Verbindung der Schriftzeichen mit Tieren bzw. deren optisch wahrnehmbaren Spuren ihrer Fortbewegung die Rede ist, und er äußert die Ansicht, dass sich das Schriftbild der chinesischen Zeichen durch einen langwierigen Abschleifungsprozess verändert habe, bei dem im Laufe der Zeit der ursprüngliche Dingcharakter der Schriftzeichen mehr und mehr verloren gegangen sei. Diesen Prozess stellte er in seiner Schrift China illustrata (1667) folgendermaßen dar (Abb. 34).

Abb. 34: Abschleifungen chinesischer Zeichen, darunter die Herleitung.

Das erste Zeichen oben links 篆 (zhuan) verweist auf einen besonderen Schriftstil. (Die traditionelle Siegelschrift z. B. wird im Chinesischen als zhuanshu bezeichnet.) Mit dem entsprechenden Schriftzeichen darunter deutet Kircher eine Herleitung aus Ähren oder Pflanzenwurzeln an. Das zweite, in der oberen Zeile dann folgende Sinogramm 字 (zi) bedeutet ›Schriftzeichen‹ und geht laut Kircher auf eine Formation von Blättern zurück. Das dritte 星 (xing) bezeichnet

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einen Stern und wird auf ein Sinnbild zurückgeführt, das auf den ersten Blick an ein alchemistisches Symbol oder an einen Leuchter erinnert. Das vierte Schriftzeichen 文 (wen) ist in Hinblick auf seine Bedeutung dem zweiten verwandt und bedeutet ›Schrift‹ (im heutigen Sinne auch allgemein ›Literatur‹). Kircher erklärt nicht, woraus sich dieses Zeichen ableitet – aufgrund der Abbildung könnte man auf ein Gefäß oder dergleichen schließen. Das fünfte und letzte Schriftzeichen 江 ( jiang) bedeutet ›Fluss‹, genauer gesagt ›großer Fluss‹, und leitet sich Kircher zufolge aus einer darin anzutreffenden Anordnung von Fischen her. Die Ähnlichkeit regelt für Kircher die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem: Zur Bezeichnung himmlischer Dinge werden Konfigurationen von Vögeln benutzt, zur Bezeichnung von Dingen, die sich im Wasser befinden oder mit dem Wasser in Zusammenhang stehen, Fische; mit dem Feuer verbundene Dinge werden mit Hilfe von Drachen- oder Schlangenzeichen dargestellt, während die vegetabilische Natur durch Zeichen nachgebildet wird, die sich aus Blumen, Blättern oder Zweigen zusammensetzen.177 In seiner Untersuchung unterteilt Kircher die chinesischen Schriftzeichen hinsichtlich ihrer Ableitungen in 16 Kategorien: 1. Schlangen und Drachen (ex serpentibus & draconibus), 2. Dinge des Ackerbaus (ex agriculturæ rebus), 3. verschiedene Vögel oder Flugwesen (ex alis Avis), 4. Austern und kleine Würmer (ex ostreis & vermiculis), 5. Pflanzenwurzeln (ex herbarum radicibus), 6. verkürzte Vogel(fuß)spuren (ex decurtatis avium vestigiis), 7. Schildkröten (ex testudinibus), 8. Vögel und Pfauen (ex avibus & pavonibus), 9. Pflanzen, Flügel und Schleifen (ex herbis, alis & fasciis), 10. keine Ableitung, 11. Sterne und Planeten (exhibet notas stellarum & planetarum), 12.–14. keine Ableitung, 15. Fische (ex piscibus), 16. Vermischtes, über dessen Strukturen und Formationsprinzipien nichts ausgesagt werden kann (nec compositio, & structura literarum innotescere valuit).178 177 »Hinc igneæ naturæ argumentum tractaturi, serpentibus, aspidibus, & draconibus utebantur, qui tali aut tali ordine & dispositione digesti, tale & tale quid significabant. In aëreis rebus describendis, volucrum varia dispositione, in aqueo argumento, piscibus, in Vegetabili natura describenda floribus, foliis, ramis, in Sideribus, punctis seu circulis, quorum singuli singulas stellas exprimebant, utebantur; in reliquis indifferentibus argumentis ligna, globos, fila certa lege disposita adhibebant.« (Kircher: China illustrata, S. 227.) 178 Kircher: China illustrata, S. 228–232 (Übersetzung von mir; A.K.). Zu dieser Liste siehe auch

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Diese Liste, so seltsam sie einem westlichen Betrachter heute auch erscheinen mag, war bis ins 19. Jahrhundert hinein maßgebend für das Wissen der Europäer über die chinesische Schrift und ihre Entstehung. In seiner Illustrirten Geschichte der Schrift von 1880 gibt Karl Faulmann, der sich bei seiner Arbeit vornehmlich auf den Orientalisten August Pfizmaier beruft, ebenfalls eine vergleichbare Abfolge von Kriterien, anhand derer er die Ursprünge der chinesischen Schriftzeichen zu erfassen sucht. Seine Auflistung umfasst wie die Kirchers sechzehn Kategorien, und man darf vermuten, dass dessen Ableitungen für ihre Erstellung bestimmend gewesen sein werden (vgl. Abb. 44): 1. die »wunderbare Schrift«, 2. die »Zeichen der Inschriften auf Grabsteinen und Heirathscontracten«, 3. die »Schrift der erhabenen Orte« (eine Schrift mit gebrochenen und eckigen Linien), 4. die »Ährenschrift«, 5. die »Sternschrift«, 6. die »Hyaiblattschrift« (die Hyai-Pflanze ist der wilde Knoblauch), 7. die »Drachenkrallenschrift«, 8. die »Kaulquappenschrift« (auch »Froschwürmerschrift« genannt), 9. die »Vogelspurenschrift« (Faulmann vermutet hier ein Missverständnis, da die Schrift keine Ähnlichkeit mit Vogelspuren zeige), 10. die »Thierkönigsschrift« (gemeint ist das Einhorn, doch die Schrift ist eher schlangen- oder eidechsenförmig), 11. die »Vogelschrift« (Striche mit Vogelköpfen an einem Ende), 12. die »Phönixschrift«, 13. die »Drachenschrift«, 14. die »Schildkrötenschrift« (Formationen kleiner Schildkröten), 15. die »Scherenschrift« (eine Schönschrift aus der Han-Zeit, bei der ein Ende in eine Scherenform ausläuft), 16. die »Schrift des weissen Flugs« (ebenfalls aus der späten Han-Zeit; es handelt sich um eine Kombination von mehreren dünnen Strichen).179 Neben der Zahl 16 verbindet die beiden Listen eine punktuelle Ähnlichkeit in Hinblick auf ihren Inhalt. So entspricht z. B. die Nummer 1 aus Kirchers Tabelle (T1) der Nummer 13 aus Faulmanns Tabelle (T2) und die Nummer 2 aus T1 hat eine gewisse Entsprechung in der Nummer 4 aus T2, was sich mit den Nummern Stephan Köhn: Traditionen visuellen Erzählens in Japan. Eine paradigmatische Untersuchung der Entwicklungslinien vom Faltschirmbild zum narrativen Manga, Wiesbaden: Harrassowitz 2005, S. 50–51. 179 Vgl. Karl Faulmann: Illustrirte Geschichte der Schrift. Populärwissenschaftliche Darstellung der Entstehung der Schrift, der Sprachen und der Zahlen sowie der Schriftsysteme aller Völker der Erde, Wien: Hartleben 1880, S. 293–295. (Die erklärenden Kommentare in Klammern stammen von mir; A.K.)

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3 und T1, 11 und T2, 4 und T1, 8 und T2 fortsetzt, sodass man durchaus den Eindruck gewinnen kann, als beziehe sich Faulmann, ohne es zu sagen, indirekt auf Kircher. Es ist äußerst schwierig, aus Kirchers Darstellungen von Pflanzenteilen, Tieren oder Gegenständen die ihnen zugrunde liegenden realen Schriftzeichen herauszulesen. Dennoch seien im Folgenden einige Sinogramme (Kircher benutzt für sie den Begriff »characteres«) herausgegriffen und erläutert, um die von Kircher vermuteten Beziehungen zwischen den bezeichneten Dingen und ihren Zeichen deutlich werden zu lassen.

Abb. 35: Schriftzeichen in unterschiedlichen Schriftstilen aus Kirchers China illustrata.

Das erste Sinogramm (in der Abb. 35 ganz links), von Kircher mit dem Buchstaben G bezeichnet, ist 書 (shu) und bedeutet ›Buch‹. Es gehört in die zweite Gruppe: »Dinge des Ackerbaus«; bei Faulmann entspricht das Strichmuster des Zeichens der »Ährenschrift«. Das zweite Sinogramm von links (R) ist das Zeichen für ›Schriftstil‹ 篆 (zhuan) aus Kirchers achter Kategorie (»Vögel und Pfauen«). Rechts daneben steht das Zeichen für die Farbe gelb 黃 (huang), gefolgt von 帝 (di). Beides zusammen ergibt die Bezeichnung für den mythischen Gelben Kaiser (Huangdi), der am Beginn der chinesischen Kultur gestanden haben soll und zu den ›mythologischen Urkaisern‹ gehört. Diese beiden Schriftzeichen entstammen der fünften Gruppe: Es handelt sich um Ableitungen von Pflanzenteilen bzw. Wurzeln. Warum wird dann aber das Schriftzeichen für ›Wolke‹ 雲 (yun), das hier mit dem Buchstaben Y gekennzeichnet ist, der gleichen Kategorie zugerechnet? Wie begründet sich eine Ableitung dieses Zeichens aus der Ähnlichkeit zu Pflanzenwurzeln? Wenn es Kircher tatsächlich darum gegangen ist, Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem aufzuzeigen, wie ist es dann zu erklären, dass ein und dasselbe Schriftzeichen ganz verschiedenen Kategorien zugeordnet wird bzw. dort bildlich erscheint? Wer würde hinter diesen allein schon optisch sehr heterogenen schriftbildlichen Umsetzungen (Abb. 36) ein und dasselbe Zeichen vermuten? Und doch handelt es sich um drei Varianten desselben Schriftzeichens 書 (shu). Gleiches lässt sich am Sinogramm 文 (wen) verdeutlichen. Auch hier bietet Kircher drei verschiedene Schreibweisen an (Abb. 37):

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Abb. 36: Das Schriftzeichen 書 (shu) in drei verschiedenen Schriftstilen. Rechts daneben die Wiedergabe der neuzeitlichen Schreibung bei Kircher.

Abb. 37: Das Schriftzeichen 文 (wen) in drei Schriftstilen.

Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob es in Kirchers Auflistung überhaupt um die Herleitung von Zeichen geht, wie in der Forschung bislang angenommen wurde,180 oder nicht vielmehr um eine Zusammenstellung mythischer Bücher, die am Anfang der chinesischen Schriftgeschichte gestanden haben sollen,181 wie das Buch der Drachen von Fohi (Pinyin: Fuxi), das Buch des Ackerbaus von Shen Nong, das Buch des sagenhaften Phönix Feng von Sanhuang, die Abhandlung über Austern und Würmer von Zhuan Xu (auch bekannt als Gaoyang) usw.182 Das würde dann die Wiederkehr des Wortes ›Buch‹ in ganz unterschiedlichen Schreibweisen erklären. Es handelt sich bei Kirchers Darstellungen also offensichtlich nicht um die Herleitung einzelner Zeichen auf der Grundlage einer Ähnlichkeit mit den von ihnen bezeichneten Dingen, sondern um die Aufzählung verschiedener ›Ursprünge‹ der Schrift. Die mit den Buchstaben A bis E gekennzeichneten Sinogramme (Abb. 38) bezeichnen Fohis Buch der Drachen (Fohi Draconum liber), das die Mathematik und Astrologie zum Thema hat. Links bzw. rechts unten gibt Kircher die Zeichen in 180 Stephan Köhn spricht in diesem Zusammenhang von »Ableitungen«; vgl. Köhn: Traditionen visuellen Erzählens, S. 50f. 181 Noch Gelehrte des 18. Jahrhunderts wie z. B. Leibniz erbaten sich von den in China tätigen Missionaren Auskunft über diese Bücher: »Gibt es Bücher, [deren Texte] aus Linien, Drachen und anderen Zeichen des P. Kircher zusammengesetzt sind und die Fuxi, Shennong, Shanghuang [Huangdi], Yao und anderen zugeschrieben werden?« (Gottfried Wilhelm Leibniz: Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China (1689–1714), hg. von Rita Widmaier, Hamburg: Meiner 2006, S. 549; Brief von Louis Bourguet an Daniel Ernst Jablonski und Leibniz zur Weiterleitung an Joachim Bouvet vom 6. März 1707). 182 Fuxi ist einer der drei Gottkaiser Chinas, er hat vermutlich bis zum Jahr 2737 v. Chr. gelebt. Kaiser Shennong, dessen Regierungszeit zwischen 2737 und 2698 v. Chr. angesetzt wird, gilt in China als Begründer des Ackerbaus. Gaoyang war ein Enkel des Gelben Kaisers und regierte wahrscheinlich von 2514 bis 2436 v. Chr.

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Abb. 38: Links Das Buch der Drachen von Fohi [Fuxi], rechts Das Buch des Ackerbaus von Shen Nong.

neuzeitlicher Schrift wieder, zu lesen von rechts nach links und von oben nach unten. Fohi (Fuxi) gilt als der erste der Urkaiser Chinas, dem u. a. die Erfindung von acht Trigrammen des Yijing zugeschrieben wird. Wie Kircher zu berichten weiß, sei er es gewesen, der die Schriftzeichen erfunden habe, indem er sie Schlangen und Drachen nachbildete; sein Name 伏羲 ist in der Abbildung mit den Zeichen A und B wiedergegeben. In den Erläuterungen zur rechts abgebildeten Tafel (Abb. 38) verweist Kircher auf Das Buch des Ackerbaus von Kaiser Shen Nong (auch als Buch von Wurzeln und Kräutern bezeichnet, denn es heißt, Shen Nong habe die medizinischen Eigenschaften von Kräutern an sich selbst getestet); in Kirchers latinisierter Umschrift Chum xu xim Num co (in Pinyin: sui shu Shen Nong zuo).183 Es gibt demnach ganz verschiedene Quellen für die Entstehung der Schriftzeichen, ebenso wie es verschiedene Schreibweisen bzw. Schreibstile gibt. Die Mehr183 Das erste Sinogramm (F) bezeichnet eine Ähre oder einen Keim 穗 (sui), dann folgt das Zeichen für ›Buch‹, der Name Shen Nong (H und I) und schließlich das Wort ›machen‹. Wie man sieht, sind die Zeichen hier plötzlich von links nach rechts geschrieben worden, den Buchstaben F-K folgend, während die neuzeitlichen Schriftzeichen unten richtig von rechts nach links abgebildet sind. Auch die Markierung der Tafel links mit der Zahl 3 ist spiegelverkehrt dargestellt. Bei den Vorbereitungen zur Drucklegung sind hier offenbar unbeabsichtigt einige Vertauschungen vorgenommen worden. Darüber hinaus gibt es auch einige Schreibfehler, so fehlt z. B. beim Zeichen für ›machen‹ bzw. ›gemacht‹ 作 (zuo) der vertikale Strich auf der linken Seite.

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zahl der chinesischen Quellen legt einen verstreuten Ursprung der Schrift nahe, was Kirchers These widerspricht, dass die chinesischen Schriftzeichen von den ägyptischen Hieroglyphen abstammen würden, und gleichzeitig seine christologische Herleitung destruiert. Dennoch hält Kircher an seiner Theorie fest und argumentiert insofern geschickt, als er sagt, dass die chinesischen Schriftzeichen im Vergleich mit den Hieroglyphen sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede aufwiesen. Gerade die ältesten chinesischen Zeichen, so meint Kircher, würden seine Theorie stützen, da sie die ägyptischen Hieroglyphen imitierten und ursprünglich »aus den Dingen der Welt« konstruiert seien.184 Seine Argumentation lässt dabei genug Raum für beide Varianten offen: sowohl für die Besiedelung Chinas durch Ham und die Übernahme der ägyptischen Hieroglyphen als auch für die Erfindung der chinesischen Schrift durch Fuxi bzw. Cang Jie. So kann Kircher das Wissen über China sammeln und es dem Leser darbieten, wobei er die von den chinesischen Geschichtsschreibern überlieferten Ursprungsmythen der Schrift problemlos in sein Geschichts- und Weltbild integriert, ohne dass sie für ihn einen Widerspruch zur christologischen Abstammungstheorie bilden würden: Gemeint ist die Entstehung der Schrift aus den Fußspuren von Vögeln und die Orakelschrift, die in Schildkrötenpanzer eingeritzt wurde (Abb. 39). Das mit E gekennzeichnete Sinogramm 鳥 (niao) steht für ›Vogel‹, während das Sinogramm (F) 跡 ( ji) eine ›Spur‹ bezeichnet. Kircher zufolge handelt es sich um »verkürzte Vogelfußspuren« (ex decurtatis avium vestigiis), die mit dem Kaiser Choam Ham (Pinyin: Huang Han; gemeint ist der mythische Kaiser Huangdi, der von 2696 bis 2598 v. Chr. gelebt haben soll) assoziiert werden. In den ersten beiden Zeichen kann man den Namen des legendären Cang Jie 倉頡 (C und D) wiedererkennen, dem nachgesagt wird, dass er, angeregt durch die Fußabdrücke von Tieren, insbesondere von Vögeln, die Schrift erfunden habe und dann als Historiker für den Gelben Kaiser (Huangdi), den Nachfolger Shen Nongs, tätig gewesen sei. Auf der rechten Tafel sind Zeichen dargestellt, die wahrscheinlich auf Schildkrötenpanzern eingeritzt zu sehen waren; als Erfinder dieser Schrift gibt Kircher den Kaiser Yao an (in Faulmanns Aufstellung ist es die Position 14: »Schildkrötenschrift«). Nachdem er die verschiedenen Kategorien der Schreibweisen und Stile der chinesischen Schrift erörtert hat, kommt Kircher auf die Kombinationsmöglichkeiten von Zeichenelementen zu sprechen. An den Beispielen der Sinogramme für ›zehn‹, ›Erde‹, ›König‹ und ›Jade‹ zeigt er die Veränderung der Schriftzeichen hinsichtlich ihrer Form und ihrer Bedeutung auf, indem er jeweils

184 »[…] Sinensium Characteres, hieroglyphicorum in omnibus aemuli« (Kircher: China illustrata, S. 226) und »Primo siquidem ex omnibus rebus mundialibus primos Sinas characteres suos construxisse« (ebd.).

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Abb. 39: Schriftzeichen aus dem Buch des Gelben Kaisers (links) und aus dem Buch des Kaisers Yao (rechts).

einen markanten Strich hinzufügt (Abb. 40).185 Die Abbildung ist von rechts oben nach links unten zu lesen (O – N – M–L):

Abb. 40: Strichkombinationen zur Bildung neuer Zeichen, aus Kirchers China illustrata.

Um die Kombination von zwei eigenständigen Zeichen zu einem neuen zu veranschaulichen, führt Kircher drei Beispiele an (Abb. 41): Zuerst eine Verbindung der Zeichen für ›Tor‹ und ›Herz‹, die das Sinogramm 悶 (men, in Kirchers Umschrift muén) mit der Bedeutung ›Sorge‹ ergibt. Als Zweites wählt er das Zeichen für ›Mensch‹ 人 (ren, in Kirchers Lautung gin) und das für ›König‹ 王 (wang, in Kirchers Lautung uàm). Ihre Kombination (F) bildet dann das Sino185 Das gleiche Beispiel hatte vor Kircher bereits Alvaro Semedo in seinem Buch Relatione della grande Monarchia de la China (Rom: Mascardi 1643), S. 46 publiziert.

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gramm 全 (quan, bei Kircher teiuen) mit der Bedeutung ›perfekt, vollkommen‹. (Demnach wäre der Kaiser der »vollkommene Mensch«.) Rechts daneben (H) findet sich die Kombination der Zeichen für ›Sonne‹ (ri) und ›Mond‹ (yue), die das Sinogrammm für ›Licht‹ 明 (ming) hervorbringt.

Abb. 41: Kombinationen von Schriftzeichen.

Schließlich gibt Kircher noch ein Beispiel für ein höchst komplexes Sinogramm, das bereits als eine Art Syntagmazeichen aufzufassen ist, sofern es in sich gleich vier Zeichen zu einem Sinnzusammenhang vereint (Abb. 42).

Abb. 42: Aus mehreren Schriftzeichen kombiniertes ›Syntagmazeichen‹ bei Kircher.

Es handelt sich um eine syntaktische Verknüpfung, die in einem einzigen Zeichen zusammengefasst wird. Kircher fügt zur Erklärung die lateinischen Worte »Amore alicujus captus, Mulier, filu, verbum« hinzu. Es sind folgende Zeichen zu erkennen: (a) für ›Frau‹ 女 (nü), (b) für ›Faden‹ 糸 (xi; es kann auch ›Verbindung, Beziehung‹ bedeuten), (c) für ›Wort‹ 言 (yan). Jedoch ist das Zeichen für ›Faden‹ ganz rechts (b) vereinfacht und das zweite Zeichen (zwischen a und c) unleserlich. Kircher gibt als Lautung liuen an. Was dieser komplexen Schriftzeichenverbindung am nächsten kommt, allerdings mit einem abweichenden Bestandteil, nämlich dem Radikal 夊 (sui) ›sich hinschleppen‹, ist das Zeichen für ›Wandel, Veränderung‹ (biàn) (Abb. 43), während liàn mit der Bedeutung ›Liebe‹ anstelle des Zeichens ›Frau‹ das für ›Herz‹ enthält.

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Abb. 43: Chinesisches Schriftzeichen für ›Wandel‹.

Die Kombinationsmöglichkeiten chinesischer Zeichen hat Kircher bereits 1654 im dritten Band seines Oedipus Aegyptiacus behandelt. Seine Überlegungen wurden dann von Theophilus Spitzelius (d.i. Gottlieb Spitzel, 1639–1691) in sein 1660 publiziertes Werk De re literaria Sinensium commentarius aufgenommen;186 Kircher wiederum hat sich in China illustrata (1667) nochmals auf seine früher gemachten Ausführungen bezogen. Doch aufgrund der wenig fundierten Sprachkenntnisse blieb der Aspekt der Zeichenkombinatorik weitgehend unbeachtet. Erst Gottfried Wilhelm Leibniz sollte diesen Gedanken dann erneut aufgreifen und weiterführen. Er war der Überzeugung, dass die Kombination von Zeichenelementen die Voraussetzung dafür sei, eine allgemeine Charakteristik von Zeichen zu erarbeiten, die zu einer Universalsprache hinführen könnte. An den in China tätigen Missionar Antoine Verjus schreibt er Ende 1698: Von Jugend auf habe ich über eine neue Charakteristik nachgedacht, die nicht nur, wie die chinesischen Schriftzeichen, zur Bezeichnung [der Dinge] dienen, sondern die Möglichkeit eröffnen sollte, viele Dinge exakt zu bestimmen, die bisher nur Gegenstand unscharfer Überlegungen sind. […] Ich glaube nicht, daß irgend etwas mehr der menschlichen Vernunft zu dienen vermag, als eine vollendete Charakteristik.187

Auch wenn Leibniz die Idee einer allgemeinen Charakteristik auf der Grundlage chinesischer Zeichen bald wieder aufgeben wird, haben nach ihm Philosophen, Philologen und Orientalisten wie Theophilus Gottlieb Siegfried Bayer (1694– 1738) und Christoph Gottlieb von Murr (1733–1811) sehr ernsthaft den möglichen Einsatz chinesischer Schriftzeichen für eine ars characteristica bzw. für eine mögliche Universalsprache in Erwägung gezogen.

186 Theophili Spizelii de re literaria sinensium commentarius, in quo scripturae pariter ac philosophiae sinicae specimina exhibentur, et cum aliarum gentium, praesertim AEgyptiorum, Graecorum, et Indorum reliquorum literis atque placitis conferuntur, Antwerpen: Halk 1660, S. 53–56. 187 Leibniz: Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China, S. 195.

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Abb. 44: Die 16 Schrift-Kategorien des Chinesischen nach Karl Faulmann.

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Zeichenkombinatorik und Universalsprache188 Ein ausschlaggebendes Argument dafür, dass die chinesischen Schriftzeichen keine Hieroglyphen, d. h. den Dingen entsprechende Bildzeichen sind, war für Leibniz der Umstand, dass sich die Zeichen aus Grundelementen zusammensetzen, die sich untereinander kombinieren lassen, wodurch neue Zeichen mit anderer Bedeutung entstehen. Zwar hatte Kircher dies durchaus schon erkannt, aber nicht wie Leibniz den naheliegenden Schluss daraus gezogen. Diese Einsicht aber unterscheidet nicht nur zwei Denker voneinander, sondern auch zwei epochale Denkordnungen: den christologischen Allegorismus auf der einen Seite und die von der Ratio bestimmte Aufklärung auf der anderen. Die Unterschiede dieser beiden Denkweisen werden insbesondere im Briefwechsel zwischen Leibniz und Joachim Bouvet deutlich, dessen Berichte und Erläuterungen für Leibniz das christologische Bild von Kircher korrigierten, obgleich Bouvet selbst weiterhin an dessen Thesen festhielt, zumal sie immer noch die jesuitische Ordensideologie bestimmten. So teilte Bouvet unter anderem Kirchers Ansicht, dass die chinesischen Schriftzeichen sich direkt von den ägyptischen Hieroglyphen herleiten würden: »[…] und die chinesischen Hieroglyphen scheinen mir bei all ihrer Entstellung dieselben zu sein wie die der Ägypter«.189 Leibniz hingegen hegte diesbezüglich große Zweifel und antwortete: Ich weiß nicht, was ich zu den ägyptischen Hieroglyphen sagen soll, und ich kann kaum glauben, daß sie in irgendeiner Hinsicht mit denen der Chinesen übereinstimmen. Denn mir scheint, daß die ägyptischen Schriftzeichen volkstümlicher sind und sich zu sehr an der Ähnlichkeit mit sinnlich wahrnehmbaren Dingen, wie Tieren und dergleichen, orientieren und somit allegorischer Natur sind, während die chinesischen Zeichen vielleicht stärker philosophisch ausgerichtet sind und auf geistigeren Betrachtungen aufbauen, so wie sie die Zahlen, die Reihenfolge und die Verhältnisse liefern.190

188 Teile der Ausführungen zu Murr basieren auf meinem Aufsatz »Monströse Ordnungen. Über Christoph Gottlieb von Murrs Versuch, die chinesische Schrift als eine Universalsprache einzuführen und eine Nomenklatur fremdartiger Tiere auf Chinesisch zu erstellen«, in: Archiv für Kulturgeschichte 95/2 (2013), S. 359–374. 189 Leibniz: Der Briefwechsel mit den Jesuiten in China, S. 361 (Brief von Bouvet an Leibniz vom 4. November 1701). Im Gegensatz zu Kircher war Bouvet jedoch der Meinung, dass die Chinesen nicht von Ham, sondern von Noahs Sohn Sem abstammten (vgl. dazu die Anmerkungen, ebd., S. 724, Anm. 47), und das Chinesische in seiner Aussprache den semitischen Sprachen ähnele: »[Dasselbe gilt für] die chinesischen Wörter, die eine noch viel weiterreichende Entstellung erfahren haben, aber in lautlicher wie bedeutungsmäßiger Hinsicht noch viele Übereinstimmungen mit den anderen Sprachen aufweisen, besonders den einfachsten und ältesten wie der heiligen Sprache [dem Hebräischen] und den anderen orientalischen Sprachen.« (Ebd., S. 361.) 190 Ebd., S. 423–425 (Brief von Leibniz an Bouvet vom 18. Mai 1703).

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Schon einige Jahre vorher hatte Bouvet Leibniz auf »gewisse alte, von den Chinesen verehrte Zeichen«191 aufmerksam gemacht, von denen er glaubte, dass sie mit der abendländischen Philosophie zusammenhängen könnten. 1701 schickte er ihm eine Darstellung der 64 Hexagramme aus dem Yijing in der Fuxi-Ordnung.192 Leibniz hatte von Bouvet außerdem eine Analyse bestimmter Schriftzeichen erbeten, worauf dieser in seinem Brief vom 4. November 1701 eingeht: Da der Punkt und die Einheit die Prinzipien der Wissenschaft der kontinuierlichen und der diskontinuierlichen Größe oder besser: der Arithmetik und der Geometrie sind, jener beiden Grundlagen, auf denen alle chinesischen Wissenschaften beruhen, darf es nicht wundernehmen, wenn die alten Weisen die Zeichen des Punktes und der Einheit verwendet haben, um das höchste Wesen zu bezeichnen, das Prinzip aller übrigen und das einfachste von allen. Zu diesem Zweck haben sie sich dieser beiden Zeichen bedient: (丶) (一), die einfachsten, die man sich vorstellen kann, und sozusagen die beiden ersten Prinzipien aller übrigen. Aus diesem Grund schrieben sie 1. ursprünglich nur einen Punkt (丶) zur Bezeichnung des Begriffs »Herr, Herrscher«, was sie, wie alle oder fast alle Wörterbücher verbürgen, zhu (»Herr«) sprachen. 2. In dem klassischen Buch Shujing wird das Zeichen der Einheit (一) auch verwendet, um das einzige und höchste Wesen weiyi zu bezeichnen.193

Es folgen dann Herleitungen verschiedener Schriftzeichen wie ›Gottheit‹ (taiyi), eigentlich ›das große Eine‹, ›Himmel‹ (tian), ›Kaiser‹ (shangdi) oder ›König‹ (wang). In seine Fragekataloge, die er an die in China tätigen Missionare sandte, nahm Leibniz auch Anfragen anderer Gelehrter auf, um sie nach Peking weiterzuleiten, wie z. B. die des polnischen Mathematikers Adam Adamandus Kochan´ski (1631– 1700), der sich ebenfalls für die chinesische Schrift und Literatur interessierte. Kochan´ski erkundigte sich u. a. danach, ob die chinesische Sprache eine Poesie kenne und welcher Art sie sei, worin die Eleganz des chinesischen Stils bestehe und ob sich die einzelnen Zeichen zu Komposita zusammenfügen ließen.194 Vor allem aber beschäftigte ihn folgendes Problem: Hat jemals ein des Chinesischen kundiger Europäer daran gedacht, ein Wörterbuch der chinesischen, Chinesen und Japanern gemeinsamen Zeichen zu bearbeiten, das folgendermaßen beschaffen wäre: Jedes vorkommende Zeichen müßte rasch zu finden sein; dabei müßte seine Aussprache notiert sein, an erster Stelle die chinesische, und zwar sowohl die gelehrte als auch die volkstümliche, ferner die Bedeutung, in einer beliebigen europäischen Sprache wiedergegeben.195

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Ebd., S. 195. Leibniz erwähnt diesen Sachverhalt Ende 1698 in einem Brief an Verjus. Diese »Segregationstafel« ist ebenfalls in Leibniz’ Briefwechsel abgedruckt; ebd., S. 376–377. Ebd., S. 369 (Brief von Bouvet an Leibniz vom 4. November 1701). Ebd., S. 113 (Brief von Adam Adamandus Kochan´ski an Leibniz für Joachim Bouvet vom 4. Dezember 1697). 195 Ebd., S. 111.

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Dabei räumte Kochan´ski sehr klarsichtig ein, dass die wohl größte Schwierigkeit bei der Ausführung eines solchen Werkes darin liegen dürfte, »für die Zeichen eine praktikable Anordnung zu finden«. Im Hinblick darauf macht er dann folgende zwei Vorschläge: (1) achtet man auf die Zahl der Striche in jedem Zeichen, von denen einige Linien sind, die ihrerseits gerade oder gekrümmt sind, vertikal, horizontal oder schräg verlaufen, andere sind kürzere Striche und Punkte, die alle gezählt und in ihre jeweiligen Abteilungen sortiert werden müßten unter Beachtung der Regeln der Kombinatorik. (2) könnte man bei den Zeichen auch Länge, Dicke, Parallelität der Linien und Striche sowie den jeweiligen Ort der Striche und Punkte – ganz rechts, ganz links, oben oder unten – berücksichtigen.196

Kochan´ski starb im Jahr 1700, und die Antwort Bouvets, besser gesagt, der vorsichtige Versuch einer solchen, erreichte ihn nicht mehr. Sie wäre für ihn wahrscheinlich höchst unbefriedigend gewesen, denn der Pater konnte ihm weder ein chinesisches Wörterbuch mit Übersetzungen in irgendeine europäische Sprache zukommen lassen, noch irgendwelche Ausführungen über eine praktikable Anordnung der Zeichen machen. An Leibniz schreibt er: Ich wünschte, ich hätte ein [chinesisches] Wörterbuch mit Übersetzungen in einer europäischen Sprache, das ich Ihnen schicken könnte. Ich habe aber nichts dergleichen. […] Die Übersetzung des chinesischen Wörterbuchs ins Tatarische [Manjurische], an welcher der Kaiser sehr tüchtige Leute arbeiten läßt, ist noch nicht vollendet. Sobald das der Fall ist, wird einer von uns eine lateinische oder französische Übersetzung anfertigen, um auf einen Schlag Europa die Kenntnis von drei fremden Sprachen zu vermitteln. Das Chinesische und seine Schriftzeichen sind nämlich so gut wie zwei verschiedene Sprachen, deren eine zu den Ohren, die andere zu den Augen spricht.197

Über die Möglichkeit einer Kombination chinesischer Schriftzeichen äußert sich Bouvet im Ganzen eher zurückhaltend. Er gibt Leibniz zwar Recht, dass es »einen Zusammenhang unter den chinesischen Schriftzeichen gibt« und dass dieser in der Tat »sehr ausgeprägt« sei. Genaueres über diesen Zusammenhang erfährt Leibniz von ihm jedoch nicht. Bouvet ist sich aber der Bedeutung dieser Fragestellung durchaus bewusst, wie sich den folgenden Zeilen entnehmen lässt: Wenn man ihn [den Zusammenhang unter den chinesischen Schriftzeichen; A.K.] recht kennte und die wahren Hintergründe des Aufbaus der Zeichen, der nichts von einer Laune oder vom Zufall hat, wäre das überaus nützlich, um diese Zeichen kennen und behalten zu lernen, ohne befürchten zu müssen, sie zu vergessen. Wenn man diesen Zusammenhang kennte und wenn die Wörterbücher nach einer auf diesem Zusammenhang fußenden Methode angelegt wären – es wäre ein ausgesprochenes Vergnügen, diese Zeichen zu studieren. So aber ist es die dornigste und abstoßendste Arbeit der 196 Ebd. 197 Ebd., S. 363 (Brief von Bouvet an Leibniz vom 4. November 1701).

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Welt. In allen Wörterbüchern steht eine Liste der Radikal-Zeichen voran, aus denen die übrigen zusammengesetzt sind und unter welche man letztere in ebensoviele Klassen aufgeteilt hat. Da man in diesen Wörterbüchern aber lediglich die Zahl der Striche für ihre Anordnung berücksichtigt hat, um leichter [die Zeichen] zu finden, die man sucht, sind diesen Wörterbüchern kaum weitere Vorzüge abzugewinnen.198

Für Leibniz muss die Antwort ernüchternd gewesen sein, und so verlagerte sich sein Interesse, indem er sich seit 1701 vornehmlich mit den binären Formen der Hexagramme beschäftigte, angetrieben von der Idee, eine binäre Arithmetik aus ihnen abzuleiten, da er fest davon überzeugt war, dass ihnen ein mathematisches Beziehungssystem zugrunde liege. Als von Bouvet immer seltener Briefe eintrafen, wandte sich Leibniz dann 1705 mit seinen Fragen an Claude de Visdelou, zumal ihm versichert worden war, dass dieser »in der Kenntnis der chinesischen Schriftzeichen am weitesten fortgeschritten«199 wäre. Eine hinreichende Antwort, die dazu hätte beitragen können, den Aufbau der Zeichen zu ergründen und einen Schlüssel zum Verständnis der chinesischen Schriftsprache zu finden, sollte er allerdings nicht mehr bekommen. Den Hintergrund für Leibniz’ Bemühungen bildet vor allem die außergewöhnliche, zum Teil auch geheimnisvolle Ausstrahlungskraft, die den chinesischen Zeichen zu dieser Zeit in den Augen europäischer Gelehrter anhaftete. Bereits viele Jahre davor, nämlich 1674, hatte Andreas Müller (1639–1694) angekündigt, eine Clavis sinica zu publizieren, sobald man ihm dafür nur genügend Geld zur Verfügung stellen würde. Was er dann veröffentlichte, war nichts weiter als eine vierseitige Werbeschrift, in der er sein Werk als den exemplarischen und entsprechend grandiosen Durchbruch zum Verständnis der chinesischen Schriftzeichen anpries. Das damit verbundene Geheimnis ihrer Entschlüsselung, wenn es ein solches denn überhaupt gab, wurde jedoch nie gelüftet, und auch sein Nachfolger als Berater am kurfürstlichen Hof von Berlin, Christian Mentzel (1622–1701), sah sich außerstande, den versprochenen Schlüssel zu liefern.200 Die Annahme liegt sehr nahe, dass die Gelehrtenwelt hier ähnlich wie bei den Versprechungen, aus einer ›prima materia‹ Gold zu machen oder durch mitternächtliche Beschwörungen seit langem verborgene Schätze zu heben, einem Scharlatan aufgesessen ist, war doch selbst Leibniz lange Zeit von der Existenz einer clavis sinica fest überzeugt gewesen.201 Wie bei anderen europäischen Ge-

198 Ebd., S. 367–369. 199 Ebd., S. 493 (Brief von Leibniz an Visdelou vom 20. August 1705). 200 Ausführlicher zur Person von Andreas Müller s. Lothar Noack und Jürgen Splett: BioBibliographien. Brandenburgische Gelehrte der frühen Neuzeit. Berlin-Cölln 1640–1688, Berlin: Akademie 1997, S. 272–294. 201 Leibniz erfuhr spätestens 1678 davon und bat Müller daraufhin um Auskunft, der sich jedoch weigerte, konkrete Ausführungen zu machen; vgl. Rita Widmaier: Die Rolle der

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lehrten auch hatte die Vorstellung eines rationalen Aufbaus des Zeichensystems und die mögliche Existenz eines Schlüssels die trügerische Hoffnung in ihm geweckt, dass sich die chinesische Schriftsprache als eine Universalsprache erweisen könnte. Vor allem zwei Aspekte spielten dabei eine Rolle: erstens, dass die chinesischen Zeichen in Wahrheit keine Bilder der Dinge, sondern deren Verschlüsselungen seien, und zweitens, dass das primäre System der Schrift keineswegs die chinesische Sprache, sondern vielmehr das System der Dinge und universalen Begriffe sei.202 Ende des 18. Jahrhunderts erwachte dann erneut ein starkes Interesse an der chinesischen Schrift, und dies mit unerwartet großer philosophischer Resonanz. Im Jahre 1777 unterbreitete Christoph Gottlieb von Murr (1733–1811) den europäischen Gelehrten im Journal zur Kunstgeschichte und zur allgemeinen Litteratur den ebenso durchdachten wie kühnen Vorschlag, »die sinesischen Charaktere zur Universalsprache zu gebrauchen«.203 Gleich zu Beginn des Aufsatzes heißt es: »Wenn man die Regeln des Herrn Changeux auf die sinesischen Sprachzeichen anwendet, so findet man, daß sie sich zur philosophischen Sprache (lingua oculorum) vollkommen schicken.«204 Der hier erwähnte Pierre Nicolas Changeux (1740–1800) hatte in seiner Bibliothèque grammaticale abregée (1773) zwei maßgebliche Bedingungen für eine philosophische Sprache formuliert: Sie müsse erstens allen Menschen verständlich sein, und zweitens müssten die Zeichen sich derart zusammensetzen, dass sie unmittelbar die Folge der Ideen ausdrückten.205 Im Kapitel über die chinesischen Zeichen führt Changeux dann aus, inwiefern gerade die chinesische Schrift diese beiden Bedingungen erfülle. Aufgrund ihrer Bildhaftigkeit könnten die Schriftzeichen von allen Menschen, die diese Zeichen erlernt hätten, verstanden werden, ohne dass der damit Konfrontierte dabei die gesprochene Sprache verstehen müsste, imitierten doch die derart konventionalisierten Zeichen durch ihre Zusammensetzungen die natürliche Ordnung sowie das menschliche Wissen, womit sie als eine philosophische Sprache bzw. als eine écriture représentative auch zum Ausdruck aller Ideen geeignet wären: La Langue chinoise est donc une espece de caractéristique universelle, & elle sert en effet à plusieurs peuples qui ont des idiômes tout différents. Pour remplir des deux objets de

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chinesischen Schrift in Leibniz’ Zeichentheorie, Wiesbaden: Steiner 1983, S. 95 und die Anm. 109 auf S. 260. Vgl. Widmaier: Die Rolle der chinesischen Schrift, S. 101. Christoph Gottlieb von Murr: »Etwas von meinem Versuche, die sinesischen Charaktere zur Universalsprache zu gebrauchen«, in: Journal zur Kunstgeschichte und zur allgemeinen Litteratur. Vierter Theil, 1777, S. 151–210, hier S. 151. Ebd. Pierre Nicolas Changeux: Bibliothèque grammaticale abrégée; ou, Nouveaux mémoires sur la parole et sur l’écriture, Paris: Lacombe 1773, S. 101.

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la Langue philosophique, c’est-à-dire pour ranger toutes les idées dans leur ordre naturel, & pour leur donner des signes intelligibles à tous les peuples, on a proposé de nos jours des signes conventionnels.206

Schon im Anhang seiner Übersetzung des chinesischen Romans Haoh Kjöh Tschwen hatte Murr die Möglichkeit in Erwägung gezogen, die chinesischen Schriftzeichen als Universalsprache zu gebrauchen und auf verschiedene Versuche hingewiesen, die diesbezüglich bereits unternommen worden waren, wie z. B. auf Leibniz’ characteristica universalis.207 Leibniz aber habe ein entscheidendes Element zum Verständnis der chinesischen Schrift gefehlt, denn er habe nichts »von den 214 Wurzelzeichen«208 gewusst, den sogenannten Radikalen. Doch irrt Murr in diesem Punkt, denn aus Bouvets Brief vom 4. November 1701 hatte Leibniz sehr wohl erfahren, dass den chinesischen Wörterbüchern Listen mit Radikalen vorangestellt sind und dass es ein kompliziertes Verfahren gibt, das es erlaubt, aufgrund der Strichzahl die Zeichen im Wörterbuch zu finden. Das Wissen um die 214 Wurzelzeichen war um die Mitte des 18. Jahrhunderts unter den Gelehrten kein Novum mehr,209 und mit dem bereits erwähnten Wörterbuch von Chrétien-Louis-Joseph de Guignes, das im Jahre 1813 erschien und die Einträge nach den Radikalen oder ›Wurzelzeichen‹ gliederte, wurde die spezifische Anordnung der Zeichenelemente nun auch von den europäischen Gelehrten allgemein als gültiges Ordnungsprinzip anerkannt. Der Grund dafür, dass Murr seinen doch recht gewagten Vorschlag, das Chinesische als Universalsprache zu gebrauchen, erneut vortrug, resultierte aus seiner Beschäftigung mit der chinesischen Naturgeschichte, die ihn auf die Idee brachte, chinesische Charaktere, mit denen einzelne Tiere bezeichnet werden, auf das Linnésche Natursystem anzuwenden, um »dadurch aus Sina neue und unbekannte Geschlechtsgattungen desto leichter erhalten«210 zu können, »weil man dem Sineser dadurch selbst sagen kann, was man verlangt, und keinen in der Naturgeschichte unwissenden Dolmetscher dazu nöthig hat.«211 Unter den zweiundvierzig durchnummerierten Tierbezeichnungen finden sich u. a. folgende Schriftzeichen (Abb. 45).

206 Ebd., S. 109. 207 Vgl. Haoh Kjöh Tschwen, d.i. die angenehme Geschichte des Haoh Kjöh: ein chinesischer Roman, in vier Büchern, Leipzig: Junius 1766, S. 623ff. Murr übersetzte den Roman aus dem Englischen. Einen Textauszug bietet das Journal zur Kunstgeschichte und zur allgemeinen Litteratur, 1777, S. 153–160. 208 Siehe dazu Murr: Etwas von meinem Versuche, die sinesischen Charaktere zur Universalsprache zu gebrauchen, S. 158. 209 Vgl. Charles de Brosses: Ueber Sprache und Schrift. Erster Theil. Übers. von Michael Hißmann, Leipzig: Weygand 1777, S. 434. 210 Murr: Etwas von meinem Versuche, S. 161. 211 Ebd., S. 161–162.

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Abb. 45: Chinesische Schriftzeichen bei Murr. Zeichen Nummer 1 und 2, vertikal von rechts nach links gelesen.

Das erste Binom verweist laut Murr auf »eine Affengattung« und wird »Sin sin« ausgesprochen, und zur Erläuterung des zweiten gibt er den lateinischen Namen »Simia Nemestrina [nach] Linn[é]«212 an. Dabei ist ihm jedoch ein Fehler unterlaufen, denn die beiden Bezeichnungen sind vertauscht worden. Tatsächlich bezeichnet der erste Terminus 狒狒 (Pinyin feifei) eine Pavianart (lat. papio hamadryas) 213 und der zweite einen Orang-Utan, chin. 猩猩 (xing xing, lat. pongo). In der graphischen Darstellung ergibt sich dabei ein bemerkenswerter Nebeneffekt, denn man hat es in beiden Fällen mit Binomen zu tun, die aus jeweils identischen Zeichen zusammengesetzt sind, sodass die gleichen unlesbaren Komposita entstehen, wenn man die Zeichen horizontal liest. Sie sind zwar aussprechbar (fei xing), ergeben aber keinen Sinn. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass die Zeichen für beide Affenarten das Radikal ›Hund‹ 犭 (heute in allgemeiner Bedeutung für ›Tier‹ gebraucht) mit verschiedenen phonetischen Elementen kombinieren, während das Schriftzeichen für ›Hund‹ (gou) als Nummer 11 gleich unter dem Zeichen Nummer 2 erscheint (Abb. 46). Es wäre schon ein erstaunlicher Zufall, wenn die Wiederholung des Radikals vom Autor nicht mit Bedacht so arrangiert worden wäre. Dergleichen Zeichenspiele setzen sich mit den Bezeichnungen 12 und 18 fort, allerdings nicht so offensichtlich, wie man es sich wünschen würde. Doch wenn man mit den Zeichen gewissermaßen ›chinesisch‹ denkt, dann wechselt man gleichsam mit den Sinogrammen von den »Caninen« zu den »Felinen«, d. h. von den Tieren mit dem Radikal 犭 für ›Hund‹ zu denen mit dem Radikal 豸 für ›Katze‹ (das sind die Radikale 94 und 153 der 214 »Wurzelzeichen«). Dem Zeichen für ›Katze‹ 貓 (mao)

212 Ebd., S. 165. 213 Die Bezeichnung dieser Affenart geht allerdings nicht auf Linné zurück, sondern auf Johann Christian Polycarp Erxleben (1744–1777), Professor für Physik und Tierheilkunde an der Universität Göttingen.

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Abb. 46: Zeichen Nummer 2 und 11 für ›Orang-Utan‹ und ›Hund‹.

(Nummer 19) folgen dann diejenigen mit dem Radikal ›Maus‹ 鼠 (13a, 22–26), ›Schaf‹ 羊 (31–34), ›Kuh‹ 牛 (36, 37) und ›Schwein‹ 豕 (41, 42) (Abb. 47). Was nun aber einen Systematiker wie Linné weit mehr gestört haben dürfte, wenn er die Zeichen hätte entziffern können (denn er hat den Artikel von Murr nachweislich gelesen), wäre wohl die sino-semiotische Einteilung, gemäß der, den Radikalen entsprechend, ein Orang-Utan und ein Hund in ein und dieselbe ›Zeichenklasse‹ zu gruppieren wären (und zwar zu der Klasse mit dem ›Hund‹Radikal). Dass diese Zuordnung kein Einzelfall ist, sondern allgemeines Prinzip, verdeutlichen die folgenden Beispiele, bei denen das Zeichen 鼠 für ›Maus‹ die Basisform bildet (vgl. Nummer 22 in Abb. 47). Dieses Grundelement findet sich dann auf der Tafel in den Nummern 23, 24, 25, 26 sowie 13a wieder, wobei es sich um die Bezeichnungen für eine Art Erdhörnchen (wörtlich übersetzt ›Gelbe Maus‹), eine Zwergmaus, ein Eichhörnchen, einen Marder und ein Wiesel handelt. In der sino-semiotischen Einteilung dominieren die Wurzel- bzw. Basiszeichen die Welt der Wesenheiten, d. h. die sprachliche Ordnung herrscht über der Ordnung der Dinge und Wesen. Die chinesische Einteilung stellt, wie Foucault

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Abb. 47: Tafel mit chinesischen Schriftzeichen zur Bezeichnung von Tieren bei Murr.

am Anfang seiner epistemologischen Studie Les mots et les choses schrieb, »alle Vertrautheiten unseres Denkens« in Frage: »Bei dem Erstaunen über diese Taxinomie erreicht man mit einem Sprung, was in dieser Aufzählung uns als der exotische Zauber eines anderen Denkens bezeichnet wird – die Grenze unseres

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Denkens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken.«214 Selbst die Grenzen der wirklichen Welt werden überschritten, indem (womöglich unwissentlich) Murr in seiner Aufstellung Fabelwesen unter die realen Tiere mischt, so z. B. das unter der Nummer 12 aufgeführte mythologische Wesen 风狸, feng li ( jap. fû-ri) – feng bedeutet ›Wind‹ und li bezeichnet eine Art Marderhund. Diese gefährliche Mischung – gefährlich für das aufklärerische und ordnende Denken der Repräsentation – von phantastischen Wesen und realen Tieren erinnert an die chinesische Enzyklopädie von Borges, die uns Europäer lachen oder staunen lässt und, wie es bei Foucault heißt, unser westliches Denken aufrüttelt.215 Es ist vor allem die für das westliche Denken unmögliche Nachbarschaft von Tieren unterschiedlicher Gattungen, die verstörend wirkt, d. h. der viel zu geringe Abstand zwischen den Bezeichnungen von Tieren, die ihren Merkmalen nach im Klassifikationsschema weit voneinander entfernt eingeordnet werden müssten. So befremdlich Murrs Vorschlag uns heute auch erscheinen mag: Er wurde seinerzeit in den Gelehrtenjournalen durchaus diskutiert. In der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste äußerte ein Rezensent,216 dass man sich nur diese zweiundvierzig Zeichen anzusehen brauche, welche Murr seinem Vorschlag beigefügt habe, um zu erkennen, dass dieses Vorhaben unmöglich sei: »[I]ch will lieber zehnmal Sin Fin [sic!] schreiben, als das erste Zeichen malen, und gleichwohl sollen diese Charactere, wenn sie zur Bestimmung der Gattung angewandt werden, erst durch Beysetzung anderer Sprachzeichen zu einer allgemeinen Sprache werden.«217 Ungewollt gibt der Rezensent mit seinem Schreibfehler Murr dann doch wieder Recht, denn es scheint unerwarteter Weise schwieriger zu sein, die in Fraktur gedruckte Umschrift des chinesischen Namens korrekt wiederzugeben, als das komplizierte chinesische Schriftzeichen ›abzumalen‹. In seiner Erwiderung auf die Kritik Heineckens geht Murr auf diesen Sachverhalt leider nicht ein.218 214 Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 17. 215 Vgl. ebd., S. 19ff. 216 Bei dem Rezensenten handelt es sich höchstwahrscheinlich um Karl Heinrich von Heinecken (1707–1791). In seiner Entgegnung auf Heineckens Kritik schreibt Murr: »Ich wünschte, einem Mann, den ich sehr schätze, wenn er sich nur nicht durch suffisance so sehr verblenden ließe, nicht in seinem 72sten Jahre hart begegnen zu dürfen.« (Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 22. Bd., 1. St., 1778, S. 91–104, hier S. 103) Dies trifft exakt auf Heinecken zu, der 1707 geboren wurde und folglich 1778 in seinem 72. Lebensjahr stand. 217 Rezension zum »Journal zur Kunstgeschichte und zur allgemeinen Litteratur. Von Hrn. von Murr. 4ter Theil, 1777«, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 21. Bd., 1. St., 1778, S. 54–71, hier S. 66. 218 Christoph Gottlieb von Murr: »Nöthige Erläuterungen über des Hrn. von H. Recension vom 2ten, 3ten und 4ten Theile von C. G. von Murr Journal zur Kunstgeschichte, und zur allgemeinen Literatur; im 20. und 21sten Bande der neuen Bibliothek der schönen Wissen-

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Auch wenn Murr in einer Fußnote zu seinem Text eine Einschränkung macht und seinen Vorschlag zunächst nur auf »die nothwendigsten und einfachsten« der »sinesischen Charaktere«219 bezieht, stellt sich doch eine entscheidende Frage: »Welche große Mühe wäre es, sich diese allgemeine [!] Charaktere einzuprägen?«220 Ein anonymer Rezensent, der die Beiträge des Journals für die Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste zusammenfasst, vermerkt, dass der Herr von Linné, nachdem er Murrs Beitrag gelesen habe, nicht begreifen könne, »wie der Hr. von M. [d.i. Murr] die Sinesische Sprache verstünde, welche allein eines Menschen ganzes Alter erfodert«.221 Auch Heinecken, der sich in seiner Rezension fragt, »ob dieß Project richtig überdacht worden«222 sei, sieht das grundsätzliche Problem in der großen Menge der Schriftzeichen: Wenn deren, nach des Herrn von M. Anzeige, bis 80000 seyn sollen, davon jeder eine besondere Bedeutung hat, welche ungeheure Bemühung für einen Gelehrten, der doch, nachdem er eine Wissenschaft erwählet hat, die alten und neuern Sprachen, als das Hebräische, das Griechische, Lateinische, Französische, Italienische, Englische u.s.f. nicht entbehren kann, wenn er die Bücher in solchen Sprachen, die öfters bessere Dinge als die Sinesischen enthalten, lesen und verstehen will […] 223

Außerdem müsse der Gelehrte die chinesische Sprache erlernen, damit man ihm die Schrift und die »80000 Charaktere«224 erklären könne, oder die Chinesen müssten sich umgekehrt eine europäische Sprache aneignen. Der Rezensent kommt letztlich zu dem Schluss, dass, wenn man schon eine Universalsprache in

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222 223 224

schaften«, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 22. Bd., 1. St., 1778, S. 92–104. Murr: Etwas von meinem Versuche, S. 177. Ebd., S. 179. Rezension zum »Journal zur Kunstgeschichte und zur allgemeinen Litteratur. Von Hrn. von Murr. 6ter Theil, 1778«, in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 23. Bd., 1. Stück, 1779, S. 128–129. Der in lateinischer Sprache verfasste Brief Linnés ist in Murrs Journal auf Seite 180 abgedruckt. In: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 21. Bd., 1. Stück, 1778, S. 54–71, hier S. 61. Ebd., S. 63. Die hohe Zahl von 80 000 findet sich bereits bei Kircher (China illustrata, S. 226), der sie wahrscheinlich von Daniello Bartoli (1608–1685) aus La Cina übernommen hat; sie wird auch bei du Halde (Ausführliche Beschreibung, Theil IV, S. 43) und bei Brosses genannt (Ueber Schrift und Sprache, S. 435). Das neueste und umfangreichste Zeichenlexikon aus dem Jahr 1994 umfasst ungefähr 86000 Schriftzeichen. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass der überwiegende Teil (über 80 %) dieser Zeichen nur in der alten Literatur vorkommt. Das zwischen 1710 und 1716 erstellte Kangxi-Wörterbuch erfasste 47000 Zeichen, von denen die meisten schon damals nicht mehr gebräuchlich waren. Das erste große Zeichenlexikon der chinesischen Schrift Shuowen jiezi aus dem Jahre 121 n. Chr. verzeichnet knapp 9400 Zeichen und 540 Radikale. Die Anzahl der Radikale wurde schließlich im Kangxi-Wörterbuch auf 214 reduziert.

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der ganzen Welt einführen wolle, man doch »eine von den leichtesten europäischen Sprachen«225 wählen solle: Das Französische hat schon vieles von einer Universalsprache, sie ist die Sprache aller Höfe in Europa, fast alle Gelehrte in Europa können französisch: wäre es nicht weit leichter, den Gelehrten in Asien, und wenn auch deren in Africa und America sind, die französische Sprache beyzubringen? 226

So mündet die Diskussion über die Möglichkeit einer Universalsprache in die Frage, welche Sprache in Europa die wichtigste sei. Auf dem Höhepunkt der Aufklärung wird das philosophische Problem einer Universalsprache schließlich zum Gegenstand einer hegemonialen Sprachpolitik. An die von Heinecken aufgeworfene Frage schließt 1787 indirekt eine Schrift an, die den ebenso programmatischen wie aussagekräftigen Titel trägt Ueber die Frage: Gewinnt ein Volk in Absicht auf seine Aufklärung dabei, wenn seine Sprache zur Universalsprache wird? In dieser Schrift werden China und Japan als zwei »polizirte« und »isolirte Völker«227 erwähnt – isoliert vor allem von der europäischen Aufklärung, wobei der Verfasser Johann Georg Büsch (1728–1800) nicht vergisst hinzuzufügen, dass beide Völker isoliert sein wollen.228 Eine solche Argumentation war insofern neu, als sie die aktuelle Sprachpolitik mit Problemstellungen der Aufklärung zu verbinden suchte. Büsch stellte in diesem Zusammenhang die These auf, dass die Aufklärung eines Volkes von der Verbreitung seiner Sprache abhängig sei. Führt man diesen Gedanke konsequent weiter, dann wird klar, warum das Chinesische, eben weil China isoliert war und es dem Volk an Aufklärung mangelte, als Universalsprache nun ganz und gar nicht mehr in Betracht kommen konnte.

Der Druck chinesischer Zeichen Neben der Hoffnung auf eine Universalsprache gab es aber noch einen anderen, viel praktischeren Grund, sich mit dem Aufbau der chinesischen Schriftzeichen zu befassen und einen Schlüssel für ihre Zusammensetzung zu finden, denn in Europa stand man vor dem großen Problem, chinesische Zeichen zu drucken, ohne den gesamten Text einer Seite in eine Holztafel schneiden zu müssen. Das regte natürlich den Erfindergeist unter den Buchdruckern an. 225 Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 21. Bd., 1. Stück, S. 64– 65. 226 Ebd., S. 65. 227 Johann Georg Büsch: Ueber die Frage: Gewinnt ein Volk in Absicht auf seine Aufklärung dabei, wenn seine Sprache zur Universalsprache wird? Berlin: Spener 1787, S. 8. 228 Ebd., S. 51.

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In der Allgemeinen Literaturzeitung vom 22. April 1789 war die vielversprechende Ankündigung zu lesen, dass es dem angesehenen Verleger und Drucker Johann Gottlob Immanuel Breitkopf (1719–1794) in Kürze gelingen werde, ganze Bücher mit chinesischen Schriftzeichen zu drucken: Man hatte bisher es für unmöglich gehalten, chinesische Schriften mit beweglichen Charakteren zu drucken. Hier liefert nun der um die Buchdruckerkunst und ihre Geschichte so vielfach verdiente Greis den Gegenbeweis mit der That, in einer schön in die Augen fallenden Probe chinesischer Schrift; der er bald eine nähere Beschreibung seiner Erfindung wird folgen lassen.229

Auch in der Allgemeinen deutschen Bibliothek wurde Breitkopfs Druckprobe angezeigt: Da die Sineser bekanntermaßen in ihrer Sprache etwa 80,000 Wörter, aber für deren jedes einen besondern Buchstaben oder vielmehr ein eignes Zeichen haben, so drucken sie nur etliche kleine Bücher, z. B. ihre Staatskalender, mit beweglichen Lettern, die dennoch nicht gegossen, sondern aus Holz geschnitzt sind. Aber zu größern Werken schneiden sie lauter Platten aus hartem Holz, da denn jedes Blatt, oder eigentlicher jede Seite, von einer besondern Platte abgedruckt wird.230

Ein solches Verfahren aber, so heißt es weiter, sei für eine europäische Druckerei viel zu aufwendig, gleichwohl wäre aber der Aufwand noch größer, »wenn sie alle zum Abdruck eines sinesischen Buchs erfoderlichen Kegel oder Lettern wollte gießen lassen.«231 Die Probe, die Breitkopf auf einem Druckbogen vorlegte,232 enthielt zwölf Zeichen, unter ihnen waren 木 (mu, dt. ›Baum‹), 已 (yi, dt. ›schon, bereits‹), 田 (tian, dt. ›Feld‹), 東 (dong, dt. ›Osten‹), 情 (qing, dt. ›Gefühl‹), 美 (mei, dt. ›schön‹), um hier nur einige zu nennen (Abb. 48 rechts).233 Aus den gelieferten Proben merke man, führt der Rezensent weiter aus, »daß er allerley kleine Karaktere hat gießen lassen, durch deren Zusammensetzung jeder sinesischer Buchstabe kann dargestellt werden.«234 Breitkopfs »Pionierleistung«, wie zeitgenössische Rezensenten seinen Versuch beurteilten,235 bestand darin, die Schriftzeichen zu zerlegen. An den Ökonomen 229 230 231 232

In: Allgemeine Literaturzeitung 123 (22. 4. 1789), Sp. 174. In: Allgemeine deutsche Bibliothek, 91. Bd., 1. Stück, 1790, S. 282. Ebd. Johann Gottlob Immanuel Breitkopf: Exemplum typographiae sinicae figuris characterum e typis mobilibus compositum, Leipzig: Breitkopf 1789. 233 Ausführlich zur Geschichte des Drucks chinesischer Schriftzeichen in Europa siehe Lehner: Der Druck chinesischer Zeichen in Europa, insbes. zu Breitkopf ebd., S. 104–109. 234 In: Allgemeine deutsche Bibliothek, 91. Bd., 1. Stück, 1790, S. 283. Allerdings erforderte dieses Verfahren mehrere Druckgänge, in denen die komplexen Schriftzeichen aus den Grundelementen zusammengesetzt wurden. 235 Vgl. Lehner: Der Druck chinesischer Zeichen in Europa, S. 106, Bezug nehmend auf die

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Johann Beckmann schrieb er: »Alles kömt dabey auf eine gute und wohl überlegte Zergliederung der Schriftzeichen an, welche aber eine practische Einsicht in die Schriftgiesserey und Buchstabendruckerey erfodert.«236 Diese Idee war jedoch keineswegs neu. Gottlieb Siegfried Bayer (1694–1738) hatte in seinem Museum Sinicum (1730) bereits ein System entwickelt, das aus neun Grundelementen bestand (Abb. 48 links). Mittels ihrer Kombination, so glaubte er, ließen sich

Abb. 48: Links: Gottlieb Siegfried Bayer, Museum Sinicum (1730), rechts: Johann Gottlieb Immanuel Breitkopf, Exemplum typographiae sinicae (1789), Probedruck von zwölf chinesischen Zeichen.

sämtliche chinesischen Schriftzeichen darstellen. Um auf diese Grundelemente zu kommen, hatte sich Bayer einfach das erste halbe Dutzend Radikale des chinesischen Wörterbuchs angesehen und diese durch Variationen ergänzt, um letztlich die folgenden Grundstriche zu erhalten:

Rezension von Thomas Christian Tychsen in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, 1789, S. 2064 und Christoph Gottlieb Murr: Litterae patentes imperatoris Sinarum Kang-hi, Nürnberg/ Altdorf: Monath & Kussler 1802, S. 47. 236 Zit. n. Lehner: Der Druck chinesischer Zeichen in Europa, S. 106. Als Quelle verweist Lehner auf Johann Beckmann (Physikalisch-ökonomische Bibliothek, 16. Bd., 1. Stück, 1789, S. 58– 62).

400 一 丨

Transkulturelle Resonanzen

Horizontalstrich (Bedeutung ›eins‹) Vertikalstrich

丶 丿 (乀, 乁)

yı¯ guˇn zhuˇ pieˇ

乙 (乚, 乛) 亅

yıˇ jué

gerundeter Vertikalstrich, Haken Vertikalstrich mit Haken

Tropfstrich Schrägstrich

Abb. 49: Die ersten sechs Radikale der chinesischen Schrift: links das graphische Element (mit Varianten), in der Mitte Pinyin und rechts Erläuterungen (Tabelle erstellt nach Edoardo Fazzioli).

Zwar hat Breitkopf der Ankündigung keine näheren Ausführungen über die Anzahl und Gestaltung der Drucktypen hinzugefügt, aber es lässt sich vermuten, dass sein Verfahren auf denselben Überlegungen beruhte. Er machte auch kein Geheimnis daraus, sondern schickte Proben nach Rom, Paris, Petersburg, Kopenhagen, Stockholm und Amsterdam237 und ließ Besucher, die sich von seiner Erfindung überzeugen wollten, die Druckerei besichtigen. Samuel Friedrich Günther Wahl, der die Druckerei in Leipzig besuchte, konnte sich »mit eigenen Augen« ein Bild davon machen, daß »die Anzahl der Typen zu einem so unabsehlich-weiten Feld von Figuren und Charaktern der Schrift, so gering und die Zusammensetzung derselben so leicht und bequem eingerichtet ist, daß man bei einer kleinen Uebung nun im Stande ist, in eben der Zeit einen Bogen Sinesisch zu sezzen, als man nöthig hat, um einen Bogen in irgend einer andern orientalischen Sprache zu liefern«.238 Breitkopfs Erfindung ist aber auch aus schriftästhetischer Sicht interessant, denn sie erlaubte eine neue Wahrnehmung der chinesischen Schrift, und zwar in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht. Es wurde nun viel einfacher, chinesische Werke drucken zu lassen, und man musste sich nicht mehr nur auf drucktechnisch einfach zu realisierende Zeichen beschränken, wie sie in den Namenlisten der historischen chinesischen Kaiser vorkamen. Vor allem für den Druck eines Chinesisch-Wörterbuchs würden sich die beweglichen Typen anbieten. Über ihre Qualität äußerte Jean-Pierre Abel-Rémusat (1788–1832),239 dass fünf oder sechs der in Breitkopfs Probe vorgelegten Zeichen »genau so gut wiedergegeben und genau so gut lesbar [wären], wie die bis dahin in Europa

237 Vgl. Lehner: Der Druck chinesischer Zeichen in Europa, S. 107. 238 Samuel Friedrich Günther Wahl: Magazin für Alte, besonders morgenländische und biblische Litteratur. Dritte Lieferung, Halle: Curt 1790, S. 141–142. 239 Abel-Rémusat war Sinologe und wurde als Übersetzer eines chinesischen Romans bekannt, der unter dem französischen Titel Iu-kiao-li, ou les deux cousines, roman chinois erschien und den auch Goethe gelesen hat; vgl. Kapitel 7 dieser Arbeit.

Chinesische Schriftzeichen im Lichte der Bilderschrifttradition

401

geschnittenen Holztypen«240, und die anderen wären, so Abel-Rémusat, auch nicht viel schlechter. Die Zeichen der Normschrift (kaishu) waren für den Druck jedoch zu dick, wie an der Druckprobe in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung zu sehen ist (Abb. 50).

Abb. 50: Chinesische Schriftzeichen von Julius Klaproth; Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung (1804).

Die Zeichen bekamen ein unförmiges Aussehen und gaben wenig von der schlichten Eleganz und der abgestimmten Proportion wieder, die den Song-Stil auszeichnen (stärkere vertikale Striche und etwas schwächere horizontale Striche), der seit Mitte des 16. Jahrhunderts in China vorrangig im Buchdruck Verwendung fand.241 Breitkopf verfolgte die Verbesserung der Drucktypen allerdings nicht weiter; seine Idee der Zergliederung von Schriftzeichen in Teilzüge für den Druck mit beweglichen Lettern wurde jedoch aufgenommen und weiterentwickelt. Vor allem der in der Hof- und Staatsdruckerei Wien tätige Alois Auer bemühte sich, einen umfangreichen Typenguss für eine ästhetisch hochwertige Schrift herzustellen. Unter der zeitweiligen Mithilfe von August Pfizmaier gelang es ihm, 400 Zeichenteile zu gießen, die das Grundraster für das bis dahin »vollkommenste System« für den Druck chinesischer Zeichen legen sollten.242 Man sieht, wie facettenreich die Resonanzen der chinesischen Schriftzeichen zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert waren: Von Kirchers Christologie, die das Ziel verfolgte, China als ›verlorenen Sohn‹ in die christliche Heimat zurückzuholen, über Leibniz’ Idee einer Universalsprache und Murrs ungewöhnlichen 240 Lehner: Der Druck chinesischer Zeichen in Europa, S. 108–109. 241 Vgl. dazu ausführlicher ebd., S. 2. 242 Ebd., S. 168.

402

Transkulturelle Resonanzen

Abb. 51: Karl Faulmann, Chinesische Wörter aus Theilzügen, aus seiner Illustrirten Geschichte der Buchdruckerkunst (1882).

Vorschlag, das Chinesische als eben eine solche Universalsprache wirklich zu gebrauchen, bis hin zu Breitkopfs drucktechnischer Pionierleistung, den Druck chinesischer Zeichen mit einer überschaubaren Anzahl von beweglichen Typen zu bewerkstelligen. Die Beschäftigung mit den chinesischen Schriftzeichen im 18. und 19. Jahrhundert hatte sowohl eine theoretisch-geistige als auch eine praktische, d. h. graphisch-ästhetische Komponente. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als die Diskussionen über das Chinesische als Universalsprache nach und nach abklangen, rückte stattdessen der Aspekt der Zeichenästhetik und damit die affizierende Wirkung von Schriftzeichen immer mehr in den Vordergrund. Eine sich daraus ergebende Frage, die noch beantwortet werden müsste, wäre, wie sich die Dichtung von der chinesischen Zeichenästhetik, insbesondere von der Bildlichkeit der Schriftzeichen hat inspirieren lassen (siehe Abb. 51).

14.

Exkurs: Die poetische Resonanz chinesischer Ideogramme bei Ezra Pound »This twentieth century not only turns a new page in the book of the world, but opens another and a startling chapter. Vistas of strange futures unfold for man, of world-embracing cultures half-weaned from Europe, of hitherto undreamed responsibilities for nations and races.« (Ernest Fenollosa) 243

243 Ernest Fenollosa/Ezra Pound: The Chinese Written Character as a Medium for Poetry. A critical edition, hg. von Haun Saussy, Jonathan Stalling und Lucas Klein, New York: Fordham Univ. Press 2008, S. 42.

Exkurs: Die poetische Resonanz chinesischer Ideogramme bei Ezra Pound

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Etym-Imaginationen244 Zu Anfang des 20. Jahrhunderts, also knapp 250 Jahre nach Kirchers China illustrata, verfasste der lange Zeit in Japan wirkende Philosoph und Sprachforscher Ernest Fenollosa (1853–1908) einen Essay mit dem Titel »The Chinese Written Character as a Medium for Poetry«, dt. »Das Chinesische Schriftzeichen als Organ für die Dichtung«,245 der ursprünglich gar nicht als Aufsatz, sondern als Vortrag konzipiert worden war.246 Ezra Pound (1885–1972), der das Manuskript nach Fenollosas Tod erhielt und es wahrscheinlich im Jahr 1913 las, redigierte den Text und fügte 1918 eine Einleitung hinzu, in der er ihn als »a study of the fundamentals of all aesthetics«247 bezeichnete. Fenollosas Aufsatz erschien dann in vier Teilen von September bis Dezember 1919 in der Zeitschrift The Little Review und war von Anfang an umstritten: Die einen lobten ihn als »Höhepunkt moderner Poetik«,248 die anderen, hauptsächlich Sinologen, die ihn als eine sprachwissenschaftliche Abhandlung verstanden, lehnten seinen Inhalt vehement und als grundsätzlich falsch ab.249 Die Forschung ist sich heute weitgehend darüber einig, dass Fenollosas Idee und Pounds Interpretation aus sprachwissenschaftlicher Sicht nicht haltbar sind, aber dennoch ein enormes ästhetisches Potential freizusetzen vermochten. Das Problem beginnt für die Sinologen mit Fenollosas Prämisse, dass die chinesische Schrift ideographisch und nicht-phonetisch sei.250 Er setzt damit jenes Missver-

244 Teile dieser Ausführungen basieren auf meinem Aufsatz »Die poetische Funktion chinesischer Ideogramme bei Fenollosa und Pound«, in: Anglia 132 (2014) 4, S. 740–756. 245 Ernest Fenollosa: Das Chinesische Schriftzeichen als Organ für die Dichtung, in: Ernest Fenollosa. Ezra Pound. Serge Eisenstein: No¯ – Vom Genius Japans, hg. von Eva Hesse, Zürich: Arche 1963, S. 223–261. 246 Vgl. Hugh Kenner: »Ezra Pound and Chinese«, in: Agenda 4 (1965), S. 38–41, hier S. 38. 247 Fenollosa: The Chinese Written Character, S. 41. Die 2008 publizierte Neuauflage versammelt auch die Vorlesungsskripte Fenollosas. 248 Welsh nennt sie »one of the high points of modern poetics«, vgl. Andrew Welsh: The Roots of Lyric, Princeton: Princeton Univ. Press 1978, S. 101. 249 George Kennedy schreibt über Fenollosa: »Within the limits of fourty-four pages he gallops determinedly in various directions, tilting at the unoffending windmills«; vgl. George Kennedy: »Fenollosa, Pound, and the Chinese Characters«, in: Yale Literary Magazine 126 (1958) 5, S. 24–36, hier S. 25. 250 Zongqi Cai machte allerdings darauf aufmerksam, dass das piktographische Missverständnis fest in der chinesischen Tradition verankert sei und auf Xu Shen (30–124), den Kompilator des ersten grundlegenden Wörterbuchs (Shuowen jie zi) zurückgehe; vgl. Cai Zongqi: »Poetics of dynamic force. Fenollosa, Pound, and Chinese Critics on the Chinese Written Character«, in: ders.: Configurations of Comparative Poetics. Three Perspectives on Western and Chinese Literary Criticism, Honolulu: Univ. of Hawaii Press 2002, S. 171–202, hier S. 175. Um die Fokussierung der Überlegungen von Fenollosa und Pound auf die Bildlichkeit der chinesischen Zeichen zu betonen, wird im Folgenden hauptsächlich der Begriff ›Ideogramm‹ benutzt.

404

Transkulturelle Resonanzen

ständnis fort, dem wir schon bei Athanasius Kircher und Gottfried Wilhelm Leibniz begegnet sind. In den folgenden Betrachtungen wird es aber nicht so sehr um die Überprüfbarkeit von Fenollosas Ausgangspositionen gehen, als vielmehr um die von ihnen ausgelöste ästhetische Wirkung, die Resonanz chinesischer Schriftzeichen in der westlichen Dichtung betreffend. Das Provokante in seinem Ansatz liegt darin, in einer so entfernten Sprache wie dem Chinesischen universelle Elemente von Dichtung finden zu wollen, die der westlichen Poesie einen Weg aus ihrer drohenden Erstarrung weisen könnten. Entsprechend richtet sich die Ausgangsfrage des Textes auf die poetische Wahrnehmung: In what sense can verse, written in terms of visible hieroglyphics, be reckoned true poetry? It might seem that poetry, which like music is a time art, weaving its unities out of successive impressions of sound, could with difficulty assimilate a verbal medium consisting of semi-pictorial appeals to the eye.251

Fenollosa konzentriert sich dabei ausschließlich auf die Visualität der Schriftzeichen, was ihn dann letzten Endes dazu führt, die lautliche Komponente in seinen Betrachtungen gänzlich zu vernachlässigen. An drei einzelnen Schriftzeichen, die den Satz »Man sees horse« formen, versucht er, die Bildhaftigkeit der chinesischen Zeichen und die dynamische Kraft der Natur, die darin zum Ausdruck kommen, zu verdeutlichen. Zwar könne man die drei Zeichen 人 見 馬 auch als Symbole (nach Peirce: icon) ansehen, die – zumindest für jemanden, der des Chinesischen nicht mächtig ist – stumm wären, doch sei ein Sinogramm weit mehr als nur ein willkürliches Symbol: »Chinese notation is something much more than arbitrary symbols. It is based upon a vivid shorthand picture of the operations of nature.«252 Während die Zeichengebung westlicher Sprachen prinzipiell auf Konventionen beruhe, folge das Chinesische »natürlichen Anhaltspunkten«: »First stands the man on his two legs. Second, his eye moves through space: a bold figure represented by running legs under an eye, a modified picture of running legs, but unforgettable once you have seen it. Third stands the horse on his four legs.«253 Das Gedanken-Bild (»thought picture«), das dabei entsteht, wird Fenollosa zufolge nicht einfach nur durch die Schrift oder die Worte abgerufen, sondern auf »lebendige und konkrete« Weise evoziert (»far more vividly and concretely«254). Das geschieht vor allem dadurch, dass bei einer Kombination von zwei Bildern wie ›Bein‹ und ›Auge‹ nicht etwa ein Drittes hervorgebracht, sondern stattdessen eine wesentliche Beziehung zwischen den

251 252 253 254

Fenollosa: The Chinese Written Character, S. 43. Ebd., S. 45. Ebd. Ebd.

Exkurs: Die poetische Resonanz chinesischer Ideogramme bei Ezra Pound

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beiden nahegelegt wird,255 vergleichbar der Zusammensetzung der Zeichen für ›Sonne‹ und ›Mond‹ 明 für ›scheinen‹ (als Verb), ›hell‹ (als Adjektiv) und ›Licht, Helligkeit‹ (als Substantiv).256 Die chinesische Sprache hat nach Fenollosa die ganz besondere Eigenschaft, Bildhaftes und die Kraft der Bewegung miteinander zu verbinden, und ist damit »objektiver«: »It is, in some sense, more objective than either, more dramatic. In reading Chinese we do not seem to be juggling mental counters, but to be watching things work out their own fate.«257 Fenollosa betont dabei besonders die Anschaulichkeit von Verben, mit denen Handlungen oder Abläufe beschrieben werden: »For example, the ideographic meaning ›to speak‹ is a mouth with two words and a flame coming out of it. The sign meaning ›to grow up with difficulty‹ is grass with a twisted root.«258 Maßgeblich ist also nicht der Aspekt der Bildlichkeit allein, wie es von Fenollosas Kritikern oft einseitig dargestellt wird, sondern das Moment der Bewegung (Übergang, Veränderung, Aktion), das in ihr zum Ausdruck kommt:259 A true noun, an isolated thing, does not exist in nature. Things are only the terminal points, or rather the meeting points of actions, cross-sections cut through actions, snapshots. Neither can a pure verb, an abstract motion, be possible in nature. The eye sees noun and verb as one: things in motion, motion in things, and so the Chinese conception tends to represent them.260

Pound schließt sich diesen Überlegungen Fenollosas ohne Bedenken an. Mit dessen Grundintention stimmt er allein schon deshalb überein, weil er selbst nach einem Weg sucht, zum verdichteten Kern der Dichtung vorzudringen, was er mit dem abstrakten, analytisch orientierten Englisch seiner Zeit und dessen wenig bildhaften Wörtern und abgegriffenen Metaphern nicht erreichen zu können glaubt. Im Hinblick darauf kommt ihm Fenollosas Sicht auf die chinesischen Ideogramme gerade recht. Pound teilt Fenollosas Ansicht, dass diese Suche zum grundlegenden Zusammenhang zwischen der Sprache und dem Gedanken zurückführen müsse, was er in seinem ABC des Lesens folgendermaßen darzustellen versucht hat: 255 Ebd., S. 46: »In this process of compounding, two things added together do not produce a third thing but suggest some fundamental relation between them.« 256 Doch auch die Herleitung dieses Zeichens wird von einigen Sinologen bestritten. So behauptet James Liu, dass es sich ursprünglich um die Bilder eines Fensters und des Mondes handelte – nicht der Sonne; vgl. James J. Y. Liu: The Art of Chinese Poetry, London: Routledge & Kegan Paul 1962, S. 4. 257 Fenollosa: The Chinese Written Character, S. 45. 258 Ebd., S. 46. 259 Mit der verstärkten Beachtung des Moments der Bewegung beginnt sich in der Bewertung Fenollosas eine Veränderung abzuzeichnen. Stellvertretend für diese neue Position ist der Beitrag von Cai Zongqi; vgl. Cai: Poetics of dynamic force, S. 172f. 260 Fenollosa: The Chinese Written Character, S. 46.

406

Transkulturelle Resonanzen

Wenn man in Europa einen Menschen auffordert, etwas zu definieren, entfernt sich seine Definition immer mehr von den einfachen, ihm vertrauten Dingen; sie entweicht in eine unbekannte Region, in eine Region abgelegener und immer weiter abgelegener Abstraktion. Fragt man ihn also, was rot ist, so sagt er, es ist eine »Farbe«. Fragt man ihn, was eine Farbe ist, so erklärt er, es sei eine Schwingung oder eine Brechung des Lichts oder ein Teil des Spektrums. Fragt man ihn, was eine Schwingung ist, so sagt er, es sei eine Erscheinungsform der Energie oder etwas Derartiges, bis man schließlich zu irgendeiner Modalität des Seins oder Nicht-Seins gelangt und den Boden unter den Füßen verliert; jedenfalls er.261

In China hingegen würde man, so glaubt Pound, »noch immer vereinfachte Bilder als Bilder« verwenden. Das chinesische Ideogramm versuche nicht, »einen Laut ins Bild zu bringen oder als Schriftzeichen einen Laut in Erinnerung zu rufen, es ist immer noch Abbild eines Dinges; eines Dinges in einer gegebenen Lage oder Beziehung, oder einer Zusammenstellung von Dingen,«262 womit es eine Art Urzustand der Sprache darstelle: »Es meint das Ding, oder die Handlung, oder die Situation, oder die Eigenschaft, die den verschiedenen abgebildeten Dingen zugehörig ist.«263 Auch wenn Derrida in Fenollosa und Pound ein gleichsam prä-grammatologisches Denken zu erkennen meint, handelt es sich – ebenso wie bei Leibniz – um eine »europäische Halluzination«.264 Pound sieht in den chinesischen Bildzeichen jene komprimierte Ausdruckskraft, die er auch an der chinesischen Dichtung bewundert: eine affektive Resonanz, die über das unmittelbar Visuelle vermittelt wird. Sie macht sich für Pound in der besonderen Kraft der Evokation bemerkbar, in der spontanen Anregung, die den Leser ergreift, wenn er das Zeichen erblickt: »Gaudier-Brzeska, der einen Blick für die wahre Gestalt der Dinge hatte, konnte eine Anzahl chinesischer Schriftzeichen ohne irgendein Studium lesen. Er sagte: ›Natürlich, man sieht, daß es ein Pferd ist‹ (oder ein Flügel oder sonst was).«265 Mit der gleichen naiven Selbstverständlichkeit deutet Pound die chinesischen Schriftzeichen, wenn er in dem Zeichen für ›Osten‹ 東 die Sonne 日 zu erkennen meint, 261 262 263 264

Ezra Pound: ABC des Lesens, Zürich: Arche 2007, S. 18. Ebd., S. 20. Ebd. Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1974, S. 142. In einer Fußnote erklärt Derrida: »Fenollosa, der Zug um Zug die logisch-grammatikalischen Strukturen des Abendlandes (und vor allem der aristotelischen Kategorientafeln) hinterfragte und den Nachweis erbrachte, daß sie für eine korrekte Beschreibung der chinesischen Schrift untauglich sind, machte einmal darauf aufmerksam, daß die chinesische Dichtung ihrem Wesen nach Schrift ist.« (Ebd., S. 166–167) Doch ignoriert er dabei, dass Fenollosa unter »Schrift« ausschließlich Pikto- und Ideogramme versteht und dass damit auch dessen Kategorien für die Beschreibung der gesamten chinesischen Schrift untauglich sind. 265 Pound: ABC des Lesens, S. 21. Henri Gaudier-Brzeska (1891–1915) war ein französischer Bildhauer und Mitbegründer des ›Vortizismus‹.

Exkurs: Die poetische Resonanz chinesischer Ideogramme bei Ezra Pound

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die hinter den Ästen eines Baumes 木 aufgeht (»Sun rising, showing through tree’s branches = the east«).266

Abb. 52: Entwicklung der Schriftzeichen für ›Baum‹ (links) und ›Sonne‹ (rechts daneben), ganz rechts die Überblendung der Zeichen ›Baum‹ und ›Sonne‹ = ›Osten‹ (nach Edoardo Fazzioli).

Gemäß der traditionellen abendländischen Vorstellung von einer Bilderschrift werden den etymologischen Herleitungen häufig zusätzliche philosophische Konnotationen beigegeben, so, als trage jedes Ideogramm in sich bereits die Signatur eines Denkens. Fazzioli z. B. ist sich ganz sicher, dass die Sonne »für das männliche Prinzip [stehe], den Anfang des Lichts in seinen fünf Grundfarben«.267 Aus pragmatischen, d. h. schreibtechnischen Gründen sei das Zeichen, ausgehend vom Kreis, zunächst in ein Quadrat und dann in ein Rechteck umgeformt worden. Das Schriftzeichen 木 (mu) hingegen gehe »von einem fest in der Erde (horizontaler Strich) verwurzelten, nach oben ragenden Baumstamm aus«,268 doch seien bereits in den alten Formen des Piktogramms dann noch die Äste hinzugekommen. Im Anhang zu Fenollosas Ausführungen gibt es eine Vielzahl weiterer Beispiele dieser Art etym-mythologischer Interpretationen: Das Zeichen für ›Aufrichtigkeit, Treue‹ 信 (xin) setze sich laut Fenollosa/Pound aus den Zeichen für ›Mensch‹ 人 (ren) und ›Wort‹ 言 (yan) zusammen, was das imaginäre Bildzeichen eines Menschen ergebe, der sein Wort hält: »man standing by his word« (wobei zu bedenken wäre, dass nicht 人 sondern 亻 das Radikal für ›Mensch‹ ist).269 Das Ideogramm 男 (nan), eine Kombination aus den Zeichen für ›Reisfeld‹ und ›Kraft‹, veranschauliche in seiner vertikalen Anordnung die männliche Arbeit und bedeute deshalb ›Mann‹ oder ›männlich‹, und das Ideogramm 古 (gu), in welchem das Zeichen für ›zehn‹ über dem für ›Mund‹ zu sehen ist, wird in seiner

266 Fenollosa: The Chinese Written Character, S. 67 (plate 2). 267 Edoardo Fazzioli: Gemalte Wörter. 214 chinesische Schriftzeichen – Vom Bild zum Begriff. Ein Schlüssel zum Verständnis Chinas, seiner Menschen und seiner Kultur, 5. Aufl., Wiesbaden: Fourier 1991, S. 184. Als Einführung s. Cecilia Lindquist: Eine Welt aus Zeichen. Über die Chinesen und ihre Schrift, München: Droemer Knaur 1990; Li Leyi: Entwicklung der chinesischen Schrift, am Beispiel von 500 Schriftzeichen, Peking: Verl. d. Hochschule f. Sprache u. Kultur 2001 (zuerst Peking 1993). Lindquist war Schülerin des Sinologen Bernhard Karlgren. 268 Fazzioli: Gemalte Wörter, S. 195. 269 Fenollosa: The Chinese Written Character, S. 68–69 (plate 3).

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Transkulturelle Resonanzen

Bedeutung ›(sehr) alt‹ von Fenollosa mit den Worten erklärt: »what has come down through ten generations, ten mouths of tradition«.270 Es zeigt sich dabei, dass die piktogrammatische Etymdeutung, wie sie von Fenollosa und Pound betrieben wurde, weitgehend der abendländischen Bilderzeichentradition folgt, die davon ausgeht, dass der Bildlichkeit der Ideogramme ein Verstehen über den Weg visueller Anschauung zugrunde liegen müsse. Wo sich aber diese Anschauung dem intellektuellen Zugang verschließt, wird Symbolisches ›hineingelesen‹, und wo sich dann auch noch das Symbolische verschließt, wird ein Geheimnis angenommen271 – und genau in diesem Moment wird die Entzifferung, wie bei Athanasius Kirchers christologischer Schrifthalluzination, zur Kryptologie für Dilettanten. Fenollosa und Pound teilen zwar dessen Ausgangspunkt, dass ein Verstehen der Schriftzeichen nur über ihre Anschauung möglich sei, sie deuten den Bildzusammenhang aber nicht metaphorisch oder symbolisch aus, sondern verweilen beim Bildhaften des Piktogramms. Hier entfalten sie einen intellektuellen Spielraum, der sich ihrer Überzeugung nach auch dichterisch nutzen ließe, wobei man, positiv formuliert, von einer ›imaginären Resonanz‹ sprechen könnte, die beim Leser angeregt wird. Es geht Fenollosa und Pound ausschließlich um eine Verknüpfung von Bildern, ohne dass diese auf ein Subjekt bezogen oder als Metaphern gedeutet würden. Die Etymologie wird dabei zu einer Etym-Imagination: Weil den Ideogrammen ihre Bedeutung gleichsam ›ins Gesicht geschrieben steht‹, könne man an ihnen auch ihre Etymologie direkt ablesen. Dazu müsse man die einzelnen Elemente der Schriftzeichen zunächst einmal piktographisch deuten, bevor sie dann zu einem gedanklichen Ganzen zusammengefügt werden können. 270 Ebd., S. 44–45. In ABC des Lesens begründet Pound den Mythos einer intuitiven Übersetzung, die auf einer piktogrammatisch-poetischen Lektüre der Ideogramme beruht. Eine Vorlage dazu findet er in Fenollosas Aufzeichnungen, in denen die Übersetzung von fünf Ideogrammen erläutert wird: 月 耀 如 晴 雪 »Moon rays like pure snow« (Fenollosa: The Chinese Written Character, S. 44 und Pounds Schaubild S. 63). Das Beispiel macht deutlich, inwieweit es sich bei dieser Übersetzung um Gedankenassoziationen handelt, die sprachwissenschaftlich in keiner Weise haltbar sind. Im zweiten Ideogramm ist z. B. rechts oben das Zeichen für ›Feder‹ 羽 zu erkennen und darunter das für ›Vogel‹, genaugenommen eines kurzschwänzigen Vogels: 隹 (zhui), woraus Pound die Bedeutung ›fliegen‹ ableitet, was zusammen mit ›hell‹ die Bedeutung ›scheinen‹ ergibt. Das dritte Ideogramm verbindet die Zeichen für ›Frau‹ und ›Mund‹, was Pound als ›wie‹ übersetzt. Das vierte Ideogramm beinhaltet auf der linken Seite das Zeichen für ›Sonne‹ und rechts das für ›azurblau‹ 青, was Pound als ›Himmel‹ deutet. Das fünfte Ideogramm schließlich besteht aus dem Zeichen für ›Regen‹ (oberer Teil), während man unten ein Zeichenelement erkennen kann, wie es auch im Wort ›Besen‹ vorkommt: 掃 (sao), was Pound mit der Bewegung des Kehrens assoziiert bzw. mit dem durch das Fegen aufgewirbelten Schnee. 271 Vgl. dazu die aufschlussreichen Ausführungen von Astrid Keiner in ihrem Aufsatz »Die Hieroglyphe. Ein Beispiel romantischen Fremdverstehens«, in: Fremde und Fremdes in der Literatur, hg. von Johanna Jablowska, Erwin Leibfried, Frankfurt a. M., Bern u. a.: Lang 1996, S. 78–90, hier S. 78f.

Exkurs: Die poetische Resonanz chinesischer Ideogramme bei Ezra Pound

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Mit ihrer Fokussierung auf die Bildlichkeit beschränken sich Fenollosa und Pound allerdings nur auf einen kleinen Teil chinesischer Zeichen, nämlich auf die eigentlichen Pikto- und Ideogramme. Diese Sichtweise übertragen sie dann vorbehaltlos auf alle anderen Zeichen, womit sie der Dichtung in ihrem Sinne durchaus ein beachtliches poetisches Potential eröffnen. Es war, wie schon anfangs bemerkt, nie Fenollosas Anliegen gewesen, die chinesische Sprache linguistisch-wissenschaftlich zu durchleuchten, sondern vielmehr, die poetische Resonanz ihrer Ideogramme zu erkunden und sie für die westliche Dichtung nutzbar zu machen. Die Art und Weise, wie Fenollosa und Pound verfahren, lässt sich aber ebenso gut auch umkehren, indem man z. B. sinntragende Zeichenelemente im Zuge einer freien Assoziation von Bedeutungen miteinander kombiniert, um schließlich neue, jetzt aber fiktive Zeichengestalten zu schaffen, wie bei Xu Bing, der verschiedene sinntragende Zeichenelemente mit viel Raffinesse zu neuen Zeichenkonstrukten zusammenfügte, die dem Betrachter auf den ersten Blick vollkommen vertraut schienen, als Gesamtbild dann aber nicht mehr lesbar waren und sich jeder Deutung entzogen.

Die »Bild-Kurzschrift« und die drei Poeias Ein Jahr bevor Pound Fenollosas Manuskript über die chinesischen Ideogramme erhielt, hatte Thomas Ernest Hulme (1883–1917) die literarische Bewegung des ›Imagismus‹ ins Leben gerufen, die im Gegensatz zu den überkommenen und abgenutzten Ausdrucksformen eine dynamische und unkonventionelle Bildersprache in der Dichtung forderte. Pound, der sehr empfänglich für die neuen Ideen von der Bildhaftigkeit der Sprache und ihrer Ausdruckskraft war, entwarf, angeregt durch die Lektüre von Fenollosas Manuskript, nun seinerseits das, was er als »ideogrammatic method« bezeichnete, eine dichterische Verfahrensweise aus kombinierter Montage und Collage mit prägnanten Bildfolgen. Die Grundidee dazu sieht Pound bei Fenollosa bereits als eine »wissenschaftliche Methode« angelegt, die sich seiner Ansicht nach im Unterschied zur ›philosophischen Erörterung‹ »mit der chinesischen Methode des Ideogramms oder der Bild-Kurzschrift deck[e]«.272 Wie ein chinesisches Ideogramm, von dem Fenollosa behauptet hatte, dass es ein Ding in seiner visuellen Anschauung und Beweglichkeit (in Aktion oder im Übergang) repräsentiere, müsse auch ein Gedicht die dargestellten Wirklichkeitssausschnitte unablässig in Bewegung halten. Als ein solches Beispiel für Pounds imagistische Dichtung wird immer wieder das 1911 geschriebene Gedicht »In a Station of the Metro« zitiert:273 272 Vgl. Pound: ABC des Lesens, S. 20. 273 Vgl. Charles Bernstein: »Introduction to Ezra Pound«, in: Poetry speaks, hg. von Elise

410

Transkulturelle Resonanzen

The apparition of these faces in the crowd; Petals on a wet, black bough.274

Der Zweizeiler setzt zwei ganz verschiedene Bilder in Beziehung zueinander – Gesichter (in) einer Menschenmenge und Blüten an einem Zweig (genaugenommen sind es die Kronblätter der inneren Blütenhülle) –, doch werden sie nicht durch einen Vergleich mit »wie« aufeinander bezogen. Die Spannung zwischen der Dynamik des ersten Bildes und der Statik des zweiten verdient besondere Aufmerksamkeit. Nach Ansicht von Franz Link275 wird die Dynamik des ersten Bildes gewissermaßen auf das zweite übertragen, was zum einen grammatisch durch die syntaktische Parallelität geschieht, wobei der Genitiv der ersten Zeile mit dem Substantiv der zweiten Zeile samt adverbialer Bestimmung in Beziehung gesetzt wird, zum anderen durch die Interpunktion (das Semikolon markiert eine Pause und suggeriert einen Bild- bzw. Gedankensprung), während sie rhythmisch voneinander abgehoben werden: Die erste Zeile ist ein sechshebiger Jambus, die zweite beginnt mit einer Hebung, worauf nach dem darauffolgenden Trochäus drei Akzente dominieren (wet, black bough). Auf diese Weise werden »petals« und »bough« rhythmisch auseinandergerückt. Gleichzeitig sind beide Wörter klanglich mit den Schlüsselwörtern verbunden, die eine signifikative Differenz markieren, und zwar zwischen »faces« und »crowd«: »Petals« und »faces« besitzen beide einen helleren Stammlaut, während »crowd« und »bough« eine Assonanz auf einen dunklen Laut bilden.276 Noch vor dieser klanglich-rhythmischen Gegensätzlichkeit rangiert das Wort »apparition«, was sich typographisch folgendermaßen verdeutlichen ließe: The apparition of these faces in the crowd; Petals on a wet, black bough.

Makoto Ueda weist darauf hin, dass beide Bilder weder im Widerspruch zueinander stehen, noch als gleichzeitige Wahrnehmungsvorgänge aufzufassen sind, d. h. sie implizieren weder ein logisches noch ein Ähnlichkeitsverhältnis: »They are purely sensory images, and the poem, in this sense, is objective. But when we read the poem we find that the latter image, that of petals on a bough, acts upon

Paschen, Rebekah Presson Mosby, New York: Sourcebooks 2001, S. 82–83. Für Bernstein ist dieses Gedicht ein Beispiel für die Verdichtung und Indirektheit imagistischer Ästhetik. 274 Ezra Pound: Dichtung und Prosa, Berlin: Ullstein 1956, S. 56; in der Übertragung von Eva Hesse: »Das Erscheinen dieser Gesichter in der Menge; / Blütenblätter auf einem nassen, schwarzen Ast« (ebd., S. 57). Zuvor erschienen in Ezra Pound: Personae. The shorter Poems. A revised edition prepared by Lea Baechler & A. Walton Litz, New York: New Directions 1990 (zuerst 1926), S. 109. 275 Vgl. Franz Link: Make it new. US-amerikanische Lyrik des 20. Jahrhunderts, Paderborn/ München/Wien/Zürich: Schöningh 1996, S. 137. 276 Ebd.

Exkurs: Die poetische Resonanz chinesischer Ideogramme bei Ezra Pound

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the former and creates a certain sensory impression in our mind.«277 Die Bildlichkeit dieses »hokku-ähnlichen Satzes« wirkt nach Ansicht Uedas wie eine Resonanzübertragung im nicht-signifikativen Raum, und er gelangt schließlich zur Feststellung, dass es sich um eine Art von »vital interaction between images«278 handelt. So betrachtet, sind Gedichte wie diese eigentlich nichts anderes als verdichtete Bilder279 und entsprechen damit Pounds Vorstellung einer »Bild-Kurzschrift (abbreviated picture writing)«.280 In den neunzehn aus dem Chinesischen übertragenen Gedichten, die er 1915 unter dem Titel Cathay publizierte, bedient er sich ebenfalls dieser Verfahrensweise, indem er aus einem Reservoir verdichteter Bilder schöpft, das mittels der ideogrammatischen Methode geschaffen wurde, und diese Verdichtungen in effektvolle Bildfolgen übersetzt. So wird zum Beispiel der Satz 鳳去臺空江自流 [Phönix (fort)gehen, Terrasse leer, Fluss fließt (weiter) von selbst]

folgendermaßen in das Gedicht »The City of Choan« integriert: The phœnix are at play on their terrace. The phœnix are gone, the river flows on alone. Flowers and grass Cover over the dark path where lay the dynastic house of the Go. The bright cloths and bright caps of Shin Are now the base of old hills. The Three Mountains fall through the far heaven, The isle of White Heron splits the two streams apart. Now the high clouds cover the sun And I can not see Choan afar And I am sad.281

Pound übersetzt also nicht etwa: »The phoenix are gone, the terrace is empty and the river flows on alone.« Stattdessen löst er die Bilder auf, verteilt sie über zwei 277 Makoto Ueda: Zeami, Basho¯, Yeats, Pound. A Study in Japanese and English Poetics, London, The Hague, Paris: Mouton 1965, S. 109. 278 Ebd., S. 110. 279 Pound setzt an zwei Stellen das deutsche Wort »dichten« mit dem lateinischen »condensare« gleich (»Dichten = Condensare«); vgl. Pound: ABC des Lesens, S. 39 und 114. Etymologisch leitet sich »dichten« jedoch nicht von »dicht« (lat. densus), sondern von »dictare« ab, was soviel bedeutet wie ›vorsagen, verfassen, wiederholt vorsagen‹. 280 Pound: ABC des Lesens, S. 20, vgl. Ezra Pound: ABC of Reading, New York: New Directions 1934, S. 20. 281 Pound: Personae, S. 148. »The City of Choan« gehört zu einer Gruppe von Gedichten, die die alte Kaiserstadt der Tang-Dynastie, Chang’an (heute Xi’an), zum Thema haben.

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Zeilen und konstruiert, wie es in der chinesischen Poesie üblich ist, Parallelen. Auf diese Weise kommt er ohne erklärende Einfügungen aus, die eine poetische Übersetzung zwangsläufig zur Prosa tendieren lassen, wie es bei Witter Bynner der Fall ist: Phoenixes that played here once, so that the place was named for them, Have abandoned it now to this desolate river; The paths of Wu Palace are cooked with weeds; The garments of Chin are ancient dust. … Like the green horizon halving the Three Peaks, Like this island of White Egrets dividing the river, A cloud has arisen between the Light of Heaven and me, To hide his city from my melancholy heart.282

Außerdem meidet Pound Vergleiche und Metaphern, wie sie Bynner benutzt (Zeile 5 und 6), der damit eine der chinesischen Vorlage fremde Distanz einführt. Pounds chinesisch-imagistische Dichtung muss auf seine Zeitgenossen recht beeindruckend gewirkt haben, denn T.S. Eliot ging sogar so weit zu behaupten, dass Pound für den Westen der »Erfinder der chinesischen Dichtung« sei und dass durch seine Übersetzung der Leser ohne Weiteres das Original erfassen könne.283 Jedoch lässt sich weder Pounds poetische Übersetzungsleistung noch seine Dichtung als »Bild-Kurzschrift« lediglich auf den Aspekt der Bildlichkeit reduzieren. Die Komposition der Bilder spielt daneben mit Klängen (»gone/alone«), und auch semantische Effekte gehen mit den Bildfolgen einher: ein Wechsel von Farbe (»flowers«) zur Dunkelheit (»dark path«), von Aktivität (»at play«) zur Ruhe (»cover over«), vom Lebendigen (»flower and grass«) zum Reglos-Starren (»the dynastic house«).284 Es muss also mehr sein als nur eine dynamische Bildsprache, was die Besonderheit seiner Dichtung ausmacht. Pound selbst unterscheidet, die traditionellen Einteilungen hinter sich lassend, drei Arten von Dichtung – eigentlich sind es drei Möglichkeiten, Sprache auf eine bestimmte Weise mit ›Energie‹ aufzuladen (»language is charged or energized in various manners«285) –, nämlich melopoeia, phanopoeia und logopoeia, wobei jeweils die Bildlichkeit, der Klang und das allusive Sprachspiel in den Vordergrund gestellt 282 Witter Bynner: The Jade mountain. A Chinese Anthology, being three hundred poems of the T’ang Dynasty, New York: Knopf 1929, S. 58. Zu Pound und Bynner s. Hugh Kenner: The Poetry of Ezra Pound, Lincoln: Univ. of Nebraska Press 1985, S. 138 (EA London: Faber & Faber 1951). 283 Vgl. die Einleitung von T.S. Eliot zu Ezra Pound: Selected Poems, hg. von T.S. Eliot, London: Faber & Gwyer 1928, S. 14. 284 Eine detaillierte Analyse findet man bei Wai-lim Yip: Ezra Pound’s Cathay, Princeton: Princeton Univ. Press 1969, S. 147f. 285 Ezra Pound: »How to read«, in: Polite Essays, Freeport, N.Y.: Books for Libraries Press 1966, S. 170.

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und damit drei verschiedene Aspekte von Resonanz hervorgehoben werden. In seinem Essays »How to read« (1928) entwickelt Pound diesen Gedanken weiter und charakterisiert die drei Dichtungsarten folgendermaßen: Melopoeia, wodurch Worte über ihren baren Sinn hinaus mit einer musikalischen Eigenschaft geladen werden, welche Tragweite und Richtung dieses Sinnes steuert; Phanopoeia, wodurch Bilder auf die visuelle Einbildungskraft projiziert werden; Logopoeia, ›Der Tanz des Geistes unter den Worten‹, das heißt: die Worte werden nicht nur wegen ihrer sinnfälligen Bedeutung gebraucht; hier werden auf besondere Art die Gepflogenheiten mit in Anschlag gebracht, der Zusammenhang, in dem wir das Wort erwarten, seine üblichen Begleitworte, sein überkommener Sinn und das Spiel der Ironie. Diese Art zeitigt jenen ästhetischen Gehalt, der nur dem Gebiet der wörtlichen Äußerung eigen ist und weder von der Musik noch von der Plastik vermittelt werden kann. Sie ist zeitlich das jüngste und vielleicht auch das heikelste und unzulässigste Verfahren.286

Während die melopoeia also auf eine Klangresonanz abzielt, und zwar über die Signifikation hinaus, spielt bei der phanopoeia die Resonanz der Schriftbildlichkeit (die in der vorliegenden Untersuchung auch als ›Zeichenresonanz‹ bezeichnet wurde) die maßgebliche Rolle. Die weitaus komplexere logopoeia umfasst hingegen noch weitere Aspekte signifikativer Resonanz wie ästhetische Negation oder Ironie und stimuliert so das intellektuelle Assoziationsvermögen des Lesers. Sie hängt weitgehend vom Wissen und von der Kompetenz des Lesers ab. Auch ohne ein Verständnis der Sprache könne ein Fremder mit sensiblen Ohren die melopoeia wertschätzen, meint Pound. Praktisch sei es aber ausgeschlossen, sie von einer Sprache in eine andere zu übersetzen, vielleicht wäre es für eine halbe Verszeile durch eine Art göttlicher Fügung (»by divine accident«) einmal möglich, aber nicht für ein ganzes Gedicht. Im Grunde hängt die Übersetzung der melopoeia weitgehend von den Besonderheiten der Signifikanten ab; Klang- und Wortspiele allerdings können nie wirklich vollständig bzw. adäquat übersetzt werden. Es gibt letztlich nur die Möglichkeit, translinguale Äquiva-

286 Ezra Pound: Motz el son. Wort und Weise. Eine Didaktik der Dichtung. Aus dem Amerikan. von Eva Hesse, Zürich: Arche 1957, S. 25–26. Im englischen Original heißt es: Melopœia, wherein the words are charged, over and above their plain meaning, with some musical poetry, which directs the bearing or trend of that meaning. Phanopœia, which is a casting of images upon the visual imagination. Logopœia, »the dance of the intellect among words«, that is to say, it employs words not only for their direct meaning, but it takes count in a special way of habits of usage, of the context we expect to find with the word, its usual concomitants, of its known acceptances, and of ironical play. It holds the aesthetic content which is peculiarly the domain of verbal manifestation, and cannot possibly be contained in plastic or in music. It is the latest come, and perhaps most tricky and undependable mode. (Pound: »How to read«, in: Polite essays, S. 25.)

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lenzen zu finden und Klangresonanzen zu ermöglichen oder die fremde Sprache zu lernen. Die phanopoeia hingegen lässt sich nach Ansicht Pounds durchaus in eine andere Sprache übertragen. Bei der logopoeia wiederum stoße ein Übersetzer erneut an seine Grenzen. Lediglich über die Geisteshaltung könne man mit Hilfe der Paraphrasierung etwas von ihr ausdrücken, wobei sich aber wiederum nur Äquivalenzen finden lassen. Die phanopoeia wäre damit nach Pound die einzige der drei Dichtungsarten, bei der eine Übersetzung uneingeschränkt möglich ist. Die drei Begriffe erlauben nicht nur resonanzästhetische Betrachtungen von Dichtung einschließlich ihrer Übersetzbarkeit, sondern fordern gleichzeitig zu einer Revision der Literaturgeschichte auf. Auch interkulturelle Unterscheidungen werden mit ihrer Hilfe möglich. So ist Pound der festen Überzeugung, dass die Griechen die höchsten Fertigkeiten in Hinsicht auf melopoeia besessen und die Chinesen, insbesondere die Tang-Dichtung, das höchste Maß an phanopoeia erreicht hätten.287 Der einzige europäische Dichter, der Ähnliches vermocht habe, sei Rimbaud gewesen. Der Grund, warum gerade bei den chinesischen Dichtern die phanopoeia derart dominant sei, wäre, so Pound, in der chinesischen Sprache selbst zu suchen: in ihren Ideogrammen, welche die visuelle Natur dessen, was sie repräsentieren, nachbilden würden. Es steht außer Zweifel, dass Pound die ideographische Komponente der chinesischen Schriftsprache viel zu sehr verallgemeinert und überbewertet, doch weit wichtiger als alle linguistischen Spekulationen sind die poetologischen Implikationen seiner Ausführungen, und hier in erster Linie das, was er als die »ideogrammatische Methode« bezeichnet, unter der er, zunächst ganz allgemein, ein Verfahren zur Verknüpfung von Bildern (images) versteht, das dann im speziellen Sinne auf der ideogrammatischen Zusammensetzung chinesischer Schriftzeichen basiert.

Verdichtete Ansichten. Das ›Sieben Seen-Canto‹ Im Besitz von Pounds Eltern befand sich ein altes japanisches Buch mit chinesischen und japanischen Gedichten sowie Illustrationen zu den berühmten Acht Ansichten von Xiao Xiang ( jap. sho¯-sho¯ hakkei) – zwei Flüsse in der chinesischen Provinz Hunan.288 Pound selbst benutzte für sein Canto 49 eine Paraphrasierung der Gedichte ins Englische, die, wie Hugh Kenner vermutet, wahrscheinlich von 287 Vgl. Pound: How to read, S. 172. 288 Zur Tradition der »Acht Ansichten« siehe Alfreda Murck: »The Eight Views of Xiao-Xiang and the Northern Song Culture of Exile«, in: Journal of Song-Yuan Studies 26 (1996), S. 113– 144.

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einem chinesischen Besucher erstellt worden war.289 Aus dem Briefwechsel ist ersichtlich, dass Pound das Buch im März 1928 von seiner Mutter per Post erhalten hatte.290 Dafür, dass es sich um einen chinesischen Übersetzer bzw. eine Übersetzerin291 handelt, spricht die Notation der Ortsnamen, die Pound in sein Gedicht übernahm. Während Kodama Pounds Sieben Seen-Canto vor dem Hintergrund der den Acht Ansichten zugeordneten Gedichten liest und interpretiert, begreift Qian dieses Canto, ausgehend von der phanopopeia, als ein modernistisches Zeugnis der Ekphrasis (lat. descriptio).292 Die von der Tradition vorgegebenen Ansichten Xiao Xiangs sind folgende: Wildgänse landen auf einer Sandbank, Segelboote kehren von fernen Ufern zurück, Nebel über einem Bergdorf, fallender Schnee über einem Fluss, Herbstmond über dem Dongting-See, nächtlicher Regen über Xiao Xiang, Abendglocke eines nebelverhangenen Tempels, Abendrot über einem Fischerdorf. Ihre Präsenz im Canto 49 ist kaum zu übersehen. Viel bemerkenswerter aber ist, dass der namenlose Übersetzer der Verse gleich in der ersten Zeile in Erscheinung tritt (»by no man these verses«), wobei jener »Niemand«293 auf Odysseus verweist, der, wie Kodama anmerkt, nun gleichsam »den orientalischen Lake District durchwandert«:294 For the seven lakes, and by no man these verses: Rain; empty river; a voyage, Fire from frozen cloud, heavy rain in the twilight Under the cabin roof was one lantern. the reeds are heavy; bent; and the bamboos speak as if weeping.

289 Hugh Kenner: »More on the Seven Lakes Canto«, in: Paideuma 2/1 (1973), S. 43–46, hier S. 44–45. Das besagte Buch wird bereits bei Daniel D. Perlman The Barb of Time. On the Unity of Ezra Pound’s Cantos (New York: Oxford Univ. Press 1969), S. 194–201 erwähnt. Vgl. dazu auch die Anmerkungen in Sanehide Kodama: American Poetry and Japanese Culture, Hamden, Conn.: Archon 1984, S. 105. 290 Pounds unpublizierter Briefwechsel (»Letters of Ezra Pound« at Yale Library, Special Collection, letter no. 929), zitiert in: Angela Jung Palandri: »The Seven Lakes Canto Revisited«, in: Paideuma 3/1 (1974), S. 51–54, hier S. 52. 291 Nach Kodama ist sie identisch mit einer Miss Tseng, die Dorothy Pound um 1934/35 in Rapallo besuchte; Sanehide Kodama: American Poetry and Japanese Culture, Hamden, Conn.: Archon 1984, S. 106. 292 »No one has tried to appreciate Pound’s Seven Lakes Canto as a modernist instance of ekphrasis.« Zhaoming Qian: The Modernist Response to Chinese Art. Pound, Moore, Stevens, Charlottesville/London: Univ. of Virginia Pess 2003, S. 123. 293 Hannes Fricke bemerkt zudem, dass Pound in seinen Cantos den Niemand »wohl zum ersten Mal in der Literaturgeschichte als poetisches Prinzip« verwende; vgl. Hannes Fricke: »Niemand wird lesen, was ich hier schreibe«. Über den Niemand in der Literatur, Göttingen: Wallstein 1998, S. 325. 294 Kodama: American Poetry and Japanese Culture, S. 113.

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Für die sieben Seen und von Niemand diese Verse: Regen, leerer Flußlauf; eine Bootsfahrt, Feuer sticht aus der Hagelbank, schwere Schauer im Dämmer. Unterm Kojendach eine einzige Lampe. Tropflastig neigt sich das Schilf; und der Bambus spricht unter Tränen.295

Der Einleitungszeile folgt eine Bildfolge, die als Visualisierung der wichtigsten Ideogramme aus dem eingangs erwähnten Gedicht zu der Ansicht »Nächtlicher Regen über Xiao Xiang« aufgefasst werden kann. Kodamas Übertragung dieses Gedichts ins Englische unter Verwendung der Wade-Giles-Umschrift lautet: Night Rain in Hsiao-Hsiang The empty river first of all grieves my soul so easily. Frozen cloud is sticking to rain dampening the twilight. Under the lonely lamp beneath the thatch I hear pipes and strings. I only turn to a bamboo branch and add my teardrops.296

In Canto 49 finden sich in Parallele dazu die Wörter »rain«, »empty river«, »frozen cloud«, »twilight«, »one lantern«, »bamboo«, »weeping«, alles Entsprechungen zu den Begriffen der chinesischen Vorlage, wie Kodama feststellt. Allerdings blieben einige offensichtliche Fehler unkorrigiert, was z. B. das in diesem Zusammenhang ungewöhnliche Auftauchen des Ausdrucks »fire« erklärt.297 Die nächsten Zeilen (7–12), beginnend mit »Autumn moon« beziehen sich auf die Ansicht »Herbstmond über dem Dongting-See«, die beiden darauffolgenden (13–14) auf »Abendglocke eines nebelverhangenen Tempels«, während die Zeilen 15 bis17 auf die Ansicht »Segelboote kehren von fernen Ufern zurück« rekurrieren: Autumn moon; hills rise about lakes against sunset Evening is like a curtain of cloud, a blurr above ripples; and through it sharp long spikes of the cinnamon, a cold tune amid reeds. Behind hill the monk’s bell borne on the wind. 295 Ezra Pound: Cantos. In der Übers. von Eva Hesse. Zweisprachige Ausgabe, Zürich: Arche 2012, S. 378–379. 296 Kodama: American Poetry and Japanese Culture, S. 111. 297 »›Fire‹ in the ›fire from frozen cloud‹ is not in the original. It is obviously from the paraphrase. But if we assume that Pound took notes while the Chinese visitor translated, she might have said ›adhere‹ for the ideogram meaning ›stick‹, which Pound might have heard as ›fire‹. ›The reeds are heavy; bent‹ does not appear in the ›Night Rain in Hsio-Hsiang‹ either. But it may have been suggested by the image of the reeds bent by the wind or snow in such lines as ›With the deep snow on reeds leaves‹ in the Japanese poem about the fourth scene.« (Ebd., S. 113.)

Exkurs: Die poetische Resonanz chinesischer Ideogramme bei Ezra Pound

Sail passed here in April; may return in October Boat fades in silver; slowly; Sun blaze alone on the river. Where wine flag catches the sunset Sparse chimneys smoke in the cross light Comes then snow scur on the river And a world is covered with jade Small boat floats like a lanthorn, The flowing water clots as with cold. And at San Yin they are a people of leisure. Wild geese swoop to the sand-bar, Clouds gather about the hole of the window Broad water; geese line out with the autumn Rocks clatter over the fishermen’s lanthorns, A light moves on the north sky line; where the young boys prod stones for shrimp. In seventeen hundred came Tsing to these hill lakes. A light moves on the south sky line. Herbstmond; Hügel wachsen rings um die Seen auf vor der sinkenden Sonne. Abend fällt wie ein Wolkenvorhang, schlierig über Windriffeln; aus Nebelwehen die lanzettlichen Blätter des Zimtbaums; im Ried singt ein erkältendes Sirren. Windgeführt hinter dem Hügel hervor tönt die Glocke des Mönches. Ein Segel glitt im April vorüber; kehrt vielleicht im Oktober wieder. Boot zerrinnt mählich in Silber. Sonnenglast allein auf dem Flusslauf. Wo das Abendrot auf die Weinflagge trifft, Qualmt hier und da ein Rauchfang im Schräglicht Fegt Schnee dann über den Flusslauf Ist eine Welt milchig wie Jade Kleine Barke treibt wie ein Lampion, Der Wasserlauf flockt aus in der Kälte. Und in San Yin lebt alle Welt in den Tag hinein. Graugänse landen im Federsturm auf der Sandbank, Wolken wachsen rings um die Fensterluke Wasserweiten; Gänse reihen sich ein für den herbstlichen Keilflug, Kormorane rattern über die Laternen in Fischerkähnen, Ein Licht wandert die nördliche Kimm entlang, wo die Buben nach Garnelen stochern unter Steinen.

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Siebzehnhundert kam Tsing an diese Seenplatte. Ein Licht wandert die südliche Kimm entlang.298

Der eingeschobene Zweizeiler mag auf den ersten Blick das »Abendrot über einem Fischerdorf« in Erinnerung rufen, aber es handelt sich wohl eher um die Ansicht »Nebel über einem Bergdorf«, wie es der »Rauchfang im Schräglicht« assoziiert. Eindeutiger sind hingegen die Zeilen 20 bis 24 mit dem Verweis auf die Ansicht »Fallender Schnee über einem Fluss«, während die anschließenden Zeilen 25 bis 27 ganz offenbar »Wildgänse landen auf einer Sandbank« zur Anschauung bringen. Die Zeilen 28 bis 30 beenden dann die Bildfolge mit der letzten Ansicht »Abendrot über einem Fischerdorf«. Unklar bleibt, wie der Zimtbaum in diesen Kontext gekommen ist.299 In zwei der acht dem Zyklus zugeordneten chinesischen Gedichten wird auf die Ästhetik des Blassen angespielt. Gleich im ersten Gedicht (»Wildgänse landen auf einer Sandbank«) ist die Rede von »dünner Tinte«, im vierten Gedicht (»Fallender Schnee über einem Fluss«) ziehen dann »farblose Wolken« am Himmel entlang. Es ist aber nicht anzunehmen, dass Pound sich dieses ästhetischen Zusammenhangs bewusst war; ebensowenig scheint er die Erzählungen Dauthendeys gekannt zu haben. Kodama setzt darüber hinaus die ersten sechs Zeilen des Cantos mit dem japanischen Verständnis einer geheimnisvoll-dunklen Schönheit, jap. yu¯gen, in Beziehung. Die Ansicht »Nächtlicher Regen über Xiao Xiang« beschreibe einen einsamen Reisenden, der durch die besondere Verknüpfung des leeren Flusslaufs, der Hagelbank (»frozen cloud«) und des nächtlichen Schauers, der auf das Bambusdach prasselt, emotional bewegt werde: He believes he hears, beyond his cabin roof, something resembling the pipes and strings telling of the sorrowful fate of the ancient princess, whose shrine he is visiting. The poem suggests that there is something invisible but working on us beyond our world.300

Ähnliches gelte für »Abendglocke eines nebelverhangenen Tempels«, wenn plötzlich der Klang der unsichtbaren Glocke aus dem Nebel hervorklingt: »By presenting something visible or sensible in an uncanny atmosphere, all the poems of ›Sho¯-Sho¯ Hakkei‹ suggest that there is something invisible and mysterious lying behind the scene.«301

298 Pound: Cantos, S. 378–379. 299 Kodama vermutet: »[O]bviously it comes from ›yü kuei-hua.‹ For kuei (kei) is occasionally referred to as cinnamon. However, it here means the Japanese Judas tree, supposed to grow on the moon, and kuei-hua (keika) denotes the blossoms of the fragrant olive, connoting the moonlight. […] The error originates from the paraphrase, ›ten thousand ripples send mist over cinnamon flowers.‹ The painting, however, […] depicts a sharp, tall pine tree through haze.« (Kodama: American Poetry and Japanese Culture, S. 114.) 300 Ebd., S. 115. 301 Ebd.

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Die letzten beiden Zeilen der vierten Strophe gehören allerdings nicht mehr zu den traditionellen acht Ansichten, sondern zeigen den Kaiser Kangxi (bei Pound wird er repräsentativ für die gesamte Dynastie »Tsing« (Qing) genannt) beim Besuch der Seen-Region.302 Dass selbst der Kaiser der neuen Dynastie die beschwerliche Reise dorthin auf sich nimmt, spricht für den ›ikonenhaften Status‹ dieser »Acht Ansichten«. Qian begreift den Bezug auf dieses historisches Ereignis als das genuin Modernistische an Pounds Ekphrasis, denn diese bestehe gerade nicht in der Verbalisierung des Betrachteten, sondern in dessen Aktualisierung mittels historischer Fakten. Die fünfte Strophe des Cantos liest sich dann wie ein Kommentar, der in die chinesische Welt der »Acht Ansichten« eingefügt ist: State by creating riches shd. thereby get into debt? This is infamity; this is Geryon. This canal goes still to TenShi though the old king built it for pleasure Soll dem Staat eine Schuld entstehn, dieweil er den Wohlstand schafft? Dies ist Niedertracht, ist Geryon. Dieser Kanal führt immer noch nach Ten Shi wenn ihn der alte König auch zur Kurzweil anlegte[.] 303

Als westlicher Wanderer, so die gängige Interpretation, sucht Pound unter der Maske des Odysseus einen Ausweg aus dem politischen Chaos seiner Zeit.304 Das wird besonders in der Schlussvision einer unsichtbaren Macht, die jenseits der wahrnehmbaren Welt alles zusammenhält, deutlich: Sun up; work sundown; to rest dig well and drink of the water dig field; eat of the grain Imperial power is? and to us what is it? The fourth: the dimension of stillness. And the power over the wild beasts. Sonnenaufgang; ans Werk gehen Sonnenrüste: zur Ruh gehn Brunnen graben: Wasser trinken

302 Kangxi, der zweite Kaiser der Qing-Dynastie, besuchte die »hill lakes« zwischen 1689 und 1707 mehrmals (vgl. Qian: The Modernist Response to Chinese Art, S. 251), jedoch nicht in der Xiao Xiang-Region, sondern bei Suzhou und Hangzhou (vgl. Jonathan D. Spence: Ts’ao Yin and the K’ang-hsi Emperor, New Haven: Yale Univ. Press 1966, S. 124–134). 303 Pound: Cantos, S. 378–379. 304 Vgl. Qian: The Modernist Response to Chinese Art, S. 136; Kodama: American Poetry and Japanese Culture, S. 119, wobei Kodama auch spekulativ-religiöse Zusammenhänge in den Text Pounds hinein projiziert.

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Acker umgraben: Hirse essen Die Macht des Kaisers? Was soll uns die? Als Viertes: die Dimension der Stille. Und die Macht über reißende Tiere.305

Der Schlusspassage vorgestellt ist die Transliteration eines chinesischen Gedichts in japanischer On-Lesung: KEI KIU JITSU TAN

MEN MAN GETSU FUKU

RAN MAN KO TAN

KEI KEI KWA KAI306

Die matrizenhafte Anordnung der Buchstaben gibt das chinesische Gedicht in seiner Lautung wieder, ohne es für einen westlichen Leser dadurch verständlicher zu machen. Die Buchstaben sind hier lediglich Platzhalter für die Ideogramme, die nicht in Erscheinung treten; beide bewegen sich aber aufeinander zu und treffen im Klang aufeinander. Die Ideogramme sind im Canto 49 zwar noch unsichtbar; sie beginnen aber schon, ihre Resonanz zu entfalten, zum einen im Klang, der sich in der Transliteration offenbart, zum anderen in den Bezügen zur Ästhetik des Unscheinbar-Blassen und zum Dunkel-Tiefsinnigen (yu¯gen), das Pound wahrscheinlich über die Illustrationen der Gedichte durch den unbekannten japanischen Künstler vermittelt worden ist.

Die ideogrammatische Methode in den späteren Cantos Wenn in den späteren Cantos (ab Canto 52) immer mehr chinesische Schriftzeichen auftauchen, dann lässt sich mit dieser Zunahme ein Übergang von der allgemeinen zur speziellen ideogrammatischen Methode konstatieren, die durch die vordergründige Präsenz chinesischer Schriftzeichen gekennzeichnet ist. So heißt es im Canto 98 zum Beispiel, dass Gefühle »die natürliche Farbe«307 hätten, gemeint ist hier grün, was sich durch die Homonymie das Zeichens für ›Gefühl‹ 情 (ch’ing, pinyin: qing) mit dem für den Farbton ›grün/blau‹ bzw. ›zyan‹ 氰 (qing) erklären ließe. Und wenn im Canto 99 vom »learned Redson« bzw. in der 305 Pound: Cantos, S. 380–381. 306 Ebd., S. 378; horizontal zu lesen von links nach rechts. Die Quelle dafür waren Fenollosas Notizbücher (Notebook, File 11); vgl. Fenollosa: The Chinese Written Character, S. 197 (mit der Korrektur des letzten Wortes, das richtig »KEI« heißen muss). Die englische Übersetzung dieses Gedichts lautet: »How bright and colorful the auspicious clouds, / Hanging gracefully; / Let sun and moon be thus resplendent / Morn after morn.« (Vgl. dazu Kodama: American Poetry and Japanese Culture, S. 228 und Kenner: More on the Seven Lakes Canto, S. 45–46.) 307 Pound: Cantos, S. 1033.

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deutschen Übersetzung vom »weisen Rotsohn« die Rede ist,308 dann geht auch dieser Name auf ein ideogrammatisches Wortspiel zurück. Denn mit dem bei Pound erwähnten Chu Hsi ist der neokonfuzianistische Song-Kommentator 朱 熹 (Zhu Xi, 1130–1200) gemeint (siehe Kapitel 5), dessen Familienname auf den ersten Teil des gleichklingenden 朱沙 (zhusha) für ›zinnober‹ verweist und damit auf die Farbe ›rot‹. Dem Namen Zhu hat Pound außerdem noch die Ehrenbezeichnung 子 (zi, dt. sowohl ›Meister‹ wie auch ›Sohn‹) beigegeben, wie sie u. a. bei Laozi zu finden ist, woraus sich dann »Rotsohn« ergibt. Diese Wortspiele sind allerdings nur durch die Kenntnis und das Verständnis der Ideogramme nachvollziehbar: »[A]s Ford said: get a dictionary and learn the meaning of words«.309 Das trifft dann in ganz besonderem Maße auf die äußerst komplexen Zeichen zu, wie jenem »Zauberwort«310 aus dem Canto 57: another Lord seeking elixir seeking the transmutation of metals seeking a word to make change 變 HOAI of SUNG was nearly ruined by taozers HIEN of TANG died seeking elexir and in ’97 they made a law code […] 311

Es fehlt lediglich der leichtgläubige Vou-ti (Wudi), insgesamt betrachtet aber werden hier die bereits von Unzer (über das Unsterblichkeit verheißende Lebenselexir) und Kircher (über die Kombination mehrteiliger Zeichenelemente, wobei dasselbe Schriftzeichen Verwendung findet) aufgegriffenen Themen und Motive miteinander verflochten. Wie Hans Hiebel in seinem Spektrum der modernen Poesie gezeigt hat, reiht Pound in den Cantos »gewissermaßen image an image, dabei bilden sich auch häufig wiederkehrende Chiffren (als Leitmotive und Kernsätze) aus: Oytis – Elpenor – periplus – T’aischan (Bild für die Berge nordöstlich von Pisa, benannt nach dem Heiligen Berg Chinas) – Possum (T.S. Eliot) – usura (Utilitarismus, Profitdenken) – Hooo Fasa! – die Stadt Ecbatan (die Stadt, die Deioces erbaute) usw.«312 Diese images begreife der Dichter gewissermaßen als Ideogramme, 308 Ebd., S. 1042–1043. 309 Ebd., S. 1042. Gemeint ist Ford Madox Ford (1873–1939), der sich um 1912 den Imagisten anschloss. 310 Nur in der deutschen Übersetzung, ebd., S. 485; zu diesem Schriftzeichen s. Kircher: China illustrata, S. 235. 311 Ebd., S. 484. 312 Hans Hiebel: Spektrum der modernen Poesie. Interpretation deutschsprachiger Lyrik (1900–2000) im internationalen Kontext der Moderne. Teil II (1945–2000), Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 72.

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wobei ihre sinnstiftende Wiederholung entscheidend sei, da sie dann wie Leitmotive wirken könnten, womit Pound in den Cantos seine ideogrammatische Methode immer weiter zu vervollkommnen gesucht habe. Walther L. Fischer hat in einem Aufsatz, in dem er Passagen aus Pounds Cantos auf der Grundlage der kybernetischen Informationstheorie mit Blick auf ihre ästhetische Anwendung untersucht, darauf hingewiesen, dass der wesentliche Effekt der »ideogrammatischen Arbeitsweise« Pounds gerade darin bestehe, dass die unterschiedlichsten Bilder (›images‹) durch Zusammenstellung sich in ihren »Sinnschwingungen« überlagern.313 Dabei bezieht sich Fischer auf die Komposition zweier bzw. mehrerer chinesischer Schriftzeichen, die in ihrer symbolischen Zusammensetzung nicht etwa eine Summe der Einzelbedeutungen liefere, sondern einen neuen Sinngehalt konstituiere (›Sonne‹ und ›Mond‹ ergibt ›Klarheit, Helle‹; ›Baum‹ und ›Sonne‹ ergibt ›Osten‹ usw.). Solche Bilder seien dann im Text zu wiederkehrenden Sinnzellen verdichtet worden. In Pounds Methode lässt sich nach Fischer eine Überschneidung zweier, auf den ersten Blick zunächst gegensätzlicher Verfahren erkennen, und zwar die einer »adjungierenden« und die einer »separierenden Schreibweise«. Während die eine die images durch Wiederholung addiere und so vom Element zum Text führe, gelange die andere durch »methodische Zerlegung«, d. h. »durch Subtraktion und Kondensierung vom Text zum Element«.314 Isolierung und Verdichtung führen also zu kleinsten ästhetischen bzw. semantischen Zellen, zu Kernsätzen, die wie Kraftzentren wirken. Die images seien dabei, wie Hiebel in Anschluss an Fischer ausführt, »trotz ihrer Komplexität und Sinnfülle in sich selbst schon reduziert, simplifiziert (und darin verdichtet)«: »[N]ur Wesentliches und Prototypisches ist in den reduzierten und isolierten Elementen enthalten, die wohlüberlegt aus dem dargestellten Sachzusammenhang ausgewählt werden und ins Bild, ins Ideogramm, eingehen […].«315 Zur genaueren Analyse der Wirkung dieser ideogrammatischen Arbeitsweise bieten sich die von Fischer besprochenen Cantos 74 und 77 an, denn in beiden werden griechische Ausdrücke mit chinesischen Ideogrammen kombiniert. Wichtig für das Verständnis dieser Cantos ist ihr historisch-biographischer Kontext: Pound befand sich damals in einem Straflager der amerikanischen

313 Walther L. Fischer: »Ezra Pound in der Sicht der modernen Texttheorie I«, in: Sprache im technischen Zeitalter 16 (1965), S. 1336–1350, hier S. 1340. 314 Fischer: Ezra Pound in der Sicht der modernen Texttheorie I, S. 1339; vgl. auch Walther L. Fischer: »Ezra Pound in der Sicht der modernen Texttheorie II«, in: Sprache im technischen Zeitalter 19 (1966), S. 224–233; und ders.: »Zur ideogrammatischen Schreibweise Pounds«, in: Text + Kritik 10/11 (1965), S. 51–65. 315 Hiebel: Spektrum der modernen Poesie, S. 81.

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Armee bei Pisa; er spricht gleichsam im »Halbmasken-Abstand« mit der Stimme des Odysseus:316 OΥTIΣ, OYTIΣ ? Odysseus mein Familien-Name.317

Wenig später wird dann das Griechische wieder aufgenommen: OΥTIΣ, OYTIΣ »Ich bin Niemand, mein Name ist Niemand.«318

Diese Worte rufen jenen Augenblick in Homers Odyssee in Erinnerung, in dem der listige Odysseus dem Polyphemos auf dessen Frage, wer er denn sei, die Antwort gibt: »Niemand ist mein Name«, und als er dem Zyklopen schließlich das Auge aussticht, wehklagt jener: »Niemand hat mir das Auge ausgestochen.« Sowohl die Umgebung des Straflagers (»Pisa, im 23sten Jahr des Bemühns«) als auch die mythische Referenz (»plus Kolchis plus Mythologie«) 319 werden in den Cantos wieder aufgegriffen, wenn Odysseus’ OΥTIΣ zu einem Ideogramm verdichtet wird: 莫 mit der Lesung mo, was soviel bedeutet wie ›niemand‹ oder ›keiner‹. In diesem Ideogramm kristallisiert sich das gesamte Geschehen, während mit dem Satz »ein Mann, für den die Sonne niederging«,320 eine Verwandlung von Pound-Odysseus angedeutet wird, der sich nun »mit Odysseus Gefährten Elpenor«321 identifiziert. Mit dieser Verwandlung verändert sich auch die Szene: Odysseus ist jetzt in den Fängen der Kirke (Canto 77). Dort heißt es dann: »Mund, ist die Sonne, die Gottes Mund ist, oder in anderer Sicht«, und es folgt das Ideogramm für ›Mund‹ 口 (kou), ergänzt durch »(periplum)«.322 (Mit dem Wort »periplus« endet dann auch das Canto 82.) Das Erscheinen dieses Ideogramms deutet Fischer aus dessen Ähnlichkeit mit dem Schriftzeichen für ›sprechen‹, das die Rundung des geöffneten Mundes mit der Zunge darstellt, und mit dem Schriftzeichen für ›Sonne‹, was Pound womöglich zum Satz »die Sonne, die Gottes Mund ist« geführt haben mag.323 316 Diese Autoreferenz findet sich im Canto 81: Pound: Cantos. In der Übers. von Eva Hesse, S. 813, im Original ist die Rede von »the unmasked eyes in half-mask’s space« (ebd, S. 812; vgl. auch The Cantos of Ezra Pound, New York: New Directions 1970, S. 540; London: Faber & Faber 1975, S. 520). 317 Pound: Cantos, S. 671. 318 Ebd., S. 673. 319 Ebd., S. 677. 320 Ebd. 321 Fischer: Ezra Pound in der Sicht der modernen Texttheorie I, S. 1341. 322 Pound: Cantos, S. 731. Im Original lautet der Satz: »mouth, is the sun that is god’s mouth / or in another connection…« (ebd., S. 730). 323 Im Appendix zu Fenollosas Text wird eine Erklärung des Ideogramms 言 als Kombination von Mund und Zunge gegeben; vgl. Fenollosa: The Chinese Written Character, S. 68–69 (plate 3) und S. 70–71 (plate 4). Fazzioli hingegen meint, dass die westliche Logik, wonach

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Das Ideogramm 口 (kou) ist für Pound gleichsam der »Inbegriff des großen Periplus, der großen ›Umschiffung‹ des Odysseus und seiner eigenen Irrfahrt«.324 Folgt man Fischers Argumentation, dann verdeutlicht die Häufigkeit, mit der dieser Ausdruck in den Cantos wiederkehrt, den Versuch Pounds, »die Landkarte nachzuzeichnen, nicht aus der Vogelschau, sondern so, wie sich das Land vom Schiff aus gesehen, ausnimmt«.325 Im Canto 74 spielt aber noch ein anderes Ideogramm eine wichtige Rolle. Es heißt dort: im Licht des Lichtes ist die virtù »sunt lumina« sprach Erigena Scotus 顯326

In der früheren Version findet sich noch ein anderes Schriftzeichen, nämlich 明 (ming), das allerdings dieselbe Bedeutung (›klar‹) besitzt wie das komplexere Zeichen 顯 (xian). Dass dieses Ideogramm im Zusammenhang mit dem Lichtmotiv bei Erigena Scotus327 zitiert wird, zeigt, wie eng die Phanopoeia bei Pound mit der Logopoeia verbunden ist. Die Anspielung auf jenes »omnia quae sunt, lumina sunt« entfaltet ein Beziehungsgeflecht, das mit seiner intellektuellen Resonanz einerseits bis zu theologischen Vorstellungen des 9. Jahrhunderts zurückreicht und andererseits auf den Symbolismus verweist: Heiter in dem Kristallstrahl wie der lichte Ball, den der Springbrunnen federt (Verlaine) wie diamantne Klarheit So weich wie der Windhauch unter T’aischan328 Serenely in the crystal jet as the bright ball that the fountain tosses

324 325 326 327 328

sich beim Sprechen die Zunge im Mund bewege, nicht für Chinesen gelte: »Das Piktogramm besteht aus zwei anderen, eindeutigen Teilen: aus dem ›Mund‹, dem ein ›Fehler‹ entweicht. Dies spiegelt eine alte Weisheit wider, die besagt: ›Unter einer Vielzahl von Worten sind auch ein paar falsche.‹« (Fazzioli: Gemalte Wörter, S. 71) Im Verlauf seiner Erklärung rekurriert er außerdem auf die chinesische Auffassung, dass einer poetischen Vorstellung »die Worte wie Wellen dem Herzen« entsteigen würden. Beides ließe sich ohne Einschränkung auf Pounds Vorgehensweise übertragen. Fischer: Ezra Pound in der Sicht der modernen Texttheorie I, S. 1342. Ebd., S. 1342. Pound: Cantos, S. 675. Johannes Scotus Eri[u]gena war ein Gelehrter irischer Herkunft, der im 9. Jahrhundert im westfränkischen Reich u. a. am Hof Karls II. als Lehrer der Freien Künste tätig war. Pound: Cantos, S. 705. Anzumerken ist, dass das »wie« in dieser Übersetzung dem oben formulierten Imagismus-Gedanken widerspricht und sich auch nicht im Original Pounds findet.

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(Verlaine) as diamond clearness How soft the wind under Taishan[.] 329

Für beide ›Bildstenogramme‹ 明 und 莫 gilt, dass die Logopoeia bei Pound »letztlich nur über seine Phanopoeia deutbar«330 wird, nämlich dadurch, dass die ideogrammatische Verdichtung beim Leser eine logopoetische Sinnschwingung in Gang setzt. Eine weitere Funktion der Ideogramme besteht darin, semantische Spannungen aufzubauen. Im Canto 77 ist das Ideogramm für ›Sonnenaufgang‹ 旦 zu finden,331 das an dieser Stelle als Reaktion auf den Satz »ein Mann [,] für den die Sonne niederging (a man on whom the sun has gone down)« aus dem Canto 74 gelesen werden kann. Die Resonanz dieses Ideogramms klingt noch im Canto 79 in den Worten von Odysseus’ Gefährten nach: Wir sind hier, wir erwarten den Sonnenaufgang und den nächsten Sonnenaufgang drei Nächte lang unter Luchsen […] 332 We are here waiting the sun-rise and the next sunrise for three nights amid lynxes […] 333

Ein solches Vorgehen entspricht durchaus der von Fischer postulierten separierenden Schreibweise. Ihr Ziel besteht darin, in den lesbaren Text einen nichtdiskursiven, ideogrammatischen Gegendiskurs einzuschleusen, der im Verlauf der 109 Cantos immer dichter wird, bis am Schluss kaum noch eine Lesbarkeit vorhanden ist. Betrachtet man die Idee und die Methode der Ideogramme als Ganzes, dann lässt sich feststellen, dass Pound in den Cantos stufenweise eine Unlesbarmachung realisiert. Er überträgt gewissermaßen das Konzept unlesbarer bzw. unleserlicher Schriftzeichen auf die poetische Form. Das wird vor allem an den Stellen deutlich, an denen Pound die ideogrammatische Methode, die phanopoeia und die Mosaiksteine verschiedenster Elemente moderner Kultur – die Cantos sind ja überhäuft mit Bezügen zur Politik, Ökonomie und Geschichte, und dazu aufgefüllt mit Kommentaren, Fragmenten und Monologen aus klassischen Texten – zusammenlaufen lässt. Was dabei herauskommt, beschreibt 329 Ebd., S. 704 (vgl. The Cantos of Ezra Pound, New York: New Directions 1970, S. 468; London: Faber & Faber 1975, S. 449). 330 Fischer: Ezra Pound in der Sicht der modernen Texttheorie II, S. 225 (Hervorhebung im Original). 331 Fenollosa: The Chinese Written Character, S. 66–67. 332 Pound: Cantos, S. 769. 333 Ebd., S. 768 (vgl. The Cantos of Ezra Pound, New York: New Directions 1970, S. 511; London: Faber & Faber 1975, S. 491).

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Hugh Kenner als ein im höchsten Maße verdichtetes Konglomerat: als »studied juxtaposition of such revelations, presenting through the convention […] of a plotless epic detailed, graspable ideograms of entire cultures, motivations, and sensibilities«.334 Schon in den ersten Cantos schränken schnelle Bildfolgen das Verständnis der Verse ein. Ein einzelnes chinesisches Schriftzeichen findet sich bereits im Canto 34 (1934), doch erst in »The Fifth Decade of Cantos XLII–LII« (1937) fangen die Ideogramme an, eine entscheidende Rolle zu spielen. Gleich im ersten Canto der »fünften Dekade« erscheint ein Piktogramm (allerdings noch nicht chinesisch), im Canto 49 dann das erste Gedicht in Umschrift, das wie eine Wort-Matrix wirkt (es handelt sich allerdings um eine sino-japanische Umschrift) und am Ende des 51. Cantos findet man schließlich das erste Ideogramm dieser Dekade. Danach nimmt die Zahl der chinesischen Schriftzeichen immer mehr zu (vgl. Canto 55 und 56). Für Canto 77 gibt Pound eine Zeichenerklärung für 19 Ideogramme, die sich über eine ganze Seite erstreckt. Im Canto 85 wird dem Leser dann kaum noch eine Möglichkeit zum Verständnis gelassen. Zwar gibt es viele Rückverweise zu bereits verwendeten Ideogrammen, doch findet der verwirrte Rezipient bald mehr von ihnen als englische Wörter auf einer Buchseite.335 Was mit griechischen Buchstaben begonnen hatte, die noch unschwer zu entziffern waren, endet schließlich mit der Unlesbarmachung des Textes durch chinesische Ideogramme. Die Buchseite wird übersät mit chinesischen Bildzeichen, deren Aussprache mittels der Wade-Giles-Umschrift (zum Teil auch mit Tonkennzeichnung) zwar möglich gemacht wird, doch trägt dies weder zu ihrem Verständnis bei, noch wird die Lesbarkeit des Textes dadurch erleichtert. Die chinesischen Ideogramme wirken in den Cantos wie Fremdkörper oder Furchen, die permanent das Verständnis durchziehen, um es schließlich ganz auseinanderzureißen. Zwar finden sich immer wieder Anhaltspunkte, die dazu geeignet scheinen, den fast unscheinbaren Schwingungen des Sinns Hilfestellung zu leisten, um dem Gesagten besser folgen zu können, dennoch türmen sich in Wahrheit für den Leser immer mehr Schwierigkeiten auf, denn selbst dann, wenn die Ideogramme sich einer Übersetzung nicht mehr entziehen, werden sie dadurch bestenfalls nur bedingt lesbar, und das betrifft in erster Linie ihre umfangreiche signifikative und ästhetische Resonanz. Walther Fischer merkt in seiner Untersuchung an, dass die Aufladung der Cantos mit Sinn so groß sei, »daß sich dem Leser die späteren ›Cantos‹ nur aus 334 Kenner: The Poetry of Ezra Pound, S. 186. 335 The Cantos of Ezra Pound, New York: New Directions 1970, S. 574; London: Faber & Faber 1975, S. 554. Es sind genau 11 Ideogramme, 11 chinesische Umschriften, 11 englische Wörter, ein griechischer Eigenname, nämlich Odysseus, schließlich die Zahlen 10, 12, XIII, 9. In der zweisprachigen Neuausgabe ist das Layout verändert, vgl. Pound: Cantos, Zürich: Arche 2012, S. 856–858.

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der Kenntnis der frühen Gedichte und der vorausgehenden ›Cantos‹ erschließen« würden, d. h. nur »durch Redundanzen«.336 Man müsste hier wohl von hermeneutischer Redundanz sprechen, denn die Motive, Themen, Anspielungen, Zitate und Eigenzitate »wiederholen sich in einem solchen Ausmaß, daß gerade die letzten ›Cantos‹ bei aller Schönheit – auch im Klanglichen – streckenweise wie Montagen bekannter Textstellen erscheinen«,337 woraus sich aber die Gefahr ergebe, »durch formelhafte Wiederholungen, durch Redundanzen, die Originalität zu vermindern«, mit anderen Worten: »dem logischen Prinzip den Vorrang gegenüber dem poetischen einzuräumen«.338 Dem entziehe sich Pound jedoch mit Hilfe eines Tricks. Die Lösung, die er anbietet, besteht darin, seine »Formeln« oder »Molekularsätze« zu immer neuen Mosaiken zu kombinieren, wodurch er »Innovation durch neue Kraftfelder, durch neue semantische Umgebungen schafft«.339 Vor allem in seinem Folgeessay, in dem er versucht, den Kategorien Kontext und Code mittels einer »mathematisierten Texttheorie« neue Möglichkeiten zu erschließen, macht Fischer deutlich, inwiefern Pounds Verfahrensweise resonanzästhetische Züge trägt. Das Ineinander von Bildhaftigkeit und Logik in Pounds Dichtung, heißt es bei Fischer, führe »zu einer Überlagerung von Sinnschwingungen« der einzelnen ideogrammatischen Komponenten: »Die Ausnutzung der Vielschichtigkeit der Sprache, ihrer (klanglichen) bildhaften und logischen Plastizität weckt eine Fülle von Assoziationen. Der Text wird dadurch eingebettet in einen semantischen Umraum, der mit- und anklingen muß, wenn der Text ›verstanden‹ werden soll.«340 Pound hat sich nicht dazu entschließen können, seinen Dichtungen Erklärungen beizufügen, denn seiner Ansicht nach würde eine solche Vorgabe den Leser um seinen Anteil, d. h. »um den Teil der schöpferischen Arbeit am Werk«341 betrügen: »Ich möchte, wenn möglich, eure Sinne schärfen, wonach man euren Geschmack sich selbst überlassen kann. ›Erläuterungen‹: zum Teufel damit. ›Erhellung‹: mag gelten, wenn es bedeutet, ›einen Scheinwerfer auf etwas zu richten‹.«342

336 337 338 339 340 341 342

Fischer: Ezra Pound in der Sicht der modernen Texttheorie I, S. 1344. Ebd. Ebd. Ebd. Fischer: Ezra Pound in der Sicht der modernen Texttheorie II, S. 227. Ebd., S. 228. Ezra Pound: »Prefatio Aut Cimicium Tumulus«, in: ders.: Über Zeitgenossen, Zürich: Arche 1959, S. 119. »Damn your taste, I would like if possible to sharpen your perceptions, after which your taste can take care of it. ›Commentation‹ be damned. ›Elucidation‹ can stand if it means ›turn a searchlight on‹ something or preferably some work or author lying in shadow« (Pound: Polite essays, S. 136).

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Transkulturelle Resonanzen

Die ideogrammatische Methode ließe sich in eine Poetik der Sinnresonanz einbeziehen, die den Leser gewissermaßen als Resonanzkörper begreift. In der abendländischen Bilderschrifttradition steht Pound am (von mir willkürlich gesetzten) Ende einer jahrhundertelangen Auseinandersetzung mit unlesbaren bzw. unleserlichen Zeichen, die weitgehend durch Vorurteile, Fehldeutungen und Missverständnisse, aber auch von produktiven Austauschprozessen geprägt wurde – oder, um mit Paul de Man zu sprechen, von »Blindheit und Einsicht« gekennzeichnet ist. Die Lesbarmachung der fremden chinesischen Zeichen basiert bei Pound weder auf deren Entzifferung noch auf deren Interpretation, sondern vielmehr auf der Erkenntnis und Ausnutzung ihrer ästhetischen Resonanz, wobei er immer wieder ihre Unlesbarkeit in der Lesbarkeit hervortreten lässt. Und eben genau das ist es, was den Resonanzraum von Pounds Dichtung ausmacht: ein Schlaglicht auf das zu werfen, was uns unlesbar bleibt und doch gleichzeitig Sinnhaftes in uns evoziert.

15.

Die Ästhetik der Resonanz »Aber auf dem Altar der kulturellen Resonanz wurde das visuelle Staunen über das ästhetische Meisterwerk geopfert.« (Stephen Greenblatt) 343

Die Lesbarmachung unleserlich-unlesbarer Zeichen bei Xu Bing Auch wenn es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, sind dies (Abb. 53) dennoch keine chinesischen Schriftzeichen. Sie sind lesbar, sobald man ihre Bestandteile als das, was sie sind, nämlich als lateinische Buchstaben erkannt hat. Dazu gilt es, die eigenen Sehgewohnheiten umzustellen und das rechteckige Arrangement zu berücksichtigen, und dann ergibt jedes der beiden quadratisch angeordneten Zeichenensembles ein Wort. Rechts unten findet man, wie in der chinesischen Kalligraphie und Malerei üblich, den Namen und Namensstempel des Künstlers. Als Xu Bing 1991 in die USA emigrierte, spielte sich die Begegnung zwischen China und dem Westen für ihn von nun an nur noch in der englischen Sprache ab. Wenn man also auf die Idee verfällt, in dem Zeichenarrangement nach englischsprachigen Wörtern zu suchen, dann wird man es sehr bald entziffern können. Jeder, der in der westlichen Tradition des Lesens und Schreibens aufgewachsen ist, wird – wie selbstverständlich und ohne zu zögern – seine Lese343 Greenblatt: Resonanz und Staunen, S. 27.

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versuche oben links beginnen, was jedoch keinesfalls selbstverständlich wäre, wenn man es beispielsweise mit chinesischen Schriftzeichen zu tun hätte. Mit einiger Phantasie lässt sich der Buchstabe S erkennen, der zusammen mit den darauffolgenden das Wort »Square« ergibt. Darunter findet man dann vier weitere Buchstaben, die sich zum Begriff »Word« zusammensetzen lassen. Das Ergebnis der kombinierten Buchstabenquadrate wäre dann »Square Word«, geschrieben in einer Imitation chinesischer Kalligraphie. Das Programm von Square Word Calligraphy läuft darauf hinaus, dass Xu Bing Buchstaben, die wie chinesische Schriftzeichen aussehen, auf einer quadratischen Grundfläche derart anordnet, dass die so zustande gebrachten Zeichenarrangements jeweils ein Wort in englischer Sprache ergeben. Einige dieser Zeichen wie 山 und 口 entsprechen ganz und gar ihren chinesischen Vorbildern. Erst das Wissen, dass wir nach lateinischen Buchstaben zu suchen haben, lässt uns in ihnen nach einigem Rätselraten ein W und ein O erkennen. Bestimmte Buchstaben wie z. B. das große A ähneln andererseits durchaus chinesischen Zeichen, wie in diesem Fall dem 人 (ren) mit der Bedeutung ›Mensch‹, nur dass jetzt diesem Zeichen ein Querstrich hinzugefügt wurde, sodass es seinen ursprünglichen Charakter verliert und als A lesbar wird. Darüber hinaus sind auch Radikale zu finden, die im Chinesischen als alleinstehende Zeichen nicht vorkommen, wie z. B. das Wurzelzeichen 阝 als Buchstabe B. Das Verfahren der Square Word Calligraphy ermöglicht es, auch längere Texte umzusetzen, die vertikal zu lesen sind (Abb. 54).

Abb. 53: Xu Bing, Square Word Calligraphy, 1994.

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Abb. 54: »Little Bo Peep« als Square Word Calligraphy.

Der Resonanzraum der Square Word Calligraphy Die Square Word Calligraphy eröffnet ein In-Between, in dem sich kulturell auf verschiedene Weise geprägte Blicke gegenseitig kreuzen, Gewohnheiten und Wahrnehmungsschemata auf die Probe gestellt und verunsichert werden, und wo aufgrund einer doppelten Verfremdung die Reflexion auf die Bedingtheit der jeweils eigenen Wahrnehmungsweise gelenkt wird. Die bisher gewohnte Sehweise wird außer Kraft gesetzt, was Irritationen auslöst, und man fühlt sich förmlich dazu gezwungen, nach anderen Möglichkeiten der Betrachtung und Entzifferung zu suchen. Dass die gewohnten Wahrnehmungsraster einschließlich der Entzifferungs- und Lesetechniken in diesem Zwischenbereich nicht mehr funktionieren, muss also kein Manko bedeuten, sondern kann durchaus ein Mehrwert sein. Man sieht sich dazu veranlasst, seinen Blick für das Andere zu öffnen, bislang nicht Berücksichtigtes in die Betrachtung zu integrieren, einen neuen Standpunkt zu beziehen und neue Wahrnehmungsweisen zu erproben. In diesem In-

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Between, wo es zu Überkreuzungen, Aussetzern, Fehlschlägen, erneuten Versuchen, Modifizierungen und Verschiebungen kommt, wird offenbar ein komplexer Prozess in Gang gesetzt, der ein Hinterfragen derjenigen Barrieren, welche die eigene Wahrnehmung begrenzen, sowie eine Revision desjenigen Standpunktes einschließt, den man aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schriftkultur automatisch einnimmt; ein Prozess, der schließlich zur Einsicht führt, dass die selbst implizierte Ordnung, mit der ein Beschauer die Welt betrachtet und die er den Zeichen schon auf den ersten Blick hin aufgrund seiner kulturellen Prägung unterstellt, eben nicht die einzig mögliche ist und auch keineswegs immer eine Lösung bereit hält. Eine solche Charakterisierung wiederum lässt diesen Zwischenbereich der Überkreuzung, Infragestellung und Verschiebung als einen genuin transkulturellen Raum erscheinen. Bemerkenswert ist in diesem Fall, wie beide Seiten gleichermaßen dazu angeregt werden, ihren ursprünglichen Standpunkt zu reflektieren und zu modifizieren. Für die Einen sind Xu Bings Schriftzeichen verfremdete Buchstaben, die auf eine besondere Weise zu Blöcken geordnet werden, aber – wenngleich unter gewissen Schwierigkeiten und wider Erwarten – dennoch lesbar sind; für die Anderen bilden sie das verwirrende Simulakrum ihrer eigenen und damit bekannter Schriftzeichen, die nur über den Umweg eines anderen Zeichencodes (des Codes nicht nur einer anderen Sprache, sondern zugleich eines anderen Schriftsystems) lesbar werden, nämlich als lateinische Buchstaben, die in ihrer quadratischen Anordnung, richtig kombiniert, einzelne bekannte Wörter formen. Einem Betrachter aus dem westlichen Kulturkreis erscheinen diese Zeichen, obwohl sie ihm sämtlich vertraut sein müssten, aufgrund ihrer Schreibweise und Anordnung zunächst fremd, da sie auf den ersten Blick wie chinesische Schriftzeichen aussehen; einige gleichen den chinesischen Zeichen tatsächlich voll und ganz. Darüber hinaus sind sie sehr ungewöhnlich arrangiert: Sie zwängen sich in ein Quadrat, wodurch sie eine innere Balance erhalten und eine Ausgewogenheit suggerieren. Dadurch erwecken sie den Eindruck einer kunstvollen, aber fremden Zeichenkomposition, die sich nicht lesen und zunächst einmal auch keine Lesbarkeit erwarten lässt. Auf viele Chinesen hingegen wirken die Schriftzeichen wie archaische oder kalligraphisch verfremdete Zeichen, denen man automatisch eine Lesbarkeit unterstellt, obwohl man sie nicht verifizieren kann. Die Auflösung dieser Rätselschrift wird dann aber einen Chinesen ebenso erstaunen wie einen Betrachter aus einem anderen Kulturkreis. Beide werden durch dieses Spiel von Gestaltung, Arrangement, Blickrichtung, Leseverlauf und Codierung dazu gebracht, ihre überkommene bzw. eingeübte Wahrnehmung von Schriftzeichen und die dadurch vorgegebenen Lesegewohnheiten zu reflektieren und zu hinterfragen. Wichtig in diesem Kontext ist vor allem die Erkenntnis, dass man nur dann in der Lage sein wird, die Buch-

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staben=Zeichen zu entziffern, wenn man sich auf eine alternative Sichtweise einlässt, d. h. wenn man den Schriftbildern entweder die Gestalt von Zeichen einer jeweils fremden Schriftsprache zubilligt oder aber, von einer ganz neuen Perspektive aus betrachtet, ihnen den Code einer anderen Sprache unterstellt. Gerade dieser Zwang, die Position des Anderen einzunehmen, wenngleich er auch nur vorübergehend ausgeübt wird, lässt die Präkodierung des Blicks als eine bislang unreflektierte, nun aber deutlich empfundene Beschränkung spürbar werden. Xu Bing hat mit der Square Word Calligraphy nicht nur eine Ausdrucksform gefunden, ein transkulturelles In-Between in der Überkreuzung bereits vorkodierter Blicke und Zeichenpraktiken sichtbar zu machen;344 es gelingt ihm darüber hinaus auch zu veranschaulichen, wie in diesem Zwischenbereich zugleich ein neuer Diskurs ins Leben gerufen wird. Vom westlichen Standpunkt aus gesehen, entspinnt sich unter dem Anschein unlesbarer Ideogramme, die zunächst als nicht-signifikative Zeichenfigurationen erscheinen und entsprechend als kunstvolle Ornamente einer unleserlich-unlesbaren Schrift wahrgenommen werden, ein lesbarer Diskurs. Auch wenn sich der Betrachter auf die Entzifferung der Zeichen konzentriert, geht deren ästhetischer Wert dabei nicht verloren. Es entsteht vielmehr eine Art Hybridschrift im doppelten Sinne: zum einen, weil sie aus Komponenten zweier grundsätzlich verschiedener Schriftsysteme besteht; zum anderen, weil den Zeichen, wenn man sie denn entziffert hat, nicht nur ein Sinn abgerungen, sondern zudem ein ästhetischer Mehrwert zugestanden wird, der ihnen auch nach ihrer Entzifferung weiterhin eigen bleibt. Diese Ästhetik drückt sich in erster Linie im Kalligraphischen aus, eben jenem Bereich, der in der chinesischen Kultur auf eine lange Tradition zurückblickt, der aber auch der europäischen Kultur durchaus nicht fremd war, denn seit dem frühen Mittelalter bis zum Spätbarock gab es eine Kalligraphie- oder Schreibmeisterkunst, und noch danach finden sich, wie z. B. im Jugendstil oder im Gefolge der Pressendrucke, immer wieder Ansätze, diese Tradition aufzugreifen und neu zu beleben. Auch die Square Word Calligraphy könnte aus westlicher Sicht als ein solcher Versuch betrachtet werden, was sich schon daran zeigt, dass Xu Bing in seinen Folgeprojekten (z. B. Square Word Calligraphy Classroom) das Erlernen der Hybridschrift nicht nur wie das Erlernen einer fremden Schrifttradition inszeniert, sondern gleichermaßen wie das von fast vergessenen Schreibtechniken der Vergangenheit (Abb. 55 und 56). Durch die Ästhetisierung der Schrift und die Evokation einer Geschichte, die eigentlich mit einer anderen Schriftkultur verbunden ist, werden unerwartete Resonanzeffekte erzeugt. Die Schriftzeichen wirken, um noch einmal Stephen 344 Vgl. dazu die Theorie vom dritten Ort bzw. intermediären Raum in Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London: Routledge 1994, S. 53ff.

Die Ästhetik der Resonanz

Abb. 55: Xu Bing, Square Word Calligraphy Classroom, 1994–1996.

Abb. 56: Xu Bing, Square Word Calligraphy Classroom, 1994–1996.

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Transkulturelle Resonanzen

Greenblatt zu zitieren, über ihre »formalen Grenzen hinaus in eine umfassendere Welt«345 und vermögen es, diejenigen Kulturkräfte heraufzubeschwören, denen sie ursprünglich entstammen. Im Fall der Square Word Calligraphy hat man es mit einer transkulturellen Resonanz zu tun, sofern mit den verfremdeten Buchstaben zugleich chinesische Schriftzeichen und die andere Geschichte der chinesischen Kalligraphie assoziiert werden.346 Diese Resonanz lässt sich aber nur erzeugen, weil die neu geschaffene Hybridschrift zu ihrer Entzifferung nicht nur bestimmte Wahrnehmungs- und Lesetechniken voraussetzt, sondern auch spezielle Schreibpraktiken, zu denen zunächst jene Utensilien gehören, die der modernen europäischen Schreibkultur fast ausnahmslos fremd sind: Pinsel, Tusche, Reibestein und saugfähiges, das Licht absorbierendes, leicht gelbstichiges Papier. Mit diesen Materialien verbunden ist eine besondere Art der Pinselhaltung, die einer Kultur- und Schriftgeschichte angehört, deren Zeichen der Legende nach ursprünglich Tierspuren nachgeahmt sind. Die Pinselhaltung wiederum ist mit einer aus westlicher Sicht recht ungewöhnlichen Sitzweise und Körperstellung verbunden (Abb. 57 und 58). Kalligraphie, sagt Xu Bing, ist etwas anderes als Schreiben: Sie ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern eine Tätigkeit, die künstlerischen Ausdruck mit geistiger Kraft verbindet. Vom ersten Strich bis zur Vollendung des Wortes geht es um unseren ganzen Körper. […] Durch diese Übung werden unser Geist, unser Körper und unsere Gedanken ein neues Reich betreten.347

Die Zeichenresonanz beschränkt sich hier also nicht auf die formalen Aspekte der Schrift und die Wahrnehmung von Zeichen, sondern wirkt bis in die Praktiken des Schreibens hinein.

345 Greenblatt: Resonanz und Staunen, S. 15. 346 Im Book from the Sky wird eine kulturhistorische Resonanz durch die exakte Anwendung der traditionellen Druck- und Buchbindetechniken erzeugt. Gleichzeitig unterbricht Xu Bing aber diese Resonanz, wenn er die kompliziert hergestellten Schriftzeichen im Raum des Bedeutungslosen stehen lässt, sie also ihrer kulturellen Bedeutung beraubt. Das wiederum erzeugt Staunen. Die Schriftzeichen vermitteln durch ihre Unlesbarkeit ein »markantes Gefühl von Einzigartigkeit« und provozieren im Betrachter eine »Ergriffenheit« (Greenblatt: Resonanz und Staunen, S. 15). Bei der Square Word Calligraphy hingegen wird das Staunen durch die Resemantisierung der pseudo-chinesischen Schriftzeichen hervorgerufen. 347 Xu Bing: Introduction to Square Word Calligraphy (Selbstverlag), S. 1, zit. n. Britta Erickson: The Art of Xu Bing. Words without Meaning, Meaning without Words, Washington: Sackler Gallery/Seattle: Washington Univ. Press. 2001, S. 69.

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Abb. 57: Xu Bing, Square Word Calligraphy Classroom, 1994–1996.

Abb. 58: Xu Bing, An Introduction to Square Word Calligraphy, 1994–1996, Seite aus dem Lehrbuch. Links wird die richtige Haltung des Pinsels erklärt.

Neue Lesbarkeiten Für die literaturwissenschaftliche Forschung bedeutet eine transkulturelle Resonanzästhetik in erster Linie die Schaffung neuer Lesbarkeiten. Da die Resonanzwirkungen auch die Seh- und Lesegewohnten, die Wahrnehmungsschemata

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Transkulturelle Resonanzen

und Schreibpraktiken betreffen, ergeben sich neue Forschungsperspektiven und Untersuchungsfelder, vor allem in Hinblick auf die Klangresonanz und die schriftbildliche Ästhetik von Zeichen sowie deren Affektwirkung. Die Zeicheninstallationen von Xu Bing, angefangen beim Book from the Sky bis hin zur Square Word Calligraphy, machen diese Verbindungen augenscheinlich und haben diesbezüglich im Sinne Ezra Pounds eine erhellende Funktion auch für die Literaturwissenschaften, da sie die verschiedenen Aspekte der Zeichenresonanz ebenso scharfsichtig wie eindrucksvoll in Szene setzen. Eine Resonanzästhetik ist aber nicht nur auf solche Texte anwendbar, die plakativ mit den Klangeffekten und mit ideogrammatischen Leseweisen von Buchstaben und Zeichen verschiedener Schriftkulturen spielen, wie es in Texten von Yoko Tawada der Fall ist.348 Literaturwissenschaftlich weit interessanter ist es, wenn es sich um weniger demonstrative Zusammenhänge handelt und man auf unerwartete Resonanzen trifft, wie bei den Texten von Dauthendey und Kommerell. Die fernöstliche Ästhetik wirkt hier wie ein Resonanzfeld, in dem aus Sicht der westlichen Literaturwissenschaften ungewöhnliche Effekte erzeugt werden: befremdliche Binnenreime, die einerseits »aus Sinn und Sinnlichkeit des Satzes heraus[zu]fallen«349 scheinen, andererseits aber als ›Kissenwörter‹ fungieren; unleserliche Schriftzeichen, die sich auf der Wasseroberfläche spiegeln und plötzlich den plot umkehren; affektive Resonanzen, die eine ganze Landschaft mit einem Gefühl atmosphärisch einfärben. Ein anderes aufschlussreiches Beispiel ist die in den westlichen Literaturen geradezu enthusiastische Hinwendung zum Haiku. Man sollte sich als Literaturwissenschaftler inzwischen nicht nur fragen, welche Art von Erweiterung lyrischer Formen die deutschsprachige Dichtung dem Haiku verdankt (z. B. als Ausdrucksmittel einer dem modernen Leben und seiner ›Rapidität‹ angemessenen Poesie), sondern auch, wie sich mit ihm die Lesegewohnheiten moderner Lyrik und mehr noch die Wahrnehmung sprachlicher Zeichen überhaupt verändern (wie bei Pounds imagistischer Dichtung und dem »abbreviated picture writing«, die eine Ausschöpfung der visuellen Komponente der Sprache zum Ziel haben). Die Suche und das Bestreben nach einer neuen Lesbarkeit sind zugleich Flucht- und Zielpunkt sowohl der künstlerischen Zeicheninstallationen Xu Bings als auch der literarischen Sprachexperimente und Zeichendeutungen, wie sie u. a. bei Ezra Pound zu finden sind. Das gilt nicht nur für dessen ideogrammatische

348 Vgl. Yoko Tawada: Überseezungen, Tübingen: Konkursbuchverlag 2002 sowie dies.: Talisman, Tübingen: Konkursbuchverlag, 6. Aufl. 2008 (hier vor allem die Erzählung »Im Bauch des Gotthards«, S. 96–102). 349 Lissauer: »Neue Lyrikbücher«, in: Das literarische Echo 13 (1910/11), Sp. 1750.

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Methode, die er in den Cantos anwendet, sondern auch für seine Übersetzungen aus dem Chinesischen.

Diversität des Sinns Das Hervorbringen neuer Lesbarkeiten setzt jedoch eine Diversität, genauer gesagt, eine Wahrnehmung des Diversen und mit ihr eine Ästhetik des Diversen voraus. Wenn Yvan Goll Haikus in der Ich-Form schreibt oder Klabund in seinen Geisha-Liedern (1918) der Hauptfigur eine innere Stimme verleiht, indem er sie aus der Ich-Perspektive sprechen lässt,350 dann werden poetische Formen und ästhetische Wahrnehmungsweisen einer fremden Kultur in eigene Schemata übertragen. Die Diversität wird unter diesen Umständen mehr oder weniger ausgelöscht. Das ist im besonderen Maße bei Klabunds Ich-Perspektivierung der Fall, bei der die begehrliche und aus westlicher Sicht undurchschaubare Erscheinung der Geisha in die westliche Imagination des Exotisch-Erotischen eingeschlossen und gewissermaßen »reterritorialisiert«351 wird. Man müsste sich fragen, ob sich hier nicht auch anders wahrnehmen, anders auffassen ließe, was nach Deleuze/Guattari eine Deterritorialisierung ins Spiel brächte. Was würde sichtbar und erfahrbar werden, wenn man es vermeiden würde, diese aus westlicher Sicht anders funktionierende Individuationsform in den inneren Monolog eines Ichs einzubeziehen und das Fremdartige an ihm zu beseitigen? Diese Frage stellt sich vornehmlich in Bezug auf Lektürepraktiken und Interpretationsansätze, die aufzuzeigen versuchen, auf welche Weise in der deutschsprachigen Literatur gegen Ende des 18. bzw. zu Beginn des 20. Jahr350 Klabund: Die Geisha O-sen. Geisha-Lieder. Nach japanischen Motiven, München: Roland 1918. Die Geisha-Lieder provozierten umgehend einen Eklat mit den damaligen Fachexperten (darunter Fritz Loewenstein und Julius Kurth), allein schon deshalb, weil der Dichter den damals üblichen Fehler beging, die Geisha mit einem Teehausmädchen zu verwechseln bzw. beide gleichzusetzen, wie dies vorher schon in der seinerzeit gefeierten Operette Die Geisha von Owen Hall (1896) geschehen war. Mit der Geisha verband sich nicht nur in Deutschland immer wieder die Frage, ob sie, »eine hochstehende Kulturträgerin oder aber eine moralisch verworfene Prostituierte sei« – oder eben beides zugleich, »also eine sich vielleicht zuweilen auch prostituierende Kulturträgerin« (Thomas Pekar: Der Japan-Diskurs im westlichen Kulturkontext (1860–1920). Reiseberichte–Literatur–Kunst, München: Iudicium 2003, S. 288–289). Es war besonders die Undurchschaubarkeit und Ambivalenz dieser Frauenfigur, für die es kein Pendant in der westlichen Kultur gibt, sowie deren unaufdringlicher Charakter und ihre ›Kunst‹, »nicht aus einem Auftritt, sondern in der unauffällig ermutigenden Teilnahme an einem Fest« ihre Anziehungskraft zu gewinnen (Kunihiro Narumi: »Die elektrische Geisha«, in: Atsushi Ueda (Hg.): Die elektrische Geisha. Entdeckungsreisen in Japans Alltagkultur, Göttingen: Edition Pepperkorn 1995, S. 56–63, hier S. 56). 351 Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 703ff.

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hunderts Elemente der ostasiatischen Ästhetik aufgenommen wurden, um so eine Diversität an Sinn zu erzeugen und kulturbedingte Grenzen der Sinnproduktion zu verschieben. Der hier favorisierte Ansatz einer postsemiotischen Resonanzästhetik erweist sich vor allem deshalb als praktikabel, die Diversität des Sinns kenntlich zu machen, weil die Erfassung der Resonanzeffekte und die Analyse ihrer Wirkungen keinen bereits festgelegten Code (von Lesbarkeit) voraussetzen, wie es bei Textinterpretationen in der Regel der Fall ist. Die Untersuchung der Resonanz beschränkt die Deutung literarischer Texte gerade nicht auf die symbolische Funktion der Zeichen, sondern setzt sie in einem Bereich an, wo Wirkungen und Wirksamkeiten in Erscheinung treten, welche dann nach ganz unterschiedlichen Codes gedeutet werden können. Sie nimmt ganz unterschiedliche Dimensionen sprachlicher Zeichen zur Kenntnis: den Klang, die Schriftbildlichkeit, die Zeichenästhetik, aber auch Sinneffekte wie Andeutungen und Allusionen sowie Affektwirkungen und Resonanzen, die von ästhetischen Phänomenen ausgehen, die in der westlichen Ästhetik keine oder kaum eine Rolle spielen. Diversität an Sinn ist hier aber nicht ausschließlich quantitativ im Sinne einer signifikativen Streuung oder einer Vielschichtigkeit von Sinnebenen zu verstehen, sondern auch qualitativ in Hinblick auf die Abweichung von der tradierten bzw. institutionalisierten Sinngebung: Diversität als eine Seh- und Lesepraxis, als eine Strategie der Lesbarmachung, die sich im Anschluss an Segalen zum Ziel gesetzt hat, andere Sinneffekte zu produzieren, um letztlich anders wahrnehmen und anders auffassen zu können.

Allusive Resonanzen in der modernen deutschen Dichtung Die vorgelegten Textanalysen sind mit ihren Beispielen aus der späteren Frühmoderne (Goll, Ehrenstein) und schließlich mit Kommerells Gedichtband Mit gleichsam chinesischem Pinsel (1944) sowie im Exkurs zu Pounds Pisan Cantos (1948) bzw. dem Canto 85 (aus Section: Rock-Drill, publ. 1956) an ihr vorläufiges Ende gekommen. Andere mögliche Verbindungs- und Fluchtlinien, sofern sie thematisch und ästhetisch den Umkreis der deutschen Dichtung verlassen oder über ihn hinausreichen, wie z. B. die Linie Loerke-Eich-Krolow, sind dabei nicht übergangen oder vernachlässigt, sondern nur aufgeschoben worden. Bei Loerke zeichnet sich bereits eine Tendenz ab, die im Wesentlichen die Lyrik nach dem Zweiten Weltkrieg charakterisiert: Das Ich avanciert zu einer poetischen Chiffre.352 Dabei werde, wie es bei Krolow heißt, das Ich zwar nicht 352 Krolow schreibt 1961: »Mit und durch Loerke entstand zum erstenmal jene neue Zeichenund Chiffrenkunst, die mittlerweile bis zum Überdruß geübt worden ist.« (Karl Krolow:

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ausgelöscht, aber doch dazu gezwungen, sich im Zustand einer Überlagerung durch Kräfte der Außenwelt neu zu strukturieren. In seiner Hingabe an die Natur werde das lyrische Ich nicht nur in eine andere Gegenwart überführt, sondern falle gleichsam »durch die Zeiten, durch die ›Geschichten‹ von Wald, Fels, Fluß, durch die ›Geschichte‹ der Elemente, ›Geschichte‹ der Kreatur, der Pflanze, des Minerals«.353 Diese Überlagerungen führten schließlich zu einer Verdichtung in der Sprache, in der das lyrische Ich zu einem Phantom wird. Wenn es in diesem Prozess der Entindividualisierung und Phantomisierung dann doch plötzlich erscheint, so geschieht dies gewissermaßen indirekt und chiffriert. Auch Eichs Lyrik ist in Hinblick auf den Gedanken des Ichs als Hieroglyphe interessant.354 Wenn seine Dichtung seit den Botschaften des Regens (1955) immer hermetischer wird, muss das nicht ausschließlich die Folge des politischen Selbstverständnisses sein (Lyrik als ein »Gegenentwurf zur Schematisierung der Sprache in der modernen Massengesellschaft«355). Eich spricht in einem Interview davon, dass er eine »gewisse Verwandtschaft überhaupt des Gedichts zu einem chinesischen Schriftzeichen [empfinde], worin also der Sinn konzentriert ist, wo nicht alphabetisch oder lautlich das Wort ausgedrückt wird, sondern durch ein Sinnbild,«356 und dass das Gedicht als Ganzes »eine Hieroglyphe«357 sei. Damit gibt er einen wichtigen Hinweis auf die Beziehung seiner Lyrik zu einer Ästhetik des Unleserlichen, die zunächst noch sehr hintergründig ist, aber mit Botschaften des Regens immer deutlicher wird. Eine ähnliche Widersprüchlichkeit von Dunkelheit (des Sinns) und Klarheit (der Kontur) stellt Helmut Krapp in der Lyrik Krolows fest: Einerseits seien seine Verse »mit all der Dunkelheit befrachtet, deren die moderne Lyrik fähig ist«, andererseits aber übe sich Krolow darin, »die Konturen der Dinge genauer nachzuzeichnen«, so dass man konsequenterweise sagen müsse, dass seine Gegenstände nie zu Schatten werden: »Ihr Umriß ist so massiv, ihre Stofflichkeit ist hauchdünn.«358 Das Leichte, Transparente, fast schon Nicht-Stoffliche, das diese Gedichte evozieren, deckt sich mit Krolows Vorstellung einer durchlässigen ly-

353 354 355 356 357 358

»Möglichkeiten und Grenzen der neuen deutschen Naturlyrik«, in: ders.: Aspekte zeitgenössischer deutscher Lyrik, Gütersloh: Mohn 1961, S. 29–53, hier S. 39–40.) Ebd., S. 37. Vgl. dazu Curt Hohoff: »Günter Eichs Hieroglyphik«, in: ders.: Geist und Ursprung. Zur modernen Literatur, München: Ehrenwirth 1954, S. 206–211. Otto Knörrich: Die deutsche Lyrik der Gegenwart 1945–1970, Stuttgart: Kröner 1971, S. 192. »Ein Zeichen sozusagen. Interview«, in: Günter Eich: Gesammelte Werke, Bd. IV, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, S. 397. Ebd., S. 398. Helmut Krapp: »Suite von Augenblicken«, in: Über Karl Krolow, hg. von Walter Helmut Fritz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1972, S. 68–69, hier S. 68.

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rischen Sprache: Ein Gedicht habe »porös zu sein, luft- und lichtdurchlässig«,359 oder wie Holthusen formuliert: »ein- und ausatmende, empfängliche und fortzeugende, die winddurchlässige, zeitdurchlässige Strophe«.360 Zu fragen wäre, ob man es hier nicht mit verschiedenen Strategien des Allusiven zu tun hat, die jene Enigmatik der modernen deutschsprachigen Lyrik erzeugen und das Gedicht als Ganzes zur Hieroglyphe werden lassen. Diese Verwandlung vom (natur)magischen Zeichen zur »undeutbaren Chiffre«361 macht eine Interpretation unmöglich. Vor dem Hintergrund der in der vorliegenden Untersuchung herausgearbeiteten Aspekte der Resonanz könnte man jetzt aber dazu übergehen, die Resonanzwirkungen dieser lyrischen Chiffren zu analysieren. Allerdings müsste man sich dann von der Vorstellung des Gedichts als deutbares Zeichen verabschieden und es stattdessen in seinem »Aggregatzustand« begreifen, wie Hilde Domin es einmal ausdrückte, d. h. als »eine Art zuckendes Kräftefeld«.362 Gibt es womöglich in der modernen deutschen Lyrik sprachlich-ästhetische Phänomene, die zwar im Kontext der westlichen Moderne entstanden sind, sich aber aus resonanzästhetischer Sicht nicht auf der Grundlage der etablierten Codes auffassen ließen? Wie in der vorliegenden Arbeit gezeigt worden ist, erlaubt es eine Resonanzästhetik, Literatur auf eine andere Weise zu denken, denn als eine Textur signifikanter Zeichen, die es zu deuten gilt. Zeichen können über ihre Signifikation hinaus in Hinblick auf ganz unterschiedliche Aspekte von Resonanz untersucht werden, wobei entweder beim Schriftzeichen selbst bzw. innerhalb des Textzusammenhangs anzusetzen wäre, oder aber bei seinem nicht-diskursiven Umfeld, wenn man die Affektwirkung von Texten beschreiben oder wie Stephen Greenblatt die Zirkulation sozialer Energien erfassen will.363 Deshalb soll abschließend noch einmal ins Zentrum des Bewusstseins gerückt werden, dass die Resonanzästhetik die Zeichen von ihren Wirkungen her begreift und nicht im Sinne einer außersprachlichen Referenz oder Repräsentation. Die Zeichen, sagt Deleuze, haben keine Objekte als direkte Referenten, sondern »Körperzustände

359 Karl Krolow: »Intellektuelle Heiterkeit«, in: Hans Bender (Hg.): Mein Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten, Heidelberg: Rothe 1955, S. 58–62, hier S. 60. 360 Hans Egon Holthusen: »Naturlyrik und Surrealismus« (1953), in: Über Karl Krolow, S. 9–41, hier S. 13. 361 Knörrich: Die deutsche Lyrik der Gegenwart, S. 192. 362 Hilde Domin: Wozu Lyrik heute? Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft, München: Piper 1968, S. 168. 363 Vgl. Greenblatt: »Grundzüge einer Poetik der Kultur«, in: Schmutzige Riten, S. 107–122. Während Greenblatt den Begriff der Resonanz auf die Kulturkräfte und Effekte ausrichtet, die beim Betrachter von ästhetischen Artefakten ausgelöst werden, wurde in der vorliegenden Studie die Resonanz beim Zeichen selbst gesucht.

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(Affektionen) und Vermögens-Variationen (Affekte), die wechselseitig aufeinander verweisen.«364

Für eine Ästhetik der Resonanz und Diversität Die Ästhetik der Resonanz ist hier vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung deutschsprachiger Schriftsteller mit den für sie in der Regel unlesbaren chinesischen Schriftzeichen entwickelt worden. Die Erfahrung eines zumindest temporären Analphabetismus bietet, wie wir gesehen haben, die Chance, Zeichen auf andere Weise aufzufassen und zu deuten, als man es gewohnt ist, unter anderem als unlesbar-unleserliche Resonanzobjekte. Das Nicht-Verstehen, d. h. das Aussetzen der Signifikation und der daraus resultierende Zustand der Unlesbarkeit legen ein Wahrnehmungsfeld frei, das vorher, d. h. unter dem Gesichtspunkt der Signifikation diffus erschien und keinen Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung bilden konnte. Erst durch die Suspension der Kategorie ›Bedeutung‹ können die vielfältigen Resonanzwirkungen in den Blick gerückt werden, die der Zwang zur Lesbarkeit verdeckt hat. Insofern bewirkt die Resonanzästhetik einen Abstand: Indem sie es erlaubt, vorübergehend einen anderen Standpunkt einzunehmen, der im Vergleich zu der gewohnten Betrachtungsweise ein Außen darstellt, bietet sie einen produktiven Ausgangspunkt für eine von der Normalität abweichende Betrachtungsweise, die zugleich neue Perspektiven eröffnet und bislang unbeachtete Kohärenzen sichtbar werden lässt. Damit erweist sie sich durchaus als eine Alternative zu den eingefahrenen Interpretationsweisen, und es wäre sogar möglich, auf ihrer Grundlage eine Art »Gegendiskurs« zu errichten, der jenseits von signifikativer Sinnhaftigkeit eine Kohärenz von Resonanzeffekten zum Gegenstand hat, die sich durchaus mit diskursiven Mitteln beschreiben lässt. Als ein grundsätzlich komparatistischer Untersuchungsansatz berücksichtigt die Resonanzästhetik Wahrnehmungsweisen, die normalerweise außerhalb des gewohnten Blickfeldes liegen, wie in einem ganz eigentümlichen Maße hier das Blasse und Fade, die allusiv-anspielende Anregung (xing) sowie das yu¯gen der japanischen Ästhetik.365 Der Umweg über China und Japan wurde allein schon deshalb zu einer conditio sine qua non, weil sich gerade dort eine 364 Gilles Deleuze: Kritik und Klinik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 190. Weiter heißt es dort: »Die Zeichen sind Wirkungen: die Einwirkung eines Körpers auf einen anderen im Raum oder Affektion; die Einwirkung einer Affektion auf eine Dauer oder Affekt.« 365 In diesem Zusammenhang sollte auch der Versuch erwähnt werden, den buddhistischen Begriff kunju¯ als Luft- bzw. Duftübertragung resonanzästhetisch zu fassen; siehe Ryo¯suke ¯ hashi: »Womit muß der Vergleich in der vergleichenden Ästhetik gemacht werden?«, in: O Einheit und Vielfalt. Das Verstehen der Kulturen, hg. von Notker Schneider, Ram Adhar Mall und Dieter Lohmar, Amsterdam: Rodopi 1998, S. 155–166.

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Ästhetik ausgebildet hat, die man als eine Ästhetik der Resonanz verstehen kann und die im Vergleich sowohl zur Hegemonie der Textsiginifikation als auch zur Urteilsästhetik eine andere Seinsform der Kohärenz darstellt. Auch wenn es den Anschein hat, dass in den letzten zehn Jahren Konzepte der Resonanz und des Atmosphärischen stärker ins Blickfeld der Literatur- und Kulturwissenschaftler gerückt worden sind, so unterscheidet sich die vorliegende Untersuchung jedoch grundlegend von denjenigen Ansätzen, die den Begriff der Resonanz als Metapher aufgreifen oder sie als eine akustische Figur auf Literatur zu übertragen versuchen.366 Gleichermaßen hält sie sich in Distanz zu Forschungsarbeiten, die das Stimmungskonzept wiederbeleben wollen, weil diese in dem flüchtigen und diffusen Gefühlszustand eine prinzipielle Bedeutungsoffenheit erblicken, die Raum für neue Interpretationen bietet,367 und auch in die gegenwärtige Emotionsforschung, die weitgehend auf anthropologischen Prämissen beruht, lässt sie sich nicht integrieren. Das hier dargestellte Konzept der Resonanz hat seine wesentliche Bedingung im Nicht-Signifikativen, d. h. in der Reduktion des Sinns, die eine Einbeziehung der Sinne in die Analyse von Texten ermöglicht, jedoch nicht dahingehend, dass man die Präsenz der Sinne in Texten aufzeigt und fragt, wie die Sinne in Texten dargestellt werden; stattdessen geht es um die nicht-diskursiven Anteile am Textsinn. Resonanz ist somit nicht das Ergebnis einer rein intellektuellen Arbeit des Hervorbringens von Sinn, sondern steht als Nicht-Signifikatives in Relation zum Staunen, jener plötzlichen Ergriffenheit im Augenblick des Erkennens.

366 Vgl. dazu den schon im zweiten Kapitel erwähnten Band Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur, hg. von Karsten Lichau, Viktoria Tkaczyk, Rebecca Wolf, München: Fink 2009. 367 Vgl. Anna-Katharina Gisbertz: Stimmung – Leib – Sprache. Eine Konfiguration in der Wiener Moderne, München: Fink 2009 und dies.: Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie, München: Fink 2011.

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Ausstellungskataloge China illustrata. Das europäische Chinaverständnis im Spiegel des 16. und 18. Jahrhunderts (Ausstellung im Zeughaus der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 21. März bis 23. August 1987), hg. von Hartmut Walravens, Weinheim: VCH 1987. »Sprachräume«. Xu Bing in Berlin. Ausstellungskatalog Museum für Ostasiatische Kunst, Berlin: Museum für Ostasiatische Kunst 2004.

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Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, hg. von Ulrich Ernst und Jeremy Adler, Weinheim: VCH 1987 (Ausstellungskatalog der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel). ¯ mi/O ¯ mi hakkei. Kokoku no fu¯ko¯, nihon no jo¯kei, O ¯ tsu: O ¯ tsu-shi The Eight Views of O ¯ rekishi hakubutsukan (Historisches Museum der Stadt Otsu) 2010. Ukiyo-e Prints that Van Gogh Loved, and Utagawa Shokoku Exhibition. Katalog des Hermitage Museums, Nagano: Soei 1995. 200 Jahre Friedrich Rückert. 1788–1866. Dichter und Gelehrter, hg. von Jürgen Erdmann. Katalog der Ausstellung, Coburg: Landesbibliothek Coburg 1988.

Handbücher und Lexika Deutsches Wörterbuch der Gebrüder Grimm, hg. von Jacob und Wilhelm Grimm, 33 Bde., Leipzig: Hirzel 1985. Goethe Handbuch. Bd. 1: Gedichte, hg. von Regine Otto und Bernd Witte, Stuttgart/Weimar: Metzler 1996. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Basel: Schwabe 1972. Nihon kokugo daijiten [Großes Wörterbuch der japanischen Landessprache], Tokyo: Sho¯gakukan 1979–1981; 2. Aufl. 2001. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universalexicon aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert wurden […], 68 Bde., Halle und Leipzig: Zedler 1732–54.

Abbildungsnachweise

Abb. 1:

Abb. 2:

Abb. 3:

Abb. 4: Abb. 5:

Abb. 6–10: Abb. 11:

Abb. 12:

Abb. 13:

Xu Bing, Tianshu (Buch des Himmels), 1987–1991. Installation: Holzschnitte auf Papierbahnen und in Büchern; Holzkästen und Druckwerkzeuge. Courtesy Xu Bing Studio and Chinese Art Centre. Xu Bing, Tianshu (Buch des Himmels), 1987–1991. Holzschnitte auf Papierbahnen und in Büchern. Courtesy Xu Bing Studio and Chinese Art Centre. Xu Bing, Tianshu (Buch des Himmels), 1987–1991. Buchseiten mit erfundenen Schriftzeichen. Courtesy Xu Bing Studio and Chinese Art Centre. Xu Bing, Tianshu (Buch des Himmels), 1987–1991. Druckstock des Frontispizes. Courtesy Xu Bing Studio and Chinese Art Centre. Xu Bing, Tianshu (Buch des Himmels), 1987–1991. Buchseite mit erfundenen Schriftzeichen. Courtesy Xu Bing Studio and Chinese Art Centre. Xu Bing, Tianshu (Buch des Himmels), 1987–1991. Erfundene Schriftzeichen. Courtesy Xu Bing Studio and Chinese Art Centre. Utagawa Hiroshige, Kameido Ume, dt. Der Pflaumengarten von Kameido, 1857; Vincent van Gogh Blühender Pflaumenbaum, 1887; ¯ hashi Atake no yu¯gure, dt. Regenschauer über Utagawa Hiroshige, O der großen Brücke in Atake, 1857; Vincent van Gogh, Brücke im Regen, 1887, in: Vincent Van Gogh and Japan. Ausstellungskatalog. The National Museum of Modern Art, Kyoto 1992, S. 199, 172, 202, 77. Xu Bing, Einführung in Square Word Calligraphy, Vorlageblatt zu »Little Bo Peep«, 1994–1996. Courtesy Xu Bing Studio and Chinese Art Centre. Johann Wolfgang Goethe, Arabische Schreibstudien (1816). Eigenhändige Exzerpte aus Heinrich Friedrich von Diez’ Denkwürdigkeiten von Asien, Bd. II, Berlin: Nicolai 1815, in: Goethes Morgen-

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Abbildungsnachweise

landfahrten. West-östliche Begegnungen, hg. von Jochen Golz, Frankfurt a. M./Leipzig: Insel 1999, S. 245. Abb. 14: Kilian von Gayrsperg, Gross-Peking und seine Umgebung. Ein Handbuch für Reisende am 29. Februar 1892, Wien: Vlg. d. Genossenschaft d. bild. Künstler Wiens 1892, S. 88. Abb. 15: Utagawa Hiroshige, Heimkehrende Segel bei Yabase, 1834, in: The ¯ mi/O ¯ mi hakkei. Kokoku no fu¯ko¯, nihon no jo¯kei, Eight Views of O ¯ tsu: O ¯ tsu-shi rekishi hakubutsukan (Historisches Museum der O ¯ tsu) 2010, S. 26. Stadt O Abb. 16: Utagawa Hiroshige, Einfliegende Wildgänse bei Katata, 1834; in: ¯ mi/O ¯ mi hakkei. Kokoku no fu¯ko¯, nihon no The Eight Views of O ¯ tsu: O ¯ tsu-shi rekishi hakubutsukan (Historisches Museum jo¯kei, O ¯ tsu) 2010, S. 37. der Stadt O Abb. 17: Utagawa Hiroshige, Brise in Awazu an einem klaren Sonnentag, ¯ mi/O ¯ mi hakkei. Kokoku no fu¯ko¯, 1834; in: The Eight Views of O ¯ tsu: O ¯ tsu-shi rekishi hakubutsukan (Historisches nihon no jo¯kei, O ¯ tsu) 2010, S. 22. Museum der Stadt O Abb. 18: Das chinesische Schriftzeichen dan. Abb. 19: Xu Bing, Landscript, 1999, Detail. Courtesy Xu Bing Studio and Chinese Art Centre. Abb. 20–21: Lackbild (maki-e) auf einer Schreibkiste aus dem 15. Jh., NezuMuseum, Tokyo. Abb. 22: Xu Bing, ABC…,1991. Courtesy Xu Bing Studio and Chinese Art Centre. Abb. 23: Gedicht von Zhao Yuanren (1892–1982). Abb. 24: Kupferstich von Johan Nieuhof, Gaukler bei einer Aufführung, 1655, in: Johan Nieuhof: Algemeene Beschryving van’t RYK SINA. In: Het gezantschap der Neêrlandtsche Oost-Indische Compagnie, aan den grooten Tartarischen Cham, den tegenwoordigen keizer van China. Amsterdam: Meurs 1665, S. 32. Abb. 25: Pinselstrichansätze. Abb. 26: Xu Bing, ABC…,1991, Detail. Courtesy Xu Bing Studio and Chinese Art Centre. Abb. 27: Titelblatt der Erzählung Le Pavillon sur l’eau (Detail), illustriert von Henri Caruchet, in: Théophile Gauthier: Le Pavillon sur l’eau, Paris: Ferroud, 1900. Abb. 28: La Pavillon sur l’eau, Seite 2 und 3 mit Kalligraphien, in: Théophile Gauthier: Le Pavillon sur l’eau, Paris: Ferroud, 1900, S. 2 und 3. Abb. 29: Otto Julius Bierbaum: Das schöne Mädchen von Pao, Berlin, Leipzig: Schuster & Loeffler 1910, Originaleinband.

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Abb. 30:

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Johann George Scheffner, Gedichte im Geschmack des Grecourt, Frankfurt und Leipzig: Dodsley und Compagnie 1773 [= Königsberg: Kanter], Titelblatt. Abb. 31: Johann Wolfgang Goethe, West-östlicher Divan (1819), Frontispiz der Erstausgabe, in: Goethes Morgenlandfahrten. West-östliche Begegnungen, hg. von Jochen Golz, Frankfurt a. M./Leipzig: Insel 1999, S. 246. Abb. 32: Chinesische Schriftzeichen bei Athanasius Kircher, Ausschnitt aus China illustrata, Amsterdam: Meurs 1667, S. 11. Abb. 33: Hieroglyphendeutung bei Athanasius Kircher, aus: Obeliscus Pamphilius; hoc est interpretatio nova & hucusque intentata obelisci hieroglyphici, Rom: Grignani 1650, S. 130. Abb. 34: Abschleifungen chinesischer Zeichen, in: Athanasius Kircher: China illustrata, S. 227. Abb. 35: Schriftzeichen in unterschiedlichen Schriftstilen, in: Kircher: China illustrata, S. 228–229. Abb. 36: Das Schriftzeichen 書 (shu) in drei verschiedenen Schriftstilen, in: Kircher: China illustrata, S. 228–229. Abb. 37: Das Schriftzeichen 文 (wen) in drei Schriftstilen, in: Kircher: China illustrata, S. 231 Abb. 38: Links Das Buch der Drachen von Fohi [Fuxi], rechts Das Buch des Ackerbaus von Shen Nong, in: Kircher: China illustrata, S. 228–229. Abb. 39: Schriftzeichen aus dem Buch des Gelben Kaisers und dem Buch des Kaisers Yao, in: Kircher: China illustrata, S. 229. Abb. 40: Strichkombinationen zur Bildung neuer Zeichen, in: Kircher: China illustrata, S. 233–234. Abb. 41: Kombinationen von Schriftzeichen, in: Kircher: China illustrata, S. 234–235. Abb. 42: Aus mehreren Schriftzeichen kombiniertes ›Syntagmazeichen‹ bei Kircher, in: Kircher: China illustrata, S. 235. Abb. 43: Chinesisches Schriftzeichen für ›Wandel‹ (biàn). Abb. 44: Die 16 Schrift-Kategorien des Chinesischen nach Karl Faulmann, in: Karl Faulmann: Illustrirte Geschichte der Schrift, Wien/Pest/ Leipzig: Hartleben 1880, S. 294. Tafel 4 »Chinesische Schrift-Spielarten«. Abb. 45–47: Chinesische Schriftzeichen bei Christoph Gottlieb von Murr: »Etwas von meinem Versuche, die sinesischen Charaktere zur Universalsprache zu gebrauchen«, in: Journal zur Kunstgeschichte und zur allgemeinen Litteratur. Vierter Theil, Nürnberg: Zeh 1777, S. 163.

478 Abb. 48:

Abbildungsnachweise

Links: Gottlieb Siegfried Bayer, Museum Sinicum (1730), Chinesische Grammatik, 2. Buch, in: Theophili Sigefridi Bayeri regiomontani […] Museum sinicum in quo sinicae linguae et litteraturae ratio explicatur. Tomus primus, liber secundus, Petropoli: Ex typographia academiae imperatoriae [= Petersburg], S. 103–104; rechts: Titelblatt von Johann Gottlob Immanuel Breitkopf: Exemplum typographiae sinicae figuris characterum e typis mobilibus compositum. Leipzig: Breitkopf 1789. Abb. 49: Die ersten sechs Radikale der chinesischen Schrift. Tabelle erstellt nach Edoardo Fazzioli: Gemalte Wörter. 214 chinesische Schriftzeichen – vom Bild zum Begriff, 5. Aufl., Wiesbaden: Fourier 2003, S. 20. Abb. 50: Chinesische Schriftzeichen aus der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (1. Jg., 1804, Num. 45), Sp. 356 (22. Februar 1804). Abb. 51: »Chinesische Wörter aus Theilzügen«, in: Karl Faulmann: Illustrirte Geschichte der Buchdruckerkunst, Wien/Pest/Leipzig: Hartleben 1882, S. 505 (Illustration 198). Abb. 52: Entwicklung der Schriftzeichen für ›Baum‹ und ›Sonne‹ nach Edoardo Fazzioli: Gemalte Wörter, S. 195 und 184. Abb. 53: Xu Bing, Square Word Calligraphy, 1994. Courtesy Xu Bing Studio and Chinese Art Centre. Abb. 54: »Little Bo Peep« als Square Word Calligraphy. Courtesy Xu Bing Studio and Chinese Art Centre. Abb. 55–57: Xu Bing, Square Word Calligraphy Classroom, 1994–1996. Courtesy Xu Bing Studio and Chinese Art Centre. Abb. 58: Xu Bing, An Introduction to Square Word Calligraphy, 1994–1996. Courtesy Xu Bing Studio and Chinese Art Centre.

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Abbildungen zur Einleitung

Abb. 1: Xu Bing, Tianshu (Buch des Himmels), 1987–1991. Installation: Holzschnitte auf Papierbahnen und in Büchern; Holzkästen und Druckwerkzeuge.

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Abb. 2: Xu Bing, Tianshu (Buch des Himmels), 1987–1991. Holzschnitte auf Papierbahnen und in Büchern.

Abb. 3: Xu Bing, Tianshu (Buch des Himmels), 1987–1991. Buchseiten mit erfundenen Schriftzeichen.

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Abb. 4: Xu Bing, Tianshu (Buch des Himmels), 1987–1991. Druckstock des Frontispizes.

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Abb. 5: Xu Bing, Tianshu (Buch des Himmels), 1987–1991. Buchseite mit erfundenen Schriftzeichen.

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Abbildungen zu Kapitel 3

Abb. 11: Utagawa Hiroshige, Kameido Ume, dt. Der Pflaumengarten von Kameido, 1857; rechts daneben die Version von Vincent van Gogh Blühender Pflaumenbaum, 1887. Darunter: Utagawa ¯ hashi Atake no yu¯gure, dt. Regenschauer über der großen Brücke in Atake, um 1857, Hiroshige, O und rechts Vincent van Gogh, Brücke im Regen, 1887.

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Abb. 12: Xu Bing, Einführung in Square Word Calligraphy, Vorlageblatt zu »Little Bo Peep«, 1994– 1996. Unten sind die blassrot vorgezeichneten Linien, denen der Pinsel folgen soll, zu erkennen.

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Abb. 15: Utagawa Hiroshige, Heimkehrende Segel bei Yabase, 1834.

Abb. 16: Utagawa Hiroshige, Einfliegende Wildgänse bei Katata, 1834.

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Abb. 17: Utagawa Hiroshige, Brise in Awazu an einem klaren Sonnentag, 1834.

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