Die alte Frau in der Literatur: weibliche Alterskonzepte in der deutschsprachigen und russischen Prosa des späten 19. Jahrhunderts 3837640167, 9783837640168

Female aging in pre-revolutionary Russian prose, German-language narratives of the late 19th Century and in narratives o

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Die alte Frau in der Literatur: weibliche Alterskonzepte in der deutschsprachigen und russischen Prosa des späten 19. Jahrhunderts
 3837640167, 9783837640168

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Dank
1. Forschungsstand, Ziele und Methoden
2. Untersuchungsgegenstand und Textauswahl
3. Vier alte Frauenfiguren aus Eduard von Keyserlings »Wellen«
4. Anton Čechov: »Eine langweilige Geschichte«
5. Drei laute alte Frauen
6. Drei leise alte Frauen
7. Eine alte Frau sein: Damals und Heute
8. Möglichkeiten der Überwindung von Stereotypen
9. Schlussbetrachtung
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis

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Sigrid Belzer-Kielhorn Die alte Frau in der Literatur

Alter(n)skulturen Herausgegeben von Peter Angerer, Ute Bayen, Henriette Herwig, Andrea von Hülsen-Esch, Christoph Kann, Ulrich Rosar, Christian Schwens, Shingo Shimada, Stefanie Ritz-Timme und Jörg Vögele | Band 12

Meinen Kindern Nikolaj und Valentina

Sigrid Belzer-Kielhorn, geb. 1951, studierte Germanistik und Slawistik in Bonn und in Novi Sad (ehem. Jugoslawien). Sie war fast 20 Jahre lang Schulleiterin eines Düsseldorfer Gymnasiums und hat nach ihrer aktiven Berufszeit an der philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf begonnen, über weibliches Alter in der Literatur zu forschen.

Sigrid Belzer-Kielhorn

Die alte Frau in der Literatur Weibliche Alterskonzepte in der deutschsprachigen und russischen Prosa des späten 19. Jahrhunderts

D 61 Originaltitel der Dissertation: »Jetzt da ich älter bin ... Literarische Konzepte des weiblichen Alters«

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

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Inhaltsverzeichnis

Dank | 7 1.

Forschungsstand, Ziele und Methoden | 11

2.

Untersuchungsgegenstand und Textauswahl | 29

2.1 Weibliche Altersidentität in der Gesellschaft und weibliche Figuren im literarischen Text | 29 2.2 Die alten Frauenfiguren in der russischen und der deutschen Prosa am Ende des 19. Jahrhunderts und das Problem der Identitätserfahrung | 39 2.3 Figurenkategorien alter Frauen | 49 3.

Vier alte Frauenfiguren aus Eduard von Keyserlings »Wellen« | 53

Die Gesellschafterin Malwine Bork | 58 Die arme Verwandte Agnes | 66 Die Erzählperspektive und die Zeichen der Weiblichkeit | 71 Generalin Palikow, die Patriarchin | 73 Großmutter Wardein | 78 Alte Frauen und die Zeichen der Natur | 81 Korrespondenzrelationen oder Kontrastrelationen zwischen den alten Frauenfiguren | 82 3.8 Die Tochter als »älteste« Frauenfigur: Baronin Buttlär | 84

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7

Anton Čechov: »Eine langweilige Geschichte« | 85 4.1 Varja – Gespiegelt in den Aufzeichnungen ihres Mannes | 85 4.2 Die interne Fokalisierung im Text | 98 4.3 Zur Rede über Geschlechter und Generationen | 99 4.

Drei laute alte Frauen | 107 5.1 Theodor Fontane: »Frau Jenny Treibel« – Die Sicht auf Jenny aus vielen Blickwinkeln | 107 5.2 Die Babulja aus Anton Čechovs »Die Braut« | 126 5.3 Frau Margret aus »Der grüne Heinrich« von Gottfried Keller | 139 5.

Drei leise alte Frauen | 155 6.1 Mutter Nimptsch aus Theodor Fontanes »Irrungen,Wirrungen« und die Materialien des Alters | 155 6.2 Arina Basarova aus Ivan Turgenevs »Väter und Söhne« | 167 6.3 Olenka aus Anton Čechovs »Herzchen« | 183 6.

7.

Eine alte Frau sein: Damals und Heute. Charlotte Wolff: »Flickwerk«, Günter Grass: »Unkenrufe«, Natal’ja Baranskaja: »Podselenka i koška«, Fridrich Gorenštejn: »Staruški«, Bella Achmadulina: »Babuška«, Tat’jana Tolstaja: »Milaja Šura«, Valentin Rasputin: »Poslednij srok«, Ljudmilla Ulickaja: »Gulja« | 195

7.1 Ein Vergleich der Figuren | 195 7.2 Ein Vergleich der Alterskonzepte | 205 8.

Möglichkeiten der Überwindung von Stereotypen | 211

8.1 Alte Frauenfiguren jenseits von Klischees | 211 8.2 Der kulturelle Wandel weiblicher Alterskonzeptionen | 213 9.

Schlussbetrachtung | 223

Siglenverzeichnis | 227 Literaturverzeichnis | 229

Dank

Frau Prof. Dr. Henriette Herwig danke ich sehr für die inhaltliche Betreuung meiner Dissertation. Mit ihrer Hilfe konnte ich Anschluss an die gegenwärtige germanistische Forschung finden, sie ließ mir Freiräume für eigene Ideen und hatte viel Geduld, wenn diese Ideen bisweilen abwegig waren. Von ihren wertvollen Ratschlägen konnte ich immer profitieren, denn ihr Beharren auf hohen wissenschaftlichen Standards war immer gepaart mit einer zutiefst menschlichen Haltung. Den Assistenten von Frau Prof. Dr. Herwig, Mara Stuhlfauth-Trabert, Johannes Waßmer und in besonderem Maß Robin-M. Aust und Denise Pfennig, danke ich für ihre Freundlichkeit und ihre Ausdauer, mit der sie immer wieder meine zahlreichen Fragen beantwortet, mich beraten und meine Fehler korrigiert haben. Meinem Freund Peter Kemmerich danke ich für die Korrekturen und zahlreichen Verbesserungsvorschläge, die ich gerne aufgenommen habe. Meinem Mann Lars danke ich von Herzen für die liebevolle und äußerst interessierte Begleitung meiner Studien. Seiner unermüdlichen Aufmunterung ist es zu verdanken, dass die Dissertation fertig geworden ist. Ohne ihn hätte ich es nicht geschafft.

Ich tröste mich damit, daß man mit den Jahren lernen muß, »die Kälte des Lebens« zu ertragen, und daß »la vraie sagesse de l’homme c’est savoir vieillir«, doch ich habe mich noch nicht ganz daran gewöhnt und bin deshalb bisweilen schwermütig.1

1

Lew Tolstoj, Sofja Tolstaja: Eine Ehe in Briefen, hg. u. übers. v. Ursula Keller und Natalja Sharandak, Berlin 2010, S. 389.

1.

Forschungsstand, Ziele und Methoden

Unsere heutige Gesellschaft steht ganz im Zeichen von Jugendlichkeit. Die Lebensmitte wird nicht als Zäsur im Alterungsprozess angenommen, in dem man sich vom Leitbild der Jugend trennt und sich neu orientiert. Das Gegenteil ist der Fall: Die Bemühungen, an der Jugend festzuhalten, verstärken sich ständig; chirurgische Eingriffe, kostspielige Anti-Aging-Kosmetika und ausgeklügelte Fitnessprogramme haben nach wie vor Hochkonjunktur und werden immer weiter ausdifferenziert. In der Modebranche schien das höhere Alter vor einigen Jahren ein eigenes semantisches Profil bekommen zu haben. Man denke an Begriffe wie »Alters-Chic« und »alterslose Garderobe« oder »reife Mannequins«. Doch auch diese Vokabeln sind inzwischen von der Bildfläche verschwunden, alle diesbezüglichen Versuche der Werbung, dem Alter Attraktivität zu bescheinigen, wirken halbherzig oder werden vom Konsumenten nicht angenommen. Und somit bleibt die Jugend das unangefochtene Leitbild, denn all diese Modelle und Modepräsentationen rekurrieren nicht auf das Alter, sondern auf die Jugend im Alter. Allein die Jugend ist der Bezugspunkt in Wirtschaft und Werbung, der maßgebliche Wert, während das Alter negativ besetzt ist. Literarische Altersforschung kann dazu beitragen, diesen Befund zu ändern, indem die einseitig negative Einordnung des Alters hinterfragt wird.

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Mein Erkenntnisinteresse am Thema »Weibliches Alter« ist geweckt worden durch Beobachtungen und Lektüren: Wie wird über alte Frauen in unserer Gesellschaft gesprochen und wie sprechen alte Frauen über sich und ihr Alter(n)? Und wie wird in den imaginierten Welten der Literatur über alte weibliche Figuren gesprochen und wie sehen diese sich selbst? Wissenschaftliches Erkenntnisinteresse am Alter zeigte zunächst die Medizin: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden fast gleichzeitig Geriatrie und Gerontologie als Alterswissenschaften unterschiedlicher medizinischer Disziplinen. Die Beobachtung von Alterungsprozessen betraf zunächst den Körper, an dessen Konstruktion und Geschichte zunehmend Interesse gezeigt wurde. Folglich waren es in erster Linie die Biologen, die Fragen zum menschlichen Alter beantworteten. Getrennt davon wurden geistige, kulturelle und gesellschaftliche Fragestellungen zum menschlichen Alter in den Geistesund Sozialwissenschaften behandelt. Diese strikte Trennung von materiellen und mentalen Prozessen des menschlichen Alters geriet bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Kritik. Mit der Zunahme von Wissen über das Alter stiegen die Chancen, die tradierte Trennung von Körper und Geist in der Altersforschung zu überwinden. Seit den Sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts traten neben die biologisch-medizinischen Forschungsergebnisse zunehmend psychologische und soziologische Erkenntnisse in den Diskurs über Alterungsprozesse, dank derer das an der Biologie orientierte Defizitmodell des Alters überwunden werden konnte. Die verschiedenartigen physischen, psychischen, ökonomischen und sozialpolitischen Erscheinungsformen von Alter könnten in einer interdisziplinär ausgerichteten Wissenschaft vom Alter zusammengefasst werden. Beispielhaft sei hier die »Berliner Altersstudie« genannt, die 1996 von dem Soziologen Karl Ulrich Mayer und dem Psychologen Paul Baltes herausgegeben wurde.1

1

Vgl. Karl Ulrich Mayer, Paul B. Baltes (Hg.): Die Berliner Altersstudie, Berlin 1996.

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Die Vielzahl der Disziplinen, die sich mit dem Alter beschäftigen, stoßen jedoch an ihre Grenzen, wenn es um eine Makrotheorie der Gerontologie geht; eine Interdisziplinarität der Alterswissenschaft, die Brücken zwischen diesen Wissensbereichen schafft, bleibt nach Ansicht des Mediziners James Birren eine noch unerreichte Forderung: Gerontology is a land of many islands with few bridges between them.2

Seit Jahrzehnten forschen also zahlreiche Wissenschaftsdisziplinen über das menschliche Alter. Inzwischen ist es, auch dank intensiver Forschungsförderung in Deutschland, aus psychologischer, soziologischer, pädagogischer, anthropologischer und kulturwissenschaftlicher Sicht dargestellt und beschrieben, wobei der Vielgestaltigkeit der Altersverläufe besondere Aufmerksamkeit gezollt wird. Von den Alterswissenschaften eingeführte Begriffe wie normales Altern, pathologisches Altern, optimales oder gar erfolgreiches Altern zeigen, dass Altern zwar eine universelle Erfahrung darstellt, es jedoch nicht uniform und unidirektional – im Sinne eines unvermeidlichen Abbaus – ablaufen muss. Es gilt als gesichert, dass Menschen differentiell altern und dass sich je nach individuellen und sozialen Ausgangsbedingungen und betrachteter Dimension unterschiedliche Altersverläufe nachzeichnen lassen.3

Seit den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschäftigen sich die Literaturwissenschaften explizit mit dem Thema Alter. In der Germanistik gibt es mittlerweile eine große Anzahl von Forschungsergebnissen zu den literarischen Repräsentationen des Alters. So spielt die literarische Altersforschung an der Philosophischen Fakultät der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf eine wichtige Rolle, wobei Konzepte und Potentiale des Alters, vor allem des weiblichen Alters, in verschiede-

2

Heike Hartung (Hg.): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 9.

3

Dieter Ferring, Miriam Haller (Hg.): Soziokulturelle Konstruktion des Alters, Würzburg 2009, S. 9.

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nen Fachdisziplinen erforscht und beschrieben wurden und werden. Henriette Herwig und Andrea von Hülsen-Esch mit ihren Mitarbeitern sind hier federführend tätig. Einige literatur- und kunstwissenschaftliche Forschungen, die für mein Projekt von Nutzen waren, sollen hier genannt werden. Für das 18. und 19. Jahrhundert hat Thomas Küpper eine Analyse erstellt, in der er Altersrepräsentationen mit poetologischen Konzepten verbindet.4 Außerdem gibt es die umfangreicheren Arbeiten von HansGeorg Pott5 und Hannelore Schlaffer,6 die motivgeschichtliche Untersuchungen vorlegen, und Miriam Seidler gibt in ihrer Dissertation einen Überblick über Figurenmodelle alter weiblicher Figuren in der Gegenwartsliteratur.7 Daneben steht eine Reihe von Aufsätzen, die entweder Einzelaspekte beschreiben oder grobe Überblicke präsentieren: Unter anderem geht es darin um Stigmatisierungen durch das Alter,8 um die Unmöglichkeit für alte Frauen, vom vorgezeichneten Weg abzuweichen,9 um Großelternschaft und intergenerationelle Problem-

4

Vgl. Thomas Küpper: Das inszenierte Alter. Seniorität als literarisches

5

Vgl. Hans Georg Pott: Eigensinn des Alters. Literarische Erkundungen,

6

Vgl. Hannelore Schlaffer: Das Alter. Ein Traum von Jugend, Frankfurt

7

Vgl. Miriam Seidler: Figurenmodelle des Alters in der deutschsprachigen

8

Vgl. Jürgen Hohmeier: Alter als Stigma, in: Ders. Hans-Joachim Pohl

Programm von 1750 bis 1850, Würzburg 2004. München 2008. a.M. 2003. Gegenwartsliteratur, Tübingen 2009. (Hg): Alter als Stigma oder wie man alt gemacht wird, Frankfurt a.M. 1978, S. 10-30. 9

Vgl. Marlene Kuch: Die Zukunft gehört den Rebellinnen. Die neuen alten Frauen bei Noelle Chatelet, Claude Pujade-Renaud und Teresa Pamies, in: Heike Hartung (Hg): Alter und Geschlecht. Repräsentationen, Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld 2005, S. 211-233.

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kreise,10 um Materialisierungen des Alters in der bildenden Kunst11 und die Topoi des Alters.12 Die Untersuchungen von Miriam Haller analysieren Altersdarstellungen der Gegenwartsliteratur unter dem Gesichtspunkt der zugrunde liegenden kulturellen Deutungsmuster.13 Neuere Untersuchungen berichten zunehmend über demente und pflegebedürftige alte Figuren in der Literatur: In dem Band »Merkwürdige Alte«, herausgegeben von Henriette Herwig,14 geht es neben der Darstellung von Demenz auch um den historischen Wandel von Figurentypen des Alters. In ihrem einleitenden Aufsatz »Für eine neue Kultur der Integration des Alters« verbindet Herwig einen kulturwissenschaft-

10 Vgl. François Höpflinger: Enkelkinder und Großeltern – die Sicht beider Generationen. Historische Entwicklung der Bilder zu Großelternschaft, in: Helmut Bachmaier (Hg): Der neue Generationenvertrag, Göttingen 2005, S. 77-96. 11 Vgl. Andrea von Hülsen-Esch: Falten, Sehnen, Knochen: Zur Materialisierung des Alters in der Kunst um 1500, in: Henriette Herwig (Hg): Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin, Freiburg i. Br. 2009, S. 13-43. 12 Vgl. Kathrin Liess: Der Glanz der Alten ist ihr graues Haar. Zur Altertopik in der alttestamentlichen und apokryphen Weisheitsliteratur, in: Dorothee Elm u. a. (Hg): Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin 2009, S. 137-164. 13 Vgl. Miriam Haller: Unwürdige Greisinnen. Ageing trouble im literarischen Text, in: Heike Hartung (Hg.): Alter und Geschlecht, Bielefeld 2005, S. 45-63. 14 Vgl. Henriette Herwig (Hg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s, Bielefeld 2014. Besonders interessant für meine Forschung ist darin der Aufsatz von Sonja Klein: »Endspiele oder Altern als Lebensform. Zu einem literarischen Motiv des Fin de Siècle«, S. 311-324. Sie untersucht die Altersrepräsentationen in Keyserlings Romanen und Erzählungen und kommt zu dem Schluss, dass Alter und Tod zu Beginn des 20. Jahrhunderts weniger als die Gegner des Lebens, denn als dessen Sinn gesehen wurden.

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lichen mit einem sozialwissenschaftlichen Überblick über den Stand der Forschung. Das Alter gehört zu den biologischen Grundbedingungen des menschlichen Lebens. Als Lebenszeit und als Lebensphase strukturiert es »unser tägliches Leben wie auch unsere biographischen Perspektiven«, als gesellschaftliches Ordnungsmuster ist es mit sozialen Erwartungen verbunden und kulturellen Werturteilen unterworfen. Deshalb muss es auch als soziales und kulturelles Konstrukt verstanden werden.15

Herwig warnt vor »dichotome(n) Kontrastierungen wie aktiv versus passiv, autonom versus abhängig, normal versus pathologisch«.16 Vor allem vor dem Hintergrund der steigenden Zahl von psychischen Erkrankungen in der Phase der Hochaltrigkeit gelte es, Stereotypen abzubauen und individuelles Altern zuzulassen. Die Autorin spricht in diesem Zusammenhang von den »paradoxen Altersbildern« der Kunst, die entlastend sein könnten für die Alterswirklichkeit. Die Forderung nach paradoxen Altersbildern [...] hat die Kunst längst erfüllt, sie finden sich in zeitgenössischen Biographien, Lebenszeugnissen, Theaterstücken, Bildern, Filmen und Romanen. Mit ihren individuellen Lebensgeschichten und ihrer bildlichen Zeichensprache leisten diese Texte, Bilder und Filme, was hier eingeklagt wird: ein Aufbrechen dichotomischer Begriffe von »jung« und »alt«, »gesund« und »krank«, »autonom« und »heteronom«, den Wechsel der Perspektiven und Urteile.17

In Ergänzung zur interdisziplinären Alterswissenschaft könnte eine epochenübergreifende Literaturgeschichte des Alters geschrieben werden.

15 Henriette Herwig: Für eine neue Kultur der Integration des Alters, in: Ebd., S. 7-33, hier: S. 7. 16 Ebd., S. 16. 17 Ebd., S. 16.

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In einer umfassenderen Studie wäre nach gattungsspezifischen Charakteristika der Darstellung des Alters in der Modernen Literatur und nach einer eventuellen chronologischen Entwicklung in der Behandlung dieser Thematik zu fragen.18 Sobald die historischen Dimensionen des Alters in den Blick genommen werden, tritt die Genderproblematik in den Vordergrund. In unserer westlichen kulturellen Tradition ist die Vorstellung von Alter als Reife oder Last eine geschlechterdifferenzierte. Dem weisen alten Mann steht die lüsterne alte Frau gegenüber. Seit der Antike werden die alten Frauenfiguren in Kunst und Literatur oft abstoßend hässlich und von Grund auf böse dargestellt. Die Figurenmodelle der Hexen und Kupplerinnen gibt es in der deutschen Literatur seit dem Mittelalter. Auch das Geschlecht ist den Frauenfiguren schon abgesprochen worden, wie Nikola Roßbach in ihrer Studie »Der böse Frau« von 2009 feststellt.19 Aus wissens- und geschlechterhistorischer Perspektive untersucht die Autorin die »Malus Mulier-Gruppe«, eine Reihe von satirischen Ehetexten über die Figur des bösen Frau, die vom Anfang des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts erschienen. Nachfolgend sei ein Beispiel zitiert: Woraus ich denn dieses gewiß und unfehlbar prognosticire, daß weil die Weiber unersätlich und immer mehr und mehr Gewalt mit der Zeit zu sich reissen/ dieses daraus erfolgen werde/ daß sie nicht allein das Regiment im Hause/ sondern auch auf dem Rahthause sich werden anmassen. Ja sie werden künfftig Hosen anziehn/ Degen anhängen und so gar wieder den Feind zu Felde ziehen/ die Männer hingegen zum kochen/ Windeln waschen/ Kinder wiegen/ spinnen und dergleichen Geschäffte verweisen. Aber voevestris natibus alsdenn/ ihr ar-

18 Claudia Deniers: Die Darstellung des Alters im Werk T.S. Eliots. Ein literaturwissenschaftlicher Beitrag zur Gerontologie, Frankfurt a.M. 1993, S. 169. 19 Vgl. Nikola Roßbach: Der böse Frau. Wissenspoetik und Geschlecht in der Frühen Neuzeit, Sulzbach 2009.

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men Männer! Ich vor meine Person/ will mich/ wenn solches geschiehet ins Kloster begeben/ damit ich nur das Elend nicht ansehen dürffe.20

Mit der feministischen Literaturbetrachtung setzt die geschlechtsspezifische Forschung zum weiblichen Alter ein. Die australische Feministin Germaine Greer21 und die Amerikanerin Betty Friedan22 veröffentlichen ihre Bücher über weibliches Alter und Wechseljahre. Auch der erste literaturtheoretische Beitrag zu diesen Themen kommt aus den USA: Anne M. Wyatt-Brown und Janice Rossen geben im Jahr 1993 den Band »Aging and Gender in Literature«23 heraus. Marylin Pearsalls Sammelband »The Other Within Us«24 von 1997 wird als feministischer Beitrag zur Gerontologie gesehen, der überkommene Stereotypen wie erfolgreiches oder misslungenes Alter(n) aus Simone de Beauvoirs »Le Deuxieme Sexe«25 und »La Vieillesse«26 hinterfragt. Besonders wichtig für die wachsende Bedeutung des weiblichen Alters im kulturwissenschaftlich geprägten gerontologischen Diskurs ist der von Kathleen Woodward herausgegebene Sammelband »Figuring Age. Women, bodies, generations«27 aus dem Jahr 1999, in dem deutlich

20 Ebd., S. 7. 21 Vgl. Germaine Greer: Der weibliche Eunuch. Aufruf zur Befreiung der Frau, übers. v. Marianne Donnermuth, Frankfurt a.M. 1971. 22 Vgl. Betty Friedan: The feminine mystique, New York 1963. 23 Vgl. Anne M. Wyatt-Brown, Janice Rossen (Hg): Aging and Gender in Literature: Studies in Creativity (Feminist Issues), Charlottesville/London 1993. 24 Marilyn Pearsall (Hg): The other within us: feminist explorations of women and aging, Boulder/Colorado 1997. 25 Vgl. Simone de Beauvoir: Le deuxieme sexe. Les faits et les mythes, Paris 1949. 26 Vgl. Simone de Beauvoir: Das Alter, Essay, übers. v. Anjuta AignerDünnwald und Ruth Henry, Reinbek bei Hamburg 2004. 27 Vgl. Kathleen M. Woodward (Hg): Figuring Age. Women, bodies, generations, Bloomington/Indiana 1999.

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wird, dass auch der Feminismus Anteil an gerontophoben Tendenzen und Altersdiskriminierungen hat. Auch am Beginn des 21. Jahrhunderts ist der gesellschaftliche Diskurs über Weiblichkeit immer noch bestimmt von Kategorien wie Schönheit, Attraktivität, erotische Ausstrahlung und sexuelle Aktivität. Dabei fällt die alte Frau durch das Raster. Indem die Literatur diese Stereotypen hinterfragt, schafft sie die notwendigen Voraussetzungen, Diskriminierungen des weiblichen Alters zu eliminieren, was für die deutsche wie für die russische Literatur gleichermaßen gilt. In den deutschen slavistischen Instituten existieren nur ganz vereinzelt Forschungsprojekte zum weiblichen Alter in den slavischen Literaturen. Seit April 2015 gibt es an der Universität Potsdam im Fachbereich Slavistik ein Projekt mit dem Titel: »Das Dorf als Imaginationsraum und Experimentierfeld im östlichen Europa«. Bisher fehlen die Angaben darüber, inwieweit auch die alte Frau im Dorf ein Untersuchungsgegenstand sein wird. Vermutlich wird dies der Fall sein, denn die alte Frauenfigur gilt jahrhundertelang in Russland als Repräsentantin des dörflichen Lebens.28 Dank der Forschungstätigkeit von Elisabeth Cheauré existieren an der Universität Freiburg schon etliche Jahre slavistische Projekte zur Genderforschung.29 Unter Cheaurés Leitung wird im dortigen Slavischen Seminar die wissenschaftliche Spezialsammlung »Frauen und Frauenbild in der russischen Kultur« aufgebaut, welche aus einer Präsenzbibliothek und einer Datenbank besteht. Da die Sammlung einem kulturwissenschaftlichen Ansatz folgt, wird auch der soziohistorische Kontext des Themas berücksichtigt. Ein zweites Projekt von Elisabeth Cheauré beschäftigt sich mit der Übersetzung von Texten aus dem Be-

28 Am Schluss dieser Arbeit geht es um die Literatur der Wendezeit in Deutschland und Russland, wo die Figur der alten Dorffrau auch zu Sowjetzeiten immer noch eine große Rolle spielt. 29 Vgl. Slavisches Seminar Universität Freiburg. Online verfügbar unter: http://www.slavistik.uni-freiburg.de/forschung/altprojekte/projekte-bis2010/litspez [zuletzt abgerufen am 13.5.2016].

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reich der Gender Studies ins Russische: »Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften am Beispiel Russlands«. Das neueste Forschungsvorhaben zur Genderproblematik »Gender-Diskurse und nationale Identität in Russland. Historische Perspektiven und aktuelle Tendenzen« analysiert unterschiedliche Textsorten für drei Zeitabschnitte russischer Literatur: 1820-1880, die Epochenschwelle 19./20. Jahrhundert und die Epochenschwelle 20./21. Jahrhundert. Einen ausdrücklichen Bezug zur Altersthematik stellen die Freiburger Forschungen allerdings nicht her. Literaturwissenschaftliche Arbeiten zum Alter und Altwerden von Frauen gibt es am »Institut für Slawistik« der Universität Graz. Dagmar Gramshammer-Hohl analysiert in ihrer Dissertation weibliche Alterskonzeptionen in der russischen Literatur aus der Zeit vor und nach Glasnost’ und Perestrojka.30 Am Schluss dieser Arbeit werde ich im Rahmen eines knappen Vergleichs russischer und deutscher Literatur zur Zeit des Mauerfalls darauf eingehen. Gramshammer-Hohls Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der russischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, der Altersforschung und der Gender Studies. In ihren Arbeiten erkennt sie einen engen Zusammenhang zwischen den weiblichen Erfahrungen von Exil und Heimatverlust und dem Erleben des Älterwerdens der Frauenfiguren. Fremdsein, und damit verbunden Selbstentfremdung, ist für Gramshammer-Hohl eine Erfahrung, die in den literarischen Texten in der Alteritätserfahrung des Alterns ihren Ausdruck findet. Ausgehend von diesen Forschungsergebnissen habe ich die von mir ausgewählten literarischen Texte als kulturelle Texte gelesen, als erfundene Lesarten von Altersrealitäten, welche rückbezüglich wiederum Auswirkungen auf die gelebte Erfahrung des Alters haben können. In den Reflexionen des weiblichen Alters, die die Texte hervorbringen, manifestieren sich herrschende Diskurse, in denen Alter und Geschlecht inszeniert werden. Der kulturwissenschaftliche Zugang er-

30 Vgl. Dagmar Gramshammer-Hohl: Repräsentationen weiblichen Alterns in der russischen Literatur, Hamburg 2014.

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möglicht das Sichtbarmachen des Wechselspiels von Kontinuität und Veränderung als identitätsstiftendes Merkmal für alte Frauen. Altern ist ein kontinuierlicher kreativer Prozess, der nicht starr an die Chronologie der Jahre gebunden ist, sondern eine Auseinandersetzung des Individuums mit sich verändernden Lebensumständen darstellt. Literarische Altersdarstellungen haben somit ihren Ursprung in gesellschaftlichen Alterswirklichkeiten. Daher gilt eine soziologische Studie als wichtiger Bezugspunkt für die literaturwissenschaftliche Altersforschung: »Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters« von Gerd Göckenjan31. Diese diskursanalytische Arbeit hinterfragt Altersthematisierungen im Hinblick auf grundlegende gesellschaftliche Probleme, die gemeint sind, wenn vordergründig über Alter gesprochen wird: »Was bedeutet die Rede über das Alter?«32 Der Autor betont den polarisierenden Charakter des Altersdiskurses, denn Alterskonzepte basierten auf Stereotypisierungen: gut vs. schlecht und richtig vs. falsch. Alter als soziales Konstrukt sei Teil jenes Diskurses, der das Phänomen »Alter« erst hervorbringe. Göckenjan unterscheidet zwischen Alterskonzepten und Altersbildern. Während die Alterskonzepte Vorstellungen und Wertungen ausdrückten, machten die Altersbilder die Kommunikation über das Alter oder die Alterskonzepte möglich. Alter ist ein generalisierender Terminus für komplexe Attributionen, die sich in Altersbildern oder Alterserwartungscodes verdichten und kommuniziert werden. Altersbilder sind Deutungen, Konzepte, die vor allem als Positiv- oder Negativvorbilder die sozialen Beziehungen orientieren und beeinflussen wollen.33

31 Vgl. Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters, Frankfurt a.M. 2000. 32 Ebd., S. 9. 33 Ebd., S. 24.

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Nach antikem Vorbild nennt Göckenjan vier verschiedene Diskursstrategien, die Qualitäten des Alters inszenieren: Altersschelte, Alterslob, Altersklage und Alterstrost. Die Literaturwissenschaftlerin Miriam Haller übernimmt diese Diskursstrategien für die Interpretation von Texten. Das Motiv des Alter(n)s schwankt in der Literatur auf einer Skala zwischen Verklärung und Verfall. Der Differenzskala des Motivs »Alter(n)« korrespondieren drei literarische Topoi oder Stereotype mit ihren spezifischen Schreibweisen, die sich bereits in der Antike finden: Alterslob, Altersklage und Altersspott.34

Göckenjan setzt Topoi und Diskursstrategien gleich und beschäftigt sich nicht ausdrücklich mit den Darstellungsformen. Demgegenüber kritisiert Simone de Beauvoir in ihrer umfangreichen Materialsammlung »Das Alter«35 die Altersdarstellungen in der Literatur, die ihrer Meinung nach durch laufende Wiederholungen »alte[r] Schablonen«36 gekennzeichnet seien. Dadurch wird ein Bildinventar generiert, das in Anlehnung an die antike Definition von Topoi immer wieder aufgegriffen wird. Trotz der enormen Heteronomie sowohl der Lebensphase Alter als auch der alten Menschen scheinen sich lediglich einige wenige Alterstopoi und ein minimalistisches Zeichenrepertoire zur Beschreibung alter Figuren herausgebildet zu haben.37

34 Miriam Haller: »Ageing trouble« Literarische Stereotype des Alter(n)s und Strategien ihrer performativen Neueinschreibung, in: InitiativForum Generationenvertrag (Hg.): Altern ist anders, Münster 2004, S. 170-188, hier: S. 176. 35 Vgl. de Beauvoir: Das Alter. 36 Ebd., S. 179. 37 Seidler: Figurenmodelle, S. 18.

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Das Ziel meiner Arbeit ist es, die konkrete Ausgestaltung alter weiblicher Figuren mit den von den literarischen Figuren vertretenen Vorstellungen von der Lebensphase Alter zu vergleichen. Da die Texte ein weites Feld von Alterskonzepten eröffnen, sind gesicherte Aussagen zur Altersproblematik und ihrer Darstellung möglich. Ein weiteres Ziel ist der Vergleich vergangener, kulturell differenter literarischer Konzepte des weiblichen Alters mit der Gegenwart, genauer mit der Zeit um und nach dem Mauerfall. Die Zeit nach der Jahrtausendwende ist nicht mehr berücksichtigt. Durch die Analyse deutschsprachiger und russischer Narrative aus dem späten 19. Jahrhundert und durch die genannten Gegenüberstellungen wird der kulturelle Wandel weiblicher Alterskonzeptionen erschlossen, so dass Aussagen über die Qualitäten weiblicher Identitätserfahrung im Alter gemacht und die implizierten Wertekriterien offengelegt werden können. Als Vergleichspunkt dient nicht nur der Kontrast von Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch die Differenz zwischen Männern und Frauen, zwischen sozialen Schichten und zwischen Deutschland und Russland, wobei in die deutschsprachige Literatur die Schweiz miteinbezogen ist, weil auch die Repräsentation einer alten Frauenfigur von Gottfried Keller analysiert wird. Mein Projekt umfasst eine Sammlung von elf Altersrepräsentationen aus acht Prosatexten. Die Autoren sind: Eduard v. Keyserling, Theodor Fontane, Gottfried Keller, Anton Čechov und Ivan Turgenev. Aus themenrelevanten Erzählungen und Romanen dieser Künstler habe ich weibliche Altersfiguren ausgewählt, die ich für die Fragestellungen dieser Arbeit als aussagekräftig erachte. Die Prosatexte bieten ein breites Spektrum von Diskursen und Erzählformen. Alte Frauenfiguren tauchen als Haupt- und Nebenfiguren auf und sie unterscheiden sich auf den ersten Blick sehr voneinander durch die große Vielfalt von gesellschaftlichen Positionierungen, Bildungsständen, familiären Konstellationen, sozialen Bindungen. Die Figurenmodelle der Witwe, Großmutter, Ehefrau und Mutter sind ebenso vertreten wie die Modelle der Geschäftsfrau, Dienerin, Jungfrau, Liebhaberin, Kupplerin, Betrogenen und Betrügerin. Aufgrund bestimmter soziologischer, psycholo-

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gischer und charakterlicher Konstellationen lassen sich diese Repräsentationen weiblichen Alters zu Figurenkategorien zusammenfassen, deren Mitglieder jeweils eigene Alterskonzepte vertreten. Über gesellschaftliche Zuordnungen hinaus weisen die Kategorien hin auf psychologische Konstanten bei der Darstellung alter Frauenfiguren: die Kategorien der abgeschobenen, schweigenden oder leisen alten Frauen und die der lauten alten Frauen, deren Stimmen gehört werden. Interessant wird es sein zu untersuchen, ob diese Kategorien auch in der zeitgenössischen Literatur noch eine Rolle spielen, und wenn ja, in welchen Varianten die Gruppierungen auftauchen. Auf diesen Vergleich werde ich im zweiten Teil dieser Arbeit eingehen und habe dazu Erzähltexte ausgesucht von Charlotte Wolff, Günter Grass, Natal’ja Baranskaja, Fridrich Gorenštejn, Bella Achmadulina, Tat’jana Tolstaja und Ljudmilla Ulickaja. In den literarischen Texten des späten 19. Jahrhunderts werde ich unter Einbezug der Erzähltheorie mit semiotisch-hermeneutischen Methoden die Merkmale untersuchen, die für Altersrepräsentationen eine Rolle spielen und in Altersbeschreibungen leitmotivisch auftauchen können: Zusammenhänge zwischen Identität und Erinnerung im weiblichen Alter, Wahrnehmung als Irrtum und Wirkmächtigkeit von Imaginationen, das Alter als relative Position, Diskrepanzen zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, Sexualisierung des Alters, Problematik der Mutterschaft im Alter, Norm und Abnorm in der Lebensgestaltung, Leben an der Grenze zum Tod und Leben am falschen Ort, Spiegelungen durch die Töchter im generationenübergreifenden Dialog. Der kulturwissenschaftliche Ansatz in der Literaturwissenschaft eröffnet einen von religiösen oder metaphysischen Kontexten unabhängigen Zugang zu den Fragen: Welche Wertvorstellungen gelten im weiblichen Alter und welche sollten in dieser Lebensphase gelten? Aus den Textanalysen ergeben sich vermutlich bestimmte Wertvorstellungen bzw. gesellschaftliche Normen, die ich im zweiten Teil dieser Arbeit mit unseren heutigen Vorstellungen vergleichen werde. Spielten unsere sogenannten »neuen« Werte wie Selbstverwirklichung und Ent-

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scheidungsfreiheit in der Literatur damals schon eine Rolle oder tauchen sie erst im Zuge feministischer Ideen auf? Und daran schließt sich die Frage an, inwieweit die »alten« Werte wie Ordnung, Pflichterfüllung und Sicherheit überhaupt von den literarischen Figuren gelebt wurden und ob sie am Ende des zweiten Jahrtausends noch präsent sind? Zu klären ist weiterhin das Problem, ob und inwieweit sprachliche Beschreibungsmechanismen bis heute ihre Gültigkeit bewahrt haben. Gab es bereits um 1900 eine Semantik des Alters und hat diese sich fortgesetzt? Alterskonzepte, sprich Vorstellungen, Bilder und Wertungen der alten Frau, sind Deutungsmuster an der Schnittstelle von individuellem und kollektivem Leben. Eine literaturwissenschaftliche Betrachtung bietet eine Menge Anreize, denn die Literatur besitzt eigene Erklärungs- und Deutungsmuster, die sich nicht unbedingt an gesellschaftlichen Mustern orientieren. Möglicherweise existiert heutzutage keine Lebensphase, in der die Menschen physisch und geistig so verschieden sind wie im Alter: Lebensgestaltungen, Lebensziele, gesundheitliche Verfassungen und Mobilitätsmöglichkeiten gibt es in großer Fülle, und das auch unabhängig vom Bildungsstand und materiellen Gegebenheiten. Die Textanalysen in dieser Arbeit überprüfen, inwieweit dieser Befund auch in der Vergangenheit tauglich war. Denn in der Literatur unterliegen Altersthematisierungen einem historischen Wandel, welcher sich durch eine Kombination von narratologischer Analyse der Figurenzeichnung und inhaltlicher Untersuchung von Altersvorstellungen bestimmen lässt. Dabei spielen die Präsentationen der erzählten Geschichten im discours eine große Rolle, um zu Ergebnissen bezüglich der Alterskonzepte zu kommen: Erzähltheoretische Aspekte wie Modus, Zeit und Stimme werden untersucht und verglichen. Ausgehend von den genannten Beschreibungsmerkmalen wird die Analyse sich mit den unterschiedlichen Darstellungsformen des weiblichen Alters beschäftigen. Der Erzählerkommentar oder Erzählerblick kann zuverlässig sein oder auch unzuverlässig, wenn die Stilmittel der Ironisierung und Komisierung angewendet werden. Daher spielt die Fokalisierung des Erzählens eine bedeutende Rolle, da hier der Stand-

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punkt einer Figur der Erzählung bzw. des heterodiegetischen Erzählers zum Ausdruck kommt. Handelt es sich bei der fokalisierten Figur um eine alte Figur, so wird der Leser andere Kontextualisierungen vornehmen als bei jungen Figuren.38 Die Dichotomie von alten und jungen Figuren bedingt unterschiedliche Akzente in der Sprache, unterschiedliche Bewertungen des Körpers und nicht minder die unterschiedliche Wahrnehmung von Gefühlen. Dies betrifft beispielsweise den Aspekt der Zeitwahrnehmung. Aufgrund ihrer größeren Lebenserfahrung ebenso durch die kürzere Lebenserwartung nehmen alte Figuren das Vergehen der Zeit auf andere Art und Weise wahr, als dies bei jüngeren der Fall ist.39

Seidler weist auf die Doppelposition der alten Figur hin: Da sie ja auch jung war, kann sie die Perspektive der Jungen einnehmen, während ihr Alter eine ganz eigene Perspektive anbietet. Damit nehmen sie eine Außenseiterposition ein, von der aus sie einen andern Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung haben als die Generation, die im Zentrum der Entwicklung steht und die Geschicke der Gesellschaft lenkt. Damit eignen sich alte Figuren sehr gut für gesellschaftskritische Positionen und haben aufgrund ihres Alters eine gewisse Narrenfreiheit.40

Je nach Perspektive werden die Außenseiterinnen unter den Frauenfiguren integriert oder ausgeschlossen.41 Vom Standpunkt der Wahr-

38 Seidler: Figurenmodelle, S. 51. 39 Ebd., S. 52. 40 Ebd., S. 52. 41 Vgl. Pott: Eigensinn des Alters, S. 136-151; Bertolt Brecht: Die unwürdige Greisin, in: Ders.: Kalendergeschichten, mit einem Nachwort von Jan Knopf, Frankfurt a.M. 2001, S. 111-117; Hedwig Dohm: Werde, die du bist, Neunkirch 1988.

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nehmung hängt es ab, ob die alten Frauenfiguren, die im Fokus dieser Studie stehen, in ihren Familien eine wichtige oder eine unwichtige Rolle spielen oder ob sie als bedeutend oder unbedeutend wahrgenommen werden und wie sich selbst wahrnehmen. Da Alterskonzepte nicht an einen bestimmten literarischen Text gebunden sind, sondern an die im Text vorkommenden Figuren, können zwei oder mehr Figuren in einem Text völlig konträre Konzepte vertreten. Für das Alterskonzept eines Textes nennt die Forschungsliteratur drei Ebenen von Bedeutung: • •



die Einstellung einer Figur zum Alter, die sich aufgrund ihres Wissensstandes über das eigene Alter und das anderer Figuren ergibt; die psychologische Disposition der Figur. Kranke oder depressive Figuren werden eher dazu neigen, das Alter negativ zu beschreiben, als Figuren, die selbstbewusst sind; die Werte und Normen, die von einer Figur vertreten werden.42

Die Textanalysen werden zeigen, wie variantenreich diese Ebenen akzentuiert und vermischt werden können. Damit entziehen sich die literarischen Konzepte des weiblichen Alters jeder pauschalisierten Einordnung in vorgefertigte Altersschemata.43

42 Seidler: Figurenmodelle, S. 60. 43 Vgl. Herwig: Für eine neue Kultur der Integration des Alters, in: Herwig (Hg): Merkwürdige Alte, S. 7-33. Henriette Herwig betont in ihrem einleitenden Aufsatz die Bedeutung von paradoxen Altersbildern in der Kunst. Denn diese öffnen die Augen des Betrachters auch für die Paradoxien der Alterswirklichkeit.

2.

Untersuchungsgegenstand und Textauswahl

2.1 W EIBLICHE ALTERSIDENTITÄT IN DER G ESELLSCHAFT UND WEIBLICHE F IGUREN IM LITERARISCHEN T EXT Le male n’est male qu’en certains instants, la femelle est femelle toute sa vie ou au moins toute sa jeunesse.1

Die Altersstruktur unserer heutigen Gesellschaft ist von mindestens drei Effekten beeinflusst: der stark gestiegenen Lebenserwartung insgesamt, der unterschiedlichen Lebenserwartung von Männern und Frauen und den Auswirkungen zweier Weltkriege. Im Jahr 2000 waren bereits 21,8% unserer Gesamtbevölkerung über sechzig Jahre alt; im Jahr 2030 wird ihr Anteil über ein Drittel betragen. Untersuchungen haben gezeigt, dass in den letzten Jahrzehnten eine subjektive »Verjüngung des Alters«2 stattgefunden hat. Ein positiver Effekt davon ist, dass alte

1

Jean-Jacques Rousseau: Emile ou de l’education, Paris 1966, S. 470.

2

Hans Peter Tews: Neue und alte Aspekte des Strukturwandels des Alters, in: Gerhard Naegele, Ders. (Hg): Lebenslagen im Strukturwandel des Alters. Alternde Gesellschaft – Folgen für die Politik, Opladen 1993, S. 1542, hier: S. 15.

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Menschen sich als jünger einschätzen und damit die Lebensphase Alter mit mehr Elan und Lebensfreude angehen als früher; sie verfügen schließlich über viel mehr Alterszeit als noch ihre Eltern. Die negative Konsequenz daraus lautet, dass immer »jüngere« Arbeitslose aus Altersgründen nicht mehr eingestellt werden. Mit der Feminisierung des Alters3 werden die Ungleichgewichte in der Geschlechterverteilung des Alters bezeichnet. Die heutige Altersgesellschaft besteht bei den über Sechzigjährigen zu zwei Dritteln aus Frauen, bei den über Fünfundsiebzigjährigen sogar zu drei Vierteln.4 Die Veränderungen im Familienstand der höheren Altersgruppen haben Singularisierungen zur Folge. Insgesamt nehmen mit steigendem Lebensalter der Anteil Alleinstehender und die Anzahl der Einpersonenhaushalte zu. Doch auch hier unterscheiden sich die Geschlechter: Der überwiegende Teil älterer Männer ist verheiratet, während der größte Teil der Frauen verwitwet oder geschieden lebt. Immer bedeutsamer wird die nicht eheliche Lebensgemeinschaft im Alter. Im Jahre 2005 lebten 14,5% der sechzigbis fünfundsiebzigjährigen Männer unverheiratet mit einer Partnerin zusammen, hingegen nur 5,3% der gleichaltrigen Frauen mit einem Lebenspartner. Die Abkehr vom kalendarischen Alter zum funktionalen Alter sowie die zunehmende Individualisierung von Lebensformen bedingen eine »neue Unübersichtlichkeit«5, die eine Abgrenzung von Alter als soziologischem Strukturmerkmal erschwert. Sinnvoller erscheint es

3

Der Begriff hebt hervor, dass Frauen stärker von Altersarmut und Pflegenotstand betroffen sind als Männer. Er zeigt aber auch, dass Männer sich im Alter »feminisieren«, wenn sie beispielsweise Haus- und Pflegearbeiten übernehmen.

4

Vgl. Hans Peter Tews: Von der Pyramide zum Pilz. Demographische Veränderungen der Gesellschaft, in: Annette Niederfranke u. a. (Hg): Funkkolleg Altern, 2. Lebenslagen und Lebenswelten, soziale Sicherung und Altenpolitik, Opladen 1999, S. 137-185, hier: S. 148.

5

Vgl. Jürgen Habermas: Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften, Frankfurt a.M. 1985.

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den Soziologen heute, im Alter Lebenslagen zu differenzieren, und zwar nach Wohlstand und Armut, Gesundheit und Erkrankung, gesellschaftlicher Partizipation und Isolation, Generationsbeziehungen und gesellschaftlichen Netzwerken. Armut schränkt die zentralen materiellen Handlungsspielräume ein: Reisen, alltäglichen Konsum, Wohnen, Bildung, kulturelle Aktivitäten und das Beschenken der Enkel und Urenkel. Der subjektive und der objektive Gesundheitszustand stehen in immer geringerem Zusammenhang. Lebenszufriedenheit im Alter wird als Stärke angesehen, denn sie manifestiert sich in der Fähigkeit, sich durch selbstbezogene Regulationsprozesse den Lebensumständen anzupassen; und es bieten sich viele Möglichkeiten, das Alter zu gestalten. Dadurch kommt es zu hohen Zufriedenheitswerten, obgleich sich die Ressourcen dafür objektiv verringern. Alle für die Lebenslage Alter wichtigen subjektiven Ziele werden an die objektiven Gegebenheiten angepasst und relativiert. Inzwischen gibt es bereits die Vision einer altersintegrierten Gesellschaft. Darin ziehen sich die Bereiche Ausbildung, bisher in der Jugend angesiedelt, Erwerbstätigkeit, heutzutage das Erwachsenenleben bestimmend, und Freizeit, wie es die Alten leben, durch den gesamten Lebenslauf. In der Partnerschaft alter Menschen ergeben sich Handlungsspielräume in objektiver und subjektiver Hinsicht aus den materiellen, gesundheitlichen, emotionalen und interessenbezogenen Lebensbedingungen. Ein besonderes Merkmal gegenüber früheren Zeiten ist die vertikalisierte Familienstruktur. Im vorigen Jahrhundert lebten weniger Generationen gleichzeitig, dafür gab es in jeder Generation viele Geschwister, Vettern und Kusinen als nahe horizontale Familie. Daraus ist die entfernte und schmale vertikalisierte Struktur geworden, die viele unterschiedliche Werte und Normen vereinigt, denn bis zu vier Generationen leben gleichzeitig. Auch diese soziologischen Erkenntnisse unserer Zeit sind Bezugspunkte für das aktuelle Verständnis der analysierten Alterskonzepte von damals. Die Sicht auf einzelne Lebensalter als Auf- und Abstieg auf der »Lebenstreppe« hat sich im Lauf der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts geändert, nachdem sich Kindheit und Jugend als Vorberei-

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tungsphasen zum Erwachsenenleben entwickelt und der Ruhestand sich aufgrund sozialstaatlicher Innovationen etabliert hatten. Alter war jetzt eine eigenständige Lebensphase, und die Alten wurden zur soziokulturell bestimmbaren Gruppe mit vergleichbaren Merkmalen, was historisch gesehen ein Ergebnis der Industrialisierung ist. Zuvor »erscheint das Alter als biologischer Prozess, als stufenweise erfolgender Verlust der körperlichen und geistigen Kräfte bis hin zum völligen Verfall und schließlich zum Tod«.6 Durch ihre wachsende Zahl werden alte Menschen als soziale Gruppe mit eigenen Normen und Werten seit Beginn des 20. Jahrhunderts gesellschaftlich relevant und das Alter ist von dieser Zeit an ein Strukturmerkmal der Gesellschaft. Abgegrenzt werden Lebensphasen aus soziologischer Sicht durch die Übernahme bestimmter Rollenverpflichtungen, Veränderungen im Selbstkonzept und in den Identitätsvorstellungen. Mittlerweile hat sich diese Sichtweise von Lebensphasen und Alter als abgegrenzte soziale Gruppen teilweise überlebt und wurde durch die prozessuale Sichtweise der biographischen Bedingtheit des Lebenslaufs ergänzt. Alter ist somit die letzte Phase des Durchlaufens einer Sozialstruktur, die zuvor durch Herkunft und Bildungssystem geprägt wurde: »Die Pfade des Alterns sind vom finanziellen und kulturellen Aufwand abhängig und durch diesen gestaltbar.«7 Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war Alter in Deutschland weder quantitativ noch qualitativ ein gesellschaftliches oder soziales Problem. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bis 1870/80 bei siebenunddreißig Jahren und stieg erst ab Beginn des 20. Jahrhunderts kontinuierlich an. Alter trat also vereinzelt auf und war noch kein Bestandteil kollektiver Lebenserfahrungen. Familiäre oder öffentliche Hilfen waren individuelle Möglichkeiten, Notlagen zu bewältigen.

6

Gertrud M. Backes, Wolfgang Clemens: Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung, Weinheim/München 32008, S. 23.

7

Ebd., S. 14.

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Entsprechend vielfältig stellten sich die Lebensläufe im Alter dar. Den unterschiedlichen körperlichen, geistigen und materiellen Möglichkeiten gemäß gab es eine breite Palette von Sozialformen im Alter und verschiedene Lebensformen bei gleichem kalendarischem Alter. Neben den regionalen Unterscheidungen tauchten Unterschiede in den sozialen Schichten sowie in den situativen Bedingungen von Stadt und Land auf. Dementsprechend bildeten sich in der Literatur die unterschiedlichen Alterskonzepte. Setzen sich die Altersrepräsentationen aus einem Set von Merkmalen zusammen, die [...] überhistorisch sind und erst durch ihre spezifische Kombination und durch literarische Erzählstrategien ihre besondere Ausrichtung erhalten, so sind die Alterskonzepte auf der Ebene der histoire zu verorten. Alterskonzepte lassen sich daher nicht auf ein überhistorisches Repertoire zurückführen. Alterskonzepte sind zwischen zwei Polen anzusiedeln. Auf der einen Seite steht die Defizittheorie, die Alter in Anlehnung an einen biologischen Altersbegriff als Verfallsprozess begreift. [...] Das andere Extrem wurde in den sogenannten Aktivitätstheorien formuliert. Diese gehen davon aus, dass alte Menschen Störungen, die mit dem Alter verbunden sind, bewältigen können und damit Lebenszufriedenheit auch im Alter erreichbar ist.8

Alterskonzepte umfassen demnach Bilder des Alters und des Alterns. Nach Göckenjan sind Altersbilder Kommunikationskonzepte, die als Idee, als Deutungsmuster die Sichtweise des Alters prägen.9 Demnach basieren die gesellschaftlichen Quellen der Altersbilder auf den individuellen Äußerungen über das Altern. Während die gesellschaftliche Vermittlung von Bildern über das Alter heute über Medien und Werbung geschieht, erfolgte sie früher über Sagen und Märchen, über Epen und Geschichten und nicht zuletzt über die mündlichen Überlieferungen in den Familien.

8

Seidler: Figurenmodelle, S. 58-59.

9

Vgl. Göckenjan: Das Alter würdigen, S. 9-10.

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Zunächst geht es in dieser Arbeit um die individuelle weibliche Identität und nicht um regionale oder nationale Identitäten. Darüber hinaus wird in der vorliegenden Arbeit die These vertreten, dass die gezeigten literarischen Entwürfe nicht nur als individuelle Auseinandersetzungen mit dem Thema der weiblichen Altersidentität gesehen werden, sondern auch im Kontext einer Diskussion um regionale und nationale Zugehörigkeit gelesen und verstanden werden können, wobei der Literatur bei der Schaffung kultureller Identität eine maßgebliche Rolle zugeschrieben wird. Altern als Wandlungsprozess wird bei weiblichen Figuren meist negativ als Verfall und Verlust körperlicher Attraktivität und Fruchtbarkeit interpretiert.10 Die Entfaltung in der Zeit wird willkürlich begrenzt, indem das weibliche Leben jenseits bestimmter Altersschwellen als weitgehend wertlos gedeutet wird. Wenn über Frauen jenseits der Menopause gesprochen wird, geht es in der Regel um Depressionen, Haarausfall, Gewichtszunahme, Rückbildungserscheinungen am Genitale und an den Brüsten, Blasenschwäche und Osteoporose. Veränderungen im positiven Sinn wie die Zunahme an Reife und Weisheit, wie sie die Männer für sich und ihre literarischen Figuren in Anspruch nehmen, werden den Frauen eher selten zugeschrieben. Diese Asymmetrie verschwindet in der zeitgenössischen Literatur zunehmend, weil immer mehr Frauen schreibend, kommentierend und lesend das Spektrum der literarischen Repräsentationsformen weiblicher Erfahrung erweitern. Das menschliche Ich ist immer Identität im Wandel. Unter einem sozialpsychologischen Identitätsbegriff ist ein sich ständig verändernder Prozess zu verstehen, der als Produkt der Interaktion zwischen Individuum und Gesellschaft zu sehen ist. Mit der Problematik der IchIdentität beschäftigt sich die neuere soziologische Forschung seit den

10 Vgl. Roberta Maierhofer: Salty Old Women. Eine anokritische Untersuchung zu Frauen, Alter und Identität in der amerikanischen Literatur, Essen 2003.

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sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts.11 Die Soziologie geht der Frage nach, wie eine Person die große Zahl von Rollen, die ihr zugemutet werden, zu einem konsistenten Ich zusammenführen kann, und sie beschäftigt sich mit den Problemen, die entstehen, wenn sich die Person in pathogener Weise zu einem rollengemäßen Verhalten verpflichtet sieht.12 Neben der Ich-Identität existiert auch die soziale Identität, was verständlich wird, wenn Identität als reflexive Fähigkeit eines Subjekts, sich zu sich selbst wie zu einem anderen zu verhalten, verstanden wird. Soziales Handeln kommt dann zustande, wenn interagierende Partner die Einstellung des jeweils anderen antizipieren und sich selbst aus dessen Perspektive wahrnehmen. Nach Maßgabe der in Rollen institutionalisierten Erwartungen wird dem Individuum eine »soziale Id.« angesonnen. Im Begriff »personale Identität« ist für Goffman die Unverwechselbarkeit des Individuums gemeint. Sie ergibt sich zunächst aus der organischen Einmaligkeit jeder Person, sodann aus der je einmaligen Kombination lebensgeschichtlicher Daten. Weiterhin bezeichnet »personale Id.« schlicht das Objekt von moralischer und rechtlicher Zurechnung. –

11 Die grundlegenden Werke zur Ich-Identität stammen von Erikson, Mead, Strauss, Goffman und Habermas. Siehe Erik Homburger Erikson: Identität und Lebenszyklus, Zürich 1970; George Herbert Mead: Mind, Self and Society: From the Standpoint of a Social Behaviorist (= Works of George Herbert Mead, Vol. 1), Chicago 1965; Anselm Strauss: Spiegel und Masken. Die Suche nach Identität, Frankfurt a.M. 1968; Erving Goffman: Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity, New York/ London/Toronto 1967; Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a.M. 1969; Ders.: Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik, in: Rüdiger Bubner, Konrad Cramer, Reiner Wiehl (Hg.): Festschrift für H.-G. Gadamer, Tübingen 1970, S. 73-103. 12 Hier geht es um pathologische Befunde, etwa um Schizophrenien und andere psychische Erkrankungen.

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Diesen beiden Id. stellt Goffman die nur vom Subjekt selbst erfahrbare I.-Id. gegenüber.13

Repressive Institutionen, wie beispielsweise Zuchthäuser oder psychiatrische Kliniken, können eine Übereinstimmung von objektiv geltenden Normen und subjektiven Bedürfnissen erzwingen, was bedeutet, dass Ich-Identität in soziale Identität aufgelöst wird. Solche Transformationen von Identitäten können riskant sein, doch sind sie zum großen Teil institutionell präformiert, wie zum Beispiel die Abfolge »Auszubildender, Geselle, Meister«, was in der Forschung als stabiler Wandel von personaler Identität bezeichnet wird.14 Unter Gendergesichtspunkten betrachtet, scheint die Transformation in der Abfolge »Braut, Frau, Mutter« problematischer zu sein. Die folgenden Textanalysen werden zeigen, dass Identitätstransformationen im weiblichen Lebenslauf krisenanfällig sind. Die Frage, ob Identität optional oder prädeterminiert ist, lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen: Die Sokratiker sahen das Ich als absolutes Ideal an, das es zu entdecken galt, während die Sophisten das Ich in der Interaktion mit dem Anderen immer neu erfanden. In der literarischen Gestaltung der Neuzeit ist es eher die optionale Identität, die problematisiert wird; vielfach herrscht gegenüber einer Festlegung allerdings Rat- und Fassungslosigkeit vor. Die schwierigen Fragen zur Identitätsfindung, zur Auflösung und Aufspaltung von Identitäten besetzen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen wichtigen Platz in der Literatur. In seinem Katzengedicht formuliert T. S. Eliot15 die Schwierigkeit, Identität eindeutig zu bestimmen, indem er darauf hinweist, dass jede Katze eigentlich drei

13 Helmut Dubiel, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Basel 2007, S. 148-151, hier: S. 150. 14 Vgl. Strauss: Spiegel und Masken, S. 34. 15 T.S. Eliot: The naming of cats, in: Ders.: Old Opposums Book of Practical Cat, London 1937.

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Namen haben müsse: Der erste Name werde ihr vom Menschen gegeben, der nichts von den komplizierten Sozialstrukturen der Katzengesellschaft wisse, in der jeder Katze ein eigener Katzenname zustehe, ohne den sie in ihren Kreisen ein Nichts wäre. Den dritten Namen allerdings kenne nur die Katze selbst: Er fange ihr unabhängiges Wesen ein, ihre wahre Identität, die niemals zur Verhandlung stehe. Die deutsche Rezeption der in den USA entwickelten Konzepte von der Ich-Identität übernahm Jürgen Habermas, der zwischen der persönlichen und der sozialen Identität unterscheidet und erstere definiert als »eine symbolische Organisation des Ich, die universale Vorbildlichkeit beansprucht«.16 Die persönliche Identität äußert sich in der Einheit einer unverwechselbaren Lebensgeschichte und die soziale Identität in der Zugehörigkeit eines Individuums zu verschiedenen Gruppierungen, zu denen es in Beziehung steht. Die persönliche Identität ist ein hypothetisches, ein ideales Resultat der Persönlichkeitsentwicklung ohne die genauen Qualitäten des Ich-Zustandes. Wie sich vor allem in der Psychoanalyse, die den Hintergrund zahlreicher soziologischer und sozialpsychologischer Identitätstheorien bildet, zeigt, »stellt sich eine autonome Ich-Organisation keineswegs regelmäßig, etwa als Resultat naturwüchsiger Reifungsprozesse, ein, sie wird meistens verfehlt«.17 So dreht sich das gesamte Werk Max Frischs um diese Frage der Ich-Identität, und damit kreisen alle seine Figuren, wie Peter von Matt zu Frischs 100. Geburtstag treffend schreibt, um zwei Pole: »das Schlamassel und die Vollkommenheit«.18

16 Jürgen Habermas: Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt a.M. 1976, S. 64. 17 Ebd., S. 64. 18 Peter von Matt: Der Schrecken der Vollkommenheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (15.5.2011). Online verfügbar unter: http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/buecher/autoren/max-frisch-zum-hundertsten-derschrecken-der-vollkommenheit-1642874.html [zuletzt abgerufen am 16.4.2017].

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Als in »Andorra« alle den Jungen Andri für einen Juden halten und ihre antisemitischen Klischees auf ihn projizieren, zweifelt dieser schließlich an sich selbst und beginnt sich genau so klischeehaft zu verhalten, wie es von ihm erwartet wird. Auch die Soziologie setzt sich mit diesen Fragen auseinander, indem sie sich mit den Problemen beschäftigt, die entstehen, wenn sich die Person in pathogener Weise zu einem rollengemäßen Verhalten verpflichtet sieht. Und dass mit einem festen Bild vom andern jede Liebe zwischen den Menschen stirbt, davon sind Frisch wie auch Brecht überzeugt: »Was tun Sie«, wurde Herr K. gefragt, »wenn Sie einen Menschen lieben?« »Ich mache einen Entwurf von ihm«, sagte Herr K., »und sorge, dass er ihm ähnlich wird.« »Wer? Der Entwurf?« »Nein«, sagte Herr K., »der Mensch.«19

In indirekter Weise gab es bereits in der Literatur des 19. Jahrhundert eine Problematisierung von Identität. Einerseits besaß die Identität des Menschen einen symbolischen Wert. Andererseits wurde in den literarischen Texten implizit deutlich, wie sich Identitäten durch Rollen und Normen konstituieren. So haben die berühmten Frauenfiguren Effi Briest oder Anna Karenina große Probleme mit ihrer Ich-Identität, weil diese nicht mit der sozialen Identität in Einklang zu bringen ist, was letztlich zum frühen Tod der beiden Figuren führt.

19 Bertolt Brecht: Wenn Herr K. einen Menschen liebte, in: Ders.: Ausgewählte Werke in sechs Bänden (Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag), Bd. 5, Frankfurt a.M. 1997, Kalendergeschichten, S. 119-231, hier: S. 220.

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2.2 D IE

ALTEN F RAUENFIGUREN IN DER RUSSISCHEN UND DER DEUTSCHEN P ROSA AM E NDE DES 19. J AHRHUNDERTS UND DAS P ROBLEM DER I DENTITÄTSERFAHRUNG

Alter und Geschlecht sind biologische Fakten, gleichzeitig aber auch kulturell verfasste Kategorien und diskursive Praktiken, die Körpern Namen verleihen und ihnen dadurch bestimmte Seinsformen ermöglichen, während andere verworfen und ausgeschlossen werden. Zuschreibungen wie »alt« und »jung« oder »Mann« und »Frau« haben eine Geschichte und werden in verschiedenen historischen, kulturellen und sozialen Kontexten jeweils verschieden angewandt. Alter und Geschlecht sind demnach keine konstanten Begriffe, vielmehr erhalten sie ihre Bedeutung immer in spezifischen Zusammenhängen und Interaktionsstrukturen. Daher verhalten sie sich sehr ähnlich. In der Literatur sind zwei Arten der Darstellung weiblichen Alters zu unterscheiden. Es gibt einerseits die Repräsentationen des Altseins oder Altwerdens selbst und andererseits Altersbeschreibungen, in denen die Figur der alten Frau symbolische Funktion hat und damit auf etwas anderes als ihr Alter verweist. Die Erfahrung des Alterns wird erst in der jüngeren Literatur zum Thema, und zwar in zunehmendem Maße. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts überwogen die Werke, in denen es sich bei der Darstellung alter Frauen und Männer nicht um den Prozess des Alterns oder den Zustand des Altseins handelte. Die Alten waren in der Regel stark stereotypisiert gezeichnet. Ihre Persönlichkeiten und ihre Geschichte galten eigentlich nicht als erzählenswert, sie waren nicht spannend, motivierten nicht zum Weiterlesen und lieferten oft lediglich den Hintergrund für die Geschichten der Jungen. Alte Frauen haben es in der Literatur schwer, an Stereotypenbildungen vorbeizukommen. Wird die eine, beispielsweise die der »alten Jungfer« vermieden, geraten sie in die Fänge einer anderen, zum Beispiel die der »alten Kupplerin«. Verfügen sie über besondere Fähigkeiten, beispielsweise über naturheilkundli-

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ches Wissen, wird auch das wieder gegen sie verwendet, als Vorwurf, mit dem Teufel im Bunde, eine »Kräuterhexe« zu sein. Altersliebe, insbesondere von Frauen, ist Gegenstand der Satire, wenn nicht gar der Groteske. Individualisiert dargestellte und positiv bewertete alte Frauen tauchen erst in der Literatur der letzten zwei bis drei Jahrzehnte auf.20

Henriette Herwig zeigt mit ihren Textanalysen, dass bekannte Stereotypen auch in älteren Texten aufgebrochen werden können und dass sich jenseits der Stereotypenbildung neue, bisher unbekannte Frauenfiguren zeigen: Mutter Jeschke und Adelheid von Stechlin von Fontane21 oder die betrogene Rosalie von Tümmler von Thomas Mann.22 Auf den ersten Blick entspricht die alte Jeschke aus Fontanes Kriminalroman »Unterm Birnbaum« dem stereotypen Bild der alten Hexe, die als suspekte Außenseiterin am Dorfrand lebt. Alles an der Figur der Jeschke, das hohe Alter, der kritische Blick, die schwarzgelbe Katze, der Dialekt, der günstige Beobachtungsstandort vom Garten ihres kleinen, baufälligen Hauses aus, das Unberechenbare ihres plötzlichen Erscheinens [...] scheint zunächst das stereotype Bild der missgünstigen »alten Hexe« bestätigen zu wollen.23

Doch letztendlich erweist sich die Hexenrolle als Projektionsfläche der Dorfgemeinschaft, die die eigene Korrumpierbarkeit verdecken will.

20 Henriette Herwig: Alter(n) und Geschlecht in ausgewählter Prosa Theodor Fontanes, in: Andrea von Hülsen-Esch und Hiltrud WestermannAngerhausen (Hg.): Zum Sterben schön. Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute, Bd. 1, Regensburg 2006, S. 52. 21 Vgl. Ebd., S. 52-62. 22 Vgl. Henriette Herwig: »Ende und Anfang – man könnte sie verwechseln«. Thomas Manns letzte Novelle Die Betrogene im Vergleich zu Der Tod in Venedig, in: Herwig (Hg.): Alterskonzepte, S. 167-194. 23 Herwig: Alter(n) und Geschlecht in ausgewählter Prosa Theodor Fontanes, S. 53.

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Sie wird nicht nur von Hradschek, der Grund hat, sich vor ihr zu fürchten, sondern von der ganzen Dorfgemeinschaft dämonisiert, weil sie als einzige nicht von Gewinnsucht, Geld, Sozialprestige und Spiel korrumpiert ist.24 Im Romanfragment »Mathilde Möhring« ist Mutter Möhring im Gegensatz zu ihrer Tochter Mathilde eine alte Frau, die zu Weiterentwicklung und Selbstverwirklichung nicht fähig ist. »Obwohl keineswegs hinfällig, verharrt sie in völliger Passivität und kultiviert trotz der gesicherten Anstellung Mathildes ihre irrationalen Ängste.«25 Ihr chronologisches Alter verliert an Bedeutung gegenüber dem gesellschaftlichen Alter. Der Witwenstand brachte ihr einen Statusverlust ein, welcher sie zu einer alten Frau gemacht hat, lange bevor sie sechzig Jahre alt war. Diese Entwicklung boykottiert die ebenfalls verwitwete Tochter Mathilde, indem sie durch ihre Berufstätigkeit materielle Unabhängigkeit erlangt. Der Generationenvergleich weist auf ein zukünftiges neues Frauenbild hin: die unabhängige berufstätige Frau, die auch im Alter nicht mehr auf innerfamiliäre Versorgung angewiesen sein wird. Das letzte Beispiel aus Herwigs Aufsatz stammt aus Fontanes letztem Roman »Der Stechlin« (1898). Hier geht es weniger um das Aufbrechen von Stereotypen als um den geschlechtsspezifischen Ausgleich von Tradition und Innovation. Dass mit diesen Fragen auch immer Stereotypen überprüft werden, versteht sich von selbst. Stechlins sechsundsiebzigjährige Schwester Adelheid erfüllt die traditionellen Vorstellungen über ledige, starke adelige Frauen. Sie lebt abgeschieden als Domina von Kloster Wutz. Damit fällt die liberale Aufgeschlossenheit und Humanität auch hier mit der männlichen Position zusammen, während Verbohrtheit und Altersstarrsinn der weiblichen zugeschrieben werden. Allerdings zeigt sich in der Figur der Domi-

24 Ebd., S. 55. 25 Ebd., S. 58.

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na von Kloster Wutz aus heutiger Sicht auch das Dilemma der intelligenten und unabhängigen Frau, die ihre Position nur erlangen konnte, indem sie ihr Geschlecht verleugnet.26

Die Kontrastrelation zwischen den Geschwisterfiguren zeigt die Umbruchsituation, welcher der Adel ausgesetzt ist. Aus der Genderperspektive betrachtet ist die weibliche Position diejenige, die das humane Handeln verloren hat und damit kein zukunftsweisendes Lebenskonzept anbieten kann. Allerdings bleibt festzuhalten, dass die weibliche Position eigentlich eine geschlechtsneutrale ist, denn Weiblichkeit war bei den adeligen Entscheidungsträgerinnen eliminiert: Sie lebten als »starke[n] Regentinnen, Äbtissinnen, Mystikerinnen und hohe[n] Aristokratinnen«.27 In Henriette Herwigs Textanalysen alter Frauenfiguren Fontanes finden sich viele Anknüpfungspunkte an die in der vorliegenden Arbeit behandelten Textbeispiele, worauf ich an gegebener Stelle zurückkommen werde. Auch in Herwigs Aufsatz über Thomas Manns letzte Novelle »Die Betrogene«28 geht es um eine Neubewertung von Alterstopoi. Herwig vergleicht Manns Novellen »Der Tod in Venedig« und »Die Betrogene« in Bezug auf das Motiv der Altersgrenzen überschreitenden Liebe. Mit ihrer Textanalyse belegt die Autorin die These, dass Thomas Mann in der Novelle »Die Betrogene« die misogynen Alterstopoi nicht affirmiert, sondern eine Neubewertung weiblicher Sexualität, die nach 1900 mit der Vorstellung von der erotisch begehrenswerten Frau im Klimakterium vorgenommen wurde, in seinen Text übernimmt. Diesen Gedanken verbindet Thomas Mann in seiner letzten Novelle mit dem »vetula«-Topos und einem am Schluß brutal verworfenen Spiel mit der Möglichkeit erfüllter Altersliebe trotz großer Altersdifferenz auch bei der Frau. Auf

26 Ebd., S. 59-60. 27 Ebd., S. 52. 28 Herwig: Alterskonzepte, S. 167-194.

2. U NTERSUCHUNGSGEGENSTAND

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der einen Seite ironisiert er Rosalies verzerrte Selbstwahrnehmung, auf der anderen gibt er ihr gegen Aschenbach Recht.29

Thomas Mann lässt seine Protagonistin nicht in ihrer Verblendung sterben, sondern er lässt sie sich ihrer Selbsttäuschung noch vor dem Tod bewusst werden. »Sie hat ›das Finale‹ nicht verdorben, so beschränkt ihr Horizont zu Lebzeiten gewesen sein mag.«30 Die russischen alten Frauenfiguren verkörpern sehr häufig Tradition und Vergangenheit. Dabei kann das Vergangene, Überholte, das sie spiegeln, sowohl positiv als auch negativ besetzt sein. Wenn sich die Vergangenheit als verloren gegangenes Ideal darstellt, werden die alten Frauen als deren Vertreterinnen stark idealisiert. Doch gibt es ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben diesen guten echten Alten noch die »modernen« alten Frauen, die als böse und unecht geschildert werden. Diese Alten weisen die Veränderungen auf, die »Mütterchen Russland« durch die Europäisierung an sich erfahren hat. Eine wichtige Funktion alter Frauengestalten als Repräsentantinnen der Vergangenheit ist jene der Geschichtenerzählerin, die ihre über ein langes Leben gesammelten Erfahrungen an die Jugend weitergibt. Im 19. Jahrhundert gibt es zahlreiche »Rasskazy staruški« sowie »Babuškiny uroki«,31 in denen die vaterländische Geschichte aus dem Mund der Großmutter an die Enkel überliefert wird. Neben Repräsentationen der Vergangenheit spielen alte Frauenfiguren in der Gegen-

29 Ebd., S. 188. 30 Ebd., S. 190, vgl. hierzu Čechovs Erzählung Eine langweilige Geschichte, die zum Textkorpus dieser Arbeit gehört. Der Protagonist Nikolaj Stepanyč bemüht sich sehr, »das Finale nicht zu verderben«. (Anton Čechov: Eine langweilige Geschichte. Aus den Aufzeichnungen eines alten Mannes, in: Ders.: Eine langweilige Geschichte. Das Duell, hg. von Peter Urban, Zürich 1976, S. 7-82, hier S. 48; vgl. auch: Rüdiger Görner: Thomas Mann. Der Zauber des Letzten, Düsseldorf/Zürich 2005) 31 Übersetzt heißen diese Prosatexte: Erzählungen alter Frauen oder Greisinnen und Geschichten der Großmütter.

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überstellung von Heimat und Fremde eine große Rolle. Ein Beispiel hierfür findet sich in Ivan Turgenevs Erzählung »Mumu«,32 in der der Erzähler zwischen einer »guten« und einer »bösen« alten Frau polarisiert: Die »böse« Alte steht für die Bedrohungen der fremden Stadt; die dörfliche Heimat hingegen, wo Geborgenheit und Sicherheit zu finden sind, verbindet der Erzähler mit der Vorstellung der »guten« alten Mutter, die auf ihren heimkehrenden Sohn wartet. Im Allgemeinen fällt den alten Frauenfiguren in der Stadt-Land-Opposition die Rolle zu, die dörfliche Welt zu vertreten, die für das Authentische, Ursprüngliche steht. In mehreren Erzählungen Nikolaj Gogols33 taucht die alte Frau als Hexe auf, wobei seine Hexengestalten nicht ausschließlich böse sind. Sie vereinigen – wie die »ved’ma« oder die »baba-jaga« der slavischen Mythologie – immer zwei Seiten in sich: eine unheil- oder todbringende und eine helfende. In dieser Weise vereinigen sie in sich die beiden Aspekte der großen Mutter, die in Zamjatins Roman »My«34 direkten Eingang in die Literatur gefunden hat. Die größte Bedrohung geht von den Alten aus, wenn sie als Allegorien des Todes auftreten. Auch diese Funktion ist eine häufige Erscheinungsform alter Frauenfiguren in der russischen Literatur. Es fällt allerdings auf, dass in der Mehrzahl der Darstellungen alter Frauen mit symbolischer Funktion stark polarisiert wird: Sie sind entweder gut oder böse, Künderinnen von Unheil oder Seligkeit. Ein Mittelweg zwischen Idealisierung und Dämonisierung existiert so gut wie nicht. In der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts gibt es neben den Hexen und Großmüttern, die vor allem in den Märchen auftauchen, und den Kräuterhexen, die meist am Rand der Gesellschaft leben, auch

32 Vgl. Ivan Turgenev: Mumu. Eine Erzählung, übers. v. Rolf-Dietrich Keil, Stuttgart 2000. 33 Vgl. Nikolaj Gogol: Sämtliche Erzählungen, übers. v. Josef Hahn, Zürich 1996. 34 Vgl. Evgenij Zamjatin: Wir. Roman, übers. v. Josef Opfermann, Bremen 2013.

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schon die starken Alten, die für sich in Anspruch nehmen, in den Lauf der Dinge einzugreifen. Doch sind diese Frauen dann oft nicht wirklich alt, sondern eher alterslos geschildert, das heißt, sie müssten in Anbetracht ihrer Stellung in der Familie schon älter sein, werden aber mit den Attributen »energisch, tatkräftig, attraktiv« geschildert. Beschwerlichkeiten, die das Alter mit sich bringt, kennen sie nicht. Ein Beispiel für diese Frauenzeichnung ist Effis Mutter Frau von Briest, die Fontane auffallend jung hält, einerseits sicherlich, um die Verbindung mit Instetten zu betonen, andererseits scheint er hier von der Darstellung einer alten Frau Abstand nehmen zu wollen, obgleich er in der Beschreibung der Luise von Briest eine Reihe der oben genannten Merkmale35 einsetzt. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts war die Identität der alten Frau eine Verpflichtung innerhalb festgelegter Rollen und eines traditionellen Systems von Mythen, die Orientierung boten und auch nicht selten mit religiösen Sanktionen verbunden waren. Diese Rollenidentität war zumindest vordergründig unproblematisch und kein Gegenstand von Reflexion und Diskussion. Die alten Frauen durchlebten zwar Identitätskrisen, doch wurden diese nicht als solche benannt, und radikale Änderungen von Identitäten kamen so gut wie nicht vor. Der Terminus »Identität« wurde erst definiert, als die Bildung von Identität massenhaft zu einem Problem wurde. Der alten, mit den sozialen Rollen gegebenen, kaum veränderbaren Identität steht die moderne Identität gegenüber. Sie wird mobiler, multipler, schillernder und Gegenstand von Veränderung und Innovation. Die fortschreitende Modernisierung hat die Identitäten viel stärker wähl- und veränderbar gemacht. Jenny Erpenbecks Romandebüt »Ge-

35 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Roman das Altersmerkmal der reziproken Spiegelung der Mütter- und Töchtergeneration, es kommen aber auch Formen subjektiver Wahrnehmung von Alter und Wahrnehmungsirrtümer bezogen auf das weibliche Alter vor.

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schichte vom alten Kind«36 weckt schon durch das Titel-Oxymoron Assoziationen, die aus literarischen Altersbildern und der Darstellung von Alterstopoi bekannt sind. Junge und alte Menschen bewegen sich innerhalb kultureller Normen, die entscheidend dazu beitragen, welchem Alter die Gesellschaft sie zuordnet. Dass gesellschaftliche Normen im Laufe der Sozialisation unbewusst verinnerlicht und intuitiv verfolgt werden, ist eine Erkenntnis, auf die die amerikanische Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Judith Butler ihre Überlegungen aufbaut.37 Sie stellt die Geschlechtsidentität als eine auf biologischen Voraussetzungen beruhende Kategorie in Frage und geht davon aus, dass auch das als natürlich erscheinende Geschlecht sich erst durch Imitation und ständige Wiederholung normierter Verhaltensweisen konstituiert. Dabei spricht sie von performativen Handlungen und definiert den Begriff der Performativität als eine Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt. Butlers Performativitätstheorie wird für die folgenden Textanalysen nicht fruchtbar gemacht, weil sie nicht in den methodischen Kontext passt, denn in dieser Arbeit wird Literatur nicht aus feministischem, sondern aus hermeneutisch-semiotischem Blickwinkel betrachtet. Unter dieser Prämisse erscheint die Geschlechteridentität zunächst als Folge biologischer Unterschiede und erst nachrangig als Konsequenz gesellschaftlicher Diskurse. Eine Übertragung der Theorien der Geschlechterforschung auf die Kategorie des Alters macht deutlich, wie sehr auch natürlich erscheinende – weil mit dem biologischen Alter verbundene – Verhaltensmuster womöglich auf kulturell festgelegte Normierungen zurückgehen. Die Versuche, Geschlecht und Alter zusammenzudenken, scheitern oft daran, dass einer der Kategorien der Vorrang eingeräumt wird gegenüber der anderen. Die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Ka-

36 Vgl. Jenny Erpenbeck: Geschichte vom alten Kind. Roman, Frankfurt a.M. 1999. 37 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, übers. v. K. Menke, Frankfurt a.M. 1991.

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thleen Woodward vernachlässigt in ihren Arbeiten Gender als Analysekategorie bewusst zugunsten der Kategorie Alter. Sie geht davon aus, dass »Alter« der Kategorie »Gender« übergeordnet ist, weil es Männer und Frauen gleichermaßen betrifft. »I want to insist on the obvious – that aging and old age intersects all of our lives. I subordinate the question of gender to that of age. Aging is a woman’s issue. It is also a man’s issue.«38 Wenn Woodward die Bedeutung des Alters gegenüber der von Gender priviligiert, lässt sie dabei außer Acht, dass die Definition der einen Kategorie die der anderen mitbestimmt. Immer ist das Geschlecht des alten Menschen in der Betrachtung seines Alters anwesend. Es existiert eine Geschlechterdifferenz des Alterns: Eine alte Frau zu sein ist nicht dasselbe, wie ein alter Mann zu sein.39 Alle vorgelegten Prosatexte zum weiblichen Alter können als Spiel mit der Performanz von Altersidentität gelesen werden.40 Sie werden als kulturelle Texte gelesen, worin sich herrschende Diskurse manifestieren, in denen Alter und Geschlecht inszeniert werden. Doch kommen in der Literatur auch Gegendiskurse zu Wort, die den herrschenden Diskurs unterlaufen, durchkreuzen, ja sogar angreifen und so Alternativen denkbar werden lassen. Durch das ihr eigene Spiel mit Bedeutungen zeigt die Literatur deren Perspektivenabhängigkeit auf; in diesem Fall heißt das, sie zeigt die Perspektivenabhängigkeit der Bedeutung von »alt sein«, »Frau sein« und vor allem von »eine alte Frau

38 Kathleen Woodward: Aging and its Discontants. Freud and other Fictions, Bloomington/Indiana 1991, S. 16. 39 Dazu passt eine Anekdote über Freuds Mutter Amalia, die Woodward selbst zitiert: Amalia Freud weist mit 90 Jahren einen geschenkten Schal mit der Begründung zurück, dass dieser sie zu alt aussehen lasse. Mit 95 kommentiert sie ein Zeitungsphoto von sich: »Eine schlechte Reproduktion; sie lässt mich wie 100 aussehen.« (Woodward: Aging, S. 3) 40 Vgl. Kathleen Woodward: Performing Age, Reforming Gender, in: NWSA Journal 18 (2006), H. 1, S. 162-189.

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sein« auf und eröffnet so den Raum, Identität als Wahl zwischen alternativen Möglichkeiten zu leben. Unter der Voraussetzung, dass es kein Wissen um und keine Aussage über ein »Eigentliches« gibt, das nicht in einem soziokulturellen Raum angesiedelt ist, ist es nicht sinnvoll zu untersuchen, wo die reale Frau jenseits der symbolischen Repräsentation von Weiblichkeit steckt. Die Fragestellung dieser Arbeit lautet vielmehr, wie über Weiblichkeit im Alter gesprochen wird, welche Redeweisen es darüber gibt. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht das Zusammenspiel der beiden Kategorien Alter und Geschlecht: Wie beeinflusst Alter als Ko-Text das Sprechen über Weiblichkeit und, umgekehrt, wie wirkt Gender als Ko-Text auf das Sprechen über Alter ein? Nationalkulturellen Unterschieden gilt nicht das primäre Erkenntnisinteresse dieser Arbeit, vielmehr gilt es dem Wechselspiel von materiell erfahrbaren Körpern und ihren Repräsentationen und damit dem Verhältnis von Sprache, Wirklichkeit und Imagination. Es wird in den Blick genommen, in welcher Beziehung inszenierter Geschlechter- und Altersdiskurs im Text zueinander stehen, in welche Art von Dialog sie getreten sind. Es ist ein Kennzeichen unserer modernen Gesellschaften, dass es zu einer immer größeren Differenzierung und somit zu einer Vervielfältigung der Lebensläufe und Lebensstile kommt. Was vordem als weibliche oder männliche Normalbiographie erschien, bildet nicht selten schon eine Ausnahme. Im Vergleich zu dieser wachsenden Vielfalt an Lebensentwürfen gibt es nur eine geringe Anzahl an verfügbaren Altersrollen: stereotype, zumeist negativ besetzte Vorstellungen über Altersidentität, und dies vor allem über weibliches Alter. Kulturwissenschaftlich orientierte Textanalysen können auch in älteren Texten wie den hier vorgelegten alternative Rollen verfügbar machen und zeigen, dass Identität immer auch ein Akt der Wahl ist.

2. U NTERSUCHUNGSGEGENSTAND

2.3 F IGURENKATEGORIEN

ALTER

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F RAUEN

Um die alten Frauenfiguren vergleichen zu können, habe ich mit Hilfe zweier Figurenkategorien eine Systematisierung vorgenommen. Dabei bekunden die Figuren, die präsentiert werden, einerseits das breite Spektrum von Altersidentitäten – ermöglicht durch nationale, regionale, gesellschaftliche, kulturelle, psychische und physische Besonderheiten –, unter denen die alten Frauen während einer recht kurzen Zeitspanne leben konnten. Andererseits manifestiert sich in der Kategorienbildung der recht begrenzte Diskurs, in dem weibliches Alter gelebt und beschrieben wurde. 2.3.1 Die leisen alten Frauenfiguren Mit den leisen alten Frauen sind diejenigen gemeint, die bedeutungslos geworden sind. Sie scheinen sich überlebt zu haben und werden nicht mehr gehört, manchmal sogar verachtet. In den Texten haben sie keine eigene Stimme, sie werden aus der Distanz einer beobachtenden Person oder aus der externen Fokalisierung heraus beschrieben. Aus dem Blickwinkel der anderen unternehmen diese Alten allerdings auch nichts, um wieder Bedeutung zu erlangen, vielmehr scheinen sie nur noch auf ihr Ende zu warten. Da sie selbst kaum zu Wort kommen, kennt auch niemand die wirklichen Beweggründe für ihr Schweigen. Der Gedanke, sie als Nebenfiguren abzutun, überzeugt kaum, da sie ja mit Bedacht, man darf auch sagen mit Gewalt, aus dem Fokus des Geschehens herausgehalten werden. Hinzu kommt, dass untersucht werden muss, wie es zu dieser Abschiebung gekommen ist. Die Germanistin Ruth Klüger betont diese Position im literarischen Diskurs: Im Großen und Ganzen sind die Alten in der Literatur entweder gute Ratgeber und Seher – ein Nestor, ein Teiresias, besorgte Ammen – oder Hexen und Miesmacher, vor denen sich die Jugend tunlichst hüten sollte. Literatur, sofern sie davon handelt, wie der Mensch seine Zukunft gestalten soll, kann mit den alten Leuten nichts anfangen, denn sie haben keine eigene Zukunft mehr. Sie

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haben nur die Zukunft der nächsten Generation und sind daher Nebengestalten im Schicksal anderer.41

Die hier untersuchten Texte vermitteln ein anderes Bild. Denn auch die abgeschobenen alten weiblichen Figuren können mitreden und handeln. Dies kann die Zukunft betreffen, aber auch die Vergangenheit. So nehmen die alten Frauen Einfluss auf die Zukunft der Jungen, indem sie lenkend und gestaltend in deren Leben eingreifen, oder sie treten so markant auf, dass die Jungen diese Eindrücke in ihr zukünftiges Leben mitnehmen. Auch was die Wertschätzung der Vergangenheit betrifft, können die Alten etwas zu sagen haben. Es wird zu klären sein, ob und in welchem Ausmaß dies für die Figurenkategorie der leisen alten Frauen zutrifft. Denn in dieser Kategorie versammeln sich alle alten Frauen, die selbst nicht direkt in die Handlung eingreifen, höchstens mit Fingerzeigen Richtungen angeben. Sie sind Beobachterinnen, keine Akteurinnen, und begleiten das Geschehen, kommentieren es bisweilen, indem sie auf allgemeingültige Weisheiten zurückgreifen oder Prophezeiungen für die Zukunft formulieren. Von den handelnden Figuren werden sie manchmal um eine Stellungnahme gebeten und im gesellschaftlichen Diskurs ist ihr Rat mitunter gefragt, oft jedoch möchten die Jungen nichts von ihnen wissen und überhören die Ratschläge der Alten. Die wortkargen alten Frauen haben etwas Prophetisches und erinnern bisweilen an die Pythia in Delphi mit ihren dunklen rätselhaften Sprüchen, die erst durch das Erleben wahr werden. Alter gewinnt hier einen Wert durch die Befreiung von den Zwängen, handeln und Stellung beziehen zu müssen. In dieser Figurenkategorie erinnert einiges an das Alterskonzept der nutzlosen Alten, das im literarischen Diskurs immer wieder vorkommt. Mit Hilfe der Analyse narratologischer Merkmale werden diese Konzepte hinterfragt, vor allem die Fokalisie-

41 Ruth Klüger: »Ein alter Mann ist stets ein King Lear.« Alte Menschen in der Dichtung. Mit einem Nachwort von H. C. Ehalt, Wien 2004, S. 18.

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rungen können Aufschluss darüber geben, wie der Blick auf die alten Frauen zu bewerten ist. Es ist durchaus möglich, dass die auf den ersten Blick nutzlose alte Frau auf den zweiten Blick zur nutzbringenden alten Frau wird. 2.3.2 Die lauten alten Frauenfiguren Vordergründig sind diese alten Frauenfiguren diejenigen, die in ihren Familien und dem weiteren Umfeld gehört und geachtet werden. Sie sind für andere die Autoritäten, die Leitfiguren. Das hat viel mit ihren familiären Positionen, aber auch mit ihren Persönlichkeiten zu tun. Sie sitzen an den Hebeln der Macht, weil ihre Männer gestorben sind und sie die Nachfolge angetreten haben oder weil die Männer Schwächlinge sind, die Auseinandersetzungen scheuen. Ein passendes Alterskonzept wäre das der bestimmenden oder herrschenden alten Frau. Ob dieses Konzept ein gelungenes oder ein misslungenes Leben im Alter bedingt, ist nur im Einzelfall zu entscheiden; dazu ist es nötig, den literarischen wie den gerontologischen Diskurs zu untersuchen. Die alte Frau in der Funktion des Familienoberhaupts bleibt als Mitglied einer sozialen Gruppe in ihrer Rolle verhaftet, definiert sich fast ausschließlich über diese und muss vielen Anforderungen gerecht werden. Ob sie sich kraft ihrer starken Position von den Erwartungen, die an sie gestellt werden, zu befreien vermag, muss im Einzelfall geprüft werden. Trotz widersprüchlicher Anforderungen kann es ihr gelingen, sich selbst treu zu bleiben und so zumindest zeitweise einen Anspruch auf Individualität und Einzigartigkeit zu erheben, was gerade in dieser Figurenkategorie denkbar erscheint. Es kann hier allerdings auch um Alterslügen gehen, nämlich dann, wenn die Alten ihre Dominanz mit Hilfe von Intrigen verteidigen. Die Perspektive dieser alten Frauen ist eingeschränkt: Sie sind auf sich selbst bezogen und lassen den Blick von außen nicht zu oder ignorieren ihn. Die alten Frauenfiguren dieser Kategorie lassen »sich vor keinen Karren mehr spannen«, leben sich selbst gemäß und nutzen ihr Alter als freiheitlichen Spielraum, in dem sie ihren Eigensinn in seiner posi-

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tiven Bedeutung ausleben können. Denkbar ist, dass gerade diese Kategorie zukunftsweisend ist. Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts eine Erfolgsgeschichte war bzw. immer noch ist. Oft steht das Alterskonzept der Symbiose dahinter, wenn es sich um ein altes Ehepaar handelt; auch die Konzeption der verliebten alten Frau ist denkbar, wobei die Liebe indes nicht nur im geschlechtlichen oder sexualisierten Sinn gemeint ist, sondern als Zuwendung zum Mitmenschen verstanden werden soll. Nicht selten finden sich in dieser Kategorie allerdings jene alten Figuren, die für verrückt gehalten werden, weil Normen für sie nicht mehr gelten, denn sie haben ihre Sichtweisen und Einschätzungen im wahren Sinn des Wortes aus dem Zentrum der allgemeinen Wahrnehmung ver-rückt. Indem sie sich über die allgemein gültigen Regeln hinwegsetzen, bleiben sie sich selbst treu. Die von mir untersuchten Repräsentationen weiblichen Alters weisen verschiedene, sich häufig wiederholende Merkmale auf, die sich in einer Erkenntnis bündeln lassen, die auch die entscheidende These dieser Arbeit ausmacht: Das Wahrgenommen-Werden und das Sichselbst-Wahrnehmen als alter weiblicher Mensch ist immer vom Kontext abhängig und niemals absolut zu sehen. Eine zentrale Annahme dabei ist der Weiblichkeitsverlust, der für die Frau scheinbar mit dem Alter einhergeht: Eine alte Frau ist keine Frau. Da aber die Literatur mit Bedeutungen spielt, hinterfragt sie implizit die von ihr inszenierten Diskurse über Alters- und Geschlechtsidentität. Wie bereits gesagt, sind die folgenden Textanalysen als Versuch intendiert, das oben genannte Spiel mit Bedeutungen explizit zu machen und damit in letzter Konsequenz auch neue Sichtweisen erkennbar werden zu lassen.

3.

Vier alte Frauenfiguren aus Eduard von Keyserlings »Wellen« Denn unsere Frauen sind die Blüte unserer adeligen Kultur; sie sind die Repräsentantinnen und Wahrerinnen von allem Guten und Edlen, das wir durch Jahrhunderte hindurch uns erkämpft.1

Vier alte Frauenfiguren präsentieren im Roman2 ein jeweils eigenes Altersleben. Bei der Analyse löse ich mich von den oben dargelegten Kategorien und beziehe mich auf die in Miriam Seidlers Dissertation beschriebenen Figurenmodelle: Diese sind im Text die Gesellschafterin, die arme Verwandte, die Patriarchin und die Großmutter. Mit dieser Eingruppierung kann ich die Positionen der einzelnen Figuren im gesellschaftlichen Raum des Romans besser ausloten und vergleichen, als wenn ich sie getrennt behandelte und sie wie die alten Frauenfiguren aus den anderen Texten einer der beiden Figurenkategorien zuordnete. Wie die meisten Prosatexte Keyserlings ist der Roman »Wellen« intern fokalisiert, es fehlen wertende Kommentare der Erzählinstanz;

1

Eduard von Keyserling: Schwüle Tage. Novelle, München 2005, S. 48.

2

Eduard von Keyserling: Wellen, Roman, München 2004.

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auch das obige Zitat aus dem Roman »Schwüle Tage« ist eine Figurenrede und gibt nicht die Meinung des Autors wieder. Dennoch spiegelt sich in diesem Zitat eine Eigenheit von Keyserlings Texten. In seinen Werken dominiert das weibliche Element das männliche in intellektueller wie in emotionaler Hinsicht: Die Frauenfiguren sind in der Regel die Stärkeren und die Beständigeren.3 Auf diesen Aspekt kann im Rahmen meiner Arbeit nur am Rande eingegangen werden, denn der Fokus liegt auf den Konzepten des Alters und Alterns von Frauen, während das männliche Alter lediglich marginal als Kontrastelement beleuchtet wird. Was für mich allerdings von Interesse ist, sind die Darstellungsformen. So kann die heterodiegetische Erzählinstanz an einigen Stellen in höherem Maß als weiblich denn als männlich konnotiert identifiziert werden. Beispielsweise ist es womöglich eher ein weiblicher als ein männlicher Blick, welcher die Baronin Buttlär, die früh alternde Tochter der Generalin, beschreibt. Frau von Buttlär [...] mochte früher das hübsche überzarte Gesicht ihrer Töchter gehabt haben, jetzt waren die Wangen eingefallen und die Haut leicht vergilbt. Aufgebraucht von Mutterschaft und Hausfrauentum war sie sich ihres Rechtes bewußt, kränklich zu sein und nicht mehr viel auf ihr Äußeres zu geben. (WE 7)

Was zunächst wie ein verächtlicher männlicher Blick auf einen alternden Frauenkörper anmutet, kann bei genauerer Betrachtung auch eine weibliche Sichtweise sein. Die scharfe Wahrnehmung von Nuancen in der äußeren Erscheinung und die ironisch dargestellte und unter Gendergesichtspunkten vordergründig problematische, aber im Endeffekt realistische Schlussfolgerung können weibliche Äußerungen sein, wel-

3

Vgl. dazu die Erzählungen und Romane von Keyserlings: Abendliche Häuser. Ausgewählte Erzählungen, hg. v. Wulf Kirsten, Berlin (Ost) 1970. Bunte Herzen, Am Südhang, Harmonie. Drei Erzählungen, Frankfurt a.M. 1983. Die dritte Stiege, Nachwort: Fritz Martini, Heidelberg 1985. Dumala, Berlin 1999. Fürstinnen, München 2005.

3. V IER

ALTE

F RAUENFIGUREN

AUS

»W ELLEN «

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che die fehlenden Voraussetzungen für ein gelingendes Frauenleben beklagen.4 In einer Zeit äußerster körperlicher Hinfälligkeit schrieb Keyserling seine wichtigsten Werke wie den hier herangezogenen Roman »Wellen«, den Marcel Reich-Ranicki im »Literarischen Quartett« missdeutete, als er ihn »ein ganz und gar sinnliches Buch, eine schöne Liebesgeschichte« nannte. Wie Florian Illies in seinem ZEIT-Artikel aus dem Jahr 2009 richtig stellt, handelt es sich vielmehr um die distanzierte Beschreibung einer großen Orientierungslosigkeit, in der die Romangestalten gefangen sind.5 Wie in seinen anderen erzählerischen Werken entfaltet Keyserling in interner Fokalisierung die individuellen Nöte der adligen Oberschicht und der zugehörigen Bürgerlichen, soweit sie als Lehrer, Künstler oder Gesellschafter auf den Schlössern gehalten werden und sich den dortigen Lebensformen anpassen. Die geschilderten Lebensund Liebeserfahrungen sind negativ, aber in der Darstellung angereichert mit interessanten Details, wie beispielsweise genauen Naturschilderungen als Spiegelungen seelischer Vorgänge oder den vielen Brechungen durch die Kommentierung von Randfiguren und literarischen Verweisen durch zahlreiche Zitate. Die weiblichen Figuren in seinen Werken, »die vor Verlangen zittern, draußen umzugehen, und, wenn sie hinauskommen, nicht atmen können«,6 schaffen die ersehnte Grenzüberschreitung aus ihrer beengenden Existenz heraus nicht.

4

Was diese Textstelle betrifft, erscheint mir sowohl ein weiblicher als auch ein männlicher Blick auf einen alternden Frauenkörper plausibel, je nachdem welcher methodische Zugang zum Text gewählt wird.

5

Denn im Grunde sind Keyserlings Erzählungen eine einzige Persiflage auf Menschen, die nach Schönheit dürsten, um die Lebenswirklichkeit zu ertragen.« Florian Illies: Die Ironie der schwülen Tage, in: Die Zeit 27 (25.6.2009), S. 1. Online verfügbar unter: http://www.zeit.de/2009/27/lkeyserling [zuletzt abgerufen am 16.4.2017].

6

Eduard von Keyserling: Bunte Herzen. Zwei Novellen, Berlin 2014, S. 787, hier: S. 75.

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Die fehlende Selbstreflexion und Selbsterkenntnis ist die Distinktion der adeligen Klasse, die Keyserling in immer neuen Variationen meisterhaft vorführt. Bei Fontane vor allem, selbst bei Wedekind oder Bang gibt es Auswege aus dem Kreislauf des Lebens. Bei Keyserling nicht.7

Alle scheitern mit ihren Ausbruchsversuchen und resignieren zuletzt. Die jungen Frauenfiguren kehren nach den gescheiterten Emanzipationsversuchen in den Schoß ihrer Familien zurück, um dort verzagt, aber umgeben von sämtlichen Annehmlichkeiten zu verdämmern und zu altern. Die alten Frauenfiguren sind Zeuginnen der Fluchtversuche und ihre Kommentare dazu – so verschiedenartig sie auch sein mögen, etwa die der Generalin einerseits und die Malwines andererseits – bestätigen, dass der determinierte Kreislauf eines Frauenlebens nicht zu durchbrechen ist. »Sich entführen lassen, das geht schnell [...]. Aber mit dem Herrn, der einen entführt, leben, das ist die Kunst.« (WE 115) Auf diese Weise kommentiert im Roman »Wellen« die alte Generalin Palikow den Ehebruch der schönen Baronesse Doralice, denn Liebe bewährt sich im Alltag oder sie ist keine. Sowohl unter Gender- als auch unter Altersgesichtspunkten ist die Figurenkonstellation des Romans relevant: Vier alte weibliche Figuren können aufgrund von präzisen textuellen Elementen der Figurencharakterisierung jeweils einem Figurenmodell zugeordnet werden, während mit Ausnahme der zentralen Figur Gräfin Doralice die jüngeren oder jungen weiblichen Figuren nur grob gezeichnet sind und relevante figurenbezogene Tatsachen in der erzählten Welt ausgeblendet bleiben, was im übrigen auch auf die männlichen Figuren zutrifft. Im Zusammenhang mit der Altersthematik ist die Baronin Buttlär eine bemerkenswerte Figur, denn sie ist als Vertreterin der Töchtergeneration eigentlich die »älteste« aller Frauenfiguren des Romans. Die Figurenmodelle des weiblichen Alters, denen die Romanfiguren zugeordnet werden können, sind in der Literatur häufig anzutref-

7

Illies: Die Ironie der schwülen Tage, S. 2.

3. V IER

ALTE

F RAUENFIGUREN

AUS

»W ELLEN «

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fen: die Gesellschafterin, die arme Verwandte, die Patriarchin und die Großmutter. Aufgrund der besonderen Figurenkonstellation – das weibliche Alter steht im Fokus – greift die Analyse dieses Romans auf bekannte Topoi in der Figurenzeichnung des weiblichen Alters zurück, ohne allerdings die Figurenkategorien, die auch auf charakterlichen Merkmalen beruhen, völlig zu vernachlässigen. Die Figurenmodelle der Gesellschafterin, der Großmutter und der armen Verwandten gehören hier in die Kategorie der leisen alten Frauen, das Modell der Patriarchin in die Kategorie der lauten alten Frauen. Damit wird deutlich, dass die Figurenkategorien, auf denen die nachfolgenden Textanalysen basieren, sich sowohl auf Persönlichkeitsmerkmalen als auch auf gesellschaftlichen Positionierungen gründen. Miriam Seidler beschäftigt sich in ihrer Dissertation ausführlich mit Figurenmodellen des Alters. Sie vergleicht die wichtigsten Positionen von Figuren in der Literaturtheorie, wie sie in den Arbeiten von Grabes, Jannidis und Schneider dargelegt werden, und kommt zu dem Schluss, dass die Überlegungen zur Figur aus Sicht der kognitiven Narratologie zwar grundsätzlich brauchbar sind, jedoch im Rahmen der Analyse von Altersdarstellungen variiert werden müssen. Äußerst brauchbar für die Erstellung einer Alterstypologie scheinen mir allerdings die Überlegungen zur Erklärung der Entschlüsselung textueller Zeichen zu sein, auf die alle an der Kognitionswissenschaft ausgerichteten Arbeiten verweisen. Besonders das Konzept der Persönlichkeitstheorie scheint brauchbar, da es neben Aussagen über die traditionelle Trias class, race und gender auch Aussagen über die Wahrnehmung von altersspezifischen Vorstellungen zulässt. Mit Schneider kann man Persönlichkeitstheorien definieren als [...] in einer Gesellschaft verbreitete Wissensstrukuren und Strategien zur Erklärung des Menschen, die aus verschiedenen Spezialdiskursen stammen können und zumeist Wertungsdispositionen transportieren [...].8

8

Seidler: Figurenmodelle, S. 42-43.

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Die interdiskursiven Wissensstrukturen, aus denen das Wissen über den Menschen besteht, bezeichnet Seidler als Persönlichkeitstheorien. Diese setzen sich zusammen aus dem in der Sozialisation erworbenen Wissen, dem Wissen über literarische Konventionen und dem Wissen, das der Text selbst direkt über eine Figur oder indirekt über andere Aspekte der fiktionalen Welt vergibt.9 Auf dieser Grundlage werden unter Berücksichtigung literarischer Gestaltungsmittel aus dem Roman »Wellen« gesellschaftliche Vorstellungen über die alten Frauenfiguren sowie Eigeneinschätzungen der Figuren abgeleitet: Sind die Selbstbilder und die Fremdbilder identisch oder stehen sie im Widerspruch zueinander? Zum Abschluss der Textanalysen wird geprüft, ob die vier Figurenmodelle in Kontrast- oder Korrespondenzrelationen zueinander stehen.

3.1 D IE G ESELLSCHAFTERIN M ALWINE B ORK Gesellschafterinnen sind »Angestellte (von Damen oder für junge Mädchen) zur Reisebegleitung, zum Vorlesen u. ä.«. Folgte man dieser Definition aus dem Wahrig10, könnte es sich bei der Gesellschafterin um einen einigermaßen angesehenen und lukrativen Beruf für Frauen gehandelt haben. Doch in Wahrheit ist die Gesellschafterin das »sitzengebliebene«, oft alte Mädchen, das auf Versorgung angewiesen ist. Eheschließungsgrund sollte zwar einzig die »liebevolle Zuwendung« der Ehepartner sein, de facto mußte aber an eine ökonomische Versorgung der Töchter gedacht werden. Die »Wartezeit« war deshalb keineswegs für alle jungen Frauen eine frohe, unbeschwerte Phase, sondern Enttäuschungen sowie Angst und Sorge, keinen Heiratsantrag zu erhalten, bestimmten den Alltag mancher Mädchen. Denn die Frauen, die unverheiratet blieben, hatten ein doppelt

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Ebd., S. 43.

10 Gerhard Wahrig: Deutsches Wörterbuch, Stichwort: ›Gesellschafterin‹, Gütersloh 1968, S. 1486.

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schweres Los: Sie galten vom »eigentlichen« Frau-Sein ausgeschlossen und fielen außerdem ihrer Familie zumeist ökonomisch und auch sonst »zur Last«. Für sie bot sich allerhöchstens die Möglichkeit, Gouvernante oder Gesellschafterin zu werden – beide Positionen waren schlecht bezahlt und bedeuteten eine allgemein bemitleidete Zwitterstellung zwischen Familienangehörigkeit und Dienstboten-Dasein.11

Die fiktive Biographie der Malwine Bork verläuft in den bekannten Bahnen: unverheiratet, einigermaßen gebildet,12 aber mittellos lebt sie in der Abhängigkeit einer adligen Familie. Sie fristet ihr Leben als Gesellschafterin der gleichalten Generalin Palikow, die für sich und ihre Familie ein Ferienhaus am Strand der Ostsee gemietet hat. Dort kommt es zu Liebeskonflikten zwischen der schönen Gräfin Doralice, die mit ihrem Geliebten, dem Maler Hans Grill, ein Nachbarhaus bewohnt, und dem Verlobten der Enkelin der Generalin. Die alten Frauenfiguren beobachten und kommentieren die Verwicklungen und bringen dabei ihre jeweilige Lebenserfahrung, ob authentisch gelebt oder aus der Literatur angelesen, ein. Der gemeinsame Auftritt von Malwine und der Generalin wird von einem weiteren Gast am Ostseestrand mit einem für Malwine schonungslosen Vergleich beschrieben: [D]a erscheint ja die Generalin im weißen Pikeekleide, wie ein Schiff, das alle Segel aufgezogen hat, neben ihr die gute Bork, eine bescheidene, nichtssagende Schaluppe. (WE 84)

11 Rosemarie Nave-Herz: Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, Hannover 1997, S. 149. 12 Frauenbildung war oberflächlich und stereotyp: »Das bisschen Kunst und Wissenschaft hat man uns nur gelehrt, damit wir darüber schwatzen können. Es ist kein Teil unserer selbst geworden; es bleibt in Museen und Büchern wie die Religion in der Kirche...« (Ingeborg Weber-Kellermann: Frauenleben im 19. Jahrhundert, München 1983, S. 139).

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Erstere ist unbestritten das Oberhaupt der Familie, dem sich alle unterordnen, insbesondere ihre Gesellschafterin Malwine. Letztere wird zwar auch als Freundin der Generalin bezeichnet, doch, korrespondierend zu der oben zitierten Außenansicht, bewegen sich beide auch mental nie auf einer Ebene. Die Meinungsverschiedenheiten und Konfliktgespräche zwischen den beiden alten Frauen sind immer nur bedeutungslose Rollenspiele, wobei Malwine mit ihrer lyrisch empfindsamen Sprechweise und ihrer metaphorischen Sprache immer im Schatten der Generalin steht, welche pragmatisch die Dinge beim Namen nennt. Fräulein Bork sah Wedig schief durch ihren Kneifer an und meinte: »An die Phantasie des Kindes reicht selbst das Weltmeer nicht hinan.« [...] Die Generalin jedoch war unzufrieden: »Sie haben mich erschreckt, Malwine, Sie haben eine Art, auf Naturschönheiten aufmerksam zu machen, daß man jedesmal zusammenfährt und glaubt, eine Wespe sitze einem irgendwo im Gesicht.« (WE 7 f.)

Mit Männern hat Malwine anscheinend nur mittelbare Erfahrungen. Ihre Kommentare zu den Liebesgeschichten, die sich am sommerlichen Ostseestrand abspielen, sind oft Ausschnitte aus Literaturzitaten, wobei sie zwischen imaginiertem und wirklichem Leben in der Romanwelt nicht zu unterscheiden vermag. Mit ihren Bemerkungen zeigt sie, dass sie nicht das wahrnimmt, was die Menschen um sie herum antreibt, etwa Langeweile oder Leidenschaft und Sinnlichkeit; vielmehr sucht sie im Handeln ihrer Umgebung das wiederzufinden, was sie irgendwo gelesen hat. Die Ideale der Kunst werden der Wirklichkeit übergestülpt mit der Folge, dass Malwines Wahrnehmung oft trügt: Ihr langes Leben verlief ohne eigenes Erleben von Liebe und Leidenschaften, was dazu führt, dass sie die Handlungsmotive anderer falsch einschätzt. Mit Begeisterung betrachtet sie beispielsweise die schöne Gräfin und deren Geliebten und ahnt dabei nichts von den Enttäuschungen und Resignationen, mit denen beide fertigwerden müssen.

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Auch wer die Gesellschafterin betrachtet, unterliegt einem Irrtum in der Wahrnehmung: Man glaubt, einen alten Mann und keine Frau vor sich zu haben. Ihr Haar ist ergraut und ihr bräunliches Gesicht, »das aussah wie das Gesicht eines klugen älteren Herrn« (WE 5), richtet sich stets schief auf den Betrachter, denn sie hat die Eigenart, den Kopf auf die linke Schulter zu neigen und einen schiefen Blick durch ihren Kneifer zu werfen. Weiblichkeitsverlust und Maskulinisierung sind häufige Motive in Texten über alte Frauenfiguren. In diesem Fall geht es weniger um die Veränderungen des weiblichen Körpers nach der Menopause als um den Attraktivitätsverlust, der dem alternden Frauenkörper zugeschrieben wird. Entsexualisierung und Animalisierung alter Frauen als Verschärfungen der Maskulinisierung kommen im Roman ebenfalls vor und spielen bei der armen Verwandten Agnes eine Rolle. Man fragt sich, warum die Zeichen der Vermännlichung der Figur der Malwine und der Großmutter Wardein zugeschrieben werden und nicht der Generalin? Vermutlich ist es so, dass in der fiktiven Welt die weibliche Autorität, die die Generalin besitzt, sich gegenüber den zahlreichen männlichen Schwächlingen unter den Romanfiguren auszeichnet: Als weibliche Leitfigur stuft die Generalin die Männer, beispielsweise ihren Schwiegersohn Buttläer, herab. Unter dieser Voraussetzung sind Männlichkeitsattribute zur Beschreibung nicht geeignet. Dagegen ist die Großmutter Wardein, die Älteste der Fischerfamilie, ebenfalls mit einem Attribut der Vermännlichung ausgestattet: Sie hat eine tiefe männliche Stimme. An Malwines gefühlvoller Sprechweise ist zu erkennen, dass sie ein ungestilltes weibliches Sehnen bewahrt hat. Im Kontrast dazu steht die männliche Physiognomie, welche sie als alten Menschen ausweist, dessen Geschlecht, im Gegensatz zu dem der Generalin, keine Rolle spielt und welcher infolge der Vermischung von weiblichen und männlichen Persönlichkeits- und Körpermerkmalen als geschlechtsneutral wahrgenommen wird. Die Streitgespräche Malwines mit der Generalin laufen nach immer gleichen Mustern ab: Nach einer Behauptung der Generalin stellt Mal-

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wine eine Gegenbehauptung auf, worauf die Generalin in ihrer Replik die Positionen ihrer Gesellschafterin mit verallgemeinernden Bemerkungen abwertet: Fräulein Bork […] lächelte ein nachdenkliches, verzeihendes Lächeln. »Das Sofa«, sagte sie, »natürlich, aber man kann es nicht anders verlangen. Für die Verhältnisse ist es doch sehr gut.« »Liebe Malwine«, meinte die Generalin, »Sie haben die Angewohnheit, alles gegen mich zu verteidigen […].« Fräulein Bork erwiderte darauf nichts, sie lächelte ihr verzeihendes Lächeln. (WE 5)

Nach dem Austausch von Argument und Gegenargument zeigt Malwine sich von außen betrachtet als Siegerin; wie es in ihrem Innern aussieht, erfährt der Leser nicht. Als die Generalin sich und ihre Tochter mit Festungen vergleicht, die für Menschen niedrigen Standes unzugänglich seien, hält Malwine dagegen: »Die Gräfin Doralice war einst auch einmal solch eine arme kleine Festung.« (WE 12) Das ist eine weise und abgründige Bemerkung aus der Dienstbotenperspektive, gesagt mit dem Wissen, dass auch Festungen einstürzen können. Was auf den ersten Blick wie Kritik an der Adelsgesellschaft aussehen könnte, ist wohl eher Mitleid mit Doralice, denn Malwine kennt aus Romanen und Gedichten das Schicksal von Ausgestoßenen und begeistert sich an den Geheimnissen, die diese Außenseiter allem Anschein nach umgeben: »›Dort stehen sie jeden Abend‹, flüsterte Fräulein Bork geheimnisvoll.« (WE 11) Sie kann nichts wissen von den Entbehrungen geistiger oder materieller Art oder den emotionalen Zweifeln, mit denen eine Figur wie Doralice zu kämpfen hat. Malwines Kontakt zum Leben kommt aus zweiter Hand, über eigene Lebenserfahrungen wird nichts berichtet. Identitäten im Alter können durch eigene oder fremde Erinnerungen und durch Zeugnisse wie Bilder, Briefe oder Erinnerungsstücke sichergestellt werden, wie das Beispiel von Fontanes Jenny Treibel verdeutlicht. Über die Zeit hinweg bleibt die alte Frau dadurch in Kontakt mit all den Ichs, die sie in ihren einzelnen Lebensphasen einmal war. Ein prägnantes Beispiel dafür, dass dieser Kontakt gekappt ist, liefert Anton Čechov in der

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»Langweiligen Geschichte«. In dieser Erzählung ist die alte Frau Varja in den Augen ihres Mannes nicht mehr identisch mit der jungen Varja. Malwine hat in ihren langen Lebensjahren viel über die Menschen gelesen und manches in der Gesellschaft beobachtet, war aber selbst nie am Geschehen beteiligt. So ist es plausibel, dass sie sich gleichsam hineinstürzt in das Schicksal der jungen, unglücklich verliebten Frauen, sich mit ihren Leiden identifiziert und allen ihren Handlungen, seien sie noch so unüberlegt und kurzsichtig, Verständnis entgegenbringt. Sie ist eine Frau mit Empathie, die über Standesgrenzen hinweg reicht. Diese gleichsam räumliche Nähe wird nach außen nicht sichtbar, ist jedoch wesentlicher Bestandteil der Selbstwahrnehmung der alten Frau. »Ja,« sagte Fräulein Bork, sie sprach noch immer leise, aber ihre Stimme nahm einen zärtlichen, feierlichen Klang an, als rezitiere sie ein Gedicht, »es ist traurig und doch wieder in seiner Art schön, wie der alte Graf das Talent des armen Schulmeistersohnes entdeckt […], wie er ihn auf das Schloß beruft, damit er die junge Gräfin malt [...], ja und dort – müssen sie sich eben lieben, was können sie dafür.« (WE 10)

Die Generalin kritisiert die verträumten, unrealistischen Einschätzungen ihrer Gesellschafterin; sie weiß genau, wie wenig lebenserfahren diese ist. »Nur finde ich, liebe Malwine, daß Sie keinen rechten Sinn haben für das, was man allgemeine Bemerkungen nennt.« (WE 6)

Ohne eigenes Erleben ist es fast unmöglich, menschliches Verhalten im Kontext wahrzunehmen und zu beurteilen. Demnach reagiert Malwine nicht altengerecht wie die Generalin. Während diese Lehren aus dem Leben gezogen und zu für sie gültigen Wahrheiten – solche nämlich meint sie, wenn sie von »allgemeinen Bemerkungen« spricht – gefunden hat, reagiert Malwine distanzlos und emotional. An diesem Beispiel zeigt sich deutlich, in welchem Maß der Altersbegriff ein relativer ist. Ohne die »allgemeinen Bemerkungen« der Generalin zu ver-

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stehen oder selbst solche zu formulieren, bleibt Malwine im Innern eine junge Frau ohne Erfahrungen mit Männern. Verbindungen zu der eigenen Generation, die auf denselben oder ähnlichen Erfahrungen basieren, fehlen; es ist, als verharrte sie immer noch in ihrer Jungmädchenzeit. Fräulein Bork hatte nicht mitgelacht, sie schaute noch immer nachdenklich dem Brautpaare nach und sprach dann aus ihren Gedanken heraus: »Ich finde den Leutnant herrlich, er sieht aus wie der Page einer spanischen Königin […], der am Brunnen auf die Königstochter wartet: Ich bin vom Stamme jener Asra, die da sterben, wenn sie lieben.« (WE 55)

Sie zitiert Heine, ohne ihn wahrscheinlich zu verstehen. Für sie gibt es keinen sozialen oder psychischen Wandel, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Die daraus resultierende Eintönigkeit korreliert bei ihr mit der Inhalts- und Bedeutungslosigkeit ihrer Beschäftigungen. Fräulein Bork ruhte vor ihnen im Sande und zeichnete das Meer. Sie zeichnete immer das Meer, lange leichtgewellte Linien, am Horizont ein Segelboot. (WE 37)

Da ihr selbst das Leben Höhepunkte wie auch Tiefpunkte verwehrt hat, sucht sie nach Abwechslung, indem sie andere beobachtet und laufend alles, was sich in ihrer Umgebung abspielt, bewertet. Während die Handlung sich zuspitzt und der Konflikt zwischen der Familie der Generalin und der Gräfin Doralice zu eskalieren droht, äußert sich Malwine Bork in zunehmendem Maß nicht mehr in der Figurenrede, sondern ihre Bewertungen werden indirekt wiedergegeben. Fräulein Bork jedoch fand das schön. Sie fand das schön, die Mutterliebe als die Polizei für das Glück der anderen. (WE 97)

Die alte Frau wird immer unbedeutender und allmählich an den Rand des Geschehens gedrängt. Da wir mit dem Alter bestimmte Vorstellun-

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gen vom Verhalten des Menschen verbinden, Lebensalter und Verhalten bei Malwine aber nicht zusammenpassen, ist sie zur bedeutungslosen Statistin geworden und erfüllt damit ihre Rolle als Dienerin in der Ständegesellschaft: Was sie sagt, zählt nicht. Im Alter hat sie sich zurückentwickelt, nicht aufgrund einer Krankheit, sondern aufgrund eines unausgefüllten Lebens; als alte Frau lebt sie an der Grenze zum Tod, und es ist anzunehmen, dass sie als Frau ohne eigene Familie allein sterben wird. Die Motive Einsamkeit und Todesnähe werden im Roman immer wieder von unterschiedlichen Figuren miteinander verknüpft: »Nur daß das Totsein so furchtbar nach Alleinsein klingt, und – ich kann nicht allein sein.« (WE 88) So formuliert es Doralice, die trotz ihrer Lebensgemeinschaft mit dem Maler Hans Grill eine einsame junge Frau ist: »[...] wir bleiben zusammen, wir beide sind ja doch miteinander ganz allein.« (WE 26) Malwine war eigentlich immer allein und wie die anderen drei alten Frauen muss sie den Tod junger Menschen mit ansehen: Sie erlebt den Selbstmordversuch Lolos, der Enkelin der Generalin, und auch den tödlichen Unfall des jungen Malers. Die jungen Frauen im Roman finden kein Glück; nichts deutet darauf hin, dass es den Töchtern im Alter besser ergehen wird als den Müttern. Die Generalin weiß und akzeptiert dies; dadurch zementiert sie die misogynen Verhältnisse in ihrer Gesellschaft. Allerdings ist sie bestrebt, die jungen Frauen zu schützen, indem sie an die eigene Jugend anknüpft und vor zu viel Freizügigkeit warnt. »Sagen Sie, Malwine«, fragte die Generalin, »sahen wir in unserer Jugend auch so aus, wenn wir badeten?« Fräulein Bork kniff das eine Auge zu und lächelte gefühlvoll: »Ach, das ist ja so hübsch […], wie kleine rote Silhouetten auf einem grünen Lampenschirm sehen sie aus.« (WE 37)

Wie hier reden die beiden alten Frauen ständig aneinander vorbei. Doch sind misslungene Kommunikationen im Roman nicht an das Alter gebunden; der junge Hans Grill beschreibt die Sprachlosigkeit zwischen den Menschen als allgemeines Phänomen, das unabhängig vom

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Lebensalter vorkommt. Er nimmt damit die sprachskeptische Haltung seiner Zeit auf und weitet sie aus zur Kommunikationsskepsis. Metakommunikation findet so gut wie nicht statt, denn seine diesbezüglichen Statements bleiben immer Monologe. Aber so geht es immer, wir reden und reden, als ob der eine auf der ersten Sandbank steht und der andere auf der zweiten. Und keiner versteht, was der andere sagt, und wir rufen uns nur immer: was? was? zu. (WE 47)

Auch die anderen Figuren im Roman verstehen einander nicht und liefern damit den Beweis für die sprachskeptische Einstellung des Erzählers, wobei die alten Frauen von den fatalen Konsequenzen nicht mehr betroffen sind wie die jüngeren oder sehr jungen Frauen. Die Alten haben keine Zukunft mehr, die sie gestalten könnten. Die alte Malwine entwickelt sich in ihre Vergangenheit zurück; die alte Agnes hat keine Möglichkeit mehr, einen Lebensweg zu wählen und einen anderen abzulehnen. Für das Missverstehen zwischen Menschen gibt es verschiedene Gründe. Hans und Doralice verstehen einander nicht, weil es zwischen ihnen jenseits von erotischer Anziehung keine Gemeinsamkeiten gibt. Die Generalin und ihre Gesellschafterin haben einen konträren Blick auf die Wirklichkeit, so dass sie viele Wörter semantisch different wahrnehmen, wie beispielsweise die Begriffe »Liebe« und »Ehe«. Die eine versteht darunter Disziplin und geschäftlich-gesellschaftliches Kalkül, während sie für die andere Anlass sind, von einer absoluten und dauerhaften Seelengemeinschaft zu träumen. Doralice und Agnes hören einander nicht einmal zu, denn die Verachtung, die sie füreinander empfinden, verhindert das Verstehen.

3.2 D IE

ARME

V ERWANDTE AGNES

Die alte Agnes, eine entfernte Verwandte von Hans Grill, führt diesem und Doralice den Haushalt. Über ihre Vergangenheit erfährt man nichts. Es könnte sein, dass sie durch Tod oder Krankheit ihres Man-

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nes, des Familienernährers, in die Situation gekommen ist, sich bei Hans Grill, dem Maler, als Bedienstete verdingen zu müssen. Im 19. Jahrhundert unterlagen ledige Frauen und Witwen, wenn sie nicht auf ein familiäres soziales Netz zurückgreifen konnten, der Vormundschaft ihrer Heimatgemeinde. Dies entsprach dem bürgerlichen Bild weiblicher Unselbstständigkeit und Passivität und der Topos der armen alten Witwe war auf diese Weise zementiert. Agnes braucht den Schutz und die Versorgung aus öffentlichen Mitteln nicht in Anspruch zu nehmen, denn Hans sorgt für ihren Lebensunterhalt, was sie ihm mit treuer und ergebener Anhänglichkeit dankt. Beide kennen sich schon lange, denn Agnes weiß auch aus seiner Jugend zu erzählen. Der Erzählmodus ist die variable interne Fokalisierung: Die Figur der Agnes wird hauptsächlich aus dem Blickwinkel der jungen Frau gesehen. Doralice kann die alte Frau zu Beginn des Romans nur schwer ertragen, weil diese ihre Verachtung und ihren Hass offen zeigt. Für Agnes ist es klar, dass die Ehebrecherin ihren Schützling Hans unglücklich machen wird. Sie tritt also zunächst als negative alte Frauenfigur auf: Verhalten und Aussehen wirken abstoßend auf Doralice. Das ändert sich am Schluss des Romans, als Doralice allein und auf den Beistand von Agnes angewiesen ist: Aus der widerwärtigen alten Frau wird eine Trösterin. Agnes hat ihren »Herren«, den Maler Hans Grill, durch einen tödlichen Unfall verloren und überträgt ihre Fürsorge auf Doralice. Aus deren Sicht ist sie zunächst eine unfreundliche alte Frau mit einem »Gesicht, in dem die Fältchen wie Sprünge in einem gelben Lack standen« (WE 18). Die gelbe Hautfarbe, die tiefen Falten und ein zahnloser Mund zeichnen ein unerfreuliches Altersbild. Die Freudlosigkeit, die Agnes außerdem ausstrahlt, wird durch eine präzise Beschreibung ihrer Schlafgeräusche noch verstärkt: Nachts hört man in dem von einer Fischerfamilie gemieteten kleinen Haus »eine seltsame, kummervolle und missmutige Art des Schnarchens« (WE 18). Wie alles andere, was mit Agnes zu tun hat, stören Doralice auch die Schlafgeräusche der alten Frau, was damit zusammenhängt, dass sie in einer für sie ungewohnten räumlichen Enge leben muss und – was der ent-

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scheidende Grund für ihre Wahrnehmung ist – weil das gemeinsame Leben mit Hans Grill sie nicht glücklich macht. Es ist tatsächlich so, dass Agnes sie als Feindin betrachtet: Für sie ist Doralice ein Eindringling aus einer fremden Welt, zudem eine Ehebrecherin, die nur faulenzt, nichts arbeitet. In Agnesens Augen ist sie also ein wertloser Mensch, für den sie nur Verachtung übrig hat, was Doralice auch spürt. »Jetzt schien es Doralice, als käme mit den verschlafenen Lauten alle Bitterkeit heraus, welche die Alte gegen sie hegte.« (WE 18) Agnes kocht für die beiden Liebenden, und alles das, was sie auf den Tisch bringt, nimmt Doralice als schal und abgestanden wahr, »ganz eng, fest eingesperrt und riecht nach Kartoffelsuppe. Eine Welt, als ob Agnes sie geschaffen hätte.« (WE 20) Hans bestätigt Doralicens Einschätzung der alten Frau, indem er diese mit einem Tier vergleicht: »Sie ist wie ein Hund, dem der Stock seines Herrn auch nicht sympathisch ist, der ihn doch bewacht und verteidigt.« (WE 90) Mit dem Tiervergleich korreliert das Motiv des Ekels, welches in der Literatur über alte Frauenfiguren imaginiert wird.13 Agnes wird nicht mehr als Mensch oder gar als Frau, sondern lediglich als lebendige Kreatur wahrgenommen, die Doralice zuwider ist und mit ihrer Aura den Raum, der sie umgibt, negativ beleuchtet. Gewiß, dieser Regen, dieses graue Licht im engen Zimmer, dieses Mittagessen bewacht von Agnes’ freudlosen Blicken, diese ganz aussichtslose Alltäglichkeit, all das war traurig. (WE 91)

In Doralicens Augen steht Agnes für das Hässliche, Abstoßende überhaupt, und sie dient ihr als Projektionsfläche für das eigene Unglück:

13 Vor allem im Mittelalter griff man auf den Vetula-Topos zurück, wenn es um die Darstellung alter weiblicher Figuren ging. Henriette Herwig bezieht sich auf diesen Topos in ihrem Aufsatz »Ende und Anfang – man könnte sie verwechseln« über Thomas Manns letzte Novelle »Die Betrogene«. (In: Herwig [Hg.]: Alterskonzepte, S. 167-194)

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[...] wenn wir abends vom Spaziergange nach Hause kommen und Agnes steht da mit der Lampe, […] steht deutlich auf ihrem Gesicht zu lesen: Was sind sie denn so glücklich, es wird gleich wieder alles unangenehm und widerwärtig sein. (WE 79)

Sie verleugnet die eigene Unzufriedenheit mit dem Leben, das sie mit Hans führt, vor sich selbst und schiebt die alte Frau als Vorwand vor, die so zur Projektionsfläche wird. Hans hält die alte Frau für devot und vollkommen loyal, was korrekt ist, solange es um ihn geht. Sobald die Aufmerksamkeit von Agnes auf Doralice gerichtet ist, zeigen sich allerdings Hass und Aggression, weil diese Hans nicht glücklich machen kann: »[...] in den trüben Augen der alten Frau entzündeten sich grünliche Funken wie in den Augen böser Hunde.« (WE 117) Agnes hasst Doralice dafür, dass sie Hans verrät, indem sie den jungen Leutnant, den Bräutigam einer anderen, bei sich empfängt. Keine treue Dienerin möchte, dass jemand ihrem Herrn ein Leid antut. Sie hängt sehr an Hans und dieser kennt die Bedeutung, die er für die alte Frau hat: »Die arme Agnes braucht eben ihre ganze Liebesfähigkeit für mich auf, aber sie wird doch fest zu dir halten, wie zu allem, was mir gehört.« (WE 90) Irrtümlich glaubt er, Doralice zu besitzen, was die alte Frau durchschaut. Sie ahnt, dass die Beziehung für ihn nicht glücklich enden wird, und zeigt ihre Verachtung ostentativ, indem sie das Essen aufträgt mit dem »Ausdruck einer geduldigen, hochmütigen Ergebenheit« (WE 18). Ihr versteinertes Gesicht lässt darauf schließen, dass ihr alles, was mit Doralice in Zusammenhang steht, unangenehm und widerwärtig ist, was umgekehrt ebenso der Fall ist. Zunächst sieht es so aus, als habe Doralice recht damit, dass Agnes das Glück von Hans und Doralice nicht ertrage, doch wird bald deutlich, dass nicht die Eifersucht die alte Frau antreibt, sondern die Sorge um Hans: Doralice zieht ihn ins Unglück, was Agnes tatenlos mit ansehen muss. In den Stunden des vergeblichen Wartens auf Hansens Rückkehr mit dem Fischerboot taucht immer wieder die Gestalt der Agnes auf:

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Doralice schlug die Augen auf. Das Zimmer war hell; auf dem Stuhl am Fußende des Bettes saß Agnes in Tücher gewickelt; das kleine gelbe Gesicht schaute seltsam friedlich, fast heiter drein, die weiche Linie des zahnlosen Mundes zuckte in einem verhaltenen Lächeln. (WE 137)

Am Ende des Romans verschwinden Ekel und Ablehnung, um einem positiven Bild von der alten Frau Platz zu machen. »Agnes Lachen klang herzlich und behaglich in das Pfeifen und Stöhnen des Windes hinein.« (WE 137) Wie es Hans prophezeit hat, überträgt die alte Frau nach Hansens Unfall ihre Zuneigung auf Doralice und es präsentiert sich eine andere Agnes: Die alte Frau, die sich um Hans keine Sorgen mehr machen muss, hat in Doralice eine Nachfolgerin für ihn gefunden, der sie jetzt voller Ergebenheit dient. Dadurch wird der Blick der jungen Frau auf die alte ein anderer: Vor Hansens Tod sieht sie sich von Agnes geduldet, danach empfindet sie sich von ihr als umsorgt. Der Leidenden, vom Schicksal Geschlagenen kann Agnes sich zuwenden, der von allen Männern Begehrten hingegen nicht. Agnes wird kontrastiv in der Figur der jungen Ernestine gespiegelt, »dem kleinen Dienstmädchen« der Generalin. Während die alte Agnes beim Servieren immer schweigt, redet Ernestine ununterbrochen, während sie das Essen aufträgt. Agnes versieht mechanisch ihren Dienst als Haushälterin, Ernestine ist aktiv und tut genau das, was im Verlauf der Erzählung die gefühlsmäßigen Verwicklungen hervorruft: Sie agiert, ohne gesellschaftliche Regeln zu berücksichtigen. Die Generalin berichtet bei Tisch: »Ja, unsere Bork hat es mit Ernestines Erziehung schwer, denkt euch, heute mittag entschließt sich das Mädchen zu baden. Sie geht ins Meer nackt wie ein Finger, am hellen Mittag.« (WE 8)

Alle Zuhörer glauben einen erotischen Unterton zu erkennen, den die alte Frau wahrscheinlich nicht gemeint hat, denn sie lacht, als habe sie einen Witz gemacht. Ihre Tochter, die Baronin, ist entrüstet, und die Jugendlichen sind verwirrt. Ernestine dagegen verschwindet »ki-

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chernd«; sie ist sich ihrer erotischen Ausstrahlung sehr wohl bewusst. In vergleichbarer gesellschaftlicher Position lebend, zeigt sie sich als junge Frau freier und mutiger als die beiden alten Frauen, Malwine und Agnes. Erotik und Sexualität, welche die Alten längst hinter sich gelassen oder nie erfahren haben, werden jungen Frauen zugeschrieben. Die dritte alte Frau, die Generalin, nimmt dazu einen anderen, einen dritten Standpunkt ein: Sexuelle Regungen sind unabhängig vom Alter beherrschbar, indem der Verstand eingesetzt wird. Derjenige, der sexuelle Wünsche und Träume verdrängen kann, handelt in ihren Augen »vernünftig«.

3.3 D IE E RZÄHLPERSPEKTIVE DER W EIBLICHKEIT

UND DIE

Z EICHEN

Die beiden Dienerinnen, Malwine und Agnes, werden aus der Außenperspektive betrachtet. Der Blick auf Malwine Bork gehört meistens der Generalin, an deren Seite sie sich fast immer aufhält und der sie zu folgen hat. Agnes dagegen wird mit den Augen von Doralice gesehen, die sich durch die alte Frau gestört und provoziert fühlt, was sich erst zum Schluss des Romans ändert. Was im Innern der alten Frauen geschieht, lässt sich nur erahnen, so dass das Altersbild weitgehend von der Sicht auf den Körper der beiden bestimmt ist. Und hier fällt auf, dass die Reden über das weibliche Alter von Elementen der Vermännlichung geprägt sind. Die Physiognomien beider Frauenfiguren haben im Alter männliche Züge angenommen und weibliche Attribute bleiben unerwähnt, als ob sie nicht mehr existierten. Die beiden Alten sehen aus wie alte Männer und wenn die Erkennungsmerkmale nicht männlich sind, so sind sie geschlechtsneutral oder gar tierisch. Man denke an die gelbe Farbe von Agnesens Gesichtshaut, die tief darin eingekerbten Falten und Runzeln, und an ihre Augen, die an einen Hund erinnern. Weiblichkeit ist demnach im Alter eliminiert. Höchstens die starke Emotionalität, welche die Figur der Malwine auszeichnet, könnte Weiblichkeit signalisieren, die dann im Widerspruch zu

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ihrem vermännlichten Körper stände. Die Figur der Agnes zeigt weiblich konnotiertes Verhalten durch ihre Unterwürfigkeit gegenüber Hans und die starke Ablehnung von Doralice; im Kontrast dazu steht auch in ihrem Fall die Geschlechtslosigkeit der äußeren Erscheinung. Es bleibt allerdings fraglich, ob Emotionalität, Hass und Eifersucht dem Weiblichen zugeschrieben werden müssen. Denn im gesamten Roman sind die alten Frauenfiguren aus Bürgertum und Unterschicht als weitgehend geschlechtslose Wesen dargestellt, was auf die adelige Generalin, die Patriarchin, jedoch nicht zutrifft. Im Gegenteil, der Blick auf ihre Garderobe und Frisuren erkennt vor allem ihre Weiblichkeit. Das bedeutet, die Zeichen des weiblichen Körpers werden in ihrem Fall im Alter wahrgenommen, während der Blick auf die alten Frauenfiguren aus den unteren Gesellschaftsschichten keine weiblichen Attribute mehr sieht: Die alten Frauen sind verbraucht von einem schweren, etwa bei Agnes, oder einem unerfüllten Leben, wie es Malwine geführt hat. Die Zeichen der Weiblichkeit bei der adligen alten Frau betonen indes weniger das eigene Geschlecht als den Kontrast zum männlichen Geschlecht, welches durch kluges weibliches Handeln desavouiert wird. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Zeichen von Weiblichkeit an alten weiblichen Körpern teilweise verloren gegangen sind: Die Außenperspektive, die neben den Körpern auch das Verhalten wahrnimmt, zeigt geschlechtsneutrale und vermännlichte alte Frauenfiguren, die mit tierischen Attributen belegt werden. Ausgenommen davon ist die Generalin Palikow, die alte Figur aus der Adelsgesellschaft, die ihre weiblichen Merkmale behält und sich dadurch positiv von den labilen, schwachen und wenig entscheidungsfreudigen männlichen Figuren absetzt.

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3.4 G ENERALIN P ALIKOW ,

DIE

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P ATRIARCHIN

Es ist die Adelsgesellschaft aus Keyserlings baltischer Heimat, an die viele seiner Romanfiguren erinnern. Die verwitwete Generalin Palikow, die, wie damals üblich, den Generalsrang ihres verstorbenen Mannes in ihren Namen übernommen hat, ist das Oberhaupt der Familie. Das Figurenmodell der Patriarchin besagt, dass sie einem System von sozialen Beziehungen, Werten und Normen vorsteht. Der Begriff beinhaltet allerdings auch, dass dieses System ursprünglich von Vätern und Männern geprägt und beherrscht wurde: Das männliche Oberhaupt hat die rechtliche und ökonomische Macht über die von ihm abhängigen Familienmitglieder. Die Frauen spielen insofern eine nachgeordnete Rolle, als sie die Männerherrschaft nach dem Tod des Familienoberhaupts ererbt haben.14 Die skizzierten Figurenmodelle der Gesellschafterin Malwine Bork und der armen Verwandten Agnes sind in Relation zur Patriarchin zu sehen, schließlich konstituieren sie sich in Teilen erst durch die sie prägenden Gegensätze. Beispielsweise fehlen in der Darstellung der Patriarchin die Zeichen der Vermännlichung, was auf den ersten Blick dem Figurenmodell, welches ursprünglich männlich geprägt war, widerspricht. Die verwitwete Generalin Palikow, deren Vorname nirgends auftaucht, tritt als stattliche alte Dame mit Haube und weißen »Haarku-

14 Interessant ist, dass das Wort »Patriarchin« immer noch verwendet wird, obgleich es doch eine männlich bestimmte Weltsicht spiegelt. So schreibt die Süddeutsche Zeitung am 17. Juli 2014: »Am 17. Juli wird diese Kanzlerin sechzig Jahre alt. Und aus der einst aggressiv belächelten ›Mutti‹ der CDU ist eine politische Patriarchin geworden [...]« Das Wort Patriarchin beschreibt, was Merkel nach bald neun Jahren Kanzlerschaft erreicht hat: Sie ist die nicht von allen geliebte, aber unangefochtene Regentin Europas.«. Stefan Braun: Der Sommer der Patriarchin in: Süddeutsche Zeitung vom 17.7.2014. Online abrufbar unter: http://sueddeutsche.de/politik/ kanzlerin-angela-merkel-wird-der-sommer-der-patriarchin-1.2049144 [zuletzt abgerufen am 16.4.2017].

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chen« an den Schläfen auf. Da sie sehr temperamentvoll agiert, ist sie immer ein wenig außer Atem: »Voran die Generalin im weitläufigen weißen Pikeekleide und einem großen Strohhut über dem erhitzten Gesicht.« (WE 72) Mit ihren etwas vorstehenden grellblauen Augen scheint sie die gesamte Umgebung ständig zu beobachten; ihr Auftritt ist fulminant, »wie ein Schiff, das alle Segel aufgezogen hat« (WE 84). Im Gegensatz dazu wirkt ihre Gesellschafterin Malwine Bork unauffällig und zurückhaltend,15 wie »eine bescheidene, nichtssagende Schaluppe« (WE 84). Die Generalin schätzt »allgemeine Bemerkungen«, das heißt, sie schätzt nicht das Besondere, das, was aus dem gesellschaftlich normierten Rahmen fällt, lehnt es vielmehr als unakzeptabel ab. Ihre dominante Stellung in der Familie ist so gefestigt, dass sie die eigene Haltung durchsetzen kann, auch wenn persönliche Gefühle anderer dabei verletzt werden. Bei aller Dominanz ist sie zugleich eine mütterliche Person, die ihren Kindern den Aufenthalt an der See so angenehm wie möglich gestalten möchte. Allerdings erwartet sie hierfür die Anerkennung ihrer Kinder: »[B]ei allem, was ich gebe, sind sie kritisch wie ein Theaterpublikum.« (WE 6) Als alte Frau betrachtet sie die skandalösen Geschichten in ihrer Umgebung mit Distanz, nimmt aber eine kompromisslos harte Haltung denen gegenüber ein, welche die gesellschaftlichen Regeln verletzen. So weigert sie sich zunächst, die Ehebrecherin Doralice zu grüßen, denn »der Strand ist breit genug« (WE 12).Sie war schon mit deren Mutter bekannt, für die sie nur verächtliche Worte übrig hat: »eine dumme Gans, die nichts zu tun hatte im Leben als Migräne zu haben« (WE 10). Auch ihre eigene schwächliche Tochter, die sich ständig vor der Zukunft fürchtet und sich mit den angeblichen und tatsächlichen Seitensprüngen ihres Ehemannes quält, verachtet sie, während sie selbst in vollem Vertrauen auf ihre gesellschaftliche Stellung immer selbst- und

15 Vgl. hierzu die Analyse der Figur der Gesellschafterin, in der diese Textstelle bereits zitiert wurde.

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standesbewusst auftritt: »[W]ir beide sind zwei Festungen, zu denen Leute, die nicht zu uns gehören, keinen Zutritt haben [...].« (WE 12) In ihrem langen Leben hat sie gelernt, dass es in allen Lebenslagen am wichtigsten ist, Haltung zu bewahren und die Führung inne zu haben. Verbale Auseinandersetzungen sollten ihrer Meinung nach, wenn möglich, vermieden werden; sind sie jedoch unumgänglich, sollten Konfliktgespräche knapp, deutlich und zielgerichtet sein: »besser kurz und scharf, als lang und sauer« (WE 97). Die alte Generalin fühlt sich verantwortlich für ihre Familie und die Dienstboten und achtet auf die Einhaltung der vorgegebenen gesellschaftlichen Grenzen, allerdings nicht mit der Rigidität ihrer Tochter, von der am Ende dieses Kapitels noch die Rede sein wird. Als Hausherrin ist es ihr besonders wichtig, dass es der Familie in ihrem Haus gut geht. Doch die Menschen ihrer Umgebung täuschen sich, wenn sie annehmen, deren wichtigstes Bestreben sei es, die männlichen Wesen der Familie, wie zum Beispiel den Schwiegersohn oder den Enkel, zu umsorgen und zu verwöhnen, denn sie hat im Lauf ihres Lebens zu einer kritischen Haltung Männern gegenüber gefunden. Die Ursache für die häufig anzutreffenden Wahrnehmungsirrtümer, die sich auf alte Menschen beziehen, kann die Gleichgültigkeit sein, die zwischen den Menschen und Generationen herrscht. Gleichgültigkeit ist hier gemeint im Sinne von In-Differenz, also keinen Unterschied dort zu machen, wo eigentlich einer zu machen wäre. Wenn das Individuelle hinter dem Allgemeinen verschwindet, kommt es leicht zu Wahrnehmungsirrtümern und Missverständnissen. Diese werden auch deshalb gern zugelassen, weil klare Abgrenzungen und Zuordnungen ohne individuelle Nuancierungen die Welt leichter zu verstehen und zu ertragen helfen. So ist es sehr fraglich, ob die Tochter die Einstellung ihrer Mutter zum männlichen Geschlecht verstehen kann. Die Generalin respektiert zwar die Regeln adeliger Heiratspolitik, verachtet aber die Labilität und Unzuverlässigkeit der Männer. Ihrer Auffassung nach taugen die Männer nichts, sie sind unsolide und unfähig, eine Frau auf Dauer glücklich zu machen. Ihre Tochter in die Ehe zu geben, war für sie, als ob sie die junge Frau auf einen Luftballon ge-

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setzt hätte, »von dem man nicht weiß, wohin der Wind ihn wehen wird« (WE 55). Hier spielt sie auf die sexuelle Doppelmoral der Zeit an: Frauen müssen damit rechnen, dass sie, kaum dass sie erobert sind, schon wieder betrogen werden. Was die Ehe für sie noch schwieriger macht, ist die Tatsache, dass das Altern für Männer leichter zu leben ist als für Frauen: »[E]in hübscher Mann konserviert sich länger als unsereins [...].« (WE 58) Ein Mann ist es nicht wert, dass eine Frau sich seinetwegen grämt oder gar aus Kummer stirbt. Für die Frau ist es besser, aus Selbstschutz möglichst wenige Emotionen in eine Beziehung zu investieren. Die alte Frau hält an der alten Zeit fest: Auch früher verlobte man sich mit dem Partner, den die Familie ausgesucht hatte, dann verliebte man sich und war auch eifersüchtig, wenn man betrogen wurde, aber man blieb letztlich »vernünftig«. Man richtete sich, so gut es ging, in der Konvenienzehe ein, denn alle Ehen im Adel waren arrangierte Ehen. Der Selbstmordversuch der Enkelin passt nicht in dieses Denkschema und wird deshalb von der Großmutter dem väterlichen Erbe zugeschrieben, während sie für die eigenen Nachkommen ein solch hohes Maß an Emotionalität ausschließt: »Das ist die Buttlärsche Übertriebenheit, die dummen Buttlärschen Herzen.« (WE 113 f.) Den Frauen, die wie Doralice aus ihren goldenen Käfigen ausbrechen, gibt sie keine Chance auf ein glückliches Leben: »[...] ein liebes und nettes Ding. Schade um sie.« (WE 74) Denn sie vergleicht den weiblichen »Schritt vom Wege«, den Ehebruch, mit dem Kettenstich auf der Nähmaschine: Wenn ein einziger Faden herausgezogen wird, lösen sich alle Stiche, eine Erkenntnis, welche die Erfahrungen eines langen Lebens spiegelt und die Beschränktheit des Frauenlebens unterstreicht. Doralice ist in den Augen der Generalin eine »gefallene Frau«, die ihre Standesehre und ihre Frauenehre verloren hat. Eine Frau, die einmal mit der geltenden Norm gebrochen hat, wird in den Augen der Gesellschaft, insbesondere der Männer, zum Freiwild. Alle männlichen Figuren im Roman schauen mit begehrlichen Blicken auf Doralice, glauben ein Anrecht auf sie zu haben und behandeln sie nicht mehr als Dame, sondern als ein weibli-

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ches Wesen, das sie erobern und besitzen können. Diese Verhaltensstrukturen kennt die altersweise Generalin genau. Der Standort, von dem aus Alter definiert wird, ist ausschlaggebend für die Wahrnehmung eines Menschen als »alt« oder »noch nicht alt«. Das Alter erscheint immer als eine relative Position: Es ist Ausdruck einer Beziehung zwischen Menschen und nicht die unabhängige Eigenschaft eines Einzelnen. Der Einzelne kann für sich das Alter nicht definieren. Durch Altersangaben und Altersbenennungen wird das Individuum in Beziehung zu anderen gesetzt oder es tut dies selbst. Dabei können Eigen- und Fremdzuschreibungen je nach Kontext variieren und sehr verschieden sein. Sich selbst als alt bzw. jung zu positionieren, kann die Funktion haben, Aussagen über die moralischen Eigenschaften des Gegenübers zu treffen. Altersbezeichnungen als Eigenzuschreibungen können auch Ausdruck von Gefühlsregungen sich selbst gegenüber sein, etwa wenn die Generalin zu sich selbst spricht: »ich alte dumme Gans«. Sie erlebt sich nur in Beziehung zu und im Vergleich mit andern als alt und dadurch entsteht eine Form von Abhängigkeit. Unter der oben beschriebenen Prämisse, dass das Alter Beziehungen zwischen den Menschen ausdrückt, ist die schwächliche Tochter der Generalin eine wahrhaft alte Figur. Wie es zu erwarten ist, hat die alte Generalin am Schluss des Romans immer noch die Führung inne. Zwar haben die Ereignisse sie betroffen gemacht: »Das große Gesicht war jetzt bleich und sah alt und kummervoll aus.« (WE 114) Doch löst sie die Affäre im Sinne der eigenen Familie auf, indem sie Doralice bedrängt, von dem jungen Mann zu lassen, der ihre Enkelin heiraten soll: »Glauben Sie mir, man kann sehr gut leben, auch ohne dass ein Mannsbild immer vor einem auf den Knien liegt.« (WE 115) Weibliche Dominanz beweist sie auch, wenn sie Doralice auffordert zu handeln, um größeres Unglück zu verhindern: »Sie haben ihn unvernünftig gemacht, machen Sie ihn auch wieder vernünftig.« (WE 115) Den Appell unterstreicht sie mit einem mütterlichen Streicheln. Sie gibt also ihre Lebenserfahrungen an die junge Frau weiter, die diese auch annimmt. Indem sie ihr dringend rät, sich nicht immer wieder

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entführen zu lassen, zeigt sie Altersweisheit und auch Empathie, denn sie ist sich der verheerenden Folgen für die junge Frau gewiss. So verteidigt sie die adelige Heiratspolitik ihrer Familie und rettet den Bräutigam für die Enkelin, gibt aber gleichzeitig Doralice den richtigen Rat, sich von diesem abzugrenzen, der ja bloß verführen und erobern will. Und damit bewahrt sie Doralice vor der Versuchung, erneut der Macht des Eros zu erliegen. Im Gegensatz zu ihrer bornierten Tochter kann die Generalin auch großmütig und weitherzig sein. Wenn es sein muss, springt sie über ihren eigenen Schatten, lässt den Kontakt zu Doralice zu und sucht sie sogar auf, um mit ihr zu reden. Letztendlich tut ihr die junge Frau sogar leid. Sie ist also eine alte Frau, die Verwicklungen auflöst und Trost spendet. Weder mit Worten noch in der Aktion zeigt sie Schwächen; das Gegenteil ist der Fall: Im Alter weitet sie ihren Führungsanspruch über die Familie hinaus auf andere aus und ist damit wesentlich »jünger«, offener und wendiger als die Tochter. Unter dem Genderaspekt betrachtet, handelt es sich hier um eine Aufwertung des weiblichen Elements zuungunsten des männlichen. Allerdings findet sich auch ein Makel in der Konzeption dieser alten Frauenfigur: Für dieses eine Mal ist der Bräutigam zwar vor erotischer Versuchung gerettet, doch es wird weitere erfolgreichere Versuchungen geben, und die Enkelin wird das gleiche Schicksal wie die Tochter erleiden. Dass die adelige Heiratspolitik das Unglück der Frauen befördert, erkennt die alte Generalin entweder nicht oder, was wahrscheinlicher ist, sie kann sich keine Alternative dazu vorstellen.

3.5

G ROSSMUTTER W ARDEIN

Erst seit der Zeit der Aufklärung wird die Kindheit als Lebensphase thematisiert, und mit der Entdeckung der Kindheit wird auch die Großelternrolle, wie man sie heute kennt, entwickelt. Dabei liegt der Fokus in der Darstellung der Beziehungen von Enkeln und Großeltern zunächst auf der ersten Lebensphase des Kindes, während die Großeltern

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insgesamt nur geringe Bedeutung haben.16 Ihren Kindern dürfen sie nichts mehr vorschreiben, lediglich den heranwachsenden Enkeln gegenüber können sie noch Autorität ausüben. Diese Abwertung alter Menschen belegt der Soziologe Gerd Göckenjan in seinen Forschungen zum Großmutterkonzept.17 Miriam Seidler folgert daraus in ihrer Arbeit über die Figurenmodelle des Alters: Er sieht die soziale Definition der Rolle überlagert von stark emotionalisierten Vorstellungen davon, wie diese idealerweise ausgefüllt werden soll. Das im 19. Jahrhundert entwickelte Konzept der Großmutter hatte bereits während seiner Etablierung wenig mit dem realen Alltag der Großmütter gemein, dennoch ist es bis heute in den Köpfen der Menschen präsent.18

Der Roman »Wellen« folgt dieser Idealisierung nicht: Weder die Generalin noch die Großmutter Wardein sind verklärte Großmutterfiguren; beide stehen ihren Enkeln distanziert gegenüber. Die Großmutter der Fischerfamilie Wardein wird sogar nie in einen expliziten Bezug zu ihren Enkeln gestellt. Deutlicher noch als die Figur der Agnes wird diese alte Frau ausschließlich in ihrer Körperlichkeit auktorial beschrieben. Die Physiognomie der achtzigjährigen Großmutter hat im Alter ähnlich wie die der Malwine und die der Agnes männliche Züge angenommen. Sie ist »groß und knochig wie ein Mann« und bei großer Hitze «legte [sie] ihre seltsam knochigen Hände flach auf die Kniescheiben, um sie zu kühlen« (WE 43). Ähnlich wie Mutter Nimptsch aus Fontanes Roman »Irrungen, Wirrungen« verharrt sie kataleptisch in einer einzigen Haltung und verändert diese nicht: Entweder sitzt sie im Kreis ihrer Familie oder sie sitzt dem Maler Hans Modell. Dieser Stupor im Alter hat medizinische Gründe, kennzeichnet aber darüber hinaus auch die Grenzsituation, in der ein alter Mensch lebt: Er nähert

16 Höpflinger: Enkelkinder und Großeltern, S. 78. 17 Vgl. Göckenjan: Die »Erfindung« der Großmutter im 19. Jahrhundert, in: Herwig (Hg.), Alterskonzepte, S. 103-121. 18 Seidler: Figurenmodelle, S. 228.

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sich dem Tod, befindet sich demnach in einer Phase des Übergangs vom Leben zum Tod, von der lebendigen Bewegung in die Todesstarre. In sitzender Haltung sind die Hände der Großmutter im Schoß gefaltet und die Sonne lässt ihre harte runzlige Haut glänzen, »als sei noch eine Spur alter Vergoldung an ihr haften geblieben« (WE 100). Ihre trüben »gelben« Augen zeigen keine Anteilnahme an den Menschen ihrer Umgebung. Im Gegenteil, sie »schauten in die Weite mit einem Blick, der starr auf eine sehr große gleichgültige Ferne hinaussieht« (WE 100). Der Blick von außen erkennt Apathie und Teilnahmslosigkeit, die wie bei der alten Frau Nimptsch, welche ihre Todeserwartung formuliert, auf die zeitliche Nähe des Todes zurückzuführen sind. Doch am Ende des Romans »Wellen« zeigt es sich, dass diese Außenwahrnehmung nicht mit der Selbstwahrnehmung übereinstimmt, was für viele Altersbilder signifikant ist. Der Vergleich mit den jungen Fischerfrauen macht deutlich, dass die alte Frau in extrem schwierigen Situationen besser zurechtkommt als die jungen Frauen. Zwar meistern alle Frauen der Fischer ihr karges Leben mit Realismus und Zielstrebigkeit: Das sind Blicke, die nicht so planlos an den Dingen herumwischen, das sind Blicke, die ohne Umweg gerade auf den Punkt treffen, der ihnen wichtig ist, wie der Hammer in der Hand eines guten Handwerkers gerade und hart immer auf den richtigen Fleck schlägt. (WE 32)

Als aber Hans, der Maler, und ein Fischer auf dem Meer tödlich verunglücken, erkennt die Großmutter als erste den Ernst der Lage, und zwar indem sie das Wetter deutet. Mit ihrer Erfahrung weiß sie die Zeichen der Natur besser und schneller zu deuten als die Jungen.

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Die Großmutter hatte sich in ihren Kissen aufgerichtet und starrte auf das Fenster, als könnten ihre Augen sehr weit in diese Dunkelheit hineinsehen. »Schlechter Wind, schlechter Wind«, murmelte sie. (WE 134)

Der Blick von außen nimmt also nur das wahr, was er sehen kann. Die alte Frau selbst scheint von der Wahrnehmungsschärfe, sofern sie sich auf die sie umgebende Natur bezieht, nichts eingebüßt zu haben. Dabei ist ihre Stimme tief geworden wie eine Männerstimme. Die tiefe heisere Stimme sprach ruhig vor sich hin, nicht als spräche sie für die anderen, sondern als könnte sie, einmal in Schwung gebracht, nicht sogleich wieder verstummen. (WE 101)

Das Motiv der Maskulinisierung taucht immer wieder in den weiblichen Altersrepräsentationen auf, so als ende mit dem Alter auch das Frausein. Wenn Stimme und Physiognomie im weiblichen Alter keine Geschlechtsmerkmale mehr sein können, bedeutet dies Abwertung und Destruktion von Weiblichkeit.

3.6 ALTE F RAUEN

UND DIE

Z EICHEN DER N ATUR

Großmutter Wardein bleibt geheimnisvoll und verschlossen aufgrund der konsequenten Außenperspektive, und der Stupor antizipiert den nahen Tod. Ihr vermännlichter Körper ähnelt den beiden alten Dienerfiguren im Roman, Malwine und Agnes, und auch der Babulja aus Čechovs Erzählung »Die Braut«. Ihre Fähigkeiten, die Zeichen der Natur zu deuten, stellen sie in die Nähe der Frau Margret, die sich gesellschaftlich und topographisch in einem ganz anderen Umfeld bewegt. Beide alten Frauen äußern sich zu den Erscheinungen in der Natur, sie versuchen, ihnen einen Sinn zugeben, und deuten sie in Bezug auf das menschliche Leben. Frau Margret betrachtet den nächtlichen Sternenhimmel und leitet daraus phantastische Ereignisse und Gestalten ab. Großmutter Wardein allerdings beobachtet die Natur mit ganz realisti-

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schen Resultaten: An der Art, wie das Meer rauscht, erkennt sie die tödliche Gefahr für die Fischerboote, lange bevor die jüngeren Frauen Gewissheit bekommen. Im literarischen Diskurs über weibliches Alter kommt diese enge Bindung an die Erscheinungen der Natur häufig vor. Doch sind es dann oft deformierte weibliche Figuren wie die Hexen in Märchen und Sagen, die bei aller Naturverbundenheit fast immer mit dem Teufel im Bund stehen.19 In der neueren deutschsprachigen Literatur finden sich bedeutende Deformationen von Weiblichkeit in den Dramen Friedrich Dürrenmatts, wobei die »alte Dame« Claire zum Stereotyp der bösen Alten geworden ist.20 Von den Verunglimpfungen, die den alten Frauen in der Literatur auf diese Weise oft widerfahren, kann allerdings bei den hier beschriebenen Frauenfiguren, die sich mit den Erscheinungen der Natur auseinandersetzen, nicht die Rede sein.

3.7 K ORRESPONDENZRELATIONEN ODER K ONTRASTRELATIONEN ZWISCHEN DEN ALTEN F RAUENFIGUREN Die Distinktion der alten Frauenfiguren gegenüber den jungen ist in erster Linie körperlich bestimmt, betrifft aber auch die Lebenssituation im familiären und außerfamiliären Umfeld. Die vier weiblichen Figuren, deren fiktive Lebenswege sich für ein paar Tage kreuzen, korrespondieren miteinander in Bezug auf ihr Lebensalter und ihre Lebenssituation, denn die alten Frauen leben alle ohne männlichen Partner. Für kurze Zeit sind sie an einem Ort versammelt, wobei die sommerliche Schwüle etwas Morbides, Kränkliches ausdrückt, was mit dem Alter korrespondiert. Auch das totbringende Meer passt in diesen Kontext: Die Fischer erzählen davon und der junge Maler ertrinkt darin. Am

19 Vgl. dazu: Pott: Eigensinn des Alters. 20 Vgl. Sabine Schu: Deformierte Weiblichkeit bei Friedrich Dürrenmatt. Eine Untersuchung des dramatischen Werkes, St. Ingbert 2007.

3. V IER

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Strand sind die alten Frauen nicht zu sehen; er ist besetzt von der Gräfin Doralice, welche die Handlungen erst auslöst. Bei den vier alten Frauenfiguren bedingt das Alter körperliche Deformationen, wenn auch die Vermännlichung nur drei Frauen trifft, so ist doch auch die Generalin von Altersdeformationen betroffen. Sie bekommt schlecht Luft, hat mit Haarausfall zu kämpfen und könnte Schilddrüsenprobleme haben, was an ihren Augen zu erkennen ist. Sie war sehr erhitzt und löste die Haubenbänder unterm Kinn. Das lila Sommerkleid knisterte leicht, die weißen Haarkuchen an den Schläfen waren verschoben und sie atmete stark [...] und schaute mit den ein wenig hervorstehenden grellblauen Augen kritisch im Zimmer umher. (WE 5)

Die Darstellungsformen korrespondieren ebenfalls. Alle alten Frauen sind intern fokalisiert dargestellt, sie äußern sich durch das, was sie sagen, durch ihre Bewegungen, ihre Mimik und Gestik. Ihre Gedanken kennt der Leser nicht. Gleichwohl überwiegen die Kontrastrelationen, denn die Frauenfiguren, die sich bezüglich ihres Lebensalters gleichen, unterscheiden sich in ihrer gesellschaftlichen Positionierung, in ihrem Charakter und ihrer bisherigen Lebensführung. Aber auch in ihrer Bedeutung für andere Figuren und für den Fort- und Ausgang der Handlung spielt jede Figur ihre eigene Rolle. Die Patriarchin regiert uneingeschränkt die Familie und berät die anderen, während die Großmutter zwar von der Familie versorgt und gepflegt wird, aber keinen Einfluss mehr auf die Schicksale anderer nimmt. Die Gesellschafterin ist die Untergebene, die mangels eigener Lebenserfahrung die jungen Frauen nicht belehren kann, und die arme Verwandte ist viel zu diskret, um andere an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen. Wie die Alterskonzepte im Roman »Wellen« zeigen, bedeutet »alt sein« noch lange nicht »gleich sein«. In Keyserlings Roman gibt es keine Stereotypen des weiblichen Alters. Auch wenn viele körperliche Merkmale übereinstimmen, präsentiert jede alte Frauenfigur ihr eigenes Altsein.

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3.8 D IE T OCHTER ALS » ÄLTESTE « F RAUENFIGUR : B ARONIN B UTTLÄR Alter bemisst sich nicht nach Lebensjahren, sondern nach den ausgesprochenen und unausgesprochenen Beziehungen, die Menschen in ihrem Umfeld miteinander pflegen. Gemäß dieser Annahme ist jener Mensch alt, der rückwärtsgewandt lebt, sich nicht am familiären oder freundschaftlichen Miteinander erfreuen kann, keinen Wert mehr auf Äußerlichkeiten legt und angstvoll in die Zukunft schaut. Die Baronin von Buttlär, die Tochter der Generalin, ist die konservativste Frauenfigur im Roman; ihre gesellschaftskonforme Haltung, die sie mit Rigidität postuliert und lebt, macht sie zur ältesten unter den Frauen, obgleich sie kalendarisch zu den jüngeren Frauen zählt. Sie hat drei heranwachsende Kinder zwischen zwölf und zwanzig Jahren und ist demnach um die vierzig Jahre alt. Ihre zementierten Vorstellungen darüber, wie ein adeliges Frauenleben auszusehen hat, zeigen sich in ihrer Haltung ihrem Ehemann gegenüber und in ihrem Umgang mit dem eigenen Körper. Sie hat sich ihrem Mann vollkommen untergeordnet und eigene Bedürfnisse ausgeschaltet. Seine Seitensprünge lässt sie sich gefallen, ohne zu revoltieren, stattdessen befördert sie sie wahrscheinlich noch, dadurch dass sie ihr Äußeres vernachlässigt und ständig kränkelt. Hinzu kommt, dass sie ihrem Mann und ihren Kindern gegenüber keine Lebensfreude ausstrahlt, denn sie wird, wie sie es ihrer Mutter gegenüber formuliert, von vielen Ängsten geplagt, die sie zu einer lethargischen und passiven Frau machen. Sie ist eine alte Tochter und damit die Kontrastfigur zu ihrer aktiven Mutter, die zwar ihrer Familie und ihren Dienstboten gegenüber sehr bestimmend auftritt, sich aber für ihre Mitmenschen interessiert und zupackend und mutig hilft, wenn es nötig ist. Was sie auszeichnet, ist die praktische Intelligenz, mit der sie auf die innerfamiliären Verwicklungen reagiert, während ihre »alte« Tochter unflexibel und passiv die Ereignisse geschehen lässt. Es ist, als sei sie zu kraftlos und zu alt, um zu reagieren.

4.

Anton Čechov: »Eine langweilige Geschichte«

4.1 V ARJA − GESPIEGELT IN DEN AUFZEICHNUNGEN IHRES M ANNES Ich gehöre nicht zu den Schriftstellern,

die

sich

der

Wissenschaft

gegenüber ablehnend verhalten; auch zu denen, die alles nur durch die eigene Brille sehen, möchte ich nicht gehören.1

Die Figur der Varja, der Ehefrau des Protagonisten dieser Erzählung,2 Professor Nikolaj Stepanyč, gehört zu der Kategorie der stillen alten Frauenfiguren, die scheinbar nichts mehr zu sagen haben und in die Bedeutungslosigkeit abgeschoben worden sind. »Eine langweilige Geschichte« ist eine der längeren Erzählungen Čechovs, die er schrieb, als er knapp 30 Jahre alt war. Sie zeigt beson-

1

Anton Čechov: Brief an G.I. Rossolimo vom 11.11.1899, in: Anton Tschechow: Briefe, übers. v. Ada Knipper u. Gerhard Dick, München 1971, S. 393-395, hier: S. 394.

2

Ders.: Eine langweilige Geschichte. In: Kleine Romane I, übers. v. Ada Knipper und Gerhard Dick, hg. v. Peter Urban, Zürich 1976, S. 7-82

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ders deutlich, wie eng Figurenkonstruktionen und Narration mit den Themen Alter und Geschlecht verwoben sein können. Čechov präsentiert in seinen Dramen und Prosatexten viele alte Figuren, obgleich er den Prozess des Alterns selbst nie erlebt hat. In der Regel bewegen sich seine alten Figuren an der Grenze zum Degoutanten, Hässlichen und Unangenehmen, ihre Erinnerungen werden von den anderen Figuren ignoriert und mit den neuen Zeiten kommen sie nicht mehr zurecht, wie es beispielsweise bei Ljubov’ Andreevna aus dem »Kirschgarten« der Fall ist. Scheinbar gelingende Altersbiographien wie in der Erzählung »Herzchen« sind ironisch gebrochen, was auch damit zusammenhängen mag, dass Čechovs Figuren, unabhängig von Alter und Geschlecht, fast immer mit ihren Lebenskonzepten nicht im Reinen sind. In der Erzählung »Eine langweilige Geschichte« geht es vordergründig um das männliche Alter: Der Protagonist Nikolaj Stepanyč erzählt als homo- und zugleich autodiegetischer Erzähler die Geschichte seiner letzten Lebensmonate. Im Untertitel »Aus den Aufzeichnungen eines alten Mannes« wird die zeitliche Koinzidenz von Erzählen und Erzähltem suggeriert. Dieses gleichzeitige Erzählen mit interner Fokalisierung lässt einen unverstellten Blick auf das Alterskonzept des IchErzählers zu. Er selbst verkörpert das männliche Alter, während er das weibliche Alter am Beispiel seiner Ehefrau Varja beobachtet und bewertet. Vermöge dieser narratologischen Konstruktion lässt Čechov den Leser in der Unsicherheit, ob das präsentierte weibliche Alter auf der Ebene der fiktionalen Welt wirklich so aussieht, wie der IchErzähler es beschreibt, oder, was eher anzunehmen ist, ob es vom IchErzähler so und nicht anders gesehen wird. Zum besseren Verständnis der weiblichen Altersfigur Varja werde ich auf die Probleme der Fokalisierung eingehen und mich dann damit beschäftigen, mit welcher Rede von Gender und Alter gesprochen wird. Da der Ich-Erzähler zwei Rollen spielt, die des erzählenden und die des erlebenden Ichs, liegt die Notwendigkeit nahe, die erzählerische Zuverlässigkeit zu untersuchen. Es wird zu prüfen sein, ob die negativen Beschreibungen und Kommentare über die Frauen allgemein und über Varja im Besonderen dem theoretisch unzuverlässigen intradiegetischen Erzähler zuzurechnen

4. A NTON Č ECHOV: »E INE LANGWEILIGE G ESCHICHTE«

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sind und sie damit in der fiktionalen Welt nicht unbedingt wahr sein müssen. Erschwerend kommt hinzu, dass Čechovs Erzählungen oft so konstruiert sind, dass der Erzähler mit dem Leser in eine ironische Kommunikationssituation eintritt, indem er diesem implizit eine der erzählerischen »Wahrheit« widersprechende Botschaft zu übermitteln sucht. Nikolaj Stepanyč lehrt Medizin an der Petersburger Universität. Aufgrund seines Alters veröffentlicht er nicht mehr und tritt auch außerhalb der Universität nicht mehr in der Öffentlichkeit auf. Dadurch kommt es zu finanziellen Einbußen, die besonders von Varja beklagt werden. Čechov selbst wusste sehr genau, was es bedeutet, wenn das Geld immer knapp und das tägliche Auskommen nicht wirklich gesichert ist.3 In der Erzählung sind die finanziellen Engpässe ein stets wiederkehrendes Thema in den Gesprächen zwischen Varja, der Ehefrau, und ihrem Ehemann Nikolaj Stepanyč. Čechov erkrankte bereits in jungen Jahren an Tuberkulose. Ein Leben mit körperlichen Gebrechen und Einschränkungen, wie es die gealterten Protagonisten führen, musste ihm demnach ebenso bekannt gewesen sein wie die ständige Todesnähe, unter der der alte Professor leidet. Die körperlichen Leiden, die das Alter mit sich bringt, kannte Čechov von seinen Patienten. Am eigenen Leib hat er sie nicht erfahren, denn er starb mit nur vierundvierzig Jahren im Jahr 1904 in Badenweiler. Wenige Jahre zuvor, 1901, heiratete er die Schauspielerin Olga Knipper, nachdem er zuvor nur kurze Beziehungen zu Frauen gehabt hatte. Eine jahrzehntelange Partnerschaft, von der im Text erzählt wird, hat er demnach selbst niemals erlebt. Čechovs Figuren treten in den Prosatexten als Individuen mit spezifischen Problemen auf, deren Handeln von den Erzählinstanzen nicht bewertet oder kritisiert wird. Denn der Autor hatte keine didaktischen Intentionen, und er verfügte nicht über Utopien einer besseren Welt,

3

Čechov unterstützte sein Leben lang die Eltern und Geschwister. Seine Briefe belegen, dass er der Familie immer wieder finanziell unter die Arme griff.

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wie in einem seiner Briefe vom 25. November 1892 an seinen Verleger Suvorin deutlich wird: [...] dass Schriftsteller, die wir als ewig oder einfach als gut nennen und die uns berauschen, ein gemeinsames und sehr wichtiges Kennzeichen haben: Sie gehen irgendwohin und rufen uns ebenfalls nach dort, und man fühlt es nicht mit dem Verstand, sondern mit dem ganzen Wesen, daß sie ein bestimmtes Ziel haben, wie der Schatten von Hamlets Vater, der nicht umsonst erschien und die Phantasie beunruhigte. Die einen haben, je nach Format, näherliegende Ziele: die Leibeigenschaft, die Befreiung des Vaterlandes, die Politik, die Schönheit oder einfach Wodka, [...] die anderen haben entferntere: Gott, das Leben im Jenseits, das Glück der Menschheit [...]. Aber wir? Wir? [...] Wir haben weder näherliegende noch entferntere Ziele, und unsere Seele ist wie ausgekehrt [...]. Wer nichts will, nichts erhofft und nichts fürchtet, der kann kein Künstler sein. Ob das eine Krankheit ist oder nicht – es kommt nicht auf den Namen an, sondern wir müssen gestehen, dass unsere Lage schlimmer ist als die eines Gouverneurs.4

Čechov machte sich selbst nicht zum Maßstab einer Norm, die besagt, wie der Mensch zu leben und handeln habe. Dazu passt die strenge interne Fokalisierung in dieser Erzählung. »Persönlich halte ich mich an folgende Regel: Ich schildere Kranke nur insofern, als sie Charaktere sind oder malerisch wirken. Ich habe Angst, mit Krankheiten zu schrecken.«5 Wie ich mit der Analyse dieser und weiterer Erzählungen Čechovs zeigen möchte, streben Čechovs Figuren, insbesondere die alten, mit ihren Sehnsüchten und Wünschen in eine andere Welt als die, in der sie leben: zu einem besseren Leben oder zur Wahrheit, in die Vergangenheit

4

Anton Čechov: Brief an Suworin v. 25.11.1892, in: Ders.: Briefe 1971, S. 271- 272.

5

Anton Čechov: Brief an Schawrowa v. 28.2.1895, in: Ders.: Briefe 1971, S. 300.

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| 89

oder in die Zukunft oder, wie im vorliegenden Fall der männliche Protagonist, in die Jugend, weg von der alten Ehefrau in eine neue Partnerschaft mit einer Frau, die jung und schön ist. »Čechov scheint sich wie ein Museumsdirektor zu verhalten, der den leeren Rahmen eines gestohlenen Bildes hängen lässt, um alle Besucher auf den Raub hinzuweisen.«6 Zugleich sind Čechovs Figuren jedoch in ihrer Welt gefangen und, wie der Ich-Erzähler in der »Langweiligen Geschichte«, zum Bleiben verdammt. Die in dieser Erzählung gewählte Fokalisierung wirkt nur auf den ersten Blick eindimensional; bei genauerer Betrachtung zeigt es sich, dass das Leben des erzählenden alten Mannes immer schneller auf den Abgrund des Todes zurast, während sich parallel dazu sehr viele Dimensionen des gelebten Lebens in der Erinnerung präsentieren; seine alte Frau Varja reißt er in seinen Reflexionen mit sich in den Abgrund. Als Arzt und Naturwissenschaftler wusste Čechov, dass der Mensch nicht über seine Zeit verfügen kann, sondern dass die Zeit über ihn bestimmt: Die Vergänglichkeit von Jugend und Schönheit war Čechov gut bekannt und er konnte die unangenehme Erinnerung daran, dass alles einst anders und womöglich besser war, beschreiben, ohne selbst jemals alt gewesen zu sein. Daher behandelte er seine Themen mit einer erstaunlichen Frühreife: Als junger Mann hatte er bereits Erkenntnisse über den Menschen und die Welt gewonnen, die normalerweise erst dreißig Jahre später einsetzen: In der Beschreibung seiner Figuren konzentrierte er sich auf wesentliche Merkmale, ohne sich mit vordergründigen Effekten aufzuhalten, wie es bei Künstlern seines Alters oft zu beobachten ist.7

6

Matthias Freise: Die Prosa Anton Čechovs, Amsterdam 1997, S. 246.

7

Der Schriftsteller und spätere Literatur-Nobelpreisträger Ivan Bunin (18701953), Čechov ab 1895 freundschaftlich verbunden, wird später verblüfft fragen: »Wie konnte er, noch keine 30, die ›Langweilige Geschichte‹ schreiben?« Hanns-Martin Wietek: Anton Pavlovič Čechov (Tschechow) – Versuch eines Porträts, Literaturessay v. 13.8.2014, S. 6. Online verfügbar

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Čechov war ein junger Mann, als er die Erzählung »Eine langweilige Geschichte« verfasste, das heißt, er schrieb als junger Mensch eine Erzählung über alte Menschen. Während der Arbeit daran gab er der Erzählung den Arbeitstitel »Mein Name und ich«. Die Welt seiner Figuren, aus der diese am liebsten ausbrechen würden, ist keine sichere, sie ist brüchig und schwankend. Wer bin ich eigentlich, wenn mein Name nicht mehr passt wie ein zu groß gewordener Anzug? Der Untertitel verspricht Authentizität: »Aufzeichnungen eines alten Mannes«. Dabei bleibt das Gesichtsfeld des Lesers begrenzt: Die Geschichte wird einzig aus der Perspektive des sich selbst beobachtenden, alle seine Reaktionen reflektierenden Medizinprofessors präsentiert. Auf der Ebene der histoire ist es eine Altersklage, die von Nikolaj Stepanyč vorgetragen wird. Der Leser sieht die Ehefrau, die dicke, alte, ungepflegte Varja, ausschließlich mit dem Blick des Ehemanns. Da die depressiven Gedanken des Professors beständig um den kurz bevorstehenden Tod kreisen, ist auch das Bild, das er von Varja zeichnet, von diesen Todesgedanken geprägt. Er vergleicht die beleibte Alte, die jeden Morgen unfrisiert und im Unterrock sein Zimmer betritt und sich darüber beklagt, dass nie Geld im Hause sei, mit der schlanken Varja von einst, die er leidenschaftlich geliebt hat. Er erinnert sich, dass er sie liebte wegen ihres »guten, hellen Verstandes, wegen ihrer reinen Seele, ihrer Schönheit und, wie Othello die Desdemona, wegen ihres »Mitleids« für meine Wissenschaft«. (LG 11) Die Alte jedoch, die ihm allmorgendlich die gleiche Tirade hält, hat für ihn mit der jungen Frau von damals nichts mehr gemein. Nur Negatives, Störendes erkennt er in ihren Zügen wieder, nämlich die ständige Angst um seine Gesundheit und die Manier, »mein Gehalt als unser Gehalt und meine Mütze als unsere Mütze zu bezeichnen«. (LG 11) Alle positiven Attribute der jungen Varja sind bei der alten Varja ins Negative umgeschlagen. Was der Blick des Professors wahrnimmt,

unter:

http://www.russland.ru/anton-pavlovič-čechov-tschechow-versuch-

eines-portraets/ [zuletzt abgerufen am 13.5.2016].

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ist eine stumpfsinnige, nörglerische, kleinliche alte Frau. Somit werden die abwertenden Imaginationen des Professors über Frauen allgemein und seine Frau im Besonderen übermächtig. Und es ist gerade das weibliche Alter mit seinen physischen und psychischen Deformationen, das diese Imaginationen nährt. Der Professor lässt die andere Varja nur in der Erinnerung zu; in der Gegenwart ist ihm seine Frau zuwider und ihr Alter stößt ihn ab. Er hat inzwischen ein asexuelles Verhältnis zu ihr entwickelt. Nur im Zusammenhang mit anderen Frauen denkt er an Sex, beispielsweise wenn er sich über einen Mitarbeiter in der Universität äußert: »Ich würde viel darum geben, um einmal zu sehen, wie dieser Zwieback mit seiner Frau schläft.« (LG 17) Varjas morgendliches Erscheinen mag die Rituale früherer Tage fortsetzen, indem sie ihm seinen Tee bringt und ihn bedient, doch lassen ihre ungepflegte Erscheinung und ihr fortgeschrittenes Alter keine sexuellen Signale zu. Das Gegenteil ist der Fall, Varja erregt Ekel in ihm und so kann bei diesem gealterten Paar keine neue Beziehung an die Stelle der sexuellen Verbindung treten. In anderen Altersdarstellungen zeigt sich, dass sexuelles Interesse beispielsweise durch Fürsorglichkeit, Vertrauen oder erinnerte Leidenschaftlichkeit abgelöst werden kann, wie es bei Kellers Frau Margret oder bei Turgenevs Arina Basarova der Fall ist. Hier jedoch erinnert einzig das hübsche Gesicht der Tochter Liza an die Mutter in jungen Jahren. Varja ist keine geachtete Frau mehr, vielmehr sind es Gefühle der Missachtung und sogar der Verachtung, die der Professor seiner Frau gegenüber hegt. Auf dem Gesicht meiner Frau malt sich Feierlichkeit, gespielte Wichtigkeit und der gewöhnliche Ausdruck der Sorge. Sie mustert unruhig unsere Teller und sagt: »Ich sehe, euch schmeckt der Braten nicht [...]. (LG 40)

Er verhöhnt seine Frau mit dieser erniedrigenden Art der Beschreibung und erkennt nicht, dass er sich damit selbst herabsetzt, denn die interne Fokalisierung zieht im Rezeptionsprozess eine ironische Distanz nach sich. Andererseits nimmt der Professor die sozialen Unzulänglichkeiten wahr, die das Alter ihm selbst eingebracht hat. So haben häufig ent-

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täuschte Erwartungen, beispielsweise die zunehmend abwertende Haltung seiner Kollegen und Studenten, bei ihm zu einer verbitterten Einstellung anderen Menschen gegenüber geführt. Er kennt diese Zusammenhänge gut, doch bezieht er seine Erkenntnisse über das Altern und die damit einhergehenden charakterlichen Veränderungen nicht auf Varja, was zu einer Entspannung des alten Ehelebens hätte beitragen können. Denn Varja, die Geachtete und Geliebte, existiert nur noch in der Erinnerung. Zugewendet hat sich der Professor seiner Pflegetochter Katja, einer Vollwaisen, deren Vormund er seit vielen Jahren ist. In seiner depressiven Stimmung zieht es ihn immer stärker zu ihr hin; denn er sucht ja die Jugend, um von seinen Todesgedanken loszukommen, während das Alter ihn abstößt. Fast seine gesamte Freizeit verbringt er mit Katja und er empfindet Eifersucht den anderen Männern gegenüber, die Katja besuchen. Mit ihr bespricht er das, was ihn bewegt: seine Erinnerungen und seine Todesgedanken. Jetzt bleibt mir nur noch, das Finale nicht zu verderben. Das heißt, ich muß als Mensch sterben […,] mutig und mit seelischer Ruhe. Aber ich werde das Finale verderben. Ich drohe zu ertrinken, laufe zu dir, bitte um Hilfe, und du sagst zu mir: Ertrinken Sie, das muss so sein. (LG 48)

Varja lehnt den Umgang mit Katja ab, denn diese gilt als nicht gesellschaftsfähig, weil sie eine drittklassische Schauspielerin ist und außerdem eine außereheliche Schwangerschaft hinter sich hat. Damit argumentiert Varja genau so, wie es ihre Umgebung von ihr erwartet; sie verhält sich gesellschaftskonform; der Professor erkennt dies nicht an, sondern begründet Varjas ablehnende Haltung mit der Rückständigkeit der Frauen. Das wehmütige Gefühl des Mitleids und die Gewissensbisse, wie sie heutzutage der Mann empfindet, wenn er Unglück sieht, zeugen viel mehr von Kultur und moralischer Größe als Haß und Abscheu. Die Frau von heute ist noch genauso weinerlich und gefühlsroh wie im Mittelalter. (LG 37)

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Dabei ist es der Professor selbst, der weinerlich und gefühlsroh auftritt, beispielsweise wenn er die aktuellen desolaten Zustände an der Universität beklagt. Der Student, dessen Stimmung überwiegend von der Umgebung bestimmt wird, sollte dort, wo er studiert, auf Schritt und Tritt nur Hohes, Starkes und Schönes vor sich sehen […]. Bewahre ihn Gott vor dürren Bäumen, zerschlagenen Fenstern, grauen Wänden und Türen, die mit zerrissenem Wachstuch bezogen sind! (LG 14)

In Nikolajs negative Weltwahrnehmung ist die alte Frau an seiner Seite einbezogen, was sich allerdings als Irrtum erweist und aus seinem negativen Selbstbild resultiert. Der Träger dieses Namens, das heißt ich, ist ein Mann von zweiundsechzig Jahren mit kahlem Kopf, falschen Zähnen und einem unheilbaren Gesichtszucken. So glänzend und schön mein Name ist, so glanzlos und hässlich bin ich selbst […]. Wenn ich spreche oder im Hörsaal lese, verzieht sich mein Mund; wenn ich lächle, bedeckt sich mein Gesicht mit greisenhaften Runzeln. An meiner kläglichen Gestalt ist nichts Imponierendes […]. Man sieht, dieser Mann wird bald sterben. (LG 8)

Sein Name und seine Identität passen nicht mehr zueinander, so dass er an sich wie an seiner Frau eine Abspaltung der Persönlichkeit im Alter wahrnimmt: Der Name ist gleich geblieben, der alte Mensch ist ein anderer geworden, was im Arbeitstitel: »Mein Name und ich« deutlich wird. Dieser mein Name ist populär […]. Mit meinem Namen ist aufs engste der Begriff eines berühmten, reich begabten und unzweifelhaft nutzbringenden Menschen verbunden. (LG 7)

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Trotzdem wünscht er sich sehr, nicht wegen des Namens, sondern um seiner selbst willen geliebt zu werden. Der Widerspruch mag seinen Grund in seiner Depression haben. Ich will, daß unsere Frauen, Kinder, Freunde und Schüler in uns nicht den Namen lieben, nicht die Firma und nicht das Etikett, sondern den gewöhnlichen Menschen. (LG 77)

Da Varja über keinen Namen verfügt, sieht sein Blick auf sie nur noch ihre Greisenhaftigkeit. Er geht sogar so weit, dass er sich selbst mit einem weiblichen Attribut belegt, womit er seine Frau noch weiter herabstuft: »[M]ein Hals ähnelt wie der einer Turgenevschen Heldin dem Hals einer Baßgeige.« (LG 8) Er hat sich seiner Frau entfremdet und führt dies auf die mangelnde Widerstandskraft der Frau den Verlockungen des sozialen Aufstiegs gegenüber zurück. Sich selbst dagegen hält er für stark und widerstandskräftig. Von Kindesbeinen an bin ich es gewohnt, äußeren Einflüssen Widerstand zu leisten, ich bin genügend abgehärtet; solche Katastrophen wie Berühmtheit, Generalsrang, der Übergang vom Wohlstand zum Leben über die Verhältnisse […], all das berührte mich kaum, und ich blieb heil und unversehrt; auf die schwachen, nicht abgehärteten Frauen, meine Gattin und Liza, stürzte das jedoch wie eine große Lawine herein und hat sie erdrückt. (LG 40 f.)

Diese Diagnose des Professors hat damit zu tun, dass die Frauen gezwungen waren, sich eine Identität aus zweiter Hand aufzubauen: Sie übernehmen den Namen des Mannes, dahinter tritt das eigene Ich zurück und verliert an Bedeutung. Nikolajs Wahrnehmung führt ihn allerdings in diesem Fall in die Irre, denn Varja ist durchaus nicht nur larmoyant und passiv. Anders als ihr Mann versucht sie aktiv die Zukunft der Tochter Liza zu gestalten, indem sie sich um einen jungen Mann bemüht, der als Schwiegersohn in Frage kommt: »Er liebt Lisa

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sehr und scheint ihr zu gefallen […]. Er ist aus guter Familie und reich.« (LG 42) Es ist möglich, dass die Mutter die Tochter in eine Konvenienzehe hineinzudrängen versucht, nicht umsonst lautet das letzte Wort »reich« – ein Manöver, das ihr Mann durchschaut. Aus Mitleid mit Varja erkundigt er sich nach der Familie des jungen Mannes. Auch dieses Gefühl des Mitleids beruht auf einem Wahrnehmungsirrtum; Varja zeigt in dieser Angelegenheit keine Hilflosigkeit, vielmehr handelt sie zielstrebig, wenn sie den Professor in die Suche nach dem geeigneten Schwiegersohn mit einbezieht. »Um Gottes Willen, Nikolaj Stepanyč«, fleht sie mich schluchzend an, »[…] nimm mir die Sorge ab! Ich leide doch!« Es tut mir weh, sie anzusehen. »Gut, Varja«, sage ich zärtlich. »Wenn du willst, bitte schön, ich fahre nach Charkov, ich tue alles, was du möchtest.« (LG 40)

Das einzig wirkliche Interesse des Professors gilt der jungen Katja, die ihm rät, seine Familie zu verlassen: »Sie lieben sie nicht mehr, weshalb dann noch heucheln?« (LG 46) Zur Bekräftigung betont sie dann noch die Bedeutungslosigkeit von Mutter und Tochter: »Diese Nullen […]. Wenn die heute sterben, wird morgen niemand ihr Fehlen bemerken.« (LG 46) Der Professor wehrt sich nicht gegen diese Abstufung seiner Familie, denn er empfindet, wie oben erwähnt, keine Wertschätzung mehr für seine Frau; er kann den boshaften Worten Katjas nur seine längst verloren gegangenen Gefühle entgegensetzen: »Ich liebte, heiratete aus leidenschaftlicher Liebe.« (LG 48) Varja warnt ihn oft vor Katja, indem sie ihm klar zu machen versucht, dass er sich zum Gespött der Leute mache, wenn er seine freie Zeit ausschließlich bei Katja verbringe. Seine Reaktion ist eine so üble Beschimpfung, dass sie sich vor ihm fürchtet.

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Wahrscheinlich sieht mein Gesicht schrecklich aus, und meine Stimme klingt seltsam, denn meine Frau wird auf einmal ganz bleich und schreit auf, ebenfalls sehr laut und mit verzweifelter Stimme. (LG 65)

Gemeinschaft und Nähe erleben die beiden Eheleute nur in einer Ausnahmesituation. Als die Tochter ernsthaft erkrankt, kommt es am Bett der Kranken zur Annäherung der beiden alten Ehepartner: »[I]ch stoße mit meiner Schulter an die ihre, und dabei fällt mir ein, wie wir einst zusammen unsere Kinder badeten.« (LG 71) In der gemeinsamen Sorge um Liza erscheint dem Professor seine Frau wieder als weibliches Wesen, das einen Reiz auf ihn ausübt. Nur in ihrer Mutterschaft erkennt er in der alten Frau die junge, tatkräftige Varja wieder, so dass in dieser Beschreibung die negative Imagination ihre Wirkmacht für kurze Zeit verliert. Letztlich bleibt aber diese Verbindung zwischen den beiden alten Leuten eine Erinnerung, die nicht bis in die Gegenwart reicht und sich als wirkungslos erweist. Ich schaue meine Frau an und wundere mich wie ein Kind […]. Ist diese alte, sehr beleibte, plumpe Frau mit dem stumpfsinnigen Ausdruck kleinlicher Sorge und der Angst um das liebe Brot [...] eine Frau, die nur von Ausgaben zu sprechen und nur zu lächeln vermag, wenn etwas billiger geworden ist – ist denn diese Frau wirklich die schlanke Varja von einst? (LG 11)

Es liegt eine tiefe Trostlosigkeit in der Darstellung der alten Frau. Sie resultiert aus einem Identitätsverlust, den ihr Mann ihr auflädt, indem er alle Verbindungsfäden zu ihrem früheren Leben gekappt hat. Im Innern hat er sich vollständig von seiner Familie gelöst. »Wenn ich an meiner Tür läute […], fühle ich, daß ich keine Familie mehr habe und auch nicht den Wunsch verspüre, sie zurück zu gewinnen.« (LG 57) Er zeigt Varja nicht mehr, dass sie mit der jungen Frau von damals identisch ist, sondern gibt ihr deutlich zu verstehen, dass er in ihr nur eine dicke, alte Frau erkennt, die ihn jeden Morgen mit Plattitüden überschüttet. Es gab ein Familien- und Eheleben in der Vergangenheit, welches nun nicht mehr existiert. »Ich habe ein Gefühl, als hätte ich

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einstmals zu Hause mit meiner richtigen Familie zusammengelebt und als speiste ich jetzt als Gast nicht bei meiner richtigen Frau.« (LG 40) Alles, was für die beiden alten Menschen je gut war, bleibt in der Vergangenheit begraben und es existieren keine Verbindungen mehr zu ihrer gegenwärtigen Existenz. Vorbei sind die frühere Fröhlichkeit, die zwanglosen Gespräche, die Scherze, das Lachen, die Liebkosungen und die Freude, die unsere Kinder, meine Frau und mich ergriff, wenn wir uns im Esszimmer versammelten. (LG 39)

Freudlosigkeit bestimmt das Leben des Professors, wobei Varja in diese Tristesse mit einbezogen wird: »Nachdem ich genügend geklagt habe, möchte ich der anderen Schwäche meines Alters freien Lauf lassen – den Erinnerungen.« ( LG 47) In nur wenigen Sentenzen gibt der Professor Worte seiner Frau in direkter oder, wie im folgenden Beispiel, in indirekter Rede wieder, ohne sie zu werten. Diese Worte der alten Frau zeigen, dass sie weder ihre Identität verloren noch sich selbst aufgegeben hat. [S]ie setzt sich und fängt davon an, wie schön es wäre, jetzt, wo es warm ist und ich Ferien habe, nach Charkov zu fahren und sich dort zu erkundigen, was für ein Mensch unser Gnekker ist. (LG 60 f.)

Sie ist aktiv und plant die Zukunft der Tochter, während er in depressiver Bewegungslosigkeit verharrt. Dass sie die Tochter damit in ein Leben entlässt, welches höchstwahrscheinlich dem ihrem gleichen wird, ist allerdings ein Beleg dafür, dass sie die eigene Situation nicht reflektiert: Sie ist sich der Bedeutungslosigkeit, die ihr Mann ihr zuschreibt, nicht bewusst und ist im Alter »sie selbst« geblieben. Altersweisheit hat sie demnach nicht erlangt; im Gegensatz dazu erkennt ihr Mann sehr wohl die Misere des Alterns. In diesem Punkt gibt es eine deutliche Differenz zwischen den Geschlechtern: Während die Ehefrau aus mangelndem Intellekt oder fehlender Weitsicht im Alter nicht weise wird, ist es bei dem Ehemann die krankhaft negative Sicht auf die

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Welt, die verhindert, dass er sein bisheriges Leben und seine kurze Zukunft mit Weisheit betrachten kann.

4.2 D IE

INTERNE

F OKALISIERUNG IM T EXT

Bezogen auf das weibliche Alterskonzept ist es in der Tat eine langweilige Geschichte, die der Professor erzählt. Die konsequente interne Fokalisierung bietet eine eintönige Szenerie: Es ist der Monolog eines alten Mannes, der aus einer depressiven Stimmung heraus über seine alte Frau schreibt. Der Ich-Erzähler fungiert gleichermaßen als Wahrnehmungsinstanz. Das hier vermittelte weibliche Alterskonzept ist das Produkt männlicher Wahrnehmungen. Dieser Darstellungsform der internen Fokalisierung folgen auch einige andere der Prosawerke Čechovs.8 Der Rezipient ist allein auf die Ausführungen der Erzählinstanz angewiesen: Im Fall der »Langweiligen Geschichte« resultiert daraus die Eingruppierung der alten Frauenfigur in die Kategorie der stillen alten Frauen, welche keine Stimme mehr haben. Spannung erhält die Erzählung allerdings durch den variantenreichen Umgang mit Zeit und Frequenz des Erzählens. Es liegt ein gleichzeitiges Erzählen vor, die erzählte Zeit umfasst etwa ein halbes Jahr. Der Professor beginnt mit seinen Aufzeichnungen am Ende des Winters und endet im Spätsommer. Die Anachronien, die den Erzählfluss unterbrechen, sind stets – entsprechend der alten Erzählerfigur – Erinnerungen an frühere Zeiten. In iterativer Erzählform geben die

8

Die Erzählung Der Student (Anton Čechov: Rothschilds Geige, Erzählungen 1893-1896, übers. v. Gerhard Dick u. a., hg. v. Peter Urban, Zürich 1976, S. 128-132) wird ausschließlich aus personaler Perspektive erzählt: Die Titelfigur schildert eine kurze Begegnung mit zwei Frauen, denen er zufällig begegnet und denen er vom Verrat des Petrus an Jesus erzählt. Der Leser erfährt nur die Motive und Schlussfolgerungen des Studenten, nichts aber direkt von den beiden Frauen.

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zahlreichen Analepsen die alltäglichen Abläufe im Haus der Stepanyčs wieder; in der Wahrnehmung des Hausherrn erlebt das alte Ehepaar jeden Tag in der gleichen Abfolge die immer gleichen Ereignisse. Der Tag beginnt für mich damit, daß meine Frau eintritt. Sie kommt im Unterrock, unfrisiert [...] und mit einer Miene, als käme sie ganz zufällig, sagt sie jedesmal ein und dasselbe. (LG 10)

Die erzählte Welt präsentiert also eine ambivalente weibliche Altersfigur: Erkennt Varja die alltägliche Gleichförmigkeit nicht oder toleriert sie sie, weil sie begreift, dass ihr Mann depressiv ist und sie ihm das Leben mit täglich wiederkehrenden Ritualen erleichtern möchte? Oder sind es nur imaginierte Begegnungen und Gespräche, von denen der Professor hier erzählt? Durch die Darstellungsformen erhält die alte Frau ein doppeltes Gesicht: die eine Varja, die in der Geschichte des Professors ausschließlich negativ geschildert wird und in die Bedeutungslosigkeit abgeschoben ist, und die zweite Varja, die ihrem Mann Widerstand leistet, wenn es sich darum handelt, den gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen, beispielsweise wenn es um die gesicherte Zukunft der Kinder geht. Diese Ambivalenz resultiert aus der Fokalisierung und auch aus den Sprachformen der Erzählerrede, die der IchErzähler benutzt.

4.3 Z UR R EDE ÜBER G ESCHLECHTER UND G ENERATIONEN Wir suchen nach der Sprache, in der wir am meisten enthalten sind. Dann könnten wir eine Karatbestimmung vorschlagen: Der Karatgehalt einer Rede, einer Sprache bestimmt sich danach, wie sehr oder wie wenig der Redner oder

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Schreiber in seiner Sprache enthalten ist. Danach wäre sicher jeder im Selbstgespräch am meisten enthalten.9

Čechov gibt seiner Erzählung den Untertitel »Aus den Aufzeichnungen eines alten Mannes«. Die Schriftlichkeit, die hier suggeriert wird, spielt keine Rolle, weder auf der Ebene der histoire noch im Bereich des discours. Der Erzähler beginnt in der dritten Person von sich selbst zu erzählen, und schon nach wenigen Sätzen ersetzt er das Possessivpronomen der dritten Person durch das der ersten Person – »meinen Namen« – und wechselt dann auch zum Personalpronomen der ersten Person. Mit meinem Namen ist aufs engste der Begriff eines berühmten, reichbegabten und unzweifelhaft nutzbringenden Menschen verbunden. Ich bin arbeitsam und ausdauernd wie ein Kamel. (LG 7)

Bei genderorientierter Betrachtung der Erzählwelt dieses Textes dominiert eine männlich konnotierte Schreibweise. Von seinem erhöhten männlichen Standpunkt aus gesehen neigt der Erzähler zu apodiktischen Urteilen über die Frauen. Varja und Liza hassen Katja. Dieser Haß ist mir unverständlich; um ihn zu begreifen, muß man wahrscheinlich eine Frau sein. Ich lege meine Hand ins Feuer, daß sich unter den hundertfünfzig jungen Männern, die ich beinah täglich im Hörsaal vor mir sehe, und den hundert älteren, denen ich jede Woche begegne, kaum ein einziger finden wird, der den Haß und den Abscheu vor Katjas Vergangenheit [...] verstehen würde; dabei kann ich mich an keine einzige mir bekannte Frau und kein junges Mädchen erinnern, die nicht bewußt oder instinktiv diese Gefühle in ihrem Herzen hegte [...]. Ich erkläre das einfach mit der Rückständigkeit der Frauen. (LG 37)

9

Martin Walser: Über das Selbstgespräch. Ein flagranter Versuch, in: Die Zeit (12.1.2000). Online abrufbar unter: http://www.zeit.de/2000/03/ 200003.walser-selbstg._.xml [zuletzt abgerufen am 16.4.2017].

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Welche Figurenmerkmale des alten Menschen werden durch die Monologform akzentuiert? Mit der Ich-Erzählung der »Langweiligen Geschichte« macht Čechov Formen der Selbstinszenierung und des Selbstbetrugs beim Erzähler transparent und die Leserlenkung zielt auf eine Distanzierung vom erzählenden Ich. Diese Wirkungsabsicht ist wichtig in Bezug auf die Figur der abgeschobenen alten Frau, der Ehefrau Varja. Denn der subjektive Fokus des Monologs bringt es mit sich, an dessen Glaubwürdigkeit zu zweifeln: Es ist nicht auszumachen, was im Erzählkontext wahr ist und was der Professor erfunden hat. Zum Verständnis der Varja stehen lediglich Aussagen und Ansichten des Professors zur Verfügung. Die eintönige und kaum variantenreiche Darstellung der alten Frau ist womöglich weniger in der Person der Figur begründet als darin, dass Varja die Vorstellungen, die ihr Mann von ihr hat, im Alltag erfüllt und dieserart dessen Imaginationen wahr macht. Somit ist es wichtig zu prüfen, wie weit die Beschreibungen der Figur von ihrem Mann und die Wiedergaben ihrer direkten Reden und die daraus resultierenden Handlungen voneinander abweichen. Varjas Aussagen in der wörtlichen Rede sind vernünftig und sachlich-nüchtern: »Wir sind Egor für fünf Monate den Lohn schuldig. Weißt du das? Es gehört sich nicht, dem Gesinde den Lohn anstehen zu lassen.« (LG 12) Unsachlichkeit kommt erst dann auf, wenn der Professor die Worte seiner Frau kommentiert: [...] und um sie zu trösten, sei es auch nur ein wenig, erlaube ich ihr zu reden, was sie will, und schweige sogar, wenn sie ungerecht über die Menschen urteilt oder mir die Leviten liest, weil ich keine Praxis habe und keine Lehrbücher herausgebe. (LG 11)

Die Kommunikation der Eheleute ist insofern asymmetrisch, als die Wiedergabe nur durch den Ehemann erfolgt, und sie ist gestört, weil kein vorurteilsfreies Gespräch mehr möglich ist. Auch wenn sie über den Sohn und die finanziellen Zuwendungen, die er allmonatlich von ihnen erhält, sprechen, wird klar, wie langweilig und vorhersehbar das gemeinsame Leben geworden ist. Er beklagt sich darüber, dass der er-

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wachsene Sohn immer noch unterstützt werden muss. Varja kennt dieses Lamentieren längst und stellt pragmatisch fest: »Natürlich fällt uns das schwer [...], aber bevor er endgültig auf eigenen Füßen steht, sind wir verpflichtet, ihm zu helfen.« (LG 10) Hier scheint ein zeittypischer Vater-Sohn-Konflikt im Hintergrund zu stehen; vielleicht überdehnt der Sohn die Ansprüche an die Eltern oder dem Vater passt die Berufswahl nicht. Das könnte der Grund dafür sein, dass der Ehemann überhaupt nicht auf Varjas Ermahnung eingeht und sich stattdessen über ihre ständigen Wiederholungen beklagt. Durch seinen Blick wirkt Varja noch älter und rückständiger, als sie wirklich ist. Sie bedauert die Tochter, die sie nicht standesgemäß ausstatten kann: Niemand tut mir so leid wie unsere arme Liza. Das Mädel besucht das Konservatorium, verkehrt ständig in bester Gesellschaft, aber angezogen ist sie Gott weiß wie. (LG 12)

Der Ehemann in seiner Egomanie erkennt nur Vorwürfe, die gegen ihn gerichtet sind. Dabei ist ihm seine Negativhaltung gegenüber seinen Mitmenschen durchaus bewusst: »Ein böses Gefühl heimlich gegen gewöhnliche Menschen deswegen hegen, weil sie keine Helden sind, das kann nur ein beschränkter oder verbitterter Mensch.« (LG 13) So erkennt er selbst, dass er mit seiner Wahrnehmung die Mitmenschen in ein Bild presst, das diesen nicht entspricht. Doch zieht er aus seinen Erkenntnissen keine Schlussfolgerungen, denn es geht ihm in diesem Fall nicht um Varja, seine Frau, sondern wie immer nur um sich selbst. [E]rst jetzt [...] wird mir völlig klar, dass sich das Innenleben der beiden schon längst meiner Beobachtung entzogen hat. Ich habe ein Gefühl, als hätte ich einstmals zu Hause mit meiner richtigen Familie zusammengelebt und als speiste ich jetzt als Gast nicht bei meiner richtigen Frau und säße nicht meine richtige Tochter vor mir. Mit beiden ist eine einschneidende Veränderung vor sich gegangen. (LG 40)

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Mit dieser Bewertung, die verkennt, dass er selbst sich verändert hat, kann er kein objektives Bild der alten Frau zeichnen; neben den oben erwähnten wörtlichen Reden Varjas, die seinen Einschätzungen widersprechen, entlarvt er sich bisweilen auch durch die eigenen Monologe: »In der Nacht quält mich nach wie vor die Schlaflosigkeit, aber am Morgen bleibe ich liegen und höre auch nicht auf meine Frau.« (LG 55) Varja scheint gegen seine Altersdepression zu kämpfen und ihm helfen zu wollen. Damit lebt sie ihr Alter anders als ihr Mann: Im Gegensatz zu ihm nimmt sie aktiv am Leben teil, während er ignoriert, was um ihn herum vorgeht, und das weibliche Altern abwertet: Die Frauen verlieren im Alter ihre weibliche Attraktivität ebenso wie ihre sexuellen Bedürfnisse. Als Mediziner vertritt er eine biologische Lesart des Alterungsprozesses, die davon ausgeht, dass eine alte Frau infolge physischer und psychischer Reduktionsprozesse nicht mehr leistungsfähig und belastbar ist. Diese konventionelle Konzeption von weiblichem Alter, wie sie vom Professor vertreten wird, ist brüchig geworden. Die alte Varja kümmert sich aktiv um das Fortkommen ihrer beiden Kinder: Die Tochter soll eine standesgemäße Ausbildung erhalten und ebenso standesgemäß verheiratet werden und dem Sohn soll eine gesicherte Staatsstellung in Aussicht gestellt werden. Die traditionelle Frauenrolle, die Varja übernehmen muss, verhindert einen umfassenden Erfolg ihrer Bemühungen. Sie hat weder Verfügungsgewalt über die Familienfinanzen, noch kann sie allein reisen, um etwa die Familie des designierten Schwiegersohns kennenzulernen. Die Bediensteten bekommen allerdings auf ihre Initiative hin ihren Lohn und den psychischen Niedergang ihres Mannes versucht sie aufzuhalten, indem sie ihn aus seiner Lethargie aufzurütteln und zu einem aktiven Alltag zu animieren versucht. »Eine langweilige Geschichte« gehört zu den meist übersetzten Erzählungen Čechovs, der neben seinen großen Dramen unzählige größere und kleine Geschichten und kurze Prosaskizzen geschrieben hat. Viele Rezensenten, Wissenschaftler und Künstler haben sich mit der

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»Langweiligen Geschichte« beschäftigt, haben sie gewürdigt und interpretiert. Für Thomas Mann war sie Čechovs bestes Prosawerk10; andere ordneten sie als Meilenstein der europäischen Epik der Jahrhundertwende ein. Sie wurde interpretiert als Beispiel einer Altersklage, als Krankenbericht eines depressiven alten Mannes oder, unter Rückgriff auf das Motiv des »senex amans«, als Liebesgeschichte zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau. Die alte Frau jedoch, die an der Seite des berichtenden Protagonisten lebt, wird – wie im »richtigen Leben« – auch in der Textrezeption nicht beachtet; der Geschlechterdiskurs spielt auf das Ehepaar bezogen in der Deutung so gut wie keine Rolle: Varja wird nicht mehr als Frau wahrgenommen. Das ist nicht verwunderlich, denn der bornierte Erzähler kann nicht mehr erkennen, wer die Frau an seiner Seite wirklich ist. Die für die Gestaltung der alten Frau zentralen Diskurse der Erzählung sind der Geschlechter- und der Generationendiskurs. Die Dreiecksbeziehung zwischen den beiden jungen Frauen, Liza und Katja, und der alten Frau, Varja, ist spannungsreich, und nur in der Abgrenzung zu den beiden jungen Frauen kommt Varja selbst zu Wort: Sie distanziert sich von der selbstbewussten Katja, deren Lebensentwurf nicht gelingt, und dirigiert ihre Tochter in eine Ehe, die mit aller Wahrscheinlichkeit ebenso trostlos enden wird wie ihre eigene. Der skizzierte weibliche Generationenkreislauf

10 »Aber wenn schon angeführt und angepriesen werden soll, so muss ich unbedingt ›Eine langweilige Geschichte‹ nennen, die mir teuerste von Čechovs erzählerischen Schöpfungen, ein ganz und gar außerordentliches Werk, das an stiller, trauriger Merkwürdigkeit in aller Literatur nicht seinesgleichen hat und schon dadurch in Erstaunen setzt, daß diese sich als langweilig ankündigende und dabei überwältigende Geschichte von einem jungen Menschen von noch nicht dreißig Jahren mit letzter Einfühlung einem Greis in den Mund gelegt ist.« (Thomas Mann: Versuch über Tschechow in: Leiden und Größe der Meister, Gesammelte Werke in Einzelbänden, Frankfurter Ausgabe, hg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a.M. 1982, S. 981-1007, hier: S. 992.)

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korreliert mit der negativen Figurendarstellung der alten Frau. Das Ehemodell wird als fragwürdig hingestellt; jede Entwicklung zur selbstständigen Persönlichkeit scheint unmöglich, wenn man bedenkt, wie sehr Mutter und Tochter sich ähneln. Doch auch die andere Lebensform, die der unabhängigen Frau ist negativ belegt: Katja wird bei aller Selbstbestimmtheit nicht glücklich; sie lässt sich von den Männern ihrer Umgebung hofieren, ist aber ständig auf der Flucht, als suchte sie das Glück immer anderswo. Der Generationendiskurs belegt demnach deutlich mangelnde Perspektiven für das weibliche Geschlecht: Es gibt keine Anhaltspunkte für eine positive Weiterentwicklung. Ähnliches gilt für den Geschlechterdiskurs, wobei die Altersklage des depressiven Professors dominant bleibt, wenn er weibliches Alter beschreibt. Abgesehen von seinen Erinnerungen an die schöne, junge Varja hat er über Frauen nur Negatives und Despektierliches zu berichten: Die junge Frau dient dem sexuellen Vergnügen des Mannes und der Fortpflanzung; außerdem ist sie schmückende Dekoration an der Seite des weltberühmten Mannes. Beide Funktionen haben aus männlicher Sicht im Alter ausgedient und die alte Frau wird abgeschoben; sie kann ihren Mann noch bedienen und hat damit eine Funktion inne, die von jedem andern übernommen werden könnte; damit wird sie zur austauschbaren Randfigur. In Čechovs Erzählung findet also vordergründig eine Abwertung des weiblichen Geschlechts statt, und dies vor allem auf das weibliche Alter bezogen. Allerdings ergibt die Analyse der Darstellungsformen ein anderes Bild des weiblichen Alters: Ironisch distanziert betrachtet geht es also im Text nicht um eine Geschlechtsdegradierung alter Frauen, sondern um ihre Beförderung im Vergleich zum männlichen Alter, wobei das Bild des weiblichen Alters ambivalent bleibt. Im Roman »Wellen« kommt die Figur der abgeschobenen und stillen alten Frau ebenfalls vor, allerdings erscheint sie weniger ambivalent: Die Gesellschafterin Malwine Bork ist dank ihrer mangelnden Lebenserfahrung auf dem Stand eines jungen Mädchens stehen geblieben, und damit ist sie auch nicht in der Lage, junge Frauen in ihren Liebeskonflikten zu beraten.

5.

Drei laute alte Frauen

5.1 T HEODOR F ONTANE : »F RAU J ENNY T REIBEL « – D IE S ICHT AUF J ENNY AUS VIELEN B LICKWINKELN Wir stecken ja bis über die Ohren in allerhand konventioneller Lüge und sollten uns schämen über die Heuchelei, die wir treiben, über das falsche Spiel, das wir spielen.1

Jenny Treibel, die Titelfigur des Romans2, gehört wie die Generalin aus Keyserlings Roman »Wellen« zur Kategorie der lauten alten Frauenfiguren, welche junge weibliche Figuren dominieren und belehren. Der Dichter selbst hielt sich für einen Frauenkenner und auch für einen Liebhaber der Frauen.3

1

Theodor Fontane an seinen Sohn am 8.9.1887, in: Ders.: Briefe, Dritter Band 1879-1889, hg. v. Otto Drude u. a., Darmstadt 1980, S. 559-560, hier: S. 559.

2

Vgl. Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel oder «Wo sich Herz zum Herzen find’t«, in: Ders.: Das erzählerische Werk, Große Brandenburger Ausgabe, hg. v. Gotthard Erler, Bd. 14, Berlin 2005, S.5-223.

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Wenn es einen Menschen gibt, der für Frauen schwärmt und sie beinah doppelt liebt, wenn er ihren Schwächen und Verirrungen, dem ganzen Zauber des Evatums, bis hin zum infernal Angeflogenen hin, begegnet, so bin ich es.4

Seine Romane imaginieren Frauen in den Konflikten der Geschlechterbeziehungen, die für sie nicht zu lösen sind.5 In den erzählten Welten setzen sich nahezu alle seine weiblichen Figuren mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten in Bezug auf ihre Geschlechterrolle auseinander, denn sie leben in psychischer und materieller Hinsicht in widrigen Verhältnissen. Wenn man sie unter Gendergesichtspunkten betrachtet und ihre Aktionen bewertet, handeln sie gleichermaßen als Opfer und Täter, was bedeutet, dass sie keinen erfolgreichen Weg in ein selbstbestimmtes weibliches Leben finden können, denn sie sind und bleiben in der Regel das Pendant, die Ergänzung der Männer. An dieser Rolle ändert sich auch dann nichts, wenn die Frauen zu Tätern werden, beispielsweise wenn Effi Briest aus der Ehe, die ihre Mutter für sie arrangiert hat, ausbricht. Die gesellschaftliche Ächtung, die sie nach Bekanntwerden des Ehebruchs erfährt, macht aus ihr letztendlich wieder ein Opfer, welchem der Ausbruch aus den Zwängen der Gesellschaft verwehrt ist.

3

»Fontane verstand etwas von Frauen, jungen wie alten. Er erkannte ihre zumeist verborgene Melusinengestalt, ihre Natur aus dem Wasser oder nahe am Wasser, die sich auch im Alter nicht verliert.« (Pott: Eigensinn des Alters, S. 139)

4

Fontane an P. und P. Schlenther am 6.12.1894, in: Ders.: Briefe, Vierter Band 1890-1898, hg. v. Otto Drude u. a., Darmstadt 1982, S.404-406, hier: S. 405-406.

5

Judith Butler prägte viele Jahrzehnte später den Begriff »gender trouble«, der allerdings mehr als nur die Konflikte der Geschlechterbeziehungen umfasst. Sie meint damit auch die Pluralisierung der Geschlechter, von der Fontane noch nicht spricht.

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Zur Beschreibung von Frauen und ihren Vorlieben nutzt Fontane gern das Adjektiv »apart«;6 aufgeschlüsselt nach den französischen Wurzeln bezeichnet es das Andere, das Anormale oder das Nebenanliegende, und es meint den Reiz, dem die Frauen ausgesetzt sind, ein paar Schritte abseits des Weges zu laufen, allerdings ohne allzu weit von diesem Weg der Konventionen abzuweichen. Doch werden nur junge Frauen mit diesem Attribut belegt, denn es geht immer um sexuelle Konnotationen, von denen die alten Frauen aufgrund ihres Alters ausgeschlossenen sind. Die Mehrzahl der alten Frauen bei Fontane nimmt typischerweise eine Außenseiterposition ein. Es sind Grenzgängerinnen, Schwellenwesen […]. Sie alle stehen in einer geschlechtsdegradierenden Tradition des Frauenbildes, die arme alte Frauen mehrfach ausgrenzt […]; weiterhin sind sie ausgegrenzt von der Gemeinschaft, weil sie ohne Familienbindung sind; daher eingegrenzt auf ebenso randständige Tätigkeiten: Kräuterhexen, kundig in allerlei geheimen Künsten, Heiltränken, Kartenlegen […]; geduldet zwar, aber nicht anerkannt. Wenn Not am Mann ist, werden sie gerufen.7

In seinen Altersbriefen schreibt Fontane immer wieder davon, dass das Alter eine Reihe von Freiheiten mit sich bringe, die er mit Hilfe seiner Figuren imaginiere: Freiheit von der eigenen Beschränktheit und der der Umgebung, Freiheit zur seelischen Beweglichkeit bis ins hohe Alter und die Freiheit, am eigenen Weg festzuhalten, ohne zu verbittern und zu erstarren. In seinen Romanen sind es in der Regel jedoch die männlichen Alten, die von diesen Freiheiten profitieren. Am Beispiel dieser Altersfiguren zeigt Fontane, dass der Mensch immer auch anders handeln oder denken kann, als die bornierte Umwelt es erwartet: Der alte Briest macht sich seine eigenen Gedanken über das misslun-

6

Effi Briest wird das Attribut »apart« nicht zugesprochen, aber sie liebt das

7

Pott: Eigensinn des Alters, S. 141.

Aparte.

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gene Leben seiner Tochter, und der alte Herr von Stechlin handelt selbstbestimmt nach eigenen Regeln. Die Titelfigur des Romans »Frau Jenny Treibel« gehört weder zu den alten Außenseiterinnen8 noch zu den altersweisen Frauen9 und sie passt auch nicht in die Kategorie der Frauen, die einstmals vom Weg abgekommen und noch im Alter von Geheimnissen umgeben sind, wie etwa Lenes Pflegemutter Mutter Nimptsch aus »Irrungen, Wirrungen«. Sicherlich gehört Jenny auch nicht zu den Frauen, für die der Dichter »schwärmt«. Mit Jenny Treibel präsentiert der Erzähler eine Frau, der das Alter keine Souveränität eingebracht hat: Jenny ist eine dominante, herrschsüchtige und hintertriebene Person, die bis ins Alter verlogen bleibt. Über den Roman schrieb Fontane 1888 an seinen Sohn, dass es ihm darum gehe, »das Hohle, Phrasenhafte, Lügnerische, Hochmütige, Hartherzige des Bourgeoisstandpunktes zu zeigen, der von Schiller spricht und Gerson meint«.10 Und es ist in der Tat so, dass Jenny Treibel nicht das sagt, was sie meint, oder umgekehrt nicht das meint, was sie ausspricht. Die Analyse der heterodiegetischen Erzählform kann diesen Aspekt verdeutlichen und die Verlogenheit im Alter entlarven. Die Imagination einer egozentrischen und sich selbst belügenden Frauenfigur wird deutlich, wenn man die unterschiedlichen Blicke analysiert und vergleicht, die auf diese Figur gerichtet sind. Die heterodiegetische Erzählform verfügt einerseits über eine kommentierende Erzählinstanz außerhalb der erzählten Welt und bietet andererseits die Möglichkeit, die Figur der Jenny durch Eigen- und Fremdaussagen, eigene und fremde Gedanken oder Handlungen zu charakterisieren. Die Kombination von Nullfokalisierung und variabler interner Fokalisierung bewirkt, dass die Figur im Brennpunkt unterschiedlicher

8

Vgl. dazu: Herwig: Alter(n) und Geschlecht in ausgewählter Prosa Theodor

9

Vgl. dazu: Ebd.

Fontanes. 10 Theodor Fontane an seinen Sohn am 9.5.1888, in: Ders.: Briefe, Dritter Band 1879-1889, S. 600-604, hier S. 601.

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Blickwinkel steht, wodurch ein mehrfach flektiertes Bild von Jenny präsentiert wird, das sowohl ihre Persönlichkeitsmerkmale als auch die Relativität von Alterszuschreibungen deutlich zum Ausdruck bringt. Jenny stellt sich selbst durch ihre Aktionen, Pläne und Absichten vor, durch die Sprache, die sie im Dialog mit den andern Figuren benutzt, und durch die Sprache ihrer Gedanken, mit denen sie die Geschehnisse kommentiert oder ihre Intentionen zum Ausdruck bringt. Der Erzähler berichtet über sie als außenstehender Beobachter, der ihre Handlungsweise und Motive und ihre äußere Erscheinung bewertet, und zuletzt sind es die andern Figuren, die mit ihr oder über sie sprechen und sich zu ihren Beweggründen und Handlungen äußern. Sie beobachten Jenny als Mutter, als Ehefrau und als Gesellschaftsdame des Berliner Großbürgertums. Vor allem als Mutter erweist sie sich als Egomanin, die nur an das Geld denkt. Obgleich beide Söhne längst erwachsen sind und einer von ihnen schon eine eigene Familie gegründet hat, schiebt die Mutter sie wie Schachfiguren über das familiäre Spielbrett, wenn es finanziell opportun ist, und begründet dies mit der Lethargie ihrer Sprösslinge. Im Gespräch mit ihrem Mann desavouiert sie ihre Kinder in direkter Rede. Ich weiß nicht, wo beide Jungen diese Milchsuppenschaft herhaben. [...] Sie haben doch beide was Schläfriges. [...] Bei Otto haben wir’s versäumt und haben zu seiner eignen Temperamentlosigkeit diese temperamentlose Helene hinzugethan, und was dabei herauskommt, das siehst du nun an Lizzi, die doch die größte Puppe ist, die man nur sehen kann. (JT 99)

Der Erzähler distanziert sich von manchen Gedanken Jennys, vor allem wenn es um ihr Alter geht: Er imaginiert eine Frauenfigur, die Schwierigkeiten damit hat, alt zu werden, und ihren alternden Körper gern verklärt. Jenny liebt es, sich in ihren Gedanken mit den Attributen der Jugend auszustatten. »[U]nd in einem halb übermüthigen Jugendanfluge gefiel sich die Räthin sogar in stiller Ausmalung einer Escapade.« (JT 100)

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Auch außerhalb der Familie, etwa bei Gesellschaften im eigenen Haus oder bei Besuchen von Freunden, präsentiert sie sich eine als Frau, die für sich die ewige Jugend und die Macht der Patronin beansprucht und damit im Alter ihre bisherige Lebenskonzeption prolongiert. Frau Schmolke, die Bedienstete der Schmidts und eine von Fontanes typischen Berliner Randfiguren aus dem Unterschichtmilieu, ist die einzige, die Jennys Alter beim Namen nennt. Damit setzt sie einen Kontrapunkt zum Erzähler, der sie als eine Dame einführt, die sich für ihr Alter sehr gut gehalten hat. Für Frau Schmolke ist Jenny »die Alte«.»Un da Du nu ’mal den Treibel’schen hast, na, so hast Dun [...] un er muß stillhalten und die Alte auch. Ja, die Alte erst recht.« (JT 163) Sie allein distanziert sich offen von Jenny und ihren Machenschaften und denkt sogar über Rache nach, nachdem Jenny die Verbindung ihres Sohnes mit Corinna hintertrieben hat: »[...] bloß um der alten Commerzienräthin mit ihrem Puffscheitel und ihren Brillantbommeln einen Tort anzuthun.« (JT 202) Überliefert sind drei Entwürfe des Manuskripts, in denen Jenny jeweils als Titelheldin auftaucht, aber in der Auflistung der Personen nicht an erster Stelle steht, sondern an zweiter oder dritter: »Die Frau Bourgeoise oder wo nur Herz und Seele spricht«, »Frau Kommerzienrätin oder wo sich Herz zum Herzen findt« und »Frau Jenny Treibel«. Dass sie die Figurenauflistung nicht anführt, mag damit zusammenhängen, dass Fontane, wie er in seinen Briefen immer wieder betont, sich von der gesellschaftlichen Heuchelei und dem falschem Spiel dieser Figur distanziert. Im Roman erscheint Jenny als der Typus einer arrivierten Bürgerlichen, einer Durchschnittsfigur, die von den alten Damen der Berliner Adelsgesellschaft, die im Roman eine Nebenrolle spielen, überragt wird. Mit ihrer Herzenskälte, ihrer Überheblichkeit und ihren Lügen gegen sich und andere fordert sie die satirische Distanz des Rezipienten heraus, im Gegensatz zu den anderen Personen, die mit einer gewissen Nachsicht betrachtet werden können, wie beispielsweise ihr Ehemann, der Kommerzienrat Treibel. Allerdings wird die Figur der Jenny Treibel vom Erzähler so präsentiert, dass bei all

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ihrer inneren Kälte und Boshaftigkeit anderen gegenüber bisweilen ein kleines Stück Menschlichkeit und Gutmütigkeit aufzublitzen scheint; doch die zahlreichen Brechungen in der Figurendarstellung entlarven ihre angebliche Menschlichkeit bald wieder als Lüge. So ist ihr Interesse an Corinna und deren Plänen nur geheuchelt. Jenny belügt sich selbst, wenn sie darüber sinniert, was ihr im Leben entgangen wäre, hätte sie sich seinerzeit nicht für Treibel, sondern für den Professor entschieden. Die innere Verlogenheit löst sich für einen kurzen Moment auf, als ihr Blick auf eine junge Büglerin im Haus gegenüber fällt und sie fasziniert die natürliche Anmut dieses Mädchens betrachtet. Jenny, während sie sich in süße Selbsttäuschungen wie diese versenkte, trat ans Fenster und sah abwechselnd auf den Vorgarten und auf die Straße. Drüben, im Hause gegenüber, hoch oben in der offenen Mansarde, stand, wie ein Schattenriß in hellem Licht, eine Plätterin, die mit sicherer Hand über das Plättbrett hinfuhr – ja, es war ihr, als höre sie das Mädchen singen. Der Commerzienräthin Auge mochte von dem anmuthigen Bilde nicht lassen, und etwas wie wirklicher Neid überkam sie. (JT 165)

Freundlich gestimmt geht sie daraufhin auf ihren eintretenden Diener zu, aber diese Freundlichkeit ist sofort wieder verschwunden, als dieser ihr den Besuch des Sohnes ankündigt. Ihr Ton wird barsch und abweisend, denn sie ahnt, dass ihr Sohn um Corinnas Hand anhalten möchte, was für sie aus finanziellen Erwägungen überhaupt nicht in Frage kommt. Ihre Stimmung ändert sich schlagartig, sobald es um Geld geht. »Jenny war derart betroffen, dass ihre sentimentalen Anwandlungen auf der Stelle hinschwanden.« (JT 166) Jenny glaubt, eine Idealistin zu sein, die für Kunst und Kultur schwärmt; doch im entscheidenden Moment erweist sich diese Begeisterung als Maskierung und es zeigen sich die wahren Interessen der geldgierigen Kommerzienrätin: Reichtum und gesellschaftliches Renommee. Viele Kritiker monierten, dass diese Antithese im Roman überbetont werde und der Roman dadurch an Vielschichtigkeit verlie-

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re.11 Ungeachtet dessen bleibt das in der Textfiktion gelebte Alter im Rahmen dieser Arbeit ein interessantes Analyseobjekt. Jenny hält sich für unwiderstehlich, wenn sie »unentwegt« über die schönen Künste plaudert, während sie doch gleichzeitig die Verlobung ihres jüngsten Sohnes mit der mittellosen, aber klugen und gebildeten Lehrerstochter hintertreibt. Dem Dichter muss eine solche Person unangenehm gewesen sein, wie seine Briefe belegen. Ich hasse das Bourgeoishafte mit einer Leidenschaft, als ob ich ein eingeschworener Sozialdemokrat wäre; er ist ein Schafskopf, aber sein Vater hat ein Eckhaus, mit dieser Bewunderungsformel kann ich nicht mehr mit.12

Einige Kritiker nehmen die Darstellung der Jenny als Beleg für Fontanes Kritik an der Bourgeoisie und betonen die negative Beschreibung Jennys.13 Doch damit ist die Figur nur eindimensional betrachtet, denn die zahlreichen Brechungen in der Darstellung werden nicht berücksichtigt und es entsteht nur ein oberflächliches Bild eines weiblichen Alterslebens. Der Roman ist komponiert aus dem räumlichen Nebeneinander verschiedener Milieukreise, die kontrastiv einander gegenübergestellt sind. Es gibt die bürgerlichen Intellektuellen um Professor Schmidt, die neureichen Industriellen um die Treibels, die Kleinbürger um Frau Schmolke und die adligen Städter, die auf den Festen der Neureichen als Dekoration dienen. Vielen Interpretationen zufolge

11 Vgl. Richard M. Meyer: Die deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 1900, S. 442-469, hier: S. 464. 12 Regina Dieterle (Hg.): Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familienbriefnetz, Berlin 2002, S. 418. 13 Walter Müller-Seidel: Besitz und Bildung. Über Fontanes Roman Frau Jenny Treibel, in: Hans-Erich Teitge und Joachim Schobess (Hg.): Fontanes Realismus. Wissenschaftliche Konferenz zum 150. Geburtstag Theodor Fontanes in Potsdam, Berlin 1972, S. 134; Dieter Kafitz: Die Kritik am Bildungsbürgertum in Fontanes Roman Frau Jenny Treibel, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 92 (1973), Sonderheft, S. 74-101, hier S. 94-95.

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geht es um die Diskrepanzen der inneren und äußeren Positionierung des Einzelnen in seinem jeweiligen Milieu und um die daraus resultierenden Identitätsprobleme, was auf einige Frauenfiguren im Text zutrifft, denn die objektiven und subjektiven Unwahrheiten, mit denen Jenny lebt, wiederholen sich in harmloserer Form bei den jungen Frauenfiguren. Sie kehren in Corinna, der Lehrerstochter, ebenso wie in der Hamburger Schwiegertochter Helene als Konflikt zwischen Lüge, Kompromiss und innerer Ehrlichkeit wieder. Im Dialog mit Jenny, in dem Corinna das Gespräch auf eine zukünftige Schwiegertochter lenkt, übernimmt letztere so geschickt die Gesprächsführung, dass erstere trotz aller Eloquenz aus dem Konzept gerät. »Aber Gott sei Dank, gnädigste Frau haben ja noch den Leopold, jung und unverheirathet, und da Sie solche Macht über ihn haben – so wenigstens sagt er selbst, und sein Bruder Otto sagt es auch, und alle Welt sagt es – so könnt er Ihnen [...] wenigstens eine ideale Schwiegertochter ins Haus führen... vielleicht... eine Professorentochter.« Die Commerzienräthin stutzte bei diesem letzten Worte. (JT 13)

Corinna weiß sehr gut, dass sich Leopold als schwacher Mann seiner Mutter vollständig unterordnet. Dennoch hat sie Ambitionen, ihn zu heiraten, und verleugnet ihren eigenen Anspruch auf ein weitgehend selbstbestimmtes Leben. Aber ein Hang nach Wohlleben, der jetzt alle Welt beherrscht, hat mich auch in der Gewalt, ganz so wie alle Anderen [...]. Ich find’ es ungemein reizend, wenn so die kleinen Brillanten im Ohre blitzen, etwa wie bei meiner Schwiegermama in spe. (JT 62)

Auch Helene ist kein wahrhaftiger Mensch. Ehrlich sich selbst gegenüber ist sie nur im Hinblick auf ihre Hamburger Herkunft, Familie und Erziehung. Sie ist davon überzeugt, dass sie und ihre Schwester die passenden Schwiegertöchter für die Treibels sind. Doch beleidigt sie in

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ihrem Dünkel laufend andere, wie beispielsweise ihre Schwiegermutter. [U]nsre Schiffe gingen schon nach Messina, als Deine Mutter noch in dem Apfelsinenladen spielte, draus Dein Vater sie hervorgeholt hat. Material – und Colonialwaaren. Ihr nennt das hier auch Kaufmann [...], aber Kaufmann und Kaufmann ist ein Unterschied. (JT 104 f.)

Jenny Treibel bewegt sich in der Rolle, von der sie glaubt, dass sie gesellschaftlich adäquat sei; die Wahrhaftigkeit ihrer Existenz wird davon vollständig überlagert, und nur die Formen der Darstellung können darüber Auskunft geben, was für eine Frau sie wirklich ist. Nur von außen gesehen ist sie eine autonome alte Frau; in Wirklichkeit hat sie sich hinter einer selbst errichteten gesellschaftlichen Fassade verschanzt. Und diese Fassade erweist sich im Lauf der Ereignisse als unsolide und brüchig. Ein augenfälliges Zeichen dafür ist ihr problematisches Verhältnis zu Formen. Ihre Leibesfülle verleiht ihr die Würde einer Matrone und sie ist immer noch eine attraktive Frau. Doch dem Zuviel an körperlichen Formen entspricht der eigentliche Mangel Jennys: Als alter Frau fehlt ihr eine ausgewogene Form im Umgang mit ihren Mitmenschen; sie zeigt kein charakterliches Format, als sie ihren Sohn Leopold in eine ungewünschte Ehe schickt, nachdem sie die Schwiegertochter ebenso wie bei ihrem älteren Sohn nach rein materiellen Gesichtspunkten ausgewählt hat. Ihre Geltungssucht und ihr Karrieredrang sind wesentlich stärker ausgeprägt als die Fähigkeit, Umgangsformen zu wahren; damit verliert sie Distanz und Achtung vor dem Freiheitsraum anderer, auch dem ihrer Kinder. Ein einziges Mal, gleich zu Beginn des Romans, wird Jenny Treibel von der heterodiegetischen Erzählinstanz als Dame bezeichnet, als sie in ihrem Landauer vor der Wohnung von Professor Schmidt vorfährt:

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[...] und war dann der anderen, mit Geschmack und Sorglichkeit gekleideten und trotz ihrer hohen Fünfzig noch sehr gut aussehenden Dame beim Aussteigen behülflich. (JT 5)

Der Name passt zur äußeren Erscheinung: eine gut aussehende, gepflegte ältere Dame, die sich prachtvoll kleidet und erlesenen Schmuck trägt. Alles wirkte reich und elegant; aber die Spitzen auf dem veilchenfarbenen Brokatkleide, so viel mußte gesagt werden, thaten es nicht allein, auch nicht die kleinen Brillantohrringe, die bei jeder Bewegung hin und her blitzten; nein, was ihr mehr als alles Andere eine gewisse Vornehmheit lieh, war die sichere Ruhe, womit sie zwischen ihren Gästen thronte. (JT 27 f.)

Die Selbstsicherheit, die ihr hier bescheinigt wird, ist ihrem Alter geschuldet, den langen Jahren in gesicherten materiellen Verhältnissen an der Seite eines Mannes, der sie auch nach fast vierzig Jahren Ehe immer noch verwöhnt, doch dies aus rein egozentrischen Erwägungen tut. Treibel [...] schob jetzt höchst eigenhändig so eine Fußbank heran, um es dadurch zunächst seiner Frau, zugleich aber auch sich selber nach Möglichkeit bequem zu machen. Denn Jenny bedurfte solcher Huldigungen, um bei guter Laune zu bleiben. (JT 95)

Jenny ist eine Meisterin der Repräsentation, wenn sie eine Abendeinladung souverän mit Hilfe von Augenzeichen an ihre Dienerschaft dirigiert, wobei das untergeschobene Luftkissen, das ihr eine dominirende Stellung gab, ihr nicht wenig zu Statten kam. In ihrem Sicherheitsgefühl war sie zugleich die Liebenswürdigkeit selbst. (JT 28)

Außerhalb der Familie ist Jennys Dominanz ohne Hilfsmittel – wie hier das untergeschobene Sitzkissen – nicht immer aufrechtzuerhalten.

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Ihre Korpulenz, gleich zu Beginn genannt und des Öfteren wieder erwähnt, symbolisiert ihr gesellschaftliches Gewicht und ihre familiäre Vormachtstellung: »[...] stieg sie, so schnell ihre Corpulenz es zuließ, eine Holzstiege […] hinauf.« (JT 5) Sie hadert weder mit ihrem Alter noch mit ihrer Leibesfülle; beides gestattet ihr die herausragende Stellung in der Familie und in ihrem Freundeskreis, und in ihrer Selbstüberschätzung deutet sie ihr Übergewicht um in ein Signal weiblicher Attraktivität. [D]ie Commerzienräthin wußte recht gut, daß Jahre nichts bedeuten und daß Conversation und Augenausdruck und namentlich die »Welt der Formen« im einen und im andern Sinne, ja im »andern« Sinne noch viel mehr, den Ausschlag zu geben pflegen. Und hierin war die schon stark an der Grenze des Embonpoint angelangte Commerzienräthin ihrer Schwiegertochter unbedingt überlegen. (JT 18)

Jenny verfügt zwar nicht mehr über die jugendliche Erscheinung ihrer Schwiegertochter, doch hat sie sich dadurch, dass sie die gesellschaftlichen Spielregeln perfekt beherrscht, eine Machtposition geschaffen, die unangreifbar scheint. Und sie weiß genau, dass Macht auch erotisch wirken kann. Doch auf ihren eigenen Mann hat die erotische Ausstrahlung keine Wirkung mehr. Der männliche Blick auf das weibliche Alter ist auf die Vergänglichkeit weiblicher Attraktivität fokussiert. In diesem Sinn sinniert der Ehemann, Herr Treibel, während eines Tischgespräches mit der adligen alten Majorin Ziegenhals über die weiblichen Formen und das weibliche Alter. Ja, diese Ziegenhals; einen Meter Brustweite wird sie wohl haben, und es lassen sich allerhand Betrachtungen darüber anstellen, werden wohl auch seinerzeit angestellt worden sein. (JT 25)

In Treibels Fall ist es also so, dass, anders als Jenny vermutet, weibliche Attraktivität im Alter keine erotische Spannung mehr aufbauen

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kann. Jenny irrt, wenn sie sich für attraktiv hält und sich mit den jungen Frauen auf eine Stufe stellt. Der Wahrnehmungsirrtum bezüglich der eigenen Weiblichkeit ist ein Merkmal, das sich durch viele literarische Inszenierungen weiblichen Alters zieht. Er resultiert aus zwei Fehlinterpretationen: einer Fehlinterpretation des Aussehens auf der einen Seite und einer weiteren des Verhaltens auf der anderen Seite. Immer wird das Sichtbare zu einer Norm in Bezug gesetzt und in einem zweiten Schritt daran gemessen, inwiefern es dieser Norm entspricht oder widerspricht. Neben der subjektiven Betrachtung der eigenen Person, wie Jenny sie vornimmt, gibt es auch die Fremdbetrachtung, die von außen auf die alte Frau gerichtet ist, wie die Gedanken Treibels zeigen. Dabei wird immer wieder deutlich, dass klare altersmäßige Zuordnungen im Aussehen und im Verhalten sich als willkürlich getroffen erweisen, so willkürlich wie die Vorbilder, an denen normgerechtes Verhalten und Aussehen gemessen werden. Sehr deutlich wird dies auch in Čechovs Erzählung »Die Braut«: Der Vergleich dreier Frauengenerationen zeigt die willkürliche Zuschreibung der Attribute »alt« und »jung«. In ihrem Verhalten und ihrer Lebenseinstellung ist die Mutter Nina älter als die Großmutter, die Babulja. Auch die Figurenkonstellation in Keyserlings Roman »Wellen« belegt diese These, wenn man die Tochter der Generalin betrachtet, die als Jüngste eigentlich die Älteste ist. Ein realistisches Grenzziehungssystem hat demnach keine Bedeutung, denn es existieren keine qualitativ verschiedenen oppositionellen semantischen Räume von alt und jung. Arthur Schnitzler führte in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts diesen Gedanken als Erzählerrede weiter: Alles übrige ist nur Gradunterschied, nicht Gegensatz: sogar Jugend und Alter, Gesundheit und Krankheit sind nur Gradunterschiede, Wesensunterschied gibt es nur einen einzigen – den zwischen Leben und Tod.14

14 Arthur Schnitzler: Der letzte Brief eines Literaten, in: Ders.: Gesammelte Werke, Die Erzählenden Schriften, Bd. 2, hg. v. unbekannt (Der Verlag

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Allerdings kann es auch vorkommen, dass normgerechtes Verhalten den Grund für einen Trugschluss liefert. Im Hause Treibel verhält sich der Hausherr normgemäß; denn er hat kein erotisches Interesse an den alten Frauen, er ist immer auf der Suche nach jungen Frauen. »Eine neue Soubrette.« »Capital. Sehen Sie, Goldammer, jede Kunstrichtung ist gut, weil jede das Ideal im Auge hat [...]. Aber das Idealste bleibt doch immer eine Soubrette. Name?« (JT 49)

Jenny hat dafür überhaupt keinen Blick und lebt in der Annahme, eine für die Männer attraktive Frau zu sein, was zahlreiche Erzählerkommentare anscheinend bestätigen. Frau Jenny präsentirte sich in vollem Glanz, und ihre Herkunft aus dem kleinen Laden in der Adlerstraße war in ihrer Erscheinung bis auf den letzten Rest getilgt. Alles wirkte reich und elegant. (JT 27)

Die Zuverlässigkeit des Erzählers ist ebenso zweifelhaft wie die Selbsteinschätzung der Protagonistin: Für den Ehemann ist Jennys erotische Ausstrahlung mit dem Alter verschwunden. Dagegen bezieht sich Jennys Selbstwahrnehmung ausschließlich auf das eigene Frausein, das vom Standort des fremden Blicks nicht mehr gesehen wird. Sie erlebt sich immer noch als begehrenswerte Frau, was der Erzähler zunächst bestätigt, während der personale Blick von außen an der Oberfläche haltmacht und den alten Frauenkörper als nicht mehr begehrenswert einstuft. Treibel hofiert seine Frau, um ihrem Zorn und ihrer schlechten Laune zu entgehen, während sein sexuelles Interesse den jungen Frauen gilt. Sexuelle Attraktivität existiert ausschließlich in Jennys Phantasie. Diese Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung ist ebenfalls ein immer wiederkehrendes Merkmal in den Altersdarstellungen und eine der Ursachen für Wahrnehmungsirrtümer.

vermutet, dass Schnitzlers Sohn Heinrich daran beteiligt war), Frankfurt a.M. 1961, S. 206-230, hier: S. 228.

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Das Eigenerleben der alten Frau kann ein völlig anderes Bild ergeben als jenes, das der fremde Blick einfängt. Der Blick sieht den Körper und setzt diesen in Bezug zu der oben beschriebenen Norm; diese Norm und die damit verbundenen Sehgewohnheiten bestimmen den zu diesem Körper passenden Text, der aus der Sicht der Betroffenen ganz anders lauten kann. Wahrnehmungen haben immer einen Standort und der fremde Blick hat seinen Standort meist im jugendlich besetzten Zentrum. Treibel sucht in der Person seiner Frau die gesellschaftlich adäquate Partnerin, keinesfalls die sexuell attraktive Geliebte. Erotische Spannung zwischen dem Mann und einer alten Frau existiert nicht mehr; sie ist zum seichten und unverbindlichen Geplänkel geworden, das von den beiden Gesprächspartnern, hier von der Majorin und Treibel, als Spiel betrachtet wird. Die Majorin […] flüsterte ihm etwas zu, das vierzig Jahre früher bedenklich gewesen wäre, jetzt aber – beide renommirten beständig mit ihrem Alter – nur Heiterkeit weckte. Meist waren es harmlose Sentenzen aus Büchmann oder andere geflügelte Worte, denen erst der Ton, aber dieser oft sehr entschieden, den erotischen Charakter aufdrückte. (JT 33)

Die Majorin ist sich der Veränderungen, die das Alter mit sich bringt, bewusst, im Gegensatz dazu glaubt Jenny fälschlicherweise immer noch an ihre erotische Ausstrahlung und wähnt sich sogar den jüngeren Frauen überlegen, doch ihre äußere Erscheinung entspricht nicht mehr der Norm. Das Motiv der mangelnden Attraktivität bis hin zur Hässlichkeit taucht in den weiblichen Altersrepräsentationen immer wieder auf. Jenny ist im Alter dick und kurzatmig geworden, in ihrer Selbstüberschätzung indes beschäftigt sie sich am liebsten mit ihrer eigenen Person und befragt den Spiegel, »ob sie sich neben ihrer Hamburger Schwiegertochter auch werde behaupten können« (JT 18). Da in ihren Augen der wachsende Wohlstand, den ihr Alter mit sich bringt, mit einem Zuwachs an physischer Attraktivität einhergeht, glaubt sie sich als Siegerin im Wettstreit mit den jungen Frauen und verkennt, dass sie in Wirklichkeit eine füllige alte Frau ist, die von

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ihren Kindern gehasst, von ihrem Ehemann betrogen und von ihren Freunden ausgenutzt wird. Der Professor, der Jugendfreund, erinnert sich an Jennys Jugend und weist nach, dass sie die Gleiche geblieben ist: Sie spielt die Gefühlvolle, während sie strikt ihre materiellen Ziele verfolgt. [U]nd während sie nach wie vor das Lied sang, mein Lied, liebäugelte sie mit Jedem, der ins Haus kam, bis endlich Treibel erschien und dem Zauber ihrer kastanienbraunen Locken und mehr noch ihrer Sentimentalität erlag. (JT 92)

Der Professor ist Jennys einziger Kontakt zur eigenen Vergangenheit. Um Identitäten zu sichern, bedarf es eines Zeugen, der bekräftigen kann, dass der Mensch noch derselbe geblieben ist. Alte Frauen suchen oft die Erinnerung an die eigene Jugend, die Bestätigung des Frauseins in der Vergangenheit. Sie versuchen die Verbindung mit der Vergangenheit und mit sich selbst in dieser Vergangenheit aufrechtzuerhalten. Jugend und Alter werden als Kontinuität erlebt und oft kehren die Gedanken wieder zurück zu einem bestimmten Moment in der Vergangenheit, an dem eine Entscheidung getroffen bzw. nicht getroffen wurde. Zeitlich liegen viele Jahre dazwischen, doch die alte Frau empfindet die Distanz als eine räumliche – als einen einzigen Schritt, den sie damals vielleicht nicht getan hat. Sehr deutlich kommt dieses Merkmal des weiblichen Alters in Kellers alter Frauenfigur Margret zum Ausdruck, wenn sie sich in der Nacht mit ihrem Mann über sexuelle Vergehen oder Versäumnisse streitet, die viele Jahrzehnte zurück liegen. Für Jenny ist der Professor diese Person, der ihre Identität sichern soll. Er ist ihr verlässlicher Zeuge, wenn sie sich in den väterlichen Kolonialwarenladen zurückträumt. Hier mag auch der Grund dafür liegen, dass sie immer wieder das Gespräch mit ihm sucht und am liebsten über die alten Zeiten mit ihm plaudert. Alle ihre poetischen Schwärmereien, mögen sie auch noch so oberflächlich sein, sind ihre Identitätsmerkmale, die der Professor bezeugen kann. Denn Jenny Treibel hat sich im Laufe ihres Lebens nicht weiterentwickelt; ihr Alter hat sie nicht weise werden lassen, wie man es von

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der Generalin oder von der Babulja behaupten kann; im Gegenteil, ihr Profitstreben hat sich noch verstärkt, was deshalb gefährlich ist, weil die Gefühle anderer missachtet werden. Der Jugendfreund charakterisiert Jenny und ihr Umfeld: »Sie liberalisiren und sentimentalisiren beständig, aber das Alles ist Farce; wenn es gilt Farbe zu bekennen, dann heißt es: ›Gold ist Trumpf‹ und weiter nichts.« (JT 92) Passend zu ihrer Persönlichkeit ist ihr Blick aus dem Alter zurück in die Jugend verklärt und realitätsfern. Ach Jugend! […] Du weißt gar nicht, welch’ ein Schatz die Jugend ist, und wie die reinen Gefühle, die noch kein rauher Hauch getrübt hat, doch unser Bestes sind und bleiben. (JT 9)

Schon als junges Mädchen zählten für sie nur Äußerlichkeiten, die sie als Bühne für ihre Rollenspiele nutzte, und ihre Umgebung, die sich an den kastanienbraunen Locken begeisterte, bestärkte sie darin, so dass ihre Hinweise auf die reinen Gefühle leere Phrasen bleiben, zumal sie ja die Gefühle ihrer Kinder durch ihre dirigistische Haltung ständig verletzt. Vor lauter Ehrgeiz wird sie zur Tyrannin im Haus. Bemerkenswert ist, dass sie im Alter immer noch lernbegierig ist und sich nicht scheut, sich belehren zu lassen. Selbst unser guter Krola sagte mir erst neulich, Marcell sei eine von Grund aus ethische Natur, was er noch höher stelle als das Moralische; worin ich ihm, nach einigen Aufklärungen von seiner Seite, beistimmen mußte. (JT 12)

Mag sein, dass dieser Hunger nach Bildung ausschlaggebend war für die erfolgreiche Wandlung von der Kleinbürgerin zur Vertreterin des Großbürgertums. Denn auch in diesem Punkt ist sie sich selbst treu geblieben. Über ihre Söhne kommt sie mit der nachfolgenden Frauengeneration in Kontakt. Von Mütterlichkeit kann bei ihr keine Rede sein, denn sie dirigiert ihre Söhne durch das Leben, immer mit dem Ziel, den materiellen Wohlstand der Familie zu mehren.

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Die Figur der Helene ist eine Steigerung des negativen Bildes der Bourgeoise. Im Gegensatz zu Jenny hält sie es nicht mehr für nötig, ihre rein materiellen Interessen mit künstlerischen und sentimentalen Vorwänden zu verbrämen. Ein äußeres Zeichen ihres rein auf Besitz und Gewinn hin orientierten Weltbilds ist die Tochter Lizzy. Die Kleine, wie sie sich da präsentirte, hätte sofort als symbolische Figur auf den Wäscheschrank ihrer Mutter gestellt werden können, so sehr war sie der Ausdruck von Weißzeug mit einem rothen Bändchen drum. (JT 101)

Auch Corinna Schmidt taugt nicht als Vorbild für die Frau der Zukunft: Ihre Intellektualität wirkt aufgesetzt, so dass sie ziemlich blass und konturlos neben der alten Jenny Treibel aussieht. Jennys Lebenskonzeption besteht aus einer Mischung von Geschäftstüchtigkeit und dem Beharren auf »ewiger Jugend«, wobei Letzteres eine Selbsttäuschung ist. Demnach hat sie gar kein Alterskonzept, weil sie sich immer noch für jung hält. Zu einem Alterskonzept gehören Bewusstheit und Intentionalität, was auf die Figur der Jenny nicht zutrifft. Henriette Herwig nennt in ihrem Vorwort zum Sammelband »Merkwürdige Alte«15 die unterschiedlichen Begriffe des Alters: Altersbildern liegen unterschiedliche Begriffe des Alters zugrunde. Es empfiehlt sich, zwischen dem »biologischen Alter«, dem »chronologischen Alter«, dem an die Übernahme alterstypischer Rollen gebundenen »sozialen Alter«, dem »hohen Alter«, in dem man nicht mehr ohne die Hilfe anderer auskommt, und dem »subjektiven« oder »gefühlten Alter« zu unterscheiden. Alter ist eine Differenzkategorie, die in Relation zu »jung« gebildet wird. [...] Selbst der Körper ist nicht einfach gegeben, sondern jenseits seiner biologischen Alterung »etwas vom Menschen Gemachtes«, durch Repräsentationssysteme und Diskurse Geformtes, sein Altern wird bei Frauen anders bewertet als bei Männern

15 Vgl. Herwig: Vorwort, in: Dies. (Hg.): Merkwürdige Alte, S. 7-33.

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– mit entsprechenden Folgen für die Rollenzuschreibungen und das Selbstbild.16

Sowohl das kalendarische als auch das biologische Alter spielen in Jennys Leben nur eine untergeordnete Rolle: Das kalendarische Alter ist durch ihre Familiensituation als Mutter und Großmutter vorgegeben und ein Zeichen ihres biologischen Alters ist ihre Kurzatmigkeit, die im Erzählerkommentar wiederholt erwähnt wird. Bestimmend für Jennys Altersleben ist ihr subjektives Alter, welches in Kontrast zum kalendarischen und biologischen Alter steht: Sie belügt sich selbst, indem sie sich für jung und blühend hält, was beispielsweise ihr Mann nicht wahrnimmt. Schon als junges Mädchen war sie berechnend und opportunistisch und ihr Leben war von Lebenslügen geprägt. Im Laufe der Jahre hat sich dieses Konzept gefestigt und verstärkt; wie der Professor meint, ist sie im Alter dieselbe geblieben, die sie bereits als junges Mädchen war. Vermutlich hat sich mit dem Anwachsen der gesellschaftlichen Reputation der Treibels auch Jennys berechnendes und unwahrhaftiges Wesen gefestigt. Anhand der Varianten der internen Fokalisierung wird Jennys Altersleben als konzeptlos entlarvt: Jenny schätzt sich als alte Frau anders ein, als es die anderen tun. Die Narration zeigt deutlich, dass das weibliche Alter subjektiv wahrgenommen wird.

16 Ebd., S. 9.

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5.2 D IE B ABULJA AUS ANTON Č ECHOVS »D IE B RAUT « Ich lebe unter den Deutschen und bin schon an ihr Zimmer und ihr Regime gewöhnt, aber in keiner Weise kann ich mich an die deutsche Ruhe und Stille gewöhnen... man spürt in nichts auch nur einen Tropfen Talent, keinen Tropfen Geschmack, aber dafür Ordnung und Redlichkeit im Überfluß.17

Wie die Generalin und die Kommerzienrätin gehört auch die Babulja zur Kategorie der lauten alten Frauenfiguren, die noch aktiv am Leben teilnehmen und deren Stimme immer noch gehört wird. Doch im Gegensatz zu Jenny ist sie auch im Alter noch eine Figur, die sich weiterentwickelt; damit ähnelt sie der Generalin. »Die Braut«18 ist die letzte Erzählung, die Čechov geschrieben hat. Er starb, wie oben bereits erwähnt, vierundvierzigjährig in Badenweiler; seine letzten Worte sprach er auf deutsch: »Ich sterbe.« Liest man Čechovs letzte, vor seinem Tod und der russischen Revolution von 1905 geschriebenen Werke als Antizipation einer gesellschaftspolitischen Wende, dann erscheint neben der atmosphärischen Darstellung von Ende und Abschied auch das implizierte Zukunftsbild wie ein Leitmotiv: Die Figuren, vor allem die Alten, sind erfasst von der Sehnsucht nach einem anderen Leben, auch nach dem jenseitigen Leben.

17 Anton Čechov: Brief an M. P. Tschechowa v. 16.6.1904, in: Ders.: Briefe, übers. v. Ada Knipper u. Gerhard Dick, München 1971, S. 494-495, hier: S. 494. 18 Anton Čechov: Die Braut, in: Ders.: Die Dame mit dem Hündchen, übers. v. Gerhard Dick und Hertha von Schulz, hg. v. Peter Urban, Zürich 1976, S. 351-374.

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Besonders deutlich zeigt sich dieses Motiv beim Ich-Erzähler der »Langweiligen Geschichte«, Professor Stepanyč. Alternativen mit neuen Lebensformen kommen allerdings nicht zustande, denn die Alten selbst haben keine Kraft mehr für Veränderungen; doch sie können die Jungen einen Schritt weit in ein neues Leben begleiten, wie es letztendlich die Babulja in dieser Erzählung tut. Wie dem Professor aus der »Langweiligen Geschichte« geht es fast allen alten Figuren in Čechovs Prosa und seinen Theaterstücken, etwa im »Kirschgarten«, wenn Lubov’ Andreevna resigniert ihrem Anwesen den Rücken kehrt: Ihre Erwartungen erfüllen sich nicht und es bleibt eine unbestimmte Sehnsucht nach einem anderen Leben oder dem Tod. Eine Ausnahme zu dem resignativen Finale stellt die Erzählung »Herzchen« dar, die auch aus diesem Grund in den Textkorpus aufgenommen wurde. Enttäuschte Erwartungen führen zu Resignation und Depression nicht nur bei den alten Figuren, sondern auch bei den jüngeren, die dadurch zu alten Figuren werden. Die Pflegetochter des Professors, Katja, kann als eine solche Figur gesehen werden, ebenso wie die Tochter der Generalin, Gräfin Buttlär. In dieser Erzählung gibt es ebenfalls eine jüngere alte Frau: Nina, die Mutter der Braut Nadja, wird durch Lethargie und Antriebslosigkeit vorzeitig zu einer alten Frau. Der Titel »Die Braut« erweckt die Erwartung, dass ein bestimmtes Ereignis, in diesem Fall eine Hochzeit, eintritt. Doch der Leser wird getäuscht, denn dieses Ereignis tritt nicht ein. Allgemein tendiert Čechov in seinen »ereignislosen«, ereigniskritischen Erzählungen dazu, die scheinbar selbstverständlichen Relevanzkriterien des Realismus zu erschüttern, indem er die Abhängigkeit der Relevanzzuschreibungen vom Subjekt und seinem jeweiligen physischen und psychischem Zustand demonstriert.19

19 Wolf Schmid: Elemente der Narratologie, Berlin 22008, S. 14.

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Wolf Schmids Erläuterungen zu Narrativität und Ereignishaftigkeit geben interessante Anhaltspunkte zur Analyse dieser Erzählung, streifen jedoch die Problematik des Alterskonzepts nur am Rande. Wenn eine Braut heiratet, ist das in der Regel kein Ereignis; es kann aber für alle Beteiligten, die Braut eingeschlossen, eine Überraschung und damit ein Ereignis sein, wenn die Braut – wie in Čechovs gleichnamiger Erzählung (Nevesta) – ihrem Bräutigam kurz vor der Hochzeit, als alles schon besprochen und vorbereitet ist, den Laufpass gibt.20

Für die Analyse des Alterskonzepts ist die Reaktion der Großmutter auf dieses überraschende Ereignis, die Verweigerung der Braut, ein wichtiger Baustein. Der Titel der Erzählung gibt vor, dass es um eine junge Frau geht, die kurz vor der Hochzeit steht. Doch diese Braut, Nadja, entzieht sich dem Brautstand durch die Flucht aus dem Haus der Großmutter – und nach diesem unerwarteten Ereignis gibt es keine Braut mehr. Die Großmutter Marfa Michajlovna ist das Familienoberhaupt eines russischen Adelsnestes am Rand einer Kleinstadt in der Nähe von Moskau. Traditionsgemäß ist das Familienleben streng hierarchisch gegliedert: In Marfas Haus und in ihrer Abhängigkeit leben ihre verwitwete Schwiegertochter Nina und die dreiundzwanzigjährige Enkeltochter Nadja. In der erzählerischen Abfolge nehmen die Geschehnisse, die sich alle im Haus der Großmutter abspielen, ihren Ausgangspunkt bei der Person der Babulja, wie die Großmutter von allen, der Familie, den Gästen und der Dienerschaft genannt wird. Babulja ist eine Koseform von Babuschka und bedeutet also Großmütterchen, worin sich Ehrfurcht und Achtung ausdrücken, nicht etwa Zärtlichkeit und Zuneigung. Die Babulja erlebt sich in der Beziehung zu und im Vergleich mit andern als alt, mit ihrem Körper und ihren Reden entspricht sie dem erwarteten Bild. Diese Erwartung schafft eine Form der Abhängigkeit,

20 Ebd., S. 15.

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die erst am Schluss aufgehoben wird, wenn die Babulja die Enkelin nach der Flucht nach Petersburg wieder im Haus aufnimmt. [S]chon an ihrer Stimme und ihrer Art zu sprechen konnte man erkennen, daß sie das Haupt der Familie war. Ihr gehörten die Kaufbuden auf dem Markt und das altertümliche Haus mit den Säulen und dem Garten, trotzdem betete sie jeden Morgen, Gott möge sie vor dem Ruin bewahren, und weinte dabei. (BR 354)

Mit Hilfe sprachlicher Kategorien macht man sich eine Vorstellung von dem Alter eines Menschen. Dadurch entwickeln sich Sehgewohnheiten, die das Bild vom andern bereits vervollständigen, bevor es richtig gesehen worden ist. Das wahrgenommene Bild kann also dem alten Menschen nicht entsprechen, weil in der Wahrnehmung eines Menschen das Bild, das man von ihm besitzt, immer schon anwesend war. Diese fertigen Bilder stellen eine Norm dar, die nicht zu erreichen ist. Normalität definiert sich über den Grad, in dem man/frau diesen Imaginationen entspricht. Zu den häufigsten Imaginationen des weiblichen Alters, die aufgrund einer Nichtentsprechung entstehen, gehört das Motiv der hässlichen alten Frau. Auch Babuljas äußere Erscheinung ist, ähnlich wie die Varjas oder Agnes, abstoßend und hässlich. »Die Großmutter, oder wie man sie im Haus nannte, »Babulja«, eine sehr dicke und häßliche Frau mit dichten Brauen und einem Bärtchen auf der Oberlippe [...]«. (BR 354) Wie in Keyserlings Roman »Wellen« wird auch hier das Motiv der hässlichen alten Frau noch verstärkt durch Merkmale der Maskulinisierung. Während der Erzähler von »Wellen« die männlichen Attribute den weiblichen Figuren aus den unteren Gesellschaftsschichten zuschreibt und die Generalin als Adelige davon ausnimmt, verwendet der Erzähler hier sie auch zur Beschreibung der adligen alten Frau. Die Babulja kleidet sich in opulente Seidenkleider und gibt ihre Dominanz schon durch ihre laute Stimme zu erkennen. Es ist nicht zu übersehen, dass sie als Herrin über Allem und Allen steht. »Die Großmutter, majestätisch und prächtig in ihrem seidenen Kleid, hochmütig aussehend

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wie immer, wenn Besuch da war, saß vor dem Samovar.« (BR 363364) Sie selbst tut nichts, lässt sich nur bedienen, und wenn sie einen Bedürftigen wie den totkranken armen Verwandten Saša unterstützt, so will sie sich in ihrer bigotten Frömmigkeit dadurch einen Platz im Himmel sichern. Denn sie weiß sich an der Grenze zum Tod und als gläubige Christin bereitet sie sich auf das ewige Leben vor. Deshalb verläuft auch das Leben im Haus nach den Riten und Geboten der Kirche: Fasten- und Festtage werden streng eingehalten und auch die Enkelin Nadja wird in dieses Schema gepresst, indem sie genötigt wird, den Sohn und Nachfolger des Oberpriesters zu heiraten. Im Alterskonzept der Babulja stehen demnach das Lebensende und das sich anschließende Ewige Leben im Mittelpunkt. Der Umstand, dass sie ihre Enkelin benutzt, um sich einen Platz im Himmel zu sichern, weist auf weitere Merkmale der literarischen Darstellung weiblichen Alters hin: die Spiegelungen alter Frauen durch junge Frauen und umgekehrt. Diese Spiegelung betrifft hier auch die Figur der Mutter Nina, die als Witwe in der Abhängigkeit der Babulja lebt. Der Körper der Mutter ist dem der Tochter immer schon eingeschrieben, und damit ist der alternde Frauenkörper in seiner Differenz zum jungen ein Bestandteil weiblicher Identität.21 Die daraus resultierenden Konflikte finden sich in fast allen untersuchten Texten. In den jungen Frauengestalten spiegeln

21 In Eugen Ruges Roman »In Zeiten des abnehmenden Lichts«, ein Familienroman über das Ende der DDR, formuliert die Protagonistin Irina, eine in der DDR lebende Russin, ähnliche Gedanken über ihre Mutter: »Unwillkürlich sah sie im Geist die gebeugte Gestalt mit ihrer selbstgestrickten Nachtmütze, in der sie zu allen Jahreszeiten schlief, der Schlüsselkette, die sie zu jeder Tageszeit um den Hals trug, als müsste sie fürchten, dass Irina sie hinterrücks aussperrte, sah die jämmerlichen, mehr an Lappen als an Schuhe erinnernden Pantoffeln, die ihre Mutter am liebsten trug, weil ihre von Überbeinen verunstalteten Füße schmerzten [...]. Nadjeshda Iwanowna, das Gespenst, das ihre Zukunft verkörperte.« (Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Roman, Reinbek bei Hamburg 2011, S. 64-65.

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sich als Zukunftsbilder alte Frauen oder umgekehrt: Die alte Frau findet ihre Widerspiegelung in einer jungen Frau, und in der Erinnerung erscheinen Bilder aus der Vergangenheit. Fraglich bleibt, ob sich in der Spiegelung eine positive Utopie für die Zukunft zeigt oder, deutlicher gesagt, ob die alte Frau von ihrer Person etwas, das zukunftsweisend ist, an eine junge Frau weitergeben kann. Vor allem in den russischen Texten ist diese Spiegelung ein immer wiederkehrendes Strukturelement. Oft kommentieren die jungen Frauen das Verhalten der alten Frauen, indem sie sich anders verhalten und damit Alternativen aufzeigen, wie Nadja das hier tut. Deutlich wird dies auch in der »Langweiligen Geschichte«, wenn die junge Schauspielerin Katja sich abfällig über die alte Varja äußert und sich dieserart von ihr distanziert. In Čechovs Erzählung »Die Braut« wird die Autorität der Babulja dadurch in Frage gestellt, dass die Enkelin, die ja der Erzählung den Titel gibt, sich dem Brautstand durch die Flucht entzieht. Nadja war schon dreiundzwanzig; seit ihrem sechzehnten Lebensjahr hatte sie sich leidenschaftlich gewünscht zu heiraten, und jetzt war sie endlich die Braut von Andrej Andreič, […] er gefiel ihr, die Hochzeit war schon auf den 7. Juli festgesetzt, doch sie konnte sich nicht freuen und schlief schlecht, und ihr Frohsinn war vergangen. (BR 351)

Erst als Nadja nach dem Verlassen des großmütterlichen Gutshofs im Zug nach Petersburg sitzt, kommen Lebensfreude und jugendliche Unbeschwertheit zurück. Erst jetzt war ihr klar, daß sie ganz gewiß wegfuhr [...]; all das schreckte und bedrückte sie schon nicht mehr, es war alles so dumm und kleinlich und blieb immer weiter und weiter hinter ihr zurück, [...] und die Freude nahm ihr plötzlich den Atem: sie dachte daran, daß sie in die Freiheit fuhr [...]. Und sie lachte und weinte und betete. (BR 368 f.)

Während die Enkelin eine gravierende Normverletzung begeht, verhält sich die Babulja konservativ, das bedeutet, sie dringt auf Normeinhal-

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tung. Auch mit dieser konservativen Haltung muss sie sich mit der Krise der Werte und Normen, die Čechov in vielen Varianten beschreibt,22 auseinandersetzen, denn sie kann die Existenz abweichenden Verhaltens nicht ignorieren und ist gezwungen, die Möglichkeit, dass ihre Normen in Frage gestellt werden, zur Kenntnis nehmen. Die Infragestellung der Grenzen ist demnach perspektivengebunden: Die alte Frau verteidigt die Grenzen, während die junge Frau sie hinterfragt. Und je weiter Grenzen aufgelöst werden, desto weniger zählen in der imaginierten Welt Ereignisse oder Vorfälle. Um die Figur der Babulja herum verlieren Ereignisse ihre Bedeutung: Die Babulja strebt ein für Nadja wichtiges und zukunftsweisendes Ereignis an, indem sie diese zur Braut macht. Dadurch dass die Braut sich dem Brautstand entzieht, tritt ein unerwartetes Ereignis ein, welches die Großmutter zunächst sehr überrascht. Interessant bleibt der Schluss der Erzählung: Die Babulja ignoriert erst Nadjas Grenzverletzung, steht aber letztlich doch zu ihr und nimmt sie zu Hause wieder auf. Als Herrin ihrer leibeigenen »Seelen« lebt sie noch gänzlich traditionell: Für sie gehört es sich, dass sie ihre Diener wie Tiere behandelt. Dementsprechend sehen die Schlafstätten der Leibeigenen aus. »[D]ort schlafen vier Dienstboten auf dem nackten Fußboden, anstatt Bettzeug haben sie Lumpen; ein Gestank und diese Wanzen, diese Schaben [...].« (BR 353) Kein gutes Wort findet sie für ihre Bediensteten, vielmehr benimmt sie sich ihnen gegenüber zänkisch und launenhaft und regiert ihr Haus mit Geiz und Missgunst wie vor ihr viele Generationen russischer Gutsbesitzer. Von der Enkelgeneration wird ihr das nachgesehen: Als älteste Frau darf sie im alten Denken verhaftet bleiben, während allerdings von der Töchtergeneration eine neue Denkweise erwartet wird. Im Gespräch mit Nadja wundert sich der verarmte Verwandte Saša darüber, dass Nadjas Mutter Nina sich nicht gegen die alten Gesellschafts-

22 Vgl. dazu die im Westen wohl bekannteste Erzählung Čechovs: Die Dame mit dem Hündchen, Zürich 1976, S. 250-271.

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strukturen auflehnt.23 Dagegen gesteht er der Großmutter als alter Frau das Verharren in den veralteten Traditionen zu. »Die Großmutter [...], nun Gott mit ihr, sie ist eben die Großmutter; aber die Mama [...]. Die müßte das doch begreifen.« (BR 353) Am Ende der Erzählung zeigt sich ein konträres Bild, denn Saša hat sich geirrt: Es ist die Großmutter, welche die Flucht der Braut akzeptiert, während die Mutter in ihrer lethargischen, teilnahmslosen Position verharrt. Die Großmutter sieht sich an der Grenze zum Tod und als gläubige Christin ist sie von einem Weiterleben im Jenseits überzeugt; sie glaubt daran, diese zukünftige Existenz für sich gestalten zu können. So wird die geizige Babulja sehr großzügig, wenn es um Nadjas Aussteuer geht, denn die Heirat der Enkelin mit dem Sohn des Oberpriesters sichert ihr, daran glaubt sie fest, ein gutes Leben im Jenseits. Den Weg einer Frau von einer Abhängigkeit in die nächste ist sie selbst gegangen und nach ihr die Schwiegertochter, von der man weiß, dass sie ihren Mann nie geliebt hat. Eine Alternative zu einem solchen Frauen-

23 Die Figur des armen Verwandten Saša gehört zu dem in der russischen Literatur sehr bekannten Figurenmodell des Vertreters der Intelligenzija. – Nur wenige Wörter schafften es aus dem Russischen in das Vokabular der westlichen Sprachen. »Intelligenzija« ist eines davon. Mit diesem Begriff wird in Russland seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jene gebildete Gesellschaftsschicht bezeichnet, die nicht zur Aristokratie gehört und sich zum Anwalt des einfachen Volks macht. Die russische Intelligenzija begriff und begreift sich noch heutzutage als geistige Elite der Nation. Dazu gehört vor allem eine sorgsam gewahrte Distanz zu den politischen Machthabern. Jeder Denker oder Autor, der sich im Dunstkreis der Mächtigen bewegt, verliert sofort seine Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit. Allerdings stellten sich schon vor der Jahrhundertwende zwei Probleme: Erstens war gar nicht klar, ob das Volk die Intelligenzija überhaupt als ihr Sprachrohr akzeptieren würde, und zweitens zeigte sich spätestens im Vorfeld der Revolutionen des Jahres 1917, dass die Intelligenzija nicht fähig war, sich auf produktive Weise in die anstehenden Reformprozesse einzubringen.

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leben ist für die Babulja zwar ausgeschlossen, dennoch scheint sie die Veränderungen, die dem Adel bevorstehen, zu ahnen und nach der Flucht hadert sie nicht mit Nadja. Sowohl die Großmutter wie die Mutter fühlten deutlich, daß das Vergangene für immer und unwiderruflich dahin war: verloren die Stellung in der Gesellschaft, das frühere Ansehen und das Recht, Gäste einzuladen [...]. (BR 371)

5.2.1 Frauen im Generationenkonflikt Mit ihrer Weigerung, eine ungeliebte und nicht liebende Braut zu sein, durchbricht Nadja den Kreislauf der Abhängigkeiten in einer patriarchalischen Feudalgesellschaft und geht einen eigenen Weg als studierte Frau. Großmutter und Mutter irren, ihre Prophezeiungen erweisen sich als überholt und nicht mehr gültig: »In der Natur geht ein ständiger Stoffwechsel vor. Und ehe du dich versiehst, wirst du selbst Mutter und eine alte Frau sein [...].« (BR 365) Nina, die Mutter, beschreibt mit dieser Prophezeiung ihr eigenes Schicksal, wobei nicht die Mutterschaft sie zu einer alten Frau gemacht hat, sondern auch ihre Unfähigkeit, selbstbestimmt zu leben. »Ich will leben! leben!« wiederholte sie und schlug sich zweimal mit der Faust an die Brust. »Gebt mir doch Freiheit! Ich bin noch jung, ich will leben, und ihr habt eine alte Frau aus mir gemacht!« (BR 366)

Dieser dringliche Appell mit der dreimaligen Wiederholung des Verbs »leben« ist der Hilferuf einer Frauenfigur, die ein falsches Alter lebt. Wenn Alter mit Fremdbestimmtheit korreliert, dann ist Nina älter als ihre Schwiegermutter, denn zu ihrer emotionalen Vereinsamung kommt noch die materielle Mittellosigkeit. Die Möglichkeit, wie ihre Tochter das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und eben keine alte Frau zu werden, erkennt sie für sich nicht. Das Attribut »alt« bringt hier nicht mehr das biologische Alter zum Ausdruck, sondern die überholte großmütterliche Lebensform. Schon zu Beginn der Erzählung

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macht sich Nadja Gedanken über die schwankende Bedeutung der Attribute »jung« und »alt«; die Art und Weise, das Leben zu leben und zu gestalten, bestimmen das Alter der drei Frauen im Haus und nicht die Anzahl der Lebensjahre. Dazu passt, dass die Babulja zum Schluss, unmittelbar vor Nadjas Flucht, vor einem aufkommenden Sturm warnt, doch die junge Frau ist entschlossen, dem Unwetter zu trotzen und dafür frei zu sein von der alten Lebensform im Patriarchat, die den drei Frauengenerationen das jeweilige Alter aufzwingt. Dass die Freiheit, von der sie träumt, noch nicht zu erreichen ist, zeigt das Ende der Erzählung: Nadja kehrt nach Hause zurück und bleibt zunächst dort. Es wird eine Zeit geben, in der von Großmutters Haus, wo alles so eingerichtet ist, daß vier Dienstboten nicht anders als im Kellergeschoß, in einem Raum, in Unsauberkeit leben können, keine Spur mehr übrigbleibt. (BR 373)

5.2.2 Der Blick der Braut auf die Großmutter: Vom Garten draußen durch ein Fenster nach innen Die dominante Fokalisierungsstrategie der Erzählung ist die interne Fokalisierung, die in der Regel an die Wahrnehmungen der jungen Frau Nadja gebunden ist. Denn sie ist die einzige, die den weiblichen Lebenskreislauf durchschaut und ihn durchbrechen kann. Die alte Frau, die Babulja, wird mit den Augen ihrer Enkelin gesehen. Und deren Sicht auf die Lebensumstände im Haus der Großmutter wandelt sich im Verlauf der Erzählung immer mehr von einer neutralen zu einer negativen Wahrnehmung. Gleich zu Anfang blickt sie gegen Abend vom Garten aus in das erleuchtete Haus und erkennt als Erstes die Großmutter, die Herrin des Adelsnestes. Fast wie auf ein Portraitgemälde schaut sie auf die alte Frau: mit Distanz statt in herzlicher familiärer Verbundenheit. Im Haus der Šumins war gerade der Abendgottesdienst zu Ende, den die Großmutter, Marfa Michajlovna, hatte abhalten lassen. Nadja – sie war für eine Minute in den Garten hinausgegangen – konnte jetzt sehen, wie im Saal der

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Tisch zu einem Imbiss gedeckt wurde und wie sich die Großmutter in ihrem prächtigen Seidenkleid eilig hin und her bewegte [...]. (BR 351)

Der Blick von außen durch das Gartenfenster trifft auch auf die Mutter, die aus dieser Perspektive nicht mehr so alt ist, wie sie selbst zu sein glaubt. »Und ich sitze da und sehe mir von hier Mama an«, sagte Nadja. »Sie erscheint mir von hier so jung [...].« (BR 353)

Die Mutter, die sich selbst als alte Frau bezeichnet, ist von außen betrachtet eine junge Frau. Hier zeigt sich wieder einmal, dass die Wahrnehmung vom menschlichen Alter immer perspektivengebunden ist. Der arme Verwandte Saša rät Nadja, aus diesem trostlosen weiblichen Lebenskreislauf, der im Innern des Hauses zelebriert wird, auszubrechen, bevor die Hochzeit diesen zementiert: »Zeigen Sie allen, daß Sie dieses unbeweglichen, grauen, miserablen Lebens überdrüssig sind. Zeigen Sie es wenigstens sich selber!« (BR 359) Nadja ist empfänglich für diese Ratschläge, denn das Leben der Großmutter gehört für sie in eine längst vergangene Epoche: Und ihr schien, als habe sie das alles schon einmal vor langer, langer Zeit gehört oder als habe sie es irgendwo gelesen [...] in einem alten, zerlesenen, längst vergessenen Roman. (BR 359-360)

Die Großmutter ist die Protagonistin in diesem Roman, den keiner mehr liest. Nadja beschreibt metaphorisch, wie die Großmutter ihr Alter lebt: voller Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass ihre Zeit endgültig vergangen ist. Pragmatisch charakterisiert Nadja das offenbar überflüssige Leben ihrer Großmutter:24 Die Babulja arbeitet selbst nichts,

24 Das Figurenmodell des »überflüssigen Menschen« (lišnij čelovek) spielt in den russischen Romanen des 19. Jahrhunderts eine große Rolle; v.a. Ivan Gončarev: Oblomov, hg. u. übers. v. Vera Bischitzky, München 2012. Der

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sondern lässt andere für sich arbeiten und negiert alle Anzeichen einer neuen Zeit. Ihr Leben, wie es von Nadja wahrgenommen wird, spielt sich zwischen Extremen ab: auf der einen Seite unsäglicher Schmutz und Dreck in der Küche und in den Räumen der Dienstboten und auf der anderen Seite die mit Brillanten geschmückte alte Frau in ihren prächtigen Seidenkleidern. Der Mai verging, es kam der Juni. Nadja hatte sich zu Hause schon eingewöhnt [...]. Nina Ivanovna [...] aß noch immer das Gnadenbrot im Hause und mußte sich wegen jeden Groschens an die Großmutter wenden. Es gab viele Fliegen, und die Decken in den Zimmern schienen immer niedriger und niedriger zu werden. (BR 374)

Unter diesem Blickwinkel ist das Alterskonzept, das in dieser letzten Erzählung Čechovs imaginiert wird, traurig und bitter. Die alte Frau sehnt sich nach der alten, vergangenen Zeit und fürchtet die ungewisse Zukunft. Die Großmutter, schon ganz alt geworden, doch wie früher dick und häßlich, umarmte Nadja und weinte lange, das Gesicht an ihre Schulter geschmiegt; sie konnte sich gar nicht losreißen. (BR 371)

5.2.3 Großmütterliteratur25 – Kontraste und Parallelen zwischen russischen und deutschen Texten Sowohl die Babulja als auch die Generalin Palikow und Jenny Treibel bilden den familiären Mittelpunkt im Kreis von Kindern und Enkelkindern. Die beiden Ersteren sind verwitwet und finanziell unabhängig;

Protagonist Oblomov gilt als der Prototyp des überflüssigen Menschen. Der Name wurde zum Programm mit der Wortschöpfung »Oblomovščcina«, was bedeutet: ein nutzloses Leben führen. 25 Vgl. im Einleitungskapitel dieser Arbeit den Überblick über die Forschungslage zur Großmütterliteratur.

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umgekehrt sind die Kinder und Enkelkinder weitgehend von ihnen abhängig. Dieser Aspekt spielt allerdings in Čechovs Erzählung die größere Rolle, denn sowohl die Schwiegertochter als auch die Enkelin leben vollständig auf Kosten der Großmutter, während die Tochter der Generalin durchaus standesgemäß und reich geheiratet hat und die Mutter lediglich den Urlaub an der See finanziert. In beiden Texten finden die weiblichen Mitglieder der Folgegenerationen kein Glück in ihren Beziehungen zu den Männern: Die Schwiegertochter der Großmutter war unglücklich verheiratet und muss als Witwe weiterhin im Haus ihrer Schwiegermutter leben, weil sie über keine eigenen Mittel verfügt. Und die Tochter der Generalin ist eine früh gealterte, verhärmte Frau, die sich damit beschäftigt, den nächsten Seitensprung ihres Mannes aufzudecken. Von der Bigotterie der Babulja ist die Generalin weit entfernt; anstatt Gott um Beistand zu bitten, verlässt sie sich auf ihre Lebenserfahrungen und nutzt so die Vorteile, die ihr Alter mit sich bringt. Beide alten Frauen haben den in ihre Zeit passenden Standesdünkel und was sie wirklich fühlen, was sie bewegt, erfährt der Leser nicht, denn die alten Frauenfiguren sind keine Subjekte interner Fokalisierung, sondern immer die Objekte. Das heißt, die Wahrnehmung der fiktionalen Welten bleibt von außen auf die beiden alten Frauen gerichtet. Großmütterlich im herkömmlichen Sinn verhalten sich die beiden nicht und beide Erzählinstanzen weisen darauf hin, dass die Großmütter in ihren gesellschaftlichen Positionen verhaftet sind und eine liebevolle Hinwendung zum Enkelkind nicht denkbar ist. Als Märchenerzählerinnen wie Frau Margret sind die beiden nicht vorstellbar. Beide sind Großmütter »aus dem Kopf« und nicht »aus dem Bauch«: Die Generalin sorgt sich um das leibliche Wohl der Familie und kommentiert die liebestollen Aktionen der jungen Frauen mit großer Distanz; die Babulja kümmert sich intensiv um die Verheiratung ihrer Enkelin mit dem Sohn des Oberpriesters, um sich einen Platz im Paradies zu sichern, so dass sie die Flucht der Braut vor der Hochzeit erst bemerkt, als es schon zu spät ist. In Čechovs Erzählung sind die Anzeichen einer neuen Zeit unübersehbar: Die Babulja selbst wendet sich der Zukunft zu, indem sie ihre

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Enkelin nicht verstößt, nachdem diese sich ihrem Willen widersetzt hat. Im Roman »Wellen« werden zwar die vordergründigen Konflikte beigelegt, doch eine Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen für ein gelingendes weibliches Leben ist noch nicht in Sicht. Mit Naturmetaphern werden beide Alternativen am Schluss der Texte antizipiert: Während die Babulja einen kommenden Sturm prophezeit, lastet in »Wellen« weiterhin eine schwere Schwüle am Ostseestrand.

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F RAU M ARGRET AUS »D ER GRÜNE H EINRICH « VON G OTTFRIED K ELLER Mit der Einführung der Rentenversicherung gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts beginnt die Sozialpolitik [...]. Vorher gab es einfach nur alte Leute, von denen die Dichter erzählen, deren Handlungen und Charaktere oftmals wie ein wunderliches Gemisch aus Weisheit und Torheit erscheinen.26

Frau Margret ist die Mentorin des jungen Heinrich und gehört damit in die Kategorie der lauten alten Frauenfiguren. Im Gegensatz zu ihren Vorläuferinnen in dieser Kategorie ist sie nicht nur die Herrin über ihren Familienkreis und ihre abhängigen Dienstboten, sondern sie fungiert auch als Mittelpunkt eines ganzen kleinstädtischen Bezirks. In analeptischer Erzählordnung schildert Heinrich Lee zu Beginn des Romans27 seine kindlichen Begegnungen mit Frau Margret, einer

26 Pott: Eigensinn des Alters, S. 175. 27 Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, erster und zweiter Band, in: Ders.: Sämtliche Werke, Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Walter Morgentha-

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fünfundsechzigjährigen alten Frau aus seiner Nachbarschaft. Der homodiegetische Erzähler ist hier ein am Geschehen unbeteiligter Beobachter, weil er seine frühen Kindheitserlebnisse erst als Erwachsener aufzeichnet: Die fiktive Welt des Kindes wird zu einer vom erwachsenen Heinrich interpretierten fiktiven Welt, die ausschließlich aus seinem Blickwinkel betrachtet wird. Dies erscheint mir wichtig in Bezug auf das Alterskonzept, welches nicht von einem Kind, sondern von einem erwachsenen Mann aus der Erinnerung beschrieben wird. In der Figur der Frau Margret sieht der Erzähler Heinrich zwei sich scheinbar ausschließende Persönlichkeitsmerkmale vereinigt: rationalen Geschäftssinn und emotionale Leidenschaftlichkeit. Dank dieser Verknüpfung präsentiert er eine charismatische alte Frau, die sich einerseits ein beträchtliches Vermögen erarbeitet, andererseits aber phantastische Geschichten von unbekannten Welten erzählen kann. Sie denkt in marktwirtschaftlichen, auf materiellen Gewinn ausgerichteten Strukturen und ist damit ganz anders als Heinrichs spröde spartanische Mutter, die fast nur damit beschäftigt ist, möglichst viel Geld zu sparen. Margret ist die Herrin eines erfolgreichen kleinstädtischen Trödelunternehmens, in dem sie alle möglichen gebrauchten Sachen aufkauft, verleiht oder wieder verkauft. Korpulent und altertümlich gekleidet thront sie tagsüber in ihrem Laden im Hauseingang und abends in ihrem Wohnraum, in welchem sich die Kunden, Nachbarn, Verwandte und Günstlinge dann erneut einfinden. Sie trug immer bloße Arme und hatte schneeweiße Hemdsärmel, auf eine künstliche Weise gefältelt, wie man es sonst nirgends mehr sah und es vielleicht vor hundert Jahren schon so getragen wurde. (GH 57)

ler, Bd. 1, Zürich 2006, Erster Band S.9-219. Zum vorliegenden Untersuchungsgegenstand, dem Alterskonzept der Frau Margret, gibt es in der ersten Fassung des Romans nur marginale Unterschiede zu der von mir benutzten zweiten Fassung; diese Unterschiede haben keine Auswirkungen auf die Resultate meiner Textanalyse.

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Der Kunde am Tag oder der Besucher am Abend irrt sich, wenn er dieser Beschreibung folgt und eine träge, altmodische Greisin vor sich zu haben glaubt. Denn in ihrer Korpulenz und ihrer unzeitgemäßen Kleidung entspricht sie den Imaginationen von weiblichem Alter und fordert die irrtümliche Wahrnehmung geradezu heraus. Den jungen Heinrich, den späteren Dichter und Maler, begeistert sie mit ihren phantasievollen Erzählungen über Menschen, Geister und Teufel, seine Mutter hingegen liest ihm nur Langweiliges aus der Bibel vor. Für den Jungen ist Mutter Lee die Kontrastfigur zu Frau Margret, während er zum bereits verstorbenen Vater eine Kontinuitätsbeziehung aufrecht hält. Heinrich hat seinen Vater bereits mit fünf Jahren verloren und die nüchterne Mutter, eine Pfarrerstochter, bietet seiner kindlichen Phantasie keine Nahrung; der Vater hätte dies sicher getan, wie Heinrich in der Retrospektive feststellt. Obgleich Meister Lee fast keine persönlichen Bedürfnisse hatte und unter seinen zahlreichen Grundsätzen derjenige der Sparsamkeit in der ersten Reihe stand, so war er doch so gemeinnützig und großherzig, daß das Geld für ihn nur Wert hatte, wenn etwas damit ausgerichtet oder geholfen wurde [...]; daher verdankte er es nur seiner Frau, welche keinen Pfennig unnütz ausgab und den größten Ruhm darein setzte, jedermann weder um ein Haar zu wenig noch zu viel zukommen zu lassen, daß er nach Verfluß von zwei oder drei Jahren schon Ersparnisse vorfand, welche seinem unternehmenden Geiste [...] eine reichlichere Nahrung darboten. (GH 23)

Die Begegnung mit der alten Frau Margret knüpft an Heinrichs Leben mit dem Vater an, der sich in seiner Freizeit intensiv der Pflege kulturellen Erbes gewidmet hat. Wie Margret war auch er der Mittelpunkt eines aktiven bürgerlichen Kreises, in dem man sich mit natur- und geisteswissenschaftlichen Fragen auseinandersetzte und dramatische Texte in szenisches Spiel umsetzte. Da fast allen in ihrer Jugend die gleiche dürftige Erziehung zu teil geworden, so ging ihnen nun besonders beim Eindringen in die Geschichte ein reiches und

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ergiebiges Feld auf, welches sie mit immer größerer Freude durchwandelten [...]. Wenn sie auch Schiller auf die Höhe seiner philosophischen Arbeiten nicht zu folgen vermochten, so erbauten sie sich um so mehr an seinen geschichtlichen Werken und von diesem Standpunkte aus ergriffen sie auch seine Dichtungen, welche sie auf diese Weise ganz praktisch nachfühlten und genossen, ohne auf die künstlerische Rechenschaft, die jener Große sich selber gab, weiter eingehen zu können. Sie hatten die größte Freude an seinen Gestalten und wußten nichts Ähnliches aufzufinden, das sie so befriedigt hätte [...]. Aber einfach und durchaus praktisch, wie sie waren, fanden sie nicht volles Genügen an der dramatischen Lektüre im Schlafrock; sie wünschten diese bedeutsamen Begebenheiten leibhaftig und farbig vor sich zu sehen, und weil von einem stehenden Theater in den damaligen Schweizerstädten nicht die Rede war, so entschlossen sie sich, wiederum angefeuert von Lee, kurz und spielten selbst Komödie, so gut sie konnten. (GH 25-26)

Der vaterlose Heinrich brennt darauf, Frau Margrets Geschichten zu hören und sie sich vorzustellen, und er saugt alles auf, was sie zu erzählen hat. Da sie niemals eine Schule besucht hat, kann sie kaum lesen und gar nicht schreiben, hat von Buchhaltung keine Ahnung und kommt dennoch im Laufe ihres Lebens zu großem Reichtum, weil sie ein ausgezeichnetes Gedächtnis hat und offensichtlich über gute Menschenkenntnisse verfügt. Ihre ganz eigene Art zu rechnen, beherrscht sie mit großer Sicherheit und Geschicklichkeit. [I]hre ganze Rechenkunst bestand in einer römischen Eins, einer Fünf, einer Zehn und einer Hundert […]. Sie führte kein Buch und besaß nichts Geschriebenes, war aber jeden Augenblick imstande, ihren ganzen Verkehr, der sich oft auf mehrere Tausende in lauter kleinen Posten belief, zu übersehen, indem sie mit großer Schnelligkeit das Tischblatt mittels einer Kreide [...] mit mächtigen Säulen jener vier Ziffern bedeckte. (GH 57)

Heinrichs Aufzeichnungen lassen also die Imaginationen eines ruhigen, kontemplativen weiblichen Lebensabends scheitern. Denn die alte Frau Margret lebt ein konträres Alter: Sie ist so geschäftstüchtig, dass

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sie als mittellose junge Frau den Grundstock für ein beträchtliches Vermögen legen und als alte Frau dieses Vermögen noch erheblich vergrößern kann; darüber hinaus macht sie sich in ihrer Gesellschaft nützlich, indem sie Bedürftige unterstützt und vor allem diejenigen fördert, denen es gelingt, ihr Vermögen zu mehren. Altersgemäße Ermüdungserscheinungen bemerkt der Erzähler nicht an ihr; ihre körperlichen und geistigen Energien scheinen unerschöpflich zu sein. Sie ist es, die für den Lebensunterhalt der Familie aufkommt, und auch in sozialer Hinsicht bildet sie den Mittelpunkt ihrer Umgebung. Kunden, Nachbarn und Verwandte bindet sie an sich, indem sie auf wunderbare Weise Sagen und Märchen weitererzählt, aller Welt in schwierigen finanziellen Situationen hilft und gleichzeitig neue lukrative Geschäfte macht. Frau Margret hatte immer die lebendigste Einbildungskraft und bei ihr ging alles in Fleisch und Blut über. Sie pflegte mehrmals in der Nacht aufzustehen und aus dem Fenster zu schauen, um nachzusehen, was in der stillen dunklen Welt vorging, und immer entdeckte sie einen verdächtigen Stern, der nicht wie gewöhnlich aussah, ein Meteor oder einen roten Schein, welch’ allem sie gleich einen Namen zu geben wußte. Alles war ihr von Bedeutung und belebt [...]. (GH 66-67)

Damit passt Frau Margret in die Kategorie alter Frauenfiguren, die Sagen und Märchen erzählen und die Phantasie der Kinder zufriedenstellen, was dem gängigen Alterskonzept der imaginierten Großmutter entspricht, in der Wirklichkeit allerdings kaum zu finden ist.28 Parallel dazu repräsentiert sie ein weiteres, eher ungewöhnliches Figurenmodell weiblichen Alters: Sie ist erfolgreich geschäftlich tätig und hat sich damit eine hohe Wertschätzung in ihrem gesellschaftlichen Umfeld erworben. Heutzutage würde man sie eine Unternehmerin mit einem prosperierenden Familienunternehmen nennen.

28 Vgl. dazu: Göckenjan: Die Erfindung der Großmutter, in: Herwig (Hg.): Alterskonzepte, S. 103-121.

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Im Eingang ihres Hauses hat sie sich ein kleines Imperium aus Trödelkram eingerichtet, welches sie ständig ausbaut und vergrößert, obgleich sie, wie oben erwähnt, nur rudimentär rechnen kann. Ihr außergewöhnlicher Geschäftserfolg resultiert, wie gesagt, aus ihrem guten Gedächtnis und ihrer Menschenkenntnis. Zweimal am Tag wechselt sie ihren Platz: Tagsüber residiert sie in ihrer Verkaufshalle und abends in ihrem Wohnzimmer. »Im tiefsten Hintergrunde aber saß jederzeit eine bejahrte, dicke Frau in altertümlicher Tracht.« (GH 57) Da sie großzügig auch Waren verleiht, hat sie eine beträchtliche Gemeinde dankbarer Kunden um sich versammelt, die sich am Abend einfinden, gemeinsam essen und Geschichten erzählen: Die heimelige Atmosphäre dieses geselligen Hauses ist für Heinrich viel attraktiver und anregender als die karge Küche seiner Mutter. Über die Mediokrität der Mutter gibt auch der Speiseplan Auskunft. Die Speisen meiner Mutter hingegen mangelten, so zu sagen, aller und jeder Besonderheit. Ihre Suppe war nicht fett und nicht mager, der Kaffee nicht stark und nicht schwach, sie verwendete kein Salzkorn zu viel und keines hat je gefehlt; [...] man konnte von ihren Speisen eine große Menge genießen, ohne sich den Magen zu verderben. (GH 41-42)

Aus der alten Margret wird am Abend eine eindrucksvolle Erzählerin, die mit Naivität und Phantasie alte Geschichten ausschmückt und lebendig werden lässt, indem sie sie wie wirklich geschehene Begebenheiten weitererzählt. Für Frau Margret hatte ohne Unterschied alles, was gedruckt war, eine gewisse Wahrheit, und die ganze Welt in allen ihren Spiegelungen, das fernste sowohl, wie ihr eigenes Leben, waren ihr gleich wunderbar und bedeutungsvoll [...]. (GH 60)

Ihr Ehemann, Vater Jakoblein, ist etwa fünfzehn Jahre älter als sie und eigentlich ein Nichtsnutz, der sich im Geschäft seiner Frau ein wenig nützlich machen kann und niedrige Arbeiten übernimmt. Schon die

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Diminutivform seines Namens deutet auf eine geringe Wertschätzung seiner Person hin: [...] war ihr Mann einer von denjenigen, welche nichts Eigenes gelernt haben noch tun können und daher darauf angewiesen sind, mehr den Handlanger einer tatkräftigen Frau zu machen und auf eine müßige Weise unter dem Schilde ihres Regimentes ein ruhmloses Dasein zu führen. (GH 71-72f.)

Zum wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens seiner Frau trägt er so gut wie nichts bei, möchte jedoch an den Erlösen des Geschäftes beteiligt werden. Da er ein Schwächling ist und keine Durchsetzungskraft hat, erreicht er letztlich wenig. Sein unmännlicher Mangel an Rat und Zuverlässigkeit, die Erfahrung, daß sie in kritischen Fällen nie einen kräftigen Schutz in ihm fand, ließen Frau Margret auch seine sonstigen Leistungen übersehen und erklärten die unbefangene Art, mit welcher sie ihn ohne weiteres von der Mitherrschaft über die Geldtruhe ausschloß. (GH 72)

Frau Margret, die vor ihrem Mann stirbt, vererbt ihr Vermögen einem ihrer Schützlinge, der, wie sie es einst getan hat, seine Talente tatkräftig einsetzt, um sein Vermögen zu vermehren. Sie war von Grund aus wohltätig und gab immer mit offenen Händen, den Armen […] im gewöhnlichen abgeteilten Maße, denjenigen aber, bei welchen Hab und Gut anschlug, mit wahrer Verschwendung für ihre Verhältnisse. (GH 62)

Frau Margret als ein gastfreundlicher, zugewandter Mensch öffnet das Haus für alle möglichen Menschentypen, doch mit ihrem Mann lebt sie sehr schlecht. Ihre Rede über ihn und ihm gegenüber ist verächtlich und erniedrigend, und die Streitereien der beiden sind des Nachts stundenlang in der gesamten Nachbarschaft zu hören. Dabei geht es immer wieder um sexuelle Verfehlungen in der Jugend, die allerdings nicht

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näher charakterisiert werden. Wie in den meisten Altersrepräsentationen dieser Studie fungieren auch hier die Erinnerungen als identitätsstiftende Elemente, die die Verbindungen zu den zuvor gelebten Jahren aufrechterhalten. Alte Frauen und Männer, die sich nicht normgerecht verhalten, werden oft als »krank« oder »verrückt« an den Rand der Normalität gedrängt. Frau Margret und Vater Jakoblein benehmen sich nicht normgerecht, wenn sie in den Nächten lauthals streiten. Doch in jeder Jahreszeit einmal, wenn in der Natur die großen Veränderungen geschahen und die alten Menschen an die schnelle Vergänglichkeit ihres Lebens erinnerten und ihre körperlichen Gebrechen fühlbarer wurden, erwachte, meistens in dunklen, schlaflosen Nächten, ein entsetzlicher Streit zwischen ihnen, daß sie aufrecht in ihrem breiten, altertümlichen Bette saßen, unter dem Einen buntbemalten Himmel, und bis zum Morgengrauen, bei geöffneten Fenstern, sich die tödlichen Beleidigungen und Zankworte zuschleuderten, daß die stillen Gassen davon wiederhallten. (GH 73)

Frau Margret, die alte Frau, agiert hier als Frau, was auf die Außenwelt befremdlich und lächerlich wirkt. Ein Indikator für die Überschreitung der Grenze zwischen Normalität und Abnormität ist immer das Lachen derer, die sich anmaßen, über Normalität befinden zu dürfen. Dass die alte Frau über sexuelle Vergehen und Versäumnisse streitet, macht sie in den Augen der Nachbarschaft lächerlich. Ein als weiblich wahrgenommener alter Frauenkörper gilt als skandalös. Immerhin werden damit einerseits jugendliche Schönheit und andererseits Weltferne und Abgeklärtheit des Alters verletzt. Diese Wahrnehmung ist inzwischen verschwunden, wenn man Filme und Literatur über Sexualität im Alter aus den letzten Jahren betrachtet.29

29 Es gibt zunehmend mehr Publikationen, die das Gegenteil propagieren und Sexualität als wichtigen Baustein des Alterskonzeptes herausstellen. Der Film Wolke 9 von Andreas Dresen aus dem Jahr 2008 thematisiert Liebe und Sex im Alter und feierte seine Premiere bei den Filmfestspielen von

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[J]edoch ihr eigenes Verhältnis zu einander war so sonderbar von Leidenschaften bewegt, und es traten so ursprünglich dämonische Gewalten der Menschennatur darin zu Tage, daß ich mit kindlich erstauntem Auge in die wilde Flamme sah und schon tiefe Eindrücke empfing. (GH 71)

Die Leidenschaftlichkeit, die den jungen Heinrich so tief beeindruckt, kontrastiert hier mit dem Alter der Figuren, was dazu führt, dass ihre Aktionen als abnorm eingestuft werden. Ein weiteres Motiv literarischer Altersdarstellungen ist die Verortung an oder jenseits der Grenze zum Tod. Auch Frau Margret ist eine Grenzfigur, wenn sie, ebenso wie ihr Mann, darauf lauert, dass der jeweils andere zuerst sterben möge. Sie stirbt als Erste, nachdem sie ihren Mann hatte enterben und den Nachlass nach eigenen Vorstellungen hatte regeln können. [S]ie war mit der Überzeugung gestorben, daß ihr gutes Gold nicht in ungeweihte Hände übergehe, sondern die Kraft und die Lust tüchtiger Leute sein werde. (GH 76)

Es ist klar, dass sie mit ihrem Testament heftige Irritationen auslöst, sowohl bei Vater Jakoblein als auch bei ihrer großen Verwandtenschar. Demnach verhält sie sich auch als Grenzgängerin nicht normkonform. Nonkonformität und Emotionalität des hier präsentierten weiblichen Alters haben einen prägenden Einfluss auf den jungen Heinrich und sind mitbestimmend für seinen weiteren Lebensweg.

Cannes 2008. In dem amerikanische Film Wie beim ersten Mal (2012) geht es um ein alterndes Paar, das versucht, sein 30 Jahre altes Liebesleben wiederzubeleben. Auch R.W. Fassbinders Film Angst essen Seele auf von 1974 thematisiert Liebe im weiblichen Alter, doch hier wird Sex noch ausgeblendet. In der Ratgeberliteratur tauchen mittlerweile Unmengen von Publikationen darüber auf, wie Sex im Alter zu gestalten sei.

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5.3.1 Geschlechtertausch im Alterskonzept Sichtbar für alle haben Margret und Jakob ihre Geschlechterrollen getauscht: Während sie mit Trödel einen florierenden Handel betreibt und gleichzeitig durch ihre Beschäftigung mit alten Büchern und alten Gegenständen das kulturelle Erbe ihrer Welt pflegt, trägt er zum geschäftlichen Erfolg kaum etwas bei, treibt seine Scherze mit seiner Frau und macht sich lustig über ihre abergläubische Haltung allem Vergangenen gegenüber. Er besaß eine fast ebenso lebhafte Einbildungskraft, wie seine Frau, dabei reichten seine Erinnerungen noch tiefer in die Sagenwelt der Vergangenheit zurück; doch fasste er alles von einer spaßhaften Seite auf, da er von jeher ein spaßhaftes und ziemlich unnützes Männlein gewesen war, und so wußte er ebenso viel lächerlichen Spuk und verdrehte Menschengeschichten zu erzählen, als seine Frau ernsthafte und schreckliche. (GH 69)

Das komplementäre Ehesystem, in dem die beiden leben, inspiriert den jungen Heinrich, denn dadurch kann er, wie bei der Betrachtung von zwei Seiten einer Medaille, die unterschiedlichen Möglichkeiten erkennen, Leben zu gestalten und kulturelles Erbe zu pflegen. [E]r aß und trank, lachte und fluchte und machte seine Schnurren, ohne je zu trachten, sein Leben mit einem ernsteren Grundsatze in Einklang zu bringen. [...] und sie zeichnete sich [...] darin aus, daß sie niemals dem Ausdrucke dessen, was sie bewegte, einen Zügel anlegte. Sie liebte und haßte, segnete und verwünschte, und gab sich unverhüllt und ungehemmt allen Regungen ihres Gemütes hin. (GH 74-75)

Ihn fasziniert auch ihr ehelicher Umgang, denn die Leidenschaftlichkeit, die beide aneinander bindet, ist trotz ihres Alters erotisch konnotiert. Die männliche Komplementärfigur, Vater Jakoblein, steigert durch ihr Anderssein die starke Ausstrahlungskraft seiner Frau.

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Insbesondere blieb die Margret in allem Einzelnen auch gegen ihn eine gute und freigebige Frau, die sie sonst war, und sie hätte vielleicht ohne den vierzigjährigen Lebensgenossen und sein spaßhaftes Umhertreiben nicht einen Tag leben können [...]. (GH 73)

Margret vergoldet ihren Gewinn und hortet die Goldstücke in ihrer Truhe. Im Sinne einer Zugewinngemeinschaft glaubt auch Jakob Zugriff auf diesen Schatz zu haben, was ihm seine Frau jedoch verweigert. Er erkämpft sich seinen Anteil mit juristischer Hilfe und überschreitet damit eine Grenze: Im von Frau Margret regierten Haushalt unterwerfen sich alle den Gesetzen der Hausfrau, Regulative von außen wie Kirche, Staatsmacht oder Rechtssprechung sind bis zu diesem Zeitpunkt überflüssig. Ein zweiter Bruch mit Margrets Regeln geschieht nach ihrem Tod: Sie schafft es nicht, den von ihr gelebten pfleglichen Umgang mit dem kulturellen Erbe über ihren Tod hinaus zu retten. Der Erbe, den sie ausgewählt hat, verkauft all die Dinge, die ihr ein Leben lang lieb und teuer waren, und macht sie zu Geld, während die von ihr vernachlässigten Verwandten einige Gegenstände mit nach Hause nehmen und Margrets Andenken bewahren. Die Elemente der Fürsorge, mit denen Margret die Gegenstände von damals umhegte, sind ein Erbe des Feudalismus der Vergangenheit, erst mit dem Totalverkauf, den der Erbe vornimmt, beginnt das kapitalistische System. 5.3.2 Ein Matriarchat als Alterskonzept Wenn der Begriff »Matriarchat« als gelebte Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern definiert wird, wie es der Feminismus bisweilen tut, dann passt er nicht zum Sozialgefüge, in dem Frau Margret agiert. Geht es jedoch um eine gesellschaftliche Anordnung, in welcher die Frau eine bevorzugte Stellung in der Gesellschaftsordnung innehat, dann ist sie eine Matriarchin. Die alte Frau Margret präsentiert sich tatkräftig, aktiv und vorausschauend; sie ist der Mittelpunkt ihrer Welt und vermittelt damit ein

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entsprechendes Alterskonzept: selbstbestimmt und wirtschaftlich erfolgreich. Vermittler dieses Konzepts ist, wie oben gesagt, der homodiegetische Erzähler Heinrich, der analeptisch über die eigene Kindheit berichtet. Während nämlich die Frau Margret die bewegende und erhaltende Kraft in ihrem Haushalte war, den Grund zum jetzigen Wohlstand gelegt hatte und jederzeit das Heft in den Händen hielt, war ihr Mann einer von denjenigen, welche nichts Eigenes gelernt haben noch tun können [...]. (GH 71)

Heinrich eröffnet einen Blick in einen Mikrokosmos, der unabhängig von der Außenwelt seine eigenen matriarchalischen Regeln, wie etwa die Konzentration jedes geschäftlichen und spirituellen Geschehens auf die alte Frau, ausgebildet hat. Denn der Dreh- und Angelpunkt dieser Welt ist die alte Frau Margret, die diesen Mikrokosmos erst ermöglicht hat und ihn nun regiert. Ihr Führungsanspruch bezieht sich nicht nur auf den Umgang mit den sie umgebenden Dingen, sondern auch auf die Menschen ihrer Umgebung. Von ihrer Freude an gedeihlichem Erwerb und emsiger Tätigkeit mochte es auch kommen, daß mehrere Schacherjuden in den Kreis ihrer Wohlgelittenen aufgenommen waren. Die Unermüdlichkeit und stetige Aufmerksamkeit dieser Menschen, welche öfter bei ihr verkehrten und ihre schweren Lasten abstellten, volle Geldbeutel aus unscheinbarer Hülle hervorzogen und ihr zum Aufbewahren anvertrauten, ohne irgendein Wort oder eine Schrift zu wechseln, ihre billige Gutmütigkeit und neugierige Bescheidenheit neben der unberückbaren Pfiffigkeit im Handeln, ihre strengen Religionsgebräuche und biblische Abstammung, sogar ihre feindliche Stellung zum Christentum und die groben Vergehungen ihrer Voreltern machten diese vielgeplagten und verachteten Leute der guten Frau höchst interessant und gern gesehen [...]. (GH 62-63)

Margret ist mächtig genug zu entscheiden, dass die Juden, die viele antijudäische Klischees bedienen, in ihrem Haus willkommene Gäste sind. Gängige Stereotypen über die Juden werden abgerufen und

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gleichzeitig konterkariert, indem die jüdischen Händler, die Frau Margret ihre Geldsäcke ohne Quittung zum Aufbewahren überlassen, toleriert werden. Wenn man einräumt, dass es hier zwar um eine fiktive Welt in der Schweiz und nicht in Deutschland geht, so werden doch die Durchsetzungskraft und die Machtfülle der alten Frau sehr deutlich gemacht. Ihre Immobilität schmälert diese machtvolle Position nicht. Und dadurch dass sie ihre christlichen Überzeugungen mit ihrem Aberglauben zu verbinden weiß, setzt sie sich mit der Autorität einer klugen Frau durch. Den Animismus ihrer Weltsicht ordnen ihre Gäste nicht als Gegenpol zum christlichen Glauben ein, sondern als dessen Ergänzung, die für Spannung und Aufregung sorgt. Für Frau Margret hatte ohne Unterschied alles, was gedruckt war, wie die mündlichen Überlieferungen des Volkes, eine gewisse Wahrheit, und die ganze Welt in allen ihren Spiegelungen, das fernste sowohl, wie ihr eigenes Leben, waren ihr gleich wunderbar und bedeutungsvoll; sie trug noch den ungebrochenen Aberglauben vergangener Zeiten an sich ohne Verfeinerung und Schliff. Mit neugieriger Liebe erfaßte sie alles und nahm es als bare Münze, was ihrer wogenden Phantasie dargeboten wurde [...]. Alle die Götter und Götzen der alten und jetzigen heidnischen Völker beschäftigten sie durch ihre Geschichte und ihr äußeres Aussehen in den Abbildungen, hauptsächlich auch daher, daß sie dieselben für wirkliche lebendige Wesen hielt [...]. (GH 60)

Durch das mündliche Erzählen der Frau Margret wird der Reichtum heidnischer Vorstellungen gewahrt, welche viel spannender und phantastischer sind als die Geschichten der Bibel, die Heinrichs Mutter vorträgt. Mit dem Glauben an ein monotheistisches Gottesbild ist viel poetisches Potential verloren gegangen, das Heinrich im Laden und in der Wohnstube der Frau Margret kennenlernt und das er bei seiner Mutter niemals kennengelernt hätte. Die Mutter lehrt ihn den christlichen Glauben, während Frau Margret ohne didaktische Intentionen Traditionen bewahrt und tradiert.

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Denn das Altersleben, das mit der Figur der Frau Margret repräsentiert wird, ist vielschichtig und mehrdimensional und geht über eine Gewinne optimierende Geschäftstüchtigkeit hinaus. Hier geht es um eine alte Frauenfigur, die in ihrer Person noch weitere Facetten des weiblichen Alters vereinigt: Sie ist die Großmutter, die Sagen und Märchen erzählt und damit dem jungen Heinrich Welten eröffnet, die ihm bei seiner Mutter immer verschlossen geblieben sind. Indessen hatte ich eine Freundschaft geschlossen, welche meiner suchenden Phantasie zu Hilfe kam [...], indem sie, bei der Einfachheit und Nüchternheit meiner Mutter, für mich das wurde, was sonst sagenreiche Großmütter und Ammen für die stoffbedürftigen Kinder sind. (GH 56)

Frau Margret ist allerdings auch die alte Frau, die mit ihrem Mann in einem Dauerkonflikt lebt, was den Besuchern und Kunden zunächst verborgen bleibt. Es ist Geldgier, die beide Eheleute veranlasst, jeweils den Tod des andern zu wünschen, um damit Herr oder Herrin über das gesamte und ungeteilte Vermögen zu werden. Das wahre Verhältnis der beiden ist von außen nicht zu erkennen, so dass der Erzähler darüber nullfokalisiert berichtet, um die Figurenbilder zu komplettieren. Dieses grauenhafte Verhältnis hätte man freilich auf den ersten Blick nicht geahnt; denn sie lebten zusammen wie zwei gute alte Leutchen und nannten sich nur Vater und Mutter. (GH 73)

Des Weiteren ist Frau Margret eine Wohltäterin, die Bedürftige unterstützt, sowie eine Geschäftsfrau, die viel Geld anhäuft. Die Seele des Geschäftes war aber die Frau und von ihr aus gingen alle Befehle und Anordnungen, ungeachtet sie sich nie von ihrem Platze bewegte und man sie noch weniger je auf einer Straße gesehen hatte. (GH 57)

Indem sie Geld borgt oder Geräte ausleiht, macht sie die Menschen von sich abhängig und festigt ihre dominante Position.

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So kam es, [...] daß sie beständig von Nachsichtsuchenden oder Bezahlenden umlagert war, welche ihr, zur Beherzigung oder als Dank, die mannigfaltigsten Gaben darbrachten, nicht anders, als einem Landpfleger oder einer Äbtissin. (GH 58-59)

Besonders geschätzt und gefördert werden von ihr die Leute, die es zu materiellem Wohlstand gebracht haben, oder die jungen Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben, reich zu werden. Außer daß Gott als der kunst- und sinnreiche Schöpfer all der wunderbaren Dinge und Vorkommnisse für sie existierte, war er ihr vorzüglich in Einer Richtung noch merk- und preiswürdig: nämlich als der treue Beiständer der klugen und rührigen Leute, welche, mit nichts und weniger als nichts anfangend, ihr Glück in der Welt selbst machen und es zu etwas Ordentlichem bringen. (GH 61)

Ihr Leben lang hat sie Gegenstände gesammelt, die ihr wichtig erschienen, und damit das kulturelle Erbe ihrer Welt bewahrt. Der ganze Trödel, der sie umgibt, ist nicht etwa unnützer Plunder oder wertvolle Antiquität, sondern vielmehr ein wichtiger Bestandteil und Begleiter ihres langen Lebens: [...] und allen diesen Dingen schrieb sie irgend eine merkwürdige Geschichte oder sogar geheime Kräfte zu, was ihr dieselben heilig und unveräußerlich machte, so sehr auch Kenner sich manchmal bemühten, die wirklich wertvollen Denkmäler ihrer Unwissenheit zu entreißen. (GH 59)

Sie zeigt großes Interesse an den Geheimnissen, die sich in der Natur abspielen, und entwickelt dabei sehr phantasievolle Ideen, andererseits ist sie sehr realitätsnah und bodenständig, wenn es darum geht, ihren Nachlass zu ordnen. Gleichwohl gehört sie, was ihr Weltverständnis angeht, bereits einer vergangenen Zeit an.

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Die großen Affen und Waldteufel der südlichen Zonen, von denen sie in ihren alten Reisebüchern las, die fabelhaften Meermänner und Meerweibchen waren nichts anderes, als ganze gottlose, nun vertierte Völker oder solche einzelne Gottesleugner, welche in diesem jammervollen Zustande, halb reuevoll halb trotzig, Zeugnis gaben von dem Zorne Gottes und sich zugleich allerlei mutwillige Neckereien mit den Menschen erlaubten. (GH 60)

Die Welt der alten Frau steht in einem gebrochenen Verhältnis zur Moderne: Die Rationalität, die sie im Geschäft zeigt und die von ihrem Alleinerben noch übertroffen wird, wird gebeugt und ergänzt durch ihre irrationalen Geschichten. Mit ihrem Charisma hat Frau Margret ein Matriarchat geschaffen, dem sich die Familie, die Kunden und die Nachbarn unterordnen. Die Grundlage hierfür sind ihre dominante Stellung in der Familie und im Geschäft, welche sich aufgrund ihres Geschicks im Umgang mit Menschen und Zahlen herausgebildet hat, sowie ihre Begeisterungsfähigkeit hinsichtlich natürlicher und spiritueller Vorgänge. Das Alterskonzept der Frau Margret wirkt über ihren Tod hinaus, denn sowohl der Ehemann als auch die Verwandtschaft bleiben noch posthum in Margrets Abhängigkeit und der junge Heinrich nimmt seine Eindrücke aus dem Haus der alten Frau Margret mit in seine Zukunft.

6.

Drei leise alte Frauen

6.1 M UTTER N IMPTSCH AUS T HEODOR F ONTANES »I RRUNGEN , W IRRUNGEN « DIE M ATERIALIEN DES A LTERS

UND

Meine liebe Alte. Wie viele Briefanreden hat man nun schon durchgemacht! Jetzt sind wir glücklich bei »liebe Alte« angekommen, eine Form, die kaum noch Wechsel oder Steigerung zuläßt.1

Mutter Nimptsch gehört zu den stillen alten Frauenfiguren, die wie die Großmutter Wardein vom Erzähler als fast kataleptische Gestalten imaginiert werden. Sie bleibt immer in ihrem Raum, meistens auf ihrem Platz am Feuer und ist dort umgeben von Materialien des Alters. Mit ihrem nahen Tod beschäftigt sie sich mehr als mit den Ereignissen, die um sie herum passieren. Und doch nimmt sie Einfluss auf das Geschehen, indem sie Bothos Besuche bei Lene toleriert. Auch Lenes ers-

1

Theodor an Emilie Fontane am 30. September 1888, in: Emilie Fontane, Theodor Fontane: Der Ehebriefwechsel, 1873-1898, Band 3, Große Brandenburger Ausgabe, hg. v. Gotthard Erler, Berlin 1998, S. 514-515.

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te Liaison mit einem Adeligen muss von ihr geduldet worden sein. Mit dieser Haltung macht sie sich letztlich mitschuldig an Lenes Unglück. Der Roman »Irrungen, Wirrungen«2 erhielt während seines Erscheinens und danach zahlreiche abwertende Kritiken, wobei seine gesellschaftliche Relevanz jedoch vor allem in den zeitgenössischen Kritiken betont wurde. Das Bürgertum entsetzte sich über die Darstellung ehelich nicht abgesegneter Liebe und den Adel erschreckte die Imagination einer Mesalliance. Allerdings bekam der Roman die Unterstützung der progressiven Naturalisten, vor allem wegen der exakten Beschreibungen des städtischen Milieus und der Psyche der einzelnen Figuren. Letzterer Aspekt betrifft nicht nur die Hauptfiguren Lene, Botho und Käthe, sondern auch Nebenfiguren wie Mutter Nimptsch. Am Beispiel des Romans »Frau Jenny Treibel« habe ich bereits die multiperspektivische Darstellung der imaginierten Welt Fontanes erläutert: Auktoriales Erzählen und fokalisierte Passagen wechseln einander ab und auf diese Weise werden die Figuren in einer Art Rundumperspektive präsentiert. Dieses Merkmal realistischen Schreibens trägt der Vielfalt der Menschendarstellung im gesellschaftlichen und psychischen Kontext Rechnung. Eine genderorientierte Figurenanalyse der Mutter Nimptsch fragt nicht nach den realen alten Frauen, die sich möglicherweise hinter der Figur verstecken, sondern verlangt nach einer Fokussierung auf die Textgestaltung. Dabei ist der Blick auf mögliche Kontrast- oder Parallelkonstruktionen in der Figurenkonstellation gerichtet. Weiterhin geht es um die Materialien, die das weibliche Alter hier begleiten. Abschließend wird das Alterskonzept der Mutter Nimptsch überprüft hinsichtlich der Frage, inwieweit sie die Rolle der Gelegenheitsmacherin übernimmt. Die Figurenkonstellation ist so angelegt, dass den beiden jungen Liebenden Lene und Botho jeweils eine Kontrastfigur aus der Vorge-

2

Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen, Roman, in: Ders.: Das erzählerische Werk, hg. v. Karen Bauer, Bd. 10, Berlin 1997, S. 5-190.

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neration zur Seite gestellt ist: Bothos Onkel Baron Osten und Lenes Pflegemutter Frau Nimptsch. Diese beiden alten Figuren, obgleich gesellschaftlich konträr situiert, stimmen in ihrer Bewertung der Liebesbeziehung überein: Botho und Lene werden sich trennen müssen, denn ihre Liebe passt nicht in ihre Welt. Der alte Baron betont, wie unbedeutend die Affäre für seinen Neffen sei, indem er Lene abwertet, und er argumentiert aus männlicher Sicht: »Es ist Zeit, daß er aus der Garconschaft herauskommt. Er verthut sonst sein bischen Vermögen und verplämpert sich wohlgar mit einer kleinen Bourgeoise.« (IW 51) Aus Mutter Nimptschs weiblichem Blickwinkel wird ebenfalls das notwendige Ende der Beziehung wahrgenommen, ohne jedoch die schädlichen Folgen für Lene zu berücksichtigen. Im Gegensatz zum Baron, der seinen Neffen standesgemäß verheiraten möchte, ermuntert sie Lene, das Liebesverhältnis in der Gegenwart als Privileg der Jugend zu genießen: »Kind, es schadt nichts. Eh man sich’s versieht, is man alt.« (IW 20) Trotz des differenten gesellschaftlichen Hintergrunds gibt es Parallelen in der Präsentation der weiblichen und der männlichen Altersfigur: Der alte Baron und die alte Waschfrau leben ihr Alter rückwärtsgewandt, in den bestehenden Traditionen fest verhaftet, und unter diesem Blickwinkel treten die geschlechtlichen Divergenzen in den Hintergrund. Der Baron greift aktiv in die Lebensgestaltung des Neffen ein und steuert dessen Zukunft nach Familieninteressen. [W]ozu hast Du eine reiche Cousine, die blos darauf wartet, dass Du kommst [...]. Hab’ ich Recht? Natürlich. Abgemacht. Und darauf müssen wir noch anstoßen. (IW 51)

Vordergründig betrachtet bleibt Mutter Nimptsch in der Rolle der Beobachterin und Ratgeberin, bestärkt ihre Pflegetochter einerseits darin, die Liebe mit einem Adeligen zu genießen, warnt sie aber andererseits davor, sich auf eine gemeinsame Zukunft mit ihm, also eine Ehe, einzustellen. Allerdings warnt sie nicht vor den Konsequenzen, die eine weitere Mesalliance für die junge Frau haben wird, und befördert so Lenes Unglück. Denn eine glückliche Partnerschaft mit einem Mann

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aus ihrer Schicht ist nicht mehr zu erwarten, wenn sie ihren guten Ruf verloren hat. Dies tritt in der Tat auch ein: Lene wird zu einer vorzeitig gealterten resignierten Frau, die einen ungeliebten Mann heiratet. Da über die Vergangenheit von Mutter Nimptsch nicht berichtet wird, wie etwa bei Frau Dörr, bleiben die Quellen ihrer Lebenserfahrungen im Dunkeln. Auch der alte Baron argumentiert, wenn auch aus konträrer gesellschaftlicher und psychologischer Perspektive, auf der Grundlage eines ähnlichen Alterskonzepts der Gesellschaftskonformität, jedoch spielen bei ihm zudem noch materielle Erwägungen eine große Rolle. In Fontanes Romanen ist die Rolle des erfahrenen Beobachters wie hier oft weiblich besetzt. Während der Baron nur in einer kurzen Episode zu Wort kommt, begleitet Mutter Nimptsch die beiden Liebenden bis zum Schluss und ihrem Sterben ist ein ganzes Kapitel gewidmet. Lebenserfahrung, aber auch die Begünstigung von sexuellem Missbrauch als Merkmale des Alters sind in diesem Roman also weiblich konnotiert. Während der Baron seinen Neffen wortreich von einer Verbindung mit Käthe zu überzeugen versucht, was ihm letztlich auch gelingt, werden im Kontrast dazu der alten Frau kaum Handlungsfunktionen zugewiesen. Vielmehr kommentiert sie das Geschehen und reflektiert ihren nahen Tod. Passend zur Rolle der passiven Beobachterin ist die Lokalität dieser Figur gewählt: Sie tritt niemals außerhalb ihres Zimmers auf, sondern sitzt statisch am Feuer, wechselt von der Fußbank in ihren Sessel oder kurz vor dem Tod in ihr Bett. Ganz anders sieht die Lokalität des alten Mannes aus: Er speist mit seinem Neffen im vornehmen Restaurant Hiller und genießt den öffentlichen Auftritt. Als Lene mit Mutter Nimptsch umzieht, wechselt jene zwar den Raum, aber nicht den Sitz am Feuer. Grund dafür ist ihre schlechte gesundheitliche Verfassung: Ihre Knochen schmerzen und sie hat immer wieder Atemprobleme und ein Kratzen im Hals. Darüber hinaus hat das Feuer auch eine leitmotivische Funktion, die noch erläutert werden wird.

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Vorgebeugt sitzt Mutter Nimptsch auf einer Fußbank am niedrigen Herd und träumt von unbestimmten Dingen. Am liebsten ist sie allein und hängt ihren Gedanken nach. Dabei hielt die Alte beide Hände gegen die Gluth und war so versunken in ihre Betrachtungen und Träumereien, daß sie nicht hörte, wie die nach dem Flur hinausführende Thür aufging [...]. (IW 6)

In Gesellschaft verhält sie sich einerseits teilnahmslos, andererseits kommentiert und interpretiert sie Ereignisse oder die Handlungen der anderen Figuren gelassen und tolerant. Auch ihre Nachbarin Frau Dörr, die, wie der Erzähler konstatiert, den Eindruck »einer besonderen Beschränktheit machte« (IW 6), akzeptiert sie so, wie sie ist, und stellt sich nicht über sie. Es spricht für ihre Altersklugheit, dass sie deren Persönlichkeit einzuschätzen vermag. [Da] wandte sich diese nach rückwärts und sagte nun auch ihrerseits freundlich und mit einem Anfluge von Schelmerei: »Na, das is recht, liebe Frau Dörr, daß Sie mal wieder ’rüberkommen.« (IW 6)

Für Lene ist Mutter Nimptsch eine Autorität, von der sie sich seit jeher beraten ließ; sie folgte ihren Ratschlägen immer, wie sie es auch jetzt tut, wenn es um Botho, ihren Geliebten, geht: »[D]ie alte Frau sagt es. Und was die mir von Jugend auf gesagt hat, auch wenn es wie Aberglauben aussah, das war immer richtig.« (IW 76) Lene ist zu jung und unerfahren, um zu erkennen, dass ihre Pflegemutter sie auf einen falschen Weg schickt, nämlich den der abgelegten Geliebten eines Adelssohns. Die alte Frau wird ähnliche Erfahrungen gemacht haben, die sie allerdings nicht an die junge Frau weitergibt. Viele ihrer Worte bleiben vage und unbestimmt: Sie vermeidet es, sich festzulegen oder Stellung zu beziehen. Als sie Lenes Haltung zu ihrem Geliebten beschreiben soll, antwortet sie nur indirekt: »Ich glaube, sie denkt so was, wenn sie’s auch nich wahr haben will, und bildet sich was ein.« (IW 7) Diese Art des diffusen Sprechens charakterisiert

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ihr Alter: Sätze zu formulieren ist für sie mühsam und das Leben interessiert sie nicht mehr, eher der Tod und alles, was mit ihm zusammenhängt. Im Alter gibt es keine Freuden mehr, nur noch physische Beschwerlichkeiten. Doch das Alterskonzept von Mutter Nimptsch umfasst mehr als die Altersklage. Für Botho symbolisiert ihr Herd Wärme und Behaglichkeit: »Hier neben Frau Nimptsch; das ist der beste Platz. Ich kenne keinen Herd, auf den ich so gern sähe; immer Feuer, immer Wärme.« (IW 23) Über Mutter Nimptsch und ihr Zimmer erhofft er sich, Lene zu besitzen. Die alte Frau kennt seine Ziele und als ob sie mit ihrem Alter und ihrer niederen gesellschaftlichen Stellung kokettiert, weist sie ihn scheinbar zurück, indem sie sich von sich selbst distanziert und von sich in der dritten Person spricht: »Hier bei ’ner alten Wasch- und Plättefrau!« (IW 23) Sie kränkelt und hat bereits eine Lokalität jenseits des Lebens bezogen; in dieser Grenzerfahrung lebt sie das weibliche Alter. Das männliche Alter scheint diese Grenze nicht zu bemerken: Der alte Baron gibt sich vital und kraftvoll, allerdings ist auch er nicht ohne gesundheitliche Probleme: »Der alte Mann leidet an Blutdrang.« (IW 46)

Beim Tanz in ihrem Zimmer wird Mutter Nimptsch lebhaft und der Erzähler rekurriert auf ihre Jugend. Er schlägt damit einen Bogen zu den gegenwärtigen Ereignissen, die möglicherweise die Vergangenheit der alten Frau spiegeln. Auch der alten Frau Nimptsch kam die Lust früherer Tage wieder und weil sie nichts Besseres thun konnte, wühlte sie mit dem Feuerhaken so lang in der Kohlengluth umher, bis die Flamme hoch aufschlug. (IW 29)

Als alle gegangen sind, verlässt sie ihren Platz am Feuer und setzt sich in den »Großvaterstuhl«. Mit dieser Bezeichnung ist die Genderdistinktion aufgehoben, denn der Erzählerblick auf die alten Figuren ist nur in Einzelaspekten genderorientiert. Wenn die alte Frau Jugend mit

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Glück und Alter mit Beschwernissen gleichsetzt, spielt das Geschlecht keine Rolle mehr: »Aber wenn man alt wird, lieber Herr Baron, da werden einen die Stunden lang un man wünscht sich die Tage fort un das Leben auch.« (IW 64) Sie erinnert sich noch daran, wie es war, jung zu sein; doch ist es ein resignativer Ton, den sie auch hier anschlägt: »Aber die Menschen waren damals so wie heut.« (IW 68) Sie hätte an Lene denken und verhindern müssen, dass aus ihr in Kürze eine ebenso resignative und vorzeitig gealterte Frau werden wird. Die alte Frau ist eine Grenzfigur zwischen den Lebenden und den Toten. So redet sie immer wieder von ihrem Grab und wie dieses aussehen soll. Epheu is ganz gut, wenn er aufs Grab kommt und alles so grün und dicht einspinnt […]. Aber Epheu in’n Kranz, das is nich richtig. Zu meiner Zeit, da nahmen wir Immortellen […]. Un ich denke mir immer, je länger der Kranz oben hängt, desto länger denkt der Mensch auch an seinen Todten unten […]. Ach, meine liebe Lene, man hat nichts sicher, gar nichts, auch nich mal einen Kranz aufs Grab. (IW 67f.)

Und schließlich überschreitet sie die Grenze zum Tod. Ganz leise, fast unbemerkt geht sie, noch bevor Lene einen Arzt holen kann. Dass es Frau Dörrs Fingerhuttropfen sind, die den Tod beschleunigen, verweist auf eine bedrohliche Verbindung der beiden Frauenfiguren, die Lene in besonderem Maß betrifft. Mutter Nimptschs letzte Worte sind ein Gebet für ihre Pflegetochter Lene, in dem sie sich für Lenes Wohltaten bedankt und göttliche Vergeltung für diese erbittet. Eine irdische Vergeltung durch sie selbst wäre Lene dienlicher gewesen: Sie hätte nicht zulassen dürfen, dass die Pflegetochter sich zweimal von adeligen Herren verführen lässt. Doch mit sich selbst zufrieden, geht sie aus der Welt, auf der für sie nichts mehr zuverlässig, sicher und beständig ist. Das dunkle Zimmer mit dem Vogelkäfig und der Feuerschein des Herdes sind die letzten Konstanten ihres Alterslebens. Doch unterliegen die Menschen ihrer Umgebung einem Wahrnehmungsirrtum, wenn sie ihr überhaupt keine Akti-

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vitäten mehr zutrauen. Sie verlässt die Rolle der unbeteiligten Beobachterin sofort, als sie gebraucht wird, nämlich als es Lene nach der Begegnung mit Botho und Käthe sehr schlecht geht und sie zusammenbricht. Mit einem Mal aber sah die Alte, deren Auge bis dahin immer in derselben Richtung gegangen war, von ihrem Herdfeuer auf und erschrak, als sie der Veränderung in Lenens Gesicht gewahr wurde. (IW 121)

Mutter Nimptsch erkennt sofort, was mit Lene los ist. Und so schwer beweglich sie sonsten war, heute machte sie sich im Umsehn von ihrer Fußbank los und suchte nach dem Krug, um die noch immer wie halbtodt Dasitzende mit Wasser zu besprengen. (IW 121)

Der Erzähler sagt nichts über ihre Motive. Denkbar ist, dass sie ein schlechtes Gewissen hat und mit sich hadert, weil sie Lenes Verhältnisse mit jungen adeligen Herren immer gefördert hat. Lenes graue Haarsträhne, die von Kummer und frühem Altern spricht, sieht die alte Frau dagegen nicht. Kurz vor dem Sterben erzählt sie, wie sie den Tod ihrer Mutter, die früh starb, erlebt hat. Erst am Lebensende sucht sie den Anschluss an Erinnerungen, die ihre Identität sicherstellen können; zumindest ist es so, dass sie erst zum Schluss darüber redet. Möglicherweise hat sie sich in ihren Grübeleien am Feuer immer wieder mit Erinnerungen beschäftigt. Sowohl in der germanischen als auch in der griechisch-römischen Mythologie steht das Herdfeuer im Zentrum des Hauses für Schutz und Geborgenheit. Noch in der Entstehungszeit des Romans gehörten Bedeutungszuweisungen dieser Art zur Bildungstradition. In der erstmals 1887 – das heißt im zeitlichen Umkreis von Irrungen Wirrungen – erschienenen soziologischen Abhandlung Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies wird das Leben in einer

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nicht-entfremdeten Gemeinschaft sinnbildlich mit dem Herdfeuer in Verbindung gebracht und den anonymen Gesellschaftsstrukturen entgegengesetzt.3

So gesehen entsteht ein mythisch inspiriertes Bild, wenn Mutter Nimptsch das erste Mal auftaucht: die gute Mutter, die Schutz und Wärme vor der Kälte draußen bietet. Frau Nimptsch selbst aber saß wie gewöhnlich an dem großen, kaum fußhohen Herd [...] und sah, hockend und vorgebeugt, auf einen rußigen alten Theekessel [...]. (IW 6)

Der Erzähler zerstört die vermeintliche Idylle sofort wieder, wenn die gesellschaftlichen Mechanismen der imaginierten Wirklichkeit ins Blickfeld geraten und die märchenhaften Impressionen verschwinden. Frau Dörr warnt vor der Zukunft, »denn is es schlimm. Immer wenn das Einbilden anfängt, fängt auch das Schlimme an.« (IW 7) Auf konträre Weise wird der alte Baron Osten eingeführt. Während des Frühstücks öffnet er alle Fenster des Lokals, denn er leidet unter der Hitze: »Wenn nur diese Gluth, diese verfrühte Hundstagshitze nicht wäre. Luft, meine Herren, Luft [...]. Ihr schönes Berlin hat alles, aber keine Luft.« (IW 45) Sein cholerisches Temperament lässt keine Widersprüche weder in privaten noch in politischen Fragen zu und jeder Ärger steht ihm quasi ins Gesicht geschrieben. Aber das war nicht klug und weise von Botho, wie sich gleich herausstellen sollte, denn der ohnehin an Kongestionen leidende alte Baron wurde roth über den ganzen kahlen Kopf weg und das bischen krause Haar an seinen Schläfen schien noch krauser werden zu wollen. (IW 46)

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Dieter Kafitz: Literaturtheorien in der textanalytischen Praxis, Würzburg 2007, S. 36.

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Im Gegensatz dazu wird zur Physiognomie der Mutter Nimptsch nichts gesagt; die spöttische Distanz, die zum männlichen Alter geschaffen wird, kontrastiert mit der Präsentation des weiblichen Alters, welches durch wenige gesprochene Sätze und Andeutungen von Gestik und Mimik Identifikationen evozieren kann. Diese Verknappungen lassen den umgebenden Figuren in der fiktionalen Welt, der Erzählinstanz und den Lesern Möglichkeiten zu eigenen Ergänzungen. Mutter Nimptsch nimmt kaum noch Anteil an dem Leben, das sie umgibt, und ebenso wie ihre Vergangenheit im Dunkeln bleibt, erfährt auch niemand das, was sie bewegt: »Mutter Nimptsch sagt nie was, un wenn sie was sagt, denn is es auch man immer so so, nich hüh un nich hott. Und immer blos halb un so konfuse.« (IW 17) Sie lebt an der Grenze zum Tod und diese Grenzerfahrung bestimmt ihr Reden und das Reden der anderen Figuren über sie: »Die Mutter hat von der Hitze schon ihr Kopfweh.« (IW 15) Ihre körperlichen Schwächen sind ein beständiges Thema in den Gesprächen mit anderen Figuren. Der Körper ist für sie zur Last geworden: »Aber wenn du mir eine Tüte mitbringst, ich habe jetzt immer solch Kratzen, und Malzbonbon löst so...« (IW 118) Auch das Verweilen am Feuer ist ihrer schwachen körperlichen Konstitution geschuldet; sie braucht die Wärme, um ihren alten Körper lebendig zu erhalten. Botho in seiner Verliebtheit erkennt nur die eine Seite, nämlich die menschliche Wärme, die ihm in Lenes Umgebung geboten wird. Selbst an den fröhlichen Momenten im Haus kann die alte Frau nur eingeschränkt teilhaben, weil ihr Körper keine Kraft und Beweglichkeit mehr hat. Wenn sie nicht am Herd hockt, sitzt sie im »Großvaterstuhl«, und das einzige Kleidungsstück, das erwähnt wird, ist ihr »Umschlagetuch«, welches ab und zu von ihren Schultern rutscht. Die Materialien des Alters, die wiederholt genannt werden, weisen auf das Lebensende. Im Kontrast dazu steht die Jugend als Zeit des Glücks und der Unbeschwertheit: »Und die Jugend is glücklich un is auch gut so un soll so sein. Aber wenn man alt wird, lieber Herr Baron [...].« (IW 64) Dass aber diese kurze Zeit des Glücks eine lange Zeit der Entsagung und gegebenenfalls der gesellschaftlichen Ächtung nach sich ziehen wird, behält die alte Frau für sich.

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Lene wehrt die Todesgedanken von Mutter Nimptsch vergeblich ab. Möglicherweise verdrängt sie die Gedanken an den Tod der Pflegemutter, der sie sehr zugetan ist. Sie weiß, dass die Zeit des Glücks mit Botho begrenzt ist; in ihrer Entscheidung für diese Liebe hat sie deren Ende schon im Blick. Allerdings verkennt sie, dass sie von Seiten der Pflegemutter keine für ihre Zukunft günstigen Ratschläge bekommen wird. Immer wieder redet die alte Frau vom Sterben. »Mutter [...]. Du sprichst wieder so viel von Grab und Kranz.« (IW 67) Die Alte verteidigt sich, »[...] jeder spricht, woran er denkt.« (IW 67), und lässt sich mit einer für sie ungewöhnlich langen Rede über Blumen und Kränze auf ihrem Grab aus. Als Botho ihr einen Kranz auf dem Grab verspricht, ist ihr die Freude anzusehen und ihre Züge hellen sich auf: »Der Alten Gesicht verklärte sich ordentlich vor Freude.« (IW 68) Paradoxerweise ist es der Gedanke an das geschmückte Grab, der ihren Körper wieder ein wenig aufblühen lässt. Ein ganzes Kapitel widmet der Erzähler ihrem Sterben; in gedehnter Erzählweise wird beschrieben, mit welchen Worten und Verrichtungen sie stirbt. »Sie saß mehr als sie lag, denn sie hatte Wasser in der Brust und litt heftig an asthmatischen Beschwerden.« (IW 139) Trotz Atemnot und Sommerhitze verlangt sie ein Feuer im Kamin, das nun nicht mehr die körperlichen Beschwerden lindern, sondern ihre Todesängste vertreiben soll, die sie nun kurz vor dem Ende, welches sie vorher herbeisehnte, doch hat: Ja, Lene, heiß ist es. Aber du weißt ja, ich muß es immer sehn. Und wenn ich es nicht sehe, dann denk ich, es ist alles aus und kein Leben und kein Funke mehr. Man hat doch so seine Angst hier... (IW 140)

Auch dieses Paradoxon gehört zum Leben im Alter: Nicht der Tod selbst stellt das eigentliche Problem für die alte Figur dar, sondern das Warten darauf, das in der Regel mit Verlusten verbunden ist. Für die alte Frau ist das Verglimmen des Feuers gleichbedeutend mit dem Ende ihres Lebens. Die Ängste in der Erwartung des Todes, die die sterbende alte Frau ausspricht, werden in der Literatur oft auch von außen

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beschrieben und bleiben damit wesentlich vager als bei Mutter Nimptsch. Gleich am nächsten Tag erfuhren wir, dass Abigail einen schweren Schlaganfall erlitten hatte. Sie lebte, aber die Frau, die wir gekannt hatten, war verschwunden. Sie wusste weder wo noch wer sie war. Der Wecker hatte geklingelt. Die Greise ermatten und sterben. Das wissen wir, aber die Greise wissen es weitaus besser als wir. Sie leben in einer Welt ständigen Verlustes, und das, wie meine Mutter schon festgestellt hatte, ist bitter.4

6.1.1 Weibliches Alter an erotisiertem Ort Die alte Frau versucht nicht, Lene daran zu hindern, sich als unterständische junge Frau von einem Adeligen benutzen zu lassen. Ihre warnenden Worte wären vielleicht ungehört geblieben, weil Lene Botho aufrichtig liebt. Doch da Mutter Nimptsch das Liebesverhältnis durch Einladungen, gemeinsame Abende und verbale Bestätigungen noch befördert, kann sie als literarische Figur durchaus dem hier positivierten Figurenmodell der Kupplerin zugeordnet werden. Dieser Befund lässt sich durch die Beschreibung des Ortes, an dem sie lebt, bekräftigen. Denn die Lokalität, an der die alte Frauenfigur sich aufhält, weist in ihrer Beschreibung eine Reihe erotischer Motive auf. Begleitet von Frau Dörrs anzüglichen Reden kommt es in Mutter Nimptschs Zimmer zu dem Rollenspiel mit Tanz, in dem die Kleinbürger, die Familie Dörr, die alte Frau und Lene, unter Anleitung Bothos in die Rollen von Adeligen schlüpfen, die oberflächlich kommunizieren, während sie ihrem Tanzvergnügen nachgehen. Als eine Parodie nimmt diese Szene das Treffen mit den Offizieren und ihren Mätressen in Hankels Ablage vorweg. Damit wird ein möglicher zukünftiger Lebensweg Lenes antizipiert. Auch sie könnte eine Mätresse vieler Männer werden; den passenden Namen hat ihr Botho bei der Vorstellung seiner Freunde schon

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Siri Hustvedt: Ein Sommer ohne Männer, übers. v. Uli Aumüller, Reinbek 2011, S. 286.

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gegeben. In ihrem Zimmer in Hankels Ablage erkennt Lene eine Lithographie eines erotischen Bildes wieder, das auch in ihrem Zuhause, nämlich bei den Dörrs hängt. Dieses Motiv unterstreicht die erotisierte Atmosphäre in ihrem Haus; dazu passt der schwere Blütenduft, der über der Gärtnerei liegt. Erotik, die Lene letztlich unglücklich macht, liegt an diesem Ort quasi » in der Luft«. Die alte Frauenfigur lebt hier und wird damit zum Teil dieser erotisch aufgeladenen Umgebung, die für Lene schädlich und zerstörerisch ist. Eine frauenverachtende Haltung wird nicht nur den Adeligen zugeschrieben, auch das Kleinbürgertum denkt gleichermaßen.

6.2 ARINA B ASAROVA AUS I VAN T URGENEVS »V ÄTER UND S ÖHNE « Ja, versuche nur den Tod zu verneinen! Er verneint dich, und basta!5

Vordergründig ist Arina Basarova zwar die Herrin ihrer Familie und ihrer Leibeigenen, denn sie steht im gesellschaftlichen Rang über ihnen. Doch wird sie vom Erzähler so präsentiert, dass sie in die Kategorie der leisen alten Frauenfiguren passt. Als Ehefrau und Mutter verlässt sie ihren familiären Kreis nicht, spielt dort keine führende Rolle. Der Roman »Väter und Söhne«6 wurde etliche Jahre früher geschrieben und veröffentlicht als die übrigen Prosatexte, die in diese Arbeit aufgenommen wurden. Ich habe mich für diesen Roman Turgenevs entschieden, weil er wie die anderen Texte eine gesellschaftliche Umbruchsituation thematisiert, mit der sich eine alte Frauenfigur, Arina Basarova, konfrontiert sieht. Ein zweiter Grund, der für die Auf-

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Iwan S. Turgenjew: Väter und Söhne, übers. v. Annelore Nitschke, Düssel-

6

Ebd.

dorf 2008, S. 271-272.

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nahme des Romans in den Textkorpus dieser Arbeit spricht, ist ein narratologischer: Es existieren deutliche Kontrastrelationen zwischen dieser alten und einer jungen weiblichen Figur, mit deren Hilfe das Alterskonzept Arinas erschlossen werden kann. Ivan Turgenev schrieb den Roman »Väter und Söhne« in Frankreich und in Russland, wo er 1862 erschien. Er thematisiert darin die gesellschaftspolitischen Probleme seiner eigenen Zeit unter Zar Alexander II, nämlich die Konfrontation des Idealismus der Elterngeneration mit dem revolutionären Nihilismus des jungen Helden Basarov7, dessen Freiheitsdrang in einem Leben völliger Vereinsamung und Isolation endet. In der deutschen Übersetzung wie auch in der englischen ist der Titel männlich konnotiert; im russischen Original trägt der Roman den Titel: »Väter und Kinder«, was geschlechtsneutraler ist und die Betonung des männlichen Elements in der deutschen Übersetzung aufhebt. Unter Gendergesichtspunkten betrachtet ist die Figurenkonstellation so, dass sowohl die Figuren aus der Elterngeneration als auch die aus der Kindergeneration männlich und weiblich besetzt sind, wobei der weibliche Teil der Elterngeneration auch im Originaltitel unerwähnt bleibt. Die Figur der alten Arina, die Mutter des Protagonisten Basarov, um deren Alterskonzept es hier geht, gehört demnach als weibliche Vertreterin zur Elterngeneration, und die junge Anna, ihre Kontrastfigur, vertritt den weiblichen Part der Kindergeneration. Einen Gegenentwurf zu Basarovs Schicksal als dem eines revoltierenden Studenten stellt das Leben seiner Eltern dar, das in ruhigen Bahnen auf dem Land abseits vom revolutionären Lärm der Stadt Petersburg verläuft. Basarovs Mutter ist eine alt gewordene Vertreterin des russischen Kleinadels und wird vom heterodiegetischen Erzähler detailliert in Aussehen, Verhalten und Äußerungen beschrieben. Diese

7

Nach Turgenev, der den Begriff in die Literatur eingebracht hat, ist ein Nihilist ein Vertreter sozialrevolutionärer Ideen, der sich keiner Autorität beugt und keine allgemein gültigen Grundsätze anerkennt. In Abgrenzung zum philosophischen Nihilismus spricht man hier vom russischen Nihilismus.

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ausführliche Präsentation einer alten Frauenfigur kommt nicht oft in Turgenevs Werk vor, denn er bleibt Zeit seines Lebens der Dichter der Jungfräulichkeit; sein gesamtes Werk handelt von Liebe und Verliebtheit junger Frauen. Wo aber Liebe auf Wirklichkeit trifft, stirbt die Schönheit, die Frau verdorrt regelrecht wie die schöne Lukerija in der Skizze »Lebendige Reliquie« aus den »Aufzeichnungen eines Jägers«8. Somit sind fast alle Werke des Dichters eine Apotheose des russischen Mädchens, der »russkaja devuška«, während der Mann ein sogenannter »überflüssiger« Mensch bleibt: ein »lišnij čelovek«, Schwächling, Phrasendrescher, hohl, verlogen und zu keiner Tat fähig. In der Analyse von Čechovs Erzählung »Die Braut« bin ich bereits auf dieses in der russischen Literatur häufig anzutreffende männliche Figurenmodell eingegangen. Im Roman Turgenevs gibt es nur einen Mann der Tat, den Nihilisten Basarov, der allerdings nicht nur verneint, sondern auch zerstört. Turgenev, der mit fünfundsechzig Jahren an einem Krebsleiden stirbt, hat sich mit den Themen Alter und Tod nur am Rande beschäftigt. In seiner Novelle »Frühlingsfluten« heißt es: [...] und dann kommt plötzlich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, das Alter über einen und zugleich mit ihm jene ständig zunehmende, alles zerfressende und aushöhlende Angst vor dem Tod – und schwupps saust man in den Abgrund.9

8

Ivan Turgenev: Aufzeichnungen eines Jägers, übers. v. Peter Urban, Mün-

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Iwan S. Turgenjew: Frühlingsfluten, in: Ders.: Erzählungen. Gedichte in

chen 2004. Prosa, übers. v. Ena von Baer und Marion Gras-Račič, Düsseldorf/Zürich 1998, S. 471-605.

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In seinen Texten sind weibliches Alter und Altern keine bedeutenden Motive, so dass die Figur der Arina Basarova in Turgenevs Werk eine Ausnahme darstellt.10 Im Roman »Väter und Söhne« werden die liberalen Väter repräsentiert von den dem Landadel zugehörigen Brüdern Kirsanov. Nikolaj Kirsanovs Sohn Arkadij studiert in Petersburg gemeinsam mit Evgenij Vasilevič Basarov, einem Medizinstudenten, der sich selbst als Nihilisten bezeichnet. Er ist ein »raznočinec«, ein Vertreter der fortschrittlichen nichtadligen Intelligenzija, und verachtet den von den Kirsanovs vertretenen aristokratischen Liberalismus, der keine gesellschaftlichen Veränderungen in Russland durchzusetzen vermag. »Was wir für nützlich halten, danach handeln wir«, sagte Basarow. »Und in der heutigen Zeit ist es am nützlichsten, zu verneinen – das tun wir.« »Alles?« »Alles.« (VS 71)

Aufgrund dieses Dogmatismus gerät Basarov immer weiter in gesellschaftliche Isolation. Er verliebt sich in die schöne und kluge Witwe Anna Sergeevna Odincova11 und konterkariert dadurch seine eigene materialistische Einstellung, dass Liebe nichts anderes als ein physiologisches Faktum oder ein eingebildetes Gefühl oder eine romantische Krankheit sei. Als seine Gefühle von Anna Odincova nicht erwidert werden, offenbaren sich seine Schwächen: seine Verhärtung und seine

10 Arina ist natürlich nicht die einzige alte Frauenfigur von Turgenev. Doch in keinem andern seiner Werke ist die alte Frau, die das traditionelle dörfliche Leben Russlands repräsentiert, so detailliert beschrieben. Beispielsweise gibt es in der Erzählung »Mumu« die gute alte Mutter im Dorf als Antipode zur geizigen und herzlosen alten Herrin in der Stadt. Doch existiert erstere nur als konturlose Vision oder Traumbild des heimeilenden Sohnes. Vgl. dazu meine Einleitung, in der ich auf dieses Werk Turgenevs bereits hingewiesen habe. 11 Anna hat einen sprechenden Familiennamen; »Odinzova« bedeutet eine Frau, die allein und einsam ist.

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menschliche Isoliertheit, die sich erst kurz vor seinem Tod auflösen. Dagegen werden die Eltern Basarovs als warmherzige Menschen beschrieben, die an der politischen Diskussion allerdings keinen Anteil nehmen. Im Elternhaus, einem heruntergekommenen Adelsnest auf dem Land, das seiner Mutter Arina Basarova gehört und von seinem Vater Vasilij Basarov, einem bürgerlichen Militärarzt, bewirtschaftet wird, erleidet Basarov infolge der Behandlung eines Kranken eine tödliche Typhusinfektion. Der narrative Modus des Romans ist unfokalisiert, und die heterodiegetische Erzählform wird durch auktoriale Kommentierungen in der Ich-Form oder in der neutralen »man«-Form unterbrochen. Auf die Mutter Arina blicken Figuren und Erzählinstanz mit Achtung und Wohlwollen. Arina Wlasjewna war eine echte russische Adelige wie in vergangener Zeit. Sie hätte vor zweihundert Jahren leben sollen, zu Altmoskauer Zeiten. Sie war sehr fromm und empfindsam, glaubte an [...] Gottesnarren, an Hauskobolde und Waldgeister, an schlimme Begegnungen, angehexte Krankheiten und Volksmedizin, an das Allheilmittel Gründonnerstagssalz und den baldigen Weltuntergang; glaubte, [...] daß junge Pilze nicht mehr weiterwüchsen, wenn ein menschliches Auge sie erblickt habe und jeder Jude ein blutiges Mal auf der Brust trage; [...] Arina Wlasjewna war sehr gutmütig und auf ihre Art alles andere als dumm. Sie wußte, dass es auf Erden Herrschaften gibt, die befehlen müssen, und einfaches Volk, das dienen muß, und deshalb verabscheute sie weder Kriecherei noch tiefe Verbeugungen; doch ihre Untergebenen behandelte sie liebevoll und sanft, [...]. Solche Frauen sind heute dabei auszusterben. Weiß Gott, ob man sich darüber freuen soll! (VS 170f.)

Als Vertreterin der alten Zeit hat Arina nichts einzuwenden gegen die Unterwürfigkeit der Untergebenen und deren Verneigungen bis zur Erde, obgleich sie ihre Dienstboten niemals schlecht behandelt, wie dies die Großmutter in Čechovs Erzählung »Die Braut« tut. Arina vertritt einen Figurentyp, welcher der Vergangenheit verhaftet bleibt, sich eigentlich überlebt hat, aber unter humanitären Gesichtspunkten nicht

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aussterben sollte. Die Diskrepanz zwischen der Vergangenheit, der die Figur angehörig bleibt, und der Gegenwart, die gerade eine solchen Menschentyp braucht, spiegelt die Grundthematik des Romans, nämlich die schwierige Suche nach einer neuen Zeit. Arina Basarova, eine rundliche alte Dame, gehört zum verarmten Adel und verfügt dementsprechend nur über sehr wenige Seelen.12 Ihr bürgerlicher Mann, Vasilij Ivanovic, steht in der gesellschaftlichen Hierarchie unter ihr, sieht aber seinen Stand als zukunftsweisend: »Ich bin ja selbst ein Plebejer, ein homo novus – nicht vom alten Adel wie meine bessere Hälfte.« (VS 172) Das Attribut »neu«, bezogen auf einen Mann oder eine Frau, war zu Turgenevs Zeit allseits bekannt zur Bezeichnung eines fortschrittlich gesinnten nichtadeligen Menschen, der allerdings nicht so radikal argumentierte und handelte wie ein russischer Nihilist. Arina dagegen ist ungebildet und schwatzhaft, kümmert sich um alles und achtet dabei immer darauf, selbst nicht zu arbeiten. Ihre Engstirnigkeit ist der mangelhaften Bildung geschuldet, und ihre Unfähigkeit, korrekt mit der russischen Sprache umzugehen, kaschiert sie mit frommen Floskeln. Mit Basarovs Tod spielen alle diese Untugenden keine Rolle mehr: Beide, Mutter und Vater, brechen in ihrer Trauer zusammen. »So knieten sie aneinandergeschmiegt«, erzählte Anfissuschka später in der Gesindestube, »und ließen die Köpfe hängen wie zwei Schäfchen um die Mittagsstunde« (VS 280)

Als Ehefrau lebt Arina mit ihrem Mann in einer langjährigen, glücklichen Gemeinschaft. Obgleich Vasilij ihre Gefühlsduseleien etwa in Gegenwart des Sohnes und des Freundes abwehrt, zeigt sich in ihren

12 Im zaristischen Russland waren die »Seelen« ein Synonym für »Leibeigene«. Die Anzahl der »Seelen« bestimmte den Reichtum eines Gutsbesitzers. Man denke an Gogols berühmte Erzählung Die toten Seelen. Auch in der Erzählung Die Braut geht es um die »Seelen« der Babulja, die von ihr wie Tiere behandelt werden.

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Dialogen ohne Beisein Dritter eine Intimität, die von großer emotionaler Nähe zeugt. Der Erzähler führt den Leser bis ins Schlafzimmer des Ehepaares Basarov. Beide benennen sich gegenseitig mit Kosenamen, was in der russischen Literatur in der Regel die Adligen nicht tun, sondern nur die Bauern und Bürgerlichen. Die Bilder des Textes unterstreichen die enge Verbundenheit des Paares, die im Alter vollkommen geworden ist. Da trat Arina Wlasjewna an ihn heran, legte ihren grauen Kopf an seinen grauen Kopf und sagte: »Was hilft es, Wasja! Unser Sohn ist flügge. Er ist wie ein Falke: Kommt, wann er will, fliegt weg, wann er will; wir beide sitzen dagegen wie Schwämme in einer Baumhöhle und rühren uns nicht vom Fleck. Aber ich werde immer für dich da sein, wie du für mich.« (VS 194)

Nach der Figurenrede demonstrieren die Gesten der beiden den Wert ihrer Altersliebe. Wassili Iwanowitsch nahm die Hände vom Gesicht und umarmte seine Frau, seine Gattin so fest, wie er sie in der Jugend nie umarmt hatte: Sie hatte ihn in seinem Kummer getröstet. (VS 194)

Beide lieben ihren Sohn sehr; der alte Vater gesteht: »[...] ich muß Ihnen sagen, daß ich meinen Sohn [...] vergöttere, von meiner Alten ganz zu schweigen: Man weiß ja, wie Mütter sind!« (VS 174) Die große Zuneigung seiner Mutter ist Basarov oft lästig und unangenehm, was er ihr auch zeigt: Sie saß wie zuvor neben ihrem Sohn (am Kartenspiel nahm sie nicht teil), die Wange wie zuvor auf die Faust gestützt [...]. Sie scheute sich, Basarow zu tätscheln, und er ermutigte sie auch nicht dazu, forderte sie nicht zu Liebkosungen heraus [...]. (VS 188)

Die Geringschätzung, mit der der Sohn sie bisweilen behandelt, stimmt Arina traurig und sie ist enttäuscht, denn in ihrer grenzenlosen Liebe

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hat sie keine Vorstellung davon, mit welchen Identitätsproblemen Basarov zu kämpfen hat. [D]och Arina Wljasewnas Augen, die unverwandt an Basarow hingen, drückten nicht nur Ergebenheit und Zärtlichkeit aus, in ihnen lag auch eine mit Neugier und Angst gemischte Traurigkeit, und ein stiller Vorwurf war nicht zu übersehen. (VS 189)

Sie weiß nicht, dass Basarov seine Beziehung zu den Eltern »Liebe« nennt. Sein Freund Arkadij fragt: »›Liebst du sie, Jewgeni?‹ ›Ich liebe sie, Arkadi.‹« (VS 177f.) Arinas Altersleben ist geprägt von der Liebe zu ihrem Mann und ihrem Sohn. Die eheliche Liebe zu ihrem Mann ist allem Anschein nach im Laufe der Jahre ständig gewachsen, denn Arina ist, wie berichtet wird, gegen ihren Willen mit ihm verheiratet worden. Dagegen bleibt die Mutterliebe ein ambivalentes Gefühl: Einerseits ist ihr bewusst, dass Basarov als erwachsener Mann ein eigenes, vom Elternhaus unabhängiges Leben führen muss, andererseits hadert sie genau mit dieser Tatsache, negiert seine Hinwendung zu einer materialistischen Anthropologie, die ihrer von Religion und Aberglauben geprägten Weltanschauung entgegengesetzt ist. Aus dieser Ambivalenz resultieren Trauer und Enttäuschung, die neben Liebe und Zuwendung das Alter bestimmen. Der Roman endet mit dem Besuch der Eltern am Grab von Basarov,13 welches sie sorgfältig pflegen und schützen. In der Beschreibung des trauernden alten Paares fallen die Unterscheidungen der Ge-

13 Der Schluss des Romans ist kontrovers gedeutet worden, und in den Rezensionen geht es immer wieder um die Frage, wie der Autor selbst zu seinem Protagonisten gestanden hat, dessen Schicksal in jungen Jahren in einem Grab an einem abgelegenen Ort Russlands endet. Vgl. dazu: ZEITArchiv 1980, Ausgabe 36: »Väter und Söhne« von Rainer Baumgart. Online verfügbar unter: http:// www.zeit.de/1980/36/vaeter-und-soehne [ zuletzt abgerufen am 16.4.2017]). Für die Fragestellung dieser Arbeit spielt dieser Aspekt nur am Rande eine Rolle.

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schlechter: Beide sind vereint und gleichberechtigt in ihrem Schmerz über den Verlust des Sohnes. Es gibt einen kleinen Dorffriedhof in einem abgelegenen Winkel Rußlands. Wie fast alle unsere Friedhöfe bietet er einen traurigen Anblick: [...] Schafe trotten ungehindert über die Gräber [...]. Doch ein Grab gibt es unter ihnen, das kein Mensch anrührt, das kein Tier zertrampelt [...]. Eine eiserne Umfriedung faßt es ein [...]. Jewgeni Basarow ist in diesem Grab bestattet. Zu ihm kommen oft aus dem nahen Dörfchen zwei schon gebrechliche Alte – ein Mann und seine Frau. Einander stützend, nähern sie sich mit schwerfälligen Schritten der Umfriedung, fallen nieder auf die Knie, weinen lange und bitterlich und betrachten lange und aufmerksam den stummen Stein, unter dem ihr Sohn liegt [...]. Sollten ihre Gebete, ihre Tränen wirklich fruchtlos sein? Sollte die Liebe, die heilige, treu ergebene Liebe wirklich nicht allmächtig sein? O, nein! Welch leidenschaftliches, sündiges, rebellierendes Herz sich auch im Grab verbergen mag, die Blumen, die darauf wachsen, schauen uns still mit ihren unschuldigen Augen an: Nicht allein von der ewigen Ruhe sprechen sie zu uns, von jener großen Ruhe der »gleichgültigen« Natur; sie sprechen auch von der ewigen Versöhnung und vom endlosen Leben. (VS 286)

Der Liebe wird die Kraft zuerkannt, Gräben, welcher Art auch immer sie sein mögen, zu überbrücken. Auch die Gräben zwischen jung und alt werden hier gemeint sein. Basarov ist sich bewusst, wie tief der Graben zwischen seinem Leben und dem seiner Eltern ist. Ich denke: Meine Eltern haben doch ein schönes Leben! Mein Vater ist mit seinen sechzig Jahren noch sehr rührig [...] und auch meine Mutter hat es gut: Ihr Tag ist so vollgestopft mit allen möglichen Beschäftigungen, Achjes und Owehs, daß ihr gar keine Zeit zur Besinnung bleibt [...]. Ich wollte sagen, daß sie, also meine Eltern, beschäftigt sind und sich keine Gedanken über ihre eigene Nichtigkeit machen, sie stößt ihnen nicht auf [...], aber [...] ich empfinde nur Langweile und Wut. (VS 178)

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Er mag die Alten als oberflächlich einschätzen, doch ist er ihnen emotional sehr verbunden. Mit einer jungen Frau führt er einen Dialog über das Alter, den sie beginnt: »Meine Großmutter war fünfundachtzig Jahre alt – und was war sie für eine Märtyrerin! Schwarz, taub, bucklig, immerzu Husten; sich selbst nur eine Last. Was ist das noch für ein Leben!« »Jung sein ist also besser?« »Was denn sonst?« [...] Jetzt, als junge Frau, kann ich doch alles machen [...] Was könnte besser sein?« »Mir ist alles einerlei: ob ich jung bin oder alt [...], was habe ich von meiner Jugend? Ich lebe allein, habe nichts und niemanden [...]. Wenn wenigstens irgend jemand einmal Mitleid mit mir hätte.« (VS 206)

Basarov formuliert hier sein Leiden an einer Welt, in der nicht das Altoder Jungsein die Lebenszufriedenheit bestimmt, sondern die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Basarov ist nicht alt aufgrund seiner Lebensjahre, vielmehr ist er alt aus Einsamkeit, und unter dieser Prämisse sind die alten Eltern noch lange nicht so alt, wie er es ist. 6.2.1 Kontrastrelationen zwischen den weiblichen Generationen Auch die junge Witwe Anna Odincova bezeichnet sich selbst als alt; sie ist einsam und nicht fähig zu lieben ebenso wie Basarov, und damit steht sie Arina Basarova kontrastiv gegenüber. Auf jeder Gesellschaft zieht sie mit ihrem Erscheinen die bewundernden Blicke der anwesenden jungen Herren auf sich. Anmutig ließ sie ihre entblößten Arme an der schlanken Gestalt herabhängen; anmutig fielen zarte Fuchsienrispen von ihrem glänzenden Haar auf die schmalen Schultern; ruhig und klug, ja, ruhig und nicht etwa versonnen, blickten ihre hellen Augen unter der leicht gewölbten weißen Stirn hervor und ihren Mund umspielte ein kaum merkliches Lächeln. Ihr Gesicht strahlte eine liebevolle, sanfte und freundliche Kraft aus. (VS 102)

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Dieser erste Auftritt Annas im Roman steht im Kontrast zu dem der Arina Basarova: [...] und auf der Schwelle erschien eine rundliche, kleine alte Frau in weißer Haube und kurzer, bunter Jacke. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, wankte und wäre sicher gestürzt, wenn Basarow sie nicht gehalten hätte. Im Nu umschlangen ihre runden Arme seinen Hals, ihr Kopf schmiegte sich an seine Brust, dann trat Stille ein. Nur ihr stoßweises Schluchzen war zu hören. (VS 158)

Auch in Arinas Gesicht spiegelt sich wie bei Anna ihre Persönlichkeit: Im Gegensatz zur starken Anna ist sie ein gütiger Mensch. [D]as runde Gesicht, dem die schwellenden, kirschroten Lippen und kleinen Muttermale auf den Wangen und über den Brauen etwas sehr Gutmütiges verliehen, auf die Faust gestützt, wandte sie kein Auge von ihrem Sohn und seufzte in einem fort. (VS 168)

Im Vergleich zum fulminanten Erscheinen der jungen Witwe ist jeder Auftritt der alten Frau unauffällig und unspektakulär. Man könnte vermuten, dass mit der Figur der Anna ein erfolgreiches, zukunftsorientiertes und erfülltes Lebenskonzept präsentiert wird. Aber in der Kontrastrelation zur alten Arina erweist sich diese Annahme als falsch: Letztlich ist das Altersleben Arinas der Lebensgestaltung der jungen Frau überlegen. Auch die Räume, in denen die beiden leben, unterscheiden sich erheblich. Annas Haus strahlt Reichtum und Gediegenheit aus, Arinas Haus ist karg und baufällig. Im Gegensatz zu Arinas kleinem, niedrigem Häuschen bewohnt Anna ein geräumiges, stattliches Anwesen, welches von einigen ihrer vielen »Seelen« bewirtschaftet wird; Arina dagegen verfügt nur etwa über acht bis zehn Seelen. Alles in Annas Haus zeugt von Wohlstand und Ordnung, allerdings ist es, wie der Erzähler bemerkt, »recht luxuriös, aber nicht besonders geschmackvoll eingerichtet« (VS 114). Den stärksten Kontrast allerdings bildet die kognitive Verfassung der beiden Frauen. Die ungebildete Arina besitzt

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nur einen kleinen Wortschatz, was durch ihre gestammelten »Ahs« und »Ohs« unterstrichen wird, während Anna über gut ausgebildete kommunikative Fähigkeiten verfügt: »Die Odinzowa trug diese kleine Rede so wohlgesetzt vor, als hätte sie sie auswendig gelernt [...].« (VS 115) Über Annas Herkunft wird berichtet, dass sie als Tochter eines attraktiven und lebenslustigen Edelmannes in Petersburg eine »vornehme Erziehung« genossen habe. Ihre Mutter, »aus dem verarmten Geschlecht der Fürsten Ch...« (VS 108), starb früh, woraufhin der Vater den verbliebenen Rest des Vermögens verspielte. Anna, zwar gebildet, aber arm, handelt rational und zielgerichtet und heiratet den älteren Herrn Odinzov, ein[en] sehr reiche[n] Mann von sechsundvierzig Jahren, Sonderling und Hypochonder, ein[en] schwerbeleibte[n] sauertöpfische[n] Mensch[en], aber ansonsten weder dumm noch böse. (VS 109)

Diese Zweckehe endet – ganz im Sinne von Anna – bald mit dem Tod des Ehemanns. Wenn es um Annas ungeklärte Vergangenheit geht, wechselt die heterodiegetische Erzählform zur Homodiegese, um den negativen Gerüchten, die über Anna im Umlauf sind, Raum zu geben. [M]an zerriß sich das Maul über ihre Ehe mit Odinzow, erzählte sich alle möglichen Lügenmärchen über sie und behauptete, sie habe ihrem Vater bei seinen üblen Gaunereien geholfen und sei nicht ohne Grund ins Ausland gereist, sondern um deren unselige Folgen zu vertuschen [...]. »Sie verstehen schon?« beendeten die entrüsteten Erzähler ihre Geschichte. »Die ist mit allen Wassern gewaschen«, sagte man von ihr. (VS 109f.)

Ihre Biographie ist also der von Arina, die in ihrer Jugend nur schlecht und oberflächlich gebildet wurde, entgegengesetzt. Auch Annas Charakter stellt einen Gegenentwurf zu der alten Frau dar. Sie ist wissbegierig und ehrgeizig, beschäftigt sich mit wissenschaftlichen Themen, so dass sie den Männern gegenüber als gleichwertige Gesprächspartnerin auftreten kann, und nichts ist ihr so unerträglich wie Trivialität.

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Doch gerade Arinas Leben besteht aus einer Aneinanderreihung zahlreicher Trivialitäten. In einem entscheidenden Punkt allerdings ist sie der schönen Anna voraus: Sie ist nicht einsam. Es zeigte sich, daß die Odinzowa in der ländlichen Abgeschiedenheit keine Zeit verloren hatte: Sie hatte mehrere gute Bücher gelesen und drückte sich in korrektem Russisch aus. (VS 110)

Demgegenüber hat Arina im Lauf ihres Lebens so gut wie keine intellektuellen Kenntnisse erworben. [A]ußer »Alexis oder die Hütte im Walde« hatte sie kein einziges Buch gelesen [...]. In ihrer Jugend war sie sehr hübsch gewesen, hatte Klavier gespielt und ein bißchen Französisch gesprochen; aber während des jahrelangen Wanderlebens mit ihrem Mann, den sie gegen ihren Willen geheiratet hatte, war sie in die Breite gegangen und hatte die Musik und die französische Sprache vergessen. (VS 170f.)

Diese intellektuellen Mängel sind allerdings bedeutungslos angesichts ihrer Fähigkeit zu lieben, was Basarov in seinem letzten Gespräch mit Anna unterstreicht: »Und seien Sie freundlich zu Mutter. Menschen wie sie können Sie in Ihrer mondänen Welt mit der Lupe suchen [...].« (VS 278f.) Die Gegenüberstellung von Mütter- und Töchtergenerationen ist ein häufiges Motiv weiblicher Altersbeschreibungen; am Beispiel dieses Textes zeigt es sich, dass der große emotionale Reichtum der Mütter nicht auf die Töchter übergegangen ist; das Alterskonzept, so gut und wertvoll es auch sein mag, passt nicht mehr in die Jetztzeit des Romans. Ein äußeres Zeichen dafür ist, wie oben bereits ausgeführt, das Schlafzimmer, in dem die beiden Frauen wohnen. Im Gegensatz zu Arinas kargem Schlafraum bewohnt Anna zum Schlafen ein großes Zimmer, in dem sich ein prächtiges Ambiente aus Samt, Seide und Spitzen entfaltet. Annas psychische Verfassung entspricht dem nicht:

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Erlebte Rede und Erzählerkommentare zeichnen das Bild einer jungen Frau, die mit ihrem Leben bereits abgeschlossen hat und damit schon in jungen Jahren eine alte Frau geworden ist. Wie alle Frauen, denen es nicht geglückt war, zu lieben, wollte sie etwas, wußte aber selbst nicht, was. Im Grunde wollte sie nichts, obwohl sie glaubte, alles zu wollen. Den verstorbenen Odinzow hatte sie kaum ertragen können (sie hatte ihn aus Kalkül geheiratet [...]) und insgeheim einen Widerwillen gegen alle Männer entwickelt, die sie sich nicht anders als schmuddelige, schwere, schlaffe, kraftlos zudringliche Geschöpfe vorstellen konnte [...]. Sie streckte sich, lächelte [...], dann überflog sie zwei Seiten eines seichten französischen Romans, ließ das Buch fallen – und schlief ein, rein und kalt, im reinen und duftenden Linnen. (VS 124f.)

Wie viel Wärme strahlt dagegen die alte Arina aus und wie viele positive Energien schöpft diese aus ihrer Liebe zu Mann und Sohn. Und so wirkt Arina zeitweise jung und voller Leben im Gegensatz zu Anna, die sich alt und verbraucht fühlt: Ich bin sehr müde, ich bin alt, ich habe das Gefühl, schon sehr lange zu leben. Ja, ich bin alt [...]. Hinter mir ist schon so vieles Erinnerung [...]. Ich habe viele Erinnerungen, aber nichts, woran ich gerne denke, und vor mir liegt ein langer, langer Weg und kein Ziel. Ich mag ihn nicht gehen. (VS 138)

Erneut bestätigt sich hier die gesellschaftliche und charakterliche Bedingtheit von Alterszuschreibungen. Anna Sergejewna war ein recht merkwürdiges Geschöpf. Frei von jeglichen Vorurteilen, ja sogar von starken Glaubensüberzeugungen, scheute sie vor nichts zurück und strebte nichts an. Sie sah vieles klar, vieles beschäftigte sie, und nichts befriedigte sie ganz; auch wünschte sie sich wohl kaum völlige Befriedigung. (VS 123)

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Tatenlosigkeit, Passivität und Bindungsunfähigkeit verhindern ein gelingendes Leben. Dagegen hat die alte Frau in ihrer Familie Zufriedenheit gefunden, doch da sie liebt, was Anna nicht tut, muss sie auch leiden. Wie hier in Turgenevs »Väter und Söhne« erleben auch in anderen Texten die alten Frauenfiguren den Tod von geliebten jungen Menschen. Arinas Sohn stirbt an einer tödlichen Infektion, die Generalin und die drei anderen alten Frauen aus Keyserlings Roman »Wellen« erleben den Selbstmordversuch der Enkelin wie auch den tödlichen Unfall des jungen Malers, und die Babulja in Čechovs Erzählung »Die Braut« muss den Tod ihres schwindsüchtigen Pflegesohns Saša beweinen. In allen Fällen sind die jungen Menschen neue, unkonventionelle Wege gegangen, die sie nicht zu Ende gehen durften. Dieses häufig wiederkehrende Motiv der Begleitung zum Tod unterstreicht einerseits, dass der alte Mensch seinen Raum in der Nähe zum Tod eingenommen hat, und betont andererseits den positiven Wert des Alten gegenüber dem Neuen, denn das Alte überlebt, zumindest für eine kurze Zeit. 6.2.2 Die Haltung des heterodiegetischen Erzählers Zu den beiden Frauenfiguren Arina und Anna wird oft eine ironische Distanz gewahrt. Doch bezieht sich die Ironie Arina gegenüber hauptsächlich auf ihr Äußeres, beispielsweise wenn es um ihre altmodische Kleidung geht, während es bei Anna der Charakter und die Lebensführung sind, die ironisch beleuchtet werden. Sobald Arina ihren Sohn erwartet, wird sie in ihrer Vorfreude nervös und unruhig: Arina Wlasjewna war so aufgewühlt und rannte so aufgeregt im Haus umher, daß Wassili Iwanowitsch sie mit einer »Rebhenne« verglich: Das kurze Schößchen ihres Ärmelleibchens verlieh ihr in der Tat Vogelhaftes. (VS 259f.)

Doch bleibt der Blick auf sie immer wohlwollend und nachsichtig ihren zahlreichen Mängeln gegenüber wie ihrer unzeitgemäßen Kleidung, der bigotten und abergläubischen Frömmigkeit und der mangel-

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haften Bildung. »Mein Gott, mein Gott!« flüsterte die Alte. »Ich würde ihm ja gerne ein Amulett umhängen, aber das wird er nicht dulden.« (VS 261) In der Figurenrede wird deutlich, dass Arinas Zeit vergangen ist, doch belegen die Erzählerkommentare, dass Liebesfähigkeit und Menschlichkeit, die im Leben der alten Arina prioritär sind, zum Gelingen der neuen Zeit unbedingt notwendig sind.14 Noch auf dem Totenbett ironisiert der schwerkranke Basarov die Religiosität der Eltern: »Ihr beide, Mutter und du, müßt euch jetzt zunutze machen, daß ihr stark in der Religion verwurzelt seid; ihr habt jetzt Gelegenheit, sie auf die Probe zu stellen.« (VS 270) Doch schätzt und liebt er niemanden auf der Welt so wie seine Eltern. Die Sohnesliebe ist für ihn die einzige emotionale Bindung, die er in seiner materialistischen Weltsicht gelten lässt, nachdem er mit Anna keine Liebesbeziehung hatte aufbauen können. Die Analyse der Kontrastrelation zeigt, dass die alte Frau der jungen an menschlichem Wert und Würde überlegen ist. Die junge Frau ist zwar besser gekleidet und gut gebildet; doch es ist die alte Frau, die mit sich selbst im Einklang lebt und deren soziale Bindungen intakt sind. Demgegenüber präsentiert der Erzähler die schöne Anna als einsame und kalte Frauenfigur, die nicht bindungsfähig ist. Zum Schluss des Romans wird in knappen Worten von ihrem weiteren Schicksal berichtet. Anna Sergeevna hat unlängst geheiratet, nicht aus Liebe, sondern aus Überzeugung, einen der künftigen führenden russischen Männer, einen sehr klugen Menschen, Rechtsgelehrter mit ausgeprägtem Sinn fürs Praktische, starkem Willen und brillanter Redegabe – noch jung, gut und kalt wie Eis. Sie leben in

14 Vgl. hierzu die bereits zitierte Textstelle über Arina: »[...] doch ihre Untergebenen behandelte sie liebevoll und sanft [...]. Solche Frauen sind heute dabei auszusterben. Weiß Gott, ob man sich darüber freuen soll!« (VS 170f.).

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großer Eintracht zusammen und werden wohl das Glück finden [...], vielleicht die Liebe. (VS 282f.)

Die Antizipation des zukünftigen Ehelebens der Anna Odinzova ist ebenfalls ironisch verfasst und bezieht sich nicht wie bei Arina auf Äußerlichkeiten, sondern auf die gesamte Lebensstrategie. Das ermittelte Alterskonzept zeigt, dass Liebe auf emotionalem Reichtum und menschlicher Wärme gründet und nicht mit Berechnung oder gesellschaftlich konformem Verhalten erworben werden kann.

6.3 O LENKA

AUS

ANTON Č ECHOVS »H ERZCHEN « Denn wenn es Tschechows Genius auch nie um eine soziale oder moralische Botschaft ging, so enthüllte er doch fast absichtslos mehr von der schwärzesten Verfassung des hungernden, ratlosen, untertänigen und zornigen bäuerlichen Russland als eine Vielzahl anderer Schriftsteller wie beispielsweise Gorkij, die ihre sozialen Ideen stolz in Form einer Prozession angemalter Puppen zur Schau stellten.15

Diese Frauenfigur ist die leiseste in der Kategorie der leisen alten Frauen, denn sie hat ihr Leben lang nichts zu sagen. Mit ironischer Distanz imaginiert der Autor ein Frauenleben, welches den Prozess des Alterns überwunden zu haben scheint. Bis ins Alter schöpft Olenka

15 Vladimir Nabokov: Anton Tschechow, in: Vorlesungen über russische Literatur, hg. u. übers. v. Dieter E. Zimmer, Gesammelte Werke, Bd. 17, Reinbek b. Hamburg 2013, S. 514-607, hier: S. 536.

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Lebenskraft und Jugendlichkeit aus der seelischen und körperlichen Unterwerfung unter einen männlichen Partner. Am Schluss ist es ein Kind, dem sie sich unterordnet. Um den Lebensunterhalt für seine Familie zu sichern, schrieb Anton Čechov zwischen 1880 und 1885 etwa 500 Erzählungen, die in verschiedenen Zeitungen gedruckt wurden und die er selbst für unbedeutend hielt. Nach eigener Aussage brauchte er für keine länger als einen Tag. Die Erzählung »Herzchen«16 ist zwar eine seiner späten Erzählungen, knüpft aber in zwei Punkten an die frühen Prosatexte an: Ironische Distanz zum Protagonisten, die in dieser Erzählung und auch in der »Langweiligen Geschichte« eine große Rolle spielt, taucht als Stilmittel auch in den frühen Skizzen auf. Sprechende Namen, wie sie die beiden Ehemänner Olenkas tragen, kommen in den frühen Kurztexten immer wieder vor. Der erste Ehemann trägt den Familiennamen »Kukin«, hergeleitet vom Verb »murren« – er würde heute vielleicht »Jammerlappen« heißen –, und der Name des zweiten Mannes »Pustovalov« bedeutet »eine Welle der Leere«. Beide Figuren werden schon durch ihre Benennung abgewertet. Die histoire der Erzählung wurde von der zeitgenössischen Kritik zum Teil missverstanden, und zwar indem das Herzchen als vorbildhaft gelobt und nicht »aufgespießt«17 wurde. Lev Tolstoj schätzte die Erzählung von allen Prosatexten Čechovs am meisten und begründet diese Wertschätzung mit der in seinen Augen wunderbaren Darstellung der ganzen Eigenart weiblicher Liebe. Seine älteste Tochter Tatjana bekräftigt in einem Brief an Čechov die väterliche Rezeption.

16 Anton Čechov: Herzchen, in: Ders.: Die Dame mit dem Hündchen, übers. v. Gerhard Dick und Hertha von Schulz, hg. v. Peter Urban, Zürich 1976, S. 194-205. 17 Vgl. dazu: Tanja Stern: Essay über Tschechows Erzählung »Herzchen«. Online verfügbar unter: www.tanja-stern.de [zuletzt abgerufen am 13.5.2016].

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Ihr ›Seelchen‹ ist entzückend! Vater hat es vier Abende lang vorgelesen und meint, er sei von diesem Werk klüger geworden. [...] Ich bewundere es immer, wenn Schriftsteller, Männer also, sich so gut auskennen im Seelenleben einer Frau. Im Herzen erkenne ich mich in einer Weise wieder, dass ich mich fast schäme.18

Die Tochter fungiert hier als das »Herzchen« ihres berühmten Vaters, denn wie dieses übernimmt sie die misogynen männlichen Einstellungen. Die Geschichte vom Leben der Protagonistin Olenka oder Ol’ga Semenova ist allerdings ein Paradoxon: Sie lässt sich bis ins Alter von den Männern an ihrer Seite bedingungslos dominieren und diese Unterwerfung verschafft ihr so viel Lebenszufriedenheit, dass sie als alte Frau trotz ihres kalendarischen Alters in ihrer äußeren Erscheinung eine junge blühende Frau bleibt. Mit dieser Erzählung imaginiert Čechov ein weibliches Altersleben, das in seiner überspitzten Darstellung von den normalen Lebensberichten der Zeit abweicht. Die Titelheldin Olenka, die wegen ihrer angenehmen Erscheinung von der gesamten Nachbarschaft das »Herzchen« genannt wird, ist insofern eine ungewöhnliche Frau, als sie bis ins Alter annähernd dieselbe bleibt, und zwar sowohl in ihrer physischen Ausstrahlung als auch in ihrer mentalen Verfassung. Sie verfügt über kein eigenständiges mentales oder emotionales Erleben, sondern existiert lediglich als Blaupause ihres jeweiligen Partners. Das kalendarische Alter verliert seine Bedeutung zugunsten des individuellen Alters. Es spielt keine Rolle, wie viele Jahre Olenka bereits gelebt hat; über Jungsein oder Altsein entscheidet ihre jeweilige Lebenssituation, ob sie allein oder in einer Partnerschaft lebt. Damit entzieht sich die Figur im Alter jeder Stereotypisierung.19

18 Tat’jana Tolstaja: Brief vom 30. März 1899, in: Tolstoj o Čechove, Literaturnoe Nasledstvo, t. 68, Moskva 1960, S. 872 (übers. v. S.B.-K.). 19 Das kalendarische Alter muss auch für Čechov von geringer Bedeutung gewesen sein. Schon als junger Mann war er von der Tuberkulose gezeichnet und litt unter Gebrechen, die normalerweise erst das Alter mit sich

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Olenkas Fähigkeit, sich anzupassen, ist als Persönlichkeitsmerkmal ins ironische Extrem gesteigert, so dass sie nicht exemplarisch betrachtet werden kann. Extrem ist auch ihr Schicksal, denn ohne die Wechselfälle ihres Lebens spränge die ganze Eigenart ihres Liebesbegriffes nicht derart ins Auge, beispielsweise wenn sie nicht zweimal Witwe geworden wäre. Sie braucht die Liebe in jedem Lebensalter; bis ins Alter folgt ein Mann auf den andern, was bei einigen Nachbarn auf Unverständnis stößt. Doch was diese als moralisches Defizit oder als nicht altersgemäßes sexuelles Verlangen deuten, macht Olenka glücklich. Einerseits erfüllt sie ihre Aufgabe als ideale, pflichtbewusste Ehefrau, die Liebhaber und Ehemänner mit Liebesgaben überschüttet, ohne dass sie emotional wirklich beteiligt ist. Andererseits ist sie eine treulose Opportunistin, die sich aufgrund ihres Mangels an emotionaler Tiefe immer wieder einer neuen Liebe anpasst. Wert oder Unwert des jeweiligen Partners sind unwichtig; was wirklich zählt, ist ihre eigene Verformbarkeit: Immer scheint sie genau das zu wollen, was sie auch muss. Unter diesem Gesichtspunkt fungiert die Liebe hier als Machtinstrument und dient der weiblichen Erniedrigung. Um ihre Lieben zu leben, setzt Olenka sich auch über die Erwartungen ihrer Umgebung hinweg, beispielsweise wenn sie kurze Zeit nach dem Tod eines Ehemanns eine neue Beziehung eingeht. Ihr Liebesbedürfnis steigert sich im Alter zur fixen Idee, wenn sie sich bis zur Selbstaufgabe um den Jungen Saša kümmert. Dann bewegt sich Olenka nicht mehr innerhalb der geltenden Grenzen von Normalität und damit ist diese Figur ihrer Zeit voraus und verweist aus heutiger Sicht bereits auf die zukünftige Erweiterung der Normierungen, wo Normales und Abnormes neu definiert werden, wenn gelebte Altersidentität und Geschlechtsidentität im Alter zur Diskussion stehen.20

bringt. Er war fast noch ein Kind, als er für den Lebensunterhalt von Eltern und Geschwistern aufkommen musste und diese Verantwortung trug er sein Leben lang, obgleich er von seinen Eltern niemals Zuneigung erwarten konnte. 20 Vgl. Seidler: Figurenmodelle, S. 63-78.

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6.3.1 Narratologische Merkmale der Erzählung Der discours der Erzählung ist so gestaltet, dass der Fokus auf dem Altersleben der Protagonistin liegt, obgleich über ihr gesamtes Erwachsenenleben berichtet wird. Eine chronologische Erzählordnung wird eingehalten, doch entscheidet der Zeitpunkt des Erzählens über die Bedeutung des Alters: Als der junge Saša bereits ein halbes Jahr bei der alt gewordenen Olenka lebt, beginnt nach einer Ellipse die Erzählung im Präsens. Im längeren ersten Teil davor wird die bisherige Biographie der Protagonistin gerafft im Präteritum wiedergegeben. Repetitive Phasen innerhalb dieses Lebensberichts unterstreichen, dass die Jahre nach immer gleichen Mustern abliefen: Eine Liebe löste die nächste ab und Olenka bleibt bis ins Alter eine blühende Frau. Die erzählte Zeit ist lang und umfasst etwa vierzig Jahre in Olenkas Leben: Es sind die Freunde und Nachbarn, die sie über die Jahre hin beobachten und beschreiben. Erstaunt, aber auch ein wenig bewundernd skizzieren sie eine Frau, die sich jedem ihrer Männer bedingungslos anpasst. Die Imitation des Partners reicht sogar bis in den Sprachstil und die Gebärden. Der wohlwollende Blick von außen erklärt sich durch die überaus angenehme Erscheinung der Olenka, die immer dann anziehend auf die Betrachter wirkt, wenn sie verliebt ist. Auch als sie alt geworden und aus der Männerliebe Mutterliebe geworden ist, ändert sich das nicht, doch mit dem Übergang ins Präsens verschiebt sich die Fokalisierung auf die alte Frauenfigur selbst. Während die Handlung bis dahin iterativ erzählt wird, beginnt jetzt das präsentische Erzählen hauptsächlich aus ihrem eigenen Blickwinkel: Ach, wie sie ihn liebt! Von ihren früheren Liebesempfindungen ist keine so tief gewesen, niemals vorher hat sich ihre Seele so selbstlos, so uneigennützig und mit solcher freudigen Bereitschaft hingegeben wie jetzt, da in ihr immer stärker ein mütterliches Gefühl aufgeflammt ist. Für diesen fremden Jungen [...]. Warum? Wer soll das wissen – warum? (H 208)

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Olenkas Leben im Alter markiert das Zentrum der Erzählung, während die Wiedergabe der vorangegangenen Jahre die Vorgeschichte dazu liefert: Den Bericht eines ungewöhnlichen Alterslebens bereitet die längere Schilderung der Vorgeschichte vor. Die Kontrastierung von kalendarischem und individuellem Alter im Präsens macht den letzten Teil der Erzählung bedeutend: Olenka ist den Jahren nach eine alte Frau, doch ist sie ihrer Lebenskonzeption nach wieder jung und lebendig geworden. Nachdem sie Saša ins Gymnasium begleitet hat, kehrt sie still nach Hause zurück, zufrieden, ruhig, von Liebe erfüllt; ihr Gesicht, das im letzten halben Jahr wieder jung geworden ist, lächelt und strahlt; wer sie so sieht, freut sich und sagt zu Ihr: »Guten Tag, mein Herzchen«. (H 208)

Wie zur Bestätigung ihrer eigenen Wahrnehmung wird am Schluss im präsentischen Erzählen wieder die Außenperspektive des ersten Teils aufgenommen, wobei die Fokalisierung auch den jungen Saša einschließt, in dessen Gedanken bereits das Ende ihrer Beziehung antizipiert wird. Wenn er in die Gasse einbiegt, wo das Gymnasium steht, wird es ihm peinlich, daß ihm eine hochgewachsene dicke Frau nachläuft; er blickt sich um und sagt: »Gehen Sie nach Hause, Tantchen, ich finde jetzt schon alleine hin.« (H 207f.)

6.3.2 Alte Frauen als Grenzgängerinnen In ihrer Verformbarkeit ist Olenka ein seelenloses Geschöpf, somit ist schon ihr Name »Herzchen«, der im Russischen auch »Seelchen«21 bedeutet, eine Ironisierung. Sie ist ein Mängelwesen, das mit bekannten

21 Ältere deutsche Ausgaben der Erzählung tragen teilweise auch den Titel »Seelchen«. (Vgl.: Anton Čechov: Werke in drei Bänden, übers. v. Johannes von Guenther, Bd. 3, Hamburg/München 1963, S. 132-148, hier: S. 132.)

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Weiblichkeitstopoi bricht, denn lieben bedeutet für sie, eine Aufgabe erfüllen, und die erfolgreiche Erfüllung ihrer Aufgaben macht sie, von außen betrachtet, zufrieden und glücklich. Nach einer misslungenen Identitätsentwicklung bleibt sie innerlich hohl und leer wie der Automat, den E.T.A. Hoffmann im »Sandmann« beschrieben hat. Spannung entsteht durch die Kontrastierung von innen und außen: Olenkas Liebesgeschichten sind erfolgreich, weil sie aus ihr eine schöne und anziehende Frau machen. Andererseits lebt Olenka eine Misserfolgsgeschichte, denn ihre Seele hat ein Loch, das sie unfähig macht, Gefühle zu leben. Ein körperliches Zeichen dafür ist ihre Unfruchtbarkeit: Obgleich der Wunsch nach einem Kind besteht, wird sie in beiden Ehen nicht schwanger. Mit dieser Persönlichkeit widersetzt sich Olenka ihr Leben lang den gesellschaftlichen Erwartungen; auch als alte Frau gibt sie diese Haltung nicht auf, vielmehr steigert sich vor den erstaunten Augen der Nachbarn ihre mütterliche Fürsorglichkeit bis zur Selbstaufgabe. »Und sie spricht über die Lehrer, über den Unterricht, über die Lehrbücher – so wie Saša darüber spricht.« (H 208) Wie in ihrem bisherigen Leben führt sie auch im Alter kein normgerechtes Frauenleben, sondern lebt an der Grenze zum Verrücktsein, was sich beispielsweise dann zeigt, wenn sie fürchten muss, Saša zu verlieren: »Sie ist verzweifelt; ihr Kopf, ihre Füße, ihre Hände werden kalt, und es scheint, als gäbe es auf der Welt keinen unglücklicheren Menschen als sie.« (H 209) Wie Olenka sind alte Frauenfiguren als Grenzgängerinnen oft ambivalent gezeichnet: Sie gehören sowohl der einen als auch der anderen Welt an, sowohl dem Eigenen als auch dem Fremden. Die Grenze, die das Eigene sichert, repräsentiert eine Norm, die von den Alten in Frage gestellt und damit in gewisser Weise auch bedroht wird. Als zwischen »unserer« und der »anderen« Welt wandelnde Figuren bewegen sie sich zwischen Normalität und Anomalität, immer am Rand der Verrücktheit.22

22 Die Grenzposition, die ein alter Mensch einnimmt, wird in der Literatur über das Alter immer wieder beschrieben und an unterschiedlichen physi-

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Physische Merkmale, die eine innere Grenzsituation andeuten, zeigen auch die alten Frauenfiguren von Keyserlings: Malwine Bork hat die Physiognomie eines alten Mannes und die Sprache eines schwärmerischen jungen Mädchens, und die versteinerte Miene der Großmutter zeigt, dass sie keinen Anteil mehr am Geschehen in ihrer Umgebung nimmt. Auch die Großmutter aus Čechovs Erzählung »Die Braut« lebt ihr diesseitiges Altersleben zunächst ausschließlich auf die jenseitige Existenz bezogen, was zur Hässlichkeit ihrer äußeren Erscheinung passt. Das bevorstehende Leben nach dem Tod glaubt sie positiv beeinflussen zu können, indem sie ihre Enkelin mit dem Sohn ihres Priesters verheiratet, ohne auf die Gefühle der jungen Frau Rücksicht zu nehmen. Im Grunde präsentieren jene alten Frauenfiguren in der Literatur, die die Grenzen der Normalität überschreiten, weibliche Wünsche, welche in der Welt nicht lebbar sind und daher in eine von ihnen imaginierte Welt verschoben werden müssen. Darüber hinaus geht es in den literarischen Zeugnissen auch um die Ängste alter Frauen angesichts der gesellschaftlichen Tabus, die den nahen Tod umgeben. Es sind also die Regeln der Welt, die die Grenzen zwischen Normalität und Verrücktheit bestimmen, und nicht die eigenen Bedürfnisse. Unter diesem Blickwinkel ist die Grenze und das, was sich jenseits davon befindet, weniger ein Anderes als vielmehr integraler Bestandteil des Selbst. Am Beispiel Olenkas lässt sich diese These belegen. Liebevoll wird sie von allen Nachbarn Herzchen genannt, denn ihr strahlendes hübsches Aussehen ermuntert jeden, sie zu berühren. Die Männer fühlen sich zu ihr hingezogen, so wie auch sie jederzeit einen liebenden Mann an ihrer Seite braucht: »Sie liebte ständig irgend je-

schen Merkmalen präsentiert. Maria NDiaye beschreibt in ihrem Roman »Drei starke Frauen« das weibliche Alter: »Und ihre harten verengten Augen, ihre Alte-Leute-Augen, die sie auf sie richteten, unterschieden nicht zwischen dieser Gestalt [...] und anderen Gestalten, denen der Tiere und der Dinge, die ebenfalls die Welt bevölkerten.« (Maria Ndiaye: Drei starke Frauen, Frankfurt a.M. 2010, S. 277)

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manden und konnte ohne Liebe nicht sein.« (H 195) Ihre Beziehungen verlaufen problemlos und harmonisch, weil sie alle ehelichen Pflichten erfüllt und sich damit dem männlichen Diktat unterwirft. Die Dominanz des Mannes wächst auf diese Weise ständig. »Und jedesmal, wenn er, wie es sich gehört, ihren Hals und ihre vollen gesunden Schultern erblickte, klatschte er in die Hände und rief: »Herzchen!« (H 196) Jedem ihrer Partner passt sie sich an, sie verwöhnt und umsorgt ihn und adaptiert seine Einstellungen, die sie als ihre eigene Meinung ausgibt. Ihr Begriff von Liebe lässt sich vergleichen mit dem Caritasbegriff, nach dem eine Nonne lebt: Tätige Nächstenliebe statt Mannesliebe – die ihrerseits ein seelisches Engagement voraussetzen würde, wozu Olenka überhaupt nicht fähig wäre. Daraus entsteht ein befremdliches und verstörendes Frauenbild, denn weibliche Anhänglichkeit bis zur Selbstaufgabe oder Hörigkeit ist kein anerkanntes weibliches Attribut und war es auch zu Čechovs Zeit nicht, was die ironische Darstellungsweise unterstreicht.23 Die Gedanken ihres Mannes waren auch die ihren. Wenn er dachte, im Zimmer sei es sehr warm oder die Geschäfte gingen jetzt schlecht, so dachte sie dasselbe. (H 200)

In ihrer Liebestollheit imitiert sie ihre Männer bis in die Sprechweise, so dass sie mit jedem Mann eine andere Sprache spricht. Die Beobachter aus der Nachbarschaft akzeptieren ihre Art zu leben wegen ihrer Liebenswürdigkeit und Herzlichkeit; sie ist eben das »Herzchen«.

23 In Maren Haushofers Roman Die Wand (Gütersloh 1963) findet sich ein ähnliches, allerdings weniger verstörendes Frauenbild: Die Protagonistin kann ohne Liebe nicht leben, und da sie in ihrem Leben hinter der Wand kein Liebesobjekt mehr hat, überträgt sie ihr Bedürfnis zu lieben auf ihre Tiere.

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Es war klar, sie konnte nicht ein einziges Jahr ohne Liebe leben und hatte im Nebengebäude ihres Hauses ein neues Glück gefunden. Eine andere hätte man deswegen verurteilt, von Olenka aber dachte niemand schlecht, und alles in ihrem Leben war so verständlich. (H 202)

Nach zwei Ehen und einer längeren Partnerschaft lebt sie allein und als Alleinlebende wird sie zu einer alten Frau. Sie wurde mager und häßlich, und wenn man ihr auf der Straße begegnete, schaute man ihr nicht mehr nach wie früher und lächelte ihr nicht mehr zu; offenbar lagen die besten Jahre schon hinter ihr, und ein neues, unbekanntes Leben, an das man besser nicht dachte, hatte begonnen. (H 203)

Die Einsamkeit macht sie alt; ohne die Anregungen ihrer Männer hat sie keine Meinung und findet keinen Lebenssinn. Denn sie ist die Figur mit dem Loch in der Seele, welches nur temporär durch einen Partner von außen notdürftig gestopft wird. Wenn sie ohne Partner lebt, wird ihre innere Leere evident: »[...] jetzt aber herrschte in ihren Gedanken wie in ihrem Herzen eine ebensolche Leere wie auf dem Hof.« (H 204) Mit dem körperlichen Verfall geht ein geistiger Niedergang einher, den sie allein ohne Partner nicht aufhalten kann. Sie blickte teilnahmslos auf den leeren Hof, dachte an gar nichts, hatte keine Wünsche, und wenn die Nacht hereinbrach, ging sie schlafen und sah im Traum den leeren Hof. Sie aß und trank gleichsam gezwungenermaßen. Was aber die Hauptsache und das Schlimmste war – sie hatte keinerlei eigene Meinung mehr. (H 203f.)

Als alte Frau findet sie eine neue Liebe: Saša, der zehnjährige Sohn ihres ehemaligen Geliebten, wird ihre letzte Liebe. Sie ist keine nutzlose alte Frau geworden, wie es ihr bisheriger Lebensweg nahelegen könnte, denn sie übernimmt Verantwortung für ein Kind und erfüllt auch diese Aufgabe gewissenhaft. »Alt sein« ist relativ und als Stereotype nicht brauchbar: Olenka, die alte Frau, blüht auf und wird wieder

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jung, sobald sie einen geliebten Menschen an ihrer Seite hat, sei es einen Mann oder ein Kind, welches sie versorgt: »Auf ihrem Gesicht leuchtete das frühere Lächeln, sie lebte wieder auf und bekam rote Wangen, als sei sie aus einem langen Schlaf erwacht.« (H 206) Sie identifiziert sich mit dem Leben des Jungen und macht sein Schülerleben zu ihrem eigenen. So wie sie früher die Einstellungen ihrer Männer in der Nachbarschaft repetierte, so erzählt sie nun über die Schule und die Lehrer wie über ihr eigenes Leben. Und dabei gewinnt sie ihre jugendliche Frische wieder zurück. »[I]hr Gesicht, das im letzten halben Jahr wieder jung geworden ist, lächelt und strahlt. Wer sie so sieht, freut sich und sagt zu ihr: »Guten Tag, mein Herzchen«. (H 208) Während in der Regel der Blick von außen an der Oberfläche haltmacht und den alten Frauenkörper als nicht begehrenswert ablehnt, sind hier die Resultate von Eigen- und Fremdwahrnehmung vertauscht: Von außen wird die alte Frau als Frau wahrgenommen, während sie in der Selbstwahrnehmung nichts mit der Rolle einer anziehenden Frau zu tun hat. Für ihre Nachbarn wird Olenka durch die Liebe zu dem Jungen Saša wieder jung. Allen tut sie gut durch ihre positive Ausstrahlung. Die Lächerlichkeit alter Frauen in einem sexualisierten Kontext, insbesondere wenn sie Subjekte des Begehrens sind, ist ein geläufiger Topos in literarischen Altersdarstellungen. In dieser Erzählung wird die alte Olenka wie eine junge Frau angesehen, und die Freude über ihren Anblick kann als Ausdruck einer verkehrten Welt verstanden werden: Die Menschen fühlen sich von der Aura der alten Frau, die durch die geliehene Mutterschaft wieder jung und blühend geworden ist, angezogen und nennen sie wieder ihr »Herzchen«. Sie brauchte eine Liebe, die von ihrem ganzen Wesen, ihrer ganzen Seele, ihrem Verstand Besitz ergreifen, die ihr Gedanken einflößen und ihrem Leben Inhalt geben würde, die ihr alterndes Blut erwärmte. (H 205)

Allerdings mischt sich in diese letzte mütterliche Liebe ein Hauch von Melancholie, der das Ende der Beziehung anzeigt, sei es durch Olenkas

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Tod oder durch den Weggang von Saša. Elemente der Ankunft und des Abschieds von geliebten Menschen haben Olenka am Leben erhalten und im Alter jung bleiben lassen und folgerichtig liegt auf dieser letzten Liebe bereits der Schatten eines endgültigen Finales: »Sie schlummert ein und denkt immer nur an dasselbe, und unter ihren geschlossenen Lidern quellen Tränen hervor.« (H 208f.) Die Grundstimmung melancholischer Skepsis findet sich in den Dramen Čechovs als auch in seinen anderen Prosatexten, die für diese Arbeit ausgewählt wurden.24 Sie ist in der Figur der jungen Braut Nadja ebenso zu finden wie in der Figur des alten misanthropischen Professors aus der »Langweiligen Geschichte«. Wehmut ist demnach kein Altersmerkmal, sondern ein Grundthema in der Čechovschen Kunst, das geschlechts- und altersübergreifend vor allem in seinen Erzählungen immer wieder auftaucht. Die Entzauberung bergender Heimaten; die Verstörbarkeit der Seele durch ein Übermaß an Empfindsamkeit; die Entfernung vom Nächsten, von sich selbst; die Fragmentierung des Wissens und des Fühlens – das sind die Tschechowschen Konfliktmotive, die das 20. Jahrhundert ankündigen. Er entwickelt sie transzendenzlos, kühl; er kennt keine Ausrede für das Unglück, keine »böse Macht«, keine »strukturelle Gewalt«. Es gibt (jedenfalls in den Erzählungen) keine dramatischen Eklats. Er verweigert die große Katharsis wie das letzte Urteil, sät stattdessen Unsicherheit. Stellt anheim.25

24 »Sie straucheln alle, aber während sie straucheln, schauen sie hinauf zu den Sternen.« Simon Strauss über die Premiere von Drei Schwestern von Leander Hausmann im Berliner Ensemble, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 295 vom 19.12.2015, S. 14. 25 Mathias Greffrath: Für immer, vielleicht. Zum 150. Geburtstag von Anton Tschechow, in: Die Zeit v. 14.1.2010, Nr. 3. Online abrufbar unter: http://www.zeit.de/2010/03/a-tschechow [zuletzt abgerufen am 16.4.2017].

7.

Eine alte Frau sein: Damals und Heute Charlotte Wolff: »Flickwerk«, Günter Grass: »Unkenrufe«, Natal’ja Baranskaja: »Podselenka i koška«, Fridrich Gorenštejn: »Staruški«, Bella Achmadulina: »Babuška«, Tat’jana Tolstaja: »Milaja Šura«, Valentin Rasputin: »Poslednij srok«, Ljudmilla Ulickaja: »Gulja«

7.1 E IN V ERGLEICH DER F IGUREN Die Vergleichstexte in diesem Kapitel sind von exemplarischer Bedeutung und sollen keinen Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Epoche der Vorwendezeit in Deutschland und in Russland leisten, denn dazu ist die Textsammlung nicht umfangreich genug. Die Texte dienen als Abschluss dieser Studien über Prosatexte aus der Zeit des Epochenumbruchs um 1900 und auch als Brücken zu den gegenwärtigen Repräsentationen weiblichen Alters. In den Erzähltexten der Vorwendezeit geht es um Alterskonzepte, die in direkter oder indirekter Verbindung zu den Darstellungen weiblichen Alters in der Literatur um 1900 oder davor stehen. Überdies weisen die neueren Texte auch über die älteren hinaus, indem sie Aspekte der weiblichen Lebensge-

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staltung im Alter aufzeigen, die in den älteren Texten nicht vorkommen. Weibliche Homosexualität im Alter steht im Zentrum von Charlotte Wolffs Roman »Flickwerk«.1 In den sowjetischen2 Erzählungen3 geht es um körperliche Gewalt von Frauen gegen alte Frauen. Auch die Zelebration von Weiblichkeit, die in den älteren Texten nicht vorkommt, ist ein Motiv der Altersrepräsentationen in den sowjetischen Prosatexten und in der Erzählung »Unkenrufe« von Günter Grass.4 Ein entscheidender Unterschied zwischen den älteren und neueren Textgruppen besteht darin, dass die Letzteren in der Mehrzahl von weiblichen Autoren geschrieben wurden. Dieser Aspekt wird im Rahmen der Arbeit nicht explizit berücksichtigt, weil der Fokus auf der literarischen Gestaltung von weiblichen Alterskonzepten liegt und Aspekte der Textproduktion nur am Rand gestreift werden können. Politische und damit verbunden gesellschaftliche Veränderungen haben bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zu einer Veränderung der Konzeptionen weiblichen Alters geführt. Die Lebensbezüge, in denen

1

Vgl. Charlotte Wolff: Flickwerk. Roman, übers. v. Gerlinde Kowitzke, München 1977.

2

Diese Schreibweise entspricht der deutschen Rechtschreibung, aber nicht der wissenschaftlichen Umschrift, die ich sonst in dieser Arbeit benutze; ich habe mich für diese Ausnahme entschieden, um die Arbeit lesbarer zu machen. Lt. wissenschaftlicher Umschrift wird das Adjektiv folgendermaßen geschrieben: sovetisch.

3

Die themenrelevanten sowjetischen Erzählungen sammelte Dagmar Gramshammer-Hohl in ihrer Dissertation Repräsentationen weiblichen Alterns in der russischen Literatur. Alt sein, Frau sein, eine alte Frau sein (Hamburg 2014). Auf diese Arbeit habe ich bereits in der Einleitung hingewiesen. Ich habe einige Texte dieser Dissertation im Hinblick auf die Beschreibungen der Alterskonzepte untersucht und die wichtigen Zitate daraus übersetzt.

4

Günter Grass: Unkenrufe. Eine Erzählung, in: Günter Grass: Werke, Göttinger Ausgabe, Bd. 7, Göttingen 2007, S. 637-875.

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die alten Figuren gezeigt werden, sind andere geworden: Während es zu Beginn des Jahrhunderts die familiären und gesellschaftlichen Bezüge waren, welche die Figurenmodelle und die individuellen Alterskonzepte bestimmten, sind es nun eher geographisch-biographische Bezüge, die bestimmte Figurenmodelle konstruieren. Politische Voraussetzungen für diesen Wandel sind in der Jahrhundertmitte im europäischen Umfeld das Ende und die Folgen der Hitlerdiktatur und des stalinistischen Terrors und am Ende des Jahrhunderts der Fall des Eisernen Vorhangs und der Zusammenbruch der kommunistischen Regime. Damit verbunden sind weitreichende gesellschaftliche Veränderungen, die neue Fragestellungen zur Produktion und Rezeption von Literatur aufwerfen, beispielsweise die, denen der Feminismus nachgegangen ist. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs spielen die Themen Flucht und Vertreibung in den Altersrepräsentationen eine große Rolle. Aus den abgeschobenen und leisen alten Frauen in den deutschen und russischen bzw. sowjetischen Prosatexten sind nun die fremden oder, besser gesagt, die entfremdeten alten Frauen geworden. Die Problematik der Emigration trifft die alten Frauen besonders hart, denn während sie sich in jungen Jahren mit Flucht und Vertreibung als möglicher Lebensperspektive auseinandersetzen müssen, findet das Leben in der Fremde meist schon im vorgerückten Alter statt, und damit wird die Assimilation immer schwieriger, zumal oft familiäre und freundschaftliche Bindungen den Vertreibungen zum Opfer gefallen sind. Charlotte Wolff,5 deutsche Jüdin, Psychiaterin, Sexualwissenschaftlerin und bekennende Homosexuelle, schrieb im Londoner Exil als alte Frau den Roman »Flickwerk«, in dem es um eine weibliche Dreiecksbeziehung im Alter geht. Im Original erschien der Roman 1976 unter dem Titel »An older love« auf Englisch.6 Als Lesbierin, Jüdin und Emigrantin fand Charlotte Wolff in der Fremde niemals Ge-

5

Charlotte Wolff wurde 1897 in Riesenburg, Westpreußen geboren und

6

Vgl. Charlotte Wolff: An Older Love, London 1976.

starb 1986 in London.

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borgenheit und kaum Anerkennung für das, was sie als Ärztin leistete. Die Sehnsucht danach begleitete sie ihr Leben lang und im Alter setzte sie diese Problematik im genannten Roman literarisch um. Die sechzigjährige Ich-Erzählerin ist eine jüdische Emigrantin aus Deutschland, die in den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine psychiatrische Praxis in London führt. Vergeblich begehrt sie die Liebe zweier Frauenfiguren aus puritanisch geprägter Umgebung, die sechzig und achtzig Jahre alt sind. Die Ich-Erzählerin schreibt über ihre beiden Freundinnen Sie waren die richtigen Romanfiguren [...], diese Frauen lebten fünfzig Jahre in großer wirklicher Leidenschaft, aber sie wussten nicht, dass man es lesbische Liebe nennt, oder wollten es nicht wissen.7

So bleibt die Passion der drei alten Frauenfiguren unerfüllt und als später noch eine zweite alte Emigrantin auftaucht, der es zunächst besser gelingt, die Zuneigung der beiden Engländerinnen zu gewinnen, trifft das die Ich-Erzählerin besonders hart. Sie leidet von Treffen zu Treffen mehr. Aber mein geschulter Blick wachte den ganzen Abend hindurch und mir entging nicht, dass Caroline Christabel mit zu vielen Liebkosungen überhäufte. Nie zuvor hatte sie sie in meiner Gegenwart so behandelt. Ihre Quäkerbeziehung verbot ihr im allgemeinen ein demonstratives Verhalten. Und in Carolines Stimme lag ein bittender Ton, der ihrem Temperament und ihren üblichen Ausdrucksmitteln zuwiderlief.8

Der geschulten Psychiaterin entgehen die Gesten versteckter Gefühle nicht, doch sie selbst bleibt einsam und muss erkennen, dass sie jahrelang die Statistin in der Beziehung von Christabel und Caroline war und es bis zum Tod einer der beiden alten Frauen auch bleiben wird.

7

Wolff: Flickwerk, S. 16.

8

Ebd., S. 19.

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Ich wollte daran denken, dass ich ihre liebste Freundin war und sie mir nach Christabel die meiste Zuneigung entgegenbrachte. Aber stimmte das wirklich? Wieder quälte mich das alte Problem. Sonst hatte sie mich immer so voller Freude und Zärtlichkeit angesehen, dass ich Auftrieb bekam, förmlich wuchs. Diese Ungewissheit jedoch, hervorgerufen durch ihre kühle Begrüßung, brachte mich ganz aus dem Gleichgewicht.9

Die Freundin aus der Fremde beneidet die beiden nicht nur wegen ihrer stabilen emotionalen Bindung, die mit zunehmendem Alter immer fester zu werden scheint; fast noch stärker neidet sie ihnen ihre geistige Geborgenheit, die sie in ihrem von den Vätern und Müttern vererbten Glauben finden. Für mich war ihr religiöser Glaube eine Illusion, aber ich beneidete sie um den Halt, den er ihnen gab. Schließlich ist die Illusion oftmals eine bessere Lebensbasis als die Realität. Illusion ist eine Begabung, die dem Arglosen zu eigen ist.10

Am Ende ihres Lebens versuchte Charlotte Wolff, sich mit diesem Roman von dem Leben in der Fremde zu distanzieren, denn sie ist dort niemals heimisch geworden. Dementsprechend beschreibt die IchErzählerin im Roman ihre Rückkehr von den Freundinnen nach London. Ich hasse die Rückkehr nach London. Verlorenheit überfällt mich, wenn der Zug sich der Stadt nähert. Ein Gefühl von Panik erfasst mich [...]. Die Häuser symbolisieren die seelenlose Gesellschaft der Metropole [...]. Wohin ich zurückkehrte, war nicht mein Zuhause. Nur ein Platz zum Leben.11

9

Ebd., S. 12.

10 Ebd., S. 45. 11 Ebd., S. 79.

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Ähnliche Erfahrungen von Fremdsein und Heimatlosigkeit sind prägend für viele weibliche Altersfiguren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.12 In der Diegese von Charlotte Wolffs Roman sind es nicht, wie man erwarten könnte, die Erinnerungen, die für das Alterskonzept der drei Frauen bedeutsam sind. Dementsprechend spielen die körperlichen Merkmale des Alters in ihrer Distinktion zur Jugend nur eine untergeordnete Rolle; sie werden ohne negative Wertungen lediglich genannt, im Gegensatz zu den zahlreichen negativen Blicken auf den weiblichen Körper in den Primärtexten dieser Arbeit. In dem Roman »Flickwerk« kennzeichnen Motive wie Heimatverlust, Einsamkeit und Todeserwartung die Darstellungen der alten Frauenfiguren. Das Leben im Exil präsentiert sich literarisch ohnehin oft als Endstation ohne Umkehrmöglichkeit. Alte Frauenfiguren, die infolge des Zweiten Weltkriegs aus der vertrauten Umgebung gerissen wurden und fern ihrer Heimat leben müssen, gibt es auch in der sowjetischen Literatur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Natal’ja Baranskajas Erzählung »Podselenka i koška«13 aus dem Jahr 1981 beschreibt die Lebensumstände einer Gruppe alter Frauen, die ihr Zuhause verloren haben. Die IchErzählerin, wie in »Flickwerk« eine alte Frau in einer fremden Umgebung, erläutert den Titel und bestimmt damit schon die Rolle der Frauenfiguren ihres Umfelds: »Podselenki – oni kto? Vse bol’še staruchi odinokie poslevoennye – kak Darja, kak ja.« [»Untermieterinnen – Wer

12 Beispiele aus der deutschen Literatur: Detlef Arntzen: Der Brief meiner Mutter, Roman, Dülmen 2005; Walter Kempowski: Alles umsonst, Roman, München 2006. Mit der Figur des »Tantchens« werden in diesem Roman die Motive von Fremde und Heimatverlust präsentiert. 13 Natal’ja Baranskaja: Podselenka i koška. [Die Untermieterin und das Kätzchen, übers. v. S.B.-K.], in: Dies.: Ženščina s zontikom. Povest’ i rasskazy, Moskva 1981, S. 192-197.

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sind sie? Alles ziemlich alte, alleinstehende Nachkriegsfrauen – wie Darja, wie ich.«]14 Diese durch die Kriegswirren allein gebliebenen, umgesiedelten und in größeren Wohnungen angesiedelten alten Frauen sind nicht mehr allein. Sie haben ihre gleichalten Freundinnen und sind damit immer in Gesellschaft und sie haben vor allem die Muße, zusammen zu hocken, um sich zu amüsieren, aber auch um über die Beschwerden des Alters zu lamentieren. Die jungen Frauen neiden ihnen diese Freiheiten, denn sie sind stark belastet durch die doppelten Anforderungen von Arbeitsplatz und Familie, die sie gemäß der Parteidoktrin zu erfüllen haben. Eine »wahre« sowjetische Frau hatte diese Doppelbelastung zu meistern, wie es Natalja Baranskaja in ihrer bekanntesten Erzählung »Nedelja kak nedelja« [Woche für Woche] aus dem Jahr 196915 eindrucksvoll thematisiert. Für die rund um die Uhr schuftenden Frauen und Mütter sind die alten Frauen die Zielscheiben ihrer missgünstigen, aber auch sehnsüchtigen Gedanken. Es war Gesetz im kommunistischen Regime, die alten Frauen zu achten und zu ehren, und somit sind Baranskajas alte Frauenfiguren durchaus als kritischer Widerpart zum hochstilisierten Frauenbild der Sowjets zu betrachten. In den sowjetischen Prosatexten, die am Vorabend von Glasnost’ und Perestrojka entstanden sind, gibt es eine Figurengruppe, die in den älteren Texten nicht vorkommt: die geschlagenen oder verwundeten alten Frauen. Die Begründung dafür, alte Frauen zu verletzen, liegt teilweise in der Überforderung der jüngeren arbeitenden Frauen, die den alten Frauen ihre Freiheiten missgönnen. In Fridrich Gorenštejns Erzählung »Staruški«16 von 1964 geht es um zwei alte Frauenfiguren, die eine Alte und die andere Alte, Mutter und Tochter: »staruška-mat’«

14 Ebd., S. 195. Diese und alle folgenden Übersetzungen aus dem Russischen stammen von mir. 15 Vgl. Ebd., S. 3-54. 16 Vgl. Fridrich Gorenštejn: Staruški. [Greisinnen, übers. S.B.-K.], in: Ders.: Izbrannoe v 3–ch tomach. T 2: Iskuplenie: Povesti, rasskazy, p’esa, Moskva 1992, S. 27-43.

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und »staruška-doč’«. Ein entsprechendes deutsches Wort gibt es nicht, Muttergreisin und Tochtergreisin ist eine mögliche Übersetzung. Die beiden haben ihre Rollen vertauscht: Die Mutter wird wie ein Kind von der Tochter versorgt17 und benimmt sich nicht wie eine alte Frau. Sie ist geschmückt wie eine junge Braut mit einem weißen Kleid, einem Samthaarband und einer Kette und hantiert ständig mit einem Lippenstift, denn sie versucht, sich die Lippen anzumalen. Die Tochter reagiert aggressiv und schreit: »Mama, perestan’!« [»Mama, höre auf damit!«]18 Sie ruft sie als Mutter an, denn für die Mutter einer alten Frau ist es unstatthaft, sich zu schminken, und so schlägt die Tochter der Mutter den Lippenstift aus der Hand, wobei das Metallgehäuse die Mutter verletzt, so dass sie am Kinn blutet. Während hier das unangemessene Verhalten einer alten Frau die Aggression hervorruft, ist es in einer anderen Erzählung das Alter selbst, das die Enkelin wütend macht. In der autobiographischen Prosaskizze »Babuška«19 von Bella Achmadulina aus dem Jahr 1963 berichtet die Erzählerin, wie sie als Mädchen auf

17 Ein weiteres Beispiel für den Rollentausch im Alter sind die Erinnerungen von Roland Barthes aus den 1970er Jahren. Er thematisiert den Rollenwechsel aus homosexueller Perspektive und erweitert ihn. In seinem Buch Die helle Kammer schreibt er über die sterbende Mutter, zu der er eine besonders enge Bindung hatte: »Am Ende ihres Lebens war meine Mutter schwach, sehr schwach. Ich lebte in ihrer Schwäche; es war mir unmöglich, an der Welt draußen teilzuhaben […] während ihrer Krankheit pflegte ich sie […] sie war meine kleine Tochter geworden […] Ich sah sie, die Starke, die mein inneres Gesetz war, wie mein weibliches Kind enden. Ich, der ich mich nicht fortpflanzte, hatte meine Mutter in eben dieser Zeit der Krankheit gezeugt.« (Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, übers. v. Dietrich Leube, Frankfurt a.M. 1985, S. 74.) 18 Gorenštejn: Staruški, S. 42. 19 Vgl. Bella Achmadulina: Babuška. [Die Großmutter, übers. S.B.-K.] In: Dies.: Odnaždy v dekabre. Rasskazy, esse, vospominanija, S. Peterburg 1996, S. 35-46.

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den nackten Körper der Großmutter reagierte. Sie wollte den mangelhaften Zustand des alten Körpers unbedingt sehen und als ihr Blick auf den Unterleib der alten Frau fiel, sah sie einen Hängebauch und darunter die schütteren – das russische Wort bedeutet eher »schwach« – und »ziegengrauen« Schamhaare. Aus Verzweiflung über so viel Mangelhaftigkeit will sie der Großmutter nur noch wehtun und stößt ihr die scharfe Kante des Wascheimers in den Bauch. Das Wissen, dass ihr eigener Körper im Alter dieselben Mängel aufweisen wird, macht die Enkelin aggressiv. Die Motive, die alten Frauenfiguren körperlich anzugreifen und ihnen Verletzungen zuzufügen, sind in beiden Texten unterschiedlich: Einerseits wehrt eine alte Frau sich gegen ein nicht altersgemäßes Verhalten einer anderen, und es ist so, als wollte sie ihre eigene Haut retten. Andererseits rebelliert eine junge Frau gegen die Zeichen des Alters, die sie ängstigen und verzweifeln lassen, denn sie spiegeln die eigene Zukunft. Weibliches Alter ist in beiden Texten ein beklagenswerter Zustand voller Hoffnungslosigkeit. Eher vergleichbar mit den Frauenfiguren in den Primärtexten ist ein anderes Figurenmodell: einsam lebende alte Frauen, die in der sowjetischen Prosa einen breiten Platz einnehmen. Ein Beispiel gibt Tat’jana N. Tolstaja mit ihrer Erzählung »Milaja Šura«20 von 1985. Sie thematisiert die Widersprüche im Alter, die durch die Diskrepanzen in der Selbst- und Fremdwahrnehmung entstehen. Auf der einen Seite ist Aleksandra Ernestova eine einsame alte Frauenfigur, die im Laufe der Jahre alle Verbindungen zu anderen verloren hat, und auf der anderen Seite ist sie jene »liebenswerte Šura« von damals: schön, umschwärmt, begehrt und dreimal verheiratet. Als eine solche Schönheit nimmt sich die alte Frau immer noch wahr und gerät dadurch in Widersprüche zu ihrer Umgebung. Diese Diskrepanzen demonstriert bildhaft ihre Kleidung: Die ungepflegten und abgetragenen alten Kleider kontrastieren mit ihrem Hut, der sorgfältig mit vielen bunten Papierblumen und Holzfrüchten geschmückt ist. Vor ihrem Tod beschäftigt sie nur noch

20 Tat’jana N. Tolstaja: Milaja Šura. [Die liebenswerte Šura, übers. v. S.B.K.], in: Dies.: Ljubiš – ne ljubiš: Rasskazy, Moskva 1992, S. 42-52.

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eine Frage, nämlich ob sie sich vor sechzig Jahren vielleicht falsch entschieden hat, als sie ihren mittellosen Liebhaber verließ und bei ihrem wohlhabenden Ehemann blieb. Und genau über diese Frage kommt es zur Identifikation der jungen Erzählerin, die Aleksandra Ernestova zufällig trifft und sie nach einem Schwächeanfall nach Hause begleitet, mit der alten Frau: aus einem »sie« wird ein »wir«: »Čto ej pomešalo? Čto nam vsegda mešaet?« [»Was hat sie gehindert? Was hindert uns immer?«].21 Die Erzählerin empfindet Sympathie für die alte Frau, denn sie erkennt sich selbst in der jungen, »liebenswerten Šura« wieder und gleichzeitig ist ihr klar, dass aus ihr eines Tages auch eine alte Frau werden wird. Das bedeutet, dass die Distanz zwischen Jugend und Alter nicht nach Jahren messbar ist, sondern dass beide Lebensalter nur durch den einen Schritt, der in der Jugend nicht getan wurde, getrennt sind, wenn auch der Raum zwischen ihnen objektiv nicht zu überwinden ist. Das Leben eines alten Menschen ist demnach kein anderes Leben als das vorherige, sondern es kehrt in den Erinnerungen immer wieder zu all den Kreuzungen zurück, an denen eine bestimmte Entscheidung getroffen werden musste, die dann für den weiteren Lebenslauf bestimmend war. In diesem Sinn kann eine alte Frau oder ein alter Mann in der Eigenwahrnehmung genau so jung sein, wie ein, in Jahren gezählt, jüngerer Mensch, der oder die mitbedenkt, wer er oder sie in Konsequenz des eigenen Handelns einmal sein wird. Die »liebe Šura« ist »so real wie ein Trugbild« (Aleksandra Ernestova, milaja Šura, real’naja kak miraž«, S. 52); sie ist Aleksandra Ernestova und zugleich ist sie es nicht. Dieser Widerspruch ist vielleicht das eigentliche »Wesen« des Alters.22

21 Ebd., S. 52. 22 Grashammer-Hohl: Repräsentationen, S. 129.

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7.2 E IN V ERGLEICH DER ALTERSKONZEPTE Um welche Alterskonzepte handelt es sich nun bei den alten Frauenfiguren und inwieweit sind sie mit den zentralen Texten dieser Arbeit vergleichbar? Die Autorin Monika Maron stellt in ihrer Rede anlässlich des Historikertages 2002 in Halle fest, dass die Vorstellung des Lebenslaufes dadurch geprägt ist, dass es für die zweite Lebenshälfte keine Lebenskonzepte mehr gibt, da diese mit dem Berufseinstieg bzw. dem Erklimmen der beruflichen Leiter oder doch spätestens mit dem Ende des Erwerbslebens enden.23

Marons Aussage ist in Bezug auf das alte Frauenleben zu erweitern, denn wie die Primärtexte gezeigt haben, gab es am Ende des 19. Jahrhunderts in der Literatur schon Konzepte für das weibliche Alter, die mit dem Berufsleben in den meisten Fällen nichts zu tun hatten. Man denke an die Frauen, die einem ganzen Familienclan vorstanden wie etwa die Generalin Palikow oder die Babulja. Auch die Konzeption, im Alter die Familie zu versorgen, ist vorgekommen, wie in Čechovs »Herzchen«, welches als alte Frau allein ein Kind aufzieht, oder im Roman »Der grüne Heinrich«, in dem Frau Margret für den Lebensunterhalt der Familie und auch anderer Menschen aufkommt. Die Konzepte weiblichen Alters wurden schon damals differenzierter gelebt als die groben Einteilungen in Alter als Erfolgsgeschichte auf der einen Seite und Alter als Defizitbeschreibung auf der anderen Seite vermuten lassen. Dichotome Kontrastierungen wie diese hat die Kunst längst überwunden, wie der Sammelband »Merkwürdige Alte«, den Henriette Herwig herausgegeben hat,24 belegt. Die Autorin bezieht sich in ihrer Einführung zwar auf die Kunst der Gegenwart, ihre Suche nach paradoxen Altersbildern kann aber durchaus in die Vergangenheit verlängert werden. In den letzten beiden Jahrzehnten der sowjetischen Litera-

23 Seidler: Figurenmodelle, S. 440. 24 Herwig (Hg): Merkwürdige Alte 2014.

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tur gewinnt die Dorfprosa25 wieder zunehmend an Bedeutung und in diesen Texten sind es vor allem die alten Frauenfiguren, die wichtige kulturelle Werte aus der Familie und der dörflichen Gemeinschaft tradieren. Die letzten Lebensjahre dieser Frauen sind demnach eingebettet in eine Konzeption der allseitigen Anerkennung, indem Traditionen bewahrt werden. Gleichzeitig tritt in dieser Zeit des sich anbahnenden politischen und gesellschaftlichen Umbruchs die sogenannte Kolchosliteratur in den Hintergrund, welche den Fortschritt der sozialistischen Welt thematisiert. Abseits aller ideologischen Maximen werden jetzt die traditionellen Werte der bäuerlichen Welt betont, und die Bewahrerinnen der alten Lebensweisen sind die alten Frauen, die allerdings in den Texten stark idealisiert werden: Dies ist eine Alterskonzeption, die also darauf basiert, das Althergebrachte lebendig zu erhalten und zu tradieren. In Valentin Rasputins Erzählung »Poslednij srok«26 von 1970 ist die achtzigjährige Protagonistin Anna eine solche Figur, die die patriarchalische Ordnung hütet, welche von den Folgegenerationen missachtet wird. An ihrem Sterbebett gelingt es ihr, fast die ganze Familie noch einmal zusammenzuführen. Von ihren fünf Kindern, die in der Stadt leben, sind vier gekommen; die jüngste Tochter erscheint auch nach Ablauf einer letzten Frist (poslednij srok), die Anna sich zum Sterben gesetzt hat, nicht, und die anderen Kinder haben sich zerstritten. Wenn man den Alters- und den Geschlechterdiskurs in der Erzählung genauer betrachtet, fällt auf, dass für beide Geschlechter je eine Bezeichnung existiert, welche die Zugehörigkeit zur dörflichen oder zur städtischen Ordnung signalisiert. Im Russischen gibt es für Frauen wie Männer unterschiedliche Namen, je nachdem ob sie im dörflichen oder im städtischen Umfeld angesiedelt sind. »Baba« heißt die meist ältere Dorffrau, die unter dem Schutz ihres Mannes steht, während sich die Stadtfrau, die »ženščina«, den Anforderungen des Staates fügt und auf männlichen Schutz verzichtet. Entsprechend hei-

25 Vgl. hierzu die Einleitung dieser Arbeit. 26 Valentin Rasputin: Poslednij srok. [Die letzte Frist, übers. v. S.B.-K.], in: Ders.: Povesti, Moskva 1978, S. 395-555.

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ßen die Männer »mužik« und »muščina«. Wie Rasputins Erzählung zeigt, folgen die dörflichen Namen einer strengen Hierarchie: An der Spitze der Dorfgesellschaft stehen die Männer, und dann folgen die alten Frauen, was das oben skizzierte weibliche Alterskonzept unterstreicht. Die achtzigjährige Anna ist immer noch hochgeachtet in ihrer Mutterschaft; Achtung und Ehrfurcht ihrer Umgebung bestimmen ihre letzten Lebenstage. Im Dorf stehen also Alter und Weiblichkeit nicht im Widerspruch, wenn die Frau in ihrem Leben viele Kinder geboren hat, wie es bei der Protagonistin der Fall ist. Auch ohne die Verbindung zur Mutterschaft gewinnen Weiblichkeit und Sexualität in der Altersliteratur während der folgenden Jahre zunehmend an Bedeutung, sowohl in der sowjetischen als auch in der deutschen Prosa der Wendezeit. In Ljudmilla Ulickajas Erzählung »Gulja«27 von 1993 stellt die erotisierte Weiblichkeit ein Alterskonzept dar, das die Frau mit zunehmendem Alter immer besser beherrscht. Die alte Evgenija, deren Rufname »Gulja« Assoziationen erweckt zum Verb »guljat’«, welches »spazieren gehen« oder »ausschweifend leben« bedeutet, hat in der Tat ausschweifend gelebt und nun im Alter, da die Männer nicht mehr präsent sind, tauscht sie mit ihren Freundinnen die Erinnerungen daran aus. Bezeichnenderweise nennen die alten Frauen diese Erinnerungstreffen »pokutilki« [»Zechgelage«]28 oder »vegetarianskie orgii« [»fleischlose Orgien«].29 Das Leben im Alter wird wie ein einziges großes Fest zelebriert und alle schlechten Tage sind aus der Erinnerung verbannt: Jahre im Lager und im Gefängnis, Krankheiten, Altern, Tod und Verlust. Guljas Wohnung ist die Kulisse dieses großen Festes; sie wird zu einer fulminanten Theaterbühne. »Gulja žila kak by na fone teatral’noj dekoracii [...].« [Gulja lebte wie auf einer Theaterkulisse.]30

27 Ljudmilla Ulickaja: Gulja, in: Veselye pochorny. Povest’ i rasskazy, Moskva 1999, S. 211-223. 28 Ebd., S. 212. 29 Ebd., S. 212. 30 Ebd., S. 216.

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Dort spielen sie und ihre Freundinnen ungeachtet ihres kalendarischen Alters mit den Zeichen ihrer Weiblichkeit: So beherrschen sie perfekt die Kunst, einen Hut richtig zu tragen, was sie den jungen Frau keinesfalls zutrauen. Teper’ oni tolkovali o šljapach: o neumenii molodych ženščin nosit’ šljapku, etot priznak pola, svidetelstvo talanta ili bezdarnosti, znak socialnoj prinadležnosti i pokazatel’ intellektual’noj urovnja [...]. [Nun schwatzten sie über Hüte: über das Unvermögen der jungen Frauen, einen Hut zu tragen, dieses Merkmal des Geschlechts, das Zeugnis von Talent oder Mangel an Begabung, Zeichen gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Hinweis auf ein bestimmtes intellektuelles Niveau]31

Demnach sind es die alten Frauenfiguren, denen das Geschlecht zugehörig ist und die so den Imaginationen von Weiblichkeit eher entsprechen als die jungen Figuren. Wie Doppelwesen treten die alten Frauen auf: »angeličami i ved’mami« [als Engel und als Hexen]32 anmutig und hässlich, junge Mädchen und alte Mänaden. Trotz dieser Widersprüche haben Weiblichkeit und Erotik Bestand. Gulja verführt am Ende der Erzählung einen jungen Mann und als sie ihren Freundinnen von dieser Liebesnacht berichtet, gibt sie der Begegnung einen Namen: »neždanno slučivšijsja prazdnik« [ein unerwartet vorgekommener Feiertag]33. Das hier skizzierte Weiblichkeitskonzept hat nichts zu tun mit dem Jugendwahn, der etwa gleichzeitig mit der Auflösung der Sowjetunion einsetzte, bis heute andauert und in zahlreichen literarischen Werken der russischen und gesamtdeutschen Literatur persifliert wird. Auf diesen Aspekt kann hier nicht eingegangen werden. Die Geschichte der alten Gulja, die sich zum Schluss ein Leben konzipiert hat, in dem ihre Weiblichkeit eine zentrale Rolle spielt, entstand in einer Umbruchzeit. Perestrojka und Glasnost’ ebneten den Weg für eine neue Gesellschaft

31 Ebd., S. 213. 32 Ebd., S. 215. 33 Ebd., S. 223.

7. E INE ALTE F RAU

SEIN :

D AMALS UND H EUTE

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und es fragt sich, warum gerade in dieser Zeit in vielen Erzählungen und Prosaskizzen die alten Frauenfiguren nicht am Alter leiden, sondern das Leben in vollen Zügen genießen. Ich vermute, dass die vormalige Verherrlichung aller produktiven gesellschaftlichen Kräfte zurücktritt und der Mensch selbst in den Fokus genommen wird. Es liegt nahe, dass zunächst die Alten, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen müssen, dieses Figurenmodell ausfüllen. In diesem Kontext steht die deutsche Erzählung »Unkenrufe«34 von Günter Grass, die fast gleichzeitig mit Ulickajas »Gulja« entstand. Mit Ironie und Einfühlungsvermögen beschreibt der Erzähler eine Danziger Altersliebe zwischen einem deutschen Intellektuellen und einer polnischen Restauratorin, einer Frau also, deren Leben sich geographisch zwischen Russland und Deutschland abspielt. Ironische Distanz hält der Erzähler hauptsächlich zum männlichen Protagonisten, dem Witwer Alexander, beispielsweise wenn er dessen Mühen und Ungeschicklichkeiten in der ersten Liebesnacht hervorhebt. Alexandra, die Witwe, seine Geliebte und spätere Frau, betont, obgleich über sechzigjährig, in ihrem Auftreten und ihrer Kleidung ihre Weiblichkeit. Alexander kritisiert dies: Stöckelschuhe und enge Röcke seien unpassend bei einer alten Frau.35 Wie Gulja weiß auch Alexandra ihren Hut zu tragen, denn wenn das Paar die zahlreichen Beerdigungen36 besucht, erscheint Alexandra, wie er es ausdrückt, »unter breitrandigem Hut, nicht unelegant«.37

34 Grass: Unkenrufe. Vgl. Fußnote 173. 35 Trotz aller Skepsis ihrer erotischen Ausstrahlung gegenüber fühlt er sich zu ihr hingezogen: »er nannte sie unwiderstehlich« (Grass: Unkenrufe, S. 675). Er findet sie »zu modisch aufgedonnert« (Grass: Unkrenrufe, S. 641), doch gefallen ihm »ihr in Richtung Tizianrot geschöntes Haar« und der »Geruch ihres vorlauten Parfums« (Grass: Unkenrufe, S. 643). 36 Das Paar beschäftigt sich mit Begräbnissen ehemaliger Danziger Bürger, die sie mit Hilfe ihrer »Friedhofsgesellschaft« als Leichen in die Heimat zurückführen. 37 Grass: Unkenrufe, S. 742.

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Ihre weibliche Ausstrahlung dominiert Friedhofsatmosphäre und Trauerzeremonien: Unter den Friedhofsbäumen wandelte sich das Waschblau ihres Blicks zum Lichtblau, wobei die strahlende Helligkeit durch schwarze, ich meine, zu schwarz getuschte Wimpern gesteigert wurde. Als wirr stehende Spieße umzäunten sie die oberen, die unteren Augenlider. Dazu vielfach verästelte Lachfalten [...].38

Das Motiv des Todes reiht sich ein in diese Beschreibung einer Altersliebe, ohne zunächst einen düsteren Schatten auf diese zu werfen: »Schon begann er, ihre Lachfalten zu zählen: ›Dieser Strahlenkranz‹.«39 Dieses Bild wird wieder aufgenommen in der Beschreibung des Engels, den Alexandra in ihrer Küche restauriert. Wie in Ulickajas Erzählung »Gulja« ist der Engel dem weiblichen Alter ganz nah und wenn der Blick auf den Engel voller Liebe ist, beginnt der Engel zu strahlen. Doch als der kniende Engel zusehends zu Gold kam, mit beiden Flügeln gülden glänzte, entstand die Figur in ihrer von anonymer Hand gewollten Schönheit aufs neue.40

Schönheit und Weiblichkeit verschmelzen und das kalendarische Alter hat keine Bedeutung mehr.41

38 Ebd., S. 658. 39 Ebd., S. 664f. 40 Ebd., S. 838. 41 Vgl. hierzu den Aufsatz von Markus Winkler: Figurationen des Alters und des Alterns bei Günter Grass, in: Herwig (Hg.): Alterskonzepte, S. 253266. Der Autor widmet sich den Alterskonzepten in Grass’ Werk, ohne den Genderaspekt speziell zu berücksichtigen.

8.

Möglichkeiten der Überwindung von Stereotypen

8.1 ALTE F RAUENFIGUREN JENSEITS VON K LISCHEES Einerseits fasziniert die Vielfalt der Präsentationen weiblichen Alters, andererseits ist in der Literatur eine gesellschaftliche Anerkennung des weiblichen Alters als Wert selten zu finden. Die literarischen Texte wurden als kulturelle Texte gelesen: als Texte, in denen sich herrschende Diskurse manifestieren, in denen Alter und Geschlecht inszeniert werden. Doch kommen in den Texten auch Gegen-Diskurse zu Wort, die den herrschenden Diskurs unterlaufen, durchkreuzen, ja sogar angreifen und so Alternativen denkbar werden lassen. Durch das ihr eigene Spiel mit Bedeutungen zeigt die Literatur die Standortgebundenheit der Bedeutungen auf, das heißt in diesem Fall die Standortgebundenheit und Perspektivenabhängigkeit der Bedeutung von »alt sein«, von »Frau sein« und vor allem von »eine alte Frau sein«, was den Raum eröffnet, die soziale Identität als Wahl zwischen alternativen Möglichkeiten zu sehen und zu leben. Biographien, Romane, Opern, Theaterstücke, Bilder und Filme haben den wissenschaftlichen Diskursen voraus, dass sie vom Individuum ausgehen können [...]. Deshalb werden die künstlerischen Darstellungsformen der Vielfalt der Erlebniswelten des Alter(n)s auch eher gerecht. Durch die Anschaulichkeit ihrer

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Bilder und Geschichten und das experimentelle Spiel mit Möglichkeiten helfen sie, implizite Voraussetzungen von Diskursen aufzudecken, Werte zu hinterfragen, Angstvorstellungen zu bewältigen und Lösungsansätze für die Probleme der älter werdenden Gesellschaft zu entwickeln.1

Unter der Voraussetzung, dass es keine erfahrbare Realität außerhalb der diskursiv erzeugten Realität gibt, ist jedes Wissen um und jede Aussage über ein »Eigentliches« in einem soziokulturellen Raum verortet. Deshalb habe ich nicht untersucht, wo die reale Frau jenseits der symbolischen Repräsentationen von Weiblichkeit zu finden ist. Vielmehr war der Fokus der Analysen darauf gerichtet, wie über Alter und Weiblichkeit gesprochen wird, welche Redeweisen existieren. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand immer das Zusammenspiel der beiden Kategorien Alter und Geschlecht: wie Alter als Ko-Text das Sprechen über Weiblichkeit beeinflusst und wie Gender als Ko-Text auf das Sprechen über das Alter Wirkungen zeigt. Nationalkulturellen Unterschieden wie beispielsweise denen zwischen Deutschland, der Schweiz und Russland galt nicht das primäre Erkenntnisinteresse dieser Arbeit, sondern dem Verhältnis von Sprache, Wirklichkeit und Imagination. Die gerontologisch orientierte Literaturwissenschaft hat es wie die so orientierte Kunstgeschichte nicht mit der Erforschung der Lebensläufe und der Lebensbedingungen realer Menschen zu tun, sondern mit Formen ihrer ästhetischen Repräsentation und Konstruktion. Ihr Untersuchungsgegenstand sind von Traditionen und aktuellen Einflussfaktoren, intertextuellen und intermedialen Bezügen geprägte Artefakte. Diese zeigen das ›Alter‹ immer schon als inszeniertes, kontextualisiertes und interpretiertes, sie nutzen es für unterschiedliche – oft auch selbstreflexive – Zwecke.2

1

Herwig: Für eine neue Kultur der Integration des Alters, in: Dies. (Hg):

2

Ebd., S. 24.

Merkwürdige Alte, S. 7-33, hier: S. 18-19.

8. M ÖGLICHKEITEN

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Die Analysen haben sich auf die Frage konzentriert, wie Alter und Geschlecht narrativ erzeugt werden. Es wurde in den Blick genommen, in welcher Beziehung inszenierter Geschlechter- und Altersdiskurs im Text zueinander stehen und in welche Art Dialog sie getreten sind. Weiterhin war das von Interesse, was der manifeste Diskurs nicht sagt: Es findet sich an den Rändern und Brüchen im Text, an den Grenzen des Gesagten und Sagbaren.3 Kristeva schreibt dem Text die Fähigkeit zu, das Unsagbare einzuholen, wobei Text für sie immer Praxis des Textes ist, das heißt Arbeit an ihm, ein fortwährendes Wechselspiel von Text und schreibendem oder lesendem Subjekt.4

8.2 D ER KULTURELLE W ANDEL WEIBLICHER ALTERSKONZEPTIONEN Es ist ein Kennzeichen moderner westlicher Gesellschaften, dass es zu einer immer größeren Differenzierung und somit zu einer Vervielfachung der Lebensläufe und Lebensstile kommt. Das, was vordem als weibliche oder männliche Normalbiographie erschien, bildet nicht selten schon die Ausnahme. Im Vergleich zu dieser wachsenden Vielfalt an Lebensentwürfen herrscht immer noch eine geringe Auswahl an verfügbaren Altersrollen: Stereotype, zumeist negativ besetzte Vorstellungen über Altersidentität herrschen vor und betreffen vor allem das weibliche Alter. Dagegen können kulturwissenschaftlich orientierte

3

Vgl. hierzu Max Frisch im Tagebuch 1946-1949: »Was wichtig ist: das Unsagbare, das Weiße zwischen den Worten, und immer reden diese Worte von den Nebensachen, die wir eigentlich nicht meinen. Unser Anliegen, das eigentliche, läßt sich bestenfalls umschreiben, und das heißt ganz wörtlich: man schreibt darum herum.« (Max Frisch: Tagebuch 1946-1949, Zürich 1965, S. 34)

4

Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, übers. v. Reinhold Werner, Frankfurt a.M. 1978, S. 10.

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Textanalysen alternative Konzepte verfügbar machen und zeigen, dass Identität immer auch ein Akt der Wahl ist. Nach wie vor überwiegen pessimistisch getönte Einschätzungen, wenn Alter und Altern beschrieben werden. Der Kabarettist Dieter Hildebrandt erlaubte sich im »Scheibenwischer« hinsichtlich des gesellschaftlichen Klimas, in dem man heute alt wird, die deutliche Bemerkung: »An und für sich ist alt sein bei uns noch erlaubt. Nur man sieht’s nicht gerne.«5 Damit charakterisiert er die unterkühlte Atmosphäre, in der die alten Menschen in unserer heutigen Gesellschaft leben. Frauen und Männer, die altersbedingt nicht mehr mithalten können im Wettbewerb der Leistungsstärksten, der Schnellsten, der Flexibelsten und der Anpassungswilligsten, sind häufig erheblichen sozialen Verletzungen ausgesetzt, beispielsweise in der Familie. In besonderem Maß gilt dies für das »Vierte Alter«, die Hochaltrigkeit. Diese soziologische Perspektive mit ihrem ziemlich düsteren Bild macht deutlich, dass Leben und Erleben des Älterwerdens keineswegs nur eine Frage des Ausgeliefertseins an biologische Alterungsprozesse ist, sondern in hohem Maße durch die Wechselbeziehung zwischen dem alten Menschen und seiner sozialen Umwelt mitbestimmt wird. Und was hat der Altersdiskurs dem als positiven Impuls entgegenzusetzen? Alte Menschen sind in besonderem Maße theoriefähig; denn zum Alter gehört – mindestens – das Ende jener Illusionen, die durch Zukunftskonformismen entstehen […]. Der Tod ist jene Zukunft, die besiegelt, dass wir keine Zukunft mehr haben […]. Die Bestechlichkeit nimmt mit zunehmendem Alter ab, weil wir immer weniger Zukunft haben und schließlich an jenem Ende sind, das kein Ziel hat: dem Tod.6

5

Dieter Hildebrandt, zit. nach: Astrid Nourney: Zu alt? Abgelehnt! Berichte

6

Odo Marquard: Philosophie des Stattdessen, Stuttgart 2000, S. 138.

aus Deutschland über das Älterwerden, Bremen 2006, S. 49.

8. M ÖGLICHKEITEN

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Theorie will hier dem ursprünglichen Wortsinn gemäß heißen: »Sehen und sagen, wie es ist«. Man muss im Alter nicht mehr den Mut haben, gegen den Strom zu schwimmen, es bleibt einem aber auch nicht mehr genug Zukunft, um selbst niedergetreten werden zu können. In den Textanalysen dieser Arbeit ging es nicht um Strukturen, Handlungsspielräume und Lebensbedingungen im weiblichen Alter, sondern »nur um alte Leute, von denen die Dichter erzählen, deren Handlungen und Charaktere oftmals wie ein wunderliches Gemisch aus Weisheit und Torheit erscheinen«.7 Schon 1903 schrieb Hedwig Dohm: Höre, alte Frau, was eine andere alte Frau dir sagt: Stemme dich an! Habe Mut zum Leben! Denke keinen Augenblick an dein Alter […]. Wenn ihr Lust und Kraft dazu habt, so radelt, reitet, schwimmt, entdeckt auf Reisen neue Schönheiten, neue Welten […]. Laßt euer weißes Haar, wenn ihr es habt und es euch bequem ist, frei um das Haupt wallen. Mischt euch unter die Lernenden […]. Man hat euch die Zaubersprüche nicht gelehrt, mit denen man diese Schätze hebt? Ja: das ists.8

Das Bild des offenen weißen Haares alter Frauen taucht in der bildenden Kunst bereits um 1500 auf, allerdings ist es immer verbunden mit altershässlichen weiblichen Körpern.9

7

Pott: Eigensinn des Alters, S. 175.

8

Hedwig Dohm: Die alte Frau, in: Gisela Brinker-Gabler (Hg): Zur Psycho-

9

Andrea von Hülsen-Esch beschreibt die Federzeichnung einer alten Frau

logie der Frau, Frankfurt a.M. 1979, S. 210-220, hier 218f. mit langem weißen Haar, die im Jahr 1518 entstand: »eine Aktfigur, deren Körper mit den markant hervorspringenden Gelenken, den typischen Hängebrüsten, dem erschlafften Bauchgewebe und den hervortretenden Sehnen und Adern an den Gliedmaßen deutliche Altersmerkmale aufweist« (Andrea von Hülsen-Esch: Falten, Sehnen, Knochen, in: Herwig (Hg): Alterskonzepte, S. 13-43, hier: S. 30).

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Viele Träume und Utopien von Hedwig Dohm sind mittlerweile Realität geworden, wenn man die Hochaltrigkeit mit den damit verbundenen pathologischen Befunden außer Acht lässt. Die älteren Frauen von heute tragen, unabhängig vom biologischen Alter, die Kleider, Röcke, Hosen und T-Shirts, die ihnen gefallen. Sie schwimmen, radeln, turnen, reisen um die Welt, lernen Sprachen, musizieren und leben ihre Sexualität. Zahlreiche Rahmenbedingungen im privaten und öffentlichen Bereich, die Hedwig Dohm als Korsett empfunden hat, haben sich im Lauf des 20. Jahrhunderts in einem positiven Sinn gewandelt, beispielsweise der Zugang zu Bildung und beruflicher Karriere. Einige der tief in der Gesellschaft verankerten Normen, Werte, Verhaltensansprüche sowie Moralvorschriften konnten überwunden werden und das hat dazu beigetragen, dass die Lebensqualität für viele alte Frauen gestiegen ist und sich die Gestaltungsräume in vielen Bereichen erweitert haben. Trotzdem werden auch heute noch zu viele alte Frauen über einen männlichen Blick definiert und Simone de Beauvoir hat zu oft recht: Weil es das Los der Frau ist, in den Augen der Männer Objekt der Erotik zu sein, verliert sie, alt und hässlich geworden, den ihr in der Gesellschaft zugewiesenen Platz: sie wird ein Monstrum, das Widerwillen und sogar Furcht erregt.10

Besonders deutlich wird dieser Aspekt in den Pflegeheimromanen, wo viele alte Frauenfiguren einsam, krank und von ihren Familien verlassen leben. Doch dazu bietet die Literatur auch Gegendiskurse an, die diese Stereotypen unterlaufen.11 Auch die Altersrepräsentationen unserer Zeit bieten ein positiveres Bild als das, welches Simone de Beauvoir entwirft. Womit lassen sich die Wandlungen im anthropologischen Diskurs von damals bis zum 21.

10 Beauvoir: Das Alter, S. 17. 11 Vgl. Herwig: Alte und junge Paare im Pflegeheimroman der Gegenwart, in: Dies. (Hg): Merkwürdige Alte, S. 229-249.

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Jahrhundert begründen? Margarete Mitscherlich sieht die Ursachen vor allem in den Entdeckungen Freuds, die einen entscheidenden Umschwung im Diskurs des Alters angestoßen und bewirkt haben. Die Psychoanalyse zeigte das bisher unbekannte Unbewusste, das zur Konstitution der Persönlichkeit unabdingbar war. Durch die Akzentuierung des Unbewussten eröffneten sich Räume für Phantasien, die Zeiten überwinden und damit radikales Denken im Alter fördern. Margarete Mitscherlich knüpft in ihrer Autobiographie über das Alter an diesen Aspekt an: Der Mensch hat aber eine großartige Möglichkeit, Zeit zu überwinden, er kann mit seinen Gedanken und Phantasien in der Vergangenheit sein, sie mit der Gegenwart verbinden, die Zukunft ausbauen – je nach Lust und Laune und Vorstellungsvermögen –, er kann nicht nur die Grenzen von Zeit und Raum auf diese Weise überwinden, er kann jederzeit aus sich eine andere Person machen – seiner Phantasie sind bekanntlich keine Grenzen gesetzt.12

Mitscherlich erkennt vor allem für das weibliche Alter kreative Potentiale: Im schöpferischen Akt erfährt sie als Frau im Alter Genuss und Zufriedenheit. Wenn man wie ich 93 Jahre alt ist, ist die Realität des Alters äußerst mühsam. Der Körper, der sich – wie der meine – durchaus daran erinnert, dass Gehen ein großes Vergnügen machen kann, ist jetzt wie ein schwerer Klotz, den man nur mit vielen guten Worten in Bewegung zu setzen vermag [...]. Nach dem Aufwachen bleibe ich gern noch eine halbe Stunde im Bett – es ist eine sehr angenehme halbe Stunde: Mein Körper ist warm, entspannt, ich spüre ihn als etwas, was mit sich in Einklang ist und mich völlig in Ruhe lässt. So gut wie in dieser ersten halben Stunde gelingt es mir sonst nie, interessante Gespräche mit mei-

12 Margarete Mitscherlich: Die Radikalität des Alters, Frankfurt a.M. 2010, S. 237.

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nem Hirn zu führen und mein Ich – befreit von der Last des Körpers – von Thema zu Thema wandern zu lassen, wie es ihm gerade in den Sinn kommt.13

Auf diese Art Altersradikalität zu leben, macht sie glücklich und lässt die physischen Mängeln in den Hintergrund treten; die Lust am Denken kreiert »festliche Augenblicke«14, die es zu erkennen und zu genießen gilt. Auch die alte Frauenfigur Gulja aus der gleichnamigen Erzählung von Ulickaja erlebt »festliche Augenblicke«, allerdings erotisch konnotiert. Die Möglichkeiten weiblichen Alterserlebens sind vielfältig, auch wenn wie in diesen Fällen nur die positiven Seiten in Betracht gezogen werden. Mitscherlich postuliert Alter als Gelehrtentraum und beruft sich auf Goethe: Wer sich von 3000 Jahren

Nicht weiß Rechenschaft zu geben

Bleibt im Dunkeln, unerfahren

Mag von Tag zu Tage leben.15

Diese inszenierte Altersradikalität kann nur da gelingen, wo die alten Frauen ihre geistigen Kräfte vollends bewahren konnten, und schließt alle anderen, bei denen das nicht der Fall ist, völlig aus. Margarete Mitscherlich geht kaum auf das soziale Miteinander im Alter ein: Sie sagt nichts über Kontakte mit Gleichaltrigen oder über familiäre Bindungen über die Altersgrenzen hinaus, wobei gerade diese Aspekte Zufriedenheit und Wohlbefinden im Alter erhöhen. Denn soziales Miteinander und Verantwortung haben bereits die alten Frauenfiguren vor hundert Jahren zum Handeln motiviert: Varja ignoriert die Demütigungen ihres Mannes, um ihn dazu zu bringen, für die Tochter eine lohnenswerte Zukunft zu gestalten. Die Generalin überwindet gesellschaftlich gesetzte Grenzen, um die Familie zusammenzuhalten. Und selbst die egozentrische Jenny Treibel engagiert sich

13 Ebd., S. 238. 14 Ebd., S. 239. 15 Ebd.

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für das Wohlergehen ihrer Söhne, mögen auch Weg und Ziel in den Augen des Dichters die falschen sein. Arina umsorgt ihren Sohn, der als Nihilist einen für sie ganz und gar fremden Lebensweg eingeschlagen hat, mit großer Fürsorge und Zärtlichkeit. Alle alten Figuren, die eine Familie haben, identifizieren sich mit ihrer Mutterrolle, die sie ein Leben lang begleitet. Und gerade das macht ihre Zufriedenheit und vielleicht auch ihr Glück aus. Aber auch all die alten Frauenfiguren, die keine direkten Nachkommen haben und Mutterschaft nie erlebt haben, wie Malwine, Agnes, Frau Nimptsch oder Frau Margret, sind eingebunden in ein für sie lebenswichtiges soziales Gefüge, das ihnen Sicherheit gibt, oder man könnte auch sagen, dass diese Gebundenheit ihrer Identität einen Namen verleiht: Mutter Nimptsch ist die Pflegemutter von Lene, und Agnes lebt in der Verantwortung für das Wohl des Malers Hans Grill. Heutzutage gilt diese Situation des Einklangs und des Friedens mit der folgenden Generation als Ausnahme in den Altersbildern. Streit, Missgunst, nicht erreichte Erwartungen, tiefe Enttäuschungen bestimmen die Generationsbeziehungen. Es ist fraglich, ob die Bildung, die inzwischen viele alte Frauen besitzen, wirklich zum Wohlbefinden im Alter beiträgt, wie es Margarete Mitscherlich für sich erlebt: Sie kompensiert damit Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit, und ich wage die Behauptung, dass das nicht vielen alten Frauen gelingt. Die Bildung, dreitausend Jahre zu überblicken und gedanklich zu durchdringen, haben vielleicht die Intellektuellen unter den alten Frauen; den alten Frauenfiguren um 1900 fehlen dazu die Kompetenzen und doch haben sie der radikalen alten Frau Mitscherlich eines voraus: Keine von ihnen ist allein. Auch wenn es keine Familie gibt wie im Fall von Malwine Bork, ist sie doch in ein gesellschaftliches Ganzes eingebettet, das sie trägt und sie akzeptiert. Frau Margret hat einen großen Kreis von Bewunderern, Günstlingen und vielleicht auch Opportunisten um sich geschart und sie genießt ihre zentrale Position. Jede menschliche Situation kann von außen betrachtet werden – so wie sie sich anderen darstellt –, und von innen her, so wie der einzelne sie aufnimmt, indem

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er sie durchlebt. Für die anderen ist der alte Mensch Gegenstand eines Wissens; er selbst jedoch hat über seinen Zustand eine erlebte Erfahrung.16

Das ist es, was die Dichter von den alten Frauen erzählen: Sie erzählen vom veränderbaren Menschen, der von keiner Statistik erfasst wird. Insbesondere unter dem Gesichtspunkt des zukünftigen Wachstums der Altersbevölkerung, vor allem der weiblichen, ist dies ein wichtiger Aspekt zukünftiger Alterskonzepte. Entscheidend ist, dass nicht von einem fertigen Menschenbild ausgegangen wird, wie er zu sein hat, […] sondern dass der Entwurfscharakter des Menschen und seine Sinnpraxis betont werden. Das bedeutet, dass der Mensch als Möglichkeit […] existiert und nicht durch genetische und soziale Codes vollständig determiniert ist. Die Möglichkeiten nehmen keineswegs ab, wenn der Mensch älter wird […]. Zu seinen wichtigsten Vermögen gehört ein beständiger Sichtwandel.17

Die unterschiedlichen Gesichtspunkte, unter denen ich die alten Frauenfiguren betrachtet habe, belegen den Perspektivwechsel, der im Alter möglich wird: Die Babulja heißt die Enkelin herzlich willkommen, obgleich diese einen ganz eigenen Weg gegangen ist, und zwar ohne den Segen der Großmutter. Und die Generalin ist sich nicht zu schade, die schöne Ehebrecherin zu beraten, der sie zunächst nur ausweichen wollte. Die alte Olenka wird zur Mutter eines kleinen Jungen und dadurch für alle wieder jung. Unsere heutige rastlose Gesellschaft, die sich gern von Klischees und Stereotypen blenden lässt, täte gut daran, diesen längst vergangenen erfundenen Schicksalen noch mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Selbst dort, wo sie auf tradierte Darstellungsmuster zurückgreifen, haben die Künste die Möglichkeit der Umdeutung von Topoi, der Individualisierung von

16 Beauvoir: Das Alter, S. 12. 17 Pott: Eigensinn des Alters, S. 188.

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Lebensentwürfen und der spielerischen Erprobung neuer Lebensmodelle. Mit der damit verbundenen Differenzierung und Pluralisierung von Altersbildern tragen sie maßgeblich zur Entwicklung einer neuen Kultur des Alter(n)s bei.18

18 Herwig: Für eine neue Kultur der Integration des Alters, S. 19.

9. Schlussbetrachtung

»Alt sein, Frau sein, eine alte Frau sein.« So lautet der Untertitel von Gramshammer-Hohls Dissertation über alte Frauenfiguren in der spätsowjetischen Literatur. Auch die in dieser Arbeit skizzierten Figuren könnten unter diese Überschrift gestellt werden. Alt sein ist kein genderkonnotierter Begriff, erst die Ergänzung durch das Nomen »Frau« macht ihn dazu. Die Distinktion zum männlichen Geschlecht spielte in dieser Arbeit lediglich eine Nebenrolle. Vielmehr ging es um Distinktionen und Parallelen in der Darstellung des weiblichen Geschlechts aus unterschiedlichen Gesellschafts- und Kulturkreisen. Dabei stellte sich heraus, dass Alter und Altern von Frauenfiguren hinsichtlich der physischen Veränderungen, die das Alter mit sich bringt, vergleichbar beschrieben wird: Alte Frauen werden korpulent und unbeweglich wie die Babulja, Jenny Treibel, Varja oder die Großmutter Wardein. In den Gesichtern zeigen sich Zeichen von Vermännlichung, was auf Malwine Bork ebenso zutrifft wie auf Agnes. Von den männlichen Figuren werden ihnen Hässlichkeit und fehlende erotische Ausstrahlung attestiert, wie der alte Professor ebenso wie der Kommerzienrat Treibel wiederholt belegen. Sowohl die Babulja als auch Frau Margret und Arina Basarova tragen altertümliche Kleidung, andere legen überhaupt keinen Wert mehr auf ihre äußere Erscheinung, wie es beispielsweise bei Varja der Fall ist. Auch körperliche Schwächen und Krankheiten gehören zum Bild der alten Frau, etwa bei Mutter Nimptsch und Großmutter Wardein.

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Dieser körperliche Reduktionsprozess betrifft jede alte Frauenfigur, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägt. Allerdings werden davon ebenfalls die männlichen Figuren heimgesucht, wie an den Beispielen von Professor Stepanyč, Bothos Onkel Osten und Vater Jakoblein deutlich wird. Was die Frauenfiguren vor den männlichen Figuren auszeichnet und sie auch untereinander unterscheidet, ist ihre psychische Verfassung. Keine ist in Geist und Seele so alt geworden wie etwa der Professor in der »Langweiligen Geschichte«. Die Gedanken und Gefühle der Frauen werden auch im Alter noch als veränderbar dargestellt und damit wird allen Klischees zum weiblichen Alter widersprochen. In zahlreichen Variationen finden sich Konzepte von weiblichem Alter, welche jede einzelne Figur unverwechselbar macht: So lebt Malwine in der Kunstwelt der Literatur, und Frau Margret beschäftigt sich bis zu ihrem Tod intensiv mit der Vermehrung ihres Vermögens. In die fiktiven Welten dieser alten Frauenfiguren passen auch noch Veränderungen, beispielsweise wenn Varja erstmals aktiv die Zukunft ihrer Kinder plant oder die Generalin vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben gesellschaftliche Regeln missachtet, um menschlich handeln zu können. Sofern die Analysen auch Einblicke in die Frauenleben vor dem Altwerden zuließen, zeigte sich, dass das Alter als eine durchaus reiche Lebensphase gesehen werden kann: Vor dem Altern sind viele verschiedene Leben geführt worden: Leben als junge Frau, Leben als Braut und als Witwe, Leben als junge Mutter und auch Leben als Mutter, die ihr Kind nicht mehr verstehen, sondern nur noch lieben kann. Dies gilt für Figuren Arina und das »Herzchen« ebenso wie für die Figur Frau Margret und mit Einschränkungen für die Figur Jenny Treibel. In der Regel ist dann das Altern kein Prozess mehr, der eine Persönlichkeit reduziert, sondern das Altersleben ist vielfach angereichert durch die Menge von Leben, die gelebt worden ist. Es könnte sein, dass Alt sein und Alt werden zu Unrecht auf der Negativseite eines Frauenlebens platziert werden. Stereotyp betrachtet wird das weibliche Alter gleichgesetzt mit Vereinzelung, Einsamkeit und fehlender Dynamik. Dagegen zeigt die Literatur Vervielfältigung

9. S CHLUSSBETRACHTUNG

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und Veränderung, die mit dem Altern einhergehen: Je älter der Mensch wird, desto mehr Leben hat er bereits gelebt, er ist im wahren Sinn des Wortes reich an Leben. Und noch einen weiteren Aspekt eines Lebenslaufs macht die Literatur deutlich: Menschliche Gefühle sind nicht so langlebig wie der Mensch. Da sie keinen direkten Bezug zur Zeit und zum Kalender haben, können sie immer wieder neu und differenziert entstehen, den Menschen bereichern und ihn niemals alt werden lassen.

Siglenverzeichnis

BR Anton Čechov: Die Braut, in: Ders.: Die Dame mit dem Hündchen, übers. v. Gerhard Dick und Hertha von Schulz, hg. v. Peter Urban, Zürich 1976, S. 351-374. GH Gottfried Keller: Der grüne Heinrich, erster und zweiter Band, in: Ders.: Sämtliche Werke, Historisch-Kritische Ausgabe, hg. v. Walter Morgenthaler, Band 1 Zürich 2006, Erster Band, S.9-219. H Anton Čechov: Herzchen, in: Ders.: Die Dame mit dem Hündchen, übers. v. Gerhard Dick und Hertha von Schulz, hg. v. Peter Urban, Zürich 1976, S. 194-205. IW Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen, Roman, in: Ders.: Das erzählerische Werk, Große Brandenburger Ausgabe, hg. v. Karen Bauer, Bd. 10, Berlin 1997. JT Theodor Fontane: Frau Jenny Treibel oder »Wo sich Herz zum Herzen find’t«, in: Ders.: Das erzählerische Werk, Große Brandenburger Ausgabe, hg. v. Gotthard Erler, Bd. 14, Berlin 2005, S.5-223. LG Anton Čechov: Eine langweilige Geschichte, in: Ders.: Kleine Romane I, übers. v. Ada Knipper und Gerhard Dick, hg. v. Peter Urban, Zürich 1976, S. 7-82. VS Iwan S. Turgenjew: Väter und Söhne, übers. v. Annelore Nitschke, Düsseldorf 2008. WE Eduard v. Keyserling: Wellen, Roman, München 2004.

Literaturverzeichnis

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Literaturwissenschaft Stephanie Bung, Jenny Schrödl (Hg.)

Phänomen Hörbuch Interdisziplinäre Perspektiven und medialer Wandel 2016, 228 S., kart., Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3438-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3438-3

Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.)

Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt 2016, 318 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3266-8 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3266-2

Stefan Hajduk

Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit 2016, 516 S., kart. 44,99 E (DE), 978-3-8376-3433-4 E-Book PDF: 44,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3433-8

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Literaturwissenschaft Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.)

Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 S., kart. 39,99 E (DE), 978-3-8376-3078-7 E-Book PDF: 39,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3078-1

Tanja Pröbstl

Zerstörte Sprache — gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen 2015, 300 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3179-1 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3179-5

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7. Jahrgang, 2016, Heft 2: Transiträume 2016, 220 S., kart. 12,80 E (DE), 978-3-8376-3567-6 E-Book PDF: 12,80 E (DE), ISBN 978-3-8394-3567-0

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