Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste: Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich 3787316981, 9783787316984

Gert Mattenklott ( 21. Januar 1942 in Oranienburg; 3. Oktober 2009 in Berlin) war ein deutscher Komparatist, Kunstphilos

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Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste: Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich
 3787316981, 9783787316984

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Meiner

Gert Mattenklott (Hg.)

Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich

Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich

Sonderheft des Jahrgangs 2004 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Herausgegeben von gert mattenklott

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Im Felix Meiner Verlag erscheinen folgende Zeitschriften und Jahrbücher: - Archiv für Begriffsgeschichte - Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft - Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte - Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie - Hegel-Studien - Phänomenologische Forschungen Ausführliche Informationen finden Sie im Internet unter www.meiner.de.

Zuletzt erschienen als Sonderhefte der ZÄK: Ursula Franke (Hg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks (Jg. 2000) Rudolf Behrens (Hg.): Ordnungen des Imaginären (Jg. 2002) Ursula Franke / Josef Früchtl (Hg.): Kunst und Demokratie (Jg. 2003)

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.ddb.de › abrufbar.

Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Sonderheft · ISBN 3-7873-1698-1 · ISSN 1439-5886 Felix Meiner Verlag 2004. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

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INHA LT

Vorwort. Von Gert Mattenklott ...................................................................

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i. epistemische erfahrungsformen Bernd Blaschke: Ästhetik und Ideologie – Zur Kritik ästhetischer Erfahrung als epistemischer bei Adorno und Paul de Man ..........................................

1

Helmut Pape: Kreative Interpretationen – Denkerfahrung und die Identität abstrakter Gegenstände ................................................................

19

Matthias Jung: Qualitative Erfahrung in Alltag, Kunst und Religion ............

31

ii. ästhetische erfahrung Arbogast Schmitt: Die Entgrenzung der Künste durch ihre Ästhetisierung bei Baumgarten .........................................................................................

55

Martin Seel: Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung – Fünf Thesen .....

73

Michael Lüthy: ›Sehen‹ contra ›Erkennen‹ – »Die Erschießung Kaiser Maximilians« und »Die Eisenbahn« von Edouard Manet ...................

83

Herbert Molderings: Ästhetik des Möglichen – Zur Erfindungsgeschichte der Readymades Marcel Duchamps ...........................................................

103

Brigitte Obermayr: Erfahrungen der Leere – Der Status der Leerstelle in der ästhetischen Text-Erfahrung .............................................................

137

Friedrich Geiger: ›Katzenmusik‹ – Zur ästhetischen Erfahrung kompositorischer Innovation .....................................................................

155

iii. relig iöse erfahrung Renate Schlesier: Künstlerische Kreation und religiöse Erfahrung – Verwendungsgeschichtliche Anmerkungen zum Begriff der Inspiration ......

177

Martin Vöhler: Dichtung als Begeisterungserfahrung – Zur Konzeption des Platonischen »Ion« ....................................................................................

195

IV

Inhalt

Angelika Malinar: Körper-Theater und Selbst-Erkenntnis – Konzepte von Erfahrung in der indischen Philosophie ...............................

211

Alois Hahn: Verantwortung im Kontext von Religion und Kunst ...............

233

Werner Busch: Caspar David Friedrich und Friedrich Schleiermacher ..........

255

Anschriften der Autoren ............................................................................

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VORWO RT

Glauben, Wissen und ästhetische Erfahrung stehen in der abendländischen Tradition seit jeher in einem triangulären Verhältnis. Ihre systematische Beziehung zueinander tritt allerdings mit jeder historischen Epoche in eine andere Konstellation. Anders bedeutet nicht immer neu, wie einige Beiträge dieses Bandes zeigen. Vielmehr scheint es, daß die meisten Begriffe und Vorstellungsinhalte, ja selbst die argumentativen Grundmuster bereits in Dichtung und Philosophie der griechischen Antike von Homer (Renate Schlesier) über Plato (Schlesier, Martin Vöhler) bis Aristoteles (Arbogast Schmitt) zur Sprache gekommen sind. In welchem Verhältnis stehen Enthusiasmus, Intuition und schöpferische Produktivität von Künstlern und ihren Verehrern auf der einen Seite, von methodischer Ordnung, Wissen und handwerklicher Tradition auf der anderen? Soll man religiöse Inspiration, wissenschaftliche Bildung und ästhetische Erfahrung als komplementäre Zweige verstehen, »auf einen Baum der Erkenntnis geimpfet«, wie Jean Paul sagen würde, sind sie hierarchisch angeordnet oder schließen sie einander aus? Sind Religion, Wissenschaft und Kunst überhaupt so sauber voneinander zu scheiden, wie diese Begriffe es suggerieren, oder ist diese Begriffsbildung nicht selbst bereits eine Reaktion des wissenschaftlichen Geistes auf Formen der Wahrnehmung und des Wissens, gegen die er sich selbst abzugrenzen Bedürfnis und Notwendigkeit verspürt? Es sind sämtlich Fragen, so lassen die Aufsätze dieses Bandes zu Texten der alten Welt erkennen, die bereits in der Homerischen Epik anklingen und vorbereitet werden, bei Plato im Spektrum seines Gesamtwerks entfaltet und von Aristoteles Stellung nehmend beantwortet werden. Bis ins 18. Jahrhundert begünstigen diese Antworten bekanntlich Religion und Wissenschaft auf die eine oder andere Weise, ehe Baumgarten in einem ersten Versuch, die wissenschaftliche Ratio als eine Erkenntnisform sui generis gegenüber anderen abzugrenzen, auch den Sinnen eine selbständige Funktion für die Erkenntnis des Wahren zubilligt. Damit steht er am Beginn der klassischen Ästhetik und deren Bemühen, diese Aufwertung der sinnlichen Vermögen in eine Philosophie autonomer Kunst zu überführen, die zumindest zeitweilig und unter gewissen Umständen ein originäres Verhältnis zur Wahrheit unterhält. Das Symposion über »Erfahrungsformen im Vergleich«, für das die Beiträge dieses Bandes verfaßt worden sind (die Aufsätze von Angelika Malinar und Vöhler nachträglich), hatte nicht den Zweck, diese Geschichte und ihren antiken Vorlauf noch einmal nachzuzeichnen oder neu zu bebildern. So war denn auch die für diesen Band übernommene Dreigliederung den Beiträgern nicht als eine stabile Systematik vorgegeben, sondern im Sinn einer heuristischen Frage vorgelegt worden. Das entspricht dem Selbstverständnis des Sonderforschungsbereichs, in dessen institutionellem Zusammenhang das Symposion und diese Publikation konzipiert

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worden sind. Sein Interesse ist nicht vorrangig historiographisch und systematisch nur in dem Sinne, daß selbst die überkommenen Grundbegriffe einer solchen Systematik aus Epistemologie, Ästhetik und Theologie zur Überprüfung anstehen. Deren Fluchtpunkt ist durch die aktuelle Situation vorgegeben, in welcher sich die Künste und ihre traditionellen Reflexionsformen in Kritik, Wissenschaft und philosophischer Ästhetik vorerst noch schwer überschaubar und unübersichtlich entgrenzt, verwandelt und neu bestimmt finden. Freilich zeigt sich auch sogleich schon, mit welcher Vorsicht diese Diagnose für jeden einzelnen der genannten Begriffe zu stellen ist. Bezieht man etwa »Entgrenzung« auf das Verhältnis der Künste zueinander, so scheint die Schleifung von deren Grenzen kein Resultat neuerer Medienentwicklung zu sein, wie es bereits Adornos Feststellung einer »Verfransung« für die Künste der Avantgarden nach 1900 und deren Nachfolger nahe gelegt hatte. Im vorliegenden Band spricht Martin Seel davon, daß es »klare Grenzen zwischen den Künsten nicht gibt und nie gab«, so daß das Neue in diesem Fall allenfalls darin bestehe, daß die je besonderen Beziehungen der einzelnen Künste zueinander »gleichsam beim Wort genommen und öffentlich gemacht« würden. – Will man »Entgrenzung« statt dessen auf jene Einebnung der ästhetischen Differenz zwischen Kunst und Nichtkunst beziehen, wie sie sich seit der Frühromantik über Duchamp bis zu dessen verspäteter Rezeption in der postmodernen Rezeption französischer Kunstphilosophie vollzieht, so gerät die Begriffsbildung auch hier schnell in heftige Turbulenzen. Alois Hahn bemerkt im Anschluß an Schulz-Buschhaus zwar die gemeinsame polemische Front von Marinetti und D’Annunzio gegen die Kunstautonomie der l’art pour l’art-Doktrin zugunsten eines politischen Aktionismus; andererseits würde auch diese Form von Transgression einem nicht politischen, sondern ästhetischen Zwang zur Überbietung unterliegen. Tatsächlich liefert dafür die Textgeschichte des Manifestismus reichlich Beispiele. Bereits für Duchamp scheint nicht zu gelten, worauf ihn der populärste Strang seiner Wirkungsgeschichte festlegen will, die polemische Entgrenzung des Kunstbegriffs auf Kosten der traditionellen Kunsteliten und zugunsten einer anything goes-Ästhetisierung der Lebenswelt. Die Auswertung des Kontextes der Readymades von Duchamp aus dessen Notizheften und Selbstdeutungen, wie Herbert Molderings sie hier vorführt, bestätigt zwar den Entgrenzungsbegriff, entzieht aber dessen Postmodernisierung zumindest für den Kunstrevolutionär Duchamp den Boden. Die ebenso obsessive wie ironische Verknüpfung der eigenen Produktion mit Spekulationen über die sinnliche Repräsentation einer vierten Dimension der Dingwelt im Anschluß an mathematische Theorien will den ästhetischen Spielraum für Möglichkeiten aller Art erweitern, ohne deshalb die Vorstellung des Werks preiszugeben; in der Frage zugespitzt: »Peut-on faire des œuvres, qui ne soient pas l’art?« Ironie und Humor sowie das Spiel mit der Narrenkappe sieht Molderings bei Duchamp als Sperre gegen ein Anlegen eines ausschließlich epistemologischen Wahrheitsanspruchs an derartige Werke: vom Autor dieses Beitrags mit deutlicher Sympathie konstatiert.

Vorwort

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Wollte man einen roten Faden durch die teils allgemein kritischen und programmatischen, teils kasuistisch argumentierenden Beiträge dieses Bandes ziehen, so läßt er sich an die Frage knüpfen, ob es einen wesentlichen Sinn ästhetischer Erfahrung sui generis gibt, unabhängig von gnoseologischen Leistungen oder kryptotheologischen Funktionen. Die Antworten im epistemologisch argumentierenden Teil I dieses Bandes sind erst einmal kritisch formuliert: Bernd Blaschke gegenüber Ideologiekritik älterer und neuerer Provenienz sowie der Frankfurter Schule. Einen konzeptiven Anspruch darüber hinaus erhebt: Pape, indem er die formalen Bedingungen interpretierender Rede skizziert, die ihre eigene Rationalität nicht mit derjenigen ihres Objekts verwechselt; Matthias Jung indem er emphatisch an John Dewey erinnert. Wo Antworten exemplarisch angelegt sind, wie etwa bei Michael Lüthy über Manet und Brigitte Obermayr über Nikolaj Gogols »Mantel«-Erzählung im II. Teil, bestätigt sich die Ausgangsvermutung, daß unsere trianguläre Systematik höchst fragwürdig ist. Wenn Lüthy bei Manet eine Reaktion auf das »Unanschaulichwerden der Geschichte« konstatiert, ein Durchlöchern des epistemischen Diskurses, in dessen Kontext das überkommene Historienbild steht, so stiftet doch sein berühmtes Gemälde über »Die Erschießung Kaiser Maximilians« seinerseits eine durchaus epistemologisch konturierbare Einsicht in die Krise dieses Genres, die Manet als eine solche bewußt werden läßt. Das gilt ähnlich über die Studie von Obermayr, die – wie auch Lüthy – an Wolfgang Isers Erzähltheorie anknüpft. Die analysierten Werke verweigern hier zwar ostentativ die Mimesis epistemischer Erkenntnis, appellieren aber durch ihre Kunstmittel, wie den unendlichen Aufschub von Zeichen und Sinn oder die Perforierung von Diskursen an einen erkennenden Leser. – Friedrich Geiger, der seine Betrachtung der ästhetischen Erfahrung musikalischer Innovation widmet, verkehrt die Blickrichtung. Statt von der Hypothese einer ästhetischen Erfahrung sui generis ausgehend nach deren Verhältnis zum erkennenden Begriff zu fragen, beschreibt er, wie gewisse ideologiehaltige Redeweisen (»Katzenmusik«) die ästhetische Erfahrung von Innovationen kanalisieren, wenn nicht überhaupt blockieren. Damit ist das Verhältnis ästhetischer Erfahrung zu den Sprachen, in denen sie sich bekundet (oder durch die sie blockiert wird), angeschnitten, ein Thema, das einer ausführlicheren Bearbeitung harrt. Das gilt in einem viel weiter reichenden Sinn auch für die Thematik des Beitrags von Angelika Malinar, dem einzigen dieses Bandes, der sich auf eine außereuropäische Kultur bezieht und damit die Grenzen von Blickwinkel und Argumenten nicht nur des hier dokumentierten Symposions, sondern der Arbeit des Sonderforschungsbereichs »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« generell verdeutlicht. Inwieweit ästhetische Erfahrungen bereits auch in der Vergangenheit schon immer wieder, erst recht aber in unserer Gegenwart interkulturell entgrenzt und globalisiert werden, eröffnet als Frage ein neues Forschungsfeld. Am Schluß des Bandes steht eine Untersuchung, in der sich die begriffliche Trennschärfe der diversen Erfahrungsformen als nicht minder fragwürdig wie in den zuvor genannten Studien erweist, Werner Buschs Untersuchung von Caspar

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David Friedrichs Verhältnis zu Schleiermacher in der III. Abteilung dieses Bandes. Buschs Pointe bei seiner Deutung von Friedrichs »Mönch am Meer« und der »Abtei im Eichwald« bringt zwar die theologische Semantik von Friedrichs Bildern zum Vorschein, diese Theologie aber als »höhern Realismus« (Schleiermacher) einer Zeichenlehre geometrischer Formen, die nicht auf die ästhetische (parareligiöse) Überwältigung durch das Erhabene setzt, sondern auf die Erläuterung göttlicher Sinnhaftigkeit der Welt an den intellegibel geometrischen Formen der Natur. Unversehens blitzt damit an einem Beispiel des 19. Jahrhunderts auf, worauf Arbogast Schmitt am Schluß seines Beitrags hinweist: auf die Aktualität der Auffassungen des Aristoteles, der Dichtung einerseits zwar »von Formen einer epistemischen Rationalität« unterschieden sehen wollte, doch ohne andererseits die »Abstraktheit einer unmittelbaren Sinneserfahrung« dagegen auszuspielen. Statt dessen verfolge der Philosoph der alten Welt »das Konzept einer Rationalität, die dem Konkreten selbst immanent ist und in ihm und durch es dargestellt – und mitempfunden – werden kann.« Die Konzeption des Symposions »Erfahrungsformen im Vergleich« ist vom Sprecher des Sonderforschungsbereichs der DFG »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« Werner Busch in Beratung mit Erika Fischer-Lichte, Gertrud Koch, Michael Lüthy, Bernd Seidensticker und dem Herausgeber entwikkelt worden. Die redaktionelle Betreuung dieses Bandes hat Rainer Falk M.A. besorgt. Der Herausgeber dankt Marion Lauschke und Jens-Sören Mann vom Meiner Verlag für die zuverlässige Zusammenarbeit bei der Drucklegung. Gert Mattenklott

Ästhetik und Ideologie Zur Kritik ästhetischer Erfahrung als epistemischer bei Adorno und Paul de Man Von Bernd Blaschke

Dieser Essay analysiert und kritisiert in drei Schritten den Status von Wahrheitsansprüchen in Theorien der Kunst oder Literatur, um diese im vierten und letzten Schritt ganz zu verabschieden. Es geht um die Bezüge – oder genauer: Differenzen – von epistemischen Erfahrungen und ästhetischen Erfahrungen, von Wissen und Kunst, von Wahrheit und Schönheit. Man möge mir nachsehen, daß ich recht ausführlich (in den Abschnitten I–III) mit der philosophischen Abrißbirne unterwegs bin und dann nur recht knapp und ausblickshaft zu konstruktiveren Bestimmungen gelange. Zu Beginn mehrjähriger Forschungen zu den Grenzen ästhetischer Erfahrung mögen solche destruktiven Inventuren wichtiger Positionen legitim und nützlich sein. I. Schwierigkeiten mit Ideologiekritik An ihren begriffsgeschichtlichen Anfängen entstanden ›Ästhetik‹ und ›Ideologie‹ aus der gleichen philosophischen Denkbewegung. Baumgarten wertet um 1750 im Rahmen der Erkenntnistheorie die ›unteren‹, sinnlichen Erkenntnisvermögen auf. Ästhetik als philosophische Disziplin entspringt einem epistemischen Fragezusammenhang, dessen strikten leibfernen Rationalismus sie um sinnliche Komponenten der Wissensentstehung ergänzen will. Analogen Ursprungs ist der Begriff ›Ideologie‹ bei Destutt de Tracey in seinen Elements d’Idéologie (publiziert 1803 ff.). Die Idéologues wollen auf Basis von Condillacs Sensualismus alles Wissen aus den Sinnen ableiten. Künste spielen dabei am Rande eine Rolle als sinnliche Übungs- und Vermittlungsmedien des sinnenbasierten Wissens; besonders interessiert an einer didaktischen Rolle der Künste bei der Ausbildung von Sensibilität und Moral ist der Idéologue Degérando. Die traurige Karriere des Wortes ›Ideologie‹ als Schimpfwort hat Napoleon zu verantworten. Ehemals Parteigänger der epistemologischen und didaktischen Programmatik der Idéologues denunziert Napoleon diese in dem Moment als ›Schwätzer‹ und als realitätsfremde Luftschloßbauer, in dem sie sich als Republikaner gegen seine imperiale Politik aussprechen. Marx und alle weiteren Ideologiekritiker verwenden das Wort dann stets pejorativ im Sinne von ›falsches Bewußtsein‹. ›Ideologie‹ als affirmative Bezeichnung, gewissermaßen als kleine Schwester der Ästhetik in einer Familie sensualistischer Erkenntnistheorien, war damit gestorben. Nun konnten Ästhetik und die Künste selber unter Ideologieverdacht geraten. Seit dem

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2004 · © Felix Meiner Verlag · ISSN 1439-5886

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19. Jahrhundert müssen die Künste nicht mehr nur mit dem alten Vorwurf Platons leben, daß die Dichter ›lügen‹; nunmehr wird ihnen im Namen der Ideologiekritik Verschleierung häßlich ungerechter Wirklichkeiten, Vorspieglung vermeintlicher Freiheit und Vertuschung sozialer Funktionen vorgeworfen. Terry Eagletons großer Abriß der Geschichte der Ästhetiken in ihren je spezifischen ideologischen Kontexten und Verstrickungen ist der wohl umfassendste und auch smarteste, am wenigsten plump reduktionistische Versuch einer solchen Anwendung von Ideologiekritik auf Ästhetiken.1 Bevor ich die zwei meines Erachtens interessantesten Modelle neuerer ideologiekritischer Ästhetik diskutiere, möchte ich meine kritische, polemische Perspektive auf Ideologiekritik generell artikulieren. Für kritisches Denken – gegen Ideologiekritik, das ist der Impuls der am Anfang dieser Überlegungen stand. Wie ist mein Plädoyer für Kritik und für polemisches Argumentieren, aber gegen Ideologiekritik zu verstehen? Ideologiekritik ist nach den landläufigen Definitionen die Kritik an falschem Bewußtsein. Natürlich ist Ideologiekritik (am deutlichsten in ihren vulgären Formen) die Kritik am falschen Bewußtsein der anderen! Dummerweise im Besitz falschen Bewußtseins zu sein heißt aber mehr, als einfach nur einen falschen Gedanken oder einen unwahren Satz zu äußern. Gegen den einen oder anderen falschen Gedanken hilft einfache Kritik dieser speziellen falschen Gedanken. Ideologiekritik Terry Eagleton: Ästhetik – Die Geschichte ihrer Ideologie, Stuttgart und Weimar 1994. – Wolfgang Iser skizziert statt einer Anwendung von Ideologiekritik auf die Ästhetik ein Beerbungsverhältnis von Ideologie(n) und Ästhetik, bei dem letztere weitaus eleganter dasteht. Iser weist in seiner Analyse der gegenwärtigen Konjunktur des Ästhetischen darauf hin, daß die »Modellierungsoperationen des Ästhetischen und die von ihr bewirkte Ästhetisierung weiter Bereiche des Lebens« ein funktionales Äquivalent der ausgestorbenen Ideologien respektive der ›Großen Erzählungen‹ seien: »Im Gegensatz zur Ideologie ist die Modellierungsoperation des Ästhetischen am Ende eine angemessene Antwort auf die Herausforderung durch Offenheit. Denn Gestaltformierung ist ständiges Bearbeiten der natürlichen Gegebenheiten unserer Welt, die vom Verbund der körpernahen Sinne geleistet wird. Ein solches Modellieren schafft begrenzte Nahorientierung, der insofern die Offenheit eingezeichnet bleibt, als die hervorgebrachten Designs wieder zerfallen können, um ihrerseits wieder Material neuer Gestaltung zu werden. In diesem Prozeß bildet die Modellierungsoperation des Ästhetischen das Grundmuster gegenwärtiger Weltherstellung ab.« (Wolfgang Iser: Von der Gegenwärtigkeit des Ästhetischen, in: Dimensionen ästhetischer Erfahrung, hg. von Joachim Küpper und Christoph Menke, Frankfurt/M. 2003, 195 f.) Für meine Frage nach der epistemischen Fixierung der Theorien ästhetischer Erfahrung ist Isers Beerbung von Ideologie durch Ästhetik allerdings nicht recht anschlußfähig, da er die Funktion von Ideologien wie Ästhetik kaum auf Wahrheit bezieht, sondern eben nur auf ›Orientierung‹. Isers basales Interesse gilt der anthropologischen Funktion der Fiktionen, nicht der ästhetischen Erfahrung und auch nicht der philosophischen Leitgröße der Kognition. Vgl. dazu Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, Frankfurt/M. 1993, 23 und 282 ff. Grundsätzlich erscheint Isers Ersetzbarkeit von Ideologie durch Ästhetik in der systematischen Hinsicht von Funktionstrennungen freilich unterkomplex; Martin Seels Abgrenzungen des im engeren Sinne Ästhetischen gegenüber einer solch weiten Auffassung einer weltmodellierenden ›Aisthesis‹ liefert einen Einspruch gegen die Promotion der Ästhetik zur universalen, orientierenden Grundlagendisziplin, Luhmanns Theorie ausdifferenzierter Gesellschaften mit spezialisierten Funktionssystemen den anderen. 1

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zielt jedoch auf mehr als auf einzelne Irrtümer. Sie unterstellt dem Opfer ihrer Kritik, nicht nur einzelne falsche Meinungen zu haben. Sie unterstellt ihm eine falsche, unwahre Weltanschauung, eine systematisch verzerrte Wahrnehmung. Ihr Gegenstand oder Opfer habe ein falsches Bewußtsein als Totalität. Ideologie funktioniere demnach wie ein infektiöser Quellcode lauter notwendig falscher Einzelgedanken. Ideologiekritik unterstellt dem anderen, unbewußt verstrickt zu sein in ein Produktionssystem falscher Meinungen. Ideologiekritik ist demnach, böse formuliert, eine herablassende Form von Besserwisserei. Sie stellt sich in den Rücken des anderen und sagt: Ich sehe was, was Du nicht siehst, was Dich aber determiniert. Die feinere Art von Ideologiekritik weiß auch um die blinden Flecken im eigenen Blick. Diese selbstreflexive Art der Ideologiekritik, mit der wir es bei Adorno und de Man zu tun haben, weiß um die Standortabhängigkeit jedes Blicks und jedes Kritisierens. Sie verstrickt sich freilich, da sie von den Ansprüchen aufs große Ganze, auf Totalitätszusammenhänge nicht lassen will, in Aporien angesichts ihrer eigenen Beobachterposition. Bei Adorno führt das zur Frage, wie man angesichts eines totalen Verblendungszusammenhangs überhaupt noch einen kritischen Blick aufs schlimme Ganze werfen und artikulieren kann. Die Alternative zur Ideologiekritik ist nun keineswegs, daß man jede Meinung und jeden Gedanken gut oder akzeptabel finden muß. Die Alternative zu Ideologiekritik als einer Kritik an Weltanschauungssystemen ist die Kritik an einzelnen Ansichten oder Sätzen. Ihre Grundunterstellung ist das hermeneutische ›principle of charity‹: Der andere ist nicht doof, er wird die meisten Dinge, die er denkt und sagt, schon aus guten Gründen sagen. Ich kann die mir falsch scheinenden Äußerungen des anderen dann als solche kritisieren, ohne gleich eine systematische und totale Falschheit seiner Weltanschauung projizieren zu müssen. Ideologiekritik ist eine verschwörungstheoretisch veranlagte Hermeneutik des Verdachts. Kritik ist die konkrete argumentative Widerlegung bestimmter Sätze, nicht deren Explikation als Symptome eines großen falschen Ganzen. Ideologiekritik zielt auf totalitäre Weltanschauungen. Kritik auf den Widerstreit in Sachfragen. In den beiden folgenden Schritten werde ich zwei der gewiß klügsten und komplexesten Formen der Anwendung von Ideologiekritik auf Ästhetik kritisch skizzieren. Im letzten Schritt werde ich dann behaupten, daß Ästhetik in ihren meisten Ausprägungen und besonders bei ihren ideologiekritisch argumentierenden Vordenkern durch ihre Einbindung in Erkenntnistheorien viel zu einseitig auf epistemische Leistungen festgelegt wurde, um dem gerecht zu werden, was man seit Croce (1894), Dewey (1897) oder Jauß (1975)2 als ästhetische Erfahrung zu spezifizieren versucht. Ästhetik war in ihrem Ursprung eine Magd der wahrheitsfixierten Philosophie. Das mag mithin am deutschen Wort ›Wahrnehmung‹ liegen, das Zur Begriffsgeschichte von ›ästhetischer Erfahrung‹ vgl. den exzellenten und komparatistisch materialreichen Eintrag von Georg Maag in: Ästhetische Grundbegriffe, II, hg. von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart 1997, 260–275. 2

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allzu epistemisch klingt, auch wenn das Herkunftswörterbuch eine von ›Wahrheit‹ unterschiedene Etymologie anbietet. Gemäß Duden-Herkunftswörterbuch ist das deutsche Adjektiv wahr, von dem sich ›Wahrheit‹ herleitet, mit lateinisch ›verus‹ verwandt. Beide gehören im Sinne von ›vertrauenswert‹ zur indogermanischen Wurzel ›*uer‹ (›Gunst, Freundlichkeit erweisen‹). Das Wort ›Wahrnehmen‹ hingegen stamme vom germanischen Substantiv ›wara‹ (›Aufmerksamkeit, Acht, Obhut, Aufsicht‹). Man muß nun keineswegs heideggerianisch ursprungsverliebt sein, um ästhetische Erfahrungen und den Wert der Künste lieber auf ›Aufmerksamkeit‹ (für Erscheinungen, Formen und Präsenzen) zu gründen als auf ›vertrauenswerte‹ Wahrheiten, die man Kunstwerken zuschreibt.

II. Adorno: Kunst ist einziger Ort emphatischer Wahrheit und doch immer ideologisch »Durchaus unideologisch ist Kunst wohl überhaupt nicht möglich.«3 So steht es in Adornos Ästhetischer Theorie, der doch zugleich die schwere Aufgabe zufällt, Kunst als Statthalter der Wahrheit im vermeintlich totalen Verblendungszusammenhang aufzuweisen. Kunst steht für den negativen Dialektiker also irreduzibel und emphatisch auf beiden Seiten der Scheidelinie von wahrem und falschem Bewußtsein. Kunst verdankt gemäß Adorno diese ungemütliche Position ihrem Doppelcharakter als autonome Praxis, die sich der schlimmen Gesellschaft entgegensetzt und doch zugleich durch und durch ›fait social‹ ist.4 Verdeutlichen wir uns an der Frühen Einleitung in die Ästhetische Theorie, welche Geltungsansprüche Adorno der Kunst zuschreibt. Und beobachten wir zugleich, wie er dabei ästhetische Erfahrung als notwendig von Theorie geleitete und in Theorie mündende Praxis strikt auf epistemische Ansprüche vereidigt5: »Verstehen hat zu seiner Idee, daß man durch die volle Erfahrung des Kunstwerks hindurch seines Gehalts als eines Geistigen innewerde. […] Verstanden werden Kunstwerke erst, wo ihre Erfahrung die Alternative Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1970, 351. Ebd., 340: »Der Doppelcharakter von Kunst: der von Autonomie und fait social äußert sich stets wieder in handfesten Abhängigkeiten und Konflikten beider Sphären.« 5 Ebd., 515. Zum Wahrheitsgehalt von Kunstwerken und zur notwendigen Rolle der Philosophie, die entgegen allen Beteuerungen Adornos von den Artisten als unersetzlichen Statthaltern doch (wie schon Rüdiger Bubner scharfsinnig darlegte) als Vordenkerin und Richterin des geschichtsphilosophisch Angesagten der Kunst ihren Wahrheitswert zuweist, vgl. ebd., 191 und 193: »Unverhüllt ist das Wahre der diskursiven Erkenntnis, aber dafür hat sie es nicht; die Erkenntnis, welche Kunst ist, hat es, aber als ein ihr Inkommensurables.« Und: »Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die objektive Auflösung des Rätsels eines jeden einzelnen. Indem es die Lösung verlangt, verweist es auf den Wahrheitsgehalt. Der ist allein durch philosophische Reflexion zu gewinnen. Das, nichts anderes, rechtfertigt Ästhetik. Während kein Kunstwerk in rationalistischen Bestimmungen wie dem von ihm Geurteilten aufgeht, wendet sich gleichwohl ein jegliches durch die Bedürftigkeit seines Rätselcharakters sich an deutende Vernunft.« 3 4

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wahr oder falsch erreicht, oder, als deren Vorstufe, die von richtig und falsch. Kritik tritt nicht äußerlich zur ästhetischen Erfahrung hinzu, sondern ist ihr immanent. Ein Kunstwerk als Komplexion von Wahrheit begreifen, bringt es in Relation zu seiner Unwahrheit, denn keines ist, das nicht teilhätte an dem Unwahren außer ihm, dem des Weltalters. Ästhetik, die nicht in der Perspektive auf Wahrheit sich bewegt, erschlafft vor ihrer Aufgabe; meist ist sie kulinarisch. Weil Kunstwerken das Moment von Wahrheit wesentlich ist, partizipieren sie an Erkenntnis«. Kunsterfahrung ohne Kunstkritik ist für Adorno also keine. Und Kunstkritik ist für ihn nicht zu haben ohne das Urteil über wahr und falsch. Und dieses Urteil in der Wahrheitsfrage ist, wie Adorno eingestehen muß, doch wieder Sache der dafür kompetenten Philosophie, denn nur sie verfüge über das letztgültige Medium der Wahrheit – die Begriffe6: »Philosophie und Kunst konvergieren in deren Wahrheitsgehalt: die fortschreitend sich entfaltende Wahrheit des Kunstwerks ist keine andere als die des philosophischen Begriffs. […G]enuine ästhetische Erfahrung muß Philosophie werden oder sie ist überhaupt nicht.« Philosophische Begrifflichkeit und ästhetische Erfahrung sollen im Nachvollzug des Kunstwerkes zwanglos fusionieren, und dies soll gar um den Preis philosophischer Selbstauflösung geschehen7: »Der Wahrheitsgehalt eines Werkes bedarf der Philosophie. In ihm erst konvergiert diese mit der Kunst oder erlischt in ihr. Die Bahn dorthin ist die der reflektierten Immanenz der Werke, nicht die auswendige Applikation von Philosophemen.« Aber diese sich in der Hingabe ans Kunstwerk quasi selbstopfernde Philosophie behält gewissermaßen gleichwohl das letzte Wort – nämlich eben das begriffliche Wort, ohne das kein Gedanke und keine Wahrheit zu haben sind8: »Ein jegliches bedarf, um erfahren zu werden, des wie immer rudimentären Gedankens, und weil dieser nicht sich sistieren läßt, eigentlich der Philosophie als des denkenden Verhaltens«. Diese Grenze von wahr und falsch verläuft gemäß Adorno manchmal durch das Werk eines Autors.9 Der Wahrheitsgehalt eines Werkes resultiere dabei eher aus den Formen als aus den Stoffen oder Intentionen der Künstler.10 Wahrheit und IdeoEbd., 197. Ebd., 507. 8 Ebd., 520. 9 Der virtuose Kunstrichter verdeutlicht dies etwa in seinem Aufsatz zu Stefan George in: Theodor W. Adorno: Noten zur Literatur, Frankfurt/M. 1981, 523 ff. Manche der Verse Georges seien Belege protofaschistischen, falschen Bewußtseins, andere – Instanzen der Wahrheit. In der Ästhetischen Theorie, 346, gibt er ein weiteres Beispiel: »Ein Modell des Wahrheitsgehalts eines in seinen Intentionen durchaus ideologischen Oeuvres ist Stifter.« 10 Zu Adornos Konzeption einer Kunstwahrheit als reziprokem Verhältnis von ästhetischer (formaler) Stimmigkeit und (inhaltlich-politisch) korrekter Auffassung vom desaströsen Zustand der geschichtlichen Wirklichkeit vgl. ebd., 519: »An der immanenten Stimmigkeit partizipiert ein richtiges Bewußtsein vom Auswendigen; der geistige und soziale Standort eines Werkes ist nur durch seine inwendige Kristallisation hindurch auszumachen. Kein künstlerisch Wahres, dessen Wahrheit nicht übergreifend sich legitimierte«. Albrecht Wellmer hat Adornos Konzeption einer emphatischen und mehrsinnigen Wahrheit des Kunstwerks zu rekonstruieren und weitgehend zu 6 7

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logie seien häufig aufs innigste verschlungen und es bedürfe des kunstverständigen und geschichtsphilosophisch geschulten Kritikers, um die opponierenden Momente des Werkes ihrer gerechten Beurteilung zuzuführen11: »Ideologie und Wahrheit der Kunst verhalten sich zueinander nicht wie Schafe und Böcke. Sie hat das eine nicht ohne das andere, solche Reziprozität lockt ihrerseits ebenso zum ideologischen Mißbrauch, wie sie zur summarischen Abfertigung im Kahlschlagstil ermuntert.« Adornos Verteilung der Prädikate ›Wahrheit‹ und ›Ideologie‹ läßt sich nur verstehen, wenn man sie in ihren hochproblematischen geschichtsphilosophischen, ja eschatologischen Rahmen stellt. Wahrheit kann für ihn nur in der Negation der als katastrophal gesetzten Welt bestehen. Diese gesellschaftskritisch-geschichtsphilosophische Verpflichtung von Kunst und Philosophie auf Negation von Welt und von Wissenschaft12 ist verschränkt mit einer – letztlich theologischen – Überlastung des Wahrheitsbegriffs. Wahrheit soll nichts weniger als Versöhnung13 bedeuten14: »In retten versucht; seine Rekonstruktion ist allemal nützlich zur Erhellung von Adornos überlastetem Wahrheitsbegriff. Sein Rettungsversuch der Adornoschen Intentionen durch Übersetzung von ›Kunstwahrheit‹ in ein weniger messianisches Habermassches Schema von Geltungsansprüchen überzeugt freilich weniger. (Vgl. Albrecht Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt/M. 1985, besonders 30 ff.) 11 Ebd., 347. Zwischen falschem Bewußtsein und seiner ästhetischen Darstellung kann es zu einem Umschlag kommen, der die Vorzeichen von wahr und falsch austauscht: »Darum entfalten sich die Werke, außer durch Interpretation und Kritik auch durch Rettung: sie zielt auf die Wahrheit falschen Bewußtseins in der ästhetischen Erscheinung. Große Kunstwerke können nicht lügen. Noch wo ihr Gehalt Schein ist, hat er als notwendiger eine Wahrheit, für welche die Kunstwerke zeugen; unwahr sind nur die mißlungenen.« (Ebd., 196.) 12 Zur Opposition ›kritischer Theorie‹ gegen ›die‹ Wissenschaft vgl. neben der Dialektik der Aufklärung von Adorno und Horkheimer und Adornos Negativer Dialektik auch Ästhetische Theorie, 344: »Kunst ist kein unverbindliches kulturelles Komplement der Wissenschaft sondern zu ihr kritisch gespannt.« Der Mangel des Geistes in den Geisteswissenschaften sei zugleich ihr Mangel an ästhetischem Sinn, ein Punkt, in dem Adorno vermutlich zuzustimmen ist. 13 Berühmtester Beleg hierzu ist der letzte Eintrag von Adornos Minima Moralia (Frankfurt/ M. 1962, 333): »Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.« In der Ästhetischen Theorie wird die Wahrheit der Kunst als naturnahe Form von Geist abgegrenzt vom gewaltsam instrumentellen Geist: »In den Kunstwerken ist der Geist nicht länger der alte Feind der Natur. Er sänftigt sich zum versöhnenden.« (202) So sei die Wahrheit der Kunst nicht ein Gemachtes, sondern Wiederherstellung und Versöhnung unterdrückter Natur (vgl. ebd., 198). 14 Ebd., 203. Adornos Wahrheitsbegriff bleibt eschatologisch, messianisch aufgeladen, auch wenn er wiederholt geschichtsphilosophisch die irreversible Trennung von Kunst und Religion konstatiert. So etwa in seinen Theses Upon Art and Religion Today (in: Noten zur Literatur, Frankfurt/M. 1981, 647–653) aber auch in der Ästhetischen Theorie, 10: »Durch ihre unvermeidliche Lossage von der Theologie, vom ungeschmälerten Anspruch auf die Wahrheit der Erlösung, eine Säkularisierung, ohne die Kunst nie sich entfaltet hätte, verdammt sie sich dazu, dem Seienden und Bestehenden einen Zuspruch zu spenden, der bar der Hoffnung auf ein Anderes, den Bann dessen verstärkt, wovon die Autonomie der Kunst sich befreien möchte.« Vgl. auch ebd., 192 zu Magie, Kult und Mythos als Gefahr einer Regression ins Religiöse der notwendig enigmatischen Kunst.

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ihrer Wahrheit selbst, der Versöhnung, welche die empirische Realität verweigert, ist sie [Kunst] Komplize der Ideologie, täuscht sie vor, Versöhnung wäre schon. Kunstwerke fallen ihrem Apriori, wenn man will, ihrer Idee nach in den Schuldzusammenhang.« Ideologisch sind Kunstwerke für Adorno also auch, wenn sie gelingen und in ihrer Faktur, der gelungenen Synthesis des Vielfältigen, einen Vorschein von Versöhnung, also Wahrheit bieten. Denn sie beruhen auf schuldhafter Arbeitsteilung, und ihre Distanz zur bösen Gesellschaft wird ihnen als ein Privileg zum Vorwurf 15: »Formal sind sie, unabhängig davon, was sie sagen, Ideologie darin, daß sie a priori Geistiges als ein von den Bedingungen seiner Produktion Unabhängiges und darum höher Geartetes setzen und über die uralte Schuld in der Trennung körperlicher und geistiger Arbeit täuschen. […] Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke jedoch, der auch ihre gesellschaftliche Wahrheit ist, hat ihren Fetischcharakter zur Bedingung.« Verlassen wir diese bis zum Manierismus raffinierten Verschlingungen von Wahrheit und Ideologie,16 die weniger der Logik einer fortschreitenden Dialektik entsprechen als einem höchst kunstvoll drapierten Sowohl-als-Auch, über das der Geschichtsphilosoph dann in jedem Einzelfall souverän entscheidet. Wenden wir uns noch einigen Überlegungen und Einwänden zu, die der Frankfurter Kritiker an Forschungen zur ästhetischen Erfahrung adressiert. Adorno kritisiert ein unreflektiertes Verständnis von ästhetischer Erfahrung. Sie unterliege in der (geschichtsdiagnostisch vorausgesetzten) düsteren Zeit der Verblendung. Man sollte seine polemischen Passagen freilich stets auch als Mittel der Selbstimmunisierung einer strikt auf Wahrheit fixierten Ästhetik lesen. Adornos epistemisch-eschatologische Obsession verurteilt weniger steile Ansprüche an die ästhetische Erfahrung, indem diese als Ideologie verfallen oder schuldhaft genußsüchtig bezichtigt werden17: Ebd., 337. Vgl. auch ebd., 335: »Freilich bietet durch ihre Absage an die Gesellschaft, die der Sublimierung durchs Formgesetz gleichkommt, autonome Kunst ebenso als Vehikel der Ideologie sich an: in der Distanz läßt sie die Gesellschaft, vor der ihr schaudert, auch unbehelligt. Auch das ist mehr als nur Ideologie […]« Sowie ebd., 358: »Gesellschaftlich Mitschuldiger des ästhetisch Edlen, billigt die Ächtung des Banausen geistiger Arbeit unmittelbar höheren Rang zu als körperlicher. Daß die Kunst es besser hat, wird ihrem Selbstbewußtsein und den ästhetisch Reagierenden zum Besseren an sich. Sie bedarf der permanenten Selbstkorrektur dieses ideologischen Moments. Ihrer ist sie fähig, weil sie, die Negation praktischen Wesens, selber gleichwohl auch Praxis ist«. 16 Es gibt Stellen bei Adorno, die man in ihrem Aufbegehren gegen (eine häufig von ihm selbst betriebene) Fixierung auf Kritik eines vorausgesetzten (oder projizierten) totalen Verblendungszusammenhangs gerne gegen ihren Autor (oder als seine Selbstkritik) anführen möchte. So etwa wenn Adorno polemisiert, Marx sei zur totalen Ideologienlehre Mannheims umgefälscht worden: »Ist Ideologie gesellschaftlich falsches Bewußtsein, so ist nach simpler Logik nicht jegliches Bewußtsein ideologisch. […] Rabiate Kulturkritik ist nicht radikal.« (Ebd., 374 f.) 17 Ebd., 518. Und in Abgrenzung von Kant heißt es: »Auf den Begriff des Geschmacks, indem der Anspruch der Werke auf Wahrheit jämmerlich zu verenden sich anschickt, muß sie verzichten. Eingeklagt wird die Schuld der bisherigen Ästhetik, daß sie, vermöge ihres Ausgangs vom 15

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»Daß Kunst einerseits verselbständigt der Gesellschaft gegenübertritt, andererseits ihrerseits gesellschaftlich ist, schreibt ihrer Erfahrung das Gesetz vor. Wer an der Kunst nur ihr Stoffliches erfährt und es zur Ästhetik aufplustert, ist banausisch, wer sie aber allein als Kunst wahrnimmt und daraus eine Prärogative macht, bringt sie um ihren Gehalt. Denn der kann nicht wiederum bloß Kunst sein […]. Erfahrung allein ist darum keine zureichende Rechtsquelle, weil ihr geschichtsphilosophisch eine Grenze vorgezeichnet ist. Wo sie diese überschreitet, verkommt sie zu einfühlender Würdigung.« Empirisch-wissenschaftliche Zugänge zu ästhetischer Erfahrung, die eine Alternative zu Adornos geschichtsphilosophisch überladener Wahrheitsästhetik darstellen, werden mittels Ideologiekritik relegiert18: »Wirkungsforschung reicht weder an Kunst als Gesellschaftliches heran, noch darf sie gar […] der Kunst Normen diktieren. Die Heteronomie, die durch normative Wendung von Rezeptionsphänomenen der Kunst zugemutet würde, überträfe als ideologische Fessel alles Ideologische, das ihrer Fetischisierung inhärieren mag.« Pikant ist der Vorwurf der Heteronomie an die Adresse empirischer Rezeptionsforschung. Adornos eigene geschichtsphilosophische, wahrheitsfixierte und hochkulturelle Festschreibung des Ästhetischen ist heteronom nur dann nicht, wenn man Adorno als Instanz autonomer Selbstbestimmung des Ästhetischen gelten läßt. Gefühl allein als Instanz ästhetischer Erfahrung ist für den Theoretiker jedenfalls allemal zu wenig, denn19: »Künstlerische Erfahrung erheischt demgemäß erkennendes, nicht affektives Verhalten zu den Werken«. Kunst sei nun mal kein »Genußmittel höherer Ordnung«20 – auch wenn Adorno als Materialist und Fürsprecher des Körpers einen Funken Wahrheit im ästhetischen Hedonismus nicht leugnen kann.

subjektiven Geschmacksurteil, vorweg die Kunst um ihren Wahrheitsanspruch bringt.« (Ebd., 509.) 18 Ebd., 339. Zu Adornos Immunisierung seiner Wahrheitsästhetik gegen trivialere, etwa subjektivistische oder sensualistische Auffassungen ästhetischer Erfahrung vgl. ebd., 362 ff. und 519. Und zur Unabdingbarkeit der eigenen Rolle als philosophischer Bewahrer ästhetischer Terminologie, die stets als Verdikt gegen unreflektierte ›Erlebnisse‹ profiliert wird: »Kunst existiert nur innerhalb einer bereits entwickelten Kunstsprache, nicht auf der tabula rasa des Subjekts und seiner angeblichen Erlebnisse. Darum sind diese unentbehrlich, doch keine letzte Rechtsquelle ästhetischer Erkenntnis.« (Ebd., 524.) 19 Ebd., 528. 20 Ebd., 27. Zum falschen Bewußtsein des in ›naiver‹ ästhetischer Erfahrung Kulturschund konsumierenden Bürgers vgl. ebd., 350.

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III. Paul de Man: Ästhetik als Ideologie. Rhetorisch-sprachtheoretische Ideologiekritik Für Paul de Man wird, anders als für Adorno oder andere Neomarxisten, Ästhetik an sich zur Ideologie. Ästhetische Erfahrung, näherhin die phänomenale Interpretation von Sprache und Texten, wird für de Man zum Inbegriff von Ideologie. Es gibt, zumindest beim späten de Man, keinen positiven Begriff des Ästhetischen mehr, dem dann eine verfehlte Unterform des Ästhetischen als ideologisch opponiert würde. Das ist eine durchaus unübliche Positionierung für einen Theoretiker, der in seinen Lektüren den Kanon romantischer und moderner Dichter und Kunsttheoretiker analysierte.21 De Man bietet mit seiner Denunziation ästhetischer Erfahrung als irreduzibel ideologie-kontaminiert ein fundamentales Dementi ästhetischer Erfahrung. Da mir keine heftigeren (und gleichwohl intelligenten) Einsprüche gegen das Konzept ästhetischer Erfahrung bekannt sind, halte ich es für angebracht, sich dieser Fundamentalopposition zu stellen. Warum wird für de Man ästhetische Rezeption zum falschen Bewußtsein? In wessen Namen und mit welchen Mitteln denunziert der Dekonstruktivist ästhetische, ›phänomenale‹ Textlektüren als ideologisch? De Man kritisiert die Ästhetik mit Mitteln der Rhetorik und der Sprachtheorie. Historisch gesehen betreibt de Man die Rache der Rhetorik an der Ästhetik, die erstere um 1750 als literarische Leitwissenschaft zu verdrängen begann. Und ironischerweise betreibt er sie mit den gleichen Waffen. Wurde der Rhetorik damals (etwa von Kant) epistemologische Frivolität vorgeworfen, so denunziert nun de Man mittels rhetorischer Werkzeuge die Ästhetik als ideologische Täuschungskunst.22 Ästhetik und Literaturtheorie werden bei ihm zu strikten Opponenten. Das Leitthema seiner rhetorischen Lektüren literarischer oder theoretischer Texte ist dabei letztlich Wahrheit: Er stellt insistent und quasi ausschließlich epistemische Fragen an bestimmte Texte und an das Funktionieren von Sprache im allgemeinen. Die sprachtheoretische Grundfigur von de Mans Kritik an ästhetischer Erfahrung ist eine Ausweitung der Einsicht in die Arbitrarität sprachlicher Zeichen auf 21 Diese Kritik der Ästhetik wurde in der de Man-Rezeption bisher wenig thematisiert. Eine Ausnahme bildet: Cynthia Chase: Literary Theory as the Criticism of Aesthetics, in: Critical Encounters – Reference and responsability in deconstructive writing, ed. by Cathy Caruth and Deborah Esch, Rutgers 1995. Eine systematische Explikation von de Mans Begriff der ›Materialität der Sprache‹ als seinem emphatischen Gegenbegriff zu der von ihm attackierten ›ästhetischen Ideologie‹ habe ich unternommen in: Verf.: Ultima Materia – Paul De Mans rhetorischer Materialismus, in: Prima Materia – Beiträge zur transdisziplinären Materialitätsdebatte, hg. von Sigrid Köhler u.a., Königstein/Taunus 2004, besonders 52 ff. 22 Vgl. dazu Chase, Literary Theory (Anm. 21), 44 und 53 ff. Chase bietet auch die aufregende historische These, daß de Mans rhetorische Dekonstruktion ästhetischer Ideologie beeinflußt sei von Maurice Blanchots Argumentation über die geschichtsbildende Macht politischer Rhetorik: Mit der Französischen Revolution beginne das Zeitalter der Ideologie, da seither deklarative Sprache buchstäblich Geschichte mache (ebd., 48 ff.).

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alle Ebenen des Textes. Vom Buchstaben oder Phonem bis zur Gesamtaussage eines Textes gelte, daß es kein organisches Band von Zeichen und Bezeichnetem gibt. Zwar sind Texte für de Man keinesfalls das autoreferentielle Spiel von Formen unter Kappung von referentiellen Bezügen auf die Welt. Sprache ist für de Man die letztlich nicht bewußt kontrollierbare Setzung von sich widerstreitenden rhetorischen Figuren, die gleichwohl notwendig einen Weltbezug herstellen; freilich eben einen epistemologisch unzuverlässigen referentiellen Weltbezug.23 Was ist nun die Rolle der ästhetischen Erfahrung in dieser Tragödie der wahrheitsunfähigen Sprache? Ästhetische Erfahrung ist für de Man die Vertuschung der wahrheitsfernen Infrastruktur von Sprache, ihre illusionäre Überblendung.24 Ästhetik hat für de Man die Funktion, Sinn, Bedeutung, Ganzheit und Vermittlung herzustellen, wo nach objektiver, rhetorisch-sprachtheoretischer Lage der Dinge Differenz, Arbitrarität und blinde Setzungen herrschen.25 Dies gelte sowohl für jede einzelne ›empirische‹ ästhetische Erfahrung als auch für die systematischen Theorie-Gebäude Schillers und Hegels: Ästhetik täuscht, indem sie Brüche überspielt. Als Beleg für de Mans semiotisch-sprachtheoretische Fassung von Ideologiekritik zitiere ich aus dem Aufsatz Resistance to Theory von 1982.26 Weit knapper als in dem Nachlaß-Band Aesthetic Ideology wird hier die Opposition von Literaturtheorie und Ästhetik faßbar 27: »Insofern der Kratylismus eine Konvergenz des phänomenalen Aspekts der Sprache als Laut mit ihrer Zeichenfunktion als Bezeichnetes annimmt, ist er eine ästhetisch orientierte Konzeption. Man könnte, ohne die Tatsachen zu verdrehen, die Theorie der Ästhetik, einschließlich ihrer systematischsten Fassung Vgl. dazu: Andrzej Warminski: Ending Up/Taking Back (with two Postscripts on Paul de Man’s Historical Materialism), in: Critical Encounters (Anm. 21), 25 f.: »Accounting for this necessary error is what de Man takes to be the task of literary study – and ›accounting‹ for it does not at all mean making it the object of science, of epistemologically reliable knowledge – a task that Roland Barthes forgets, when he would want to forget the referential function of language, all language, including the most ›literary‹ or ›fictional‹ or ›mythic‹.« 24 Vgl. dazu: Chase: Literary Theory (Anm. 21), 72: »What aesthetics has to foreclose, or disguise, is the figural condition of its operation: the face-giving figure that underlies perception.« 25 Eine Alternative zur Denunziation des Ästhetischen als Ideologie bietet Rüdiger Bubners Explikation mittels des unhintergehbaren Scheincharakters von ästhetischen Phänomenen. Für Bubner führt dieser ›wesentliche Schein‹ eben nicht zu ideologischen Fehlschlüssen (durch Ineinssetzung von Signifikanten und Signifikaten) sondern zum unabschließbaren Deutungsgeschehen: »Daß das Phänomen sich anders zeigt, als es ist, macht sein ganzes Wesen aus, nicht dahinter liegt seine eigentliche Wahrheit versteckt. Die Struktur der Unfaßlichkeit muß also in dem Sinne anerkannt werden, daß das Unfaßlichsein selber dasjenige an dem Phänomen ist, was sich nicht fassen und deuten läßt. Gerade deshalb lädt es ja zur Deutung ein.« (Rüdiger Bubner: Ästhetische Erfahrung, Frankfurt/M. 1989, 41.) 26 Vgl. dazu auch de Mans Aufsatz Return to Philology, in: ders: The Resistance to Theory, Minneapolis 1986, 24 f. 27 Paul de Man: Der Widerstand gegen die Theorie, in: Romantik – Literatur und Philosophie, hg. von Volker Bohn, Frankfurt/M. 1987, 90. 23

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im Werk Hegels, als die vollständige Entfaltung jenes Modells betrachten, von dem die kratylische Auffassung der Sprache eine Version darstellt.« Und mit einem schlagenden Beispiel expliziert der Dekonstruktivist die Arbitrarität von Zeichen, den qualitativen und (bei korrekter Betrachtung der Infrastrukturen auch) phänomenalen Gegensatz von Zeichen und Bezeichnetem, von Sprache und Welt28: »Es wäre beispielsweise verhängnisvoll, die Materialität des Bezeichneten mit der Materialität dessen, was es bezeichnet, zu verwechseln. Das mag auf der Ebene von Laut und Licht offensichtlich sein, hinsichtlich des allgemeineren phänomenalen Charakters des Raums, der Zeit und insbesondere des Ichs ist dies schon weniger der Fall: niemand, der bei Verstand ist, wird versuchen, im wärmenden Licht des Wortes ›Tag/Day‹ Wein zu ziehen. Aber es ist sehr schwer, sich die Formen seiner vergangenen und zukünftigen Existenz nicht als mit Schemata des Raums und der Zeit übereinstimmend vorzustellen, die zu fiktionalen Erzählungen und nicht zur Welt gehören. Dies bedeutet nicht, daß fiktionale Erzählungen kein Teil der Welt und der Wirklichkeit sind; ihre Wirkungen mögen sogar zu stark sein, um erfreulich zu sein. Was wir Ideologie nennen, ist genau die Verwechslung von Sprache mit natürlicher Realität, von Bezugnahme auf ein Phänomen mit diesem selbst. Daraus folgt, daß die Linguistik der Literarizität, mehr als alle anderen Untersuchungsmethoden, einschließlich derer der ökonomischen Wissenschaften, ein wirkungsvolles und unentbehrliches Instrument zur Entlarvung ideologischer Irrwege ist«. Springen wir zum kritischen Vergleich von hier nochmals zu Adorno. In der Negativen Dialektik definiert Adorno Ideologie als jedem Denken inhärent. Denn Denken müsse notwendig mit identifizierenden Begriffen hantieren und verwechsle diese dabei mit den nichtidentischen Sachen.29 Bemerkenswert ist, daß Adorno die von de Man (als Matrix aller Ideologie) kritisierte Vermischung von Sprache und phänomenaler Welt hier ineins kritisiert und feiert als Vorschein eines widerspruchsfreien Utopia – als Versprechen einer nicht-arbiträren, göttlichen Namenssprache30: »Hybris ist, daß Identität sei, daß die Sache an sich ihrem Begriff entspreche. Aber ihr Ideal wäre nicht einfach wegzuwerfen: im Vorwurf, die Sache sei dem Begriff nicht identisch, lebt auch dessen Sehnsucht, er möge es werden. Dergestalt erhält das Bewußtsein der Nichtidentität Identität. Wohl ist deren Supposition, bis in die formale Logik hinein, das ideologische Moment am reinen Denken. In ihm jedoch

Ebd., 92. Der (schon von Herbert Schnädelbach aufgezeigten, hochproblematischen) metaphorischen Vermischung verschiedener Aspekte von ›Identifizierung‹ in Adornos schlichtweg unhaltbarer Sprachphilosophie kann ich hier nicht nachgehen. De Mans Analyse der fehlerhaft identifizierenden und damit Ideologie produzierenden Sprache ist ohnehin überzeugender als die mentalistische Unterkomplexität von Adornos Sprachdenken. 30 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1988 (11966), 152 f. 28 29

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steckt auch das Wahrheitsmoment von Ideologie, die Anweisung, daß kein Widerspruch, kein Antagonismus sein sollte.« De Mans Kritik der ideologisch-phänomenalistischen Vermischung von Sprache und Welt trifft auch Adornos Ideal des ›mimetischen Vermögens‹. Neben anderen antirationalistischen Verfahren wie Ästhetisierung der Theorie, Argumentieren in Konstellationen statt Kausalitäten, Essayismus versteht Adorno auch ›Mimesis‹ als anti-ideologische Versöhnung der Entfremdung von Subjekt und Objekt, von Begriff und Sache. Das utopische Sprachideal des Versöhnungstheoretikers entspricht dabei in seiner phänomenalistischen Utopie dem, was der anti-kratylistische Dekonstruktivist als ideologische Verblendung decouvriert. Freilich gilt dies auch umgekehrt: Man denke an de Mans Emphase für Mechanik und für maschinenhaftes Funktionieren von Sprache, die aus der Perspektive Adornos als antihumaner Positivismus und als Festschreibung einer Entfremdung zu kritisieren wären. Wie Freudianer und Marxisten sich in den Rücken des anderen positionieren können, um dessen Verdrängtes, Unterdrücktes oder Ausgebeutetes zu denunzieren, so können sich auch die subtileren Ideologiekritiker Adorno und de Man gegenseitig matt setzen im ideologiekritischen Sprachschach. ›Epistemologische Unzuverlässigkeit‹ oder ›Unentscheidbarkeit‹ über Wahrheit und Falschheit bestimmter Aussagen – das ist das Standardergebnis von de Mans dekonstruktiven Textexegesen. Diese Aufdeckung epistemischer Unzuverlässigkeit impliziert bei de Man stets die Selbstanwendung des Befundes auf seine eigenen Lektüren und ihre Ergebnisse.31 De Mans Position ist der Agnostizismus, von dem aus Ästhetik gleichwohl als Quellcode falschen Bewußtseins denunziert wird.32 Freilich entfalten seine Analysen ein erhebliches kritisches Pathos. Und auch die Verwendung des Wortes Ideologie deutet darauf hin, daß de Man doch im Namen der Wahrheit kritisiert und dabei wie die allermeisten Philosophen unter einer epistemischen Fixierung leidet. Dies ist besonders deswegen erstaunlich, da ja die ›Ars Rhetorica‹, also de Mans Werkzeug, bei Aristoteles gerade eine Technik des Umgangs mit nicht genuin wahrheitsfähigen Fragen war. Rhetorik bietet bei Aristoteles eine Alternative zum Wahrheitsfanatismus der Philosophen. De Man 31 De Man spricht (zumindest vordergründig) nicht im unsympathischen Gestus des Besserwissens. Unterwegs sieht es zwar manchmal so aus, als komme de Man zu Gewißheiten negativen Wissens, d.h. zu klaren Aussagen, was unwahr sei (wie Nietzsche in seiner Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne). Dies würde ein Wissen um die Wahrheit implizieren, von deren Warte aus das Unwahre kritisiert wird. Durch die ironischen Volten einer Selbstanwendung der kritischen rhetorischen Einsichten auf seine eigenen Darstellungen wird diese Gewißheit negativen Wissens letztlich freilich aufgegeben. 32 Ein prägnanter Beleg (unter vielen) für agnostische Selbstanwendung von Ideologiekritik findet sich in de Mans Materiality and Phenomenality in Kant, in: ders.: Aesthetic Ideology, Minneapolis 1997, 122 f.: »Ideological and critical thought are interdependent and any attempt to separate them collapses ideology into mere error and critical thought into idealism.« Vgl. dazu Warminski: Ending Up/Taking Back (Anm. 23), 34.

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begreift jedoch nicht – wie es für einen epistemischen Agnostiker doch naheläge – Rhetorik als konstruktive Vermittlungstechnik zwischen sozialen Akteuren. Die anthropologische und sprachtechnologische Weite des aristotelischen Rhetorikkurses verkürzt de Man letztlich wieder auf epistemische Wahrheitsfragen. De Man gesteht seine Obsession fürs Epistemische ein, wenn er Stanley Fishs affektbezogene Rhetorikauffassung zurückweist33: »Die Rhetorik dergestalt ihres erkenntnistheoretischen Impulses zu berauben, ist nur möglich, weil ihre tropologischen, figuralen Funktionen übergangen werden. […] Die Gleichsetzung von Rhetorik mit Psychologie und nicht mit Erkenntnistheorie eröffnet trostlose Aussichten auf pragmatische Banalitäten, die um so trostloser sind, wenn sie mit der Brillianz der performativen Analyse verglichen werden.« Dieses Verhältnis von vermeintlichem sprachtheoretischen Glanz und psychologisch-anthropologischer Banalität gilt es nun zu kritisieren – nach 30 Jahren und den immer gleichen trostlosen, weil bloß epistemischen Selbstdekonstruktionen von Sprache und Literatur in den zahllosen dekonstruktivistischen Etuden. Kunst, näherhin Literatur,34 wird bei de Man also nicht im weiten Rahmen anthropologischer Fragestellungen (Stichworte wären hier: Gefühlsintensivierung und Reflexion, Katharsis, Lust,Trost, Spiel etc.) verortet. Er zwängt sie ins enge philosophische Korsett der (durchgestrichenen) Wahrheit. Zwar macht Kunst auch so keine ganz schlechte Figur. Denn immerhin stellt für de Man große Literatur die epistemischen Abgründe der Sprache aus. Im Gegensatz zu Alltagstexten beleuchte Literatur das wahre (nämlich unwahrhaftige) Funktionieren von Sprache – zumindest solange man sie langsam und d.h. nicht ästhetisch-phänomenalistisch liest, sondern rhetorisch-analytisch, wie es die Dekonstruktivisten tun. Gleichwohl bleibt das epistemische Korsett, in das de Man Literatur und Kunst zwängt, ein kritikwürdiges. Denn es verkürzt Interesse und Bedeutung der Künste, indem es sie auf ihre kognitiven Aspekte (genauer: das Scheitern von Kognition) reduziert. Wichtige Wirkungen der Kunst als Medium inszenierter Sinnlichkeit, Körperlichkeit35 und Emotionalität36 bleiben in de Mans kognitiv strukturalistischer Literaturbetrachtung außen vor. De Man: Widerstand gegen Theorie (Anm. 27), 104. Zur Ausweitung der Opposition zwischen korrekter Analyse rhetorisch differentieller Infrastrukturen und ideologisch-phänomenaler Ästhetik von der Sprachkunst Literatur auf alle Künste vgl. ebd., 91: »An der Literatur werden ästhetische Kategorien eher zunichte, als daß sie Bestätigung finden. Eine der Konsequenzen ist, daß wir dort, wo wir traditionellerweise daran gewöhnt waren, Literatur in Analogie zu den bildenden Künsten und der Musik aufzufassen, nun die Unumgänglichkeit eines nichtperzeptuellen, sprachlichen Momentes in der Malerei und Musik anerkennen müssen und wir eher zu lernen haben, wie man Bilder liest, als wie man sich einen Sinn vorstellt.« 35 Vgl. dazu Richard Shusterman: Wittgensteins Somästhetik – Körperlich Gefühle in der Philosophie des Geistes, der Kunst und der Politik, in: Dimensionen ästhetischer Erfahrung, hg. von Joachim Küpper und Christoph Menke, Frankfurt/M. 2003, 67–93. 36 Dazu nun mit einem umfassenden und wohlstrukturierten Forschungsüberblick zur interdisziplinären Emotionsforschung und zum Nexus von ›Literatur und Emotionen‹ Simone Winko: 33 34

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IV. Ästhetische Erfahrung jenseits von wahr und falsch. Ein Ausblick in Stichworten Meine Skizze im letzten Teil zielt nun dahin, ästhetische Erfahrung (gegen Adorno und de Man) aus ihrer Fixierung auf Wahrheit und epistemische Fragen zu lösen. Habe ich im ersten Abschnitt nur das schmutzige Wasser der Ideologiekritik auszuschütten versucht, so soll es nun im letzten Schritt auch noch das Kind mit dem Bade erwischen. Nicht nur Ideologie, auch Wahrheit ist keine überzeugende Leitkategorie zur Untersuchung ästhetischer Erfahrung. Wittgenstein hatte sich über das Leitadjektiv des ästhetischen Diskurses ›schön‹ mokiert,37 das kaum je beim Reden über Geschmacksfragen geäußert würde. Um wieviel weniger plausibel ist ein Reden über ästhetische Erfahrungen, das diese als wahr, als falsch, als ideologisch beurteilt. Niemand (außerhalb philosophischer Seminare) verwendet diese Kategorien angesichts eines faszinierenden Bildes, eines erschütternden Musikstücks oder eines hinreißenden Spielzugs beim Fußball. Rüdiger Bubner hat vor gut dreißig Jahren seine überzeugende Kritik an den Wahrheitsästhetiken, die immer zugleich Werk- und Inhaltsästhetiken sind, formuliert. Der Tradition Hegel-Schelling-Adorno wurde Kunst immer mehr zum Statthalter und Problemlöser für durch Philosophie nicht mehr lösbare Grundlegungsfragen. Bubner opponierte dagegen das kantische Modell ästhetischer Erfahrung als Reflexivwerden der Urteilskraft, die angesichts des Besonderen in der ästhetischen Erfahrung zu keinem Abschluß, zu keinem endgültigen Begriff mehr kommen kann. Wie stark auch diese kantischen Charakterisierungen der Ästhetik noch im Bann eines nurmehr skeptisch gewendeten Epistemischen verbleiben oder inwieweit sie eine nicht epistemisch verkürzte Anthropologie ansteuern, bleibt zu diskutieren.38 Angesichts des knappen Raums sollen im folgenden nur noch stichwortartig alternative Leitkategorien zur Beschreibung ästhetischer Erfahrung angedeutet werden. Kodierte Gefühle – Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, Berlin 2003. 37 Ludwig Wittgenstein: Vorlesungen über Ästhetik, Frankfurt/M. 2000, 11–14 sowie 24: »II.2. Man könnte glauben, Ästhetik sei eine Wissenschaft, die uns sagt, was schön ist – beinahe zu lächerlich für Worte. Ich nehme an, sie müßte auch erklären, welche Sorte Kaffe gut schmeckt. II.3. Ich sehe es ungefähr so – es gibt einen Bereich von Ausdrücken des Wohlbehagens, wenn du gutes Essen probierst oder einen angenehmen Geruch wahrnimmst, etc. dann gibt es den Bereich der Kunst, der sich davon ziemlich unterscheidet, obwohl du das gleiche Gesicht machen magst, wenn du ein Musikstück hörst oder wenn du ein gutes Essen ißt. (Vielleicht weinst Du auch, wenn Du etwas sehr magst.)« 38 Ebenfalls problematisch bleibt die genauere positive Funktionsbestimmung der von Martin Seel als ›Entzugsästhetiken‹ klug titulierten und kritisierten Ästhetiken der Kant-Nachfolge, die er der Tradition der ›Überbietungsästhetiken‹ (wissenschaftskritische Wahrheitsästhetiken) von Schelling bis Adorno entgegensetzt. (Vgl. Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung – Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt/M. 1985, 46 ff.)

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Vor vierzig Jahren schlug Susan Sontag in ihrem epochalen Aufsatz Against Interpretation eine ›erotic of art‹ als Alternative zum inhaltsfixierten Interpretationszwang vor. Außer einer Aufwertung von Form und Genuß gegen Inhalt und Moral blieb freilich leider etwas unklar, wie denn diese Erotik nun genau zu praktizieren sei. Hans Ulrich Gumbrechts jüngstes Buch The Production of Presence – What Meaning cannot convey (Stanford 2004) knüpft in seiner Polemik gegen ausschließlich auf Interpretation fixierte Geisteswissenschaften an einige Motive von Susan Sontags Polemik gegen das akademische Verfehlen der Künste an. Die einseitige epistemische Beschäftigung immer neuer, endloser Bedeutungszuschreibungen möchte Gumbrecht ergänzt wissen durch eine Aufmerksamkeit für Präsenz. Da er Präsenz als räumliche Gegenwart von Dingen oder Erscheinungen begreift, beinhaltet diese Sehnsucht nach Präsenz stets körperliche und emotionale Empfindsamkeiten des Rezipienten – und befindet sich damit stets jenseits bloßer Kognition. Gumbrecht folgt damit (neben seiner von ihm ausführlich, sympathisch und aufschlußreich entfalteten eigenen generationstypischen Denkbiographie mit ihren zunehmenden Schwierigkeiten des Historismus und ihrer Hinwendung zu den ›Materialitäten der Kommunikation‹) Denkfiguren des Ästhetischen, die Karheinz Bohrer seit dreißig Jahren entwickelt. Mit Stichworten zu semantisch und epistemisch weitgehend leeren Phänomenen wie ›Schrecken‹, ›Plötzlichkeit‹ oder ›Abschied‹ umkreist Bohrer Momente des Epiphanischen, des bloßen Aufscheinens, die moderne Kunst auszeichnen und dabei Abstand halten von Bedeutungs- oder gar Wahrheitsgehalten der Künste.39 Über das umfassendste und am besten durchdachte System der Abgrenzungen und Berührungen von ästhetischer Erfahrung sowie epistemischen und moralischethischen Fragen scheint mir freilich Martin Seel zu verfügen. Neuerdings40 hat Seel ästhetische Praktiken weitestgehend frei von epistemischen Implikaten bestimmt als »Wahrnehmungsweisen, bei denen es ›selbstzweckhaft‹ um den Vollzug dieser Wahrnehmung geht«41. Seel expliziert drei Arten ästhetischer Praxis. Gute Kunst39 Albrecht Wellmer hat Bohrers Ästhetik als eine einseitige, ästhetizistische Aneignung von Motiven Adornos beschrieben und kritisiert: Bohrer bewahre das subversive Potential von Ästhetik, löse sie freilich (gewissermaßen privatistisch) von ihrem Bezug auf Wahrheit und Versöhnung. Utopie und Glücksversprechen der Künste erschöpfen sich für Bohrer im »ekstatischen Moment der ästhetischen Erfahrung«. (Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne (Anm. 10), 25.) Zur Kritik an Bohrers anti-semantischer Plötzlichkeits-Emphase vgl. auch Seel: Die Kunst der Entzweiung (Anm. 38), 55–61. 40 Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München 2000. Zu einer früheren, noch stärker an Adorno und Wellmer angelehnten Reformulierung von Wahrheitsästhetik als Frage nach ›ästhetischer Gültigkeit‹, die freilich immer noch stark epistemisch orientiert blieb, vgl. Martin Seel: Kunst, Wahrheit, Welterschließung, in: Perspektiven der Kunstphilosophie, hg. von Franz Koppe, Frankfurt/M. 1991, 36–80. 41 Martin Seel: Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt/M. 1996, 14. Eine ausführliche Explikation des Spezifikums ästhetischer Erfahrung, der ›selbstzweckhaften Wahrnehmung‹, findet sich 50 ff. und 127 ff. (wo die Zurückweisung stets möglicher, nicht aber notwendiger kognitiver Relevanz ästhetischer Erfahrungen erörtert ist).

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werke provozieren dabei alle drei Wahrnehmungsmodi in einem: Erstens eine ›Ästhetik der Korrespondenz‹, die man in ihrer Orientierung an harmonischer, sinnhafter Gestaltung etwas salopp als Life-Style-Ästhetik erläutern könnte. Zweitens eine ›Ästhetik der Kontemplation‹42, verstanden als ›sinnabstinente Aufmerksamkeit‹ für Gegenstände, Situationen oder Menschen. Und drittens schließlich die ›Ästhetik der Imagination‹, die Kunstwerke als Sichtweisen der Welt, als Ausstellungen möglicher Sinnhorizonte begreift. Zweifellos ist diese dritte ästhetische Praxis, die imaginative, für epistemische Ansprüche an Ästhetik am anfälligsten. Gegen die Anwendbarkeit von Adornos Leitprädikaten ›wahr‹ und ›falsch‹ spricht freilich Seels Erläuterung der Imagination der Kunst. Diese »bezieht sich nicht auf das, was der Fall ist, sie artikuliert Kontexte der Relevanz dessen, was der Fall ist oder der Fall sein könnte«43. Das Spezifische ästhetischer Erfahrung ist etwas anderes als epistemische Erfahrung. Wer sie als eine solche nimmt, täuscht sich: über das Besondere des Ästhetischen – und über die Welt und schließlich über die andersartigen epistemischen Zugangsmöglichkeiten zu ihr. Entgegen Adorno und de Man würde ich eigenständige, nicht-ästhetische und erfolgversprechende epistemische Diskurse (vulgo: Wissenschaft) nicht negieren.44 Wie konstruktivistisch man Wissen und Wahrheit mit Vgl. ebd., 132 f. und 260–273. Ebd., 136. 44 Korrekt plaziert finde ich meinen Essay in der Tagungs- (oder Buch-)Sektion über epistemische Erfahrung, weil ich beim Nachlesen, Nachdenken und Schreiben des Textes epistemische Erfahrungen machte. Meine ersten drei Abschnitte vollzogen nämlich Großvatermorde. Denn eigentlich waren einige meiner wichtigen akademischen Lehrer Adorno- oder de Man-Schüler oder Enkelschüler. Der vierte Teil wiederum entbehrt nicht der suizidalen Tendenzen. Denn er verweist die meisten meiner eigenen eher diskursanalytischen Literaturstudien aus dem engeren Bereich der Ästhetik. Meine systematische These (als Selbstverteidigung) dazu ist: Kunstwerke, insbesondere gute Romane (etwa Musils oder Joyces) ermöglichen selbstverständlich auch gewichtige epistemische Erfahrungen. Aber das sind dann eben epistemische Erfahrungen an Kunstwerken, keine genuin ästhetischen Erfahrungen. So wie man umgekehrt auch an Theorien ästhetische Erfahrungen machen kann – etwa die der coolen Schönheit angesichts der strengen Symmetrien und Lakonien Luhmanns oder schaurig-schöne Schwindelgefühle angesichts der dialektischen Manierismen Adornos. Abrechnungen mit Großvatermethoden und Infragestellungen eigener Arbeiten sind nicht unbedingt schöne oder ästhetische Erfahrungen. Sie scheinen mir freilich als Bewegungen kritischen Denkens genuine, epistemische Erfahrungen zu sein – Erfahrungen im emphatischen Sinne von: etwas anderes, etwas Neues, zu erleben, etwas nicht Alltägliches oder Schulgemäßes. Zum notwendigen Vorrang des Negativen, Enttäuschenden, Kritischen im Begriff der Erfahrung (worin ich eine Analogie zu Poppers wissenschaftlichem Fallibilismus sehe) vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode – Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, 359: »Das prägt sich schon sprachlich darin aus, daß wir in einem doppelten Sinne von Erfahrung sprechen, einmal von den Erfahrungen, die sich unserer Erwartung einordnen und sie bestätigen, sodann aber von der Erfahrung, die man ›macht‹. Diese, die eigentliche Erfahrung, ist immer eine negative. Wenn wir an einem Gegenstand eine Erfahrung machen, so heißt das, daß wir die Dinge bisher nicht richtig gesehen haben und nun besser sehen, wie es damit steht. Die Negativität der Erfahrung hat so einen eigentümlich produktiven Sinn.« 42 43

Ästhetik und Ideologie

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Rorty oder Luhmann auch immer fassen möge, es scheint plausibler, Wahrheit und Wissen durch Wissenschaften (also Universitäten und andere spezialisierte Dikurse und Institutionen) produzieren, prüfen und verbessern zu lassen, als den Künsten den Königsweg zur Episteme in die Schuhe zu schieben. Man muß also die Ästhetik wohl eher vor ihren vermeintlichen Bewunderern – den Überbietungsästhetikern von Schelling über Adorno bis zu neueren Entgrenzungsbewegungen unter dem Schlachtruf ›Alles ist Aisthesis‹ – verteidigen, als vor denen, die sich ihr mit bescheideneren Wünschen und Bedürfnissen als dem vermeintlich woanders nicht stillbaren Wahrheitsdurst nähern. Zu empfehlen ist, mit Kant oder (besser und aktueller noch) mit Luhmann,45 das Epistemische vom Ästhetischen getrennt zu halten. Die Befreiung der – nur dann eigenständigen – ästhetischen Erfahrung von epistemischen Ansprüchen ist keine Abwertung der Kunst. Erfahrungen mit Kunst als Kunst kann man nur machen, wenn man im Hinterkopf nicht immer schon die epistemischen oder geschichtsphilosophischen Ideen bereithält, die im Kunstwerk dann bloß illustriert werden.46 Wissenschaft und Kunst, epistemische und ästhetische Erfahrung, sind zwei verschiedene Systeme. Das Schöne, das Sinnliche, das – aufmerksam – rezipierte Erscheinende, das als Form Wahrgenommene und Genossene verdient andere Prädikate als ›wahr‹, ›falsch‹, ›ideologisch‹. Bei der Erforschung ästhetischer Erfahrung sollten wir diesen Unterschied bedenken, statt ihn zu verwischen.

45 Zum Grenzverlauf von Ästhetik / Kunst und Wahrheit / Wissenschaft bei Luhmann vgl. (neben seinem Kunst-Buch Die Kunst der Gesellschaft) Niklas Luhmann: Ist Kunst codierbar?, in: ders: Aufsätze und Reden, hg. von Oliver Jahraus, Stuttgart 2001, 181–190. 46 Dazu: Bubner: Ästhetische Erfahrung (Anm. 25), 43 f.

Kreative Interpretationen Denkerfahrung und die Identität abstrakter Gegenstände Von Helmut Pape

I. Zur Einführung: Lachen, Denken und Abstraktion Hand aufs Herz: Haben Sie heute schon gelacht? Nach dem Ereignis des Lachens zu fragen, macht Sinn. Jedoch zu fragen, ob Sie heute schon gedacht haben, ist nicht im selben Sinne sinnvoll. Jedenfalls dann nicht, wenn wir uns an einer der zentralen Bedeutungen von ›Denken‹ orientieren. Wir neigen dazu, jede Aktivität unseres Bewußtseins mit Denken zumindest zu verbinden. Dies ist der Grund dafür, daß z. B. William James in seiner Psychologie von 1890 1 vom ›Strom des Denkens‹ spricht. Damit meint er, was wir heute als ›Bewußtseinsstrom‹ (stream of consciousness) bezeichnen und was auch James selbst später so bezeichnet hat. Aber mir geht es nicht um diese Bedeutung von ›Denken‹, um dieses Fließen bewußter Aktivität. Mir geht es um eine Bedeutung von ›Denken‹, die einzelne Akte besonderer Anstrengung beschreibt, die sich bewußt kontrollieren lassen. Abstraktives, begriffliches Denken kann zeitlich als bewußt ausgeführte und beeinflußte Denkhandlung lokalisierbar sein. Es wird von uns – jedenfalls manchmal – als distinkte Handlung kontrolliert, erfahren und erinnert. Denken Sie an die Reihe des Piper-Verlags Denkanstöße. Über diesen Titel hat sich Robert Gernhardt mit einem kleinen Reim lustig gemacht. In etwa: »Ja, gib mir noch einen Denkanstoß. Dann geht gleich das Denken los. Ach, ich brauch’ Deinen Denkanstoß, Denkanstoß.« Doch wie erfahren wir, was wir selbst und andere Menschen denken? Denken Sie jetzt diese Worte, die ich vor einigen Wochen geschrieben habe? Oder kann ich nur beanspruchen, daß ich sie damals – beim Niederschreiben am Computer – gedacht und Sie sie nun nur lesend nachvollziehen? Dann wäre Ihre Erfahrung meines Denkens durch das Lesen bestenfalls vermittelt. Wir sagen, daß Verstehen von Texten idealerweise dann gelingt, wenn es derselbe Gedanke ist, der von mir gedacht und von Ihnen verstanden wird. Was bettet unser Denken so in Verwendungskontexte ein, daß ein Gedanke als derselbe zu unterschiedlichen Zeiten und von verschiedenen Personen interpretiert und fortgedacht wird? Erreichen wir dieses Verstehensideal, einen Gedanken interpretativ nachzuvollziehen?

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William James: Principles of Psychology, I und II, New York 1950 (= London 1890).

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2004 · © Felix Meiner Verlag · ISSN 1439-5886

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II. Die Allgemeinheit und Vagheit von Interpretationen: Ein Beispiel Gehen wir von einem Beispiel aus, indem es um das richtige Interpretieren von Kunst geht. Ich wähle das Beispiel eines Denkens, das ein Kunstwerk interpretiert, aber es nur vage und allgemein auszulegen scheint. Das Beispiel entnehme ich dem Aufsatz von John Berger, That which is held, in etwa Was wir festhalten. Bergers Aufsatz beginnt mit den folgenden Worten2: »Ich denke angesichts Giorgiones La Tempesta, und ich möchte mit einem Zitat von Osip Mandelstam beginnen: ›Für Dante ist die Zeit der Inhalt der Geschichte, der in einem einzelnen synchronen Akt gespürt wird. Und umgekehrt ist es der Zweck der Geschichte, die Zeit zusammenzuhalten, so daß alle Brüder und Gefährten in derselben Suche und Eroberung der Zeit sind.‹« Nach diesem Mandelstam-Zitat erweitert Berger den Bereich seiner Überlegungen zu der Frage nach der Theorie der Zeit in der Moderne: »Von allem, was wir aus dem 19. Jahrhundert geerbt haben, sind nur bestimmte Axiome über die Zeit weitgehend unangefochten geblieben. Die Linke wie die Rechte, Evolutionisten, Physiker und die meisten Revolutionäre, alle akzeptieren sie – zumindest auf der historischen Ebene – die Sicht des 19. Jh. eines eindimensionalen und einförmigen ›Verlaufs‹ der Zeit.« Der weitere Gedankengang plädiert für einen alternativen, kumulativen Umgang mit Zeit, der die lineare Zeit überformt: Durch das wertschätzende Hervor- oder Herausheben von Dingen und Ereignissen wird der »einzelne, synchrone Akt« des Festhaltens vollzogen, der die Linearität der Zeitfolge durchbricht. Nur ein wertendes Festhalten kann die lineare Zeit durchbrechen und durch Kreisbewegungen überformen: Dieser Vorgang ist für Berger die Grundstruktur aller das menschliche Leben erhaltenden Beziehungen. Dieser Beziehungstyp ist exemplarisch in der Liebe verkörpert. Das Modell der Liebe liegt sowohl der Kunst wie der Sexualität zugrunde. Doch Sexualität ist nach Berger das Gegenteil von Kunst. In einem abschließenden Schritt versucht Berger eine kulturkritisch-politische Deutung der unterschiedlichen Zeitkonzepte, der linearen und der gehaltenen Zeit. Für ihn gehen alle Ungerechtigkeiten des wertzerstörenden Ökonomismus, die der globalisierte Kapitalismus über uns verhängt hat, mit einer linear-eindimensionalen Sicht der Zeit einher. Die gehaltene Zeit ist die Vergegenwärtigung des Menschlichen. Sie ist durch Wertungen und ein Engagement herstellbar, das Menschen als kostbare und verletzliche Andere behandelt. Was sollen diese weitausgreifenden Überlegungen? Was hat die Szene von Giorgiones Gemälde La Tempesta mit dem Unterschied zwischen der linearen und der synchron-zyklischen Auffassung der Zeit zu tun? La Tempesta zeigt eine nackte Frau, die einen Säugling stillt und dabei von einem Mann betrachtet wird, in einer von einem Gewitter überwölbten imaginären Landschaft, die Gebäude, antike Rui2

John Berger: Keeping a Rendezvous, New York 1991, 27.

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nen und Natur vermischt. Die Deutung dieses Bildes ist kunstgeschichtlich äußerst umstritten. Die Einheitlichkeit der Farbgebung von Licht und Luft, die hier erstmals in der Kunstgeschichte die Gewitterstimmung eigenständig darstellt, ist immer wieder kommentiert worden. Doch wo liegt die Verbindung zum Zeitbegriff der Moderne? Berger versucht nicht einmal eine Verbindung zu dem Gemälde herzustellen. Ja, man könnte seinen Text auch völlig unabhängig von diesem Gemälde lesen und verstehen. Doch versuchen wir eine Verbindung herzustellen. Will uns Berger vielleicht sagen, dieses Gemälde sei ein ›einzelner, synchroner Akt des Festhaltens‹? Dann wäre aber La Tempesta nur der beliebige Anlaß, an dem er seine Zeittheorie vorführt: Ein Gemälde, anhand dessen gelungener und einprägsamer Einheitlichkeit das Gelingen von Malerei erläutert wird. Meine Deutung Bergers schafft ebensoviel Probleme, wie sie auflöst: Wieso ist es möglich, alle erfahrbar gelingende Malerei nur von dem Beispiel eines Gemäldes aus über die Konstruktion widerstreitender Zeitbegriffe zu denken? Bleibt nicht eine derartig abstrakte und allgemeine Charakterisierung von Kunst beliebig und unbestimmt durch ihren Ausgangspunkt – wie bestimmt und folgerichtig auch immer die einzelnen Denkschritte sein mögen, die eine solche Interpretation intern auszeichnen? Positiv gefragt: Welche Art des Denkens führt uns legitimerweise über den Einzelfall hinaus zum Denken von Verallgemeinerungen wie Berger sie vornimmt?

III. Denken, Dinge und das ›Paradox‹ des Objektbezugs von Interpretationen Alles Verstehen ist Interpretation. Bedeutet dies nicht, daß gerade in der Kunst stets alternative Interpretationen einander gegenüberstehen, die auch noch im Grad der Allgemeinheit stark voneinander abweichen können? Also sind auch Bergers Reflexionen über die Zeit durchaus normale interpretative Reaktionen. Ist das nicht eine Tatsache des Lebens, mit der wir uns abfinden sollten? Wieso ist meistens trotz aller Beliebigkeit und Allgemeinheit der Interpretation der Bezug auf identifizierbare Gegenstände problemlos erkennbar? Alles Denken scheint gegenüber seinen spezifischen Anlässen beliebig und zufällig. Schlimmer noch: Wir müssen befürchten, daß dies – mehr oder minder – notwendig so ist, weil das Denken in aussagbaren allgemeinen Prädikaten nur so sinnvoll vollzogen werden kann, daß wir prädikativ Bezüge herstellen, die über das bloße Reagieren und Erfassen des erfahrbaren Anlasses des Gedankens hinausgehen. Paradox formuliert: Je stärker ich Konkretheit fordere – etwa: »Sei ganz entspannt im Hier und Jetzt« –, desto allgemeiner ist der ausgedrückte Gedanken. Im urteilenden, propositionalen Denken wird die individuelle Situation in ein Netz von Relationierungen eingeordnet, die jede aktuelle Situation auf andere gleichartige und verschiedene Situationen bezieht. Dies führt zu der zweiten Frage, zum Gegenstandsbezug: Selbst in den abstrakten Überlegungen Bergers zu den unterschiedlichen Zeitkonzeptionen gelingt es uns,

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reale Gegebenheiten, den Verlauf historischer Ereignisse und die Zeitauffassung des 19. Jahrhunderts zu identifizieren. Ja, unser begrifflich-propositionales Denken ist auf die Beziehung zu Dingen angewiesen. Wir denken stets inmitten einer Welt der Dinge – Tatsachen, Ereignisse, Personen, Gegenstände –, und wir können nur mit und in ihr denken. Fällt diese Beziehung aus, entfernen wir uns sprachlich von den Dingen, so stellt sich Rat- und Sprachlosigkeit wenigstens zeitweise ein. John Austin erwähnt das Beispiel eines Goldfinken, der plötzlich in einer Explosion verschwindet. Sollten wir sagen, daß es kein Goldfink war? Nein, denn3: »Wir sagen nicht, daß wir uns geirrt haben, daß es ein Goldfink ist.« Austin versucht nicht, diese Frage zu beantworten. Er schreibt: »Uns fehlen die Worte.« Diese Beschreibung Austins ist in einer Weise unberechtigt. Hatte er nicht bereits gesagt, daß es sich um einen explodierenden Goldfinken handelte, was sicher ungewöhnlich, jedoch nicht unmöglich wäre, wenn der Goldfink Karbidkörner aufgepickt hätte? Doch das schmälert nicht die allgemeine Pointe, um die es Austin geht: Denken ebenso wie Fantasie sind auf im allgemeinen stabile Beziehungen zu den Gegenständen angewiesen, die nur schwer und unter großen Kosten abtrennbare Teile des Zusammenhangs sind, in dem unser Denken immer schon steht. Wir können uns nicht einmal in unseren kühnsten Träumen ausmalen, was es heißen würde, wenn alle Dinge, Tatsachen und Ereignisse sich gleichzeitig, in jeder Hinsicht unberechenbar und ungewohnt verhalten würden. Explodierende Vögel sind vorstellbar, aber unser Denken wäre nicht nur beschädigt, sondern unmöglich, wenn alle Dinge ihre Gewohnheiten verändern und sich beziehungslos zu dem, was wir über sie denken, spontan ändern würden. Deshalb hat Frederick L. Will recht, wenn er die allgemeine und formative Abhängigkeit unseres Denkens von den Dingen hervorhebt4: »[M]an kann sagen, daß genauso, wie wir in unserem Denken von Dingen abhängig sind, diese Dinge auf die Entwicklung unseres Denkens, auf unsere Sprache, einen leitenden Einfluß ausüben.« Diese beiden Seiten in der spannungsvollen Beziehung zwischen Interpretation und Denken scheinen einander zu widersprechen: Einerseits haben wir die relative Autonomie in der Folge der Gedanken und Interpretationen, doch haben wir gleichzeitig die Zufälligkeit in der Beziehung zum Anlaß des Denkens aufgewiesen. Zum anderen scheint es, daß unser Denken ohne die Beziehung zu Dingen – Gegenständen, Objekten – nicht bestehen und sich entwickeln könnte. Sind wir dadurch in einen Widerspruch geraten, der zwischen der inneren Autonomie und der unauflöslichen Gegenstandsausrichtung und -gebundenheit des Denkens besteht? Nicht unbedingt; denn viele derartige ›Widersprüche‹ sind nichts anderes als Ausdruck von Spannungen, die auf den funktionalen Aufwand hinweisen, der für die Arbeit des Verstehens nötig ist. Nur dann, wenn wir unseren cartesianischen InJohn Austin: Other Minds, in: Essays on Logic and Language – First and Second Series, ed. by Antony Flew, New York 1965, 354. 4 Frederick L. Will: Pragmatism and Realism, London 1997, 16. 3

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tuitionen nachgeben und Denken als eine einsame innere Aktivität auffassen, ergibt sich ein expliziter Widerspruch. Diesen Intuitionen sollten wir widerstehen und uns für eine andere Auffassung des Denkens entscheiden. Diese andere Sichtweise macht das Denken zu einer neben anderen Verhaltensweisen des Menschen. Um diese Sicht des Denkens geht es Charles Sanders Peirce, wenn er schreibt5: »Es gibt keinen Grund, warum ›Denken‹ [als eine Form des Verhaltens aufgefaßt, H.P.], […] in jenem engen Sinne verstanden werden sollte, in dem Schweigen und Dunkelheit dem Denken hilfreich sind. Es sollte vielmehr so verstanden werden, daß es das gesamte rationale Leben betrifft, so daß ein Experiment eine Denkoperation ist.« (CP 5.420) IV. Die Dinge des Denkens: Abstraktion, Identität und Wirklichkeit Wenn wir Denken als eine Form des erkenntnisgeleiteten Verhaltens verstehen, verhindert das schon den Übergang der Spannung zu einem Widerspruch zwischen innerer Autonomie und Gegenstandsgebundenheit des Denkens? Ich werde zeigen, daß ein Widerspruch dann nicht entsteht, wenn die pragmatische Sicht der Form von Theorie und Interpretation an ein bestimmtes Verständnis der Identität von Gegenständen gebunden wird. Um dies zu zeigen, ist die Skizze einer Theorie der Begriffsbildung erforderlich, und ich werde dazu Peirces Sicht der hypostatischen Abstraktion darlegen, um die autonome Funktion der Vernunft in der Konstitution der Objekte des Denkens beschreiben zu können. Doch wie wird das autonome Denken seiner Verpflichtung auf Gegenstände gerecht? Wir werden sehen, daß Peirce versucht, in einer Theorie der interpretativen Identität Gegenstandsbeziehung und interpretative Autonomie zu verknüpfen. Die Theorie der interpretativen Identität soll aber nicht nur erklären können, wie innere Autonomie und Objektgebundenheit zusammengehen, sondern auch zeigen, wie sie die Möglichkeit öffnen, abstrakte Gegenstände mit den realen Objekten in der Welt zu identifizieren.

V. Objekte des Denkens erzeugen: Hypostatische Abstraktion Worum geht es bei der hypostatischen Abstraktion, und wieso ist kann sie für unsere Fragestellung wichtig werden? Zunächst müssen wir eine Doppeldeutigkeit im Begriff der Abstraktion aufklären. Wir verstehen unter Abstraktion zum einen die Hervorhebung eines Aspekts oder Teils und Vernachlässigung des Restes eines Ganzen. Diese Art von AbstrakMit der Dezimalnotation und dem Sigel »CP«, z. B. CP 5.420, wird der fünfte Band und der 420. Abschnitt der Collected Papers of Charles Sanders Peirce zitiert, I–VI, ed. by Charles Hartshorne and Paul Weiss, Cambridge 1931–35; VII und VIII, ed. by Arthur W. Burks, Cambridge 21958. 5

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tion wird häufig mit dem psychischen Vorgang oder der Erfahrung der Ausrichtung von Aufmerksamkeit und Fokusbildung gleichgesetzt. Doch die subjektive Erfahrung oder der empirisch-psychisch nachweisbare Vorgang ist etwas anderes als die kognitive Leistung der Bildung abstrakter Begriffe. Für unsere Fragestellung ist nur die Logik der Bildung abstrakter Begriffe interessant, und wir können problemlos zugeben, daß die meisten derartigen Abstraktionsprozesse als Prozesse der Aufmerksamkeitsausrichtung erlebt werden. Doch theoretisch entscheidend für unser interpretierendes Denken ist jene hypostasierende Abstraktion, die allgemeine Begriffe als genuine Objekte des Denkens selbstkontrolliert erzeugt. Wie geschieht das? Es geht uns nicht um eine allgemeine Begriffstheorie – was ich hier nicht leisten kann und will. Wir gehen von der beschreibend verwendeten natürlichen Sprache aus. Wir sind bereits also in der Lage, Gegenstände unserer Umgebung durch Prädikate zu beschreiben. Wir betrachten nur den Vorgang des Heraushebens dieser bereits verwendeten prädikativen Bestimmungen, der zwei Bedingungen erfüllt: – Sie werden gezielt, d. h. vom Denkenden selbst kontrolliert, zum Gegenstand eines Nachdenkens gemacht; – Obwohl die Abstraktion stets von einer Verwendungssituation ausgeht, ist der abstrahierte Begriff unabhängig verwendbar und wird als unabhängig und auf andere mögliche Objekte anwendbar verstanden. Im Übergang von ›Die Rose ist rot‹ zu dem Nachdenken über ›Röte‹ wird der Begriff zum eigenständigen Objekt des Denkens gemacht: (1.) In einem reflexiven Akt wird ein fiktiv-abstraktes Objekt dadurch gebildet, daß das Denken (2.) einen bereits gedachten Inhalt des eigenen Gedankens noch einmal, nun aber als separates Objekt, darstellt. Durch diese gedanklich reflexive und gleichzeitig vergegenständlichende Wirkung der Abstraktion sind wir fähig, uns von beliebigen Anlässen zu emanzipieren. Wir gehen z.B. von der Wahrnehmung einer einzelnen roten Rose aus – und über sie hinaus. Der abstrahierte Begriff, der dieselbe Eigenschaft als Allgemeinbegriff faßt, ist nun selbst als ens rationis ein Gegenstand, dessen Beziehungen zu wirklichen Gegenständen weiter bedacht, geprüft und interpretiert werden können. Nicht erst Großbegriffe wie Tugend, Gerechtigkeit, Wahrheit, Schönheit sind solche abstrakten Begriffe, die echte, selbst kontrollierte Objekte des Denkens sind. Vielmehr kann im Anschluß an jede Erfahrung – z. B. auch im Übergang von ›Dieser Honig ist süß‹ zu ›Diesem Honig kommt Süße zu‹ – eine solche Bildung eines abstrakten Objekts vollzogen werden. Es hängt von unserer Entscheidung ab, wann wir eine Erfahrung des Bedenkens Wert befinden. Diese Auffassung von der abstraktiven Entstehung der Begriffe beschreibt die innere Dynamik der Denksemantik einer Person. So gewendet besagt sie: Erst der abstrahierte Begriff konstituiert ein fiktiv-abstraktes Objekt, das ein vorgängiges Urteil erneut auf allgemein anwendbare Weise für diese Person erfaßt. Einen Zweck z.B. kann eine Person erst dann ausbilden, wenn sie einen Teil eines vorausgegange-

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nen Gedankens, die gedachte Eigenschaft, als eigenständiges Objekt ihres Denkens ausgewählt hat. Für die Entwicklung einer Person ist wichtig: Diese Objektbildung beruht auf einer echten Selbstreferentialität des Denkens. Folglich erlaubt erst die hypostatische Abstraktion die Emanzipation des Denkens von seinen Umständen und die Aufprägung individueller selektiver Haltungen – später auch Entscheidungen – auf den weiteren Umgang mit Erfahrung. Ausgehend von Wahrnehmungs-, Erinnerungs- oder auch Fantasiegehalten wird so der mögliche Entwurf von späteren Objekten des Wollens vorgezeichnet. Trotzdem verweist das z.B. aus einer Wahrnehmung abstrahierte Denkobjekt auf die Gelegenheit seiner Einführung zurück: Sie kann an neuen Wahrnehmungen überprüft und mit ihnen verknüpft werden. Übrigens: Formallogisch gesehen ist der bloße Schritt der Bildung einer Abstraktion einem logisch gültigen Schluß weitgehend analog. Die Einführung eines abstrakten Allgemeinbegriffs, ausgehend von einer beschreibenden Aussage, die dasselbe Prädikat direkt zuschreibt, wäre ein notwendig gültiger Schluß. (Es handelt sich darum, daß die Instantiierung einer Klasse im Fall einer Aussage wie ›Bei dieser Rose liegt Röte vor‹ oder ›Röte existiert‹ behauptet wird.) Für das richtige Verständnis der Spannung zwischen Autonomie und Objektgebundenheit von Interpretationen ist nun wichtig, insbesondere eine Eigenschaft der hypostatischen Abstraktion hervorzuheben: Es ist die Reflexivität der Substantivierung, welche die Autonomie der internen Gegenstandsbeziehung ermöglicht und sichert. Der abstrahierte Begriff ist ein fiktiv-abstraktes Objekt, das ein vorgängiges Urteil, eine Wahrnehmung oder Erfahrung, erneut und unter der Perspektive ihrer Allgemeinheit bedenkbar macht: Indem wir einen Teil eines vorausgegangenen Gedankens, die gedachte Eigenschaft, zu einem eigenständigen Objekt des Denkens (logische gesehen als Klassenbegriff) auffassen, entsteht eine neue Ebene der Selbstreferentialität des Denkens. In diesem Sinne kann ich anschließend an Peirce sagen: »[W]ann immer wir über ein Prädikat sprechen, stellen wir einen Gedanken als ein Ding da«. (CP 5.554) Kurzum: Hypostatische Abstraktion vollzieht eine Emanzipation des Denkens angesichts der Erfahrung. Doch – solange diese Beziehung beachtet wird – bleibt sie sensibel gegenüber ihren Anlässen und eröffnet die Chance der Identifikation neuer Gegenstände, ob in der Erfahrung der Wirklichkeit oder in der Phantasie. Natürlich gibt es stets auch die Möglichkeit, daß sich abstraktives Denken in sich selbst verläuft und die Koppelung an die Erfahrung wirklicher Gegenstände vernachlässigt. Doch das ist ein abstraktives Denken, das die Abstraktionsbasis in den erfahrungsbezogenen, wahren Urteilen aufgegeben hat, die ihm allein ihre empirische Anwendbarkeit sichern kann. Ein viel interessanteres Problem ist die Frage, wie wir uns vor allzu leichtfertigen Identifikationen der abstrakten Objekte mit den Objekten unserer Erfahrung schützen. Jedenfalls scheint es gar keine andere Möglichkeit zu geben, als die Identifikation von abstrakten Objekten auf allen Stufen der Reflexionen mit wirklichen

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Objekten immer wieder zu erproben und selbst wieder zu reflektieren. Die Stärke unserer gedanklichen Auseinandersetzung mit der Welt hängt jedenfalls allein davon ab, daß wir alle Stufen des Prozesses von Abstraktion und Identifikation kritisch kontrollieren. Darauf scheint auch Peirce hinzuweisen, wenn er schreibt6: »Jene wundervolle Operation der hypostatischen Abstraktion, durch welche wir entia rationis zu erschaffen scheinen, die nichtsdestotrotz manchmal real sind, liefert uns das Mittel, Prädikate von Zeichen, die wir denken oder durch die wir denken, in Subjekte zu verwandeln, an die wir denken. Daraufhin können wir die Operation der hypostatischen Abstraktion wiederholen und aus diesen zweiten Intentionen dritte Intentionen ableiten. Läuft diese Folge endlos weiter? Ich denke nicht.« Der wichtige Beitrag für die Auflösung des Widerspruchs von Objektgebundenheit und Autonomie der Interpretationen durch die Konstruktion eines abstrakten Objekts besteht darin, daß dieses Objekt beides zugleich ist: – die Einführung einer Reflexions- und Darstellungsstufe, die uns vom vorliegenden Fall distanziert; – das Herausgreifen einer Eigenschaft der ursprünglichen Aussage selbst, von der wir ausgegangen waren. Genauer: Die Eigenschaften der ersten Aussage ›Honig ist süß‹ werden in ›Honig besitzt Süße‹ selbst als Zeichen zum Gegenstand unseres Nachdenkens, indem wir den abstrakten Begriff ›Süße‹ einführen. Im abstraktiven Denken eines Begriffs manifestiert sich also der eigentlich rationale Umgang mit unserem Denken. Die obige Rede von Emanzipation war deshalb keineswegs zufällig oder nur auf den Aufbau einzelner Interpretationen eingeschränkt: Es sind die abstraktiven Denkschritte, die wir kontrollieren und kritisieren können. Die Voraussetzung für die rationale Entwicklung und Emanzipation des Denkens ist aber ein Ineinandergreifen von Kontrolle und Erfahrung im Vollzug der Gedanken. Dies meint Peirce wenn er schreibt: »In meinem Denken ist jene Fähigkeit [der Sprache, H. P.] selbst ein Phänomen der Selbstkontrolle. Denn Denken ist eine Art von Verhalten und ist, wie jedermann weiß, selbst kontrollierbar. Nun wird die intellektuelle Kontrolle des Denkens dadurch ausgeführt, daß man über das Denken nachdenkt. Alles Denken erfolgt in Zeichen.« (CP 5.534) Ein Grad an rationaler Kontrolle ist dadurch möglich, daß wir Begriffe abstrakter Gegenstände wie ›Süße‹ zielgerichtet einführen, um unser Denken selbst näher zu thematisieren. Natürlich gibt es keine Süße an sich – etwa eine zeitlos-platonische Idee der Süße. Vielmehr haben wir sie eingeführt, um über die Aussage ›Honig ist süß‹ auf eine Weise sprechen zu können, die es uns z.B. erlaubt, die Süße des Honigs mit jener der Weintrauben vergleichen zu können. Nun sehen wir, wie die beiden scheinbar widersprüchlichen Eigenschaften sehr wohl zusammengehen können. Charles Sanders Peirce: Semiotische Schriften, III, hg. von C. Kloesel und H. Pape, Frankfurt 1993, 161 f. (Im Original: CP 4.549, 1906.) 6

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Denn die innere Kohärenz und Autonomie des Denkens beruht auf der Konstruktion des abstrahierenden Denkens und Interpretierens. Die Objektgebundenheit dieser Konstruktion besteht darin, daß dieses abstrakte Objekt nur eine neue Darstellungsperspektive einführt, weil es auf ein bereits erfahrenes Objekt Bezug nimmt – eben auf ›Die Rose ist rot‹ oder ›Der Honig ist süß‹. Wir könnten nun unsere hypostatischen Abstraktionen fortsetzen und von ›Honig besitzt Süße‹ übergehen zu ›Es gibt Geschmackseigenschaften‹. Die hypostatische Abstraktion ist nicht ein unverzichtbares Instrument des Denkens – sie ist die einzige Operation, die interpretierendes Denken ermöglicht. So führt der Weg – lassen wir nur einige Stufen der Bildung abstrakter Objekte aus – John Berger von der Zeitlichkeit von Giorgiones La Tempesta zum Nachdenken über den linearen Begriff der Zeit des 19. Jahrhunderts und seine Alternativen.

VI. Interpretative Identität: Unser Erfassen der Objekte von Interpretationen Interpretieren wir z. B. ein Gemälde, so widerspricht die Autonomie in der Auswahl eines Darstellungsaspekts, den wir in einem abstrakten Begriff fassen, nicht einem konkreten Gegenstandbezug dieser Interpretation. Dieses negative Ergebnis bedarf natürlich noch einiger Ergänzungen. Eine wichtige Ergänzung ergibt sich dadurch, daß wir klären, unter welchen Voraussetzungen sich die Identität des Objekts der interpretierenden Bestimmungen in Erfahrung und Denken sicherstellen läßt. Von welcher Leistung unseres Denkens hängt es ab, daß im Übergang von ›Dieser Honig ist süß‹ zu ›Honig besitzt Süße‹ ein neues internes Objekt des Denkens eingeführt wird, die Beziehung zu dem konkreten Objekt der Erfahrung jedoch gewahrt bleibt? Den ersten Teil einer Antwort können wir aus der Theorie der hypostatischen Abstraktion folgern: Es liegt daran, daß wir die Tatsache, daß Honig süß ist, als eine Relation denken, die zwischen einem Gegenstand, Honig, und einem anderen, dem abstrakten Gegenstand Süße, besteht. Erst durch die Wahl der Form der Relation als Darstellungsweise wird es möglich, andere Relationen des Vergleichs durch Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit zuzuordnen. Damit wird es möglich, aus einer Relation zwischen Darstellungen auch eine andere, für die Erweiterung unseres Wissens wichtige Relation zu gewinnen: Die Relation der Identität des Objekts eines abstrakten Begriffs muß mit dem Objekt verschiedener Darstellungen identifizierbar sein, damit es möglich ist, reale und fiktive Gegenstände miteinander zu identifizieren. Anders gesagt: Wenn wir ›Honig ist süß‹ und ›Opium schläfert Leute ein‹ durch ›Honig besitzt Süße‹ und ›Opium enthält eine einschläfernde Kraft‹ ersetzen, so sind wir zu einer Miniaturtheorie und der Rede über abstrakt-theoretische Objekte übergegangen, die den Bezug auf wirkliche Objekte zulassen, aber nicht fordern. Wir behaupten dadurch, daß aus der Theorie selbst wichtige Identifikations-

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bedingungen für die Objekte unserer Erfahrung folgen. Die entscheidende These lautet: Die theoretischen Objekte sind nichts anderes als Objekte, die zunächst und vor allem durch ihre interpretative Identität bestimmt werden können, die durch die semiotischen Beziehungen zwischen den Begriffen einer Theorie selbst festgelegt werden. Der in diesem Vortrag letzte Schritt zu einer Antwort auf die Frage, wieso interpretative Autonomie und Objektgebundenheit zusammengehen, beschreibt deshalb die pragmatisch-methodischen Bedingungen der Form von Theorie. Er ergibt sich, wenn wir uns klar machen, wie die interpretative Identität theoretischer Objekte zustande kommen kann.7 Wir beschränken uns auf die Identität von Objekten, insofern sie in mehreren verknüpften Interpretationen dargestellt werden. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen: Wenn Sie in eine Bar treten, wo sich Leute über einen gewissen John unterhalten, von dem Paul zu Linda sagt, daß er ein lustiger Kerl sei, was Linda bestätigt und nun ihrerseits erzählt, daß sich John einen Papagei gekauft habe, so reicht es aus, daß sie John, den lustigen Kerl, mit John, dem Papageienkäufer, identifizieren, um verstanden zu haben, wovon die Rede ist. Es ist nicht erforderlich, daß sie auch noch wissen, welche Person und welcher konkrete Mensch John selbst tatsächlich ist, wie er aussieht usw. Der Begriff der interpretativen Identität meint den Zusammenhang zwischen den Identitätsbeziehungen, die Aussagen und Texten implizit sind. Deshalb ist der zentrale Satz der Peirceschen Identitätstheorie die verknüpfte Identität und nicht die Selbstidentität, a = a. Die denkbar einfachste Form, in der die interpretative Identität entstehen kann, ist die gleichzeitige Geltung zweier Identitätsaussagen, die drei Objekte identifiziert: a=b&b=c Drei Objekte – a, b, c –, dies ist der Grund, daß Peirce dies den Satz der Teridentität nennt. Er besagt, daß die Identität eines Objekts b das Resultat der Verknüpfung zweier Identitäten mit a und c ist. Diese Ebene der durch Interpretationen identifizierten Objekte ist nicht auf Selbstidentität zurückführbar. Peirce betont deshalb: »Es geht um Identität und Identität, aber dieses ›und‹ ist ein besonderer Begriff, jener der Teridentität.« (CP 4.417)

7 Ein Wort der Warnung: Die interpretative oder transitive Identität eines Objekts benötigt keine alternative Theorie der Identität. Wir müssen nicht die starken Gesetze der Selbstidentität und die Identität des Ununterscheidbaren leugnen, die in der normalen Identitätslogik gelten. Der Punkt einer Theorie der interpretativen Identität ist lediglich, daß wir die Frage der Selbstidentität offenlassen können, solange es um die Objekte von Interpretationen geht.

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VII. Normativ betrachtet: Interpretative Identität und die Form von Theorien Es ist Zeit, die Fäden der Argumentation zu einer Antwort auf die Ausgangsfrage zusammenzuführen. Was hat das Dargelegte nun genau mit dem janusköpfigen Charakter von Interpretationen zu tun, die sowohl autonom strukturiert als auch objektbezogen sind oder manchmal wenigstens sein können? Können denn z.B. auch die Begriffe, die ich durch Abstraktion gewonnen habe, in Beziehungen der interpretativen Identität zueinander treten? Inwiefern haben Beziehungen interpretativer Identität Konsequenzen für die Form von Theorien und die Prägnanz von Interpretationen? Eben dies will ich behaupten: daß, wenn wir Identitätsbeziehungen zwischen den Objekten abstraktiv gewonnener Begriffe erfassen, wir sie in der Tat vor allem als Objekte des Denkens und Interpretierens identifizieren. Natürlich müssen sich diese Identitätsbeziehungen zwischen Abstrakta immer wieder übersetzen lassen in die Aussagen über normale, nicht-abstrakte Gegenstände. Behaupte ich z. B. eine solche Identität zwischen zwei Begriffen wie in: ›Der alternative, nicht-lineare Zeitbegriffs John Bergers in That which is held ist derselbe wie der Zeitbegriff von Jürgen Habermas in Der philosophische Diskurs der Moderne‹, so mache ich hier zunächst einmal eine Identitätsaussage über zwei als abstrakte Objekte dargestellte Begriffe. In diesem Sinne können abstrakte Begriffe zunächst sehr wohl in Beziehungen der interpretativen Identität zueinander stehen. Doch wir dürfen die in Abschnitt V. dargelegte Bedingung der Genese von Abstraktionen aus der Erfahrung nicht vergessen. Es folgt aus dieser Bedingung, wie eine Kritik oder Überprüfung einer Identitätsbehauptung dieser Art aussehen müßte: Der Kritiker müßte zeigen, daß das, was Berger und Habermas tatsächlich in einzelnen Aussagen über die Eigenschaft der Zeit sagen, so unterschiedlich ist, daß keine derartige Identität der abstrakten Objekte ›Zeit bei Berger‹ und ›Zeit bei Habermas‹ gerechtfertigt werden kann. Damit ist klar, wie auf der gewonnenen Grundlage die erste Frage zu beantworten ist: Die Theorie der interpretativen Identität beantwortet die Frage, wie Autonomie und Objektgebundenheit von Interpretationen vereinbar sind. Die Interpretationen von Kunstwerken erzeugen Begriffe von abstrakten Objekten, die durch die innere Konsistenz und Folgerichtigkeit im Gang der Interpretation als miteinander identifizierbar behauptet werden. Diese interpretative Identität der abstrakt-fiktiven Objekte läßt zum einen stets die Möglichkeit offen, daß sich das interpretativ identifizierte abstrakte Objekt als wirklich erweist. Ja, diese ausgreifende Identifikation der Wirklichkeit durch Abstraktionen ist der einzige Maßstab für die erfahrungsorientierte Prüfung von Interpretationen. Zum anderen aber basiert die Einführung abstrakter Begriffe immer wieder und an entscheidenden Punkten an dem hypostatisch abstraktiven Übergang zu nicht abstrakten Erfahrungs- oder Wahrnehmungsurteilen. Die Kritik von Interpretationen, auch von Kunst, kann häufig (nicht immer) in dem Aufweis bestehen, daß eben diese konkrete Erfahrungsbasis einer abstrakten

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Begrifflichkeit falsch gewählt, unvollständig oder unzureichend ist. Die Wahl der richtigen Abstraktionen und Identitäten ist also für die Theorie relevant. Die Konsequenzen der interpretativen Identität für eine pragmatische Sicht der Form von Theorien ergeben sich, wenn wir von Peirces Prinzip des Pragmatismus, der pragmatischen Maxime, ausgehen. Diese Maxime gibt eine methodische Anweisung, die bezweckt, die Klarheit unserer Gedanken durch das Nachdenken über die praktische Anwendbarkeit der Gedankens zu erhöhen: »Überlege, was für Wirkungen, die denkbarerweise praktische Bedeutung besitzen können, wir vom Gegenstand unseres Begriffs in unserer Vorstellung erfassen. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen unser ganzer Begriff des Gegenstands.« (CP 5.402) Nach so vielen Thesen über die entscheidende Rolle der Objekte von Abstraktionen und deren Identitätsbeziehungen für unser Denken sollten Sie bei der doppelten Verwendung des Ausdrucks ›Gegenstand‹ in dieser Formulierung hellhörig geworden sein. Der Begriff der Wirkungen, so wird hier gesagt, soll dazu dienen den Begriff des Gegenstands der Vorstellungen zu erläutern. Im Denken, in den Interpretationen, erscheinen aber sowohl der Begriff der praktischen Wirkungen wie ein jeder theoretische Begriff zunächst als ein Objekt des Denkens, das als abstrakter Begriff gedacht wird. Die pragmatische Maxime schreibt vor, daß im Denken Identitätsvorstellungen einer ganz bestimmten Art hergestellt werden sollten, wenn wir Wissen und Erkennen auf klare Weise fruchtbar ordnen wollen: Eine klärend-explikative Beziehung wird dann erreicht, wenn wir einen Begriff praktischen Wirkungen zuordnen können. Das Ergebnis dieser pragmatischen Reflexion ist die Identifikation des theoretischen Begriffs mit dem Begriff der praktischen Wirkungen. Eine Überzeugung über praktische Wirkungen kann nur dann eine theoretische Überzeugung aufklären, wenn sie beide denselben Gegenstand oder Gegenstandsbereich betreffen. Das bedeutet aber für die Form, die wir unseren Theorien und Interpretationen geben sollten: Eine Beziehung zwischen Überzeugungen, die die Identität einer Art von Objekt zwischen einander folgenden Überzeugungen sichert, hat identitätsbewahrenden Charakter. Theorien, die es ermöglichen, interpretative Identitäten zu bewahren oder neu herzustellen, sind informativer und aussagekräftiger als identitätsaufhebende Theorien. Die interpretative Identität wird auf diese Weise zum methodischen Ideal und somit zu einem normativen Begriff. Wir müssen uns um sie sorgen, wenn wir nicht weiter wissen, zweifeln oder in Verwirrung geraten. Denn auch für die Interpretation von Kunstwerken gilt: Ihre interpretative Identität sollte bewahrt werden – dies ist die Voraussetzung dafür, daß wir die interpretative Identität der Objekte in der Praxis wiederfinden können. Denn schließlich ist ein Kunstwerk selbst eine visuelle symbolische Form, die Identität eines visuellen Objekts zu erzeugen und so abstraktiv zu bewahren. Auch dies hätte Berger meinen können, als er La Tempesta als einen ›einzelnen, synchronen Akt des Festhaltens‹ beschrieb.

Qualitative Erfahrung in A lltag, Kunst und R eligion Von Matthias Jung

Nichts scheint, wenigstens außerhalb der esoterischen Zirkel professioneller Wissenschaftstheorie, selbstverständlicher als die Berufung auf Erfahrung. In alltäglichen Gesprächen, epistemologischen und ästhetischen Diskursen, aber auch, seit William James’ epochalem Werk über die Varieties of Religious Experience 1 von 1902, in der Philosophie der Religion wird in vielfältigen Zusammenhängen auf Erfahrung Bezug genommen. Nicht zuletzt ist der inflationäre Gebrauch des Begriffs wohl seiner Fähigkeit geschuldet, Lebenspraxis und Theorie wenigstens semantisch miteinander zu verklammern. Genau diese Brückenfunktion wiederum macht ihn bei Theoretikern beliebt, denen an einer Vermittlung von wissenschaftlicher Methodologie und Alltagssprache gelegen ist, weckt aber auch den Verdacht jener, die den theoretischen Diskurs von jeder Kontamination mit dem vagen und unterminologischen Charakter gewöhnlichen Sprechens frei halten wollen. Unter den systematischen Motiven für einen asketischen Umgang mit dem Erfahrungsbegriff steht an erster Stelle die Befürchtung, durch seinen Gebrauch dem ›Mythos des Gegebenen‹ (Sellars) zu erliegen, also der Vorstellung, in der Erfahrung kämen wir in Kontakt mit einer begrifflich noch ungeformten, rein empirischen Wirklichkeit. Donald Davidson und in jüngster Zeit vor allem Robert Brandom haben dieses Motiv prominent vertreten. So übernimmt Brandom in Making it Explicit die Davidsonsche Kritik an dem Dualismus von Begriffsschema und Inhalt und schließt von ihr auf die theoretische Unhaltbarkeit des Erfahrungsbegriffs, den er sich anders als dualistisch nicht vorstellen kann.2 Mit dieser einzigen kritischen Erwähnung ist das Thema für ihn erledigt und tritt nicht mehr in Erscheinung. Auf der Linie Davidson-Brandom taucht die von uns unabhängige Wirklichkeit nur als kausale, nicht aber mehr als rationale Interventionsinstanz für unser Weltverständnis auf. Dem widerspricht explizit etwa John McDowell in Geist und Welt, indem er die Vorstellung zurückweist, das Festhalten am Erfahrungsbegriff lege uns auf einen inakzeptablen Dualismus fest. McDowell schlägt daher einen »›minimalen Empirismus‹« vor, der auf den Gedanken hinausläuft, »daß die Erfahrung ein Tribunal bilden muß, welches zwischen dem Denken und seiner Verantwortlichkeit für die Welt vermittelt«3. 1 William James: The Varieties of Religious Experience, in: ders.: Writings 1902–1910, New York 1987. 2 Robert Brandom: Making it Explicit – Reasoning, Representing and Discursive Commitment, Harvard 1994, 616. 3 John McDowell: Geist und Welt, Frankfurt/M. 1998, 12.

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2004 · © Felix Meiner Verlag · ISSN 1439-5886

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In solchen epistemologischen Kontroversen wie derjenigen zwischen Davidson/ Brandom und McDowell wird freilich in aller Regel ein Erfahrungsbegriff vorausgesetzt, der seine Konturen in der Abarbeitung am Empirismus angelsächsischer Prägung gewonnen hat. Dem stehen – meist – kontinentale Traditionen gegenüber, für die Erfahrung in erster Linie den Lebensvollzug des Subjekts zum Inhalt hat. Die Dualismusproblematik tritt hier zugunsten einer Erörterung hermeneutischer Strukturen der Interpretation etc. in den Hintergrund, freilich zu dem hohen Preis eines Verzichts auf Vermittlung mit dem Diskussionsstand wissenschaftstheoretischen Denkens. Insgesamt ist der starre Gegensatz zwischen einem eher am Beobachterstandpunkt und einem eher hermeneutisch ausgerichteten Erfahrungsbegriff sachlich sehr unbefriedigend und belastet auch alle Versuche, systematisch interessante Spezifizierungen eines globalen Konzepts von Erfahrung, etwa im Blick auf die Bereiche des Ästhetischen und des Religiösen, zu erarbeiten. Aus dieser Problemdiagnose ergibt sich der Aufbau dieses Beitrags: zunächst werde ich die Polarität von Erfahrung als Methode und Lebensvollzug untersuchen (I.). Im nächsten Schritt wende ich mich einer Konzeption zu, von der ich glaube, daß sie geeignet ist, zur Überwindung des genannten Dualismus beizutragen und gleichzeitig als Basis für die Spezifizierung regionaler Erfahrungskategorien zu dienen: dem Begriff qualitativer Erfahrung bei dem pragmatistischen Philosophen John Dewey (II.). Von ihm ausgehend werde ich abschließend versuchen, die Eigenart ästhetischer (III.) und religiöser Erfahrung (IV.) als unterschiedliche Spezifikate dieses qualitativen Begriffs zu bestimmen.

I. Erfahrung als Methode und Lebensvollzug Wenn Willard van Orman Quine in Zuspitzung der empiristischen Tradition, die er zugleich kritisiert, Erfahrung mit »der Menge aller zu diesem Zeitpunkt stimulierten neuronalen Außenrezeptoren«4 gleichsetzt, Hans-Georg Gadamer hingegen Erfahrung als jenes Kontingenzbewußtsein deutet, kraft dessen der Erfahrene realisiert, »daß er der Zeit und der Zukunft nicht Herr wird«5, werden sich unbefangene Leser fragen, ob hier nicht dasselbe Wort homonym für verschiedene Begriffe verwendet wird, die nichts gemeinsam haben. Doch ebenso scheint offensichtlich, daß sich die eigensinnige Logik wissenschaftstheoretischer Debatten nicht vollstän-

4 Nach der Formulierung von Alex Burri: Die Überreste des Empirismus, in: Der Begriff der Erfahrung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, hg. von Jürg Freudiger, Andreas Graeser und Klaus Petrus, München 1996, 82. Besonders eigentümlich an dieser naturalistischen Definition ist, daß sie propriozeptive und viszerale Empfindungen – also den Bereich dessen, was traditionell ›innere‹ Wahrnehmung genannt wurde – definitorisch eliminiert. 5 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode – Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975, 339.

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dig von der Perspektive der Ersten Person trennen läßt, wie sie existentialistische, lebensphilosophische und hermeneutische Erfahrungsbegriffe für sich in Anspruch nehmen: Phylo- wie ontogenetisch entspringt jede naturalistische Methodologie einem lebensweltlich konturierten Erfahrungsprozeß, dessen Fokus die Interaktion von Subjekten bildet, die in ihrem Wohl und Wehe von den Erfahrungen betroffen werden, die sie machen. Niemand kommt als naturalistischer Epistemologe zur Welt, die Ausdifferenzierung eines methodischen Erfahrungsstandpunktes der dritten Person, der emotionale und volitionale Interessen ausblendet, stellt eine späte und biographisch stets prekäre Errungenschaft der Zivilisation dar. Auch gelingt es genausowenig, den hier skizzierten Zusammenhang auf Fragen der Genese zu beschränken und das geltungslogische Problem der Beziehung der unterschiedlichen Frageperspektiven auszuklammern. Es gibt daher keine Alternative zu einer Theorie, die – gegen den Szientismus auch noch des postempiristischen Denkens – die Spezifik vormethodischer Erfahrung ernstnimmt, ohne diese doch – wie am deutlichsten wohl in Gadamers Wahrheit und Methode – epistemisch wie lebenspraktisch gegenüber dem wissenschaftlichen Denken zu privilegieren. Die philosophischen Traditionen, auf die sich bei diesem anspruchsvollen Versuch zurückgreifen läßt, werden dementsprechend weder im hermeneutischen noch im analytischen Denken zu finden sein. Der amerikanische Pragmatismus hingegen versteht sich vorab als antidualistische und wissenschaftsfreundliche Konzeption lebensweltlicher Praxis, genauer: der Einbettung epistemischer Prozesse in die Selbst-Umwelt-Interaktion. Daß Erfahrungen einen diachronen Kontext haben, in die Geschichten eingebettet sind, aus denen sich eine Lebensgeschichte zusammensetzt, ist dem pragmatistischen Konzept von Erfahrung selbstverständlicher Hintergrund.6 Ein besonders aussichtsreicher Kandidat für eine Theorie alltäglicher Erfahrung, die sich nicht gegen die Ausdifferenzierung einer naturalistischen Methodik stemmt, scheint mir in John Deweys Erwägungen zum Begriff des qualitativen Denkens vorzuliegen. Sie sollen im folgenden mit Blick auf die Charakteristika ästhetischer und religiöser Erfahrung behandelt werden. Ein wichtiges Kriterium besteht dabei in ihrer ›Pluralismuskompatibilität‹. Wendet man nämlich den Blick von den epistemischen Debatten hin zur Analyse der sozialen Realität posttraditionaler Gesellschaften, sieht man sich sogleich mit dem Phänomen der Koexistenz einer Mehrzahl von Visionen des guten Lebens, Sinndeutungen und religiösen Entwürfen konfrontiert. Ein empirizistischer Erfahrungsbegriff bleibt diesem Problem des sozialen Pluralismus gegenüber indifferent, weil er Unterschiede in der Urteilsbildung letztlich auf Differenzen in der empirischen Vgl. etwa John Dewey: Kunst als Erfahrung, Frankfurt/M. 1988, 47: »Philosophen, selbst Empiristen, sprechen von Erfahrung zumeist im allgemeinen Sinn. Alltägliches Sprechen hingegen bezieht sich auf Erfahrungen, von denen jede mit dem ihr eigenen Anfang und Ende einzig in ihrer Art ist. Denn das Leben […] besteht aus Geschichte, und jede Geschichte hat ihre besondere Handlung, Anfang und Ende, ihren besonderen Rhythmus und einen einzigartigen, sie gänzlich durchdringenden Charakter.« 6

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Basis unserer Inferenzen zurückführen muß, die qualitative Divergenz emotional aufgeladener Lebensentwürfe aber außen vorläßt. Setzt man hingegen, wie Dewey, bei der qualitativen Bestimmtheit des erstpersonalen Weltverhältnisses ein, können ›weltanschauliche‹ Differenzen als Ausdruck einer internen Verbindung von kognitiven Annahmen über die Welt und evaluativen Interpretationen konzeptualisiert werden.7 Gleichzeitig gewinnt man, wie ich unten noch zeigen werde, ein wichtiges Kriterium zur Differenzierung ästhetischer und religiöser Erfahrungsformen. Doch wie läßt sich ein qualitatives Konzept von Erfahrung so bestimmen, daß es als Theorie humanspezifischer Lebenspraxis tauglich wird, ohne doch wie Gadamer mit seiner ontologischen Wende der Hermeneutik dem naturwissenschaftlichen Denken Gewalt anzutun? Denn als methodisch angeleitete, experimentelle Praxis löst sich Erfahrung in der Tat aus dem qualitativen Kontext des alltäglichen Handelns und gewinnt einen Eigensinn, dessen radikalste Form gegenwärtig vermutlich von den neurophilosophischen Konzeptionen des Verhältnisses von sensuellem Input und neuronaler Informationsverarbeitung markiert wird. Mein Vorschlag zur Lösung des Problems: Das Spannungsverhältnis der beiden Traditionsstränge des Erfahrungsbegriffs (Lebensvollzug vs. Methode) ist begriffslogisch als Ausdruck einer Gattungs-Art-Beziehung zwischen Bedeutung (Gattung) und Wahrheit (Art) zu konzeptualisieren. Damit greife ich auf Überlegungen John Deweys aus dem Text Philosophie und Zivilisation von 1931 zurück. Philosophie hat es nach Dewey mit der »Enthüllung der Probleme, Proteste und Hoffnungen der Menschheit«8 zu tun, kurz: mit Bedeutungen. Bedeutungen sind für Dewey jene semantischen Tatbestände, in denen zum Ausdruck kommt, wie die Interaktionen von Menschen mit anderen und ihrer natürlichen Umwelt sie im Gedeihen oder Mißlingen ihres Lebens betreffen. Sie bilden den Fond aller Erfahrung und das Lebensmedium der Philosophie: »Sinn oder Bedeutung ist von größerem Umfang und höherem Wert als Wahrheit, und Philosophie hat es eher mit Sinn als mit Wahrheit zu tun.«9 Er beeilt sich hinzuzufügen, daß damit nicht etwa eine Abwertung des Wahrheitsbegriffs intendiert ist, sondern vielmehr seine pragmatische Kontextualisierung: Sinn- und Bedeutungsfragen10 sind im Prozeß der Erfahrung primär und bilden jenes Medium, aus dem sich fallweise die methodische Behandlung von Wahrheitsfragen ausdifferenzieren kann: dann und nur dann nämlich, wenn dies die Sachlogik des jeweiligen Sinnbereiches erfordert. »Selbst im Hinblick auf Wahrheiten ist Sinn oder Bedeutung die umfassendere Kategorie; Wahrheiten sind nur eine Auch das ungeliebte siamesische Zwillingskind des Pluralismus, der weltanschauliche Fundamentalismus, läßt sich im Rahmen einer Theorie qualitativer Erfahrung verständlich machen. Vgl. dazu vom Verf.: Wir Fundamentalisten. Auf der Suche nach Gewißheit, erscheint in: Psychologie heute 10 (2004). 8 John Dewey, Philosophie und Zivilisation (1931), Frankfurt/M. 2003, 8. 9 Ebd. 10 Im Unterschied zu Frege und zur analytischen Tradition verwendet Dewey diese Begriffe nahezu synonym. 7

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Klasse von Bedeutungen, nämlich diejenigen, in denen ein Anspruch auf Verifizierbarkeit durch Konsequenzen ein immanenter Teil ihrer Bedeutung ist.«11 Übertragen auf das Verhältnis von Lebenserfahrung und Methode bedeutet dies: Primär ist die nichtmethodische Erfahrung des Lebensvollzugs. Diese differenziert sich freilich intern und entläßt aus sich methodisch eigensinnige Erfahrungsmodi, die sich der Bearbeitung jener Fragen widmen, in denen die Bedeutung nur durch die Beurteilung von Wahrheitsansprüchen hindurch realisiert werden kann. Wo dies der Fall ist, also etwa in den Naturwissenschaften, würde es die Bedeutung der Sachverhalte entscheidend verfälschen, wenn der Primat der Wahrheitsfragen nicht gewahrt bliebe. Mit dieser Konzeption schiebt Dewey also der Versuchung einen Riegel vor, lebensweltliche Sinnbedürfnisse in epistemische Probleme hineinzulesen: Anthropozentrische Kosmologien und Weltanschauungen sind seine Sache nicht. Gleichzeitig gilt aber auch, daß die lebenspraktische Erfahrung von Bedeutungen verfälscht wird, wenn man sie über den Kamm wissenschaftlicher Verifikationsprobleme schert. Die ›differentia specifica‹ des Artbegriffs – der intrinsische Verifikationsbezug – darf nicht in das ›genus proximum‹ hineingelesen werden, so wie es umgekehrt überall dort, wo es um den Wahrheitswert von Aussagen geht, ruinös wäre, diesen durch evaluative Urteile über Lebensförderlichkeit zu ersetzen. Diese Einsicht, ohne die auch eine trennscharfe Differenzierung ästhetischer und religiöser Subspecies des Erfahrungsbegriffs nicht gelingen kann, faßt Dewey in ein großartiges Bild, das unschwer als Travestie der wohl bekanntesten Metapher aus der Kritik der reinen Vernunft erkennbar ist: »Jenseits dieser Inseln von Bedeutungen, die ihrer eigenen Natur nach wahr oder falsch sind, liegt der Ozean der Bedeutungen, für die Wahrheit oder Falschheit irrelevant sind.«12 Die entscheidende Frage für die Diskriminierung angemessener Erfahrungsmodi ist demnach immer: Wird die Bedeutung des Inhalts der Erfahrung durch einen intrinsischen Bezug auf ihren Wahrheitswert mitkonstituiert? Dies scheint bei ästhetischer Erfahrung, vorsichtig ausgedrückt, zumindest weniger der Fall zu sein als bei religiöser. Denn während der Sinngehalt eines Kunstwerks oder auch einer kontemplativen Versenkung ins Naturschöne keine propositionalen Festlegungen auf die Beschaffenheit einer von uns unabhängigen Realität impliziert, scheinen die ontologischen Verpflichtungen, die der Träger einer religiösen Überzeugung eingeht, ungleich massiver, und es ist kein Zufall, daß etwa das Christentum Dogmen ausgebildet hat, deren sprachliche Form propositional ist. Bedeutungen, nach Dewey ebensosehr Gegenstand wie Medium der qualitativen Erfahrungen unseres Lebens, sind intrinsisch perspektivisch und als Korrelat eines neutralisierten Beobachterstandpunktes, eines hypothetischen ›view from nowhere‹ (Thomas Nagel), nicht einmal denkbar. Es gibt sie nur, wenn ein intrinsisch erstpersonales Verhältnis zum Gegenstand vorliegt (in der Terminologie, die William James 11 12

Ebd., 9. Ebd.

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in seinem Aufsatz The Will to Believe erarbeitet hat, könnte man auch von einer ›living option‹ sprechen). Und Bedeutungen weisen immer einen qualitativen Aspekt auf: Es fühlt sich eben, um eine bekannte Formulierung von Thomas Nagel zu variieren, jeweils so-oder-so an, in dieser oder jener bedeutsamen Situation zu sein, sein Leben im Lichte bestimmter Werte zu deuten, die Dinge auf eine bestimmte Weise zu sehen. Dies gilt sogar dann, wenn es sich um jene Subspezies von Bedeutungen handelt, bei denen der Wahrheitswert entscheidend ist. Denn propositionales Wissen wird nur dadurch Bestandteil des handlungsleitenden Überzeugungssystems einer Person, daß sein Wahrheitswert in eine qualitative Bewertung eingebettet wird, die seine Bedeutung für die Lebensinteressen dieser Person bestimmt. Immer dann also, wenn ein erstpersonales Verhältnis zur Sache dieser selbst intrinsisch ist, dominiert die Strukturlogik qualitativer Erfahrung. Diese bildet den Standardmodus unseres Weltzugangs, ist onto- wie phylogenetisch primär und – wertneutral verstanden – konstitutiv anthropo- wie egozentrisch: Wirklichkeit erscheint ihr als Korrelat menschlicher Lebensinteressen im allgemeinen und der persönlichen Lebensführung im speziellen. Nicht so die Logik (natur)wissenschaftlicher Forschung: Sie ist durch Dezentrierung gekennzeichnet und konstituiert sich methodisch als die Suche nach einer ›speziesneutralen‹ Beschreibung der Wirklichkeit, die, um Deweys Metapher nochmals aufzugreifen, nach den Inseln wahrheitsfähiger Bedeutungen sucht, ohne sich für ihre Lage im Ozean anthropomorphen Sinns zu interessieren. Zwar ist die historische Genese eines im Beobachterstandpunkt zentrierten, methodischen Konzepts von Erfahrung in ihrer Motivation nicht zuletzt der Einsicht geschuldet, daß erfolgreiches Handeln aus der Teilnehmerperspektive die Kenntnis kausaler, nichtteleologischer Zusammenhänge voraussetzt (Bacons Motiv des ›natura parendo vincitur‹); dennoch hat sie eine Entwicklung angestoßen, in deren Verlauf das an den Naturwissenschaften orientierte Denken humanspezifischen Bedeutungen zunehmend einen bloß epiphänomenalen Charakter zuerkennt. Auf diese Gefahr einer drohenden Desintegration von Alltagserfahrung und Wissenschaft13 reagiert Dewey mit seinem pragmatistischen Erfahrungsbegriff. Dessen Originalität zeigt sich vor allem darin, daß er am Primat lebensweltlicher Bedeutung vor Wahrheit und an einer naturalistischen Grundeinstellung gleichermaßen festhält. Man könnte Dewey daher im Unterschied zum wissenschaftstheoretischen Mainstream als ›Erste-Person-Naturalisten‹14 bezeichnen. Seine Konzeption qualitativer Erfahrung verdankt sich der Suche nach einem Verständnis des spezifisch Menschlichen in evolutionärer Kontinuität zu anderen Naturprozessen, die gleich13 Vgl. dazu besonders das Kapitel IV aus Deweys Logik von 1938 (dt. Erstausgabe Frankfurt/ M. 2002) mit dem Titel: Gesunder Menschenverstand und wissenschaftliche Forschung, etwa 100: »Die Wissenschaft nimmt ihren Ausgang vom gesunden Menschenverstand, aber der Rückweg zu ihm ist verschlungen und wird von den herrschenden sozialen Bedingungen blockiert.« 14 Für Dewey eigene Unterscheidung von Naturalismus und Materialismus vgl. John Dewey, Sidney Hook and Ernst Nagel, Are Naturalists Materialists?, in: Journal of Philosophy 1942 (1945), 515–530.

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wohl emphatisch an dem normativen Kern unseres Selbstverständnisses als Kulturwesen festhält: Wir sind wirklich frei und verantwortlich, es macht einen Unterschied, an welche Werte und Normen wir uns binden, die Sinnstrukturen von Alltagserfahrung, Kunst, Religion und Wissenschaften bilden unsere kulturelle Heimat. Der nun folgende Teil ist der systematisierenden Darstellung von Deweys höchst origineller Erfahrungskonzeption gewidmet.

II. »The ordinary experience of the common man«: John Deweys qualitativer Erfahrungsbegriff Im Blick auf den weiter unten (III. und IV.) unternommenen Vorschlag, ästhetische und religiöse Erfahrung begriffslogisch als je verschiedene Spezifikate des Generalisats ›gewöhnliche Erfahrung‹ zu fassen, ist die intellektuelle Biographie John Deweys von hohem Interesse. Sie wird nämlich bis zur Entwicklung seines ›humanistischen Naturalismus‹ in den zwanziger Jahren massiv geprägt durch eine Transformation von lebenspraktischen Motiven seiner religiösen Herkunftstradition, die ihn über idealistische Zwischenstadien zu seiner emphatischen Engführung demokratie- und erfahrungstheoretischer Motive führt. So problematische Züge Deweys religiöse Überhöhung des demokratischen Ideals nun auch trägt,15 daß sich sein Erfahrungs- und Handlungsbegriff entschieden allen kognitivistischen Verkürzungen entgegenstellt, läßt sich nur vor dem Hintergrund dessen verständlich machen, was ich den ›affektiv integrierten Holismus‹ des Religiösen nennen möchte. Darunter verstehe ich die Tatsache, daß gelebte Religion immer eine Integrationsform kognitiver, volitionaler und emotionaler Aspekte darstellt. Diese hat in dem starken Sinn einen holistischen Charakter, als die beteiligten Relate nur durch ihre Interaktion als Komposita eines Ganzen erkennbar werden. So behaupte ich etwa, daß propositionale Komponenten einer religiös bestimmten Lebensform (Dogmen etc.) sachlich nicht unabhängig von den jeweils dominierenden affektiven Mustern der Wertentstehung gedacht werden können, wie diese ihrerseits mit dem normativen Rahmen der Willensbindung interagieren etc. Dem Bereich der Gefühle kommt innerhalb dieser holistischen Struktur die herausgehobene Rolle eines subjektiven Relevanzindikators zu: Wie Glaubensinhalte und/oder ethische Normen das Selbst aus einer eudämonistischen Perspektive betreffen, indizieren Gefühlsreaktionen. Insofern sind religiöse Lebensformen besonders griffige Beispiele für den von Dewey behaupteten Primat der Bedeutung vor der Wahrheit (genauer: der Gattung nicht intrinsisch verifizierbarer Bedeutungen vor ihrer wahrheitsdefiniten Subspezies des Propositionalen). Meine These nun: Der Vgl. dazu den Beitrag des Verf.: »Qualitative Thought«. Deweys holistischer Erfahrungsbegriff als Basis einer pragmatistischen Religionsphilosophie, in: Gottesglaube Gotteserfahrung Gotteserkenntnis – Begründungsformen religiöser Erfahrung in der Gegenwart, hg. von Günther Kruck, Mainz 2003, 69–83. 15

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qualitative Charakter lebensweltlicher Erfahrung überhaupt ist Dewey im religiösen Kontext aufgegangen und hat ihn gegen die Isolierung epistemischer von normativen und lebenspraktischen Fragestellungen entschieden skeptisch werden lassen. Diese Skepsis wird noch verstärkt – und damit gleichzeitig eine theoriegeschichtlich höchst ausgefallene Konstellation geschaffen – durch Deweys philosophische Aneignung des Darwinismus16 und die damit gegebene Orientierung an einem Modell von Erfahrung als Komplement der praktischen Interaktion von Selbst und Milieu. Schon bei Darwin selbst hatte diese Ausgangsstellung ein starkes Interesse an affektiven Äußerungen als Indices der Qualität von aktuellen Passungsverhältnissen zwischen dem Organismus und seiner Umwelt bedingt, die ihren Niederschlag in dem Klassiker The Expression of the Emotions in Man and Animals (1872) fand. Und Dewey macht spätestens mit seinem genialen frühen Aufsatz über den Reflexbogen von 1896 17 klar, daß er die sensorischen Qualia einer empiristischen Psychologie als verdinglichte Phasen eines im ganzen qualitativen Erfahrungsprozesses begreift. In der Formationsphase seiner reifen Erfahrungstheorie in den zwanziger Jahren widmet er dann der Idee einer affektintegrierten Handlungs- und Erfahrungsganzheit besondere Aufmerksamkeit, um schließlich in dem höchst dichten Text Qualitative Thought von 1930, entstanden im Nachtrag zu seiner Philosophiekritik The Quest for Certainty (1929) und als Auftakt zu seinen beiden späten Hauptwerken Art as Experience (1934) und Logic – The Theory of Inquiry (1938), seinen Grundgedanken stringent zu entfalten. Deweys Aufsatz von 1896 ist ein bemerkenswerter Text, weil er in ihm zum ersten Mal in aller Deutlichkeit die antireduktionistische und antidualistische Pointe seines Rückgriffs auf organische Prozesse herausarbeitet: Die Elementareinheit des Verhaltens, wie der deutsche Titel lautet, ist die Interaktion von Organismus und Milieu, in der die starre Trennung von (aktiver) Handlung und (passiver) Erfahrung gar keine Rolle spielt. Die Idee des ›Reflexbogens‹, das damals avancierteste Denkmittel zum Verständnis dieser Elementareinheit, bleibe aber, so Dewey, noch den dualistischen Schemata der älteren Psychologie (Leib / Seele, Empfindung / Handlung etc.) verhaftet, indem sie diese nur in einen mechanischen Konnex von Reiz und Reaktion übersetze. Die Idee, »zwischen Empfindung, Gedanken und Akten bestehe ein starrer Unterschied«, müsse zugunsten einer Interpretation des Charakters von »Empfindung, Idee und Handlung aus ihrer Stellung und Funktion im sensorisch-motorischen Schaltkreis«18 aufgegeben werden. – Übrigens ist dies ein Gedanke, der gegenwärtig – freilich ohne Bezug auf Deweys Pionierarbeit – wieder den von der Robotik geprägten Zweig der Kognitionswissenschaften nachhaltig 16 Vgl. John Dewey: The Influence of Darwinism on Philosophy, in: ders.: Middle Works 4 – Essays on Pragmatism and Truth 1907–1909, Carbondale 1977, 3–14. 17 Seit 2003 dt. zugänglich in: Philosophie und Zivilisation (Anm. 8), 230–244. 18 John Dewey: Die Elementareinheit des Verhaltens, in: ders.: Philosophie und Zivilisation (Anm. 8), 230.

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inspiriert, wo das starre Input-Output-Schema der klassischen KI zugunsten operativer ›loops‹ zwischen autonomen Systemen und ihrer Umwelt unterlaufen wird.19 Auf dieser Basis nun entwickelt Dewey seine Diskussion des Qualia-Problems, die auf weite Strecken wie ein um hundert Jahre vorweggenommener Kommentar zu den analytischen Qualia-Debatten der Gegenwart wirkt. Deweys zentraler Kritikpunkt besteht darin, daß die Konzentration auf sensorische Qualia als Input mentaler Prozesse diese reifiziert und ein letztlich passives Modell von Erfahrung nahelegt. Was aber jeweils als Input gelten könne, werde überhaupt erst, so Deweys Einwand, von der Eigenaktivität des Organismus in seiner Interaktion mit der Umwelt bestimmt: »[D]ie Reaktion ist nicht lediglich eine Reaktion auf den Reiz; sie ist sozusagen eine Reaktion in ihn hinein.«20 Es sind die Lebensbedürfnisse des Organismus, die über motorische Schemata aktiv bestimmen, was als qualitativer Reiz wirken kann. Der qualitative Aspekt von Erfahrung, in der vom Empirismus dominierten Debatte mit der bewußten Manifestation des sensorisch-passiven Inputs gleichgesetzt, wird damit dynamisiert, an die Eigenaktivität des Organismus angekoppelt und von dessen Lebens- und Überlebensinteressen abhängig gemacht. Im Reflexbogen-Aufsatz wird Erfahrung auf das aktiv herzustellende Zusammenspiel von Bedingungen, die dem Organismus intern sind, mit solchen der Umwelt bezogen. Die Frage nach der psychischen Repräsentation dieser Bedingungen und deren Rolle für den Interaktionskreis stellt sich Dewey erst später und schafft damit die Voraussetzungen für die reife Konzeption des qualitativen Denkens seit Ende der zwanziger Jahre. Gleichzeitig sieht er sich vor die Aufgabe gestellt, den ›humanspezifischen‹ Charakter von Erfahrung – der ja im Reflexbogen-Aufsatz zugunsten der Schaffung eines antireduktionistischen Fundaments im Biologischen weitgehend zurückgetreten war – schärfer zu konturieren. Ein wichtiger Schritt hierzu ist die Herausarbeitung der affektiven Prägung auch des menschlichen Denkens, wie sie in dem Text Affektives Denken von 1926 geleistet wird. Die ›Idee der Affektivität‹ wird dort, im Rückgriff auf die Psychologie des logischen Schließen von Riganano, folgendermaßen bestimmt: »Ein Organismus hat bestimmte grundlegende Bedürfnisse, die ohne eine die Umwelt verändernde Tätigkeit nicht befriedigt werden können; wenn ein Organismus irgendwie in seinem ›Gleichgewicht‹ mit seiner Umwelt gestört ist, erscheinen seine Bedürfnisse als ruhelose Aktivität des Sich-Sehnens und Begehrens, die so lange fortdauert, bis die so induzierten Akte zu einer erneuten Integration des Organismus und seiner Beziehung zur Umwelt geführt haben.«21

19 Vgl. etwa Andy Clark: Being There – Putting Brain, Body and World Together Again, Cambridge und London 21997. Dort wird eine Konzeption von »action loops« und damit ein Bild von Kognition erarbeitet, »[which] depicts perception, action and thought as bound together in a variety of complex and interpenetrating ways.« (36) 20 Dewey: Die Elementareinheit des Verhaltens (Anm. 18), 232 f. 21 John Dewey, Affektives Denken, in: ders.: Philosophie und Zivilisation (Anm. 8), 118.

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Gefühle sind demnach jene psychischen Instanzen, die uns darüber Auskunft geben, in welcher Weise gemachte Erfahrungen und ausgeführte Handlungen das Wohl und Wehe unseres Selbst betreffen. Dieses Selbst ist nun aber natürlich ein soziales Selbst, und unsere Präferenzen sind dementsprechend zum Teil von der Welt der Bedeutungen abhängig, die sich, auf der Basis primärer Affekte, als attraktive Werte und obligatorische Normen22 kulturell entwickelt haben. Das affektive, auf somatisch verankerte Präferenzen bezogene Denken, das Dewey im Auge hat, darf daher nicht mit einer Konzeption utilitaristischer Präferenzmaximierung verwechselt werden. Seine humanspezifische Reflexivität und Freiheit besteht gerade darin, daß es die normative Angemessenheit seiner Präferenzen erwägen kann und damit die bloß instrumentelle Durchsetzung von de-facto-Bedürfnissen hinter sich läßt.23 Aus dem Regelkreis zwischen Organismus und Milieu wird im Falle spezifisch menschlicher Erfahrung die Interaktion von Menschen mit ihrer sozialen wie natürlichen Umwelt, die, von normativen Bedeutungen geleitet und insofern ›reflexiv verflüssigt‹ (Habermas), doch in Form des qualitativen Erlebens mit der Elementareinheit allen Verhaltens verbunden bleibt. Die Ausarbeitung dieses reifen Erfahrungskonzeptes gelingt Dewey in seinem Aufsatz über Qualitatives Denken von 1930. Als Basis eines hier einschlägigen Erfahrungsbegriffs bietet sich dieser Text auch schon deshalb an, weil er den Holismus der religiösen Herkunft philosophisch weiterführt und gleichzeitig auf Deweys ästhetisches Hauptwerk Art as Experience vorausweist. Einen besonderen begrifflichen Rang gewinnt er dadurch, daß er das Thema des Qualitativen im Blick auf die Frage nach der Möglichkeit einer naturalistischen Logik behandelt. Qualitativ ist nun nach Dewey unsere Erfahrung insofern, als sie »mit Objekten zu tun hat, die in den Interessen und Problemen des Lebens enthalten sind«24. Solche Objekte sind mit Bedeutungen geladen und unterscheiden sich von naturwissenschaftlichen Objekten wie das »Rot des aus einer Wunde quellenden Blutes und Rot im Sinne von 400 Billionen Schwingungen pro Zeiteinheit«25. Eine andere Weise, den Unterschied zu markieren, liegt im Begriff der ›Situation‹. Hier argumentiert Dewey in erstaunlicher Nähe zu dem Konzept der ›geöffneten Situation‹, wie es Martin Heidegger in seinen frühen Freiburger Vorlesungen bei der ersten Ausarbeitung der Daseinsanalyse entwickelt hat:26 Erfahrung bewegt sich immer Zu dieser Unterscheidung und insgesamt zu einer Theorie der Wertgenese, die ihre affektiv-organische Basis explizit einbezieht, vgl. Hans Joas: Die Entstehung der Werte, Frankfurt/M. 1997. 23 Ausführlicher wird dies erörtert in John Dewey: Philosophien der Freiheit, in: ders.: Philosophie und Zivilisation (Anm. 8), 266–291. 24 John Dewey: Qualitatives Denken, in: ders.: Philosophie und Zivilisation (Anm. 8), 94. 25 Ebd. 26 Vgl. dazu vom Verf.: Die Vielfalt des Verstehens: Heidegger und die Pluralität des faktischen Lebens, in: Grenzen des Verstehens, hg. von Gudrun Kühne-Bertram und Gunter Scholz, Göttingen 2002. 22

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in Situationen, in einheitsstiftenden Horizonten von Handlungsmöglichkeiten, durch die die radikale Kontingenz möglicher Folgeerfahrungen abgepuffert und die komplexe Wirklichkeit auf einen fokussierenden Aspekt hin bestimmt wird. Ohne die zentrierende Wirkung von Situationen gäbe es, so argumentiert Dewey, weder – psychisch – integrierte Erfahrungsepisoden, die sich aus dem ›stream of thought‹ herausheben, noch – epistemisch – isolierbare Objekte der Erkenntnis. Nirgends vielleicht wird der holistische Zug seines Denkens deutlicher als in der strengen Korrelativität der Termini ›Situation‹ und ›Objekt‹: »Mit dem Ausdruck Situation wird in diesem Zusammenhang die Tatsache bezeichnet, daß das Substrat, auf das sich letztlich Existenzaussagen beziehen, eine komplexe Realität ist, die trotz ihrer internen Komplexität durch die Tatsache zusammengehalten wird, daß sie durchweg von einer einzigen Qualität beherrscht und charakterisiert wird. Mit ›Objekt‹ ist ein Element in dem komplexen Ganzen gemeint, das in Abstraktion von dem Ganzen, das es charakterisiert, definiert ist.«27 Das umfassendere Substrat der Erfahrung, die Situation, die »durch eine durchgängige und innerlich integrierende Qualität konstituiert wird«28, erlaubt nun die Aussonderung propositional bestimmbarer Objekte, ist selbst aber »etwas, was sich ›von selbst versteht‹, was in aller propositionalen Symbolisierung implizit enthalten ist«29. Dewey weist damit dem qualitativen Hintergrund allen Denkens eine zentrale Stellung nicht nur für die Alltagspraxis, sondern auch für die wissenschaftliche Forschung zu, ja, er unternimmt in seinem letzten Hauptwerk, der Logik, sogar den Versuch, die logische Theorie im Sinne einer Selbstreflexion des qualitativen Denkens zu entfalten. Auf eine Behandlung der hoch interessanten wissenschaftstheoretischen Konsequenzen dieses Ansatzes muß leider zugunsten einer weiteren Ausarbeitung der Merkmale alltäglicher Erfahrung verzichtet werden. Zentral ist hier Deweys holistische Überzeugung, daß ohne eine qualitative Vereinheitlichung überhaupt keine integrierten Erfahrungsepisoden zustande kommen könnten. Denn diese schafft überhaupt erst ein ›Thema‹, auf das dann die unterschiedlichsten Wahrnehmungen, Handlungen und Gedanken bezogen werden können: »Die zugrunde liegende Einheit der qualitativen Bestimmtheit reguliert die Angemessenheit oder Relevanz und Bedeutung jedes Merkmals und jeder Relation: sie lenkt Auswahl und Verwerfung und Art und Weise der Nutzbarmachung aller expliziten Termini. […] Wir nehmen sie nicht als solche wahr, sondern nur als Hintergrund, als roten Faden und Anhaltspunkt in dem, woran wir explizit denken. Denn die letzteren Dinge sind ihre Merkmale und Relationen.«30 27 Dewey: Qualitatives Denken (Anm. 24), 97. Deweys Theorie des Substrates (›subject-matter‹) von Forschungs- bzw. Alltagserfahrung wird ausführlich entwickelt in: Logik – Die Theorie der Forschung (Anm. 13). 28 Dewey: Qualitatives Denken (Anm. 24), 97. 29 Ebd., 98. 30 Ebd., 99. Daß es sich bei Deweys Behauptung, ohne eine qualitative Vereinheitlichung der Erfahrung/des Handelns komme diese/s überhaupt nicht zustande, um die Antwort auf ein

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Aus der gegenstandskonstitutiven Rolle qualitativer Vereinheitlichung leitet Dewey nun auch seine Deutung der Gefühle ab. Denn die »durchgängige qualitative Einheit […] wird eher gefühlt als gedacht«31, sie ist affektiv präsent. Hier lauert freilich sogleich die Gefahr der Hypostasierung, denn von einem Gefühl zu reden, suggeriert das Vorhandensein einer psychischen Entität, während doch nach Dewey Gefühle über ihre vereinheitlichende Wirkung auf ihren Stoff, auf außerpsychische Sachverhalte definiert werden müssen. In der Sprache der Phänomenologie ausgedrückt: Gefühle sind intentional, und ihre Individuierung geschieht über die Bestimmung eines einheitlichen intentionalen Gehalts. Deweys Beispiel ist der Zorn, der eben nicht durch spezifische Qualia (etwa ›kochende‹ Sensationen o. ä.) individuiert werden kann, sondern nur über die vereinheitlichende Wirkung, die er auf Erfahrung ausübt. »Wenn zum Beispiel Zorn existiert, ist er der durchgängige Ton, die Farbe und Qualität von Personen, Dingen und Umständen oder einer Situation.«32 Affektive Tönungen, so könnte man diese Position zusammenfassen, sind die zentrierenden Kräfte gewöhnlicher Erfahrung. Sie fokusieren Wahrnehmungsmuster, Denkstile, Willensimpulse auf ein gemeinsames Thema, eben die Situation. Solche Situationen müssen allerdings keineswegs, wie der gewöhnliche Gebrauch des Begriffs nahezulegen scheint, okkasionell und vorübergehend sein und können in den verschiedensten Graden der Allgemeinheit auftreten. Eine im Hier und Jetzt begegnende situative Herausforderung hat in diesem Sinn ebenso qualitative Einheit wie längerfristige Lebenslagen beispielsweise beruflicher Art oder jene übergreifenden Tatbestände, auf die etwa die Rede von der conditio humana zielt. Alltägliche Erfahrung ist, so fasse ich die Position Deweys zusammen, immer Erfahrung einer Situation, die durch eine beherrschende Qualität charakterisiert wird, deren psychische Manifestation eine affektive Tönung aufweist. Damit stellt sich die entscheidende Frage, welche Rolle kognitive Prozesse im engeren Sinn und vor allem sprachliche Aktivitäten im Ganzen alltäglicher Erfahrung spielen. Hier operiert Dewey nun mit dem Begriff der Explikation, den er in einer subtilen Weise mit einer Binnendifferenzierung seines Antonyms verbindet. Die qualitative Situation nämlich ist einerseits, wie später in der Hermeneutik Gadamers, der prinzipiell nicht objektivierbare Horizont aller Objektivierungen, andererseits aber fungiert sie als das regulative Prinzip der Sachhaltigkeit aller Explikationen: »Sie ist durchweg als das gegenwärtig, wovon alles, was explizit formuliert oder behauptet wirkliches Problem handelt, zeigt sich gegenwärtig vielleicht wiederum am deutlichsten in der Robotik und KI-Forschung in Form von Schwierigkeiten, die unter den Titeln ›symbol grounding problem‹ und ›frame problem‹ diskutiert werden: Wie können syntaktische Operationen als semantisch bedeutsam verstanden werden? Welche Relevanzkritierien erlauben eine Selektion der situativ wichtigen Informationen? Deweys Konzept einer qualitativen Vereinheitlichung als Hintergrund jeder propositionalen Explikation ließe sich auch als Ansatz einer Theorie humanspezifischer Kognition deuten, die diese Probleme gar nicht erst aufkommen läßt. 31 Ebd., 100. 32 Ebd.

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wird, eine Charakterisierung darstellt.«33 Deshalb ist die qualitative Situation in jeder propositionalen Rede ›implizit‹ (implicit), was aber eben nicht heißt, daß explizite Propositionen eins zu eins auf von ihnen implizierte (implied) qualitative Gegenstücke verweisen würden. Wohl sind qualitative Situationen bzw. ebensolche Handlungen, um eine Formulierung Heideggers aus Sein und Zeit aufzunehmen, dasjenige, wovon jede Explikation ausgehen und in die sie zurückschlagen muß, aber innerhalb dieses Rahmens akzentuiert Dewey eine diachrone Dynamik fortschreitender Bedeutungsbestimmung durch Explikation des Impliziten. Der entscheidende Punkt ist, daß die qualitative Zentrierung in einem situativen Fokus intrinsisch auf semantische Artikulation bezogen ist: »[ J]edes Beispiel von Denken [wird] durch ein qualitatives Ganzes beherrscht […], das der Formulierung bedarf, um zu funktionieren.«34 Betrachtet man eine relativ geschlossene Erfahrungsoder Handlungsepisode als Einheit, steht die integrierende qualitative Tönung im Zentrum. Konzentriert man sich aber auf den zeitlichen Verlauf einer solchen Episode, wandelt sich der qualitative Aspekt von anfänglicher Dominanz zum affektiven Hintergrund semantischer Operationen. Weil das Qualitative nicht Ausdruck eines passiven Innewerdens von Weltstücken, sondern integraler Teil eines semantisch-praktischen Interaktionszusammenhangs ist, weist es eine innere Ausrichtung auf seine Artikulation auf. Diesen Aspekt arbeitet Dewey in Auseinandersetzung mit der bekannten Formulierung von William James aus, der – in der Paraphrase Deweys – den qualitativen Charakter des Bewußtseins als das »große bunte, summende Durcheinander«35 gefaßt hatte. Dewey stimmt dem zu, stellt aber sogleich heraus: »Es gibt freilich keine unartikulierte Qualität, die lediglich ›bunt und summend‹ ist. Sie blüht auf irgendeine Frucht hin, sie summt auf eine bestimmte Wirkung hin. Das heißt, die Qualität, obgleich stumm, enthält als Teil ihrer komplexen Qualität eine Bewegung oder einen Übergang in irgendeine Richtung. Sie kann deshalb intellektuell symbolisiert und in ein Objekt des Denkens verwandelt werden.«36 Aus diesen Erwägungen leitet Dewey in seiner Logik die Theorie der Prädikation ab. Im Zusammenhang einer Theorie alltäglicher Erfahrung ist freilich ein anderer Punkt von zentralem Interesse. Die Idee einer intrinsischen Verbindung des qualitativen mit dem semantischen und dem praktischen Aspekt von Erfahrung, bei Dewey motiviert durch den Ansatz beim Interaktionszusammenhang von Selbst und Milieu, erlaubt es nämlich, den Begriff des ›Gegebenen‹ neu zu formulieren. Die Kritik an diesem Begriff unter dem Sellarschen Stichwort des ›myth of the given‹ war ja, wie eingangs erläutert, ein Hauptgrund für Autoren in der Linie DavidsonBrandom, von Erfahrung gar nicht mehr zu sprechen. Und in der Tat: Auch Dewey 33 34 35 36

Ebd. Ebd., 108. Kursivierung durch mich, M. J. Ebd., 107. Ebd., 106.

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läßt keinen Zweifel daran, daß der Gedanke eines vorbegrifflich in der Anschauung Gegebenen keinen Sinn ergibt. Um nun an der Kernintuition des Erfahrungsbegriffes festhalten zu können, daß die von uns unabhängige Wirklichkeit in unseren Begriffsbildungen eine kritische Rolle spielen können muß, plädiert Dewey wie später John McDowell dafür, »daß Erfahrungen selbst Zustände oder Ereignisse sind, welche Rezeptivität und Spontaneität unauflöslich miteinander verbinden«.37 Und Deweys Konzept qualitativer Erfahrung läßt sich, so behaupte ich, als eine pragmatistische Vorwegnahme des Grundgedankens von Geist und Welt deuten, daß nämlich »die Eindrücke der Welt auf unsere Sinne bereits über begrifflichen Inhalt verfügen«38. Damit schließt sich der Kreis zu meinen einleitenden Bemerkungen über den Erfahrungsbegriff und dessen antidualistisch motivierte Kritik. Deweys Konzeption antizipiert diese nämlich höchst subtil: Ein Gegebenes in dem Sinn, daß ein Subjekt in der Erfahrung semantisch unkontaminierte Sinnesdaten perzipieren würde, existiert nicht. Jedoch hat die Rede vom Gegebenen ein Wahrheitsmoment insofern, als die »totale durchgängige Qualität«39 in der Eröffnungssequenz jeder individuierbaren Erfahrungsepisode ohne nähere Bestimmungen schlicht da ist – ohne daß in dieser Situation ein Selbst, dem etwas gegeben wird, und eine materiale Bestimmtheit des Gegebenen überhaupt unterscheidbar wären. Qualitäten sind immer bedeutungshaft, weil sie die Parameter des Interaktionszusammenhangs von Selbst und Milieu affektiv auf ihre eudämonistische Zu- oder Abträglichkeit hin deuten: »Sorge um oder Interesse am menschlichen Schicksal«40 ist die Folie, vor der in alltäglicher Erfahrung einzelne Objekte und Bezüge aus der Totalität einer Situation semantisch herausgegriffen und fixiert werden. Der ›begriffliche Inhalt‹, von dem McDowell sagt, er müsse bereits den passiven Operationen der sinnlichen Erfahrung einwohnen, hat demnach in der Konzeption Deweys die Form einer intrinsischen Beziehung des Qualitativen auf seine semantische Explikation. Nur das schon implizit Explizite läßt sich überhaupt explizieren: Insofern ist der begriffliche Inhalt dem Qualitativen schon eigen; nur das Implizite bedarf aber auch der Explikation, in der eine bedeutungsvolle Totalität auf bestimmte ihrer Aspekte hin ausgelegt wird. Der Übergang von der Situation zum Objekt, von qualitativer Bedeutsamkeit zu sprachlich oder sonstwie symbolisch kodierter bestimmter Bedeutung, ist eine riskante, freie und fallible Transformation, die sich als stimmig erweisen kann oder auch nicht, beides aber eben erst ex post. Das hat seinen Grund darin, daß das Implizite nicht impliziert ist, wie Dewey sagt, also nicht in diskrete Entitäten verpackt daherkommt, die sich semantisch durch isomorphe Relationen abbilden ließen, sondern nichtobjektivierbarer Hintergrund aller Objektivationen bleibt. 37 38 39 40

McDowell, Geist und Welt (Anm. 3), 49. Ebd., 42. Dewey: Qualitatives Denken (Anm. 24), 107. Ebd., 106.

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›Gegeben‹ im nichtkorrumpierten Sinn dieses Begriffs – oder besser, weil ohne die Hypostasierung eines Subjekts auskommend: einfach ›da‹ -sind nach Dewey Menschen-in-Situationen. Indem sie diese qualitativen Situationen artikulieren, d.h. deren Bedeutung Schritt für Schritt in diskursiven Praktiken semantisch festlegen, unterscheiden sie ein Selbst von seinen Objekten. Der qualitative Aspekt transformiert sich in diesem Prozeß in jenen affektiven Hintergrund des Prädizierens und Urteilens, der nach Dewey den Bezug auf die Sache erst sichert. Kommt aber eine integrierte Episode des Erfahrens/Handelns zu ihrem Abschluß, zu ihrer ›Erfüllung‹ (consumption), stellt sich eine neue qualitative Totalität her, die im Fortgang des Lebensprozesses wiederum Ausgangspunkt weiterer semantischer Bestimmungen werden kann. Der entscheidende Unterschied dieses Modells zu kognitivistischen Konzeptionen von Erfahrung besteht in der Anerkennung der Interaktion affektiver, volitionaler41 und kognitiver Komponenten in einem qualitativ bestimmten Ganzen. Wie die Bestimmung des affektiven als psychische Integrationsinstanz qualitativer Totalitäten und die holistische Konzeption des Erfahrungsprozesses eine genauere Analyse ästhetisch bzw. religiös dominierter Erfahrungstypen ermöglichen, möchte ich nun in den folgenden beiden Abschnitten zeigen.

III. ›Vollendete Erfahrung‹: Die ästhetische Intensivierung des Alltäglichen Bei ihren Versuchen, die Rolle der Künste für das menschliche Weltverhältnis zu bestimmen, hat die ästhetische Theoriebildung des 20. Jahrhunderts zwei zumindest prima facie radikal entgegengesetzte Richtungen eingeschlagen, die sich mit den Namen Theodor W. Adorno und John Dewey verbinden. In Adornos Ästhetischer Theorie wird den Werken der Kunst emphatisch eine Bewegung des Transzendierens zugeschrieben, die deutlich auf jenen Sinnhorizont religiös-metaphysischer Prägung verweist, dessen ontologischen Ansprüchen sich die Negative Dialektik Adornos versagt: »Kunstwerke begeben sich hinaus aus der empirischen Welt und bringen eine dieser entgegengesetzte eigenen Wesens hervor, so als ob auch diese ein Seiendes wäre.«42 Von diesem emphatischen – wenn auch durch die Dialektik der Affirmation, der sich selbst die Kunst nicht entwinden kann, gebrochenen – Kunstbegriff aus bestimmen sich auch die Konturen von Adornos Konzept ästhetischer Erfahrung. Es wird bekanntlich bestimmt von einer unversöhnlichen Kritik an massenkulturellen Phänomenen und, korrelativ dazu, der Orientierung an einem normativ aufgeladenen Begriff der Avantgarde und ihrer avancierten Produktionen. 41 Die Rolle des Willens in diesem Modell kann ich hier nur knapp andeuten. Sie ist vorrangig in der Pragmatik der Artikulation zu sehen, also dem Vollzug von symbolischen Handlungen, die qualitatives Erleben in bestimmten Sinn verwandeln: in semantischen Gehalt, wenn die rezeptiven, in Handlungssinn, wenn die produktiven Komponenten des Interaktionsprozesses Mensch-Umwelt im Zentrum stehen. 42 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 31977, 10.

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Ganz anders Art as Experience, Deweys Kunsttheorie, die emphatisch eine Theorie gelingender Alltagserfahrung darstellt und deren sachgerechterer Titel daher wohl Experience as Art lauten müßte: Der ästhetische Avantgardismus spielt kaum eine Rolle, und die Bedeutung der Kunst liegt gerade darin, ihren Produzenten und Rezipienten eine vollere Erfahrung des gewöhnlichen, empirischen Lebens zu ermöglichen. (Der letzte Grund für die bemerkenswerte Gegensätzlichkeit dieser ästhetischen Theorien scheint mir übrigens in einer entgegengesetzten Reaktion auf dieselbe Problemlage zu bestehen: Adorno wie Dewey reagieren auf die Einsicht, daß metaphysische und religiöse Totalisierungen des Weltbilds ihre kollektive Verbindlichkeit eingebüßt haben; Adorno, indem er die ästhetische Theorie als ein letztes Refugium der Transzendenz konzipiert, Dewey, indem er den Bereich des Ästhetischen als Experimentierfeld der Durchdringung von Naturprozessen mit human-normativem Sinn entwickelt.) Das Außeralltägliche der Kunst, das für Adorno in ihrer unversöhnlichen Distanz zum Hier und Jetzt unserer kleinformatigen Alltagsprobleme zum Ausdruck kommt, zeigt sich für Dewey gerade in der gelingenden Intensivierung des Alltäglichen. Sein Buch will daher »zwischen den Kunstwerken als verfeinerten und vertieften Formen der Erfahrung und den alltäglichen Geschehnissen, Betätigungen und Leiden, die bekanntlich die menschliche Erfahrung ausmachen, eine erneute Kontinuität herstellen«43. In dem dritten, systematisch grundlegenden Kapitel seines Buches entwickelt Dewey daher unter dem Titel »Eine Erfahrung machen« die Basiskategorien seiner ästhetischen Theorie in Weiterführung jener Konzeption des qualitativen Denkens, die ich im vorangegangenen Abschnitt dargestellt habe. Den Ausgangspunkt bildet die holistische Struktur jeder Erfahrung, vielfältige Impressionen, Gefühle und Handlungsdispositionen zu einer qualitativen Einheit zu integrieren: »Die Existenz dieser Einheit wird durch eine einzige Eigenschaft bestimmt, die die gesamte Erfahrung trotz der Vielfalt ihrer Einzelteile durchdringt.«44 Ohne ein Mindestmaß von qualitativer Einheit würde es nach Dewey überhaupt keinen Sinn machen, diese oder jene Erfahrung als integrierte Episode anzusehen und damit zu individuieren. Das Ausmaß allerdings, in dem diese Integration gelingt, ist sehr verschieden, und damit kommt nun das Spezifikum des Ästhetischen ins Spiel: Dieses liegt nämlich in der Erfahrung des integrativen Wechselspiels von Teil und Ganzem und ist als solche gerade das, was ein Moment jeder Erfahrung ausmacht, und dessen vollständiges Fehlen ein Gefühl radikaler Fragmentierung und Kontingenz auslösen würde. Daß nach Dewey jede Erfahrung, um überhaupt als solche zustande zu kommen, eine ästhetische Komponente aufweist, heißt aber nun keineswegs, daß alle Erfahrung ästhetische Erfahrung ist. Denn der Interaktionszusammenhang von Selbst und Milieu ist durch vielfältige, miteinander häufig konkurrierende Handlungsanforderungen gekennzeichnet, die es normalerweise nicht zulassen, 43 44

Dewey: Kunst als Erfahrung (Anm. 6), 9. Ebd., 49.

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dem integrativen Moment einer Erfahrung um seiner selbst willen nachzugehen. Die Aspekte des Disparaten, Isolierten und Fragmentierten gehören der Alltagspraxis daher unaufhebbar zu, wie Dewey, nüchtern gegenüber allen romantischen Versuchungen, herausstreicht. In gewöhnlicher Erfahrung bleibt das Ästhetische ein Teilmoment – dessen Fehlen freilich für Dewey der beste Indikator für die sozialen Pathologien der modernen Arbeits- und Lebenswelt ist. Der nächste Schritt besteht nun darin, aus dem ästhetisch-qualitativen Aspekt, der in einem minimalen Sinn überhaupt erst Erfahrung ermöglicht, ein performatives Gelungenheitskriterium abzuleiten. Nur dann, »wenn das Material, das erfahren worden ist, eine Entwicklung bis hin zur Vollendung durchläuft«, kann man ernstlich von einer Erfahrung sprechen. »Eine Arbeit wird zufriedenstellend abgeschlossen; ein Problem findet seine Lösung; ein Spiel wird bis zum Ende durchgespielt; eine Situation ist derart abgerundet, daß ihr Abschluß Vollendung und nicht Abbruch bedeutet – sei es nun, daß es sich um das Einnehmen einer Mahlzeit handelt oder um eine Partie Schach, um ein Gespräch oder darum, daß man ein Buch verfaßt oder an einer politischen Aktion teilnimmt.«45 Wie Deweys Beispiele zeigen, ist die Welt der Alltagspraxis damit noch nicht verlassen, im Gegenteil: Sie wird dadurch, daß sich eine integrierte Episode in ihrer Eigenlogik bis zu ihrem Ende entfalten kann, erst in ihrer möglichen Sinnbestimmtheit erfahrbar. In gelungenen – und das heißt hier: nicht durch externe Gründe und konkurrierende Ansprüche beeinträchtigten – Erfahrungen steigern sich die ästhetischen ›Obertöne‹ jeder qualitativen Erfahrung zum dominierenden Grundklang. Entscheidend ist hier die Idee einer ›inneren Vollendung‹ im Unterschied zum äußeren Abbruch. Diese Erschöpfung, Vollendung oder Erfüllung als Index des Ästhetischen signalisiert, daß der Gehalt der Erfahrung bzw. das Ergebnis einer Handlung zu den emotionalen und kognitiven Mustern des Selbst bzw. den Mitteln der Handlung in einem internen Entsprechungsverhältnis steht. Doch auch wenn im Alltag die ästhetische Qualität einer integrierten Episode zum erschließenden Medium des jeweiligen Sinnes wird, handelt es sich noch um einen nicht primär intendierten ›Nebeneffekt‹ strategischer oder kommunikativer Handlungsziele – der freilich, wenn er eintritt, als intrinsisch wertvoll erfahren wird. Diese Erfahrung bildet dann den Übergang zum Bereich der Künste im engeren Sinn, der immer dann betreten wird, wenn die als intrinsisch wertvoll erfahrene Vermitteltheit von Medium und Inhalt vom Nebensinn zum intendierten Handlungsziel erhoben wird. Entsprechend liegt ästhetische Erfahrung überall dort vor, wo sich die Verlaufsform einer qualitativen Episode, unbeschränkt durch externe Notwendigkeiten, in allen Stadien in ihrem Eigensinn entfalten kann. Kunst ist damit als die reflexive Wendung des ästhetischen Charakters bestimmt, der das Wechselverhältnis von Selbst und Situation im ganzen prägt. Dewey kann dementsprechend seine Argumentation dahin zusammenfassen, »daß die Ästhetik nicht von 45

Ebd., 47.

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außen in die Erfahrung eindringt, weder über eitlen Luxus noch über eine transzendentale Idealität, sondern daß sie die geläuterte und verdichtete Entwicklung von Eigenschaften ist, die Bestandteil jeder normalen ganzheitlichen Erfahrung sind«46. Ich halte Dewey Ansatz bei gewöhnlicher Lebenspraxis und ihrem qualitativen Charakter für bestechend. Mit ihm geht die überaus hilfreiche Idee eines ästhetischen Kontinuums einher, das von dem Minimalsinn eines qualitativen Einheitsaspekts jeder Erfahrung überhaupt über den pointiert ästhetischen Charakter jeder sich vollendenden Erfahrung bis zu solchen Erfahrungen reicht, die explizit um dieser Vollendung willen gemacht werden. Gleichwohl glaube ich, daß Dewey in Kunst als Erfahrung einen wichtigen Aspekt außer Acht läßt und seine Konzeption daher wohl notwendige, nicht aber hinreichende Bedingungen ästhetischer Erfahrung im engeren Sinn zum Gegenstand hat. Diesen Aspekt fasse ich terminologisch als ›referentielle Ungebundenheit‹.47 Er bildet die zweite Komponente meines Versuchs, die spezifische Differenz ästhetischer von gewöhnlicher Erfahrung begriffslogisch zu fixieren – und gleichzeitig möglichst trennscharf von religiöser Erfahrung zu unterscheiden. Für die Produktion und Rezeption von Kunst scheint es mir nämlich wesentlich zu sein, daß nicht nur eine interne Durchdringung von Verlaufsform und Inhalt, von physischem Medium und semantischem Sinn vorliegt, sondern auch die referentiellen Geltungsansprüche, die unserer alltäglichen Verständigung über etwas in der Welt zugrunde liegen, dem ästhetischen Vollzug subordiniert werden. Unter Referenz wird hierbei die Eigenschaft symbolischer Gebilde verstanden, sich auf etwas anderes beziehen zu können, im engeren Sinn auf Sachverhalte der objektiven Wirklichkeit. Hier kommt nun wieder die Beziehung zwischen Wahrheit und Bedeutung ins Spiel, auf deren Deutung durch Dewey ich mich im ersten Abschnitt bezogen hatte. Referentielle Geltungsansprüche sind nämlich genau solche, deren Bedeutung an ihren Wahrheitswert, oder pragmatistisch: an die Prozeduren ihrer Verifikation oder Falsifikation, gekoppelt ist. Das Bestehen oder Nichtbestehen von Sachverhalten ist in diesen Fällen die Pointe der symbolischen Bedeutung. Genau diese Beziehung nun, so behaupte ich mit Abraham Kaplan, wird in ästhetischen Prozessen entscheidend modifiziert und entsprechend gilt, »daß Referenz, wo sie in den Künsten auftritt, auch tatsächlich wesentlich ist, aber nicht als Referenz, sondern als etwas, das zum Ausdruck beiträgt: Ausdruck andererseits kann es geben ohne irgendwelche Referenz«48. Der Beziehung von Referenz und Ausdruck, die Kaplan hier im Auge hat, entspricht das Verhältnis von Wahrheit und Bedeutung: Ebd., 59. Das Folgende ist in vielen Aspekten dem Aufsatz von Abraham Kaplan: Referenz in der Kunst, in: Theorien der Kunst, hg. von Dieter Henrich und Wolfang Iser, Frankfurt/M. 1992, 491– 523, verpflichtet. – In meiner Schrift Erfahrung und Religion – Grundzüge einer hermeneutisch-pragmatischen Religionsphilosophie, Freiburg 1999, 380–388, wird der hier entwickelte Grundgedanke in einen breiteren religionsphilosophischen Kontext gestellt. 48 Abraham Kaplan: Referenz in der Kunst (Anm. 47), 492. 46 47

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Wo in Kunstwerken Wahrheitsansprüche im Sinne eines Bezugs auf außersymbolische Tatbestände erhoben werden, sind diese ein unselbständiger Teil der expressiven Bedeutung des Kunstwerks und insofern ›referentiell ungebunden‹. Wenn sich ein gegenständliches Gemälde auf Weltausschnitte bezieht, wenn der imaginäre Kosmos eines Romans in einer real existierenden Stadt angesiedelt ist, dann sind diese referentiellen Strukturen nicht in der selben Weise bedeutsam wie ihre denkbaren nichtästhetischen Gegenstücke, weil sie nicht an den Wahrheitswert gebunden sind. Als Beispiel könnten man etwa an einen Stadtführer über New York und einen Roman denken, der in dieser Stadt spielt. Für den Stadtführer gilt hinsichtlich der Topographie: Wahrheit konstituiert Bedeutung. Ein veralteter Straßenplan etwa würde deshalb ein gutes Argument gegen den Erwerb des Führers bilden. Anders der Roman: In ihm ist die Referenz auf reale Straßen und Gebäude unselbständiger Teil der poetischen Gesamtwirkung, weshalb hyperrealistische Akribie in dieser Hinsicht ebenso wie bewußte Vagheit oder auch poetische Lizenzen in der Umdichtung der Topographie gleichermaßen als expressive Mittel in Betracht kommen. Weil Referenz in Kunstwerken kraft ihrer funktionalen Einbindung in deren Bedeutung nicht wahrheitswertig gebunden ist, kann es bei deren Rezeption auch nicht zum Dissens über propositionale Wahrheitsansprüche kommen. Wer angesichts eines Bildes von Franz Marc bemerkt, daß Pferde doch nicht wirklich blau sind, bekundet damit keine Kritik an der referentiellen Genauigkeit des Bildes, sondern sein Unvermögen, eine ästhetische Einstellung einzunehmen. – Mit der Einsicht in die referentielle Ungebundenheit des Ästhetischen ist nun jenes spezifische Merkmal erreicht, daß die Abgrenzung von genuin religiöser Erfahrung möglich macht.

IV. Religiöse Erfahrung: Die Artikulation des Deutungsrahmens Die Pointe des hier vorgeschlagenen Konzeptes gewöhnlicher, d.h. aus der engagierten Perspektive der Ersten Person heraus vollzogener Erfahrung, liegt in der inneren Verbindung zwischen dem qualitativen Charakter jeder einzelnen Episode der Selbst-Umwelt-Interaktion und ihrer symbolischen Bedeutung, die nur durch den Vollzug von Ausdrucksakten bestimmt werden kann. Man könnte auch, eine Kant-Paraphrase wagend, sagen: Qualitäten ohne Symbole sind blind, Symbole ohne Qualitäten sind leer. Das bedeutet, daß aus der Perspektive der Ersten Person auch solche Symbolfiguren, die eine Raum und Zeit transzendierende Idealität aufweisen (Paradebeispiel: mathematische Strukturen) in eine qualitativ erlebte Situation eingebettet werden müssen, wenn sie für dieses Selbst Bedeutung gewinnen sollen. »Einzig die symbolisierte Situation«, so formuliert Dewey, »und nicht das formale und propositionale Symbol kann entscheiden, was jeweils der Fall ist«49.

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Dewey: Qualitatives Denken (Anm. 24), 102.

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Zum spezifischen Begriff religiöser Erfahrung gelange ich nun durch eine Generalisierung dieses Konzeptes einer symbolisierten Situation. Im zeitlichen Verlauf des gewöhnlichen Lebens gibt es immer eine Mehrzahl von qualitativ bestimmten Situationen, die teilweise aufeinander folgen, teilweise parallele Gravitationszentren von Handlungen und Erfahrungen bilden: Qualitativ bestimmt sind nämlich nicht nur Alltagssituationen im gewöhnlichen Sinn, sondern auch zeitlich gedehnte, gelegentlich sogar lebenslang verfolgte Rollenmuster, etwa beruflicher und familiärer Art etc. Die qualitative Situativität des Lebens erstreckt sich demnach über ein Kontinuum, das von punktuellen Situationen mit hohem Handlungsdruck bis hin zu hochgradig generalisierten Bewertungen des Menschseins überhaupt reicht. Dieser generalisierte Situationsbegriff, wie er etwa in Karl Jaspers’ bekannter Schrift Die geistige Situation der Zeit von 1931 zum Ausdruck kommt, zielt auf die sprachliche Artikulation der allgemeinsten Züge einer menschlichen Lebenslage. Ist die symbolisierte Situation nun die eines individuellen Lebens im Ganzen, das es unternimmt, seine Bedeutsamkeit zu artikulieren, nimmt Erfahrung einen totalisierenden und selbstreflexiven Zug an, sie wird, mit den Worten von William James, zur Lebensphilosophie eines Menschen: »[T]he philosophy which is so important in each of us is not a technical matter; it is our more or less dumb sense of what life honestly and deeply means. It is only partly got from books; it is our individual way of just seeing and feeling the total push and pressure of the cosmos.«50 Was hier in einem untechnischen Sinn des Begriffes als Philosophie bezeichnet wird, ist nichts anderes als der mehr oder minder artikulierte letzte Deutungsrahmen, in den ein Selbst seine partikularen Erfahrungen einordnet. Er umfaßt Wertvorstellungen, die als Generalisierung affektiver Qualitäten verstanden werden können, normative Einstellungen, in denen sich Willensstrebungen unter Maximen des Handelns stellen, und propositionale Überzeugungen über den ontologischen Rahmen, in dem sich kognitive Prozesse bewegen. Entscheidend ist, daß solche totalisierenden Formen von Erfahrung im selben Sinn emphatisch situativ sind, wie ihre alltäglichen Varianten. Die Pointe des hier vertretenen Erfahrungsbegriffs liegt ja gerade darin, ihn zur Erschließung der Eigenart jenes Weltverhältnisses der Ersten Person zu nutzen, in dem ein eudämonistischer Bezug auf die Lebensinteressen des involvierten Selbst konstitutiv ist. Die ›Philosophie‹ eines Menschen ist die semantische Deutung seiner qualitativ erfahrenen Situation. Diese Struktur einer Interdependenz zwischen qualitativer Erfahrung und semantischer Artikulation ihres letzten und tiefsten Sinns, die James so bildhaft vor Augen führt, bildet in meinem begriffslogischen Schema den Gattungsbegriff, von dem religiöse Erfahrung nun noch durch eine spezifische Differenz abgehoben werden muß. Hier besteht allerdings eine Sprachnot, denn es gibt kein Wort, das komprehensiv alle Typen solcher totalisierenden Erfahrungen umfassen würde. William James: Pragmatism – A new name for some old ways of thinking, Indianapolis and Cambridge 41988, 7. 50

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Die Artikulation eines letzten Deutungsrahmens für Erfahrung kann sich nämlich in der Form einer Religion, einer Philosophie, einer Weltanschauung, aber auch als explizite weltanschauliche Enthaltsamkeit – man denke etwa an Wittgensteins emphatischen Verzicht auf Systematisierung und Totalisierung – vollziehen. Von religionsphilosophischer wie religionswissenschaftlicher Seite ist häufig der Ausweg gewählt worden, einfach die Spezifika der Art, des Religiösen, in die namenlose Gattung hineinzulesen und sämtliche Letztdeutungen von Erfahrung, ob nun in kritischer oder affirmativer Absicht, als religiös zu bezeichnen. Diese Strategie hat den Nachteil, deskriptive und normative Aspekte zu vermengen, weil sie häufig mit einem versteckt normativen Begriff einer bestimmten Vollform von Religion einhergeht, die dann entweder einer Art von Zwangstaufe sich gar nicht religiös verstehender Weltdeutungen51 oder aber die pejorative Kennzeichnung nichtreligiöser Totalisierungen als Pseudo-Religion o. ä. zur Folge haben.52 Lassen wir es also bei dem spröden Gattungsbegriff totalisierender Erfahrungsformen bewenden, der explizit ohne die Merkmale des Religiösen auskommt. Der nun endlich anzutretende letzte Schritt in Richtung explizit religiöser Erfahrung besteht in einer Spezifizierung des Generalisierungstyps von Erfahrung: Immer dann, so schlage ich vor, wenn die qualitative Situation des gelebten Lebens unter Rückgriff auf nichtnatürliche Strukturen oder Entitäten generalisiert wird, kann und muß man von religiöser Erfahrung sprechen. Dieser Vorschlag darf natürlich nicht im Sinne eines Zwei-Stufen-Modells verstanden werden, so als ob eine sekundäre religiöse Interpretation primär natürlichen Erfahrungsgehalten sozusagen ex post aufmoduliert würde – die Beziehung zwischen dem passiv-hinnehmenden Moment von Erfahrung und seiner aktiven Explizierung ist intrinsisch, der Gehalt daher ebensosehr qualitativ wie semantisch bestimmt. Isoliert man die semantische Explikation von den Qualia des Gehalts, bleiben nur freistehende, subjektiv bedeutungslose Sätze auf der einen und intentional unbestimmte Impressionen auf der anderen übrig. Von ästhetischer Erfahrung unterscheidet sich die so bestimmte religiöse Erfahrung zweifach: in der Regel, jedoch nicht immer, durch ihren generalisierenden Charakter, immer aber durch ihre referentielle Gebundenheit. Ästhetische Erfahrungsmodi sind im Sinne Deweys vereinheitlichende Komponenten aller Erfahrung und im Falle von Kunst und ästhetischer Kontemplation des Naturschönen bzw. Erhabenen für die Dauer einer integrierten Episode deren konstitutive Form. Sie können aber auch zu einer Lebenseinstellung generalisiert werden und totalisierende Züge annehmen, wie im Ästhetizismus oder der Lebensform des Dandytums. 51 Wie etwa in dem durch den Theologen Karl Rahner geprägten Begriff des ›anonymen Christen‹. 52 In besonders krasser Form wird diese Strategie von Max Scheler in seiner Schrift Vom Ewigen im Menschen (Berlin 31933) verfolgt, vgl. etwa 559: »Es besteht das Wesensgesetz: Jeder endliche Geist glaubt entweder an Gott oder an einen Götzen.«

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Genuin religiöse Erfahrung unterscheidet sich jedoch selbst von solchen Totalisierungen des Ästhetischen prinzipiell dadurch, daß sie referentielle Festlegungen über die Struktur der Wirklichkeit einschließt. Wer sein Leben religiös erfährt, verpflichtet sich auf eine bestimmte Ontologie, eine Überzeugung im Hinblick darauf, was es gibt (das Numinose, Gott, Engelsgestalten, die Kette der Verkörperungen etc.).53 Die totalisierende Kraft religiöser Erfahrungsmodi besteht gerade darin, daß sie alle wesentlichen Weltbezüge integrieren, also nicht nur Gefühl und Wille affizieren, sondern auch eine kognitiv gehaltvolle Wirklichkeitsdeutung einschließen. Im Christentum ist dies besonders deutlich: Das ›Credendum‹ beinhaltet hier propositional fixierte und damit an ihren Wahrheitswert gebundene Überzeugungen über die Existenz Gottes und die ontologische Abhängigkeit der Welt von ihm, den gottmenschlichen Status Jesu Christi, sein Erlösungshandeln etc. Wer sein Leben im Licht einer solchen generalisierten Deutung erfährt, koppelt die affektive Befriedigung und die normative Bindungskraft, die von solchen Überzeugungen ausgeht, an die Geltung ihrer propositionalen Wahrheit. Daraus resultiert ja gerade die, verglichen mit ontologisch enthaltsamen ästhetischen Zugängen, hochgradige Irritierbarkeit religiöser Erfahrung im Zeichen des religiös-weltanschaulichen Pluralismus. Dieser macht schließlich jedem Bürger moderner Gesellschaften alternative Beschreibungen seiner letzten Werte, Normen und Existenzannahmen zugänglich, die nicht alle gleichermaßen wahr sein können. Wenn meine Deutung richtig ist, daß die spezifische Differenz religiöser Erfahrung in der Durchdringung qualitativen Erlebens mit einem nichtnatürlichen Deutungsrahmen aus höchststufigen Wertungen, Normen und Propositionen besteht, beziehen sich die paradigmatischen Anwendungen des Begriffs auf die allgemeinste Weise, die Dinge zu sehen: Religiöse Erfahrung ist Erfahrung der Wirklichkeit im ganzen im Licht des Religiösen. Wie verhält sich dazu die Rede von religiösen Erfahrungen als abgeschlossenen Episoden (eine Erfahrung machen)? Sie ist nur sinnvoll im Zusammenhang eines schon etablierten Deutungsrahmens, der es erlaubt, qualitative Situationen als Hintergründe für die Explizierung eines spezifisch religiösen Gehalts zu sehen. Wer eine religiöse Erfahrung macht, für den ist die Erfahrung zwar als ganze intrinsisch religiös – ihr Gehalt wird nicht etwa nachträglich als religiös interpretiert. Diese Einheit ist aber, wie die Analyse von Dewey zeigt, die Einheit einer symbolisierten Situation, nicht die eines uninterpretierten Quale. Qualitäten als solche haben intrinsisch überhaupt keine Bedeutung, suggerieren freilich Richtungen der Explikation von Bedeutsamkeit, die als Maßstab für die Angemessenheit der semantischen Deutung dienen. Wovon die Erfahrung handelte, zeigt dem Selbst nur die symbolisierte Situation. Zwischen dem Erlebnis und seiner Bedeutung steht dessen Artikulation, nicht als Barriere zwischen zwei getrennten 53 Die ontologischen Überzeugungen eines religiösen Menschen müssen nicht zwangsläufig auf Entitäten referieren, sondern können, wie etwa im Fall verschiedener Spielarten des Buddhismus, sich auch auf kosmische Strukturen beziehen.

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Sinnbereichen, sondern als die anverwandelnde Form ihrer Verbindung. Auch Erfahrungen von Unmittelbarkeit und Überwältigtwerden, wie sie für mystische Erlebnisse54 typisch sind, sind nach dieser Analyse keine unmittelbaren Erfahrungen, sondern durch eben dieselben Transformationsprozesse zwischen Erleben und symbolischem Ausdruck bestimmt, die den qualitativen Charakter unseres Weltzugangs im allgemeinen prägen. Wäre es anders, müßten qualitative Situationen auf magische Weise bereits unabhängig davon, daß sie zur Sprache gebracht werden, mit einem bestimmtem semantischen Sinn ausgestattet sein können; Sprache würde dann zu einer überflüssigen Weltverdoppelung verkommen. Die Transformation qualitativen Erlebens in semantischen Sinn und umgekehrt weist dabei immer ein modales Gefälle zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit auf: Die Wirklichkeit des qualitativen Fokus einer Situation suggeriert Möglichkeiten der Bedeutsamkeit, die im Explizieren des Sinns auf die Wirklichkeit einer konkreten Bedeutung hin vereindeutigt werden. Die Passung, die zwischen der Situation und ihren Objekten – um noch ein letztes Mal mit Dewey zu reden – besteht, ist eine Konstellation von Möglichkeit und ihrer Verwirklichung. Damit kommt immer Kontingenz ins Spiel: Es könnte jeweils auch anders sein, andere Deutungen des Erlebens könnten sich als angemessener erweisen. Diese Kontingenz – deren positive Seite die Freiheit der Entscheidung ist – erweist sich als unhintergehbar, solange Erfahrung qualitativ bestimmt ist, will sagen aus dem ›Interesse am menschlichen Schicksal‹ (Dewey) entspringt. Auch religiöse Erfahrung kann ihr nicht entgehen. Als verwirklichte Möglichkeit55 der symbolischen Deutung qualitativer Situationen bleibt sie von alternativen Möglichkeiten gerahmt. Doch wenn sie diese Einsicht in ihr Selbstverständnis aufgenommen hat, kann sie sich auch in den pluralistischen Gesellschaften der Moderne zu Hause fühlen.

Natürlich ist mit dem hier Gesagten keine auch nur im Ansatz hinreichende Bestimmung des Mystischen gegeben, vielmehr nur darauf bestanden, daß es nicht als Phänomen reiner Unmittelbarkeit konzeptualisiert werden kann. Für eine ausführliche und differenzierte Interpretation mystischer Phänomene im Kontext einer Theorie symbolisch-qualitativer Erfahrung vgl. Reinhard Margreiter: Erfahrung und Mystik – Grenzen der Symbolisierung, Berlin 1997. 55 Die modallogische Bestimmung religiöser Erfahrung als verwirklichte Möglichkeit verdanke ich Hermann Schrödter: Erfahrung und Transzendenz – Ein Versuch zu Anfang und Methode der Religionsphilosophie, Altenberge 1987. 54

Die Entgrenzung der Künste durch ihre Ästhetisierung bei Baumgarten Von Arbogast Schmitt

Obwohl wir mit dem Beginn der Ästhetik die Vorstellung vom Ende der von Aristoteles geprägten Tradition verbinden, die Kunst als ›Nachahmung der Natur‹ ausgelegt hatte, d.h., obwohl wir hier vor allem eine neue Auffassung der Kunst und ihrer – subjektiven – Produktionsbedingungen entstehen sehen, hat sie ihre Wurzel und ihre Genese vor allem im erkenntnistheoretischen Bereich.1 Das führt, wie ich zeigen möchte, auch zu einer Überschreitung der Dimension der Kunsterfahrung und zu einer Entgrenzung der Künste gegeneinander und des Verhältnisses von Kunst und Nicht-Kunst. Bekanntlich folgt Baumgarten in seiner Ästhetik einer von Leibniz und Wolff eingeleiteten Aufwertung des sogenannten unteren Erkenntnisvermögens,2 die er noch weiter vorantreibt, indem er dieses untere Erkenntnisvermögen von sich her als Organ der Schönheitserfahrung aufzuweisen versucht. Bedingung der Produktion wie Rezeption von Kunst und Schönheit ist die Vervollkommnung der Sinneserkenntnis als solcher.3 Diese Ineinssetzung der Prinzipien der Sinnlichkeit mit denen einer ästhetischen Urteilskraft (= guter Geschmack) hat Kant kritisiert (KrV B 35), Kant bleibt aber auch selbst nicht nur akzidentell in den von Baumgarten gelegten Bahnen, so daß die Frage wichtig und nötig wird, was denn die Gründe für diese keineswegs selbstverständliche These sind. Weshalb soll eine perfektionierte Sinneserkenntnis als solche immer auch eine Schönheitserfahrung sein? Eine erste Antwort ist leicht zu finden, da Baumgarten sie ausdrücklich und wiederholt selbst gibt: Die Sinneserkenntnis ist im Unterschied zu den abstrakten Begriffen reich. Die ›ubertas sensitiva‹ ist ohne Frage der Leitbegriff, von dem her Siehe dazu Verf.: Das Schöne: Gegenstand von Anschauung oder Erkenntnis?, in: Philosophia. Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften Athen 17/18 (1987/88), 272–296; siehe v. a. auch Joachim Ritter: Artikel Ästhetik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, I, 1971, 555 ff., v. a. 578 f.; Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis – Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens, Wiesbaden 1972; Hans-Georg Juchem: Die Entwicklung des Begriffs des Schönen bei Kant, Bonn 1970; zur Bedeutung des »Erkenntnischarakters des Sinnlichen« in der Ästhetik und ihrer Vorbereitung seit Descartes siehe jetzt vor allem Christoph Menke: Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion: Zu Genese und Dialektik der Ästhetik, in: Falsche Gegensätze – Zeitgenössische Positionen zur philosophischen Ästhetik, hg. von Andrea Kern und Ruth Sonderegger, Frankfurt/M. 2002, 19–48. 2 Daß Wolff die Ästhetikkonzeption Baumgartens weitgehend vorbereitet habe, behauptet Joachim Krüger: Christian Wolff und die Ästhetik, Berlin 1980, mit aufschlußreichen und berechtigten Belegen, wenn auch in ideologisch überspitzter Argumentation. 3 Siehe Alexander Gottlieb Baumgarten: Aesthetica, Hildesheim 1961 (= Frankfurt/O. 1750/ 58), § 14: »perfectio cognitionis sensitivae qua talis«. 1

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2004 · © Felix Meiner Verlag · ISSN 1439-5886

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Baumgarten alle Formen und Methoden des ›schönen Denkens‹ untersucht.4 Da aber nicht nur die Objekte einer konkret anschaulichen Vorstellung disparat, konfus, häßlich und banal sein können, sondern auch der subjektive Inhalt einer Vorstellung oder Anschauung disparat, banal und dergleichen sein kann, würde diese Bestimmung nicht ausreichen, wenn Baumgarten sie nicht in fragloser Selbstverständlichkeit für identisch mit der Anschauung von etwas – objektiv oder subjektiv – Vollkommenen erklären würde. Und ›vollkommen‹ heißt bei ihm: vollendete, auf der Zusammenstimmung aller Teile miteinander und zum Ganzen beruhende und daher wohlproportionierte Einheit eines Mannigfaltigen.5 Diese aus langer, letztlich bis auf den platonischen Phaidros 6 zurückgehender Tradition übernommene Bestimmung des Schönen thematisiert Baumgarten nicht. Für diese Vernachlässigung gibt es ein gewisses Recht. Es liegt, wie oft gesagt wurde, in der Subjektivierung der Schönheitserfahrung7 durch Baumgarten. Ob etwas als schön gilt, liegt nicht an der Vollkommenheit des äußeren Gegenstands, sondern an der Vollkommenheit der Anschauung selbst, genauer: an der Harmonie, in der sich die vollkommene Anschauung in noch unmittelbarer, unzergliederter Weise mit dem Begriff befindet. Die Grundproblematik der Ineinssetzung von Sinnlichkeit und Geschmack durch Baumgarten wird durch diese Subjektivierung allerdings nur unwesentlich tangiert. Denn der Begriff ist für Baumgarten die vollkommene Einheit des Mannigfaltigen aller in ihm vereinten Vorstellungsmerkmale. Warum also ist die Sinnlichkeit allein durch die Vervollkommnung ihres eigenen Vermögens, ihrer eigenen ›Kraft‹, wie Baumgarten auch sagt, dem Begriff gemäß, ein ›analogon rationis‹? Immerhin erwartet Baumgarten nicht wenig von dieser Kraft der sinnlichen Erkenntnis: Sie soll gewährleisten, daß in einem Kunstwerk (1) ein ›consensus‹ der Gedanken, »eine Übereinstimmung der Gedanken […] unter sich auf ein Eines hin« (›ad unum‹) herrscht, (2) daß die Ordnung und Disposition der Teile des Ganzen schön ist (›pulchritudo ordinis et dispositionis‹), schließlich erstreckt sich diese Kraft auch auf die sprachliche Formung, sie sorgt (3) »für die Übereinstimmung der Zeichen unter sich und mit der Ordnung«8 (›pulchritudo significactionis‹). Siehe v. a. die §§ 440 und 560 der Aesthetica. Siehe z. B. Aesthetica § 439; siehe auch Metaphysica § 515. 6 Siehe Platon: Phaidros 264c2–6; 268d3–6; Gorgias 503e4–504a1; siehe auch Aristoteles: Poetik, Kap. 8, 1451a28–35; Kap. 23, 1459a18–21. 7 Zum wirkungsgeschichtlichen und sachlichen Kontext dieses Prozesses siehe v. a. Dieter Henrich: Versuch über Kunst und Leben – Subjektivität, Weltverstehen, Kunst, München 2001. 8 Siehe Aesthetica §§ 18–20. Die vielfältigen Bedingungen, die nach Baumgarten die Einheit eines Kunstwerks konstituieren und die zu einem guten Teil der Tradition metaphysischer Schönheitsbegriffe entstammen, untersucht (mit wichtigen Belegen) Dagmar Mirbach: Das Denken der Einheit in der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens, in: Pensées de l’»un« dans l’histoire de la philosophie – Études en hommage au professeur Werner Beierwaltes, publ. par Jean-Marc Narbonne et Alfons Reckermann, Paris 2004, 376–402. Die Frage, welche Gründe Baumgarten veranlaßt haben, die Erfüllung dieser Bedingungen vor allem in der Vervollkommnung der Sinneserkenntnis zu suchen, wird bei Mirbach nicht thematisiert. 4 5

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Eine erste Antwort ist auch auf diese Frage leicht zu finden und gut belegbar: Baumgarten versteht unter der ›cognitio sensitiva‹ nicht nur den sogenannten ›äußeren Sinn‹, sondern auch den ›sensus interior‹, den inneren Sinn. Aus dem ›sensus interior‹, wie er etwa bei Cicero oder Augustinus9 gefaßt ist, hat sich aber der neuzeitliche Geschmacksbegriff entwickelt. Geschmack ist, so kann man in vielen Varianten vom 16. bis ins 18. Jahrhundert lesen, das Vermögen, auch ohne Begriff in unmittelbarem Urteil eben das zu erfassen, was der Begriff nachträglich billigen würde.10 Der Geschmack ist ein ›analogon rationis‹. Trotzdem bleibt die Frage bestehen, weshalb Baumgarten nicht bei den traditionellen Begriffen wie Geschmack, bon sens, common sense, criticism, Urteilskraft usw. bleibt, sondern statt dessen von einer ›cognitio sensitiva‹, ja von einer ›aisthetike episteme‹, einer Wissenschaft der Sinneserkenntnis spricht. Diese Frage führt bekanntlich auf Descartes zurück und auf Baumgartens Opposition gegen die von diesem begründete Form des Rationalismus. Der Verurteilung der Sinneserkenntnis als ›Mutter des Irrtums‹ setzt Baumgarten den hohen Wert der Sinneserkenntnis auch für das begrifflich abstrakte Denken entgegen, weil sie sich durch ihre Fähigkeit, die Schönheit der Gegenstände zu erfassen, von Anfang an als ein begriffsfähiges, aber durch ihren konkreten Reichtum den Begriff ergänzendes und vervollkommnendes Vermögen erweist. Erstaunlicherweise ergibt sich diese Aufwertung der Wahrnehmung weniger aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der Abwertung der Wahrnehmung durch Descartes, sondern eher daraus, daß Baumgarten in der Nachfolge von Leibniz und Wolff, auf die wir hier nicht eingehen können, die Kritik der Gegenstandsanschauung durch Descartes konsequent zu Ende denkt.11 Descartes kritisiert (insbesondere in seiner zweiten Meditation) die Erkenntnisleistung der Wahrnehmung, und zwar, wie er ausdrücklich sagt, der Wahrnehmung von Farben, Tönen, Gerüchen, Geschmäcken, Tastqualitäten, weil sie nur dunkel und verworren seien und einen Gegenstand nicht in seiner Identität zu erkennen geben. Zum einen nähmen wir diese Sinnesqualitäten nicht in ihrer objektiven Beschaffenheit wahr, sondern nur in ihrer mechanischen Wirkung auf unseren

9 Siehe dazu Verf.: Zahl und Schönheit in Augustinus De musica, VI, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N.F. 16 (1990), 221–237. 10 Siehe dazu Verf.: Klassische und platonische Schönheit. Anmerkungen zu Ausgangspunkt und wirkungsgeschichtlichem Wandel des Kanons klassischer Schönheit, in: Klassik im Vergleich – Normativität und Historizität europäischer Klassiken, hg. von Wilhelm Voßkamp, Stuttgart und Weimar 1993, 403–428. Zur Geschichte des Geschmacksbegriffs im 17. und 18. Jahrhundert siehe v. a. Alfred Bäumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur ›Kritik der Urteilskraft‹, Darmstadt 1975 (= Tübingen 1923); Franz Schümmer: Die Entwicklung des Geschmacksbegriffs in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Archiv für Begriffsgeschichte 1 (1956), 120–141. 11 Zum genaueren Beleg am Text siehe Verf.: Zur Erkenntnistheorie bei Platon und Descartes, in: Antike und Abendland 35 (1989), 54–82.

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Wahrnehmungsapparat (deshalb gelten sie als ›sekundär‹), zum anderen würden diese Qualitäten durch Vorstellung oder Einbildungskraft und durch den ›sensus communis‹ (Gemeinsinn) verarbeitet und durch deren Eigenaktivität überformt. Mit dieser Analyse folgt Descartes sehr direkt einer skeptischen Tradition12 und übernimmt deren Defekte mit. Ich erläutere dies wenigstens knapp an Descartes’ zentralem Beispiel aus der zweiten Meditation. Weil ein und dasselbe Stück Wachs bald als gelb, braun, duftend, hart, klingend usw. wahrgenommen werden könne, bald, wenn man es nur ein wenig dem Ofen nähere, als braun, weich, nicht duftend, nicht klingend usw., könnten wir uns auf unsere Sinne nicht verlassen und müßten, um das Wachs in seiner Identität zu erkennen, von allem, was sie zeigen, absehen und zum Begriff übergehen. Bei dieser Wahrnehmungskritik hat sich Descartes von der Skepsis, deren Ausweglosigkeit er überwinden wollte, mehr vorgeben lassen, als gut war. Denn er setzt – wie die Skeptiker bei ihrer Stoakritik – voraus, was er widerlegen will. Es ist ja evident, daß er die Veränderlichkeit der Sinneswahrnehmungen nicht einmal feststellen hätte können, wenn er sich auf ihr Zeugnis nicht fest – und zu Recht – verlassen hätte. Nur weil er sich selbstverständlich sicher war, daß er zuverlässig wahrgenommen hatte, daß das Wachs erst gelb, dann braun, usw. war, konnte er überhaupt bemerken, daß sich die Farben, Gerüche usw. des Wachses geändert hatten. Und nicht nur die Sinne täuschen in Descartes’ Experiment nicht, auch der ›sensus communis‹ und die Vorstellung, die im Sinn der aristotelischen Analyse leicht falsche Synthesen aus den Daten der einfachen Sinnesqualitäten bilden,13 haben in diesem Experiment, so, wie Descartes es beschreibt, ihre Aufgabe korrekt erfüllt: Sie haben jedes Mal ihre verschiedenen Einzelwahrnehmungen in der Einheit einer Vorstellung (eines Gegenstands) verbunden wiedergegeben. Der Gegenstand war jedes Mal als ganzer entweder gelb und klingend und duftend, oder braun, nicht klingend und nicht duftend, usw. Eine mögliche falsche Synthese, etwa daß man den Ton eines Motors hört und die Farben eines Flugzeugs sieht, deshalb beide Wahrnehmungen zu einer verbindet und so dem Denken eine gegenständliche Einheit suggeriert, die der Wahrnehmung keineswegs ›gegeben‹ war, die aber verleitet, die Meinung zu bilden, man habe das weit entfernt fliegende Flugzeug gehört, diskutiert Descartes nicht. Das, was Descartes tatsächlich beschreibt, ist die Alltagserfahrung, daß Gegenstände ihre Erscheinungsformen ändern – ein und derselbe Baum zeigt bald grüne, Siehe v. a. Michael Frede: Stoics and Sceptics on Clear and Distinct Impressions, in: The Sceptical Tradition, ed. by Myles Burnyeat, Berkeley 1983, 65–93; Gisela Striker: Sceptical Strategies, in: Doubt and Dogmatism in Hellenistic Epistemology, ed. by Jonathan Barnes, Malcolm Schofield and Myles Burnyeat, Oxford 1980, 54–83. 13 Siehe dazu Wolfgang Bernard: Rezeptivität und Spontaneität der Wahrnehmung bei Aristoteles, Baden-Baden 1988, 113 ff.; Verf.: Synästhesie im Urteil aristotelischer Philosophie, in: Synästhesie. Interferenz – Transfer – Synthese der Sinne, hg. von Hans Adler und Ulrike Zeuch, Würzburg 2002, 109–148. 12

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bald bunte, bald gar keine Blätter –, ohne daß der gesunde Menschenverstand sich von dieser Veränderlichkeit und Konfusion verwirren läßt, sondern in fragloser Selbstverständlichkeit daran festhält, daß er es in aller Veränderung mit ein und demselben identischen Gegenstand zu tun hat. Descartes bleibt daher trotz der Kritik an der ›Verworrenheit‹ und Widersprüchlichkeit der Wahrnehmung mit der Alltagserfahrung dabei, daß der Gegenstand selbst in allen diesen scheinbar täuschenden Sinneserscheinungen ein und derselbe bleibt. Er beruft sich sogar auf die Evidenz dieser Alltagserfahrung: »Niemand bezweifelt das, niemand bestreitet das«, stellt er fest. Die unmittelbare Gewißheit, in der Wahrnehmung einen mit sich identischen Gegenstand erfahren zu haben, und damit die Gewißheit, daß das Denken eine stabile Beziehung zu den Gegenständen der Beobachtung hat, bildet die Basis für die Kritik an der Erkenntnisleistung der verschiedenen sogenannten sekundären Qualitäten der Einzelwahrnehmungen. Da die Sinne diese Identität nicht zeigen, wir ihrer aber unmittelbar und zweifelsfrei gewiß sind, kann sie nicht durch die Sinne erkannt sein, sondern muß ihren Ursprung in einem anderen, einem geistigen Vermögen haben. Die Leistung dieses geistigen Vermögens beschreibt Descartes als eine ›inspectio‹ oder einen ›intuitus mentis‹, der einen Gegenstand losgelöst von allen seinen sinnlichen Erscheinungsvarianten rein in seiner Identität erfaßt. Diesen geistig erfaßten Gegenstand nennt Descartes auch die Sache selbst oder die Idee der Sache. Die Überzeugung vieler Philosophiehistoriker, dieser cartesianische Ideebegriff sei eine neuzeitliche Wiederaufnahme des platonischen Ideebegriffs hat, dies möchte ich wenigstens anmerken, einer historisch korrekten Interpretation der platonischen Ideenlehre sehr geschadet. Für das Verständnis des Wegs von Descartes zu Baumgarten am wichtigsten ist, daß dieser der Deklaration nach rein geistige, von aller Sinnlichkeit abstrahierende Ideebegriff nicht nur im konkreten Argument von Descartes nachdrücklich aus der Identitätsgewißheit der Sinneserfahrung seine Legitimität gewinnt, sondern daß Descartes in einem eigenen zweiten Argumentationsgang selbst herausstellt, daß der abstrakte Gegenstand der Ratio identisch mit eben jenem anschaulichen Begriff des Gegenstands ist, von dem die Anschauung, wenn auch ohne um den Grund ihrer Gewißheit zu wissen, ausgegangen war (siehe die zweite Meditation, S. 28 der Erstausgabe 1641). Der Grund für die Notwendigkeit, von der einen zur anderen Form der Gewißheit überzugehen, liegt nach Descartes in der Unendlichkeit der möglichen Veränderungen eines Sinnesgegenstands. Alle vorstellbaren Veränderungen des Wachses, das er in der Anschauung vor sich hat, kann keine konkrete Einzelvorstellung umfassen, nur ein geistiger ›intuitus‹, in dem diese ganze Unendlichkeit in einer Art intellektuellen Anschauung präsent ist (siehe ebd., 27). Der Sache nach gibt es daher schon bei Descartes einen doppelten Begriff von Begriff. Es kann der abstrakte Begriff gemeint sein, der nichts als ein symbolisches Zeichen für eine unter ihn fallende unendliche Variation von Sinnesmerkmalen ist,

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es kann aber auch der ›intuitus mentis‹ in eben dieser dem Sinn in vorbegrifflicher Form schon gegebenen Unendlichkeit sein. An diesem Aspekt, daß diejenige Unendlichkeit, derer sich das Denken im Begriff bewußt werden kann, keine andere ist und sein kann als diejenige, die in konkreter, wenn auch vorbegrifflicher Form der Sinnlichkeit schon gegeben war, setzt Leibniz an, der in konsequenter Fortführung des cartesianischen Ansatzes in der Veränderlichkeit und Widersprüchlichkeit der Sinneswahrnehmungen keine Gefährdung der einheitlichen Gegenstandserkenntnis mehr feststellt. Sein berühmtes Bild von der Unendlichkeit der Meereswogen,14 die der Sinn ganz in sich aufnimmt, während das bewußte Denken sich immer nur Fragmente, Ausschnitte vergegenwärtigen kann und diese Fragmente zudem aus ihrer fließenden Offenheit herausnimmt und fixiert, zeigt die neue Akzentsetzung: Wenn der Begriff in abstrakter Bewußtheit auf genau die Unendlichkeit verweist, die der Anschauung vorbewußt dunkel und undifferenziert (›verworren‹) gegeben war, dann gibt es eine anschaulich reiche Unendlichkeit nur im Dunkel der vorbegrifflich unmittelbaren Sinnlichkeit. Baumgartens besondere Leistung ist, daß er diesen Aufweis des unendlichen Reichtums der Sinneserfahrung zu konkretisieren versucht, indem er im einzelnen zeigt, wie das ›ästhetische Denken‹ überhaupt erst den abstrakten Begriff von der bloßen Identität eines Gegenstands zu einer konkreten Erfahrung der einheitlichen Ordnung der Teile dieses Gegenstands, sozusagen zu einem Stamm mit Rinde, Ästen, Zweigen, Blättern usw., und damit erst zu einem konkret vorstellbaren Baum macht. Damit wird das sinnliche Denken sozusagen von selbst zu einem schönen Denken, d. h. zu einem konkreten Nachvollzug, wie die Mannigfaltigkeit der in einem Begriff geeinten Anschauungsmerkmale miteinander immer schon die einheitliche Vorstellung bilden, auf die sich der Verstand nur noch stützen kann. Wenn man also fragt, warum die Sinneserkenntnis als solche für Baumgarten schon ästhetische Qualität hat, dann ist die Antwort, weil sie die subjektiv konkrete Rezeptionsform einer Identitätserfahrung ist, auf die alle ihre Momente von sich her schon ausgerichtet sind und in dieser unmittelbar erfahrenen Ordnung nur festgehalten und rekonstruiert werden müssen. Eine Sinneserfahrung hat von sich her, wenn sie nur alle ihre Möglichkeiten konsequent ausschöpft, d. h., ›vollkommen‹ ist, Qualitäten wie Einheit, Ganzheit, Zusammenstimmung – das teilt sie mit dem Begriff – , aber sie ist anders als der Begriff nicht leer, sondern verfügt über eine Form der Einheit, die zugleich durch Fülle und Reichtum charakterisiert ist, und ist daher nicht nur wahr, sondern auch schön. Ich hoffe, daß trotz der vereinfachten Kürze, in der ich die Entwicklung seit Descartes darstellen mußte, deutlich geworden ist, daß die Ästhetisierung der Sinneserkenntnis bei Baumgarten Folge einer überhöhten Erwartung an die vorbegriffSiehe Gottfried Wilhelm Leibniz: Discours de Métaphysique, § 33, hg. von Herbert Herring, Hamburg 1958, 85. 14

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liche Begriffsgemäßheit der Wahrnehmung oder, aktueller formuliert, an die Intelligenz der Anschauung ist. Die Sinneserkenntnis ist für Baumgarten nur deshalb in ihr selbst eine schöne Erkenntnis, weil er fraglos überzeugt ist, daß die in ihr geeinten Momente Momente einer mit sich selbst in allen ihren Teilen übereinstimmenden Identitätserfahrung sind, d. h., sie gilt Baumgarten nur deshalb als schön, weil er überzeugt ist, daß sie in vorbewußter ›Verworrenheit‹ genau dem entspricht, was Descartes der ›rein geistigen‹ Ideenerkenntnis vorbehalten hatte. Diese Erinnerung an Descartes macht etwas klar, was viel zu wenig beachtet wird: Die Überzeugung, ein Sicheinlassen auf die sinnliche Erscheinung der Sinnesgegenstände sei schon von sich her ›ästhetisch‹, basiert auf einer spekulativen Voraussetzung, auf der Voraussetzung, die in der Sinnesanschauung gemachte Erkenntnis sei ihrem Gehalt und ihrer Qualität nach eine Erkenntnis der Idee eines Gegenstands, nur eben in vorbewußter, vorbegrifflicher Form. Nicht nur die sogenannte Wende zur Subjektivität durch Descartes, sondern auch noch die Wende von einem spekulativen Rationalismus zur Unmittelbarkeit der direkten Sinneswahrnehmung bei Baumgarten haben daher keine wirkliche Lösung von der metaphysischen Überhöhung der Wirklichkeit der konkreten Einzeldinge gebracht, wie sie die frühe Neuzeit in Fortführung bestimmter Tendenzen des späten Mittelalters vollzogen hatte.15 Den Künstlern und Theoretikern der Renaissance galt ja die ganze Natur als ein mathematisch lesbares Buch, in der jedes Ding von ›Zahl, Maß und Gewicht‹, wie die berühmte Formulierung aus dem Weisheitsbuch des Alten Testaments lautet, ganz und gar bestimmt war.16 Auch diese Neudeutung der Renaissance, die gegenüber der vermeintlichen mittelalterlichen Weltverachtung die Intelligibilität der Welt selbst betont, ist schon auf eine Neudeutung und Neubewertung der Sinnesanschauung gegründet, auch sie hat eine erkenntnistheoretische Basis. Es waren vor allem Duns Scotus17 und Wilhelm von Ockham, die das Einzelding zu einem wohlbestimmten Ding aufgewertet hatten, das in sich selbst alle seine begrifflichen Bestimmungen in vollkommener und realer Weise enthält. Grund für diese Überzeugung ist auch bei Duns Scotus der unmittelbare Zugang zum Einzelding. Es kann in einer sinnlich anschauenden Erkenntnis (›cognitio intuitiva Siehe zum Folgenden Verf.: Die Moderne und Platon, Stuttgart 2003, 19–35. Zur philosophischen Bedeutung des Sapientia-Zitats siehe Werner Beierwaltes: Augustins Interpretation von Sapientia 11, 21, in: Revue des Etudes Augustiniennes 15 (1969), 51–61. 17 Siehe Verf.: Anschauung und Denken bei Duns Scotus. Über eine für die neuzeitliche Erkenntnistheorie folgenreiche Akzentverlagerung in der spätmittelalterlichen Aristoteles-Deutung, in: Die Renaissance und ihre Antike – I: Die Renaissance als erste Aufklärung, hg. von Enno Rudolph, Tübingen 1998, 17–34; Ludger Honnefelder: Ens inquantum ens – Der Begriff des Seienden als solchen als Gegenstand der Metaphysik nach der Lehre des Johannes Duns Scotus, Münster 1979; ders.: Scientia transcendens – Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (Duns Scotus – Suárez – Wolff – Kant – Peirce), Hamburg 1990, 122–157. 15 16

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sensitiva‹) unmittelbar in der Einheit aller seiner Erscheinungsformen angeschaut werden. Durch ihre Unmittelbarkeit hat diese sinnlich anschauende Erkenntnis noch eine weitere Auszeichnung: Sie ist ›einfach‹ (›simplex‹), d. h., in ihr gibt es noch keine synthetischen Akte des Denkens, sie hat die Qualität einer analytischen Gewißheit. Daher fallen bei diesem Anschauungsakt Subjektivität und Objektivität noch zusammen. (Das ist der Grund, warum Duns Scotus von vielen ›noch‹ als ›Realist‹ bezeichnet wird. Das ist zwar korrekt. Wenn es kritisch gemeint ist, wird dabei aber meist übersehen, daß die Begründung für diesen Zusammenfall des Subjektiven und Objektiven, des Gedachten und des ›Realen‹ auch in der transzendentalen Wende nicht aufgegeben wird. Auch bei Kant etwa ›entspricht‹ der ›Empfindung‹ das ›Ding an sich‹, weil in der Empfindung, anders als in der Wahrnehmung und dem begrifflichen Denken, keinerlei Überformung durch subjektive Auffassungsmodi vorliege.) Deshalb besitzt die Anschauung das Ganze zwar noch undifferenziert und undeutlich dunkel, aber vollständig und so, wie es wirklich und in Wahrheit ist – dadurch ist der Erfahrungsgegenstand für die Anschauung ein ›einfaches Ding‹ (›res simplex‹), ein Erfahrungsatom, bei dem die Beobachtung genau das, was etwas von sich her ist, vor sich hat –, während das abstrahierende Denken immer nur Fragmente der Anschauung rekonstruieren kann und diese auch noch durch die logischen Mittel, über die der Verstand, wie Duns Scotus sagt, ›sua sponte‹, also spontan, frei aus sich selbst verfügt, überformt. Neben diesem erkenntnistheoretischen hat die Aufwertung der Anschauung im späten Mittelalter auch noch einen theologischen Anlaß, genauer: Sie entspringt einer Gegenbewegung gegen eine rationale Theologie, wie sie z. B. Thomas von Aquin noch für richtig gehalten hatte, und verfolgt schon eben die Tendenz, die in Kants berühmten Diktum: »Ich mußte das Wissen begrenzen, um dem Glauben Platz zu machen« ausgesprochen ist. Die Welt des Rationalen gilt als die Welt unserer subjektiven Denkgebäude, deren menschliche Begrenztheit nicht fähig ist, das unendliche Wesen Gottes zu begreifen.18 Die Überzeugung, daß Gottes Wesen für die menschliche Ratio nicht erfaßbar sei, bildet zwar auch die Grundlage der meisten älteren Erklärungsformen der Gotteserkenntnis, die etwa im Sinn der ›via eminentiae‹ oder der ›via negativa‹ Gott als Voraussetzung der Möglichkeit menschlicher Rationalität zu begreifen versucht hatte, Duns Scotus aber gilt die menschliche Ratio grundsätzlich als unfähig, aus sich heraus Voraussetzungen, die sie übersteigen, zu erkennen. Deshalb könne Gott allein in der wirklichen Welt, die seine Schöpfung ist, erkannt werden. Der Weg zur Erkenntnis der wirklichen Welt, frei von den Anmaßungen menschlicher Rationalität, sei die unmittelbare Wirkung der Dinge auf uns in der ›cognitio intuitiva sensitiva‹. So stimmt die erkenntnistheoretische Analyse mit der ›theologischen‹ Motivation überein: Nur die wirklichen Dinge, und d. h. die Dinge, die uns unmittelbar in der Anschauung 18

Siehe v. a.: Regnum hominis et regnum Dei, hg. von Camille Bérubé, Rom 1978.

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gegeben sind, sind die von Gott geschaffenen Dinge. Sie enthalten (im Unterschied zum menschlichen Begriff) ›noch‹ alles, was Gott in sie hineingelegt hat, d. h., sie sind von sich her mit allen den begrifflichen Bestimmungen ›realiter‹ ausgestattet, die das menschliche Denken nur noch nachträglich und unvollkommen von ihnen abstrahieren kann. Den Weg, wie von dieser theologisch relevanten, erkenntnistheoretischen Begründung des Vorzugs der sinnlich erfahrbaren Welt die frühneuzeitliche Begeisterung für die Schönheit ›dieser‹ – und nicht einer ›jenseitigen‹ – Welt sich entwickelt hat, kann ich hier nicht nachzeichnen. Es ist aber klar, daß sie alle gedanklichen Voraussetzungen für diese Wende schon aufweist. Auch die Übertragung in die Kunsttheorie und -produktion ist mit ihr vorgeprägt. Denn die Überzeugung, daß jedes Einzelding der Wirklichkeit alle seine begrifflichen Bestimmungen in sich enthält, bedeutet zugleich, daß die dingliche Wirklichkeit als vollkommen von Regel und Gesetz bestimmt und deshalb als in sich selbst schön gilt.19 Diese Überzeugung herrscht weithin ungebrochen bis in die Aufklärung weiter. Noch bei Gottsched etwa kann man lesen20: »Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön […]. Das genaue Verhältnis, die Ordnung und richtige Abmessung aller Teile, daraus ein Ding besteht, ist die Quelle aller Schönheit. Die Nachahmung der vollkommenen Natur kann also einem künstlichen Werke Vollkommenheit geben […], und die Abweichung von ihrem Muster wird allemal etwas Ungestaltes und Abgeschmacktes zuwege bringen«. Auch wenn Baumgarten Schönheit nicht mehr uneingeschränkt als Eigenschaft äußerer Gegenstände, sondern als eine besondere Qualität einer bestimmten Form subjektiver Erkenntnis, eben der Sinneserkenntnis, begreift, so ist doch deutlich, daß die Sinneserkenntnis von ihm diese ästhetische Qualität genau deshalb zugesprochen bekommt, weil sie eben dieselbe innere Ordnung und Identitätsstruktur hat, die noch Gottsched in der äußeren Natur finden wollte. Die besondere cartesianische Art der Subjektivierung durch Baumgarten bringt aber sehr wohl eine erhebliche Veränderung gegenüber den objektiven Schönheitskonzepten mit sich. Denn die Sinneserkenntnis übernimmt nun als solche die Aufgabe, zu entscheiden, ob eine Erfahrung ästhetisch ist oder nicht, ohne von Regeln und Normen der Symmetrie, Proportion, Harmonie abhängig zu sein, ohne vorhergehende Erlernung der Vernunftregeln der clarté, pureté, netteté, ohne abstrakte Belehrung über Typen, Charaktere, Stände und deren Verhaltensmuster und wie die kunstgerechten Anleitungen zur Herstellung einer Einheit in der Mannigfaltigkeit immer lauteten.

Immer noch grundlegend ist Erwin Panofsky: Idea – Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin 71993 (= Leipzig 11924). 20 Siehe Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst – Ausgewählte Werke, VI, I, hg. von Joachim Birke und Phillip M. Mitchell, Berlin und New York 1973, 183 f. 19

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Dies bedeutet bereits eine Überschreitung der traditionellen Grenzen der Kunsterfahrung auch in bezug auf die Baumgarten schon sehr nahestehenden Geschmackstheorien, bei denen der konkrete, auf Erfahrung und Übung beruhende Umgang mit Gegenständen der Kunst noch eine wichtige Rolle spielte. Bei Baumgarten geht es zwar auch noch um Erfahrung, Übung, ja Methode im Umgang mit Kunst – daher rührt der Eindruck, Baumgarten gehöre in vieler Hinsicht noch zur traditionellen Regelpoetik –, sein Augenmerk ist aber bei der Besprechung aller Übungen, aller rhetorischen Mittel usw. ausdrücklich und nachdrücklich auf einen Frageaspekt konzentriert: auf die Frage, wie durch eine Vervollkommnung des ›schönen Denkens‹ (›ars pulchre cogitandi‹), d. h. einer Perfektionierung der Anschauung, Fehler der künstlerischen Produktion vermieden werden können (z. B. die willkürliche Zusammensetzung von Gegenständen, wie sie Horaz zu Beginn seiner Poetik beschreibt, denen keine in einer Anschauung mögliche Einheit entspricht21) und ›poetische Wahrheit‹ erreicht werden kann (in der z. B. auch die Konstruktionen ›heterokosmischer Welten‹, Welten, die reine Produkte dichterischer Phantasie sind, gestattet sind, wenn sie eine mögliche Anschauungseinheit bilden22). Es geht nicht mehr um das, was Kunst zur Kunst, oder gar, was eine Tragödie zur Tragödie macht, sondern um eine Vervollkommnung der Anschauung, um eine Bewahrung und Bewährung ihrer Harmonie mit dem Begriff.23 Die Analyse der Bedingungen des schönen Denkens deckt daher, trotz der vielen antiken Dichterzitate bei Baumgarten, Bedingungen eines ästhetischen Weltverhaltens auf, sie führt zu einer allgemeinen Ästhetisierung des Lebens, sie zeigt keine Kriterien, durch die Kunst von Nicht-Kunst unterschieden werden könnte. Die Subjektivierung der Schönheitserfahrung hat aber noch in einem weiteren Sinn eine Entgrenzung der Künste untereinander, die ja – wie schon bei Batteux – alle aus einem Prinzip abgeleitet werden, und von Kunst und Nichtkunst zur Folge, und zwar dadurch, daß sie den Anstoß zu einer Entgegenständlichung der Künste gegeben hat. Ich weiß nicht, ob dieser Aspekt überhaupt schon einmal konsequent verfolgt worden ist. Es ist aber jedenfalls auffällig und der Beachtung wert, daß eine Ästhetisierung der Kunsterfahrung im Sinne Baumgartens mit zwingender Logik zu einem Verlust des Gegenstands führen muß – und in der Tat ja auch geführt hat. Eigentlich war Baumgarten angetreten, um der Verflüchtigung des Gegenstands durch die Abstraktheit des Gedankens entgegenzuwirken.24 Nicht abstrakte Normen, Typen, Ideale, sondern der konkrete Gegenstand Siehe Baumgartens Äußerungen zur ›ästhetischen Falschheit‹, v. a. §§ 445–449 der Aesthetica. Siehe Aesthetica v. a. §§ 575, 585–589. 23 Das ist eben der Sachverhalt, den Kant in der Kritik der Urteilskraft als ›freies Spiel von Einbildungskraft und Verstand‹ präziser beschreibt und auf den Begriff bringt (siehe KU § 9). 24 Siehe v. a. das oft zitierte Bild Aesthetica § 560 f.: »Was nämlich ist Abstraktion wenn nicht ein Verlust? Man kann […] aus einem Marmorblock mit unregelmäßiger Gestalt keine Marmorkugel herausarbeiten außer durch einen Verlust an materialer Substanz […]. Wir gehen also von der Voraussetzung aus, daß sich das Studium der ästhetikologischen Wahrheit vor allem der ma21 22

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in der Fülle und Wohlgeordnetheit aller seiner Teile sollten Gegenstand des ›schönen Denkens‹ sein. Dieses schöne Denken aber sollte ein sinnliches Denken und Empfinden sein, das noch nicht vom Wunsch des Verstandes nach bewußter Deutlichkeit reduziert und fragmentiert war. Das Kunsturteil hängt bei Baumgarten also nicht mehr von begreifbaren und objektivierbaren Kriterien ab, sondern von der Unverfälschtheit des sinnlichen Erkenntnisvermögens als solchem. Baumgarten thematisiert zwar die Subjektivität dieses Vermögens auch in dem cartesianischen Sinn, daß es an uns liegt, es zu betätigen und über es zu verfügen, dieses Vermögen ist aber ein dunkles Vermögen. Baumgarten spricht auch von einer Kraft (›vis‹, ›virtus‹, ›facultas‹), die nicht wie der Verstand nach bestimmten Regeln oder Kriterien angewendet werden kann. Ihre Aktivierung entspricht eher der Aktivierung einer bestimmten Empfänglichkeit, einer allgemeinen, nicht konkretisierten Sensibilisierung.25 Das, was dabei aktiv ist, ist, wie etwa Herder sagen wird, ein ›dunkler Mechanismus unserer Seele‹.26 Was diese Verlagerung der Schönheits- und Kunsterfahrung in einen vorbewußten Akt der Sinnlichkeit bedeutet, wird klarer, wenn man sich nicht auf die direkte Baumgarten-Rezeption beschränkt. Baumgarten selbst steht mit seiner Ästhetik ja nicht allein, sondern ist Teil einer lang und breit diskutierten Entwicklung, die er besonders konsequent zu Ende denkt. Die Versinnlichung, ja Verleiblichung der Kunsterfahrung im 19. Jahrhundert ist daher auch nicht nur eine Folge des durchschlagenden Erfolgs seiner Ästhetik als Kunstkonzept (in dem Baumgarten mehr durch den Begriff als durch seine Schriften weiterwirkt), sondern bildet einen breiten Strom, in dem viele Einflüsse zusammenkommen. Auch wenn das Grundpostulat Baumgartens, daß eine ›ästhetische‹ Erfahrung nicht theoretisiert werden, nicht auf die Deutlichkeit von Begriffen reduziert werden darf, von vielen geteilt wird, sagen die praktischen Versuche, dieses Postulat zu erfüllen, doch auch etwas über die Problematik der hohen Erwartung, die Baumgarten an die Syntheseleistung der Wahrnehmung ›als solcher‹ gestellt hatte, aus. terialen Vollkommenheit zuwendet und daher die Gegenstände der begrifflichen Wahrheit noch möglichst in ihrer konkreten Bestimmtheit (quam determinatissime) zu erfassen sucht.« 25 Siehe dazu überzeugend Menke: Wahrnehmung, Tätigkeit, Selbstreflexion (Anm. 1), 32 ff. 26 Siehe ebd., 34. Baumgarten steht hier in einer neuzeitlichen Tradition der Irrationalisierung des antiken Dynamisbegriffs, wie ihn auf erkenntnistheoretischem Gebiet v. a. John Locke vorangetrieben hat. Signifikant ist hier bereits die Übersetzung von ›Dynamis‹, ›facultas‹, ›virtus‹, ›potentia‹, ›vis‹ mit ›Kraft‹. Das Besondere an einer Dynamis ist für Platon und Aristoteles noch die jeweilige Bestimmtheit des jeweiligen Vermögens. Es gibt kein Vermögen überhaupt, sondern ein Vermögen zu hören, zu gehen, usw. Es wird erfaßt durch die Lenkung der Erkenntnis auf das, ›was etwas kann und leistet‹ und in bezug worauf etwas etwas leistet. (Z. B. ist die ›Dynamis‹ zu schneiden immer bezogen auf etwas, das geschnitten werden kann. In diesem Sinn ist etwa die ›facultas‹ zu sehen auf die Farbe bezogen und nicht, wie dies die neuzeitliche Erkenntnistheorie häufig annimmt, auf Gegenstände. Der Archäologe, der einen frühzeitlichen Schmelzofen findet, ›sieht‹ keinen Schmelzofen, sondern Farben und Formen und erschließt aus dem Begreifen dessen, was dieses farbige Gebilde wohl einmal leisten konnte, daß es sich um einen Schmelzofen handelt. Der locus classicus für diese rationale Definition von Dynamis ist Platon: Staat 477c–d.)

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Ich gehe der Deutlichkeit halber gleich zu einer relativ späten Stufe weiter. Jules Laforgue etwa, einer der frühesten Wortführer des französischen Impressionismus, formuliert als Ideal eines ästhetischen Denkens ein Sehen, das das Auge in ein Organ des unreflektierten Sehens zurückverwandelt.27 John Ruskin spricht im Blick auf Turner vom Auge des Künstlers als von einem ›unschuldigen Auge‹, das sieht, wie Kinder sehen.28 Eine im 19. Jahrhundert von vielen Kunsttheoretikern diskutierte praktische Möglichkeit der Verwirklichung dieser Rückverwandlung ist etwa, sich in den Zustand der Dämmerung zwischen Schlaf und Wachen, in dem das Auge schon wach, das Bewußtsein aber noch nicht aktiv ist, zu versetzen. Monets berühmtes Bild Sonnenaufgang fängt die Wirkung eines solchen Sehens ein: Die Gegenstände verschwimmen, das Bild wird abstrakt. So führt die konsequente Durchführung eines ästhetischen Zugangs zur Wirklichkeit auf eine zwar unerwartete, aber zwingende Weise zu eben dem Verlust, vor dem sie bewahren wollte, zum Verlust der Fülle und Konturiertheit des konkreten Gegenstands. Sie tut dies auch noch auf eine zweite Weise mit einer anderen Wirkung. Ich möchte das wenigstens noch andeuten. Wenn das ästhetische Denken nur dann ästhetisch und künstlerisch ist, wenn es einen Zugang zu den Dingen findet, in den noch nicht die zergliedernde Deutlichkeit des Bewußtseins eingegriffen hat, dann muß das ein Zugang sein, der die Welt noch – wie in Leibniz’ Bild von der unendlichen Fülle der anbrandenden Wogen – als ein unendliches Ganzes, ohne Grenzen, auch ohne Grenzen der Gegenstände gegeneinander, erfaßt. Eine künstlerisch poetische Erfahrung gibt es dann nur für den, der die Welt, wie Baudelaire formuliert hat, als einen geheimen Zusammenhang alles Seienden, als einen ›Wald von Symbolen‹ sehen kann. Dieser geheime Zusammenhang ist dem Bewußtsein nicht nur nicht zugänglich, er wird durch den geringsten Bewußtseinsakt zerstört. Denn er wirkt wie eine Lupe, die man beim Sehen benutzt: Die dem Auge ganz gegenwärtige Fingerkuppe verwandelt sich in zusammenhanglose Gebirgszüge. Wolff und Baumgarten konnten dem Vergleich des Denkens mit der Lupe noch einen instrumentell positiven Sinn abgewinnen,29 für Hofmannsthals Lord Chandos ist er Zeichen der völligen Sprachunfähigkeit des Dichters, der in keiner konventionell vorgeprägten Erlebnisform mehr zu Hause sein kann.30 Ästhetisierung bedeutet hier also zunächst den totalen Verlust aller Siehe Jules Laforgue: L’Origine physiologique de l’impressionisme, zitiert nach Max Imdahl: Die Rolle der Farbe in der neueren französischen Malerei, in: Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion, hg. von Wolfgang Iser, München 1966 (Poetik und Hermeneutik II), 195. 28 Siehe dazu Ernst Hans Gombrich: Art and Illusion, Washington 1960, 296. 29 Siehe Christian Wolff: Deutsche Metaphysik, § 772; Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophische Briefe von Aletheophilus, Frankfurt/Leipzig 1741 – Zweites Schreiben, in: A.G. Baumgarten – Texte zur Grundlegung der Ästhetik, hg. von Hans-Rudolph Schweizer, Hamburg 1983, 72, wo Baumgarten die »Vergrößerungsgläser« als »Waffen« und »Werkzeuge« beschreibt, durch die der Mensch »in Stand gesetzt wird, klar zu empfinden, was sonst […] nur dunkel geblieben wäre«. 30 Siehe dazu Verf.: Die Moderne und Platon (Anm. 15), 145–154; siehe jetzt die wichtige Stu27

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traditionellen Kunst, schließlich aber auch die Verzweiflung über die Möglichkeit von artikulierbarer Kunst überhaupt. Leider haben wir nicht den Raum, diese Probleme weiter zu verfolgen und zu analysieren. Ich möchte aber betonen, daß ich keineswegs eine Aussage über bestimmte Werke neuerer Kunst machen wollte, die ja immer ihre je eigenen Bedingungen haben, wohl aber über bestimmte theoretische Prämissen, die viele Künstler auch selbst diskutiert haben und von denen sie zumindest beeinflußt waren. Von diesen Prämissen sollte deutlich werden, daß sie nicht etwa als Ergebnis eines Verlusts der metaphysischen Fundiertheit der europäischen Moderne aufgefaßt werden können, sondern ganz im Gegenteil als – oft unbewußte und unaufgelöste – Relikte einer immanentisierten Metaphysik. Allen Säkularisierungstendenzen zum Trotz ist der Anspruch, dem die Ästhetik aus ihr selbst heraus genügen zu können meint, nur durch eine immanente Theologisierung und Verabsolutierung der geschichtlich endlichen Wirklichkeit erfüllbar. Daß dieser Aspekt selten Beachtung findet, liegt einerseits daran, daß nach dem Zusammenbruch der idealistischen Systeme im 19. Jahrhundert auch in keiner Kunsttheorie mehr ein expliziter metaphysischer Anspruch erhoben wird, jedenfalls in keiner Kunsttheorie, die nicht auf dogmatisch naive Positionen zurückfallen will. So ist aus Baumgartens Ästhetik ja auch die Vorstellung, daß der Gegenstand von Kunst das Schöne, und daß schön das Vollkommene sei, das Lehrstück, das in der Geschichte der Ästhetik die geringste Wirkung getan hat. In den meisten neueren Auseinandersetzungen mit Baumgarten wird es nicht einmal mehr thematisiert. Die Nichtbeachtung der theologischen Implikate der Ästhetik, die vielfältig bis in die Gegenwart weiterwirken, hat andererseits ihren Grund aber auch darin, daß die historische Perspektive, in der die ›ästhetische Wende‹ gedeutet wird, oft zeitlich viel zu eng begrenzt wird und auch zu undifferenziert ist. Besonders ungenau wird mit dem Begriff der Subjektivierung umgegangen. Im Licht des (Vor-)Urteils, die genieästhetische Wende habe zur endgültigen Destruktion der ›aristotelischen‹ Bindung der Kunst an eine ›Nachahmung der Natur‹ geführt, scheint die Leistung dieser Wende darin zu bestehen, daß Kunst nicht mehr als ›bloße‹ Nachahmung einer äußerlich oder ideell vorgegeben Wirklichkeit verstanden wird, sondern als ein Prozeß subjektiv schöpferischer Aktivität. Gegenstand der Kunst ist nicht mehr die Wirklichkeit, sondern das Fiktive – in zunehmender Reflektiertheit.31 Die auf diese ›Überwindung‹ einer dogmatischen Naivität konzentrierte Perspektive hat den die von Timo Günther: Hofmannsthal: Ein Brief, München 2004, in der die Herkunft der Sprachproblematik des Lord Chandos aus der frühneuzeitlichen Wissenschaftssprache zu Recht betont und gut herausgearbeitet wird. 31 Etwa in dem Sinn, daß auch der Unterschied von Wirklichkeit und Fiktion selbst als Fiktion erkannt und in Rechnung gestellt wird. Siehe etwa Odo Marquard: Kunst als Antifiktion – Versuch über den Weg der Wirklichkeit ins Fiktive, in: Funktionen des Fiktiven, hg. von Dieter Henrich und Wolfgang Iser, München 1983 (Poetik und Hermeneutik X), 35–54.

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Blick dafür verstellt, daß die spezifische Form der Subjektivierung, die die Ästhetisierung der Kunsterfahrung mit sich bringt, gar nicht diesen inhaltlichen Aspekt betrifft. Daß der Gegenstand der Kunst nicht die gegebene Wirklichkeit, sondern eine illusionierte, fingierte Welt ist, ist die Grundthese bereits der ersten Kommentare der aristotelischen Poetik in der Renaissance. Daß die Überzeugung, die in Dichtung und Kunst dargestellte Welt sei eine subjektive Welt, die Welt subjektiver Vorstellungen von der Wirklichkeit, nicht diese Wirklichkeit selbst, auch Eingang in die künstlerische Praxis gefunden hat, belegen viele, zum Teil hochberühmte Werke wie etwa Cervantes’ Don Quijote oder Calderons Das Leben ein Traum, dessen Thematik keineswegs willkürlich von Hofmannsthal wieder aufgegriffen werden konnte. Unter diesem inhaltlichen Aspekt hat es eine ›Nachahmungspoetik‹ nie gegeben. Die Subjektivierung, die die genieästhetische Wende bringt, besteht demgegenüber in der Auszeichnung einer bestimmten Erfahrungsform, der Weise des Anschauens, der Intuition, des Erlebens und Fühlens, gegenüber der Erkenntnisweise der Rationalität. Die Aufgabe der Rationalität ist es, eine ›Mannigfaltigkeit‹ von Sinnesdaten auf die Einheit eines Begriffs zu beziehen und diese Mannigfaltigkeit dadurch überhaupt erst zu einem Gegenstand, einem Objekt für das Denken zu machen. In diesem Sinn objektiviert, vergegenständlicht das Denken das der Anschauung oder dem Gefühl ›gegebene‹ Mannigfaltige. Diese ›Objektivität‹ des rationalen Denkens meint nicht und auf keinen Fall zwingend, daß das im Begriff Objektivierte ein äußerer, vom Denken unabhängiger Gegenstand ist. Die Objektivität hat vielmehr epistemischen Charakter: Der vielfältige Inhalt der Anschauung oder des Gefühls ist auf das begriffliche Allgemeine reduziert und dadurch intersubjektiv nachprüfbar gemacht und in diesem Sinn objektiviert. Objektivierung ist in diesen Kontexten also gleichbedeutend mit ›Erhebung ins Bewußtsein‹ dadurch, daß eine unbestimmte Empfindung oder Intuition zu deutlich gegenwärtiger Gegenständlichkeit gebracht wird.32 Es ist der Gegensatz zu dieser (rationalistischen) Objektivität, die die Subjektivität der ästhetischen Erfahrung ausmacht. Kant bringt diesen Sachverhalt präzise auf den Begriff, wenn er davon spricht, daß bei ihr sich die ›Erkenntniskräfte‹ »in einem freien Spiel befinden«, »weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt« (KU § 9). Nun sind die Erkenntnisregeln, die einem subjektiv empirischen Inhalt objektive Geltung verschaffen, bei Kant die transzendentalen Formen von Anschauung und Verstand, durch die eine ›Mannigfaltigkeit‹ von bloß subjektiven Daten in der Einheit der ›transzendentalen Apperzeption‹, d. h. einem klaren und deutlichen Bewußtsein, vorgestellt werden. Die Mannigfaltigkeit, die sich das Denken in diesen ›Modi‹ zum Objekt macht, ist nicht ›das Ding an sich‹ der äußeren Wirklichkeit, sondern es sind die nach den Regeln der Apperzeption geeinten Vorstellungsinhalte. 32

Siehe Verf.: Klassische und platonische Schönheit (Anm. 10), 411 f.

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Daß die ästhetische Erfahrung (›noch‹) subjektiv ist, meint in diesen Kontexten also, daß sie sich gerade der subjektiv rationalen Bedingungen und Kriterien, die ausmachen, daß ihr Inhalt als ein bestimmtes Objekt, ein bestimmter Gegenstand, vorgestellt werden kann, nicht vergewissert, sie in keiner Weise zur Anwendung gebracht hat. Ihr Inhalt ist eine noch nicht durch bewußte Auffassungsakte geeinte, sondern in ihrer unbestimmten Unendlichkeit offengehaltene Vielheit. Daß diese Erfahrungsweise nicht einfach privat subjektive Willkür ist, liegt nach Kant daran, daß die ›ästhetische Lust‹ Zeichen dafür ist, daß die von ihr begleitete Erfahrung eine Erfahrung ist, bei der »die Einbildungskraft mit dem Vermögen der Begriffe überhaupt übereinstimmt« (KU B 234 f.). Im Unterschied zu Baumgarten, der die ästhetische Erfahrung, d. h. die Erfahrung einer Einheit des Mannigfaltigen, noch von einer, wenn auch sinnlichen, Form der Erkenntnis abhängig macht, betont Kant schärfer und richtiger, daß diese Erfahrung keine Erkenntnis sein kann, sonst müßte sie begrifflich, d. h. gegenständlich, objektiv sein. Die ›ästhetische Lust‹ soll aber gleichwohl begrifflich begründet sein, nur eben nicht im Begriff dieses oder jenes Gegenstands, sondern darin, daß sie sich in Übereinstimmung mit »dem Begriffsvermögen überhaupt« befindet. Das heißt – auch bei Kant – nicht weniger, als daß diese ästhetische Erfahrung von sich aus und grundsätzlich besitzt, was der Begriff nur im Einzelfall jeweils mit Bewußtheit leisten kann. Sie ist ›ästhetisch‹, weil sie »bloß Natur im Subjekte ist« und nicht »als Regel und Vorschrift« gefaßt wird (KU B 242). In ähnlichem Sinn verlangt auch Schiller von der Schönheitserfahrung, daß sie nicht durch eine begriffliche Konstruktion zustande kommen dürfe. Ein Gebäude z. B. nenne man dann schön, wenn seine dem Begriff gemäße Form absichtslos und wie aus sich selbst hervorzuspringen scheine, wenn sie sich nicht einer bestimmten Regel, Ordnung, Proportion verdanke, sondern »wenn seine Vollkommenheit als Natur erscheint«33. Dennoch soll auch bei Schiller das, was wie von selbst und frei, d. h. als Natur, erscheint, eine ›Vollkommenheit‹ sein, d. h. »ein Gegenstand, an dem alles Mannigfaltige […] zur Einheit eines Begriffs übereinstimmt« (ebd.). ›Natur‹ steht bei Schiller also für ›Zweckmäßigkeit‹, ›Ordnung‹, ›Proportion‹, ›Vollkommenheit‹, und wenn er sagt, diese ›Eigenschaften‹ hätten »ganz und gar nichts [mit der Schönheit] zu tun«, so ist der gemeinte Sinn nicht, sie sollten gar nicht vorhanden sein, sondern sie sollten wie von selbst, ohne begriffliche Anstrengung, ins Kunstwerk kommen und so auch rezipierbar sein. Die von der Genieästhetik beanspruchte Wende zur Subjektivität darf also nicht einfach gleichgesetzt werden mit einer Abwendung von der Orientierung an der äußeren Wirklichkeit. Der eigentliche Punkt der Kritik ist nicht die dogmatische Siehe Friedrich Schiller: Kallias oder Über die Schönheit, Brief vom 23. Februar 1793, in: Friedrich Schiller – Theoretische Schriften. Erster Teil, dtv-Gesamtausgabe, XVII, hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1966, 184. 33

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Naivität der Nachahmungspoetiken, die Kritik gilt vielmehr in erster Linie den Formen des Rationalismus, die man mit der Nachahmungspoetik verband. Dieser abstrakten Rationalität ist das ›schöne Denken‹ des ›Ästhetikers‹ entgegengesetzt. Den Charakter des Subjektiven gewinnt dieses schöne Denken aus einem Verzicht: aus dem Verzicht auf die ›epistemische Reduktion‹ (Seel), auf die Vergegenständlichung einer sinnlich empfundenen ›Mannigfaltigkeit‹ in einem deutlichen Bewußtsein. Die Qualität des Ästhetischen in einem positiven Sinn kann dieses vorbegriffliche, präsemiotische Empfinden nur beanspruchen, wenn auch der für Kant noch wesentliche Unterschied zwischen einem privat subjektiven, empirisch beliebigen ›Apprehendieren‹ und der allgemeinverbindlichen, in Harmonie mit dem Begriff tätigen Subjektivität aufgegeben und jeder Gegenstand dadurch, daß sich ein Subjekt ihm gegenüber ästhetisch, d. h. rein auf seine sinnliche Erscheinungsform bezogen, verhält, aus der alltäglichen Prosa herausgehoben und zum Kunstobjekt wird. Es ist keine Frage, daß das Subjekt eines solchen ›ästhetischen Bewußtseins‹ ein abstraktes Subjekt ist. Es hat keine andere Bestimmtheit als die, daß es jedes »Wirkliche in der Besonderheit seines sensitiven Sichdarbietens wahr[nimmt]«34. Ein solches, nicht nur gegenüber jedem Gegenstand, sondern auch in jedem seiner Akte gleiches, ausschließlich auf das sinnliche Hinnehmen des Sichdarbietenden beschränkte Bewußtsein soll nun das sein, was den Unterschied zwischen dem Ästhetischen und Nichtästhetischen setzt. Die frühe Neuzeit hatte die Überzeugung ausgebildet, die vollkommene Einheit des Mannigfaltigen komme nicht nur den Gedanken des Geometrie treibenden Gottes, sondern jedem Ding dieser sinnlich wahrnehmbaren Welt zu. Diese Vollkommenheit nachzuahmen, galt jetzt als die Aufgabe, die angeblich Aristoteles der Kunst gestellt hatte. Spätestens die genieästhetische Wende suchte diese Vollkommenheit nicht mehr in der äußeren Wirklichkeit (in der sie ja auch nicht zu finden ist), sondern im genialen künstlerischen Subjekt. Eine Einbildungskraft, die in vorreflexivem Spiel immer schon in Harmonie mit ›dem Begriffsvermögen überhaupt‹ tätig war, sollte die Regel nicht mehr aus der Natur gewinnen, sondern der Natur die Regel geben. Das sich ganz auf seine Sinnlichkeit besinnende ästhetische Bewußtsein der Gegenwart braucht weder die schöne Vollkommenheit der natürlichen Dinge noch die Begriffsgemäßheit des genialischen Schöpfungsaktes, sondern erfährt im bloßen Hinnehmen »die momentane und simultane Fülle des Erscheinens«35. Der Unterschied von Kunst und Nichtkunst ist damit nur ein Anspruch, der aber immer noch von den theologisch metaphysischen Wurzeln lebt, die er verleugnet. Angesichts der Abstraktheit, in die die Versuche, diesen Anspruch einzulösen, geführt haben – im Versuch, die Regeln und Normen zu erfassen, die die VollMartin Seel: Ein Schritt in die Ästhetik, in: Falsche Gegensätze, hg. von Kern/Sonderegger (Anm. 1), 332. 35 Ebd. 34

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kommenheit aller natürlichen Dinge ausmachen, ebenso wie in der Abstraktheit einer reinen Sinnlichkeit, die keinen Gegenstand mehr hat oder die jeden, auch den trivialsten Gegenstand, zum ästhetischen Erlebnis zu adeln in der Lage ist –, ist es vielleicht nicht so abwegig, wie es der neuzeitlich-moderne Überwindungstopos erscheinen läßt, einmal auf Aristoteles selbst zurückzublicken, der in begrifflicher Ausdrücklichkeit sein Verständnis von Kunst und Dichtung auf eine Form konkreter Rationalität gegründet hat. So ist etwa Dichtung für ihn sowohl von Formen einer epistemischen Rationalität, ja sogar von Formen rhetorischer Argumentation, aber ebenso auch von der Abstraktheit einer unmittelbaren Sinneserfahrung verschieden. In der Verfolgung des Konzepts einer Rationalität, die dem Konkreten selbst immanent ist und in ihm und durch es dargestellt – und mitempfunden – werden kann, ist Aristoteles so streng, daß er sogar den heute sogenannten auktorialen Erzähler ablehnt: Ein Dichter soll keine allgemeinen Aussagen über Gefühle und Motive seiner Personen machen, sondern diese selbst darstellen, aber in einer so prägnanten Auswahl, daß an ihr selbst ihre inneren Gründe erkennbar werden. Dieses Konzept vorzustellen, ist Sache einer eigenen Arbeit. Ohne einen Hinweis auf seine mögliche Relevanz sollte diese kritische Analyse der theologisch-metaphysischen Überhöhungen, mit denen die neuere Ästhetik die objektiven wie subjektiven Bedingungen der Kunsterfahrung belastet hat, nicht enden.36

Siehe dazu Verf.: Aristoteles – Poetik, in: Aristoteles – Werke in deutscher Übersetzung, hg. von Hellmut Flashar, (erscheint voraussichtlich) Darmstadt 2004/5; Verf.: Die Literatur und ihr Gegenstand in der Poetik des Aristoteles, in: Kann man heute noch etwas anfangen mit Aristoteles?, hg. von Thomas Buchheim u. a., Hamburg 2003, 184–222. 36

Über die R eichweite ästhetischer Erfahrung – fünf Thesen Von Martin Seel

Daß ästhetische Erfahrung eine schöne Sache ist, wird vermutlich niemand bestreiten, wenn auch einige derer, die das nicht bestreiten werden, doch bestreiten werden, daß dies immer eine Sache der Schönheit ist. Um das Schöne aber soll es hier nicht gehen. Ich werde etwas über den Sinn und Wert ästhetischer Erfahrung zu sagen versuchen, ohne auf die unterschiedlichen Spielarten dieses Werts näher einzugehen. Vielmehr werde ich über den Ort der ästhetischen Erfahrung im Kontext menschlicher Praktiken nachdenken – und damit zugleich über die Reichweite, die dieser Art der Erfahrung in bezug auf andere Arten der Erfahrung zukommt. Auch unter denen, die sich einig darin sind, daß es sich hierbei um eine schöne Sache handelt, ist es schließlich alles andere als klar, wie der Stellenwert der ästhetischen Erfahrung im Haushalt menschlicher Orientierungen einzuschätzen ist. Vielen, die sie keinesfalls missen wollen, erscheint der Prozeß ästhetischer Erfahrung nur als eine Art Zugabe oder eine Bereicherung von Leistungen – sei es der Kontemplation, sei es der Produktion, sei es der Reproduktion –, die auch anderswie, nur eben etwas glanzloser, vollbracht werden können. Diesem ästhetischen Defaitismus werde ich jedoch nicht huldigen. Denn ich meine, daß die ästhetische Erfahrung ihre Subjekte mit einer Art der Bewußtheit versorgt, mit der sie keine andere Erfahrungsweise versorgen kann. Ich werde meine Überlegung in fünf Schritten entwickeln. Ich beginne mit einer These zum Begriff der ästhetischen Wahrnehmung, von dem ich im zweiten Schritt denjenigen der ästhetischen Erfahrung abgrenzen werde. Danach komme ich auf die Besonderheit der Kunsterfahrung zu sprechen, von der ich viertens behaupte, daß sie als eine der Interaktion von Künsten verstanden werden muß. Schließen werde ich mit einer These über die Reichweite der ästhetischen Erfahrung, die, soviel sei verraten, sich weder auf die Künste noch auf irgendeine andere ihrer traditionellen Domänen beschränkt. I. Es kommt einem trennscharfen Begriff der ästhetischen Erfahrung zugute, wenn man ihn nicht als Oberbegriff für ästhetische Reaktionen jedweder Art, sondern als Terminus für eine Steigerungsform der ästhetischen Wahrnehmung versteht. Diesem Vorschlag entsprechend ist ästhetische Wahrnehmung nicht immer bereits ästhetische Erfahrung, ästhetische Erfahrung aber stets eine – und zwar eine gesteigerte – Form der ästhetischen Wahrnehmung.

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2004 · © Felix Meiner Verlag · ISSN 1439-5886

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Martin Seel

Dieser Vorschlag hat natürlich nur Sinn, wenn es gelingt, den Begriff der ästhetischen Wahrnehmung inhaltlich zu füllen. Ich nehme hier eine Abkürzung und trage dasjenige Verständnis ein, das ich in meiner Ästhetik des Erscheinens in Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Ästhetik entwickelt und erläutert habe.1 Ästhetische Wahrnehmung besteht demnach in einer Aufmerksamkeit für das Erscheinen von Erscheinendem. Dies ist eine Aufmerksamkeit dafür, wie etwas hier und jetzt für unsere Sinne anwesend ist. Sie betrifft nicht in erster Linie das, wie etwas ist, sondern wie es da ist: wie es in der Fülle seiner Aspekte und Bezüge anwesend ist. Diese Aufmerksamkeit kann mit Phänomenen des Scheins und der Imagination vielfach verbunden sein. Ihr Grundbegriff jedoch hebt das synästhetische Vernehmen der Simultaneität und Momentaneität sinnlicher Erscheinungen hervor, das alle weiteren und alle komplexeren ästhetischen Vollzüge begleitet. Mit ihm geschieht eine Umpolung der sonstigen Wahrnehmung und zugleich eine Verwandlung der Gegenstände ihres Empfindens. Die elementare ästhetische Wahrnehmung, so könnte man sagen, läßt ihren Gegenstand für die Dauer ihrer Anschauung ohne weiteres sein, nämlich erscheinen. Dies sind Vollzüge der Wahrnehmung, die immer und überall eintreten können – und auch eintreten: beim Aufenthalt in der Natur, in der Stadt, in einer Kunstgalerie oder in einem Waschsalon. Ästhetische Wahrnehmung setzt weder höhere Bildung noch Reflexion voraus, sondern ist eine Grundfähigkeit der Bewußtheit von Lebewesen, die etwas in einer Bestimmtheit oder in seiner Unbestimmbarkeit vergegenwärtigen können. Es ist eine Grundfähigkeit von Individuen, die wissen, daß ihre Lebenssituation trotz aller Möglichkeiten der Bestimmung und Beherrschung eine nachhaltig unbestimmte und unbeherrschte ist. Die ästhetische Anschauung erlaubt es ihnen, in den Genuß dieser Lage zu kommen. Denn sie eröffnet ihnen den Spielraum, etwas nicht in der Bestimmtheit seines Soseins, sondern in der Besonderheit seines Erscheinens zu vernehmen: in der Art, wie es gerade hier und gerade jetzt (und oft nur hier und nur jetzt) in unserer leiblichen Umgebung gegenwärtig ist. Durch das Verweilen bei dem Erscheinen von Dingen und Situationen gewinnt die ästhetische Wahrnehmung ein spezifisches Bewußtsein von Gegenwart. Sie verschafft denen, die sich ihr überlassen, Zeit für den Augenblick ihres Lebens. Für Lebewesen, die in ihrem Denken und Imaginieren beliebig weit in Raum und Zeit ausgreifen (und sich dabei in Vergangenheit oder Zukunft durchaus verlieren können), ist dies keine geringe Leistung. Denn die Fähigkeit zur ästhetischen Wahrnehmung erdet ihr für Abstraktionen, Antizipationen und Retrospektiven so empfängliches Bewußtsein durch Phasen eines anschauenden Rückgangs auf die Gegenwart, wie sie bei einem Blick aus dem Fenster oder einem Hören auf das Geräusch der Welt jederzeit eintreten kann.

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Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens, München 2000.

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II. Von diesen überall möglichen und überall üblichen Episoden ästhetischer Wahrnehmung, so möchte ich sagen, unterscheidet sich ästhetische Erfahrung dadurch, daß sie für diejenigen, die sie durchleben, zum Ereignis wird. Ästhetische Erfahrung, mit einem Wort, ist ästhetische Wahrnehmung mit Ereignischarakter. Von Ereignissen spreche ich hier in der historisch-kulturellen Bedeutung, in der ein Vorkommnis darin Ereignis ist, daß es für jemanden – sei es für einen oder für viele – zum Ereignis wird. Davon abzuheben ist ein Verständnis des Begriffs, in dem nahezu alles als Ereignis aufgefaßt werden kann, bis hin zu den Zuckungen der Materie, ohne die es weder Bestehen noch Vergehen gibt. Von Ereignissen im engeren Sinn dagegen kann die Rede sein, wo ein bestimmtes Vorkommnis in einem bestimmten biografischen oder historischen Augenblick auf eine bestimmte Weise bedeutsam wird: Etwas, das bis dahin nicht möglich war oder schien, wird mit einem Mal möglich (der kleine Jonas kann seine Schuhe binden, zwei Passagierflugzeuge legen das World Trade Center in Schutt und Asche). Ereignisse in diesem Sinn sind Unterbrechungen des Kontinuums der biographischen und historischen Zeit. Sie sind Vorgänge, die nicht eingeordnet, aber ebensowenig ignoriert werden können; sie erzeugen Risse in der gedeuteten Welt. Sie machen sich bemerkbar, indem sie zugleich das Bemerken verändern. Sie sind Vorgänge, die in der Zeit ihres Geschehens nicht zu fassen sind. Indem sie etwas plötzlich und unausweichlich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken, sind sie ein Aufstand der Gegenwart gegen die übrige Zeit. Historische Gegenwarten, in denen sich solche Erhebungen abspielen, stellen nahe und ferne, vertraute und unvertraute, gebahnte und ungebahnte, erahnte und ungeahnte Möglichkeiten des Handelns und Denkens, des Erlebens und Wünschens dar, die zusammen, in den jeweiligen Bereichen, die Kultur oder Lebensform einer Gesellschaft ausmachen. In diese Konstellation erschlossener und verschlossener Gelegenheiten greifen kleine oder große Ereignisse mit unterschiedlicher Macht und Wucht ein. Sie lassen bis dahin Unmögliches möglich und bis dahin Mögliches unmöglich werden. Zugleich aber machen sie spürbar, daß in den bekannten Möglichkeiten Unmöglichkeiten und in den bekannten Unmöglichkeiten Möglichkeiten lauern – und daß dieser Latenzzustand die Gegenwart ist. Auch ästhetische Ereignisse – solche, die uns in einen Prozeß ästhetischer Erfahrung versetzen, weil sie das ästhetisch Erwartbare überschreiten – haben an dieser Dynamik teil. Ästhetisch sind sie, weil wir in ihrem Angesicht »an den Erscheinungsformen des Verstandes irre« werden, wie es in Nietzsches SchopenhauerReferat in der Geburt der Tragödie heißt.2 Ihr Ausgangspunkt ist nicht nur ein unwahrscheinliches, sondern ein bis dahin für unmöglich gehaltenes Erscheinen, sei Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: ders.: Sämtliche Werke, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 1980, 28. 2

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dies eine überwältigende Landschaft oder Stadtlandschaft, ein verrücktes Fußballspiel, ein erotisches Intermezzo, ein rauschendes Fest, eine künstlerische Offenbarung oder ein Bildprozeß wie die TV-Bilder vom 11. 9. 2001, bei dem man zuerst nicht wußte, ob es Kino oder eine Inszenierung realer Vorgänge war. Ästhetische Erfahrung im allgemeinen ist also keineswegs auf Kunsterfahrung beschränkt; sie kann sich – wie die ästhetische Wahrnehmung – immer und überall vollziehen, auch wenn sie uns sehr viel seltener widerfährt als diese. Sie läßt sich nicht abrufen wie unspektakulärere Formen der ästhetischen Wahrnehmung, in die man durch einen Blick aus dem Fenster oder das Einlegen einer vertrauten CD oder DVD hineingleiten kann; sie muß geschehen und kann nur geschehen, indem ihre Subjekte sich einlassen auf die sinnliche Vergegenwärtigung von Phänomenen und Situationen, die ihren Sinn für das, was wirklich und möglich ist, auf bis dahin ungeahnte Weise verändern (wie es einem manchmal auch mit einer CD oder DVD geschieht, und manchmal mit einer längst vertrauten). Das ruhige Verweilen in der Bewegung eines Augenblicks, das für die einfache ästhetische Wahrnehmung charakteristisch ist, steigert sich hier zu einer bewegenden Anschauung bewegter Gegenwart. III. Wenn ästhetische Erfahrung außerhalb der Kunst ebensogut vorkommt wie innerhalb, bedarf es eines nochmals engeren Begriffs der ästhetischen Wahrnehmung, um die Besonderheit der Kunsterfahrung zu charakterisieren. Wie bei allen ästhetischen Phänomenen ist auch hier die Form der Wahrnehmung von der des hierbei Wahrgenommenen nicht zu trennen. Objekte der Kunst existieren nicht unabhängig von den Möglichkeiten ihrer Wahrnehmung als Objekte der Kunst. Zu den Erwartungen aber, die wir – jedenfalls heute – mit der Begegnung mit Kunstwerken verbinden, gehört, daß sie uns nicht nur anders wahrnehmen, sondern daß sie uns anders erfahren lassen – daß sie also unserer sinnlichen und seelischen Disposition zum Ereignis zu werden mögen. Von den Wahrnehmungsereignissen, über die ich bisher gesprochen habe, unterscheidet sich die Erfahrung von Kunstwerken dadurch, daß sie nicht von irgendwelchen, sondern von Darbietungsereignissen ausgelöst wird. Mit dem Wort ›Darbietung‹ meine ich hier nicht in erster Linie die Repräsentation (oder Darstellung), in der etwas als etwas präsentiert wird, sondern eine Vorführung, in der eine Präsentation ausgeführt wird. Performances dieser Art sind nicht auf die neuere Kunstsparte dieses Namens spezialisiert; auch ein Gedicht oder ein Roman führen ihren Lesern die besondere – graphische, lautliche, rhythmische, gestische oder narrative – Anordnung ihrer Worte vor. Dieser präsentative Sinn der künstlerischen Handlung dürfte gegenüber dem repräsentativen eindeutig primär sein; künstlerische Objekte sind solche, in denen sich, was immer dargeboten wird, aus der Art der je individuellen Darbietungsweise ergibt. Der Weg zur Weltpräsentation, falls diese vorhanden

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ist, führt über die Selbstpräsentation des Werks, seines Materials, seiner internen Konfigurationen, seiner Perspektiven usf. Kunstwerke sind Wahrnehmungsereignisse einer besonderen Art, eben weil sie Darbietungsereignisse einer besonderen Art sind. Unter ›Darbietungsereignissen‹ verstehe ich Vorgänge der Darbietung, bei denen mit dem Sinn der Darbietung zugleich der Sinn des Dargebotenen unsicher wird, und zwar – anders als bei einer unleserlichen Examensklausur – so, daß hierin unwägbare Möglichkeiten von Darbietung und Dargebotenem anschaulich werden. Es sind individuelle Darbietungen, die in ihrer Bestimmtheit ein unübersetzbares Artikulationspotential enthalten. Auch bei der Konfrontation mit solchen Darbietungen tritt eine Veränderung sowohl des Bemerkens als auch des Bemerkten ein: Wir lernen etwas als Darbietung kennen, indem wir uns auf eine neue Form der Darbietung verstehen lernen. Wir haben es mit Ereignissen zu tun, deren Darbietungscharakter oft so unsicher ist wie das, was in ihrem Verlauf dargeboten wird, die aber eben deshalb als herausragende Darbietungen empfunden und erfahren werden. So sind Kunstbetrachter spätestens seit Duchamp mit der Frage vertraut, was für ein Objekt es eigentlich ist, das sich als Kunstobjekt präsentiert, und darüber hinaus, was an dem Objekt es ist, das es zu einem Kunstobjekt macht. Die Verzahnung der Fragen jedoch, was die künstlerische Darbietung, wie die künstlerische Darbietung und wovon sie Darbietung ist, läßt sich nicht allein in der Begegnung mit Readymades erkennen; vor jedem interessanten Kunstwerk wird sie auf die eine oder andere Weise spürbar. »Was sind das für Texte?« wird sich ein Leser des literarischen Œuvres von Alexander Kluge fragen, »und wie verbinden sie sich zu dem Kompendium von Texten, aus denen dieses Oeuvre seit den Neuen Geschichten von 1977 besteht?« »Was ist das für ein Film?« fragte sich ein Kritiker angesichts von Lars von Triers Dogville und beantwortete die Frage selbst mit dem Hinweis, auf einer leeren Theaterbühne werde hier der Film neu definiert. Nicht anders werden sich die Besucher der Produktionen von Christoph Schlingensief häufig fragen, was hier eigentlich zu sehen sei – eine Theateraufführung, eine Performance, eine politische Aktion oder eine Art der Installation. Nicht grundsätzlich anders verhält es sich in den weniger spektakulären Fällen, in denen ein etabliertes Kunstgenre auf eine bis dahin noch nicht dagewesene Weise realisiert wird – ob es sich um ein Sonett oder eine Fuge, ein fotografisches Porträt oder einen Actionfilm handelt. Künstlerische Darbietungen sind von Haus aus Variationen von Darbietungsweisen, bei denen immer die Frage aufkommen kann, was denn eigentlich hier die Darbietung sei. Kunst ist der Fall von Präsentationen, bei denen diese Frage nicht banal ist. Deswegen aber, weil wir uns hier vor die Frage gestellt sehen, was hier und wie hier die Präsentation ist, sind die künstlerischen Darbietungsereignisse stets als eminente Wahrnehmungsereignisse auffällig. Die Behandlung von Raum und Zeit, die Bewegung von Körpern und Zeichen, die Beziehung von Materialien und Medien – das sind Faktoren, aus denen die Konstellation einer künstlerischen Darbietung entsteht. Aus dem Vernehmen und Verfolgen dieser Konstellation – und des von

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ihr entfachten Erscheinens – ergibt sich das präsentative Geschehen des künstlerischen Objekts. Dieses ist ein Ereignis, das unsere Wahrnehmungsfähigkeit dadurch herausfordert, daß es – als Darbietungsereignis – zugleich unsere Erkenntnisfähigkeit provoziert. Es ist ein Ereignis, das einen Aufstand der Gegenwart nicht allein hervorruft, sondern – kraft seiner Gegenwart – eine Darbietung von Gegenwart möglich werden läßt. Diese Darbietung kann sich auf die Erfahrung der Gegenwart des Werks selbst oder auf eine von ihm imaginierte Gegenwart beziehen. Bei minimalistischen Skulpturen steht eher das erste, bei Kriminalromanen dagegen eher das zweite im Vordergrund. Meist aber geschieht beides: In seiner Darbietung gibt das Werk die Anschauung einer Gegenwart frei, wie es in den Romanen Hammetts oder Chandlers nicht weniger der Fall ist als in denen Musils oder Coetzees. Wir haben es daher im Fall der Kunsterfahrung nicht allein mit einer Verdoppelung des Ereignischarakters der ästhetischen Erfahrung, sondern auch mit einer Verdoppelung ihres Rückgangs auf Gegenwart zu tun. Im Angesicht der Kunst begegnen wir Gegenständen, die durch ihre unwahrscheinliche Gegenwart die Erfahrung vergangener oder künftiger, erinnerter oder imaginierter Gegenwärtigkeit möglich machen. Dieser Ereignischarakter kommt neueren wie älteren Kunstwerken gleichermaßen zu. Ein künstlerisches Objekt muß weder neu noch für den Rezipienten neu sein, um durch seine Präsenz einen Bruch im Kontinuum seines Selbstverständnisses zu bewirken. Denn es bezeichnet das Potential bedeutender Kunstwerke, in der Begegnung mit ihnen einen neuen Blick auf Gegenwart zu gewähren. Klassische oder kanonische Objekte der Kunst sind solche, die ein solches Potential immer wieder – und angesichts der jeweils späteren Kunstentwicklung auch immer wieder neu – zu entfalten vermögen. Kunst, würde das heißen, präsentiert Präsenz, indem sie Präsenz produziert.3 Im Ereignis ihrer Werke bringt sie jene Konstellationen des Möglichen und Unmöglichen, Anwesenden und Abwesenden durcheinander, die wir als Realität unserer Zeit zu erfahren gewohnt sind. Indem sie so mit dem Gleichlauf des Wirklichen bricht, führt sie auf und führt sie vor, wie sehr das Wirkliche ein Mögliches und wie sehr das Mögliche ein Wirkliches ist. Dieses Bewußtsein des Wirklichen im Möglichen und des Möglichen im Wirklichen ist ein Bewußtsein von Gegenwart: ein Bewußtsein davon, wie offen der Lauf der Zeit und die Ordnung der Dinge tatsächlich ist.

Hier berührt sich meine Überlegung mit denjenigen von Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik – Die Produktion von Präsenz, Frankfurt/M. 2004. 3

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IV. Der Ereignischarakter der Kunst und Kunsterfahrung ist damit aber nur unzulänglich beschrieben. Denn er kann nicht erfaßt werden, solange man nicht über das Verhältnis der Künste spricht. Was es heißt, daß Kunstwerke Darbietungsereignisse sind, ist nämlich ohne eine Beachtung der immanenten Verschränkung der Künste überhaupt nicht zu verstehen. In jeder Kunstform und mehr noch in jedem Kunstwerk stellt sich das Ineinander der Künste anders dar. Ein Ereignis der ästhetischen Darbietung und Wahrnehmung sind die gelungenen Objekte der Kunst gerade deshalb, weil sich mit ihnen – mit jedem einzelnen von ihnen – die Konstellation der Künste verändert. Schließlich ist das, was heute unter dem Stichwort einer ›Entgrenzung der Künste‹ diskutiert wird, nur die Kehrseite einer nachhaltigen und seit jeher bestehenden Verschränkung, die in den entgrenzenden Operationen der modernen Kunst gleichsam beim Wort genommen und öffentlich gemacht wird. Was an diesen Operationen sichtbar wird, ist die Tatsache, daß es klare Grenzen zwischen den Künsten nicht gibt und nie gab. Immer schon kommen die einen in vielen anderen vor. Und diese Art dieses Ineinandervorkommens ist es, was die Identität einer Kunstart gegenüber den anderen ausmacht. Die Literatur unterhält andere Beziehungen zur Musik als beispielsweise das Theater, andere Beziehungen zum Kino als beispielsweise der Tanz, andere Beziehungen zum Bild als beispielsweise die Architektur, und nur marginale Beziehungen zu räumlichen oder olfaktorischen Differenzen, die in anderen Künsten eine maßgeblichere Rolle spielen. Und so weiter für die anderen Künste. Die Verfahren der Darbietung, durch die der Umgang mit bestimmten Materialien und Medien zu einer künstlerischen Performance wird, sind auch in den puristischen und reduktiven Ausprägungen so verzweigt, daß sie von vornherein in Kommunikation mit Verfahrensweisen stehen, die auch in anderen Kunstformen eine tragende Verwendung finden. Bis in jedes einzelne ihrer Werke stehen alle Künste in Beziehungen zu vielen anderen Künsten. Die Besonderheit der Erfahrung einzelner Künste, so lautet deshalb meine vierte These, entspringt deren besonderer Verbindung mit jeweils anderen Künsten. Natürlich ist diese Auskunft recht zirkulär; jedoch scheint mir das hier kein Nachteil zu sein. Denn was die Besonderheit von Künsten ausmacht, ist nun einmal zuallererst ihre Stellung unter den anderen Künsten. Alle äußerlichen Unterscheidungen, wie diejenige von Raum- und Zeitkünsten oder die nach unterschiedlichen Materialien, mit denen jeweils gearbeitet wird, haben sich als oberflächlich erwiesen. Alle Künste sind Raum- und Zeitkünste, wenn auch nicht alle im selben Maß; keine Kunst hat exklusive Rechte an einem für sie wichtigen oder notwendigen Material. Künste sind historisch variable Gestaltungsmöglichkeiten, in denen bestimmte Materialien und Medien für eine Weile eine conditio sine qua non darstellen, die früher oder später relativiert werden kann. Überdies sind sie intern, durch ihr vorrangiges Material und Medium, mit vielen anderen Künsten und deren

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Materialien und Medien verbunden, so sehr, daß sie nur durch diese Kommunikation mit den anderen das sind, was sie sind.4 Genau diese Kommunikation unter den Künsten wird im Darstellungsereignis einzelner Kunstwerke mit zum Ereignis. Der Bruch im Kontinuum des Erwartbaren, der für kulturelle Ereignisse aller Art kennzeichnend ist, betrifft hier gerade das Verhältnis des einzelnen Werks zu seiner Gattung und deren Verhältnis zu anderen Gattungen. Gerade dieser Bruch macht wesentlich die produktive Ungewißheit aus, die künstlerische Darbietungen von unleserlichen Klausuren, wirren Vorträgen und überdeutlichen Waschmaschinenanleitungen unterscheidet. Die Konstellation dieses Werks verändert die Konstellation der Genres, denen es angehört. Den Romanen, die sich im vergangenen Jahrhundert ›filmischer‹ Techniken des Schnitts und der Montage bedient haben, antworten Jahrzehnte später Filme, in denen literarische Techniken verwendet werden, teilweise sogar eben jene Techniken, die in früheren Tagen als ›filmisch‹ auffällig waren und die nun wieder wegen ihrer literarischen Qualität einen filmischen Unterschied machen – man denke an die Erzählweise in Pulp Fiction (Quentin Tarantino, USA 1994) oder Mulholland Drive (David Lynch, USA 2001). An solchen Verschiebungen der Präsentationsverhältnisse teilzuhaben ist der Kunsterfahrung wesentlich, und dies nicht zuletzt deshalb, weil sie in ihnen erneut eine Verschiebung der Möglichkeiten des Darbietens und Wahrnehmens und also des Sinns für Gegenwart erfährt.5

V. Die zuletzt hervorgehobene Erfahrung der Intermedialität der Künste ist freilich an die Voraussetzung einer trainierten Wahrnehmungsfähigkeit gebunden. Wer nicht versteht, daß Filme wesentlich Musik fürs Auge sind, wer nicht sieht, daß der Unterschied zwischen substantivischem und verbalem Stil in Lyrik und Prosa auch eine graphische Differenz macht, wer nicht spürt, das Musik und Malerei immer auch räumliche Künste sind, wer also nicht merkt, daß beispielsweise Installationen in der Räumlichkeit von Bildern und Klängen ihre Wurzeln haben, der bekommt vom Geschehen der Künste nicht genug mit, um hier überhaupt Erfahrung machen zu können.

Dies habe ich ausführlicher erörtert in meiner Ästhetik des Erscheinens (Anm. 1), 173 ff. Man darf dies nicht mit einer irreführenden Fortschrittsideologie verbinden. Die fortwährende Veränderung der Konstellation der Künste durch einzelne Werke hat zunächst einmal kein anderes Ziel als dieses: solche Veränderungen geschehen zu lassen. Darüber hinaus werden diese Veränderungen nicht allein durch die jeweils neuen, sondern ebenso von vielen jeweils älteren Werken bewirkt: dadurch, wie sie den Wahrnehmenden nun, in der veränderten Situation, in einem Kontrast oder einer Korrespondenz mit der jüngeren und jüngsten Produktion erscheinen. 4 5

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Ich möchte aber noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Wer seine ästhetischen Erfahrungen nur im Bereich der Kunst macht, bekommt ebenfalls nicht genug mit, um die Erfahrungen zu machen, die nur hier vollzogen werden können. Wer von den Ereignissen der Welt – einschließlich ihrer ästhetischen Ereignisse – unbetroffen bleibt, wird im Erscheinen der Kunst kein Ereignis der Darbietung des Inderweltseins erkennen können. Die Erfahrung der Kunst zehrt von der Erfahrung außerhalb der Kunst – und hier gerade von ästhetischen Erfahrungen in den Räumen der Stadt und der Natur, in denen die Koordinaten der Weltgewandtheit und des Weltvertrauens durcheinander geraten. Man darf also, wenn es um die Reichweite der ästhetischen Erfahrung geht, nicht bei den Künsten stehen bleiben, so als seien sie die eigentliche Erfüllung ästhetischer Erfahrung. Denn die ästhetische Erfahrung kennt eine eigentliche Erfüllung nicht. Sie erfüllt sich darin, innerhalb und außerhalb der Kunst in Möglichkeiten des Vernehmens und Verstehens hineingezogen zu werden, von denen sie zugleich erfährt, daß sie nicht erschöpft, beherrscht und bestimmt werden können. Darin, das ist meine fünfte und letzte These, liegt die besondere Reichweite der ästhetischen Erfahrung: Sie läßt am Bestimmten das Unbestimmte, am Realisierten das Unrealisierte, am Faßlichen das Unfaßliche kenntlich werden und stellt darin ein Bewußtsein der Offenheit von Gegenwart her. Sie reicht ins Herz der Gegenwart hinein und zugleich über alle Sicherheiten des jeweils gegenwärtigen Selbstverständnisses hinaus.

›Sehen‹ contra ›Erkennen‹ Die Erschießung Kaiser Maximilians und Die Eisenbahn von Edouard Manet Von Michael Lüthy

Die beiden Gemälde, die in diesem Beitrag betrachtet werden, Die Erschießung Kaiser Maximilians und Die Eisenbahn von Edouard Manet (1868/69 und 1872/73, Abb. 1 und 2, S. 98 und 99), erscheinen unmittelbar einschlägig für das, worauf dieser Band und die ihm zugrundeliegende Tagung ziel(t)en: die Differenzierung und Relationierung unterschiedlicher Erfahrungsformen.1 Einschlägig ist das erste der beiden Gemälde bereits durch die Zugehörigkeit zur Gattung der Historienmalerei, die jeweils darauf angewiesen ist, daß sich die ästhetische Erfahrung des Bildes mit der Vermittlung von Wissen, Erinnerung oder Ideen verbindet. Die Repräsentationsfunktion der Historienmalerei verklammert ästhetische Erfahrung und Wissensproduktion: Sie zielt auf eine besondere Wahrnehmung des Gegenstandes, der zugleich ›erkannt‹ und in einer bestimmten Weise ›gesehen‹ werden soll. Dieser grundsätzliche, bildsystematische Aspekt wird im Falle von Manets Erschießung durch eine bildgeschichtliche Dimension ergänzt. In der langen Geschichte der Historienmalerei markiert das Gemälde die Schwelle, an der das soeben skizzierte Repräsentationsmodell in eine Krise gerät – eine Krise, von der sich die Gattung nicht erholen sollte. Das Ästhetische und das Epistemische streben hier in einer so dramatischen Weise voneinander weg, daß der Bildsinn ins Offene geführt wird. Die schwankende Rezeption des Bildes bestätigt dies. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts galt es als Beleg für die Auffassung, Manet gehe es in erster Linie um reine Malerei: Wer ein so dramatisches Geschehen wie eine Erschießung mit solcher Teilnahmslosigkeit male, führe beispielhaft vor, wie ein Inhalt zugunsten der Form geopfert werden könne.2 Manet positioniere sich damit, so schien es, als entschie1 Vortrag und Text beruhen auf dem kurz vor der Tagung erschienenen Buch des Verfassers: Bild und Blick in Manets Malerei, Berlin 2003, insbesondere auf den Kapiteln III und V, die hier ausschnittweise wiedergegeben werden. – Was die Analysen des Eisenbahn-Bildes betrifft, sei an dieser Stelle auf zwei Veröffentlichungen von Michael Diers hingewiesen, denen meine Überlegungen viel verdanken, deren Nachweis aber in dem genannten Buch versehentlich unterblieb: Michael Diers: Vom Zug der Zeit oder Topographie und Allegorie – Manet und Monet malen die Eisenbahn, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 73, 28./29.3.1998, 66; ders. und Bärbel Hedinger: z. B. (Dampf-)Wolken – Von der Natur der Industrie in Bildern des Impressionismus nebst einer Allegorie, in: Die Zweite Schöpfung – Bilder der industriellen Welt vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Ausstellungskatalog Berlin, Martin-Gropius-Bau), hg. von Sabine Beneke und Hans Ottomeyer, Berlin 2002, 72–79. 2 In diesem Sinne noch Joseph C. Sloane: Manet and History, in: The Art Quarterly 14 (1951), 93–106, besonders 100 ff.

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dener Verfechter malerischer Autonomie, der sich nicht nur von der traditionellen Aufgabe der Historienmalerei entbinde, der Sache des Staates zu dienen, sondern mit seiner Indifferenz sogar die Verpflichtung zurückweise, in seinem Bild überhaupt etwas auszusagen. Georges Bataille formulierte diese Auffassung am radikalsten, als er die Spezifik von Manets Gemälden darin sah, jeden literarischen Sinn und jede Referenz auf tradierte Normen und Konventionen zum Schweigen zu bringen: »Der Text«, schrieb Bataille, »wird durch das Bild ausgelöscht. Und was das Bild bedeutet, ist nicht der Text, sondern dessen Auslöschung.«3 In den letzten Jahrzehnten hingegen kehrte sich die Einschätzung des Bildes um. Vor allem in der angelsächsischen Sozialgeschichte der Kunst wurde es zum genau gegenteiligen Beweisstück. Ein Maler, der sich jenem damals bedeutsamen Ereignis zuwende, könne kein nur auf Leinwand, Pinsel und Farbe konzentrierter Künstler sein, so wie es für seine impressionistischen Kollegen zu gelten scheint. Manet zeige sich vielmehr als politisiertes Subjekt, als ›peintre engagé‹. Die zur Schau gestellte Indifferenz habe nicht die Absicht, malerische Autonomie herauszustellen, sondern sei eine sorgfältig kalkulierte kritische Strategie.4 Damit aber stimmen die beiden gegensätzlichen Bewertungen in einem entscheidenden Punkt überein, den sie lediglich unterschiedlich bewerten. Offensichtlich klafft in Manets Bild genau das auseinander, was im klassischen Repräsentationsmodell ineinander aufgeht, nämlich was im Bild ›erkannt‹ wird und was das Bild zu ›sehen‹ gibt. Dieser Diskrepanz soll im folgenden nachgegangen werden, und zwar durch eine Analyse dessen, was man die kommunikativen Strukturen des Bildes nennen könnte. Vorab sei jedoch den Fakten und dem Wissen Tribut gezollt und der historische Hintergrund von Manets Gemälde kurz rekapituliert.5 Erzherzog Maximilian von Österreich, nach dem Urteil der Zeitgenossen ein treuherziger, wohlmeinender 3 Georges Bataille: Manet, Genève 1994, 55: »[L]e texte est effacé par le tableau. Et ce que le tableau signifie n’est pas le texte, mais l’effacement.« (Hervorhebungen Bataille) 4 1954 stellte Nils Gösta Sandblad in seiner damals bahnbrechenden Studie zu Manet zum ersten Mal die Frage, welche Bedeutung das Sujet für Manet gehabt haben könnte. Gleichzeitig konnte er am Vergleich der verschiedenen Fassungen des Erschießungsbildes zeigen, wie stark sich Manet an den ihm zugänglichen Informationen über die Ereignisse in Mexiko orientiert hatte. Seither wurde der zeitgeschichtliche Hintergrund des Bildes mehrfach ausgeleuchtet, unter anderem widmeten sich drei Ausstellungen vorrangig dieser Aufgabe. Nils Gösta Sandblad: Manet – Three Studies in Artistic Conception, Lund 1954, 109 ff.; Edouard Manet and the Execution of Maximilian (Ausstellungskatalog Providence/RI, Department of Art, Brown University), Providence/ RI 1981; Juliet Wilson-Bareau: Manet: The Execution of Maximilian – Painting, Politics and Censorship (Ausstellungskatalog London, National Gallery), London 1992; Edouard Manet – Augenblicke der Geschichte (Ausstellungskatalog Mannheim, Städtische Kunsthalle), hg. von Manfred Fath und Stefan Germer, München 1992. Auch Oskar Bätschmann: Edouard Manet – Der Tod des Maximilian, Frankfurt/M. 1993, widmet sich ausführlich den historischen Zusammenhängen. 5 Zur Persönlichkeit Maximilians und zur französischen Intervention in Mexiko siehe: Massimiliano – Rilettura di un’esistenza (Atti di convegno, Trieste, 4–6 marzo 1987), a cura di Laura Ruaro Loseri, Trieste 1992, besonders die Beiträge von Adam Wandruska: Massimiliano – L’imperatore romantico, 11–15, sowie von Johann Lubinski: Maximilian in Mexiko – Romantische Pläne und

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Mann von romantischer Gefühlslage, wurde in den 1860er Jahren zum Spielball französischer Machtpolitik, zur Hauptfigur eines von Anbeginn an zum Scheitern verurteilten imperialen Zwischenspiels an einem dafür ungeeigneten Ort. Der jüngere Bruder des österreichischen Kaisers und ehemalige Generalgouverneur der Lombardei lebte nach der Einigung Italiens ohne offizielle Stellung zurückgezogen in einem verspielten Schlößchen bei Triest, von wo ihn Napoleon III., Kaiser der Franzosen, mit dem Versprechen weglockte, ihn im fernen Mexiko zum Kaiser krönen zu lassen, geschützt von einer starken französisch-österreichisch-mexikanischen Allianz. Als die französischen Truppen, die unter dem Vorwand der Schuldeneintreibung in Mexiko einfielen, den Widerstand des mexikanischen Präsidenten, Benito Juares, und seiner Armee nicht brechen konnten und überdies Frankreich von den Vereinigten Staaten immer dringender aufgefordert wurde, seine Soldaten aus dem von den USA selbst als Einflußsphäre betrachteten Mexiko abzuziehen, erkannte Napoleon die Aussichtlosigkeit seiner kolonialen Intervention, holte die Truppen nach Frankreich heim und ließ Maximilian schutzlos zurück. Dieser wurde kurz darauf gefangengesetzt und wenige Tage später, am 17. Juni 1867, erschossen. Napoleons grandioses, für Maximilian fatales außenpolitisches Debakel läutete den Niedergang des Zweiten Kaiserreichs ein, das vier Jahre später mit der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg besiegelt sein sollte. Kurz nach dem Bekanntwerden dieser fernen Ereignisse beginnt Manet eine fast zwei Jahre dauernde Arbeit an dem Thema. Fünf Fassungen entstehen, von denen hier allein die letzte und endgültige betrachtet werden soll. Schon im ersten Entwurf legt sich Manet auf ein Darstellungsschema fest, das er nicht mehr verändern wird. Es orientiert sich an Goyas Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 in Madrid (Abb. 3, S. 100), einem Bild, das er bei seinem Prado-Besuch 1865 gesehen haben könnte, mit Sicherheit aber aus Reproduktionen kannte. Manet übernimmt Goyas zweipoligen, in eine Täter- und Opfer-Seite geteilten Bildaufbau. Ebenso behält er die Positionierung der Protagonisten bei, die jeweils in Dreiviertelansicht von hinten oder von vorne gesehen sind. Gleichzeitig verändert er Goyas Darstellungsschema in bedeutsamer Weise. So reduziert er die Gruppe der Opfer auf drei Figuren, Kaiser Maximilian und die beiden mit ihm erschossenen Generäle Mejía und Miramón. Des weiteren modifiziert er Goyas aufgefächerte Zeitstruktur, die das Geschehen in ein Vorher, Jetzt und Nachher differenziert. Bei Goya erwarten die einen die Schüsse noch, während andere bereits erschossen am Boden liegen; Manet hingegen versammelt alles im zugespitzten Jetzt der Schußabgabe selbst. Mit dem Unteroffizier am rechten Bildrand führt er überdies eine dritte Partei ein, die zwar der Seite der Soldaten zuzuordnen ist, von der Handlung aber gleichwohl abgesondert bleibt. Schließlich wird auch die Bühne des Geschehens neu gefaßt. Hinter den Figuren zieht Manet eine bildebenen-parallel verlaufende Mauer hoch, zerstörte Illusionen, 80–87. Siehe auch Douglas Johnson: Die französische Intervention in Mexiko. Zum geschichtlichen Hintergrund, in: Edouard Manet – Augenblicke der Geschichte (Anm. 4), 9–22.

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die ein vorderes, schmales Raumsegment als Handlungsort ausgrenzt. Vom linken und rechten Bildrand wird die Mauer einfach abgeschnitten, ohne jeden Hinweis darauf, wie der Raum jenseits des gezeigten Ausschnitts wohl beschaffen sein dürfte. Auch die oberen und unteren Bildränder bleiben auffällig unartikuliert. Während am unteren Bildrand der Boden unter den Füßen des Betrachters ohne Zäsur weiterzulaufen scheint, wäre da nicht die Bildgrenze selbst, öffnet sich über der Mauer ein Ausblick auf einen Hügel, der jedoch abrupt abgeschnitten wird. Die Perspektive des Landschaftshintergrundes wirkt dabei eigentümlich aufgeklappt. Sie erweckt den Anschein, als begänne hinter der Mauer eine andere Welt – oder aber ein anderes Bild, denn es könnte sich ebensogut um eine gemalte Kulisse handeln. Die räumliche Unbestimmtheit überträgt sich auf die Protagonisten des Bildes, die seltsam ortlos wirken. Wie sie in diesen eigentümlich inkonsistenten Raum gelangt sind, bleibt ebenso offen wie das Wohin ihres Abgangs, wenn sie ihre Arbeit verrichtet haben werden. Während Goya kompakte, klar voneinander getrennte Gruppen formt, zieht Manet insbesondere die Gruppe der Soldaten auseinander. Ein lockerer Figurenfries entsteht, an dem besonders hervorzuheben ist, daß er auch Maximilian und die beiden Generäle einbezieht. Goyas antagonistische Gegenüberstellung von Schießenden und Opfern wird dadurch aufgeweicht. Das Ornamentale und Rhythmische dieses Figurenfrieses verstärken auffällige Farb- und Formwiederholungen. Sie zeigen sich nicht nur innerhalb der Gruppe der Soldaten, deren Képis, Ohren, Gürtel, Säbel, Gamaschen und Schuhe eine iterative Struktur ausbilden, sondern umgreifen darüber hinaus auch die drei zu Exekutierenden. Dies geschieht durch die Annäherung der Kleidungsfarbe und das sich jeweils stark abhebende Weiß, vor allem aber aufgrund des Gleichklangs von geschwungenen Linien, die sowohl bei den Gürteln der Soldaten als auch bei der Konturlinie der Hemden der beiden Generäle zu beobachten ist. Hierbei ist signifikant, daß Manet – wie an den Malschichten ablesbar wird – zuallerletzt den weißen durchhängenden Lederriemen am vordersten Gewehr einfügte, der eine visuelle Brücke zwischen den Gruppen der Opfer und der Täter schlägt. Auch ein Goldton springt von Figur zu Figur, läuft als Streifen an Mejías Hose entlang, springt zur Krempe von Maximilians Sombrero und von da zu den Säbeln der Soldaten. Das Weiß und das Gold wandern durch das Bild, einem ›flottierenden Signifikanten‹ gleich, der keinen fixierten Platz und keine fixierte Bedeutung besitzt, sondern dessen Bedeutung in der Zirkulation selbst zu liegen scheint. Auf diese Weise entsteht ein visueller Rhythmus, der das Bild in seiner ganzen Breite durchläuft – bei Mejías Arm am linken Bildrand beginnt, über die einzelnen Figuren hinwegläuft und rechts im Gewehr des Unteroffiziers ausklingt. Am rechten Bildrand angekommen, leitet das Gewehr, das den Bildrand weniger überschneidet als vielmehr zu berühren scheint, zum oberen Mauerabschluß über, wo die Bewegung über die Gruppe der Zuschauer hinweg bis zum leuchtenden urnenförmigen Grabmonument in der linken oberen Bildecke zurückläuft. Dieses rhythmisierte Zirkulieren läuft sowohl der zeitlichen Zuspitzung der Handlung als

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auch der Schußrichtung entgegen. Es entsteht eine Art laterale Drift, in der die heterogenen Elemente des Bildes zueinander in eine oszillierende Interaktion treten und die zugleich zur Folge hat, den Blick des Betrachters zu dezentrieren und über das Bildfeld hinweg zu zerstreuen. Es dürfte bereits deutlich werden, worauf eine solche Beschreibung von Manets Historiengemälde zielt: auf die eigentümliche Untiefe des Bildes sowie auf etwas, was man als Nicht-Sehen bei voller Sichtbarkeit bezeichnen könnte. Denn obschon der Betrachter unmittelbar, ohne jegliche räumliche Zäsur, vor dem Erschießungsgeschehen steht, scheint er dennoch gewissermaßen nichts zu sehen und nichts zu hören. Bataille brachte dies in dem bereits genannten Essay auf den Punkt, als er schrieb, man könne sich des Eindrucks der Schläfrigkeit, der von dem Bild ausgehe, nicht entziehen: Das Bild erinnere an die »Betäubung eines Zahns«.6 Um diesem widersprüchlichen Effekt von Manets Darstellungsweise näherzukommen, sei eine Unterscheidung herangezogen, die Umberto Eco hinsichtlich der aristotelischen Konzeption des Dramas trifft.7 Nach Eco enthält jede Dramenhandlung zwei unterschiedliche Ebenen, die er als ›Handlung‹ und ›Aktion‹ bezeichnet. Die ›Handlung‹ stellt die äußere Organisation der Fakten dar und dient zugleich dazu, eine wesentlichere Schicht des Dramas, die ›Aktion‹, sichtbar zu machen. Deren Differenz erläutert er am Beispiel von Ödipus: Der nach den Ursachen der Pest forschende, sich als Vatermörder und Ehegatte der Mutter entdeckende und sich daraufhin blendende Ödipus – das ist die ›Handlung‹ des Mythos. Die tragische ›Aktion‹ hingegen spielt sich auf einer tiefer liegenden Ebene ab, nämlich derjenigen des komplexen Zusammenwirkens von Schicksal und Schuld. Während die ›Handlung‹ völlig eindeutig ist, steht die ›Aktion‹ vielen und unabschließbaren Deutungsmöglichkeiten offen. Die Kunst des Dramas lebt, so Eco, von ebendieser Spannung, die sich zwischen der verständlich angelegten äußeren ›Handlung‹ und der Komplexität der darin aufscheinenden ›Aktion‹ herstellt. Diese Unterscheidung kann unmittelbar auf die Historienmalerei übertragen werden. Goyas 3. Mai 1808 inszeniert eine leicht verständliche Handlung zwischen gegeneinander agierenden Protagonisten. Doch zweifellos geht es Goya um mehr. Um dies herauszustellen, bietet er eine Reihe von Mitteln auf. Das Bild ist nicht nur zweigeteilt, sondern differenziert deutlich zwischen einer ›guten‹ und einer ›bösen‹ Seite. Da sind auf der einen Seite die Opfer, die wehrlos um Gnade flehen. Die Hauptfigur, vom Licht hell beleuchtet, trägt Wundmale und erinnert mit ihren hochgestreckten Armen an den gekreuzigten Christus. Ihnen stehen dunkle, gesichtslose und in anonymisierender Reihung aufgestellte Soldaten gegenüber, deren Aggressivität ihrer Körperhaltung überdeutlich eingeschrieben wird. Goya verwendet eine chiffrenhaft zugespitzte Darstellungsweise, für die er sich an der tagespoliBataille: Manet (Anm. 3), 38 f.: »Ce tableau rappelle étrangement l’insensibilisation d’une dent: il s’en dégage une impression d’engourdissement envahissant […].« 7 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. 1977, 200 f. 6

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tischen propagandistischen Graphik orientiert. Diese wertende Gegenüberstellung beabsichtigt, im Betrachter eine bestimmte Einstellung zum gemalten Geschehen zu erwirken. Es zeigt den Konflikt nicht nur, sondern hält zugleich die Lösung bereit, wie dieser zu bewerten sei. In Ecos Begriffen gesprochen: Es zeigt die ›Handlung‹ in so eindeutiger, beinahe plakativer Weise, daß über die zugrundeliegende, die Protagonisten motivierende ›Aktion‹ nicht gerätselt werden muß.8 Ecos narrationslogische Unterscheidung erlaubt es zugleich, die Funktion eines für die Historienmalerei signifikanten Merkmals zu erkennen. Ein Historienbild bietet dem Betrachter einen sozusagen ›idealen‹ Blick auf das dargestellte Geschehen. Die Idealität dieses Blicks drückt sich darin aus, daß sich der Betrachter an jener Stelle, die ihm das Bild zuweist, geschehenslogisch niemals hätte aufhalten können. Die privilegierte Situierung gegenüber dem Ereignis ist unter anderem deshalb möglich, weil er in dieses nicht einbezogen ist: Er sieht, ohne selbst gesehen zu werden. Der ideale Betrachterstandpunkt korreliert der idealen Intention des Historienbildes, das sich nicht im Vorzeigen einer Handlung erschöpft, deren Augenzeugen wir werden sollen, sondern vielmehr jene sinnbildliche Dimension aufscheinen lassen will, die Eco mit dem Begriff der ›Aktion‹ belegt. Die maximale Sichtbarkeit der ›Handlung‹ bleibt niemals Selbstzweck, sondern bildet die Voraussetzung dafür, daß die Reflexion über die ›Aktion‹ überhaupt in Gang kommt. Daß Manet diese Konvention aufgreift und zugleich innerbildlich reflektiert, verdeutlicht besonders ein Bildelement: die Zeugen des Erschießungsgeschehens, die über die Mauer schauen. Manet spielt hier mit dem Kontrast zwischen der Mauer, auf welche die Augenzeugen klettern müssen, um sehen zu können, und der Bildfläche, durch welche der Betrachter auf das Geschehen blicken kann, die ihn aber zugleich vor den Protagonisten des Geschehens zu verbergen scheint. Die Augenzeugen im Bild spiegeln die Position des Betrachters vor dem Bild also gerade nicht, sondern verdeutlichen ihm e contrario die Eigenart seiner unsichtbaren Gegenwart am Geschehensort. Mit der Konstruktion dieser idealen Betrachtersituierung fordert Manet diesen ebenso auf, sich zum dargestellten Geschehen in ein reflektierendes, bewertendes Verhältnis zu setzen, wie es auch für Goya und sein Gemälde gilt. Doch gerade dies will nun bei der Erschießung Kaiser Maximilians nicht gelingen. Einige der Gründe dafür wurden bereits genannt: die den Blick zerstreuende, ornamentalisierende Bildstruktur sowie die irritierende Untiefe der Darstellung, die den kulissenhaften Landschaftsausblick genauso betrifft wie die einzelnen Figuren, die, wenn es die Rundungen ihrer weißen Ledergürtel nicht gäbe, so flach und unkörperlich wären, wie es ihre gleichsam versiegenden Schatten anzeigen.

Zur Verdeutlichung der Unterschiede zwischen Goyas und Manets Ereignisdarstellungen beschreibe ich hier Goyas Gemälde eindimensionaler als es ist; vgl. dazu ausführlicher Verf.: Bild und Blick (Anm. 1), 140 f. und 228, Anm. 218 und 219. 8

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Ebenso bedeutsam dafür ist jedoch die Unbestimmtheit der Akteure. So haben die Protagonisten entweder kein Gesicht, oder aber ihr Gesichtsausdruck bleibt leer. Dabei unterscheidet sich die Gesichtslosigkeit der Soldaten von derjenigen bei Goya beträchtlich. Deren verlorene Profile sind im Sinne Wolfgang Isers ›Leerstellen‹, die aufgrund der Rezeptionsvorgaben des Bildes als Fremdheit, Kälte, Bösartigkeit oder Gewissenlosigkeit gefüllt werden können.9 Bei Manet indes können die Leerstellen nicht gefüllt werden, sondern bleiben semantische Lücken. Darüber hinaus scheint hier sogar ein Prozeß der Defiguration einzusetzen. Vor allem das enge Zusammenschieben der Untergruppe von Soldaten am rechten Rand des Erschießungspelotons führt hier zu einer völligen Entstellung (Abb. 4, S. 101). Es bleibt nicht nur unklar, wie das schmutzige Braun, das die Gesichter stellenweise bedeckt, zu deuten wäre, sondern das Gesichtsfleisch wird derart unförmig, daß beispielsweise beim hintersten Soldaten unentscheidbar wird, ob die helle Partie, die sich ungefähr dort befindet, wo sein Kinn zu vermuten wäre, zu ihm gehört oder nicht eher als einzig sichtbarer Fleck eines ansonsten kaum zu erahnenden weiteren Soldaten angesehen werden muß. Wendeten sich diese Figuren zum Betrachter hin um, dann zeigten sie keine Fratze wie bei Goya, sondern nichts, kein Gesicht. Die abgewandten Soldaten evozieren ein Gefühl der Leere, das in eine beklemmende Fülle umschlägt, und weisen eine Reglosigkeit auf, die in die phantasmatische Gegenwart von QuasiSubjekten umschlägt. Entleert erscheint auch der Gesichtsausdruck Kaiser Maximilians, der Hauptfigur des Geschehens (Abb. 5, S. 101). Manet stand hier vor dem Problem, wie das Gesicht eines Menschen darzustellen sei, der dem Tod ins Auge blickt – wobei er diesen Augenblick durch die Darstellung der Schußabgabe noch zuspitzte. Doch anstelle starker Erregung wird Maximilians Gesicht zur flachen Scheibe, die Konturen des Bartes und der Nase lösen sich auf, die Augen verwandeln sich in bloße schwarze Tupfer. Manet löscht das Gesicht aus, doch so, daß das Ausgelöschte am Ort der Auslöschung negativ präsent bleibt. Maximilians Physiognomie wird zum hellen Fleck, in dem ›face‹ und ›effacement‹, Gesicht und Auswischung, ineinander aufgehen. Die vielleicht überraschendste Figur in Manets Gemälde – und zugleich diejenige, die in Goyas Gemälde keinen Vorläufer hat – dürfte jedoch der Unteroffizier am rechten Bildrand sein (Abb. 6, S. 101). Zumeist wird sein Manipulieren als Vorbereitung des Gnadenschusses gedeutet, doch bei näherer Betrachtung wird sein Tun durchaus unklar. Der Unteroffizier achtet kaum auf das Spannen des Abzugs, sondern blickt darüber hinweg ins Unbestimmte. Aber noch dies ist vielleicht zu positiv formuliert, denn er erscheint in einer Weise geistesabwesend, die ihn weder bei sich noch bei etwas außerhalb seiner, ja noch nicht einmal ganz ›da‹ sein läßt, so daß er selbst das Erschießungsgeschehen, das sich unmittelbar neben ihm ereignet, 9

284.

Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens – Theorie ästhetischer Wirkung, München 41994, 266 ff. und

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offensichtlich nicht wahrnimmt. Gleichzeitig steht die Figur in einem privilegierten Bezug zum Betrachter. Die prominente Plazierung, die Sichtbarkeit seines Gesichts und die Außenposition, die er dem Geschehen gegenüber einnimmt, lassen ihn zu einem Gelenk zwischen Bild und Betrachter werden. Seine Stellung erinnert an diejenige einer innerbildlichen Reflexionsfigur, deren Funktion Michael Fried in einer exemplarischen Studie analysierte.10 Als Beispiel dient Fried eine Radierung nach einem ehemals van Dyck zugeschriebenen Gemälde (Abb. 7, S. 100). Es zeigt Belisarius, einen ehemaligen General in Justinians Armee, dem drei Frauen Almosen geben. Nach Fried ist die heimliche Hauptfigur des Bildes jedoch der Soldat, der dem Betrachter räumlich am nächsten steht und Belisarius versunken betrachtet. Offensichtlich sinnt er über dessen Schicksal nach, das den ehemals ruhmvollen General in Armut und Blindheit brachte. In der Deutung dieser Figur geht Fried von einem Brief Diderots aus, in dem sich dieser bewundernd über das Bild äußert. Es sei die Figur des Soldaten, so Diderot, die den Betrachter alle übrigen Figuren vergessen lasse. Er wiederhole innerhalb des Bildes die Position des Betrachters und werde damit zu dessen innerbildlicher Identifikationsfigur: Man blicke auf Belisarius gewissermaßen mit den Augen des Soldaten. Er lasse das Bild moralisch werden, da er dem Betrachter verdeutliche, daß es um die Kontemplierung von Belisarius’ Schicksal gehe. Formuliert man Diderots Gedanken in Ecos Begriffen, vollzieht sich in dieser Figur der Übergang vom Nachvollzug der ›Handlung‹ zur Reflexion über die tiefer liegende ›Aktion‹. Manets Unteroffizier spielt auf diese innerbildliche Reflexionsfigur an, verkehrt sie jedoch in ihr Gegenteil, da der Unteroffizier das Geschehen ja gerade nicht wahrnimmt. Gleichwohl stellt sich eine überraschende Gemeinsamkeit zwischen dem Belisarius-Stich und Manets Erschießungsbild her. Wenn Diderot schreibt, man blicke auf das dargestellte Geschehen gewissermaßen mit den Augen dieser innerbildlichen Reflexionsfigur, scheint nun auch bei Manet die Behauptung nicht abwegig, man blicke auf das Geschehen mit genau jenem aus Raum und Zeit fallenden Blick, der den Unteroffizier auszeichnet. An diesem Punkt läßt sich die Schwierigkeit, das Bild zu ›lesen‹ – also ›sehen‹ und ›erkennen‹ zueinander zu führen –, genauer bestimmen. Dafür sei noch einmal auf Isers Begriff der Leerstelle zurückgegriffen, die sowohl für das Entstehen bildlicher Narration wie für die Involvierung des Betrachters konstitutiv ist. Bei Goya antworten Leerstellen auf Rezeptionsvorgaben, beispielsweise in Gestalt der gesichtlosen Soldaten, deren Gemütsverfassung der Betrachter aufgrund des bildnerischen und narrativen Zusammenhangs imaginär ergänzen kann. Bei Manet indessen treffen nicht Leerstellen und Rezeptionsvorgaben aufeinander, sondern Leerstellen auf Leerstellen. Keine Figur hilft dem Betrachter, die jeweils anderen zu verstehen, weswegen die Leerstellen auch nicht verschwinden, so wie es Isers reMichael Fried: Absorption and Theatricality – Painting and Beholder in the Age of Diderot, Berkeley/Los Angeles/London 1980, 145 ff. Vgl. dazu Werner Busch: Das sentimentalische Bild – Die Krise der Kunst und die Geburt der Moderne, München 1993, 148 ff. 10

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zeptionsästhetisches Modell vorsieht. In Maximilians Gesichtsausdruck finden wir keinerlei Hinweis auf die Eigenart der Gesichter, in die er blickt, in der Mimik des Unteroffiziers keinen Kommentar zum daneben sich vollziehenden Geschehen, usw. Der Bilddiskurs wird beständig unterbrochen, ja, durchlöchert. Zugleich verschiebt sich die Stiftung bildnerischen Zusammenhangs auf eine andere Ebene: auf die sub-semantische Ebene der ornamentalen Rhythmik, der formalen und farblichen Iterationsstruktur. Während die Figuren in dieser Weise formal miteinander verkoppelt werden, fällt der szenische Zusammenhang auseinander; und während der historische Sinn erlischt, drängen sich die Dinge in den Vordergrund, leuchtende Gamaschen, schimmernde Säbelgriffe, gerötete Ohren. Damit aber klafft die entscheidende, bildbestimmende Lücke in der Erschießung Kaiser Maximilians zwischen dem, was Eco als ›Handlung‹, und dem, was er als ›Aktion‹ definierte, das heißt zwischen dem äußeren und dem inneren Zusammenhang des dargestellten Geschehens. Während die Handlung nicht nur übersichtlich und klar, sondern geradezu zeichenhaft überspitzt dargestellt wird, gewinnt der Betrachter gleichzeitig keinerlei Einblick in das motivierende Innere der Figuren und die tiefere Bedeutung des sich vollziehenden Ereignisses. Die verschiedenen Modifikationen, die Manet zwischen dem ersten Entwurf und der endgültigen Fassung vornimmt, forcieren genau diese Diskrepanz, in dem sie den widersprüchlichen Kurs verfolgen, im selben Zuge die Übersichtlichkeit der ›Handlung‹ und die Opazität der ›Aktion‹ zu steigern. Es fallen Schüsse – doch man erfährt nicht, warum, noch was auf sie folgen wird, noch worin ihre Moral besteht. Die Antinomie zwischen Indifferenz und kritischem Engagement, Inhalt und Form, reiner Malerei und politisch brisantem Sujet, die immer wieder als Charakteristikum von Manets Historienbild herausgestrichen wurden, begründen sich darin. Es handelt sich um das Paradox, daß die Bedeutung der Erschießung Maximilians nicht aus dem Dargestellten, sondern aus dem nicht Dargestellten folgt. Was also erzählt Manets Historienbild, oder anders gewendet: Wie stellt sich Geschichte in ihm dar? Mit dem Rekurs auf Goyas bedeutungsgeladenes Gemälde weckt Manet Erwartungen, um jedoch bei laufendem Spiel die Regeln zu ändern und den Betrachter in eine Situation zu verwickeln, die er nicht kennt. Besonders ein Aspekt erscheint dabei signifikant. Im Vergleich mit Goyas Bild wird deutlich, daß Manets Erschießungsbild die Dialektik der Geschichte aufhebt, die sich im Historienbild jeweils als Opposition zweier Parteien zeigt und die als eine Konstante der Historienmalerei seit der Antike gelten kann. Diese Aufhebung zeigt sich zunächst an den Protagonisten, deren Verhalten zu unscharf bleibt, um wirklich als dialektisch aufeinander bezogen heraustreten zu können, des weiteren an der bildstrukturellen Verkettung der opponierenden Figurengruppen zu einem durchlaufenden Fries und schließlich an der Einführung einer dritten Partei, welche die Dualität von Tätern und Opfern unterläuft. An die Stelle der Dialektik der Geschichte tritt bei Manet die Dialektik von Lesbarkeit und Unlesbarkeit, Transparenz und Opazität. ›Res gestae‹ und ›historia rerum gestarum‹, konkretes Ereignis und

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durch plausible Erzählung gestifteter Sinn, werden im Bild nicht mehr miteinander vermittelt. Entweder schließen wir daraus, die dargestellten Ereignisse seien keinem Referenzrahmen von Werten und Normen und keinem Gesetz von Ursache und Wirkung unterworfen, oder wir gestehen uns ein, daß uns der Referenzrahmen und die Gesetze dessen, was wir sehen, verborgen bleiben. Manets Erschießungsbild führt Geschichte an die Grenze ihrer Nicht-Darstellbarkeit, da sie sich in den gezeigten Figuren nicht ›verkörpert‹ und in der Handlung nicht sinnfällig wird. Es zeigt ein Geschehen, das auf einen ganzen Katalog von Bedeutungen verweist – auf die Moralität von Gut und Böse oder auf den Konflikt zwischen individuellem Schicksal und überpersönlichen Kräften, um zugleich seinen Aufenthalt dort zu nehmen, wo diese Bedeutungen fehlen. Historische Transzendenz verwandelt sich in ästhetische Immanenz: in ein ›Kreisen‹ des Sinns, in dem das signifikante Material beständigen Metamorphosen, Iterationen und lateralen Verschiebungen unterliegt, gerade deshalb aber zu keiner fixierbaren Bedeutung gerinnt. Ästhetischer und historischer Sinn, Anschauung und Erkenntnis treten in einer Weise auseinander, daß der Betrachter gezwungen wird, beides fortlaufend gegeneinander zu bestimmen. Die Krise, die sich in Manets Bild zeigt, ist gewiß auch jene des Zweiten Kaiserreichs, dessen Ende sich mit dem mexikanischen Fiasko abzuzeichnen begann. Vor allem aber offenbart Manets Historiengemälde die Krise bildnerischer Semantik. Es zeigt das Unanschaulichwerden von Geschichte, was der Historienmalerei zwangsläufig den Boden entzieht. Was die paradoxale Bildstruktur und das widersprüchliche Bild-Betrachter-Verhältnis betrifft, stellt Die Erschießung Kaiser Maximilians keinen Sonderfall in Manets Œuvre dar; wir begegnen ihnen immer wieder, und zwar bei ganz unterschiedlichen Darstellungsgegenständen. Ein zweites Bildbeispiel soll dies verdeutlichen. Auf den ersten Blick hat Die Eisenbahn (Abb. 2, S. 99) mit dem Erschießungsbild nichts gemein: hier ein Genrebild der Pariser ›vie moderne‹, dort die Darstellung eines Ereignisses im fernen, beinahe exotischen Mexiko; hier ein Motiv, mit dem sich Manet auf sein unmittelbares Umfeld bezieht – in der linken oberen Bildecke läßt er die Fassade seines eigenen Ateliers auftreten –, dort ein Sujet, über das er nur durch Zeitungsberichte und spärliches photographisches Material informiert war und für dessen Komposition er auf die Bildformel eines anderen Künstlers zurückgreift. Auf kompositorischer Ebene hingegen zeigen sich überraschende Ähnlichkeiten. Der Mauer des Erschießungsbildes entspricht das Gitter der Eisenbahn, die beide ein schmales Raumsegment über die gesamte Bildbreite hin ausgrenzen und zugleich ein Dahinter sichtbar werden lassen. Bis in die Details der Körperhaltung gleichen die Soldaten der ansonsten ganz anderen Figur des Mädchens, das durch das Gitter blickt. Schließlich kontrastiert Manet in beiden Gemälden die Zugewandtheit der Figur(en) links mit dem abgewandten, ›verlorenen Profil‹ der Figur(en) auf der rechten Seite. Obschon also die beiden Bilder gattungsmäßig und motivisch erheblich divergieren, werden sie durch eine verwandte Bildstruktur miteinander verklammert. Dieser Befund ließe sich über die beiden hier heraus-

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gegriffenen Beispiele hinaus erweitern. Sie erwiesen sich dann als Glieder einer Bilderreihe, in der anhand von sehr unterschiedlichen Sujets immer wieder ähnliche strukturelle Merkmale inszeniert werden. Was mich an dieser Stelle allerdings vorrangig interessiert, ist die Art und Weise, wie auch in der Eisenbahn ›Sehen‹ und ›Erkennen‹ auseinanderlaufen, ja, in einen Konflikt zueinander geraten – in einen Konflikt, der das eigentliche Sujet des Bildes zu sein scheint. Die Eisenbahn zeigt eine Gouvernante mit ihrem Schützling oder, ebenso denkbar, eine Mutter mit ihrer Tochter, die sich in einem flachen Raumabschnitt aufhalten, der einerseits vom Eisengitter, andererseits von der Bildgrenze begrenzt wird. Während der Blick der Frau die Bildgrenze überschreitet, schaut das Mädchen durch die Zwischenräume des Gitters hindurch. Damit werden die Bildfläche und das Gitter, die parallel zueinander verlaufen, in derselben Weise analogisiert, wie es bereits bei der Mauer des Erschießungsbildes zu beobachten war. Beide Figuren stehen in einer spezifischen, allerdings sehr unterschiedlichen Relation zum Betrachter. Die Frau blickt den Betrachter mit jenem bei Manet so häufig anzutreffenden Gesichtsausdruck an, der vor allem signalisiert, daß er bemerkt worden ist. Zugleich hält ihn der Blick auf Distanz, ja stößt ihn sogar, einem Repoussoir gleich, ein wenig zurück. Die Rückenfigur des Mädchens hingegen wiederholt die Position des Betrachters innerhalb des Bildes. Das Mädchen steht an einer innerbildlichen Nahtstelle: an der Grenze zum Raum hinter dem Gitter, den es betrachtet. Auf diese Weise befindet es sich gewissermaßen zugleich im und vor dem Bild: Innerhalb des Bildes sieht es, was der Betrachter als Bild sieht. Durch ihre antagonistische Ausrichtung werden die beiden Figuren zu einer Janusfigur, welche die Beziehung von Bild und Betrachter reflektiert – sie zugleich spiegelt und bricht.11 Entscheidend ist nun aber, daß das ›Bild im Bild‹ jenseits des Gitters ›blind‹ ist. Statt der Eisenbahn, die der Titel verspricht, sehen wir lediglich eine amorphe Wolke. Das Mädchen – und mit ihm der Betrachter – blicken auf einen weißen Fleck. Entsprechend dazu hat das Mädchen kein Auge: Auch es ist ›blind‹, so daß die Metapher des ›verlorenen Profils‹ hier buchstäblich zu werden scheint. Der ›blinde Fleck‹ durchkreuzt, was man das Sichtbarkeitsversprechen eines Bildes nennen könnte. Im Rahmen der fiktiven Kohärenz des Sichtbaren, die ein Bild üblicherweise herstellt, müßte das Mädchen ›sehen‹ können, oder umgekehrt formuliert, müßte das Bild dem Mädchen – und dem Betrachter – etwas ›zeigen‹. Auf der einen Seite verknüpft Manet Betrachter- und Bildraum durch die Nähe der Figuren, durch deren lebensgroße Darstellung sowie durch den Blickkontakt zur sitzenden Frau. Auf der anderen Seite aber kappt er die Verbindung zwischen den beiden Räumen, indem er sie durch die weiße Wolke förmlich ausradiert. Inmitten des Bildes, das vom Sehen handelt, nistet sich eine essentielle Unsichtbarkeit ein. Zu den selbstreflexiven Zügen des Gemäldes siehe die in Anm. 1 genannten Beiträge von Michael Diers, der in ihm die Verschränkung der Reflexionen über die Stadttopographie und über das Metier des bildenden Künstlers entdeckt. 11

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Das Mädchen der Eisenbahn gehört wie die Soldaten der Erschießung Kaiser Maximilians zu den phantasmatischen Figurationen in Manets Œuvre, die auf der Ebene des Dargestellten nicht zu fixieren sind, da in ihnen stets etwas fehlt oder nicht an seinem Platz zu sein scheint. Wo bleibt beispielsweise, so mag man sich fragen, der rechte Arm und die rechte Schulter des Mädchens? Deren Fehlen fällt angesichts des fleischigen, perspektivisch unverkürzt raumgreifenden linken Arms besonders auf. Warum bläht sich der Rock in einer Weise, als bedecke er einen enormen Bauch? Und sind womöglich die zwei äußerst präzise gemalten, sogar jeweils einen Glanzpunkt aufweisenden Kügelchen, die am Ohr des Mädchens baumeln, als ›Ersatz‹ der fehlenden Augen aufzufassen? In anderer Weise irritierend wirkt die zur Schürze verlängerte Schleife des Mädchens, die als einziges Bildelement ganz in die Frontalität gekehrt ist. Ihre Materialität scheint sich von derjenigen des dunkelblauen Kleides der Frau deutlich zu unterscheiden. Mit ihrem strahlenden, ins Silberne changierenden, geradezu roh aufgetragenen Blau oszilliert sie zwischen einem Stück Stoff und einem Stück Malmaterie. Der Eindruck entsteht, als wäre der Darstellungsprozeß hier an einem Punkt angehalten worden, an dem die Materialität der Farbe noch nicht in die Materialität des darzustellenden Gegenstandes übergegangen ist. Die Faktur – als Materialität von Farbe, Leinwand und Pinselschrift – und die Textur – als Oberflächenstruktur des dargestellten Stoffes – fallen zusammen. So läßt sich die blaue Schürze weder auf die Repräsentation eines Außerbildlichen noch auf die materielle Gegebenheit des Bildes als Bild reduzieren. Vielmehr erweist sie sich als eine Stelle, an der die Erscheinung der außerbildlichen Wirklichkeit und die Materialität des Bildes sich ›berühren‹. Wir begegnen dem malerischen Paradox einer so ›konkreten‹ Darstellungsweise, daß Anfang und Ende des Darstellungsprozesses, Figuration und Disfiguration, Zeichen und bedeutungsloser Fleck ineinanderfließen.12 Die gewiß seltsamste Stelle im Bild dürfte jedoch ein anderer ›Berührungspunkt‹ sein: derjenige zwischen dem Mädchen, dem Gitter und der weißen Wolke. Blickt das Mädchen eigentlich zwischen den Stäben hindurch, oder hat es nicht vielmehr die Gitterstange unmittelbar vor seinem Auge? Manet hat diese entscheidende Stelle nachträglich modifiziert. Er veränderte die Position der Gitterstangen, die nun in der Bildmitte kleinere Abstände aufweisen als zu den Seiten hin, außerdem korrigierte er das Profil des Mädchens, das ursprünglich die Gitterstange ganz überdeckte.13 Damit schuf er die jetzige Konstellation, in der die Stange das unsichtbare Auge abzudecken scheint. Die Wolke, in die das Mädchen blickt, befindet sich nicht im offenen Raum hinter den Gitterstangen, sondern hängt zwischen diesen. 12 Vgl. dazu Daniel Arasse: Le Détail – Pour une histoire rapprochée de la peinture, Paris 1996, 280 f. Arasse spricht im Hinblick auf ein von Tizian gemaltes Stoffstück von einem »pan de tissu«, der zu einem »pan de peinture« werde. Zur Analyse einer vergleichbaren Oszillation zwischen Malmaterie und Gemaltem in Vermeers Ansicht von Delft siehe Georges Didi-Huberman: L’art de ne pas décrire, une aporie du détail chez Vermeer, in: La part de l’œil 2 (1986), 102–119.

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Unmittelbar oberhalb des Mädchenkopfes wird dies besonders deutlich: Das Weiß setzt sich nicht hinter den Gitterstäben fort, ja berührt sie nicht einmal, sondern läßt einen schmalen braunen Streifen des Hintergrundes stehen. Offensichtlich hat Manet die Wolke zuletzt ins Bild gemalt, indem er die Intervalle zwischen den Stäben ausfüllte. Das aber heißt, daß Manet weniger etwas gemalt als vielmehr etwas ausgelöscht hat. Hier ist nicht gemalt, was man sieht, noch ist gemalt, was man nicht sieht: Es ist gemalt, daß man nicht sieht. Obgleich jede Beschreibung des Bildes fast zwangsläufig davon spricht, das Mädchen schaue in eine Wolke hinein, wird ebenso deutlich, daß diese Wolke in erster Linie bloße weiße Farbmaterie ist. Wie aus Manets Bildtitel geschlossen werden kann, steht sie zwar für den Dampf, den ein in den Bahnhof Saint-Lazare – der sich weiter links außerhalb des Bildfeldes befände – einfahrender Zug ausstößt. Doch ähnlich wie bei der Schleife des Mädchens löst sich das Weiß von dieser denotativen Funktion, indem es nicht, oder zumindest unzureichend, auf einen außerbildlichen Referenten verweist. Das Weiß wird zu etwas und nichts zugleich – zu ›no/thing‹. Dieses ›Nichts‹ läßt Illusion und Illusionsdurchbrechung, Täuschung und Enttäuschung zusammenfallen, da es die Darstellung genau dort auslöscht, wo es um ein Hindurchsehen ginge. Auf diese Weise wird die Wolke zur ›mise en abîme‹ des Bildes. Sie verdoppelt das Bild, um es im gleichen Zuge wortwörtlich ›zugrunde‹ gehen zu lassen.14 Das Mädchen steht, wie eingangs beschrieben, innerhalb des Bildes für den Betrachter vor dem Bild, so wie auch die Gitterstäbe die Bildgrenze innerbildlich wiederholen. Das ›Nicht-sehen‹ des Mädchens gilt demnach – zumindest teilweise – auch für den Betrachter. Dem Paradox der Malerei, das Die Eisenbahn entfaltet, geht das Paradox ästhetischer Erfahrung parallel, daß das Bild einen dort ›anzublicken‹ scheint, wo es am äußerlichsten und materiellsten erscheint: an den Stellen, wo die Repräsentation kollabiert und das Bild zugrunde geht. Indem die weiße Wolke oder auch die blaue Schürze sich als Negatives im Bild selbst manifestieren, verschlagen sie einem die Sprache, verschlagen sie einem das Bild. Gerade in diesen Augenblicken aber ›subjektiviert‹ sich das Bild, sind wir selbst im Bild ›anwesend‹. Zielt das pragmatisch orientierte Sehen darauf ab, das Sehfeld als plastisch gegliederten Raum zu strukturieren, so wird hier, im Zentrum des Bildes, jegliche Plastizität neutralisiert. Das Sehen wird auf seinen Grund zurückgeführt – auf einen Grund, der »formlos« und »unmenschlich« ist.15 Juliet Wilson-Bareau: Manet, Monet and the Gare Saint-Lazare (Ausstellungskatalog Paris, Musée d’Orsay; Washington, National Gallery of Art), Washington 1998, 57. 14 Zur ›mise en abîme‹ (oder ›abyme‹) als künstlerische Technik – als ›Spiel im Spiel‹ im Theater, als ›Bild im Bild‹ in der Kunst – siehe: Lucien Dällenbach: Le récit spéculaire – Essai sur la mise en abyme, Paris 1977. 15 »Formlos« bezieht sich auf Batailles Bestimmung des Begriffs; siehe Georges Bataille: Informe, in: ders.: Œuvres complètes, I, Paris 1970, 217. Das Adjektiv »unmenschlich« spielt auf eine Äußerung Merleau-Pontys über Cézanne an: »La peinture de Cézanne met en suspenses ces 13

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Vor ein paar Jahren gelang es Juliet Wilson-Bareau, die Hausfassade in der linken oberen Bildecke als Außenseite von Manets neubezogenem Atelier in der Rue de Saint-Pétersbourg zu identifizieren: Dieses Atelier habe hinter dem Fenster, das sich an die äußerste Gitterstange schmiege, gelegen.16 Das Detail bestätigt der Entdekkerin den Realismus des Bildes. Was es zeige, habe Manet von seinem Standort, den er im Garten des befreundeten Malers Alphonse Hirsch bezog, tatsächlich genau so sehen können. Denn von dort aus seien nicht nur die zum Bahnhof Saint-Lazare führenden Gleise, sondern eben auch die Fassade des neuen Ateliers zu erblicken gewesen. Damit scheint sich der bislang rätselhaft gebliebene Sinn des Bildes zu entschlüsseln. Es feiere, so Wilson-Bareau, das neue Atelier und verweise zugleich auf das eigene malerische Vorgehen, das auch bei einem so offensichtlichen Pleinair-Bild, wie Die Eisenbahn es sei, auf der Atelierarbeit basiere. Manet, der »pariserischste aller Maler«, habe mit dem Gemälde einen Beweis dafür geliefert, wie wichtig ihm der Bezug seiner Malerei zum städtischen Umfeld gewesen sei. Genau wie auch das übrige Œuvre spiegle es das sich verändernde Gewebe der Stadt – in diesem konkreten Falle den Einzug der Eisenbahn in das Weichbild des alten Paris – sowie die verschiedenen sozialen und politischen Kräfte, welche die Stadtgeschichte formten.17 Doch wie schon das ›Nichts‹ der Wolke die Eisenbahn und all das, wofür diese in verkehrstechnologischer, urbanistischer und sozialer Hinsicht steht, gerade nicht zeigt, bezeugt auch das Detail der Atelierfassade weniger den Realismus des Bildes, sondern bestätigt vielmehr dessen selbstreflexiven Charakter, der den Eigensinn der Malerei und ihrer Erfahrung herausstellt. Vergegenwärtigt man sich, daß zwischen dem Gitter und der Fassade ausgedehnte Gleisanlagen liegen, wird offensichtlich, um wieviel zu nahsichtig letztere wiedergegeben ist. Die Weite des Raums wird auf der rechten Bildseite deutlich, an den Details eines Bahnwärterhäuschens und zweier Gleisarbeiter, vor allem aber an der Entfernung der Häuserzeile, welche die Atelierfassade eigentlich fortsetzt. Die Außenseite von Manets Atelier wirkt demgegenüber gleichsam ins Bild eingeblendet – neben der Wolke erscheint sie als ein weiteres ›Bild im Bild‹. Wenn wir uns den Malprozeß vergegenwärtigen, dann kehrt hier zudem die antagonistische, die Wendungen nach innen und nach außen verklammernde Bildstruktur auf anderer Ebene wieder. Manet malt die Außensicht des Raumes, in dem das Bild entsteht. Er malt den Ausblick zum Fenster hin, hinter dem er sich während des Malens befindet – und von wo aus umgekehrt der Ort zu sehen wäre, an dem das Mädchen steht und hinüberschaut. So befindet sich der Maler zugleich ›da‹ und ›dort‹, drinnen und draußen, vor dem Bild und zugleich habitudes [die den pragmatischen Weltzugang regulieren, M. L.] et révèle le fond de nature inhumaine sur lequel l’homme s’installe.« Maurice Merleau-Ponty: Le doute de Cézanne, in: ders.: Sens et non-sens, Paris 1996, 13–33, hier 21. 16 Wilson-Bareau: Manet, Monet (Anm. 13), 1 ff. 17 Ebd., 1–3 und 61.

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hinter dem Fenster, das im Bild erscheint. Die Blindheit von Manets Atelierfenster erscheint dabei wie ein letzter Hinweis darauf, daß Malen für Manet keineswegs bedeutet, einen geeigneten Standpunkt zu beziehen, um dann zu malen, was man sieht, so wie es die realistischen Lesarten des Bildes suggerieren, die das Bild als Fortsetzung des soziopolitischen oder literarischen Pariser Großstadtdiskurses mit anderen Mitteln begreifen. In Manets Gemälden konfligieren ›Sehen‹ und ›Erkennen‹ durch die Unbestimmtheit der Relationen innerhalb des Bildes wie auch zwischen Bild und Betrachter. Die zentral gesetzten Leerstellen wirken als ›Nullpunkte der Malerei‹, welche die Malerei qua Diskurs, Logos oder Erkenntnis auslöschen, im selben Zuge aber qua Erfahrung des Außersemiotischen, des Unaussprechlichen und des faszinierten Blicks in ihrer Potentialität herausstellen. Manets Malerei prägt eine Dialektik von Versprechen und Versagung. Die Eisenbahn läßt das Sehen erblinden, und dies anhand des Motivs eines Ausblicks und eines Mädchens, das sich in diesen Ausblick vertieft. Die Provokation der Erschießung Maximilians wiederum liegt darin, die Erwartung eines geschlossenen Bildsinns ausgerechnet mit einem Historienbild, dem Musterfall eines sinnfälligen Figuren- und Ereigniszusammenhangs, zu unterlaufen. Der in den Gemälden eröffnete Widerstreit zwischen Ästhetischem und Epistemischem bezeugt, daß Manet zu den entschiedenen Verfechtern malerischer Autonomie gehört. Mit vielen anderen Malern seiner Zeit teilt er das Anliegen, alles im weitesten Sinne ›Literarische‹ aus der Malerei auszustoßen. Diese soll auf keinen Text rückführbar sein, ja noch nicht einmal auf einen heteronomen ›Diskurs‹, der von außen bestimmen könnte, wonach sich ihre Herstellung und ihre Betrachtung zu richten haben. Daraus erklärt sich die zunehmende Tendenz zur ›Offenheit‹ und zum ›Unvollendeten‹, das sich in der Malerei dieser Zeit zu manifestieren beginnt. Denn beides unterläuft die Möglichkeit, dem Bild eine bestimmte Aussage entnehmen zu können, und fordert den Betrachter auf, die dem Werk inhärente Polysemie zu erforschen, ohne sie je ausschöpfen zu können.18 In diesem größeren Feld aber besteht Manets Eigenart darin, ebenjenen heteronomen ›Diskurs‹ nicht einfach von vornherein auszugrenzen, so wie es jene Impressionisten praktizieren, die den Gang in die Natur als Gegenentwurf zur städtischen Zivilisation begreifen. Vielmehr ruft er ihn im Bild ausdrücklich auf, um ihn vor unseren Augen abbrechen zu lassen.

Siehe dazu ausführlich Pierre Bourdieu: Les règles de l’art – Genèse et structure du champ littéraire, Paris 1992, besonders 185 ff. 18

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Abb. 1: Edouard Manet: Die Erschießung Kaiser Maximilians, letzte Fassung, 1868/69, Öl auf Leinwand, 252 x 302 cm, Mannheim, Städtische Kunsthalle.

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Abb. 2: Edouard Manet: Die Eisenbahn, 1872/73, Öl auf Leinwand, 93 x 114 cm, Washington, National Gallery of Art.

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Abb. 3: Francisco de Goya: Die Erschießung der Aufständischen am 3. Mai 1808 in Madrid, 1814, Öl auf Leinwand, 266 x 345 cm, Madrid, Museo del Prado.

Abb. 7: Abraham Bosse nach Luciano Borzone: Belisarius empfängt die Almosen, um 1620/30, Radierung, 31,5 x 35,4 cm, Paris, Bibliothèque Nationale.

›Sehen‹ contra ›Erkennen‹ Abb. 4: Detail aus Abb. 1: Die beiden hintersten Soldaten des Erschießungspelotons.

Abb. 6: Detail aus Abb. 1: Der Unteroffizier.

Abb. 5: Detail aus Abb. 1: Kaiser Maximilian und die Generäle Mejía und Miramón.

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Ästhetik des Möglichen Zur Erfindungsgeschichte der Readymades Marcel Duchamps* Von Herbert Molderings

Kein anderer Künstler des 20. Jahrhunderts hat die Grenzen der ästhetischen Anschauung so sehr erweitert wie Marcel Duchamp. Indem er die Leinwand durch Glas als Bildgrund ersetzte, Zeichnungen mit Nähgarn, Piniennadeln, Körperhaaren und Sperma anfertigte, den Zufall als Mittel zur Formerfindung einsetzte, Steckbriefe und Reklametafeln als künstlerische Ausdrucksformen nutzte, Bilder in Form von Fenstermodellen bauen ließ, optische Rotationsmaschinen konstruierte, Schaufenster dekorierte, mit Schokolade malte und Marzipangemüse skulptierte, hat er unser Bewußtsein von dem, was künstlerisch möglich ist, von Grund auf verändert. Folgt man den einschlägigen Artikeln in den aktuellen Handbüchern zur klassischen Moderne, dann ist Duchamp für fast alle ästhetischen Grenzerweiterungen in der Kunst des vergangenen Jahrhunderts verantwortlich: für Assemblage und Objektkunst, Kinetik und die Kunst der Installation, Aktions- und Konzeptkunst, Gender Performance, Body Art und Appropriation Art. Die für den aktuellen Kunstbegriff folgenreichste Neuerung waren die Readymades, ihrer Funktion entfremdete, oft mit rätselhaften Titeln versehene alltägliche Gebrauchsgegenstände, die seit der Mitte der dreißiger Jahre in Ausstellungen und Publikationen als Kunstwerke betrachtet wurden. Mit der künstlerischen Kanonisierung der Readymades endete, so die These Arthur Dantos, das Zeitalter des Geschmacks in der Kunst.1 Es begann eine neue Ära, in der Künstler, Kunstwissenschaftler und Philosophen sich mit der Aufgabe konfrontiert sahen, eine Definition der Kunst zu finden, die nicht auf ästhetischem Wohlgefallen gründete. Kategorien wie ›schön‹ und ›häßlich‹, ›sublim‹ und ›trivial‹, ›high and low‹2, die jahrhundertelang das Gebiet der gesellschaftlichen Bilderproduktion in distinkte Abschnitte unterteilt hatten, waren zur Beschreibung der neuen künstlerischen Tätigkeiten nicht mehr brauchbar. Es ist unmöglich, hier in wenigen Sätzen die vielfältigen, einander widersprechenden und sich ständig verändernden neuen Definitionsvorschläge von Kunst zu resümieren, die die jüngere Vergangenheit hervorgebracht hat, doch läßt sich so etwas wie ein Minimalkonsens angeben, dem auch die radikalste Denk* Der Aufsatz resümiert Ergebnisse meiner Forschungstätigkeit am Wissenschaftskolleg zu Berlin im Jahr 2003/2004. Dem Wissenschaftskolleg sei für die Unterstützung meiner Arbeit herzlich gedankt. 1 Vgl. Arthur Danto: Marcel Duchamp and the End of Taste, in: tout-fait I/3, Dezember 2000; www.toutfait.com. 2 Vgl. High & Low: Modern Culture and Popular Art, ed. by Kirk Varnedoe and Adam Gopnik, The Museum of Modern Art, New York 1990.

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2004 · © Felix Meiner Verlag · ISSN 1439-5886

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schule, jene nämlich, welche die Unmöglichkeit jeder Kunstdefinition behauptet, noch beipflichten könnte. Demnach ist es nicht mehr die Aufgabe der Kunst, Schönheit hervorzubringen, sondern neue Perspektiven zu eröffnen, den Horizont des menschlichen Vorstellungsvermögens permanent hinauszuschieben. Dazu sind alle Materialien und Verfahren legitim – wie uns die zeitgenössischen Phänomene der Trash Art und Abject Art nachdrücklich vor Augen führen.3

›Ästhetisches Echo‹ versus ›Geschmack‹ Marcel Duchamp hat seine ästhetischen Ansichten erst in einem fortgeschrittenen Alter formuliert, am deutlichsten auf dem Symposium The Western Round Table on Modern Art in San Francisco 1949.4 Im Gespräch mit Mark Tobey, Frank Lloyd Wright, Darius Milhaud, Gregory Bateson, George Boas und anderen unterschied Duchamp prinzipiell zwischen zwei künstlerischen Erfahrungsformen: einer auf Kategorien des Geschmacks basierenden Kunstwahrnehmung einerseits und der Erfahrung des »ästhetischen Echos«5 andererseits. ›Ästhetisches Echo‹ nannte Duchamp die sprachlich und rational nicht faßbare Anziehungskraft eines Kunstwerks. Die Erlebnisstruktur des ›ästhetischen Echos‹ verglich er mit der Psychologie eines verliebten Menschen oder eines Gläubigen, der sein forderndes Ich aufgibt und sich bereitwillig einem geheimnisvollen Zwang unterwirft. Ganz anders der auf der Affirmation sozialer Konventionen basierende Geschmack, der Duchamp zufolge keine ästhetische, sondern lediglich eine sinnliche Emotion erzeugt.6 Duchamp suchte mit der Idee des ›ästhetischen Echos‹ die Erfahrung des Außerordentlichen, Ungewöhnlichen, Seltenen in der Kunst zu benennen.7 Anders als das Schöne erklärt, integriert und vereinheitlicht das ›ästhetische Echo‹ nicht bestehendes Wissen. Es transzendiert alle bekannten Erfahrungen und ereignet sich deshalb als Schock.8 Insofern die Begegnung mit ihm vorübergehend Verstand und Urteilsvermögen außer Kraft setzt, ähnelt dieses Konzept auf eigentümliche Weise dem ästhetischen Begriff des Erhabenen (le sublime), den Guillaume Apollinaire in den Jahren von Duchamps künstlerischer Selbstfindung 1911 bis 1914 zur Rechtfertigung der Malerei des Kubismus ins Spiel gebracht hatte.9 Dem Anti-Pathetiker Vgl. Abject Art – Repulsion and Desire in American Art, Ausstellungskatalog Whitney Museum, New York 1993, und Winfried Menninghaus: Ekel, Frankfurt/M. 2002. 4 Vgl. The Western Round Table on Modern Art, San Francsico, 1949, in: West Coast Duchamp, ed. by Bonnie Clearwater, Miami Beach 1991, 106–114. – Duchamp war damals 62 Jahre alt. 5 Ebd., 110. 6 Ebd. 7 »Ich denke an das Ungewöhnliche, das Rare, an das, was ich als höhere Ästhetik bezeichnen möchte«. Duchamp in Pierre Cabanne: Gespräche mit Marcel Duchamp, Köln 1972, 104. 8 Ebd., 110. 9 Vgl. Guillaume Apollinare: Les peintres cubistes – Méditations esthétiques, Paris 1913 (deutsch: Die 3

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Duchamp verbot sich jedoch die Verwendung dieses Begriffs, da ihm die Sprache der »ästhetischen Ekstatiker«10, zu denen er auch Apollinaire zählte, zuwider war. Es ist zu vermuten, daß er die Metapher des ›ästhetischen Echos‹ geradezu erfunden hat, um Apollinaires Kategorie des Erhabenen zu vermeiden. Duchamps Ästhetik ist tief in der französischen Romantik verwurzelt.11 Mehrfach hat er zum Ausdruck gebracht, daß es mit Ausnahme des symbolistischen Künstlers Odilon Redon nicht Maler, sondern Schriftsteller waren, die ihm seit 1912 als Vorbilder gedient hatten: in erster Linie Jules Laforgue, Alfred Jarry, Raymond Roussel und Stéphane Mallarmé.12 Duchamps von den hermetischen und esoterischen Prinzipien der spätsymbolistischen Poetik geprägte Kunstauffassung stand in krassem Gegensatz zu der neuen, nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA sich herausbildenden sozialen und ökonomischen Realität der Kunst. Wie für Mallarmé, so war auch für Duchamp das Kunstwerk ein spirituelles Gebilde, das sich der einfachen Verstehbarkeit zu entziehen hatte und dessen einziger Existenzgrund darin bestand, in geistige Dimensionen vorzudringen, die das rationalistische Denken nicht kannte und von deren Existenz dieses nicht einmal etwas ahnte.13 Anders jedoch als bei Mallarmé hatte das Wort ›spirituel‹ bei Duchamp keinen mystischen Beiklang, auch keinen verborgenen. Er benutzte dieses Wort, um jene Seite des Menschen zu beschreiben, die »wichtig, aber nicht materiell oder rational ist«14. Und da diese die dunkle Seite des Menschen ist, war künstlerisches Handeln für Duchamp wesensgemäß eine esoterische Tätigkeit,15 wobei Esoterik nicht unbedingt etwas mit Alchimie oder den klassischen hermetischen Schriften zu tun haben mußte. Duchamps Esoterik ist keine mystische Geheimlehre, sondern ein Ensemble künstlerisch-ästhetischer Praktiken, die das rationalistische und funktionalistische Denken und Handeln an Grenzen heranführt, an denen das Unfaßbare, das NichtWissen, das Geheimnis in Erscheinung tritt, Erfahrungsinhalte, ohne die eine Erfahrung des ›ästhetischen Echos‹ unmöglich ist. Im folgenden werde ich deutlich zu machen versuchen, daß es nicht alchemistisch-hermetische, sondern wissenschaftliMaler des Kubismus – Ästhetische Mediationen, Frankfurt/M. 1989), 18 und passim. Vgl. auch Apollinaire zur Kunst – Texte und Kritiken 1905–1918, hg. von Hajo Düchting, Köln 1989, 49 und passim. 10 Marcel Duchamp – Notes, hg. von Paul Matisse, Paris 1980, Nr. 41. 11 Vgl. Michel Sanouillet: Marcel Duchamp and the French Intellectual Tradition, in: Marcel Duchamp, ed. by Anne d’Harnoncourt and Kynaston McShine, New York and Philadelphia 1973, 47–55. 12 Vgl. Marcel Duchamp. Interviews und Statements, gesammelt, übersetzt und annotiert von Serge Stauffer, Stuttgart 1991, 38. 13 Zur Bedeutung Mallarmés für Duchamp siehe ebd., 38; Marcel Duchamp – Duchamp du signe – Ecrits, publ. par Michel Sanouillet, Paris 1975, 174; Ocativo Paz: Das Schloß der Reinheit, in: ders.: Nackte Erscheinung – Das Werk von Marcel Duchamp, Frankfurt/M. 1991, 9–92. 14 Duchamp zitiert nach Laurence S. Gold: A Discussion of Marcel Duchamp’s Views on the Nature of Reality and Their Relation to the Course of His Artistic Career, Senior Thesis, Princeton University, May 1958, 67. 15 Vgl. Georges Charbonnier: Entretiens avce Marcel Duchamp, Marseille 1995, 15.

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che und wissenschaftsphilosophische Konzepte seiner Zeit waren, auf die Duchamp zurückgegriffen hat, um den Sinn für die verborgene Seite des Sichtbaren in der Kunst zurückzugewinnen. Ich werde mich dabei auf die beiden ersten dreidimensionalen Readymades beschränken: die 1913 beziehungsweise 1914 in Paris entstandenen Objekte Fahrrad-Rad und Flaschentrockner. Zur Rezeptionsgeschichte der Readymades – Das Atelier als experimenteller Ort zur Entgrenzung des Kunstbegriffs Die Entscheidung für eine werkgenetische und produktionsästhetische Perspektive auf diese Gründungswerke eines entgrenzten Kunstbegriffs bringt es mit sich, daß ich auf ihre komplexe Wirkungsgeschichte hier nicht ausführlich eingehen kann. Doch eines gilt es in aller Deutlichkeit festzuhalten: Der in der Kunstgeschichte geradezu kanonische Lehrsatz, Duchamp habe die Readymades in den Jahren 1913 bis 1921 ausgewählt, um sie in Kunstausstellungen auf Sockel zu heben und damit gegen den Elitismus einer vom alltäglichen Leben entfremdeten Kunst zu protestieren, gehört zu den mythischen Ansichten der Moderne. Er stimmt mit den historischen Tatsachen in keiner Weise überein. Denn bis auf zwei heute nicht mehr genau identifizierbare Readymades, die Duchamp 1916 zur Ausstellung in einer New Yorker Galerie eingereicht hat, sind diese Objekte in der Zeit ihrer Entstehung niemals ausgestellt worden.16 Ihr Ort war für mehr als zwei Jahrzehnte nicht die öffentliche Ausstellung in einer Galerie oder einem Museum, sondern das private Atelier des Künstlers, zuerst in Paris in den Jahren 1913 bis 1915, dann in New York von 1915 bis 192317 (Abb. 1 und 2, S. 128). Das Fahrrad-Rad von 1913 und den Flaschentrockner von 1914 hat Duchamp in seinem Pariser Atelier offenbar niemandem gezeigt;18 sie sind weder fotografisch noch schriftlich überliefert.19 Laut Katalog stellte Duchamp im April 1916 in der Exhibition of Modern Art der Bourgeois-Galleries in New York zwei Readymades aus. Vermutlich handelte es sich dabei um die Schneeschaufel In Advance of the Broken Arm (1915) und den Schreibmaschinenbezug ... pliant ... voyage (1916). Sie wurden von Duchamp im Eingang der Galerie im Schirmständer ausgestellt, wo sie niemand als zur Ausstellung gehörend bemerkt hat. Dementsprechend haben sie auch in den zahlreichen Rezensionen der Ausstellung keine Spuren hinterlassen. Vgl. Briefe an Marcel Jean von Marcel Duchamp, München 1987, 15 und 47. 17 Vgl. Martin Kunz: Marcel Duchamp – Wirkungsgeschichte des Readymades zwischen 1913 und 1919, Unveröffentlichte Lizentiatsarbeit an der Universität Basel, 1975, und Dieter Daniels: Duchamp und die anderen – Der Modellfall einer künstlerischen Wirkungsgeschichte in der Moderne, Köln 1992. 18 »Ich hatte nicht vor, einen Scherz zu machen, und so habe ich lange Zeit niemandem diese Arbeiten gezeigt«, erklärte Duchamp rückblickend. Zitiert nach Interviews und Statements (Anm. 12), 188. 19 Das erste indirekte Dokument ihrer Existenz ist ein Brief, den Duchamp Anfang Januar 1916 aus New York an seine Schwester Suzanne in Paris geschrieben hat. Siehe im Text weiter unten und Anm. 69. 16

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Die Situation änderte sich nach Duchamps Übersiedlung nach New York in der Mitte des Jahres 1915. Nicht nur fand Duchamp dort den Begriff ›Readymade‹ zur Bezeichnung dieser neuen Art ästhetischer Objekte, sondern diese genossen in dem avantgardistischen Künstler- und Schriftstellerkreis um Walter Arensberg auch eine gewisse Aufmerksamkeit.20 Sie hatten im wesentlichen zwei Funktionen: Entweder dienten sie als verspielte esoterische Geschenke an seinen Mäzen Arensberg21 und gelegentlich eine Freundin, oder sie fungierten als bizarre, alle gewohnten Ansichten auf den Kopf stellende Versuchsobjekte in Duchamps Atelierwohnung (Abb. 2, S. 128). Dort konnten sie von einer kleinen, ausgesuchten Gruppe von Künstlern und Künstlerinnen, die Duchamp in seiner Wohnung empfing, bestaunt werden.22 Der Flaschentrockner wurde 1936, also zweiundzwanzig Jahre nach seiner materiellen und geistigen Inbesitznahme durch Duchamp, zum ersten Mal öffentlich ausgestellt: in der Exposition surréaliste d’objets in der Pariser Galerie Charles Ratton (Abb. 3, S. 129). Mit dieser Ausstellung begann der Prozeß der Kanonisierung der Readymades als Kunst, der zwei Jahre später in dem anläßlich der Pariser Exposition internationale du Surréalisme erscheinenden Dictionnaire abrégé du Surréalisme lexikalisch festgeschrieben wurde. Darin wird das Readymade als »Gebrauchsgegenstand, der allein durch die Wahl des Künstlers in den Rang eines Kunstgegenstands erhoben wird«, definiert (»objet usuel promu à la dignité d’objet d’art par le simple choix de l’artiste«23). Diese Definition, als deren Autor die Sekundärliteratur häufig Marcel Duchamp zitiert, stammte aus der Feder André Bretons.24 Das erste Readymade, das 1913 konstruierte Fahrrad-Rad (Abb. 1, S. 128), mußte noch länger warten, bis es erstmals öffentlich gezeigt wurde. Dies geschah im Januar 1951, also achtunddreißig Jahre nach seiner Entstehung, in der Ausstellung Climax Siehe Francis M. Naumann: Walter Conrad Arensberg – Poet, Patron and Participant in the New York Avant-Garde, 1915–20, in: Philadelphia Museum of Art Bulletin 76 (1980), 1–32, und ders.: New York Dada 1915–1923, New York 1994, passim. 21 Die meisten Original-Readymades sind in der Sammlung von Louise und Walter Arensberg (heute im Philadelphia Museum of Art ) erhalten geblieben. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß sie meist mit komplizierten Inschriften versehen sind, die zu entschlüsseln Duchamp dem an der Kryptographie interessierten Sammler aufgegeben hatte. Vgl. Francis M. Naumann: Cryptography and the Arensberg Circle, in: Arts 51 (1977), 127–133, und Molly Nesbit and Naomi Sawelson-Gorse: Concept of Nothing – New Notes by Marcel Duchamp and Walter Arensberg, in: The Duchamp Effect, ed. by Martha Buskirk and Mignon Nixon, Cambridge, Mass., and London 1996, 131–175. 22 Dies waren im wesentlichen die Maler Man Ray, Jean Crotti, Joseph Stella, die Künstlerin Beatrice Wood und die befreundeten Sammler Henri-Pierre Roché, Walter-Conrad Arensberg und Katherine Dreier. 23 Dictionnaire abrégé du Surréalisme, Paris 1938, 23. 24 Breton hatte sie erstmals in seinem Essay Phare de la Mariée in der Zeitschrift Minotaure formuliert. Dort ist von den Readymades als »objets manufacturés promus à la dignité d’objets d’art par le choix de l’artiste« die Rede (Nr. 5, Dezember 1934, 46). Der Essay, der 1945 in Bretons Aufsatzsammlung zur bildenden Kunst Le Surréalisme et la peinture sowie in der DuchampSondernummer der amerikanischen Zeitschrift View wiederabgedruckt wurde, hat den frühen Readymade-Diskurs entscheidend bestimmt. 20

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in XX th Century Art: 1913 –1951 in der New Yorker Galerie Sidney Janis. Das dort ausgestellte Objekt war weder die 1913 in Paris konstruierte Urfassung noch die Replik, die Duchamp drei Jahre später in seinem New Yorker Atelier montiert hatte. Beide Fassungen, das Original von 1913 und die erste Replik von 1916, existierten 1951 nicht mehr. Sie waren bei Duchamps Umzügen jeweils auf dem Müll gelandet. Nach seiner Rückkehr nach Paris im Jahre 1923 hatte Duchamp das Interesse an diesem Objekt verloren, so daß er 1951, als ihn die Ausstellungsanfrage Sidney Janis’ erreichte, das Objekt mit Fahrradfelge erneut zusammenbauen mußte. Die zweite Replik von 1951 ist die älteste erhaltene Fassung des Fahrrad-Rades. Sie befindet sich heute im Museum of Modern Art, New York (Abb. 10, S. 133). Die meisten übrigen Readymades: die Trébuchet (Stolperfalle) betitelte Garderobe, die wir auf einem Atelierfoto Duchamps auf den Fußboden genagelt sehen (Abb. 1, S. 128), der Thonet-Kleiderhaken, der schlicht Readymade hieß (Abb. 2, S. 128), oder der ... pliant ... de voyage betitelte Schreibmaschinenbezug der Marke Underwood mußten noch sehr viel länger warten, bis sie das erste Mal das Licht der Öffentlichkeit erblickten, nämlich bis zur ersten Retrospektive auf Duchamps Werk im Pasadena Art Museum 1963 und zur Ausstellung Omaggio a Marcel Duchamp in der Mailänder Galleria Schwarz im darauffolgenden Jahr. Auch diese Werke traten zum ersten Mal als Repliken vor ein öffentliches Publikum, denn auch sie waren bei Duchamps Umzug von New York nach Paris 1923 auf dem Müll gelandet. Ein einziges Mal hatte Duchamp ein Readymade benutzt, um öffentlich die Toleranzgrenzen der künstlerischen Avantgarde New Yorks auszuloten. Zur ersten Ausstellung der Society of Independent Artists, zu deren Gründungs- und Vorstandsmitgliedern er gehörte, lieferte er 1917 unter dem Namen R. Mutt ein Pissoirbekken mit dem Titel Fountain ein. Obwohl die Statuten besagten, daß jedes Mitglied, das seinen Jahresbeitrag bezahlt hatte, das Recht auszustellen hatte – und der fiktive Richard Mutt hatte ordnungsgemäß bezahlt –, stimmte die Mehrheit des Direktoriums wegen mangelnder Originalität und übertriebener Obszönität gegen die Ausstellung dieses Werks. Duchamp und sein Mäzen Walter Arensberg traten aus dem Vorstand zurück und erregten damit in der Presse einen kleinen Skandal. Duchamp ließ es dabei nicht bewenden. Er machte daraus eine Affäre: The Richard Mutt Case, indem er ein Foto des Objekts (Abb. 4, S. 129) und die Debatte um dessen Kunstund Ausstellungswürdigkeit in der von ihm und seinen Freunden Henri-Pierre Roché und Beatrice Wood herausgegebenen Künstlerzeitschrift The Blindman veröffentlichte. Das von dem berühmten Fotografen und Avantgarde-Galeristen Alfred Stieglitz hergestellte Foto zeigt, wie Duchamp sich die Präsentation des Objekts gedacht hatte. Der Springbrunnen sollte nicht vertikal, sondern funktionsentfremdet um 90 Grad gekippt auf einen Sockel gestellt werden, und zwar so hoch, daß sich der Betrachter mit Auge und Nase auf einer Höhe mit dem Pissoirbecken befand.25 Zur Entstehungs- und Ausstellungsgeschichte von Fountain siehe William A. Camfield: Marcel Duchamp, Fountain, Houston 1989. Zur Diskussion des Objekts in The Blindman siehe Heinz Herbert Mann: Marcel Duchamp 1917, München 1999. 25

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In dem wahrscheinlich von den Herausgebern der Zeitschrift, Duchamp, Wood und Roché, gemeinsam formulierten Kommentar zur Affäre Richard Mutt treffen wir zum ersten Mal auf eine Beschreibung des dem Readymade zugrunde liegenden ästhetischen Verfahrens.26 Es ist zugleich die einzige bekannte Definition eines Readymades aus seiner Entstehungszeit. Wir lesen dort: »Es heißt, daß jeder Künstler, der seine sechs Dollar bezahlt hat, ausstellen darf. Herr Richard Mutt schickte einen Springbrunnen ein. Seine Einsendung verschwand ohne jede Diskussion und wurde niemals ausgestellt. Womit begründete man die Zurückweisung von Herrn Mutts Springbrunnen? 1. Die einen behaupten, er sei unmoralisch, vulgär. 2. Die anderen sagen, er sei ein Plagiat, ein einfaches Klempnerstück. Doch Herrn Mutts Springbrunnen ist nicht unmoralisch, das ist eine absurde Behauptung, er ist nicht unmoralischer als eine Badewanne. Er ist ein Installationsgegenstand, den man täglich in den Auslagen der Klempner sehen kann. Ob Herr Mutt den Springbrunnen mit seinen eigenen Händen hergestellt hat oder nicht, ist unwichtig. Er hat ihn AUSGEWÄHLT. Er hat einen gewöhnlichen Artikel genommen und so aufgestellt, daß seine nützliche Bedeutung hinter dem neuen Titel und unter dem neuen Gesichtspunkt verschwand – er hat einen neuen Gedanken für diesen Gegenstand geschaffen. Von Klempnerei zu sprechen, ist absurd. Die einzigen Kunstwerke, die Amerika hervorgebracht hat, sind seine sanitären Anlagen und seine Brücken«27. Duchamp und seine Co-Autoren negieren in ihrer Erklärung die Bedeutung der handwerklichen Ausführung zur Definition eines Kunstwerks. Diese könne im Zeitalter der industriellen Fertigung keine besondere Wertschätzung mehr für sich beanspruchen. Dagegen betonen sie die fortdauernde Gültigkeit der ›invenzione‹ als künstlerisches Kriterium. Das, was erlauben soll, den ungewöhnlichen Springbrunnen auf einer Ebene mit den eingereichten Gemälden und Skulpturen zu sehen, ist die künstlerische Tat, die dem Objekt einen geistigen Gehalt verleiht, ist die Erfindungskraft des Künstlers, der durch die Dislozierung (›neuer Gesichtspunkt‹) und Umbenennung (›neuer Titel‹) für den trivialen Gebrauchsgegenstand eine neue, jenseits seiner Nützlichkeit liegende Bedeutung gefunden hat. Nicht mehr die manuelle Gestaltung, die Formerfindung soll das Primat bei der künstlerischen Arbeit haben, sondern die Imagination, die Fähigkeit des Künstlers, die Welt neu und anders zu sehen. Das Pissoirbecken Fountain und seine fehlgeschlagene Ausstellung sind eine Ausnahmeerscheinung unter den Readymades. Mit der Affäre Richard Mutt kam die dadaistisch-ikonoklastische Seite der Readymades zu ihrer äußersten Entfaltung. Fountain kann jedoch keinesfalls als stellvertretend für alle Readymades betrachtet werden, wurden diese doch gerade nicht ausgestellt, mithin auch nicht ausgewählt, um die Kunstöffentlichkeit zu skandalisieren. Sie müssen für Duchamp einen anderen Existenzgrund und eine andere als die rein provokatorische Bedeutung gehabt 26 27

Zur Autorschaft dieses Editorials siehe Camfield, Fountain (Anm. 25), 37–39. The Richard Mutt Case, in: The Blind Man, Nr. 2, Mai 1917, nicht paginiert.

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haben. Da jedoch The Richard Mutt Case in den Jahren 1913 bis 1935 die einzige Veröffentlichung zum Readymade war, hat diese Aktion die Readymade-Rezeption bis in die heutigen Tage beherrscht. So entstand der in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts allenthalben anzutreffende Gedanke, das Readymade sei ein beliebiger Gebrauchsgegenstand, der zwecks Provokation des ›guten Geschmacks‹ in einer Ausstellung auf den Sockel der Kunst gehoben wird. Kaum eine Werkinterpretation der Moderne hat das zeitgenössische Kunstschaffen so nachhaltig beschädigt wie diese reduktionistische Perspektive auf die Readymades. Sie ist die Basis sowohl der institutionskritischen als auch der rezeptionsästhetischen Auseinandersetzung mit den Readymades. Während das Readymade in der institutionskritischen Theorie George Dickies als demaskierende Aktion gewertet wird, die immer aufs neue demonstriere, daß es allein die Kunstinstitutionen sind, die darüber entscheiden, was Kunst und nicht Kunst ist,28 wird es in der diskurs- und rezeptionstheoretischen Interpretation als die äußerst mögliche Realisierung des »offenen Kunstwerks«, als »reines Symbol«29, »Signifikant auf der Suche nach dem verlorenen Sinn«30, »dezidierte Nichtaussage« oder »universelle Projektionsfläche«31 begriffen, auf die der Betrachter/Interpret alle möglichen Bedeutungen projiziere, ohne daß entschieden werden könne, welche Bedeutung die richtige oder falsche sei oder welche der Intention Duchamps möglicherweise näher oder ferner stünde.32 Beiden Perspektiven ist die Auffassung gemeinsam, daß die phänomenale Erscheinung des jeweiligen Objekts, seine besondere Form, sein Material und die spezifische Art seiner Darbietung bedeutungslos sei. Die rezeptionsästhetische Betrachtung spricht stets von dem Readymade, so als seien die Unterschiede zwischen den einzelnen Readymades gleichgültig33 und als sei die Auswahl des jeweiligen Gegenstandes ein willkürlicher, vom Zufall diktierter Akt gewesen. Diese Annahme wird von einigen Autoren stillschweigend unterstellt, von anderen als Tatsache behauptet.34 Vgl. George Dickie: Aesthetics, NewYork 1971, 102 ff. Thierry de Duve: Pikturaler Nominalismus – Marcel Duchamp. Die Malerei und die Moderne, München 1987, 159 f. 30 Karlheinz Lüdeking: Ding – Gegenstand – Zeichen, in: Van Gogh – Malewitsch – Duchamp, hg. von Hans Matthäus Bachmayer, Dietmar Kamper und Florian Rötzer, München 1992, 253 f. 31 Daniels: Duchamp und die anderen (Anm. 17), 199. 32 Dieser Auffassung gemäß sollte es genügen, sämtliche Interpretationen eines Readymades zusammenzustellen, um seine Bedeutung zu erkennen. Für den Flaschentrockner liegt eine derartige Sammlung inzwischen vor. Vgl. Eric Erfurth: Marcel Duchamp – Flaschentrockner – Doxographie, Obernburg/M. 1997. 33 Dagegen hat Duchamp die Verschiedenheit der Readymades betont. Vgl. das Statement im Interview mit Otto Hahn (1966): »Jedes Readymade ist verschieden. Bei den dreißig oder fünfunddreißig Readymades findet man keinen gemeinsamen Nenner, außer daß sie manufakturiert sind«. Zitiert nach Interviews und Statements (Anm. 12), 206. 34 Vgl. Wilfried Dörstel: Augenpunkt, Lichtquelle und Scheidewand – Die symbolische Form im Werk Marcel Duchamps. Unter besonderer Berücksichtigung der Witzzeichnungen von 1907 bis 1910 und der Radierungen von 1967/78, Köln 1989, 158–163, und Daniels: Duchamp und die anderen (Anm. 17), 227 f. 28 29

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Wenn die Readymades ursprünglich nicht zum Ausstellen und Provozieren bestimmt waren, stellt sich die Frage: Welche Funktion und welchen Status hatten diese Objekte im Werk Duchamps? Wie kam es, daß Duchamp, anstatt weiter Bilder von Dingen auf Leinwand zu malen, von 1913 an die Dinge selbst als ›Bilder‹ begriff? Was ermöglichte ihm diese neuartige ästhetische Handlung, die mit einer historischen Verzögerung von einigen Jahrzehnten eine so revolutionäre Wirkung entfalten sollte? In einem Gespräch mit dem englischen Pop-Künstler Richard Hamilton, der 1966 in der Londoner Tate Gallery eine Duchamp-Retrospektive eingerichtet hat, erklärte Duchamp, er habe den Flaschentrockner nicht gekauft, um ihn auszustellen und damit einen Skandal zu machen, sondern »to answer some questions of my own – as a means of solving an artistic problem without the usual means or processes«35. Mit diesen »questions of my own« will ich mich im folgenden befassen. Sie lassen sich durch eine Analyse der veröffentlichten Schriften und hinterlassenen Notizen Duchamps relativ genau rekonstruieren.

Die Entstehung des Readymades aus der Theorie des vierdimensionalen Hyperraums Die Readymades waren das Nebenprodukt eines großen malerischen Projekts: der Arbeit an dem großformatigen Bild auf Glas La Mariée mise à nu par ses Célibataires, même (Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar) (Abb. 5, S. 130). 1912 hatte der damals fünfundzwanzig Jahre junge Maler den kühnen Entschluß gefaßt, es den großen Meistern der abendländischen Malerei gleich zu tun und ein Bild zu malen, welches auf der Höhe der avanciertesten Gedanken seiner Zeit sein sollte.36 Um sich mit diesen vertraut zu machen, übernahm Duchamp 1913 eine Anstellung als Bibliothekar an der Pariser Bibliothèque Sainte-Geneviève und unternahm dort in seinen freien Stunden ausgiebige geometrische, philosophische, wissenschaftstheoretische und perspektivgeschichtliche Studien. Die vorgeschobenste Linie des Denkens markierten in jenen Jahren nicht nur für Duchamp, sondern für die meisten seiner Zeitgenossen die wissenschaftsphilosophischen Schriften des großen französischen Mathematikers Henri Poincaré: Wissenschaft und Hypothese (1902), Der Wert der Wissenschaft (1905) und Wissenschaft und Methode (1908), Werke, die auch in den wissenschaftstheoretischen Debatten der Gegenwart noch eine wichtige Rolle spielen.37 Bei der Lektüre dieser Bücher 35 Zitiert nach The Almost Complete Works of Marcel Duchamp, Ausstellungskatalog Tate Gallery, London 1966, 52. 36 Vgl. Herbert Molderings: Relativismus und historischer Sinn. Duchamp in München (und Basel ...), in: Marcel Duchamp, hg. vom Museum Jean Tinguely Basel, Basel 2002, 15–23. 37 Vgl. Henri Poincaré – Science et philosophie – Science and Philosophy – Wissenschaft und Philosophie, hg. von Jean-Louis Greffe, Gerhard Heinzmann und Kuno Lorenz, Berlin und Paris 1996;

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war Duchamp auf den neuen Raumbegriff der nicht-euklidischen und vierdimensionalen Geometrien gestoßen, welche den Absolutheitsanspruch der euklidischen Geometrie, die fünfhundert Jahre lang dem perspektivischen Raummodell der neueren europäischen Malerei zugrunde gelegen hatte, in Frage stellten.38 Das Ergebnis seiner Studien zum vierdimensionalen Raum ist in einer Sammlung von Notizen festgehalten, die Duchamp 1967, also ein Jahr vor seinem Tod, noch für wert befand, publiziert zu werden. Sie wurden als Faksimiles in einer weißen Plexiglasschachtel mit dem Titel Im Infinitiv in einer Auflage von 150 Exemplaren ediert (die in der Forschung sogenannte Weiße Schachtel )39 (Abb. 6, S. 131). Poincaré hatte in seinem Klassiker Der Wert der Wissenschaft die Bestimmung der Anzahl von Dimensionen eines Kontinuums auf dem Begriff des Schnittes aufgebaut. »Um den Raum zu teilen, braucht man Schnitte, die man Flächen nennt«, konstatierte er. »Um die Flächen zu teilen, braucht man Schnitte, die man Linien nennt; um die Linien zu teilen, braucht man Schnitte, die man Punkte nennt; man kann nicht weitergehen, und ein Punkt kann nicht geteilt werden.«40 Duchamp übernahm Poincarés Definition der Dimensionen als Schnitte und entwickelte sie nach allen möglichen Seiten, um eine Antwort auf die Frage zu erhalten: Wenn der dreidimensionale Raum ein Schnitt durch ein vierdimensionales Kontinuum ist, wie ist dann dieses vierdimensionale Raumkontinuum künstlerisch darstellbar? Daß dessen Darstellung nicht nur möglich, sondern sogar eine Leichtigkeit sein sollte, hatte der berühmte Mathematiker bereits in Wissenschaft und Hypothese behauptet41: »So wie man auf einer Leinwand die Perspektive einer dreidimensionalen Figur zeichnen kann, so kann man auch die Perspektive einer vierdimensionalen Figur auf eine drei- (oder zwei-) dimensionale Leinwand zeichnen. Das ist für den Geometer nur ein leichtes Spiel.« Obwohl ein leichtes Spiel, hat Poincaré selbst es nie praktiziert. Rein mathematisch gesehen ist diese Operation in der Tat ein leichtes Spiel. Schwierig wird es allerdings, wenn diese Konzeption auf das Gebiet der darstellenden Geometrie übertragen werden soll. Poincaré hat in keinem seiner Bücher einen Hinweis darauf gegeben, wie diese vierdimensionale Perspektive auf einer zwei- oder dreidimensionalen Leinwand denn aussehen könnte. Dazu müßte man wissen, wie die dreidimensionale Welt in der Perspektive einer vierdimensionalen Wahrnehmung erscheint. Renate Huber: Einstein und Poincaré – Die philosophische Beurteilung physikalischer Theorien, Paderborn 2000. 38 Vgl. Linda D. Henderson: The Fourth Dimension and Non-Euclidean Geometry in Modern Art, Princeton 1983, 177 ff., und Craig E. Adcock: Marcel Duchamp’s Notes From the ›Large Glass‹ – An N-Dimensional Analysis, Ann Arbor 1983, sowie ders.: Conventionalism in Henri Poincaré and Marcel Duchamp, in: Art Journal (Herbst 1984), 249–58. 39 A l’Infinitif, Schachtel mit 79 faksimilierten handschriftlichen Texten (englische Übersetzung von Cleve Gray), New York 1967. Deutsch in: Marcel Duchamp – Die Schriften, I, hg. von Serge Stauffer, Zürich 1981, 121 ff. 40 Henri Poincaré: Der Wert der Wissenschaft, Leipzig 31921, 54. 41 Henri Poincaré: Wissenschaft und Hypothese, Leipzig 31914, 71.

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In seinem letzten großen Werk Wissenschaft und Methode hatte Poincaré seinen Optimismus in dieser Hinsicht deutlich eingeschränkt und einen Satz geschrieben, der von jedem Maler als unmißverständliche Warnung verstanden werden mußte: »Die sinnliche Anschauung hilft dem mathematischen Denken – via geometrische Analogien – nur bis zur dritten Dimension«. Unsere Sinne »lassen uns im Stich, sobald wir uns über die klassischen drei Dimension erheben wollen«.42 Dies wollte Duchamp offenbar nicht wahrhaben. Seine Notizen aus den Jahren 1913 bis 1915 zeigen, wie hartnäckig er daran arbeitete, sich die geometrischen Beziehungen in einem vierdimensionalen Raum vorzustellen. »Der junge Duchamp ist besessen von der 4. Dimension«43, schrieb Gertrude Stein 1913 nach ihrer ersten Begegnung mit dem Künstler an eine Freundin in New York. Duchamp glaubte eine Lösung auf analogischem Wege finden zu können, indem er gedanklich eine Dimension hinabstieg und die Strukturen der drei- und der zweidimensionalen Wahrnehmung einer flächigen Welt miteinander verglich. Dies war nichts Neues. Edwin Abbott hatte in seiner populären Science-FictionErzählung Flatland 44 von 1884 (auf die sogar Poincaré Bezug genommen hatte) auf humorvolle Weise über die Wahrnehmungsstruktur sogenannter ›Flachwesen‹, die in der Fläche leben, spekuliert sowie darüber, welche Geometrie diese auf der Basis ihrer Wahrnehmungen wohl konstruieren würden. ›Flachwesen‹ sehen beispielsweise eine Linie in der Fläche nicht als Linie, sondern als Mauer. Um die Linie in ihrem Raumkontinuum zu lokalisieren, müssen sie um diese herumgehen, Länge und Winkel in Beziehung zu anderen Punkten und Linien messen und diese in eine gedankliche Konstruktion des Raumes integrieren. Anders dreidimensional begabte Raumwesen: Sie haben einen Gesamtüberblick über das flächige Kontinuum und sehen daher die Linie gleichzeitig von allen Seiten her. Wie das dreidimensionale Auge eine Linie in der Fläche nicht als undurchdringliche Mauer wahrnimmt, so wird das vierdimensionale Auge, vermutet Duchamp, einen dreidimensionalen Festkörper nicht als ein geschlossenes, undurchdringliches Hindernis erblicken, sondern gleichzeitig von allen Seiten und als transparenten Gegenstand. Das Kennzeichen einer vierdimensionalen Wahrnehmung der dreidimensionalen Welt ist die ›Transparenz‹. »Der 4 dmsl. Eingeborene«, heißt es in einem langen Text in der Weißen Schachtel, »der diesen 4 dimens. symmetrischen Körper wahrnimmt, wird von einem Teil zum zweiten Teil übergehen, indem er den mittleren 3d Raum augenblicklich durchquert – Man kann sich diese augenblickliche Durchquerung Henri Poincaré: Wissenschaft und Methode, Leipzig 1914, 32. Zitiert nach Henderson: Fourth Dimension (Anm. 38), 130. 44 Edwin A. Abbott: Flatland – A Romance of Many Dimensions, London 1884. Deutsch: Flächenland – Ein mehrdimensionaler Roman, Stuttgart 1982. – Zu Duchamps Inspirationsquellen gehörte ebenso der Science-Fiction-Roman Gaston de Pawlowskis Voyage au Pays de la Quatrième Dimension, Paris 1912. Vgl. dazu Cabanne: Gespräche (Anm. 7), 52, Henderson: Fourth Dimension (Anm. 36), 118–120, und Herbert Molderings: Fahrrad-Rad und Flaschentrockner. Marcel Duchamp als Bildhauer, in: Marcel Duchamp Respirateur, Schwerin und Ostfildern 1995, 133 f. 42 43

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eines 3d Raumes vorstellen, indem man sich an gewisse Effekte von 3-teiligen Spiegeln erinnert, in welchem die Bilder hinter neuen Bildern verschwinden.«45 Im Kontext solcher Überlegungen findet sich die Begründung für die Ersetzung der Leinwand durch Glas als Bildträger des Gemäldes Die Braut von ihren Junggsellen nackt entblößt, sogar. – Ein erster Entwurf dieser modernen sexuellen Allegorie hatte das Bild noch traditionell als Gemälde auf Leinwand vorgesehen.46 – »Aus der 2dimensionalen Perspektive, die den Schein des 3-dimensionalen Kontinuums gibt, eine Perspektive von 3 Dimensionen (oder vielleicht von 2 Dimens.) dieses 4-dim. Kontinuums konstruieren.«47 »Das durchsichtige Glas und den Spiegel verwenden für die Perspektive 4«48, notierte er sich damals.49 Um eine Lösung dieses Darstellungsproblems zu finden, mußte er erneut gedanklich eine Stufe hinabsteigen. Er begann die in der Bibliothèque Sainte-Geneviève vorhandenen klassischen Perspektivtraktate zu studieren: Methoden der geometrischen Projektion dreidimensionaler Körper auf eine zweidimensionale Fläche.50 Dabei stieß er auf Jean Du Breuils reich illustrierten Traktat La perspective pratique nécessaire à tous les peintres von 1649, der fortan zu einer der wichtigsten und nachhaltigsten Inspirationsquellen seiner künstlerischen Arbeit werden sollte.51 Das Studium von Du Breuils Illustrationen des Gebrauchs der Glastafel- und Liniennetzapparate, bewährter Hilfsmittel des perspektivischen Zeichnens, brachte Duchamp die Bedeutung des Fensters als dem klassischen Paradigma der perspektivischen Weltanschauung zu Bewußtsein (Abb.7, S. 131). Von einer perspektivischen Raumdarstellung, schrieb Erwin Panofsky mit Bezug auf Leon Battista Albertis Traktat Della pittura von 1435, sprechen wir dort, »wo sich das ganze Bild [...] gleichsam in ein ›Fenster‹ verwandelt hat, durch das wir in den Raum hindurch zu blicken glauben sollen – wo also die materielle Mal- oder Relieffläche, auf die die Formen einzelner Figuren oder Dinge zeichnerisch aufgetragen oder plastisch aufgeheftet erscheinen, als solche negiert ist und zu einer bloßen ›Bildebene‹ umgedeutet wird, auf die sich ein durch sie hindurch erblickter und alle Einzeldinge in sich befassender Gesamtraum projiziert – wobei es nichts verschlägt, ob Duchamp du signe (Anm. 13), 133 f. Vgl. Duchamp – Schriften (Anm. 37), 42. 47 Ebd., 167. 48 Ebd., 148. 49 Unter den posthumen Notizen fand sich die Überlegung: »Exécuter un tableau sur verre tel qu’il / n’ait ni face, ni revers; ni haut, ni / bas / – pour servir probablement de / moyen physique tridimensionel dans / une perspective 4 dimensionelle«. Duchamp – Notes (Anm. 10), Nr. 67. 50 Vgl. Jean Clair: Thaumaturgus opticus, in: ders.: Sur Marcel Duchamp et la fin de l’art, Paris 2000, 63–133. 51 Wahrscheinlich konsultierte er die dreibändige, in der Bibliothèque Sainte-Geneviève vollständig vorhandene zweite Auflage des Traktats von 1663. – Der Einfluß von Du Breuils Traktat läßt sich noch in Duchamps letztem großen Werk, der Installation Étant donnés: 1o la chute d’eau 2o le gaz d’éclairage (1946–1966) nachweisen. Vgl. Herbert Molderings: Un cul-de-lampe: Réflexions sur la structure et l’iconographie d’»Étant donnés«, in: Étant donné Marcel Duchamp 3 (2001), 92–111. 45 46

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diese Projektion durch den unmittelbar sinnlichen Eindruck oder durch eine mehr oder minder ›korrekte‹ geometrische Konstruktion bestimmt wird«.52 Leonardo hatte das Gemälde in eben diesem Sinne als eine ›parete di vetro‹53 (Glaswand) definiert. Duchamp, ein konkreter und dialektischer Denker, hatte bemerkt, daß das perspektivisch konstruierte Gemälde zwar eine Art Fenster auf eine imaginäre Realität darstellt, zugleich aber stets den Blick auf den unmittelbaren realen Raum verstellt. Indem er für die Darstellung seiner fiktiven Liebesmaschine Glas als Projektionsebene wählte, interpretierte er die Gemäldedefinition Leonardos buchstäblich und verwandelte die virtuelle Schnittebene durch die Strahlen der Sehpyramide, die jedem perspektivischen Gemälde als unsichtbare Ebene inhärent ist, in eine materielle, taktile und widerspiegelnde Ebene, eine reale Glaswand. Ein Gemälde zeigt stets einen anderen Raum als den, in dem der Betrachter steht. Indem Duchamp die opake Bildfläche durchsichtig machte, gelang es ihm, den imaginären Darstellungsraum auf der Fläche in den Realraum des Betrachters zu integrieren. Beim Blick auf und durch die Glasscheibe vermischt sich der statische, perspektivisch konstruierte virtuelle Raum auf der Bildfläche mit den durch das Kommen und Gehen der Besucher ständig sich verändernden dreidimensionalen Raumteilen hinter und vor der Glaswand. Zugleich kann der Bildbetrachter in dem Glas durch eine wechselnde Einstellung des Blicks sich selbst beim Betrachten betrachten. Duchamp war sich in dem Moment offenbar sicher, eine sinnliche Entsprechung für die vierdimensionale Wahrnehmung gefunden zu haben. Die als hauchdünner Körper beziehungsweise als hauchdünner Raum verstandene Glastafel entspricht dem »mittleren Raum 3« in der eben zitierten Notiz, welcher von dem vierdimensionalen Blick »augenblicklich durchquert« wird, indem dieser »von einem Teil des 4-dimens. Kontinuums übergeht zum zweiten Teil«. Da Duchamp die »Braut« als eine Idee, als Inbegriff der sexuellen Phantasien der in der unteren Hälfte des Gemäldes versammelten »Junggesellen« konzipiert hatte, war ihr Ort die imaginäre vierte Dimension. Daher sollte sie auf dem zweidimensionalen Glasbild als Projektion eines vierdimensionalen Wesens in den dreidimensionalen Raum in Erscheinung treten. Man erkennt dieses ätherische Wesen in der linken oberen Hälfte des Großen Glases als Silhouette eines insektenhaften Formensembles (Abb. 5, S. 130). In den Gesprächen mit dem Pariser Kunstkritiker Pierre Cabanne von 1966 erklärte Duchamp seine Idee mit folgenden Worten54: Erwin Panofsky: Die Perspektive als ›symbolische Form‹, in: ders.: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. von Hariolf Oberer und Egon Verheyen, Berlin 1964, 99. 53 Vgl. Leonardo da Vinci – Sämtliche Gemälde und die Schriften zur Malerei, hg. von André Chastel, München 1990, 246: »Die Glaswand. Die Perspektive ist nichts anderes, als wenn man eine Szene hinter einem flachen und durchsichtigen Glas sieht, auf dessen Fläche alle Gegenstände aufgezeichnet sind, die sich hinter diesem Glas befinden: sie lassen sich durch Pyramiden zum Punkt des Auges hinführen und die Pyramiden werden von der genannten Glasfläche geschnitten«. 54 Cabanne: Gespräche (Anm. 7), 53. 52

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»Ich fand heraus, daß der Schatten eines dreidimensionalen Objekts eine zweidimensionale Form konstituiert – so wie ja die Sonne zweidimensionale Projektionen auf der Erde hervorruft – und schloß daraus, auf analogischem Weg, daß die Vierte Dimension ein Objekt mit drei Dimensionen projizieren könne, d. h. daß alle dreidimensionalen Gegenstände, die wir so arglos betrachten, Projektionen von uns unbekannten vierdimensionalen Formen sind«. Und verschmitzt fügte er hinzu: »Eine sophistische Argumentation zwar, aber immerhin im Bereich des Möglichen«. Einer Notiz in der Weißen Schachtel zufolge geht dieser Gedanke auf die Lektüre einer Abhandlung zur vierdimensionalen Geometrie von Esprit-Pascal Jouffret, den Traité élémentaire de la Géométrie à quatre dimensions et introduction à la Géométrie à n dimensions von 1903, zurück. »Der Schlagschatten einer vierdimensionalen Figur auf unseren Raum ist ein dreidimensionaler Schatten«, heißt es da. »Siehe Jouffret 4dimens. Geometrie, Seite 186, die drei letzten Zeilen«55. Alles, was in der dreidimensionalen Welt existiert, ist im Rahmen von Duchamps Spekulationen über eine vierdimensionale Raumordnung, die ›Projektion‹, die geometrische ›Abbildung‹ von unsichtbaren, in einer anderen Welt mit einer höheren Dimension existierenden Dingen. Da unsere Wahrnehmungsorgane auf drei Dimensionen beschränkt sind, ist dieses höher dimensionierte Kontinuum nur der Imagination zugänglich, also eine künstlerische Welt par excellence. Der Begriff der vierten Dimension, der Brennpunkt von Duchamps pseudowissenschaftlichen Spekulationen in den Jahren nach 1913, dient zur Bezeichnung dieser hypothetischen anderen Wirklichkeit. Alle Gegenstände sind Bilder von anderen, unsichtbaren Formenwelten, die selbst wieder Bilder sind. Denn auch die Welt »in der vierten Ausdehnung« ist nicht die wirkliche, wahre Welt. Gilt die Analogie für den Übergang von der zweiten in die dritte und von der dritten in die vierte Dimension, dann gilt sie ebenso für den Übergang von der vierten in die fünfte Dimension und so weiter ohne Ende. Die Überlegung: »Der Schlagschatten einer vierdimensionalen Figur auf unseren Raum ist ein dreidimensionaler Schatten« führt uns direkt zu den ersten Readymades. Seit der Antike hat der Schlagschatten eine wichtige Rolle bei der Formulierung der abendländischen Bildtheorie gespielt.56 Der Naturgeschichte 57 des Plinius 55 Duchamp – Schriften (Anm. 39), 151. Das vollständige Originalzitat lautet: »L’ombre portée d’une figure à 4 dimensions sur notre espace est une ombre à 3 dimensions (voy. Jouffret Géom. à 4 dim., page 186, 3 dernières lignes)«. Vgl. Duchamp du signe (Anm. 13), 127. 56 Vgl. Thomas Da Costa Kaufmann: The Perspective of Shadows: The History of the Theory of Shadow Projection, in: Journal of the Warburg & Courtauld Institute 38 (1975), 258–287; Michael Baxandall: Shadows and Enlightenment, New Haven & London 1995; Ernst Gombrich: Schatten – Eine Darstellung in der westlichen Kunst, Berlin 1996; Victor I. Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens, München1999; Roberto Casati: The Shadow Club – The Greatest Mystery in the Universe, New York 2003. 57 Plinius der Ältere: Historia naturalis/Naturkunde, XXXV, übersetzt von Roderich König und Gerhard Winkler, München 1978, 15.

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zufolge lag der Ursprung der Malerei in mythischen Zeiten, als zum ersten Mal der Schattenumriß eines Menschen mit Linien festgehalten wurde. Nachdem durch den Anstoß Leon Battista Albertis Reflexionen über die Schattenprojektion zum notwendigen Bestandteil jedes Malereitraktats geworden waren, entwickelte sich eine regelrechte Wissenschaft vom Schatten, die im 17. Jahrhundert in den Malereiund Perspektivunterricht an den Akademien integriert wurde.58 Die Rolle des Schlagschattens bekam in Duchamps ästhetischem Denken buchstäblich eine völlig neue Dimension, als er das dreidimensionale Raummodell der darstellenden Geometrie durch ein vierdimensionales ersetzte. So wie in der dreidimensionalen Raumvorstellung der von der Sonne projizierte Schlagschatten das flache, zweidimensionale Abbild eines dreidimensionalen Körpers ist, ist in der vierdimensionalen Raumvorstellung der von einer imaginären Lichtquelle geworfene Schlagschatten das dreidimensionale, skulpturale Abbild eines vierdimensionalen Kontinuums. In dieser gedanklichen Perspektive verwandelt sich folgerichtig jeder Körper, jeder Gegenstand in einen Schatten, eine Projektion, ein Bild von etwas anderem, Unsichtbarem. Auf einem kleinen Zettel notierte sich Duchamp damals einen Gedanken, der den Lauf der Kunstgeschichte im 20. Jahrhundert grundlegend verändern sollte59: »Jeder gewöhnliche 3-dim. Körper, Tintenfaß, Haus, Fesselballon ist die Perspektive, die von zahlreichen 4-dim. Körper auf das 3-dim. Milieu geworfen wird. Es gibt 3-dim. Körper, die perspektivischen Projektionen (der Domänen 4 auf 3) weniger entsprechen als andere. Man sollte diejenigen bestimmen / konstruieren, die die Projektion eines einzigen 4-dim. Körpers sind (4-dim. Perspektive)«. Aus diesem Gedankenspiel ging das Readymade hervor: die Idee, daß sich jeder Gegenstand als Ab-Bild, als n-1 dimensionale Projektion einer unsichtbaren n-dimensionalen Entität wahrnehmen läßt. In dem Augenblick, da Duchamp das traditionelle Verhältnis Schlagschatten zu Ding, das zu den Ursprungsmythen und Leitmetaphern der abendländischen Malerei gehörte, aus dem dreidimensionalen in ein vierdimensionales Raum-Modell übertrug, entwickelte er die gedanklich-spekulativen Voraussetzungen für einen Bruch mit der Malerei und die Begründung einer neuen Form der ästhetischen Erfahrung. Nun konnte er anstelle einer bildlichen Repräsentation der gegenständlichen Welt auf einer zweidimensionalen Fläche die unmittelbare ästhetische Erfahrung der gegenständlichen Wirklichkeit selbst als Representation, als Bild und Zeichen ins Auge fassen. Den eben zitierten, auf einem Notizblatt aus den Jahren 1913 bis 1915 überlieferten Gedanken finden wir auf dem Bild des Flaschentrockners veranschaulicht, das Siehe die von Duchamp konsultierten Lehrbücher La perspective pratique nécessaire à tous les peintres von Jean Du Breuil (Paris 1649, Paris 21663) und La perspective curieuse von Jean François Nicéron (Paris 1652). 59 Duchamp du signe (Anm. 13), 135. 58

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Duchamp 1936 mit großem Arbeitsaufwand – es hat zweifellos ebenso viel Zeit in Anspruch genommen wie das Malen eines Gemäldes – für seinen Oeuvrekatalog, die so genannte Boîte-en-Valise (Schachtel im Koffer)60 angefertigt hat61 (Abb. 8, S. 132). Die in fünf Druckgängen aufgebaute fotografische Reproduktion des Flaschentrockners dokumentiert nicht nur zum ersten Mal das Readymade selbst62, sondern zugleich die Art und Weise, wie sein Urheber es gesehen hat beziehungsweise wie er es gesehen haben wollte. Das Objekt erscheint auf diesem Bild ohne Standfläche, ohne Aufhängung, unter Vermeidung jedes raumdefinierenden Details. Auch mit Hilfe des prägnanten Schlagschattens ist die ungefähre Lage des Körpers im Raum nicht zu orten. Der Schatten erweist sich bei genauerer Betrachtung als falsch. Er ist die mit Hilfe einer Schablone gedruckte, direkte Wiederholung der Figur des Flaschenständers, die um einige Zentimeter nach unten versetzt ist. Die dadurch herbeigeführte Verwirrung der räumlichen Wahrnehmung provoziert die Frage: Was ist hier Schatten, was ist Abbild? Ist der dunkle Flaschentrockner der Schlagschatten des hellen oder ist der helle die Projektion des dunklen? Die Frage ist nicht zu beantworten, da Schatten- und Objektform identisch sind. Das komplizierte, aus mehreren Druck- und Retuschierpassagen zusammengesetzte Abbildverfahren, das Duchamp einsetzte, um diesen Effekt zu erzielen, macht deutlich, wie sehr ihm daran gelegen war, den Flaschentrockner als plastische Figuration eines Projektionsproblems verstanden zu wissen: in dem Sinne, daß jedes gewöhnliche dreidimensionale Objekt die »Apparition«63 einer unsichtbaren, komplexeren, höher dimensionierten Erscheinung ist.64 Um bei einem fremden Betrachter diese ungewöhnliche Sicht auch im Anblick des realen Flaschentrockners hervorzurufen, hat Duchamp in den sechziger Jahren vorgeschlagen, das Objekt bei Ausstellungen im Raum schwebend zu präsentieren (Abb. 9, S. 133 unten). Ein weiterer formästhetischer Aspekt verbindet dieses Objekt mit Duchamps Überlegungen zum vierdimensionalen Raum. In der vierdimensionalen Perspektive, spekulierte Duchamp, wird ein Festkörper »à l’embrasse circhyperhypovu«65, Vgl. Ecke Bonk: Marcel Duchamp – Die große Schachtel, München 1989, 232–234. Anders als im Falle des Fahrrad-Rades (roue de bicyclette) betitelte Duchamp den Flaschentrockner in der Boîte-en-Valise nicht Flaschentrockner, sondern Readymade. Vgl. ebd., 85. 62 Das unbearbeitete Foto war zuerst als Illustration des Artikels Coeurs Volants von Gabrielle Buffet in der Zeitschrift Cahiers d’Art im Frühjahr 1936 erschienen (42). Duchamp hatte es aus Anlaß der Exposition surréaliste d’objets in der Galerie Ratton von Man Ray anfertigen lassen. Das von den Cahiers d’Art produzierte Druckklischee benutzte er anschließend bei der Herstellung der ›manipulierten‹ Reproduktion in der Boîte-en-Valise. Vgl. ebd., 234. 63 Zum dimensionstheoretischen Kontext des Begriffs »Apparition« vgl. Duchamp – Schriften (Anm. 39), 143 ff. 64 Vgl. Herbert Molderings: Marcel Duchamp – Parawissenschaft, das Ephemere und der Skeptizismus, Frankfurt/M. und Paris 1983, 47 f., und ders.: Fahrrad-Rad und Flaschentrockner (Anm. 44), 137–142. 65 Duchamp du signe (Anm. 13), 126. 60 61

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er wird also zugleich in »Rundum-Unter-und-Auf-Sicht um- bzw. erfaßt«. Das Charakteristikum der vierdimensionalen Perspektive ist folglich, daß ein dreidimensionaler Gegenstand im vierdimensionalen Kontinuum stets als transparentes Ganzes wahrgenommen wird.66 Derartige Gedanken waren es, die ihn bei der Ausarbeitung des Großen Glases im Jahre 1914 fast täglich beschäftigten, als sich sein Blick bei einem Einkaufsbummel im Pariser Kaufhaus BHV zufällig auf die eigentümlich transparente geometrische Gestalt eines Flaschentrockners heftete. Das triviale Haushaltsgerät mit seinen fünfzig senkrechten Zapfen, dessen Design durch die Funktion des Flaschentrocknens bestimmt war, erschien Duchamp als Echo seiner Spekulationen über die Struktur des vierdimensionalen Blicks. Die Wahl dieses Objekts verdankte sich also keineswegs dem Zufall, wie dies als Auswahlprinzip für die Readymades in der DuchampLiteratur immer wieder behauptet wird.67 Das der Auswahl des Flaschentrockners als Readymade zugrunde liegende vierdimensionale Schlagschatten-Theorem hat Duchamps ästhetisches Denken so nachhaltig geprägt, daß er noch Jahrzehnte später jedes seiner Werke »als n-1 dimensionale Projektion einer n-dimensionalen Form charakterisierte«68, eine Definition, die implizierte, hinter der sichtbaren Form des trivialen Objekts beziehungsweise Bildes stets die unsichtbare Idee zu suchen.

Das ›Fahrrad-Rad‹ von 1913 und die Dimensionserzeugung durch Rotation Als Duchamp 1913 in seinem Pariser Atelier eine Fahrradfelge kopfüber auf einen Schemel montierte und im Jahr darauf den Flaschentrockner zu einem ›Werk‹ machte, gab es weder den Begriff ›Readymade‹ noch einen anderen kunstkritischen Fachausdruck für diese Art des künstlerischen Vorgehens. Den Begriff ›Readymade‹ zur Bezeichnung dieser Objekte fand Duchamp erst in New York am Ende des Jahres 1915. Das Wort ›ready-made‹ bedeutet ›fertig zum Gebrauch‹, es dient in der Hauptsache zur Bezeichnung industriell gefertigter Produkte, von Gegenstän-

»Das 3dimsl. Objekt, im 4dimsl. Kontinuum gesehen, wird als Ganzes wahrgenommen«, heißt es in einer weiteren Notiz. Duchamp – Schriften (Anm. 39), 153. 67 Vgl. Anm. 34. Die These von der Beliebigkeit der Auswahl eines Readymades hat sich auch lexikalisch niedergeschlagen. Vgl. das Oxford Dictionary of Art (Oxford 1997), in welchem das Readymade definiert wird als »a mass-produced article selected at random and displayed as a work of art« (Hervorhebung H.M.). 68 Zitiert nach Lawrence D. Steefel, Jr.: The Art of Marcel Duchamp, in: The Art Journal XXII (1962), 72. Ein Gespräch mit Duchamp aus dem Jahre 1956 zitierend, stellt der Autor fest: »He has characterized his work as being the n-1 dimensional projection of an n dimensional form. With characteristic irony, he argues, that, if two-dimensional shadows are cast by three-dimensional objects, three-dimensional objects may well be shadwos of fourth-dimensional forms. The locus of this fourth-dimensional world is unspecified.« 66

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den also, die nicht auf individuelle Bestellung hergestellt, sondern vom Käufer fertig vorgefunden werden. In welcher Kategorie hat Duchamp das Fahrrad-Rad und den Flaschentrockner in den Jahren 1913/14 in Paris gedacht und erdacht, wenn es damals weder den Begriff noch die Theorie des Readymades gab? Daß er die beiden Werke keineswegs rein vorbegrifflich geschaffen hat, sondern sie durchaus zu benennen wußte, beweist ein Brief, den er am 15. Januar 1916 aus New York an seine Schwester Suzanne in Paris geschrieben hat. Im Juli des Jahres endete der Mietvertrag für sein Atelier in der rue Saint-Hippolyte. Er schlägt der Schwester vor, das Atelier zu übernehmen und schreibt ihr in diesem Zusammenhang: »Wenn du also zu mir hochgestiegen bist, dann hast du in meinem Atelier ein Fahrrad-Rad und einen Flaschentrockner gesehen. – Ich hatte sie als fertig vorgefundene Skulptur (sculpture toute faite) gekauft«.69 Dieser Brief macht deutlich, daß Duchamp die beiden ersten dreidimensionalen Readymades als Skulpturen begriffen hat. Fahrrad-Rad und Flaschentrockner konnten 1913/14 in keiner anderen künstlerischen Kategorie konzipiert werden als der der Skulptur.70 Das erste Readymade avant la lettre, das 1913 montierte Fahrrad-Rad, ist jedoch keineswegs ›toute faite‹ (Abb. 1, S. 128 und 10, S. 133). Anders als im Falle des Flaschentrockners handelt es sich um das Resultat einer mechanischen Bastelarbeit, bestehend aus einer Felge, einer geraden Gabel71 und einem Hocker. Es ist offenkundig, daß in dieser Konstruktion, der ersten kinetischen Skulptur des 20. Jahrhunderts, die Idee der Bewegung, um deren malerische Wiedergabe Duchamp sich zuvor zwei Jahre lang bemüht hatte,72 die Form eines dinghaften skulpturalen Aufbaus angenommen hat. Ihre Erfindung ist nicht denkbar ohne das Technische Manifest der futuristischen Skulptur von April 1912, in dem Umberto Boccioni nicht nur die Zerstörung der »rein literarischen und traditionellen Vornehmheit des Marmors und der Bronze«73 69 »Maintenant si tu es montée chez moi tu as vu dans l’atelier une roue de bicyclette et un porte bouteilles. – J’avais acheté cela comme une sculpture toute faite«. Affectt Marcel – The Selected Correspondence of Marcel Duchamp, ed. by Francis M. Naumann & Hector Obalk, London 2000, 43. 70 Siehe dazu ausführlich Molderings: Fahrrad-Rad und Flaschentrockner (Anm. 44), 119 ff. 71 Über das genaue Aussehen des Objekts im Jahre 1913 ist nichts bekannt. Erst die New Yorker Replik von 1916 ist fotografisch überliefert. Sie hatte im Gegensatz zur zweiten Replik von 1951 nicht eine gebogene, sondern eine gerade Gabel (vgl. Abb. 1), was insofern ungewöhnlich ist, als die Fahrräder schon seit längerem keine geraden Gabeln mehr besaßen – es sei denn, Duchamp hat einen Teil der Hinterradgabel benutzt! Das Problem der geraden Gabel ist Gegenstand eines Internet-Artikels von Rhonda Roland Shearer: Why is Marcel Duchamp’s Bicycle Wheel Shaking on its Stool?, in: www.artscienceresearchlab.org. 72 Vgl. Herbert Molderings: Film, Fotografie und ihr Einfluß auf die Malerei in Paris um 1910. Marcel Duchamp – Jacques Villon – Frank Kupka, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch XXXVII (1975), 247–286, und Jean Clair: La boîte magique, in: ders.: Sur Marcel Duchamp et la fin de l’art, Paris 2000, 177 ff. 73 Zitiert nach Umbro Apollonio: Der Futurismus, Köln 1972, 66–73.

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in der Skulptur und deren Ersetzung durch industrielle Materialien wie Holz, Glas und Eisen, sondern ebenso bereits die Herstellung mechanisch bewegter Skulpturen gefordert hatte. Auf die Beziehung des Fahrrad-Rades zur futuristischen Ästhetik kann ich an dieser Stelle nicht näher eingehen,74 ebensowenig wie auf mögliche Anregungen zu dieser Konstruktion durch physikalische Demonstrationsobjekte. Wichtig ist es festzuhalten, daß Duchamp trotz aller Nähe zum futuristischen Denken das Fahrrad-Rad nicht als Kunstwerk im Sinne des Technischen Manifests der futuristischen Skulptur verstanden und es folglich auch nicht ausgestellt hat. Die Konstruktion der sich auf einem Sockel drehenden Felge entstand wie der Flaschentrockner als privates Versuchsgerät eines experimentellen bildnerischen Denkens und hatte ihren Ort allein in seinem Atelier. Während die Wahl des Flaschentrockners als pseudo-geometrisches Modell sich mit der Transparenz-Struktur der hypothetischen vierdimensionalen Wahrnehmung in Duchamps Notizen erklären läßt, kann das Fahrrad-Rad als Echo seiner Spekulationen über das geometrische Prinzip der Dimensions-Erzeugung durch Rotation gedeutet werden. Ein ganzes Heft in der Weißen Schachtel, The Continuum betitelt und angefüllt mit Dutzenden von Notizen und Skizzen, handelt von der Frage der Erzeugung eines vierdimensionalen virtuellen Raumes durch Rotation. Jeder weiß aus eigener Anschauung, daß die Rotation einer Linie um einen festen Punkt das Bild einer kreisförmigen Fläche erzeugt. Würde man eine kreisförmige Fläche wiederum, etwa eine Fahrradfelge, schnell um eine vertikale Achse rotieren lassen, entstünde das Bild eines dreidimensionalen Volumens, einer Kugel. Soweit befinden wir uns noch ganz auf dem sicheren Boden einer durch Experiment überprüfbaren Geometrie. Der französische Physiologe Etienne-Jules Marey hatte derartige Experimente ›chronofotografisch‹ festgehalten und in seinem Buch Le mouvement von 1892 abgebildet. Auf einer der Zeitaufnahmen in diesem Buch – Duchamp hatte auf dieses Werk bereits beim Malen des Akts, eine Treppe herabsteigend in den Jahren 1911/12 zurückgegriffen –, sieht man beispielsweise, wie die auf einer einzigen Platte in schnellen Abständen aufgenommenen Momente eines rotierenden Fadens das virtuelle Volumen eines Zylinders erzeugen; auf einem anderen Bild erkennt man die Erzeugung des virtuellen Bildes einer Kugel durch die Rotation eines weißen metallischen Halbkreises.75 Duchamp jedoch treibt das geometrische Prinzip der Dimensionserzeugung durch Rotation weiter in einen rein spekulativen Bereich. Erzeugt die Kreisbewegung einer Linie eine Fläche, die einer zweidimensionalen Fläche einen dreidimensionalen Körper, dann müßte, so schließt er auf analogischem Wege, die Rotation eines dreidimensionalen Raumes – um eine unbewegliche, starre zweidimensionale Fläche – ein vierdimensionales Kontinuum erzeugen.76 Doch kommt er nicht umZur Bedeutung der futuristischen Ästhetik für die Genese dieses Objekts vgl. Molderings: Fahrrad-Rad und Flaschentrockner (Anm. 44), 122–130. 75 Vgl. Jean Clair: Duchamp et la photographie, Paris 1977, 99 und 101. 76 Vgl. Duchamp – Schriften (Anm. 39), 156–159 und 170 (Skizze). 74

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hin, sich einzugestehen, daß diese Überlegung eine reine Abstraktion ist, da sie in der physikalischen Welt nicht überprüft werden kann. In einem der zentralen Texte der Weißen Schachtel zur Dimensionserzeugung durch Rotation konstatiert er77: »Ein endliches Kontiunuum von 4 Dim. wird also durch ein endliches Kontinuum von 3 Dimensionen erzeugt, das [...] um ein endliches Scharnier von 2 Dimensionen rotiert. [...] Aber das Wort drehen muß hier seinen physikalischen Sinn verlieren, denn es ist klar, daß wenn wir diesen ebenen Schnitt auf einer beliebigen Achse rotieren lassen, wir nur Kontinua von 3 Dimensionen erzeugen«. Duchamp ist zu sehr Cartesianer, zu sehr Rationalist, um dem Einwand gegen seine Spekulationen ausweichen zu können: »Welches ist der Sinn des Wortes 4. Dimension«, fragt er sich, »da es doch keine taktile oder sensorische Entsprechung hat, wie z. B. die 1., 2. und 3. Dimension?«78 Er sieht deutlich, daß die 4. Dimension in unserer Sinneswelt keine »sensorische Apparenz«79 hat. Sie stellt also ein rein virtuelles Kontinuum dar, dem man sich nur auf mathematischem Wege oder per Analogie nähern kann. Hier ist für einen visuell denkenden Künstler im Grunde die Grenze erreicht. Das, was sich nicht sichtbar machen läßt, ist auch nicht darstellbar. Duchamp jedoch läßt nicht locker. Bei ihm überwog die Lust am Gedankenexperiment die Frage der Sichtbarkeit. In einer nicht in die Weiße Schachtel aufgenommenen Notiz (Abb. 11, S. 134) – sie fand sich unter seinen nachgelassenen Papieren – behandelt er die Frage der Raumerzeugung durch Rotation in einem trivial-gegenständlichen Zusammenhang, der uns erneut zur Erfindung der ersten Pariser Readymades führt. Es heißt dort: »Ratsche [cricri] / Ratsche mit elementarer Unterteilung (Anwendung des Prinzips des elementaren Parallelismus80) / 3 dimensionale Ratsche / [es folgt eine Skizze] / AB CD EF etc. gerade Linien, die sich um BX drehen / Diese parallelen Linien mit elementarem Abstand voneinander schneiden das Volumen, die Ebene oder die Linien, je nach ihren Grundbestandteilen. / Suche die vierdimensionale Ratsche«81 (Hervorhebung H. M.). Diese Notiz belegt, daß Duchamp in den Jahren 1913 bis 1915 triviale Gegenstände gesucht hat, um bestimmte höchst spekulative Gedankenexperimente zu veranschaulichen oder sagen wir besser, sie in »fertig vorgefundenen Skulpturen« vergegenständlicht zu finden. Kehren wir noch einmal zurück zum Problem des virtuellen Bildes. »Echo. Virtueller Ton / Virtualität als 4. Dimension = Nicht die Wirklichkeit in der sensorischen Erscheinung, sondern die virtuelle Darstellung eines Volumens«, notierte sich Ebd., 164. Ich habe die Übersetzung leicht verändert. Vgl. die französische Originalfassung in Duchamp du signe (Anm. 13), 136. 78 Duchamp – Schriften (Anm. 39), 167. 79 Ebd., 143. 80 So nannte Duchamp das bei chronofotografischen Diagrammen beobachtete Prinzip der mehr oder weniger parallelen Linienverschiebung auf der Fläche. 81 Duchamp – Notes (Anm. 10), Nr. 166. 77

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Duchamp. »Vielfalt bis ins Unendliche der virtuellen Bilder des dreidimensionalen Gegenstandes«82. Die Linie ist, sobald man sie gedanklich in Rotation versetzt, eine virtuelle Fläche, die Fläche ein virtueller Körper, und denkt man diese Analogie weiter, dann ist jeder ruhende Körper, sobald man ihn gedanklich in Rotation versetzt, eine virtuelle vierdimensionale Ausdehnung. Formuliert man denselben Gedanken in Anlehnung an Poincarés Dimensionstheorie, ist jede Erscheinung nicht nur ein Schnitt durch den Raum, sondern auch ein Schnitt durch die Zeit,83 mithin ist jede Form, jedes Ding der momentane Ruhezustand einer um eine Dimension höheren unsichtbaren Form in Bewegung. Derartige Gedanken mögen es gewesen sein, die Duchamp 1913, während seiner gedanklichen Ausarbeitung des Glasbildes Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar zur Konstruktion eines Objekts aus Fahrradfelge und Schemel veranlaßt haben. Die ästhetische Erfahrung, die diese primitive Rotationsmaschine ihm bot, hat er rückblickend mit folgenden Worten beschrieben84: »Zu sehen, wie dieses Rad sich drehte, war sehr beruhigend, sehr tröstlich, in gewisser Hinsicht ein Sich-Öffnen zu anderen Dingen als den materiellen des täglichen Lebens. Ich mochte die Idee, ein Rad im Atelier zu haben, ich genoß es, es anzuschauen, genauso wie ich es genieße, die tanzenden Flammen des Kaminfeuers zu betrachten«. Den Vergleich des sich drehenden Rades mit der Bewegung von Flammen in einem offenen Kamin hat Duchamp in fast allen seinen Äußerungen zum Fahrrad-Rad zwischen 1955 und 1967 wiederholt.85 Er unterstrich damit die kontemplative Funktion, die diese ›sculpture toute faite‹ trotz ihrer radikal unkünstlerischen Erscheinungsweise für ihn besaß. Sie unterscheidet sich darin keineswegs von bestimmten traditionellen Kunstwerken der Malerei oder der Plastik, waren doch auch diese stets Gegenstände der Meditation und der Kontemplation. Das ästhetische Erlebnis, das Duchamp mit diesem Objekt in der Erinnerung verband: die beruhigende, die Gedanken von den materiellen Fragen des Lebens lösende Wahrnehmungsweise der kreisenden Bewegung des Rades, war also das gerade Gegenteil der schockierenden und provokativen Wirkung, die die Duchamp-Literatur als angebliche Intention Duchamps für diesen Gegenstand unablässig postuliert hat. Was an dem Fahrrad-Rad zählte, war nicht das futuristische Prinzip, also der optische Reiz der Bewegung an sich, war nicht das, was man sah, sondern das, worüber die Bewegung des Rades nachzusinnen Anlaß gab. Hier mag man an Kants Unterscheidung zwischen schönen Gegenständen und schönen Aussichten auf Gegenstände in der Kritik der Urteilskraft denken. Bei den schönen Aussichten auf Duchamp du Signe (Anm. 13), 140. In einem längeren Text über das Prinzip des »elementaren Parallelismus« notiert sich Duchamp am Schluß: »Eine Zeit von 2 Dim., 3. Dim. usw. suchen«. Duchamp – Schriften (Anm. 39), 157. 84 Zitiert nach Arturo Schwarz: The Complete Works of Marcel Duchamp. New York 21970, 442. 85 Vgl. André Gervais: Roue de bicyclette. èpitexte, texte et intertexte, in: Les cahiers du Musée national d’art moderne, Paris, Nr. 30, Winter 1989, 59–80. 82 83

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Gegenstände scheint der Geschmack nicht an dem, was die Einbildungskraft sieht, zu haften, sondern an dem, »was sie hierbei zu dichten Anlaß bekommt, d. i. an den eigentlichen Phantasien, womit sich das Gemüt unterhält, während es durch die Mannigfaltigkeit, auf die das Auge stößt, kontinuierlich erweckt wird [...]; so wie etwa bei dem Anblick der veränderlichen Gestalten eines Kaminfeuers oder eines rieselnden Baches, welche beide keine Schönheiten sind, aber doch für die Einbildungskraft einen Reiz bei sich führen, weil sie ihr freies Spiel unterhalten«86. Die absichtslose Bewegung des Rades war ein idealer Anblick, um die Gedanken schweifen zu lassen, eine Erfahrung, die natürlich an die individuelle Begegnung mit diesem Objekt in der Abgeschlossenheit des Ateliers oder der Wohnung gebunden ist. In der lauten Öffentlichkeit des Museums Ludwig oder des Centre Georges Pompidou kann sich diese heute nicht mehr einstellen, ganz abgesehen davon, daß das Fahrrad-Rad im Museum seiner zentralen Funktion, sich zu drehen, beraubt ist.

Ästhetik des Möglichen Duchamps neue Kunst war das Produkt eines spielerischen experimentellen Denkens, das keine Rücksicht darauf nahm, ob es den wissenschaftlichen oder künstlerischen Kanons seiner Zeit genügte. Der Einsatz von Humor und Ironie bewahrte ihn davor, am Maßstab epistemologischer oder ästhetischer ›Wahrheit‹ gemessen zu werden. Die Narrenkappe und die Privatheit seines Tuns garantierten ihm die größtmögliche Freiheit des Denkens und Handelns. Die in seinen Notizen formulierten und in den Readymades materialisierten pseudogeometrischen Spekulationen ähneln jener spielerischen Physik, die Alfred Jarry unter dem Namen Pataphysik in der 1911 posthum publizierten Erzählung Gestes et opinions du Docteur Faustroll, Pataphysicien eingeführt hatte. Einflüsse dieser Erzählung lassen sich zahlreich im Oeuvre Duchamps nachweisen.87 Die Pataphysik, so lautete die Definition Jarrys, ist »die Wissenschaft imaginärer Lösungen [...]. Sie soll die Wissenschaft vom Speziellen sein, wenn man auch behauptet, es könne nur eine Wissenschaft des Allgemeinen geben. Sie soll die Gesetze untersuchen, durch die die Ausnahmen bestimmt werden und soll das über das unsere hinaus bestehende Univerum erklären«88. Die Hauptfigur der Erzählung, Dr. Faustroll, eine Karikatur des modernen Naturwissenschaftlers, nimmt in der gleichen Weise wie Duchamp in den Notizen zur Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. von Karl Vorländer, Hamburg 1990, 86. Zum Einfluß Jarrys auf das Werk Duchamps vgl. Linda D. Henderson: Duchamp in Context – Science and Technology in the Large Glass and Related Works, Princeton 1998, 47–51; William Anastasi: Duchamp on the Alfred Jarry Road, in: Artforum 30 (1991), 86–90; Juan Antonio Ramírez: Duchamp – Love and Death, Even, London 1998, 146 f. 88 Zitiert nach Alfred Jarry: Heldentaten und Lehren des Dr. Faustroll (Pataphysiker), Berlin 1968, 27. 86 87

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und den ersten ›sculptures toute-faites‹ häufig Thesen der nicht-euklidischen und vierdimensionalen Geometrien zum Ausgangspunkt von Spekulationen, die um die Idee von möglichen, noch unerforschten Dimensionen des Universums kreisen. Am Ende seiner Erzählung entwirft Jarry unter der Überschrift »Commentaire pour servir à la construction pratique de la machine à explorer le temps«89 eine fiktive Maschine zur Erforschung der Zeit, die – und darin ist sie Duchamps auf dem Kopf stehender Fahrradfelge ähnlich90 – als eine Kreiselvorrichtung gedacht ist, als ein Rahmen, in dem Schwungräder mit verschiedenen Drehmomenten rotieren. Betrachtet man Duchamps Fahrrad-Rad von 1913 vor dem Hintergrund von Jarrys zwei Jahre zuvor publiziertem Entwurf einer ›Maschine zur Erforschung der Zeit‹, so läßt sie sich als eine Art pataphysisches Versuchsobjekt begreifen, eine humorvolle ›Maschine‹ zur Förderung von Spekulationen über einen möglichen vierdimensionalen Hyperraum. Jarrys Entwurf der Pataphysik enthält bei allem Nonsens völlig rationale Elemente, eine Mischung, die auch für Duchamps Umgang mit dem naturwissenschaftlichen Denken charakteristisch ist. Es geht hier nicht um die Zurückweisung des wissenschaftlichen Rationalismus zugunsten eines wie immer gearteten Irrationalismus, sondern um die Überführung des wissenschaftlichen in ein poetisches Denken, bewerkstelligt durch die Werkzeuge des Humors und der Ironie. In einer auf 1913 datierten Notiz fragt sich Duchamp: »Peut-on faire des oeuvres qui ne soient pas ›d’art‹«91 (»Kann man Werke machen, die nicht ›Kunst‹ sind?«). Die Readymades waren das Ergebnis einer Denkweise, die sich außerhalb des formalen Denkens in den Gegensätzen ›Kunst‹ und ›Nicht-Kunst‹ bewegte. Sie waren in Duchamps Selbstverständnis weder ›Kunst‹ noch ›Anti-Kunst‹, sondern etwas anders, Undefiniertes, in der Schwebe Gehaltenes, das er ›An-Art‹92 nannte. Der traditionelle Werkbegriff und die herkömmlichen Verfahren der künstlerischen Arbeit waren für Duchamp ab 1913 nicht mehr gültig. Indessen war eine neue Definition von Kunst in den ersten beiden Jahrzehnten der Geschichte der Readymades für ihn weder in Sicht noch überhaupt gewünscht. Diese sollten erst nachfolgende Künstlergenerationen liefern. Sein eigenes künstlerisches Denken war ein offenes Denken, das sich stets Grenzziehungen, Definitionen und Dogmen widersetzte. Die Readymades ähnelten strukturell und funktional mehr als dem traditionellen Kunstwerk jenen Gegenständen, die die neuere Wissenschaftschaftsgeschichte ›epiEbd., 110 f. Vgl. Henderson: Duchamp in Context (Anm. 80), 48. 91 Duchamp du signe (Anm. 13), 105; Duchamp – Schriften (Anm. 39), 125. 92 Vgl. das Interview mit Jean-Marie Drot, 1963 in: Interviews und Statements (Anm. 12), 164 und 188, und das Gespräch mit Don Morrison, 1965 in: Marcel Duchamp Work and Life, ed. by Pontus Hulten, London 1993: »Ephemerides on and about Marcel Duchamp and Rrose Sélavy«, 18 October. Duchamps Worten zufolge war die Auswahl der Readymades nicht »die Tat eines Künstlers, sondern die eines Nicht-Künstlers, eines Handwerkers, wenn Sie wollen. Ich wollte den Status des Künstlers ändern oder wenigstens die Normen ändern, die zur Definition eines Künstlers benötigt werden« (Interviews und Statements, 155). 89 90

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stemische Dinge‹ nennt.93 Dabei handelt es sich um Experimentalsysteme oder in diese eingebundene Objekte, die vorhandenes Wissen nicht illustrieren oder symbolisieren, sondern um die sich das Wissen erst bemüht. Sie sind das Unbekannte, das Unklare, das Zweideutige, kurz: das, was man noch nicht weiß. Als Bestandteil eines Experiments geben sie noch unbekannte Antworten auf Fragen, die der Forscher selbst noch nicht klar formulieren kann.94 Die Entstehungsgeschichte der beiden ersten Readymades zeigt, daß Duchamp mit diesen Objekten etwas gefunden hatte, wonach er gar nicht gesucht hatte. Im Kontext seiner Spekulationen über die Möglichkeit der Darstellung des mathematisch konzipierten vierdimensionalen Raums geben sich das verkehrt montierte Fahrrad-Rad und der Flaschentrockner als Sinnbilder einer unüberwindbaren Trennung zwischen mathematischem Denken und künstlerischer Darstellung zu erkennen. In dieser Theorie sind sie negativ definiert, durch das Scheitern an der Visualisierung dessen, was sie sichtbar machen sollten: die vierte Raumdimension. Doch auf dem Wege des praktischen Scheiterns dieser Theorie ergab sich – sozusagen ungewollt – eine positive Erkenntnis: Jeder Gegenstand, jede Handlung, jede Geste kann in der Perspektive der vier- beziehungsweise n-dimensionalen Geometrie als n-1 dimensionale Erscheinung einer unsichtbaren n-dimensionalen Entität betrachtet werden. Mit anderen Worten: Jedes triviale Objekt kann in ein Objekt der reinen Anschauung, in ein ästhetisches Objekt, in ein Rätsel verwandelt werden. Mit ihrer Aufnahme in Kunstausstellungen traten die Readymades ab 1936 in Zusammenhänge, die über ihre ursprüngliche experimentelle Funktion hinausgingen, ja, diese wurde im Zuge ihrer Musealisierung und der damit verbundenen Ästhetisierung regelrecht ausgeblendet. Gleichzeitig wurden im Kontext von Surrealismus, Pop Art, Nouveau Réalisme, Minimal Art, Fluxus etc. Eigenschaften an ihnen sichtbar, die bei ihrem Entwurf nicht beabsichtigt waren, so daß sich am Ende ihre Offenheit und Undeterminiertheit als ihr größtes Wirkungspotential erwiesen. Duchamps neue künstlerische Techniken basierten auf einer Ästhetik, deren Hauptmerkmal der ›Possibilismus‹ ist.95 Nicht Ähnlichkeit und Wahrheit lauteten ihre konstitutiven Begriffe wie im Falle der verschiedenen Spielarten des Realismus, noch Schönheit, Harmonie und Gleichgewicht wie im Falle der formalistischen Ästhetiken, sondern ›das Mögliche‹ war ihre zentrale Kategorie. »Die Darstellung eines Möglichen / nicht als entgegengesetzt zu unmöglich / noch als bezogen auf wahrscheinlich / noch als abhängig von glaubwürdig«96, heißt es in einer sibyllinischen Notiz aus der Zeit vor 1915. »Das Mögliche ist bloß / ein physikalisches 93

Vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Göttingen 2001,

24 f. 94 95 96

Ebd., 22. Vgl. dazu ausführlicher Molderings: Relativismus und historischer Sinn (Anm. 36), 15–23. Duchamp du signe (Anm. 13), 104. Vgl. ebenso Duchamp – Notes (Anm. 10), Nr. 82.

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›Ätzmittel‹, (eine Art Vitriol) / das jede Ästhetik oder Kallistik zerstört«97. An die Stelle der Bezauberung durch Schönheit trat in Duchamps Ästhetik der Schock, die Entdeckung, die Überraschung. Den Formdiskurs der herkömmlichen modernistischen Ästhetiken ersetzte er durch den Primat der intellektuellen Erfindungsgabe, die Lust zu denken, was noch nie zuvor gedacht worden war. Insofern verließ Duchamp das traditionelle Terrain der ›Wissenschaft vom Schönen‹ (die von ihm so genannte ›Kallistik‹) und begründete eine Ästhetik des Möglichen, in der unablässig sich das eine als das andere zu erkennen gibt. Daß eine derartige Ästhetik zugleich eine Theorie der permanenten Entgrenzung ist, versteht sich von selbst, geht es in ihr doch nicht um Definitionen und Festlegungen, sondern um Öffnung, um Bewegung in einem unendlichen Prozeß des miteinander Verknüpfens und aufeinander Beziehens. Der adäquate Ausdruck dieser ästhetischen Denkweise war das Spiel, das Spiel mit dem Zufall und den Dimensionen, mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Wörtern und Bildern, high and low, Kunst und Nicht-Kunst, ja selbst mit dem fundamentalen biologischen Determinismus der sexuellen Identität (Abb. 12, S. 135) und dem zwangsläufigen Prozeß des Alterns98 (Abb. 13, S. 135). Duchamp praktizierte die bildende Kunst als Spiel des Möglichen.99 Indem uns seine Werke einladen, an diesem Spiel teilzunehmen, leiten sie uns zu der Einsicht, daß ästhetische Erfahrung die unendliche Möglichkeit von Entwürfen der Welt und unserer selbst beinhaltet. Die unerbittliche Einschränkung unserer Möglichkeiten, die auf intellektueller Ebene mit der fortschreitenden wissenschaftlichen Erklärung der Natur-Gesetzlichkeit des menschlichen Daseins einhergeht und auf einer individuellen Ebene jeden Schritt unserer Selbst-Verwirklichung begleitet, wird konterkariert durch das Spiel. »Es ist von größter Wichtigkeit, sich über die Eigenart des Lebens als Spiel klar zu werden«100, lautete einer der Grundsätze Duchamps. »Wir sollten nicht nach absoluten Dingen streben, aus den Spielregeln nicht die Wahrheit machen, sondern anerkennen, daß wir das Spiel nach Regeln spielen, wie wir sie jetzt vereinbart haben«. Im Spiel genießen wir die Möglichkeit, uns den ›Gesetzmäßigkeiten‹, dem Ernst des Lebens und der Wissenschaften zu entziehen und in die Offenheit einer nicht determinierten und nicht gebundenen Existenzweise zu gelangen.

Vgl. auch Marcel Duchamp dans les collections du Centre Georges Pompidou, Musée National d’Art Moderne, Paris 2001, 26–29. 98 Zu Duchamps Rollenspielen vgl. Herbert Molderings: Die Fotografie des Möglichen. Von Marcel Duchamp bis Anna und Bernhard Blume, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 13 (1999), 454–458. 99 Zu ähnlichen Entwicklungen in der modernen Literatur und Philosophie vgl. Richard Kearney: Poétique du possible – Phénoménologie herméneutique de la figuration, Paris 1984. 100 Zitiert nach Laurence Stephen Gold: A Discussion of Marcel Duchamp’s Views on the Nature of Reality and their Relation to the Course of his Artistic Career, Princeton University, Mai 1958, VII f., Zitat Nr. 29. 97

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Abb. 1: Duchamps Atelier, New York, 33 West 67th Street, 1917–1918. Kolorierter Buchdruck aus der Boîte-en-Valise, 1940.

Abb. 2: Duchamp in seinem Atelier, 33 West 67th Street. In der Luft schwebend das Pissoirbecken Fountain, die Schneeschaufel In Advance of the Broken Arm und der Thonet-Kleiderhaken Readymade. Fotografie, ca. 1917, Villiers-sous-Grez, Archives Marcel Duchamp.

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Abb. 3: Blick in die Exposition surréaliste d’objets, Galerie Charles Ratton, 14, Rue de Marignan, Paris, 22.–29. Mai 1936. In der Vitrine Duchamps Flaschentrockner von 1914 (Version 1936) und das Objekt Why Not Sneeze Rose Sélavy? (1921). Köln, Archiv Herbert Molderings.

Abb. 4: Fountain, New York 1917. Foto Alfred Stieglitz, 23,5 x 18 cm, Villiers-sous-Grez, Archives Marcel Duchamp.

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Abb. 5: Marcel Duchamp: Die Braut von ihren Junggesellen nackt entblößt, sogar, 1915 –1923, Ölfarbe, Lack, Bleifolie, Bleidraht, Mennige, Spiegelfolie und Staub zwischen Glasplatten, 277,5 x 175,8 cm, Philadelphia, Philadelphia Museum of Art, Legat Katherine S. Dreier. Foto Marcel Jean 1958, Köln, Archiv Herbert Molderings.

Ästhetik des Möglichen Abb. 6: Marcel Duchamp: à l’infinitiv (gen. Die weiße Schachtel), New York 1967, weiße Plexiglasschachtel mit 79 faksimilierten Notizen, 33,3 x 29 cm, Auflage: 150 signierte und numerierte Exemplare.

Abb. 7: Une autre belle invention pour pratiquer la perspective sans la scauvoir, aus: Jean Du Breuil: La perspective pratique nécessaire à tous les peintres, II, Paris 21663, Paris, Bibliothèque Sainte-Geneviève.

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Abb. 8: Flaschentrockner, 1914 (Version von 1936), Buchdruck, Silber, Schwarzgrün, Dunkelrot, zweimal gelbgrün gefärbter Lack, 26,8 x 16,9 cm, aus: Boîte-en-Valise, 1936.

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Abb. 10: Fahrrad-Rad, 1913 (Replik von 1951), Höhe 125 cm, New York, The Museum of Modern Art, The Sidney and Harriet Janis Collection.

Abb. 9: Marcel Duchamp vor der Galerie Claude Givaudan anläßlich seiner Ausstellung Readymades et Éditions de et sur Marcel Duchamp, Paris, Juni 1967. In der Galerie links das Fahrrad-Rad und rechts der im Raum schwebende Flaschentrockner.

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Abb. 11: Cricri, Originalnotiz, Paris, Musée national d’art moderne, Centre Georges Pompidou, AM 1997–1998.

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Abb. 12: Man Ray: Rrose Sélavy, 1921, Silbergelatineabzug, 13,5 x 10,7 cm, Villiers-sous-Grez, Archives Marcel Duchamp.

Abb. 13: 1972 – Duchamp at the Age of 85, New York 1945, Silbergelatineabzug, 16,8 x 11,9 cm, Köln, Sammlung H. u. B. Molderings.

Erfahrungen der Leere Der Status der Leerstelle in der ästhetischen Text-Erfahrung Von Brigitte Obermayr

»Dingsda …« – Ein neuer Mantel Akakij Akakievic Bašmac kin »spürte seit einiger Zeit, daß ihm die Kälte [Petersburgs] besonders hart im Rücken und an den Schultern zusetzte“1. Akakij Akakievic Bašmac kin – diesen Namen trägt der Protagonist in Nikolaj Gogol’s 1842 erstmals veröffentlichter Novelle Šinel’ (Der Mantel). Der brave, buchstabentreue Beamte – Abschreiber in einem Departement – betrachtet aufgrund der eingangs zitierten Kältewahrnehmung seinen Mantel, wobei er entdeckt, »daß dieser an zwei drei Stellen, und zwar auf dem Rücken und an den Schultern, wie Fliegengaze aussah, der Stoff so abgetragen [war], daß es durch ihn hindurchzog; und das Futter zerschließen [war]«2. Akakij Akakievic faßt daraufhin den Entschluß, seinen Schneider aufzusuchen. Akakij Akakievic war, das fügt der Erzähler hinzu, nicht nur wegen seiner naiven Diensteifrigkeit und seiner Unbrauchbarkeit zu einer vom bloßen Abschreiben auch nur im kleinsten abweichenden Tätigkeit zur Zielscheibe des Spotts seiner Kollegen geworden. Auch sein eben von ihm selbst der stofflichen Mangelhaftigkeit verdächtigtes Oberbekleidungsstück habe Anlaß dazu gegeben: Im Departement versagte man Akakij Akakievics Außenhülle die Bezeichnung »šinel’« (fem., dt. Mantel), man nannte ihn einfach »kapot«3 (mask., dt. Schlafrock). Der Erzähler erachtet diese Bezeichnung im übrigen für legitim, bot der Mantel doch »tatsächlich einen irgendwie seltsamen Anblick: Der Kragen war mit jedem Jahr kleiner geworden, da er zum Untersteppen anderer Teile herhalten mußte. Viel Schneiderkunst bewiesen die untersteppten Stellen nicht – sie waren wirklich unschön und beutelten sich«4. Nun fordert Akakij Akakievic s monetäre Lage sowie ein angeborener Beamtengeiz ein behutsames Vorgehen mit dem in Sachen Mantelreparatur aufgesuchten einäugigen Schneider Petrovic. Er weiß, es werde darum gehen, die Fakten so harmlos wie möglich darzustellen5: »›Ich komme nämlich wegen … Dingsda, Petrowitsch. Der Mantel, weißt du, das Tuch … Du siehst, es ist überall noch ganz fest, Nikolaj Gogol: Der Mantel, in: ders.: Der Mantel – Erzählungen, Berlin und Weimar 31981, 211–252, hier 219. (russ.: Nikolaj V. Gogol’: Šinel’, in: ders.: Sobranie socinenij v desjati tomach, III, Moskau 1994, 109–136.) 2 Gogol: Mantel (Anm. 1), 219. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Ebd., 222 f. Hervorhebungen von mir (B. O.). 1

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nur etwas verstaubt und sieht ein bißchen alt aus, ist aber noch ganz neu, nur hier, an dieser Stelle … auf Dingsda … auf dem Rücken scheint es ein wenig durchgescheuert zu sein, und vielleicht auch noch hier, an der einen Schulter, ein bißchen wohl auch auf der anderen – nun ja, du siehst, das ist alles. Im Grunde genommen eine Kleinigkeit.‹« Petrovic unterzieht daraufhin das Bekleidungsstück einer fachmännischen Materialprüfung6: »Petrowitsch7 nahm den ›Schlafrock‹, breitete ihn auf dem Tisch vor sich aus, sah ihn sich lange an und schüttelte den Kopf […]. Petrowitsch […] hielt den Schlafrock mit beiden Händen gegen das Licht; er schüttelte aufs neue den Kopf. Dann drehte er das Futter nach außen, schüttelte wieder den Kopf […]. ›Nein, läßt sich nicht ausbessern. Ganz unbrauchbare Garderobe.‹« Diese Diagnose erschüttert unseren Beamten zutiefst: »›Aber wieso denn nicht, Petrowitsch?‹ fragte er mit flehender Kinderstimme. ›Er ist doch nur an den Schultern ein wenig durchgescheuert, und ein paar Flicken werden sich bei dir doch finden …‹« Akakij Akakievic wird darüber aufgeklärt, daß es an Flickmaterial nicht scheitern würde, daß das Problem aber in der wesentlichen Untiefe liege. Die Beschaffenheit der Manteltextur lasse diese Art, die Durchlässigkeit und Löchrigkeit des Mantels zu beheben, nicht zu. Vor allem habe der Schneider im Gegenlicht gesehen: Die Schulterpartien sind nicht wesentlich von der Leere dahinter zu unterscheiden. Es könne also an keiner der in Frage kommenden Stellen etwas angenäht oder eingeflickt werden8: »›Nun ja, Flicken hätte ich, Flicken ließen sich schon finden […], aber woran soll ich sie festnähen? Ist ja alles morsch, man braucht nur mit der Nadel dranzukommen, und alles fällt auseinander. […] Wo soll ich ihn denn anbringen, woran denn, wo findet er Halt? Vom Tuch ist doch nur noch der Name übrig; es braucht nur ein Lüftchen zu wehen, und alles fliegt davon.‹« Petrovic rät Bašmackin zum pragmatischen Vorgehen. Das Restmaterial des vorhandenen Mantels könne an entsprechender Stelle dingbar gemacht werden, während der Mantel selbst aber einer substantiellen Substitution bedürfe: Die löchrige Textur brauche, um an den enstprechenden Stellen ihren Zweck zu erfüllen, neue Textur9: »›Nein‹, sagt Petrowitsch mit aller Entschiedenheit, ›da kann man nichts machen. Das ist völlig hoffnungslos. Schneiden Sie sich für die kaltenWintertage lieber Fußlappen daraus zurecht, denn eine Socke wärmt ja doch nicht. Die haben sich nur die Deutschen ausgedacht, um recht viel Geld damit zu verdienen.‹ Petrowitsch stichelte gelegentlich gern gegen die Deutschen. ›Ich werde Ihnen, wie man sieht, wohl einen neuen Mantel machen müssen.‹« Ebd., 223. Hervorhebungen von mir (B. O.). Anmerkung zur Transliteration: Bei Zitaten gebe ich die jeweils verwendete (meist literarische) Transliteration wieder, während ich mich selbst der wissenschaftlichen bediene. (Etwa Petrowitsch = Petrovic.) 8 Ebd., 223. 9 Ebd. 6 7

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Der Satz vom ›neuen Mantel‹ realisiert sich im weiteren Sujetverlauf des Textes, wenn auch in paradoxer Weise. Er ist der Beginn der Entstehungsgeschichte des neuen Oberbekleidungsstücks, die jedoch, in auffallender Beschleunigung, in einer die gestische Statik des Daseins des Bašmackin störenden und zerstörenden Aktivität und Ereigishäufung auf ein doppeltes Verschwinden und Wiedererscheinen hinausläuft. Akakij Akakievic wird es zwar gelingen, die Anfertigung des neuen Mantels zu finanzieren, das neue Kleidungsstück wird jedoch sein Leben einschneidend verändern: Nur kurzfristig wird er das neue Lebensgefühl genießen können, bevor zuerst sein Mantel – er wird geklaut werden – und dann er selbst – er wird im Fieberwahn sterben – verschwinden. Im zweiten Abschnitt der Novelle taucht Akakij als gespenstisches Simulakrum seiner selbst wieder auf, rächt sich schließlich sogar an dem ihm widerfahrenen Verbrechen, indem er jene »bedeutende Persönlichkeit«10, welche zu verhindern wußte, Akakij Akakievic eine Chance auf eine irdisch-juristische Gerechtigkeit zu geben, und somit an seinem Tod schuldig wurde, ihres Mantels entledigt. Der Text endet schließlich, indem eine dem Akakij immer unähnlicher gewordene Gestalt »in der nächtlichen Finsternis Petersburgs«11 verschwindet. Initiale Defekte, finale Defekte Die Schlüsselstelle dieser Novelle aus dem Zyklus der Petersburger Erzählungen kann als Urszene des Widerstreits zwischen Wahrnehmungs-, Material- und Vorstellungsorientierung gelesen werden, wie sie für die Textwissenschaft und Textästhetik des 20. Jahrhunderts signifikant ist. Aufgrund einer Kältewahrnehmung und der darauf folgenden Beobachtung der Schütterheit seines Mantels sucht Akakij Akakievic seinen Schneider mit der Absicht auf, diesem seine eigene Einsicht in Hinsicht auf die ›Leerstellen‹ im Mantel zu erschweren. Es ist Akakijs Wunsch, Petrovic eine dem Faktum der Frakturen im Material widersprechende Vorstellung vom Mantel darzubieten. Akakij Akakievic intendiert, den Mantel und seine Mängel als ›no-thing‹ zwischen ihn und Petrovic zu legen. Nun unterläuft aber Akakijs Intention der Verhüllung bzw. Abdeckung des wahrgenommenen Gegenstands seine stammelnde, brüchige, der ›good continuation‹ mangelnden ›skaz‹12-Rede, deren Sinn als Lautgestikulation:13 Diese entblößt und enthüllt die materielle Beschaffenheit des zur Reparatur vorgelegten Mantels. Ebd., 224. Ebd., 251. 12 ›Skaz‹ (russ. skazat’ = sagen) ist ein zentraler Terminus des russischen Formalismus. Er bezeichnet die Verwendung von u. a. syntaktischen, morphologischen und artikulatorischen Mündlichkeitseffekten in der Prosa – auf allen Erzählebenen. Vgl. Aage A. Hansen-Löve: Der russische Formalismus, Wien 1978, 157–172.  jchenbaum: Wie Gogol’s »Mantel« gemacht ist [russ. 1918], in: Russischer Formalismus 13 Boris E 10 11

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Der Leser wird vom Erzähler auf diese Eigenart des Akakij aufmerksam gemacht14: »Akaki Akakijewitsch […] drückte sich meist in Präpositionen, Adverbien und sogar irgendwelchen Partikeln [aus], die einfach keinerlei Sinn mehr hatten. Handelte es sich jedoch um eine besonders schwierige Angelegenheit, dann pflegte er die Sätze gar nicht erst zu vollenden, und wenn er seine Rede mit den Worten: ›Das ist in der Tat … Dingsda …‹ begann, brach er sie gleich darauf meistens ab, vergaß das Weitere und war offenbar der Meinung, es sei schon alles gesagt.« Hier noch einmal der oben zitierte Monolog Akakijs, wobei, um der Suggestivität etwas Einhalt zu gebieten, das von ihm verwendete Partikelchen »togo«15 nicht, wie in der eingangs zitierten Übersetzung mit »Dingsda« wiedergegeben wird, sondern lediglich mit dem vermutlich neutraleren »dieses«16: »›Ich komme nämlich wegen … diesem, Petrowitsch. Der Mantel, weißt du, das Tuch … Du siehst, es ist überall noch ganz fest, nur etwas verstaubt und sieht ein bißchen alt aus, ist aber noch ganz neu, nur hier, an dieser Stelle … auf diesem … auf dem Rücken scheint es ein wenig durchgescheuert zu sein, und vielleicht auch noch hier, an der einen Schulter, ein bißchen wohl auch auf der anderen – nun ja, du siehst, das ist alles. Im Grunde genommen eine Kleinigkeit.‹« Anstatt der intendierten Verhüllung kommt es also noch vor der visuellen Mantelschau durch Petrovic bereits zu einer die Lage der Dinge entblößenden verbalen ›Vorstellung‹ des Akakij – einmal im unterbrochenen Redefluß und einmal in der Tatsache, daß das nicht Gesagte tatsächlich schon ›alles‹ sagt: Die die Stammelrede markierenden Auslassungspunkte wie die gerade die entscheidenden Substantive (Mantel, Rücken) ersetzenden Partikel »dieses/Dingsda« liefern die ›mündliche‹ Evidenz der löchrigen Textur. Dem Versuch, den Mantel, seine Mängel, als ›nothing‹ zwischen ihn und den Schneider zu legen, läuft ein Dinghaftes in der Stammelrede Akakijs zuwider. Die materialästhetische Diagnose entspricht dann auch jener der Materialprüfung durch den Schneider – mit all ihren schließlich vernichtenden Folgen für Akakij.17 Petrovic wiederum verläßt sich auf das, was er mit seinem einzigen Auge sieht: Die Lücken – Leerstellen – in der Manteltextur. Er weiß, das sieht er im Gegenlicht, daß diese, um hier mit Heidegger zu sprechen, »Lichtung« zwar ist, und als irreparable ist, es aber so nicht sein muß.18 – Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hg. von Jurij Striedter, München 51994, 122–159, hier 284. 14 Gogol: Mantel (Anm. 1), 222. 15 Gogol’: Šinel’ (Anm. 1), 116 ff. Akakij stellt sich mit einem effektvollen »togo« vor: »›A ja vot k tebe, Petrovic, togo…‹« (wörtlich: »›Ich bin zu dir, Petrovic, dieses …‹«). 16 Gogol: Mantel (Anm. 1), 222 f. 17 Vgl. ebd., 225: »Akaki Akakijewitsch verließ nach diesen Worten völlig vernichtet die Wohnung.« 18 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, in: ders.: Holzwege, Frankfurt/M. 82003, 1–74, hier 39 f.: Die ›offene Mitte‹ in Akakijs Mantel ist auch nicht einmal mehr vom »Seienden umschlossen, sondern die lichtende Mitte selbst umkreist wie das Nichts, das wir kaum kennen,

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Etwas zugespitzt wäre zusammenzufassen: Der pragmatische Handwerker Petrovic sieht und weiß, daß die Leerstellen in der Manteltextur nicht durch ein Füllen, ein Flicken des Gewebes zu beheben sind. Das Loch im Mantel ist zu groß, die Porösität zu hoch. Und da weder das Wegreden noch das Wegdenken der Löcher im Kampf gegen das harte Petersburger Klima bestehen können – und die Anfertigung eines neuen Mantels für ihn sicher einträglicher ist –, heißt die einzige Lösung: ein gänzlich neuer Mantel. Es ist also von Beginn an die löchrige Oberfläche der Textur, aus der sich das Sujet der Novelle Der Mantel entfaltet. Die Löcher im ›Mantel‹ werden weder geflickt werden, noch wird der unbrauchbar gewordene alte Mantel durch einen lebenstüchtigen neuen ersetzt werden. Somit kann Gogol’s Novelle auch gelesen werden als eine Parabel auf die künstlerische creatio insgesamt: Diese stünde – zumindest im Sinne der Gnosis – als »Ur-Fehler« und »initialer Defekt« auf der Seite des Bösen19: »Das Böse, d.h. die Schöpfung, entsteht aus einem Ur-Fehler, einem initialen Defekt, einem Lapsus des Vollkommenen, das in der Schöpfung seine ursprüngliche Einheit einbüßt. Der Kosmos entstand durch einen ›Fehltritt‹«. Tatsächlich wird die Schneiderwerkstatt als eine äußerst diabolisch anmutende Location geschildert: Nicht nur der, wie der Erzähler bemerkt, auf Petersburger Hintertreppen übliche schlechte Geruch und Schmutz weist darauf hin: In der Wohnung des Schneiders wird dies überboten20: »Die Tür zur Küche stand offen, weil die Hausfrau einen Fisch briet und die Küche so voller Rauch war, daß man nicht einmal die Küchenschaben sah.« Der Schneider selbst wird beschrieben als eine wenig vertrauenerweckende einäugige Kreatur, bei der vor allem ein verkrüppelter Zehennagel auffällt, »der dick und fest war wie der Panzer einer Schildkröte«21. Und schließlich wird das Kind beim Namen genannt, indem die Frau des Schneiders zitiert wird, die ihren Mann als »einäugige[n] Teufel«22 tituliert. Der initiale Defekt findet bei Gogol’, und dies besonders auch in der vorliegenden Novelle, seine Entsprechung im finalen. Gogol’s Texten wird eine ›finale Schwäche‹ nachgesagt, ein ›Verenden‹, was sich mit der in Gogol’s Finalkonstruktionen nachweisbaren Tendenz, »eine affirmative Ästhetik – oder gar außerkünstlerische Zwecke und Nutzen – an die Stelle der grotesken, komischen oder verfremdeten Intention seiner Texte zu setzen, dies ex post zu widerrufen und damit aus ihrer Diabolik und Apophatik zu retten«23, zeigt. alles Seiende«. – Gogol: Mantel (Anm. 1), 224: »[…] sagte Petrowitsch und schürzte wichtigtuerisch die Lippen. Er liebte kraftvolle Effekte, verblüffte gern und schielte dann zu dem Verblüfften hinüber, was dieser wohl für ein Gesicht zu seinen Worten machen würde.« 19 Aage A. Hansen-Löve: »GØGØL’« – Zur Poetik der Null- und Leerstelle, in: Wiener Slawistischer Almanach 39, 1997, 183–303, hier 189. 20 Gogol: Mantel (Anm. 1), 221. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Hansen-Löve: Poetik der Null- und Leerstelle (Anm. 19), 245.

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Das Prinzip des auf ein Minimum zusammenschrumpfenden Sujets24 wird im Mantel zentral. Die Idee vom neuen Mantel erfährt nur ephemere Realisierung – Akakij wird sich genau einen Tag lang seines neuen Lebens und Mantels erfreuen können, nachdem er monatelang in strengster Askese sich den Mantel tatsächlich vom Mund abgespart hatte – »ja er lernte sogar, abends überhaupt nichts zu essen; dafür hatte er seine geistige Nahrung – den Gedanken an den zukünftigen Mantel«25. Der Gedanke an den bzw. die Idee vom zukünftigen Mantel wird schon bei seiner Anfertigung durch Materialsubstitute unterschritten: Man verwendet zwar gutes Material, ersetzt aber etwa das Seidenfutter durch Kaliko und die Marderdurch Katzenfelle.26 Hole = Whole? Das Ganze als Fragment Die Unterscheidung zwischen materialästhetischer Wahrnehmung des ästhetischen Objekts und Vorstellung vom ästhetischen Gegenstand im System der relationalen Ganzheit ist das Fundament für Wolfgang Isers Theorie von der Leerstelle als zentraler Systemstelle im Text, die die Vorstellungstätigkeit des Lesers zu aktivieren und so das Wirkungspotential des ästhetischen Textes erst in der Konstitution des Textganzen als Vorstellungswirklichkeit umzusetzen bewirkt. Iser greift dabei die vom Husserl-Schüler Roman Ingarden behauptete intentionale Gegenständlichkeit27 als Kennzeichen des literarisch Ästhetischen auf. Literarische Kunstwerke zeichnen sich, so Ingarden 1931, dadurch aus, daß sie »in ihrer konkreten Washeit überhaupt nicht vorhanden« seien, »Leer- bzw. Unbestimmtheitsstellen« aufweisen, und zwar an »Zahl unendlich viele«28. »Man könnte sagen, daß ein jedes literarische Werk in bezug auf die Bestimmung der in ihm dargestellten Gegenständlichkeiten prinzipiell unfertig sei und eine immer weitergehende Ergänzung fordere, die aber textmäßig nie zu Ende geführt werden kann.«29 Hiermit ist also gesagt, daß der ästhetische Gegenstand als intentionaler im Unterschied zum realen und zum idealen Gegenstand die Finalität des Erfaßtseins E jchenbaum, Wie Gogol’s Mantel (Anm. 13), 122: »Der Schwerpunkt wird vom Sujet (das sich in diesem Fall auf ein Minimum reduziert) auf die Verfahren des skaz übertragen, die komische Hauptrolle fällt den Sprachwitzen, den ›calombours‹ zu, die sich bald auf ein bloßes Wortspiel beschränken, bald zu kleinen Andekdoten entwickeln. Die komischen Effekte werden durch die Manier des skaz erreicht. Aus diesem Grunde erweisen sich gerade diese ›Kleinigkeiten‹, mit denen die Darstellung überschüttet ist, als für die Erforschung einer so gearteten Komposition wichtig – entfernt man sie, so bricht der Bau der Novelle zusammen.« 25 Gogol: Mantel (Anm. 1), 228. Russisch heißt es »nosja v mysljach svoich vec nuju ideju budušc ej šineli«. (wörtlich: »in seinen Gedanken die ewige Idee des zukünftigen Mantels tragend«). Gogol’: Šinel’ (Anm. 1), 120. 26 Gogol: Mantel (Anm. 1), 230. 27 Im Unterschied zum realen und zum idealen Gegenstand. 28 Roman Ingarden: Das literarisches Kunstwerk, Halle/Saale 1931, 236. 29 Ingarden: Kunstwerk (Anm. 28), 266 f. 24

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unterläuft, darin vollkommen ist, ohne gegenständlich vollendet zu sein. Das (literarische) Kunstwerk scheint sich somit durch eine ›totale Fragmentarität‹ auszuzeichnen, bewahre doch gerade das Fragment, so George Steiner30, »eine Wahrheit und Intensität der Verheißung, die den willkürlichen und daher in gewisser Hinsicht künstlichen Totalitäten unserer historischen Welt abgeht«31. Der Aspekt des unendlichen, unabschließbaren Konstitutionsprozesses (vgl. »textmäßig nie zu Ende geführt«) ist insofern zu unterstreichen, als für Wolfgang Iser die ästhetische Relevanz der Leerstellen gerade in der »Vorstellungserschwerung«32 liegt, dies im »klaren Gegensatz« zur »Wahrnehmungserschwerung«, wie sie u.a. von der Materialästhetik des russischen Formalismus behauptet wurde, von dem Iser sich explizit abgrenzt. Der russische Formalismus sprach – u. a. wortführend durch Viktor Šklovskij – bekanntlich vom die Kunst auszeichnenden »Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge, dem Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden«33, so Šklovskij 1916. Die von der Wahrnehmungserschwerung vorgesehene Dauer der Wahrnehmungsverlängerung, einer Erfahrungsprozessualität, dauere jedoch, so Iser, im Vergleich zur Vorstellungserschwerung zu wenig lange, da »die Dauer der Wahrnehmungserschwerung einmal an ihr Ende kommen muß« und so »die von der Kunst geleistete Wahrnehmungsverzögerung doch an einem absehbaren Punkt mit ihrer Konsumierbarkeit zusammenfalle«34. Somit wird für Iser die »abgedeckte Seite eines wahrgenommenen Gegenstands«, wesentlich. Diese werde nicht einfach durch unser Wissen vervollständigt, sondern bleibe als ein unbestimmter Hintergrund bestehen, der »das Wahrgenommene in jedem Fall in eine Spannung, wenn nicht sogar in ein bestimmtes Zeichen transformiert«35. Es kann also, so Isers Fazit, »nicht darum gehen, daß die Kunst die Objektwahrnehmung kompliziere, sondern darum, daß sie die in der Vorstellung des Lesers erfolgende Sinnkonstitution durch die Komplexionsgrade erschwert«36. Iser nimmt für den als kommunikativen beschriebenen »Akt des Lesens« den von der psychoanalytischen Kommunikationsforschung als leer gesetzten Konstitutionsgrund zwischenmenschlicher Beziehung als ›no-thing‹ an. Kein nothing, kein George Steiner: Das totale Fragment, in: Fragment und Totalität, hg. von Lucien Dällenbach und Christiaan L. Hart Nibbrig, Frankfurt/M. 1984, 18–29. 31 Ebd., 29. 32 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens – Theorie ästhetischer Wirkung, München 41994, 290. 33 Viktor Šklovskij: Die Kunst als Verfahren, in: Russischer Formalismus – Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, hg. v. Jurij Striedter, München 51994, 5–35, hier 15. 34 Iser: Akt (Anm. 32), 290. 35 Ebd., 279. 36 Ebd., 291. 30

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Nichts also, sondern ein Nicht-Ding37: »That which is really ›between‹ cannot be named by any things that come between. The between is itself no-thing.« Analog zur Argumentation Isers verläuft auch Jurij Lotmans Kritik am formalistischen Begriff des Verfahrens und einer damit verbundenen Wahrnehmungserschwerung als zu mechanisch und zu sehr lediglich auf die materielle Seite des Kunstwerks fixiert38: »Die Begriffe ›verfremdetes Verfahren‹, ›Verzögerung der Aufmerksamkeit des Lesers‹, ›Fühlbarkeit der Form‹ sind außerhalb ihres realen historischen Kontextes inhaltsleer, jenseits eines Verständnisses davon, was die ideell-künstlerische Gesamtheit eines Werkes, die Einheit der Inhalts- und Ausdrucksebene, ausmacht.« Für Iser wie für Lotman treten die Wahrnehmung und die Vorstellung in einer Weise zueinander in Konkurrenz, die erstere die ideelle, in der Struktur des Kunstwerks angelegte Ganzheit verfehlen läßt. In beiden Fällen wird dabei das im Kunstwerk materialiter Nichtausgeführte synthetischer Bestandteil der Ganzheit – der produktionsästhetischen Intention, der werkästhetischen Konstitution (der Struktur) und schließlich der rezeptionsästhetischen Rekonstitution dieser Entität. Lotman greift für seine Argumentation den formalistischen Terminus »Verfahren« (russ. priem) auf, um ihn dialektisch operativ zu machen: Nicht das, eben zu kurz greifende, ›Verfahren‹ im formalistischen Sinn des Wahrnehmbar-Machens der Gemachtheit (faktura) sei wesentlich, vielmehr sei es das »Minus-Verfahren« (russ. minus-priem). Das Minus-Verfahren ist die bedeutungsstiftende Abwesenheit des nicht durch den materiellen Text Repräsentierten, des Strukturimmanenten. Präsenz wäre so die Repräsentation eines Nichtpräsenten, Nichtrepräsentierbaren. In Lotmans Argumentation fällt dabei auf, daß der formalistische Verfahrensbegriff als »metaphysisch« kategorisiert und durch das »dialektische« Minus-Verfahren ersetzt wird, wobei er sich im weiteren auf Erkenntnisse aus der Molekularphysik beruft39: »Somit wird der metaphysische Begriff ›prijom‹ ersetzt durch den dialektischen ›Strukturelement und seine Funktion‹. […] Die moderne Molekularphysik benutzt den Begriff des ›Loches‹, der durchaus nicht das gleiche meint wie eine einfache Abwesenheit von Materie. Es ist vielmehr die Abwesenheit von Materie an einer Stelle der Struktur, die eigentlich ihre Anwesenheit voraussetzt. Unter diesen Umständen benimmt sich das ›Loch‹ derart materiell, daß man sogar sein Gewicht messen kann – versteht sich, in negativen Werten. Und die Physiker sprechen ganz legitim von ›schweren‹ und ›leichten‹ Löchern. Mit analogen Erscheinungen hat auch der Verskundler zu rechnen.«

Ebd., 260. . Jurij M. Lotman: Lekcii po struktural’noj poetike [Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, 1964], in: Jurij M. Lotman i tartusko-moskovskaja škola, Moskau 1994, 205 f. 39 Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München 41993, 157. 37 38

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An dieser Stelle scheint es angebracht darauf zu verweisen, daß in der Literaturwissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts epistemologisch signifikante Aufhebungen zwischen wahrnehmungsästhetisch und vorstellungsästhetisch orientierten Ansätzen stattfinden. So ist für die Entwicklung von Formalismus zu Strukturalismus und Literatursemiotik in der russischen und russistischen Literaturwissenschaft nicht so sehr die oft behauptete Anknüpfung des Strukturalismus an den Formalismus zentral (im Sinne einer epistemologischen Kontinuität), sondern sind vielmehr die erheblichen, mit dem frühformalistischen Denken brechenden Transformationen formalistischer Konzeptionen durch den Strukturalismus zu berücksichtigen (siehe die Aufhebung des Begriffes »Verfahren« im »Minus-Verfahren«). Stärker als an den Formalismus knüpft der Strukturalismus dann an die vom Denken Husserls tief geprägte phänomenologische Schule im Rußland der 1920er Jahre an – auch dies verbindet die Konzeptionen Isers und Lotmans: »Auch die Husserlsche Lehre vom Ganzen und den Teilen basiert auf dem Prinzip einer prästabilisierten Einheit, die einen Wesenszusammenhang der ›partes‹ garantiert. Bei Husserl ist die Teleologie der Essenzen, d.h. der ›eidos‹, der Wesen, mit der Intentionalität ihres Erlebens koordiniert; Bewußtsein von etwas ist Sinnvollzug des ›Aspekts‹ des Gegenstandes. Diese phänomenologische Definition von ›Struktur‹ ist also eine ganzheitlich-synthetische […], wobei immer wieder dem ›smysl‹ [dt. »Sinn«, B. O.] eine konstitutive Rolle zukommt, da nur er das einheitliche Zusammenwirken der Teile garantiert«40. Leerstelle als Ort des Lesers Die Konzeptionen ästhetischer Erfahrung aus einem synthetisch-dialektischen Denken heraus wären dann wohl solchen gegenüberzustellen, die sich auf analytische, negativ-dialektische Konzeptionen berufen. Im ersteren Fall ist ästhetische Erfahrung die Erfahrung (bzw. ›Verheißung‹) einer Erfahrung von Ganzheit – Erfahrung ist die Erfahrung, Teil zu sein und teil zu haben. Wolfgang Iser formuliert es so41: »Damit kommt das zum Vorschein, was Fiktion als Kommunikation leistet. Was immer im einzelnen als Inhalt durch sie in die Welt kommt, das wirklich im Leben Nicht-Gegebene, was folglich nur sie anzubieten vermag, besteht darin, daß sie uns das zu transzendieren erlaubt, woran wir so unverrückbar gebunden sind: unser Mittendrin im Leben.«

Vgl. Alexander Haardt: Husserl in Rußland – Phänomenologie der Sprache und Kunst bei Gustav Špet und Aleksej Losev, München 1993. Aage A. Hansen-Löve: Jan Mukarovský im Kontext der »synthetischen Avantgarde« und der »Formal-Philosophischen Schule« in Rußland. (Fragmente einer Rekonstruktion), in: Jan Mukarovský und die Prager Schule, hg. von Vladimír Macura und Herta Schmid, Potsdam 1999, 219–262, hier 244. 41 Iser: Akt (Anm. 32), 354. 40

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Im zweiten Fall wäre ästhetische Erfahrung die Erfahrung einer Differenz ohne dialektischen Rückbezug auf das Ganze – die Erfahrung eines Bruches (als Unterbrechung) gerade auch des »Mittendrins im Leben«42. Weniger die Erfahrung einer intentionalen Ganzheit der Struktur oder des vollen Sinns des Zeichens, denn die Erfahrung eines indexikalischen, dinghaften Bruchs: »Die ästhetische Verdinglichung, der ästhetische ›Sturz ins Bild‹, die nur im Prozeß stringenter Negativität geschehen, vollbringen somit zugleich die Rettung des Materials. Die ästhetische Erfahrung, die sie zu Elementen eines schönen Gegenstandes macht, ist das (einzige) Medium der Freisetzung der Zeichen von ihrer Bedeutung, die sie nicht auf ihre pure Dinglichkeit regredieren läßt.« In der phonetischen »Hohlform der Sinngestalt«43 fallen somit die im Englischen homophonen Bezeichnungen für ›Loch‹/›the hole‹ und ›Ganzes‹/›the whole‹ an einer Stelle zusammen. Der Status der Leerstelle wie der Ort des Lesers sind hiermit als atopisch festzuhalten: Einer der beiden Spannungspole, durch die die Transformation des ›Wahrgenommenen‹ in ein Zeichen passiert, bildet die Absenz des nicht vom materiellen Text Repräsentierten, die eben wesentlich für die Vorstellungsrepräsentation des Textes als Zeichen verantwortlich ist. In dieser Synthese begründet sich die Fiktions- und Imaginationspotenz des Literarischen, dessen, so Iser, »anthropologische Disponiertheit«44. Die Literatur ermöglicht somit die Erfahrung radikaler und unmöglicher Erfahrung – jene der Sinnlosigkeit des Lebens und jene des Todes: Dies dann, wenn die Beschaffenheit der Leerstellen, die Intensität der Negationen »die Besetzbarkeit durch die Vorstellungen des Lesers verweigern. […] Dennoch ist nicht zu leugnen, daß Leerstellen zwangsläufig das Vorstellungsvermögen provozieren, daß sie ein Nicht-Gegebenes markieren, welches nur durch Vorstellung vergegenwärtigt werden kann. Daher ist es unvermeidlich, daß sich auch hier Vorstellungen bilden. Doch sie vermögen die hier entstandenen Leerstellen paradoxerweise nur dadurch zu besetzen, daß sie sich in einem solchen Akt gleichzeitig aufheben […], daß im ständigen Aufheben der durch die Leerstellen provozierten Vorstellungen die Sinnlosigkeit des Lebens […] zu einer Erfahrung des Leser zu werden vermag. Die Negation der eigenen Vorstellungen bildet die notwendige Voraussetzung dafür, dieser Erfahrung den Realitätscharakter zu sichern.«45 Mit dieser affirmativen Resystematisierung und Restrukturierung, der Synthetisierung also, des Negativen beharrt Iser auf der Fähigkeit zur Sinnbildung auch in

42 Christoph Menke: Ästhetische Souveränität – Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida, Frankfurt/M. 1988, 186. 43 Iser: Akt (Anm. 32), 334. 44 Vgl. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre – Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/M. 1991. 45 Iser: Akt (Anm. 32), 340.

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der modernen Literatur bis hin zu Samuel Beckett und James Joyce. Der nur dem Vorstellungsbewußtsein zugängliche Freiraum der abgedeckten Seite intentionaler Gegenständlichkeit wird somit zu jener Stelle, die zwischen Text und Leser vermittelt: Sie ist der Ort der Erfahrung des Lesers46: »[Die] Negation fixiert den Ort des Lesers ZUM Text. Durch die Posteriorität erhält dieser Ort eine gewisse Bestimmtheit, wenngleich diese inhaltlich zunächst leer bleibt. Sie zu füllen heißt, Einstellungen zu beziehen, um dadurch den Text zur Erfahrung des Lesers machen zu können. Obwohl diese Erfahrung subjektiv höchst verschieden ausfallen kann, so wird sich der leer gebliebene Ort des Lesers immer mit einer Erfahrung füllen.« Die Erfahrbarkeit des Nichts wie des Endes muß dabei zwar vielleicht – als ihre ästhetische Erfahrbarkeit – nicht in Frage gestellt werden. Fraglich jedoch bleibt, ob es sich hierbei tatsächlich um die Erfahrung von Entitäten handeln kann.47

Leerstelle als Textloch Beschäftigt man sich mit dem Phänomen Leerstelle, stößt man auf ein symptomatisches Problem, welches übrigens bereits bei Wolfgang Iser im Hinblick auf Roman Ingardens »Unbestimmtheitsstellen« angesprochen wird: Iser bemängelt, daß man auf der Suche danach, was konkret man sich unter dem »Ausfüllen von Unbestimmtheitsstellen eigentlich vorzustellen habe« bei Ingarden »nur banale Beispiele«48 zur Veranschaulichung findet. Für Isers Veranschaulichungen wiederum trifft keineswegs die Banalität der Beispiele zu, es ergeben sich jedoch, betrachtet man Isers Beispielsrepertoire, zumindest zwei Problemfelder: Und zwar zum einen die von Iser berücksichtigten literarischen Genres betreffend: Iser berücksichtigt im wesentlichen den (englischen) Roman und die Dramen Becketts. Kaum berücksichtigt wird die Lyrik, welcher Hans Robert Jauß durchaus rezeptionsästhetische Aufmerksamkeit widmet49 und die auch bei Jurij Lotman ein zentrales Dispositiv bildet. Dabei ermöglicht gerade die Lyrik eine beispielhafte Veranschaulichung: Auslassungen und Unterbrechungen in Strophenform, Reimschema, Versmaß, Metrum etc. wären klassische Beispiele eines negativ realisierten Bauplans, einer bedeutungskonstitutiven Abwesenheit. Ebd., 335. Im Gegensatz zur Einschätzung Odo Marquards: »An die Stelle der Erwartungskunst tritt dann die Erfahrungskunst. Denn die Kunstwerke sind dann keine Haftminen zur Sprengung der Herkunftswelt, sondern jene weltaufbewahrenden Vollstellen geballter Erfahrung, zu denen vielleicht dann auch – als echte Teilmenge dieser Vollstellen – die Leerstellen gehören.« Odo Marquard: Krise der Erwartung – Stunde der Erfahrung. Zur ästhetischen Kompensation des modernen Erfahrungsverlustes [= Konstanzer Universitätsreden 139], Konstanz 1982, 32. 48 Iser: Akt (Anm. 32), 216 f. 49 Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik 1, München 1977, 295 ff. 46 47

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Und zum zweiten betrifft es dann doch die Frage, die Iser bereits an Ingarden gestellt hat: Was hat man sich unter dem Wirken der Unbestimmtheitsstellen, der Funktion der Leerstellen nun tatsächlich vorzustellen? Leerstellen sind wohl, so meine Antwort, in erster Linie nur einem in der Kategorie des Strukturganzen denkenden Bewußtsein vorstellbar. Hier der Versuch einer Typologisierung der Leerstellen bei Iser: Da gibt es zum einen die Unbestimmtheitsstelle als unterbrochene Anschließbarkeit, die Iser als negatives der ›good continuation‹ bezeichnet, die vor allem mit einem Zurücktreten einer zentralperspektivischen, allwissenden und allessagenden Erzählerautorität im Zusammenhang steht. Es gibt eine etwas radikalere Form dieser strukturellen Leerstelle in Gestalt der ›Durchstreichung‹ und ›Verneinung‹ eines Sujets, einer Sujet-Leerstelle. Dieser Bereich geht bei Iser einerseits in den allgemeinen Überlegungen zur Leerstelle, andererseits in seiner Resystematisierung der Negativität insgesamt auf. Eine Rolle spielt auch die rezeptionshistorische Leerstelle, der negativ erfüllte Erwartungshorizont. Hier greift Iser Jurij Lotmans Begriff des ›Minus-Verfahrens‹ auf, welches immer dort auftrete, wo ein bekanntes oder erwartetes Verfahren eben als ›bedeutungsrelevante Absenz‹ nicht auftritt. Wir sehen, daß in all diesen Realisierungsformen der Leerstelle eine epochenoder gattungsspezifische Norm den Erwartungshintergrund bildet, die Leerstelle den Status einer ästhetischen und kulturellen Differenz hat. Diese geht in der endlosen Wiederholung als historisches Fortschreiten und Fortschritt – man könnte damit auch die Isersche Konzeption einer ›Entgrenzung‹ fassen – auf. Deshalb verwundert es auch kaum, daß aus der strukturalistischen Leerstellentypologie auch und vor allem eine diachrone Zunahme der Wirkungsrelevanz von Leerstellen angenommen wird, anders gesagt eine zunehmende Relevanz einer strukturellen Negativität, die in einer Art hermeneutischen Zirkel, zumindest aber in ihrer anthropologischen Grunddisposition bis hin zu Beckett in einem Sinnganzen aufgeht. Dies in einer offenen und unendlichen Prozessualität, einer Dauer der Vorstellungserschwerung, welche im Gegensatz zur Wahrnehmungserschwerung nie zu Ende geht. Dieses Zeitmoment der Sinnkonstitution ist zentral. Es erlaube die Wiederholbarkeit innovativer ›Gegenstandsinidividualitäten‹ und garantiere damit eine Beschäftigungsdauer, die die Wahrnehmungsverzögerung nicht zu erreichen mag. Nur der vorgestellte Gegenstand ermögliche die »als Innovation wiederholbare Fächerung der Sinngestalten«50. Die Erfahrung der Leerstelle wird im Hinblick auf die im Vorstellungsbewußtsein innovative Wiederholbarkeit zu einem mimetischen Akt: Erst der Leser kreiert die volle Sinngestalt des Textes, in der Idealität51 der VorIser: Akt (Anm. 32), 291. Vgl. Jacques Derridas zentrale Kritik an Husserls Konzeption des Gegenwärtigen: »Der Wert der Gegenwärtigkeit, die letzte Rechtsinstanz dieses gesamten Diskurses, modifiziert sich jedesmal selbst, ohne sich zu verlieren, wenn es (in den beiden zusammenhängenden Bedeutun50 51

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stellung wird er der Werkidee gerecht. Dieser ideellen Konzeption der Wiederholung, die der ästhetischen Erfahrung die Zeitdimension des Unendlichen verleiht, steht jene des Aufschubs als Verweis auf ein unvorgängig Präsentisches in der Figur der »différance«52 gegenüber. Wir halten fest: Das zentrale Moment der unendlichen Prozessualität entspricht der Wesensstruktur des Textsinns als Zeichen. Folgende Überlegung wäre in den Raum zu stellen: Um das Negativum der Endlichkeit der Objektwahrnehmung ästhetisch operativ zu machen, wäre es nötig, die für das Textzeichen im Sinne Isers konstitutive polare Spannung als unterbrochene, gerissene, gestreute, im Hinblick auf den ›Status der Leerstelle‹ – als deterritorialisierte – anzunehmen. Ein Materiell-Dinghaftes ginge dann nicht in der Sinnsynthese auf, es wäre Index eines ästhetischen Gegenstandes, dem wiederum eine Prozessualität, jedoch in diesem Falle eine des nicht sinnerfüllten Zu-Ende-Kommens, inhärent wäre. Paradox wird dieses Nicht-zumEnde-Kommen dadurch, daß dieser Aufschub des Endes begrenzt ist, und zwar textuell: Die Prozessualität ist innerhalb der Textur – im neuen Mantel, nicht im Textäußeren. Der poststrukturalistische Textbegriff ist gerade deshalb offen, weil er die Möglichkeit der dialektischen Aufhebung der Differenz stringent verneint. Stringente Negativität wäre somit zu fassen als eine die ästhetische Erfahrung markierende unmögliche Versöhnung zwischen einem vorzustellenden Ganzen intentionaler Gegenständlichkeit und deren Unterbrochensein im Ästhetischen. Die ästhetische Erfahrung wäre dann auch die Erfahrung dieser Unterbrechung.

gen der Nähe dessen, was als Gegenstand einer Intuition ausgesetzt ist, und der Nähe der zeitlichen Gegenwart, die der klaren und aktuellen Intuition des Gegenstands ihre Form verleiht) um die Gegenwart eines beliebigen Gegenstandes für das Bewußtsein in der klaren Evidenz einer erfüllten Intuition oder um die Selbstgegenwart des Bewußtseins geht, wobei ›Bewußtsein‹ nichts anderes bedeutet als die Möglichkeit der Selbstgegenwart im Bewußtsein, wobei ›Bewußtsein‹ etwas anderes bedeutet als die Möglichkeit der Selbstgegenwart des Gegenwärtigen in der lebendigen Gegenwart. Jedesmal, wenn dieser Wert Gegenwärtigkeit bedroht sein wird, wird Husserl ihn wiedererwecken, ihn zurückrufen, ihn in der Gestalt des Telos, das heißt der Idee im Kantischen Sinne, zu sich zurückkehren lassen. Es gibt keine Idealität, ohne daß nicht eine Idee im Kantischen Sinne am Werk ist, die die Möglichkeit eines Endlosen eröffnet – Unendlichkeit eines vorgeschriebenen Fortschritts, oder Unendlichkeit gestatteter Wiederholungen. Diese Idealität ist genau die Form, in der die Gegenwart eines Gegenstandes im allgemeinen endlos als dieselbe wiederholt werden kann. Die Nicht-Realität der Bedeutung, die Nicht-Realität des idealen Gegenstandes, die Nicht-Realität der Erschließung des Sinns oder der Noema im Bewußtsein […] werden folglich die Versicherung dafür abgeben, daß die Gegenwart für das Bewußtsein endlos wiederholt werden kann. Ideale Gegenwart für ein ideales oder transzendentales Bewußtsein.« Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen – Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, Frankfurt/M. 2003, 17 f. 52 Vgl. Jacques Derrida: Die différance, in: Postmoderne und Dekonstruktion – Texte französischer Philosophen der Gegenwart, hg. von Peter Engelmann, Stuttgart 1990, 75–113.

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Die Leerstelle, so meine Überlegung, kann gerade in ihrem Wesen als ›Unterbrechung der Anschließbarkeit‹ operativ gemacht werden. Dies eben zumindest nicht nur in der von Jurij Lotman formulierten und von Wolfgang Iser bekräftigten Weise, daß es »die von den Leerstellen unterbrochene Anschließbarkeit der Textsegmente« ist, durch die sie in jene Äquivalenz gebracht werden könne, »die es erlaubt, das Archisem zu entdecken, das den unverbundenen Segmenten unterliegt und das diese zu einer neuen Sinneinheit zusammenschließt, sobald es gefunden ist«53, sondern vielmehr in einer Weise, in der die »Sinneinheit« selbst als im Ästhetischen wesentlich nicht schließbar verstanden wird. Dieses Unterbrechen spräche also von der Leerstelle nicht als zentraler Systemstelle, als vermittelndes und versöhnendes Medium, als Signifikat des Sinnzeichens Text, sie spräche von der Leerstelle als revertextlichtem Loch welches zu weiterer Löchrigkeit führt (auch der neue Mantel ist nicht ewig ganz), dezentrierend und deformierend verläuft und verfährt. Eine operative Konzeption der Leerstelle sähe dann so aus: Sie wäre zu nennen und zu bezeichnen als Loch – im Sinne der löchrigen textuellen Oberfläche, als Riß und Unterbrechung. Sie wäre eingeschrieben in Zeichen des Nichtdurchsichtigen – einer Sichtbarkeit, Wahrnehmbarkeit der Schrift. Ein Extrempol dieser Sichtbarkeit wäre eine partielle Fleckigkeit der Schrift, die vor allem in einem exstatischen Selbstbeschreiben, Selbstüberschreiben auftritt und Index der Unlesbarkeit sein könnte. Diese Fleckigkeit ist etwa auch dort vorhanden, wo sich für die Texturökonomie das Merkmal reiner Quantität aufdrängt. Der Verlauf und das Auftreten dieser Kategorien wären eher syntagmatisch-linear, denn paradigmatisch-vertikal.

Löchrige Oberfläche Abschließend wollen wir uns einer Lektüre der Novelle zuwenden, die im eben vorgeschlagenen Sinne vorgeht und also nach der Leerstelle als löchrige Oberflächentextur Ausschau hält. Dazu muß einerseits die eingangs aufgestellte Behauptung wieder aufgegriffen werden, wonach die löchrige Textur des Mantels auch die gleichnamige Novelle prägt. Dazu wird vor allem auch das Finale der Novelle – vom Verschwinden des Mantels über den Tod des Akakij bis zu seinem Wiederauftauchen als Gespenst – in diese Löchrigkeit mit hineingelesen werden. Damit wäre dann auch eine Verbindung hergestellt zu einer denkbaren Lektüre der Leerstellen im Sinne Isers. Demnach wäre die Transformation des Sujets von einer realistischen Groteske in die phantastische in der Perspektive der Norm des historischen Erwartungshorizonts und dessen negativer Erfüllung ein neuartiger Horizont von Fiktion und Imagination in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Der Normbruch setzt gewiß dort ein, wo der Text mit dem Tod des Akakij zu seinem ersten Ende kommt. Akakij war, nachdem er vergeblich versucht hatte, 53

Iser: Akt (Anm. 32), 287.

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den Diebstahl seines Mantels anzuzeigen, durch den Petersburger Schneesturm geirrt, hatte sich dabei offensichtlich erkältet54 und war bald darauf im Fieberwahn dahingeschieden. Schon vor seinem Tod taucht das Motiv seiner Wert- und Nutzlosigkeit auf, rät der gerufene Arzt, dessen Diagnose offensichtlich eindeutig ist, der Zimmerwirtin doch55: »›Verlieren Sie, Verehrteste, keine Zeit und bestellen Sie gleich jetzt einen Fichtensarg, da ein Eichensarg für ihn wohl zu teuer ist.‹« Nach seinem kurz darauf eintretenden Exodus bleibt lediglich ein Haufen wertloser Dinge – vom Erzähler akribisch verbucht: »Weder sein Zimmer noch seine Habe wurden versiegelt, denn erstens gab es keine Erben, und zweitens war auch die Hinterlassenschaft sehr gering; sie bestand aus einem Bündel Gänsefedern, einem Packen weißen Kanzleipapiers, drei Paar Socken, zwei oder drei abgerissenen Hosenknöpfen und dem den Lesern schon bekannten ›Schlafrock‹. Gott weiß, wem all das zugefallen ist – dafür hat sich, ehrlich gestanden, nicht einmal der Verfasser dieser Geschichte interessiert. Akaki Akakijewitsch wurde abgeholt und begraben. Und Petersburg blieb ohne Akaki Akakijewitsch – als hätte es ihn nie gegeben. So verschwand, ging ein Geschöpf dahin, das von niemand beschützt, von niemand geliebt worden war und für das sich niemand interessiert hatte, nicht einmal die Naturwissenschaftler, die sich doch sonst mit jeder gewöhnlichen Fliege abgeben, sie mit der Stecknadel aufspießen und unter dem Mikroskop betrachten«56. An seinem Arbeitsplatz wird Akakijs Fernbleiben einige Tage nach seinem Tod zwar bemerkt, die Nachricht vom Tod des Akakij hat jedoch lediglich zur Folge, daß »schon am nächsten Tag […] ein neuer Beamter auf seinem Platz [saß]; er war viel größer, schrieb aber nicht so steil, sondern bedeutsam geneigter und schräger«57. Als einzige signifikante Spur des Akakij, das wollen wir hier festhalten, bleibt also eine Differenz der Handschrift. An dieser Stelle aber greift der Erzähler abermals ein, denn: Die Geschichte sei noch nicht zu Ende58: »Wer hätte aber geglaubt, daß die Geschichte von Akaki Akakijewitsch damit noch nicht zu Ende ist, daß es ihm vielmehr beschieden war, noch mehrere Tage nach seinem Tode einigermaßen geräuschvoll weiterzuleben, sozusagen zum Entgelt für sein so unbeachtet verlaufendes Leben! Doch so ge54 »Akaki Akakijewitsch konnte sich nicht erinnern, wie er die Treppe heruntergekommen war und die Straße erreicht hatte. Er spürte weder Arme noch Beine. In seinem ganzen Leben war er von keinem General so abgekanzelt worden wie von diesem […]. Er ging mit offenem Mund durch den Schneesturm, der in den Straßen pfiff […]. Im Nu hatte er eine Angina weg, und als er nach Hause kam, konnte er kein Wort mehr sprechen – sein Hals war zugeschwollen, und er mußte sich ins Bett legen. So stark kann sich mitunter eine gehörige Abkanzelung auswirken! Am folgenden Tag stellt sich hohes Fieber ein. Dank der großzügigen Unterstützung durch das Petersburger Klima schritt die Krankheit rascher fort, als man erwarten konnte«. Gogol: Mantel (Anm. 1), 244. 55 Ebd., 245. 56 Ebd., 246. 57 Ebd. 58 Ebd.

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schah es und unsere nüchterne Geschichte kommt überraschend zu einem phantastischen Ende.« Was hier auf der Ebene des Erzählertextes als »phantastisches Ende« motiviert ist, somit auch entsprechende Rezeptionsanweisungen enthält und die Imagination angemessen einstellt, ist aber, das soll im folgenden gezeigt werden, durch die durchgängige Porösität der Textoberfläche geprägt, die hierin ihre Entsprechung in der Beschaffenheit des alten wie des neuen Mantels findet. Dieser ist ja der eigentliche Grund für das phantastische Weiterleben des Akakij. Zentral wird dabei das Gesicht, werden Motive des Gesichthaften als »System weiße Wand – schwarzes Loch«59, wie Gilles Deleuze und Félix Guattari dies beschreiben. Nach Deleuze/Guattari dient das Gesicht der »Signifikanz als weiße Wand, auf der sie ihre Zeichen und Redundanzen einschreibt«, der Subjektivierung als »schwarzes Loch, in dem sie ihr Bewußtsein, ihre Passion und ihre Redundanzen ansiedelt«60. Das »System weiße Wand – schwarzes Loch« wäre also zu verstehen als ein Signifikationssystem, dessen Versuch, vollwertige Zeichen zu schaffen, immer unvollständig bleiben muß, wie eine schwarze Letter, die ein weißes Blatt Papier durchlöchert und umgekehrt. Von Akakij Akakievic Bašmac kin heißt es, er sei »fertig zur Welt gekommen«, habe »bei seiner Taufe eine Grimasse geschnitten, als habe er geahnt, daß er Titularrat werden würde“, seine Liebe zum Beruf zeige sich in seinem Gesicht beim Abschreiben, darin seien geradezu die Buchstaben zu lesen, welche er gerade schreibe, seine Gesichtsfarbe wird als »hämorrhoidal« bezeichnet.61 »Dort, im Abschreiben, erblickte er eine eigene, mannigfaltige und angenehme Welt. Sein Gesicht nahm einen genießerischen Ausdruck an; er hatte gewisse Favoriten unter den Buchstaben, und wenn er bis zu ihnen vordrang, war er nicht wiederzuerkennen – er schmunzelte und zwinkerte und half mit den Lippen nach – es schien, man könne ihm jeden Buchstaben, den seine Feder abmalte, vom Gesicht ablesen.«62 Im ersten Teil der Novelle, bis zur Entstehung des neuen Mantels, ist Akakijs Gesicht auffallend blicklos. In der Schneiderszene wird das ›Portrait‹ eines Generals auf Petrovic s Tabakdose signifikant. Von diesem ›Portrait‹ blieb nämlich, so der Erzählertext, »ungewiß, welchen General es zeige, da die Stelle, an der sich das Gesicht befunden hatte, eingedrückt und mit einem viereckigen Stückchen Papier überGilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus – Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992, 230. 60 Ebd. 61 Gogol: Mantel (Anm. 1), 212 f. Dieses Schicksal des Akakij spiegelt sich auch in seiner Namensgebung. Die Lautsemantik des Namens (und der Namensfindung – wie sie im Text beschrieben ist ebenso, wie sie die Textversionen der Gogol’manuskripte belegen) beschäftigt Boris E jchenbaum in seiner Analyse der Lautsemantik der Novelle. In diesem Zusammenhang verweist er auch auf die lautliche wie rhythmische Signifikanz des Attributs »hämorrhoidal« (russ. gemoroidal’nym). E jchenbaum: Wie Gogol’s Mantel (Anm. 13), 137. 62 Gogol: Mantel (Anm. 1), 215. 59

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klebt war«63. Als sich nach dem Urteil »neuer Mantel« Akakijs Blick »trübte […] und alles im Zimmer sich vor ihm zu drehen begann«, sah er deutlich »nur noch den General mit dem überklebten Gesicht auf Petrowitschs Tabakdose«64. Akakij wird es, wie wir wissen, noch zumindest einmal mit einem General zu tun haben, dies im direkten Zusammenhang mit seinem neuen Mantel. Wenn sich Akakij – als wandelnder und aber »geräuschvoll weiterlebender Toter« – im zweiten Teil der Novelle an der Welt rächt, dann nicht nur dadurch, daß er zum erfolgreichen Manteldieb wird, sondern vor allem sühnt er gewissermaßen auch seine Existenz als Projektionsfläche. Der Wandel dazu findet an der Grenze zwischen Leben und Tod statt, in jener Szene, da Akakijs neuer Mantel geklaut wird: Die Diebe drohen ihm mit einer Faust, die »die Größe eines Beamtenkopfes«65 hatte. Diese Rückprojektion seiner eigenen Umrisse scheint das Unterpfand für das Durchsetzungsvermögen des toten Akakij zu sein: So entkommt er Wachmännern, die seiner beim Versuch eines Mantelraubs habhaft wurden, in dem er diese seinerseits mit temporärer Blindheit straft: »[Der Wachmann] packte ihn am Kragen, […] und griff für einen Augenblick in seinen Stiefel, um die Tabakdose aus ihm hervorzuholen und seiner schon sechsmal erfrorenen Nase eine vorübergehende Erfrischung zuzuführen, doch der Tabak war augenscheinlich von einer Art, die nicht einmal Tote vertragen. Kaum hielt der Wachmann das rechte Nasenloch mit einem Finger zu und zog mit dem linken eine halbe Prise ein, als der Tote allen dreien die Augen vollnieste.66 Während sie die Fäuste an die Augen führten, um sie auszuwischen, war der Tote längst über alle Berge«67. Im finalen erfolgreichen Mantelraub rächt Akakij sich ad personam, an jenem General, der Akakij bei seinem Versuch, den Raub seines neuen Mantels anzuzeigen, eine Abfuhr erteilt hatte, und der nur und immer wieder als »ocen’ znac itel’noe Ebd., 223. Ebd., 224. 65 Ebd., 237. 66 Dieses geräuschvolle und sicherlich nicht spurenlose Lebenszeichen des Toten hat offensichtlich Anton C echov zu einer – äußerst minimalistischen – Fortsetzung des Gogol’schen Textes angeregt, zu der 1883 erschienen Erzählung Der Tod des Beamten (russ. Smert’ cinovnika): Der Beamte C erv’jakov (dt. etwa Würmer) muß während eines Opernbesuchs niesen und ist seither überzeugt, er habe dabei einen vor ihm sitzenden General (sic !) ›getroffen‹. Er entschuldigt sich gleich darauf, die Entschuldigung wird auch unverzüglich angenommen. Jedoch wird es zur fixen Idee des Beamten, sich in aller Form beim General entschuldigen zu müssen. Tags darauf sucht er ihn in seinem Empfangszimmer auf, muß jedoch den Eindruck haben, der General verweigere seinem Anliegen Gehör. Nach dem zweiten Besuch jagt der General ihn grob aus dem Zimmer, worauf die Geschichte ihr rasches Ende findet: »In Tscherwjakows Leib zerriß etwas. Er sah und hörte nichts mehr, wich zur Tür zurück, trat auf die Straße und schleppte sich davon … Ganz mechanisch kehrte er nach Hause zurück, legte sich, ohne die Uniform auszuziehen, auf das Sofa und … starb.« Anton Tschechow: Der Tod des Beamten, in: ders.: Vom Regen in die Traufe – Kurzgeschichten, Berlin 1964, 117–120, hier 120. 67 Gogol: Mantel (Anm. 1), 248. 63 64

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lico« bezeichnet wird, was mit »sehr bedeutende Persönlichkeit« nur zur Hälfte richtig wiedergegeben ist: »Lico« bedeutet denotativ Antlitz, Gesicht. Als dieses ›sehr bedeutende Gesicht‹ jenes des Akakij wiedererkennt, wird das Antlitz der »sehr bedeutenden Persönlichkeit« so blaß wie »Schnee« und »sah genau wie das eines Toten aus«. Das Entsetzen der bedeutenden Persönlichkeit übersteigt alles Maß, als der Tote »die Lippen krümmte und, schrecklichen Grabeshauch ausströmend, sagte: ›Aha! Da bist du ja endlich! Endlich habe ich dich am … Dingsda … am Kragen.‹«68 Bevor sich das Schwarz der Nacht über der Novelle schließt, droht aus ihr heraus das Gespenst noch einmal mit einer »Faust, wie man sie selbst bei Lebenden kaum findet«69. Die weiße Wand bzw. Hand durchbricht nun ihrerseits das schwarze Loch.70 In dieser Repräsentation der Gesichthaftigkeit als durchlöcherte und durchlöchernde Oberfläche erstreckt sich die Mangelhaftigkeit des alten Mantels bis zu der des neuen, seiner Abnutzung im Leben nach Akakijs Tod. Handelt es sich bei der Anfertigung eines neuen Mantels, beim Ersetzen der Löcher mit neuer Textur, um einen mimetischen Sündenfall, dann erzählt die Novelle wohl auch die Geschichte der Unähnlichkeit, einer Mimesis, die, mit Didi-Huberman gesprochen, »das zerstört, was sie imitiert«71. Die Anschließbarkeit zwischen dem realistisch-grotesken und dem phantastischen Teil der Novelle ist so gesehen bruchlos gegeben: Dem Motiv des aufgrund seiner Löchrigkeit unbrauchbar gewordenen alten Mantels entsprechen die Evidenzen der durchlöcherten Oberfläche in den Großaufnahmen der Gesichthaftigkeit72 auf der Ebene der narrativen Struktur. Der neue Mantel als paßgenaues Ganzes (the whole) realisiert sich lediglich in dieser beinahe seriellen Fragmentarität (the holes), sie wird als ein das ›studium‹ durch- und unterbrechendes ›punctum‹73 zur Stelle ästhetischen Erfahrens.

68 Ebd., 250. Daß es sich hierbei nicht um einen bösen Traum der bedeutenden Persönlichkeit gehandelt haben kann, wird dadurch gezeigt, daß die fahle Gesichtsfarbe des Generals auch am nächsten Morgen noch von seiner Tochter bemerkt wurde (ebd., 251). 69 Ebd., 252. 70 Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus (Anm. 59), 231: »Manchmal erscheinen Gesichter mit ihren Löchern auf der Mauer, manchmal erscheinen sie mit ihrer linearisierten, eingerollten Wand im Loch. Eine Horrorgeschichte, das Gesicht ist eine Horrorgeschichte. Es ist sicher, daß der Signifikant die Wand, die er braucht, nicht alleine bildet; es ist sicher, daß die Subjektivität ihr Loch nicht ganz allein aushöhlt.« 71 Georges Didi-Huberman: phasmes, Köln 2001, 20. 72 Vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild – Kino 1, Frankfurt/M. 21998, 123 ff. 73 Roland Barthes: Die helle Kammer – Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/M. 1985, 35 f.

›Katzenmusik‹ Zur ästhetischen Erfahrung kompositorischer Innovation Von Friedrich Geiger

Ästhetische Erfahrung von Musik geriet bislang, als ›musikalische Erfahrung‹, vorwiegend aus musikpädagogischer oder musikpsychologischer Perspektive in den Blick. Zum Gegenstand hermeneutischer Forschung hingegen ist sie kaum geworden.1 Doch scheint gerade die Frage nach der sprachlichen Vermittlung musikalischer Erfahrung relevant, denn – so etwa Franz von Kutschera – »ästhetische Urteile stützen sich auf ästhetische Erfahrungen und beschreiben das, was sich in ihnen zeigt«2. Deshalb verspricht die Untersuchung sprachlich gefaßter Urteile über Musik Aufschluß über die Eigenart der jeweils zugrundeliegenden Erfahrungen.3 Um diesen Ansatz im folgenden exemplarisch zu erproben, wähle ich ein Urteilsmuster, das von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts im Diskurs über progressive Musik überaus gebräuchlich war und bis heute sprichwörtlich geblieben ist, nämlich den abwertenden Ausdruck ›Katzenmusik‹. Zunächst ist es erforderlich, in einer begriffsgeschichtlichen Analyse die Implikationen dieses Topos aufzufächern. Dies erlaubt dann, die Erfahrungen, die mit seiner Hilfe sprachlich vermittelt werden, genauer zu bestimmen. * Soll Musik durch einen Vergleich mit der Tierwelt diskreditiert werden, spricht man nicht von Pferdemusik, Hundemusik oder Affenmusik, sondern von Katzenmusik. Warum aber ist gerade diese Wortschöpfung in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen? Wer jemals seine Nachtruhe wegen streunender Katzen einbüßte, die im Hinterhof leidenschaftlich jaulten, wird das auf Anhieb erklären können: Die Schlagkraft des Ausdrucks ›Katzenmusik‹ hängt mit der gespenstischen Musiknähe des sogenannten ›Katergesangs‹ zusammen, jenem brünstigen, von Für den Bereich der Musikpädagogik siehe z. B. Musikalische Erfahrung – Wahrnehmen, Erkennen, Aneignen, hg. von Hermann J. Kaiser, Essen 1992. Zentrale musikpsychologische und hermeneutische Ansätze referiert Constantijn Koopman: Identifikation, Einfühlung, Mitvollzug: Zur Theorie der musikalischen Erfahrung, in: Archiv für Musikwissenschaft 58 (2001), 317–336. Siehe auch Koopmans Aufsatz Musikalische Erfahrung und musikalischer Gegenstand, in: Musik & Ästhetik 7/25 ( Januar 2003), 40–59. 2 Franz von Kutschera: Ästhetik, Berlin und New York 1988, 70. 3 So die Ausgangshypothese des Teilprojekts Musikalisches Urteil und ästhetische Erfahrung (Leitung Albrecht Riethmüller) innerhalb des DFG-Sonderforschungsbereichs 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste an der Freien Universität Berlin. 1

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2004 · © Felix Meiner Verlag · ISSN 1439-5886

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Knurren unterbrochenen Heulen also, das unwillkürlich an unbeholfene menschliche Sangesversuche erinnert.4 Die Invektive ›Katzenmusik‹ enthält somit ihrem Ursprung nach zwei hauptsächliche Stoßrichtungen. Zum einen wird damit unterstellt, es handle sich bei dem inkriminierten Werk gar nicht um Musik, sondern lediglich um eine Karikatur von Musik – um ein tierhaftes Zerrbild menschlicher Kunstäußerung. Zum andern schwingt die Pein mit, die das Geheul der Katzen dem bereitet, der es ertragen muß. Katzenmusik meint demnach zweitens eine Musik, die stört, die den Hörer quält, die einer Attacke auf seine Nerven gleichkommt. Ausgehend von diesen beiden Bedeutungen entwickelte sich eine facettenreiche Begriffsgeschichte.

I. Musik als Störaktion Als Musik, die eine gezielte Attacke auf den Adressaten darstellen soll, ist der volkstümliche Brauch der Katzenmusik seit dem Mittelalter weiträumig belegbar.5 Ob in den romanischen Ländern, wo er ›Charivari‹ hieß, oder im angelsächsischen Sprachraum, wo er unter ›rough music‹ firmierte – die Grundzüge waren dieselben. Das ohrenbetäubende Getöse auf zusammengewürfeltem Instrumentarium und mit viel Geschrei wurde nachts vor dem Haus von Personen veranstaltet, die gegen den gesellschaftlichen Sittenkodex verstoßen hatten. Bevorzugte Opfer waren Frauen, die nach dem Tod ihres Mannes eine zweite Ehe eingegangen waren, oder auch Paare stark differierenden Alters. Eine frühe Darstellung einer solchen Katzenmusik stammt vom Beginn des 14. Jahrhunderts, aus dem Roman de Fauvel 6 (Abb. 1, S.169). Im oberen Bilddrittel links erscheint die Titelfigur des allegorischen Roman, der Hengst Fauvel, ein Sinnbild der Laster.7 Freudig blickt er der Hochzeitsnacht mit seiner Braut Vaine Gloire, dem »eitlen Ruhm«, entgegen. Gegen diese Ehe protestieren, im unteren Teil des Bildes dargestellt, die Bürger von Paris. Verkleidet und mit Lärminstrumenten bewaffnet, führen sie ein Charivari auf. Auf der gleichen Assoziation beruhen Wortschöpfungen wie ›Katzenkonzert‹, ›Katzenmesse‹ oder ›Katzenton‹. 5 Siehe hierzu Adelgard Perkmann: Artikel Katzenmusik, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, IV, Berlin und Leipzig 1932, 1125–1132; Martin Geck: Artikel Charivari, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, neubearb. Ausg. hg. von Ludwig Finscher, Sachteil II, Kassel und Stuttgart 1995, 642 f.; Karl S. Kramer: Art. Rügebräuche, in: Lexikon des Mittelalters, VII, München 1995, 1090 f. 6 Le Roman de Fauvel in the Edition of Mesire Chaillou de Pesstain – A Complete Reproduction in Facsimile, ed. by Edward Roesner, François Avril and Nancy Freeman Regalado, New York 1990. Zum allgemein- und kulturgeschichtlichen Hintergrund des Roman siehe die »Introduction« der Herausgeber ebd., 1–53; speziell zum Charivari 9–15. 7 Der Name Fauvel ist, wie in den Versen 247–252 des Roman aufgeschlüsselt wird, ein Akrostichon der Laster Flaterie, Avarice, Vilanie, Varieté, Envie und Lascheté. 4

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Der volksläufige Rügebrauch der Katzenmusik enthält, wie dieses Beispiel zeigt, mehrere Sinnaspekte. Primär geht es darum, durch die Unannehmlichkeit des infernalischen Spektakels die Person, der es gilt, physisch zu bestrafen. Zweitens hat das mißtönende Konzert aber auch eine indexikale Funktion, indem es klanglich ebenjene soziale Disharmonie abbildet, die das Opfer durch sein sittenloses Verhalten verschuldet haben soll. Auf den Verstoß gegen die sittliche Norm verweist schließlich drittens, wenigstens im deutschen Sprachraum, die sexuelle Konnotation, die in dem Begriff ›Katzenmusik‹ mitschwingt.

II. Musik als Protestaktion Aus der indexikalen Schicht des Volksbrauches, die ein soziales Aufbegehren zum Ausdruck brachte, entwickelte sich ein zentraler Strang der Begriffsgeschichte: Katzenmusiken wurden zu einer bemerkenswert effektiven Form des politischen Protests. Volksmengen fanden sich vor den Häusern mißliebiger Politiker oder vor den Amtssitzen der Staatsgewalt zusammen, um lärmende Konzerte zu veranstalten. Ihren Höhepunkt erreichte die Geschichte der Katzenmusik als Protestaktion im Verlauf der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland – also im Vormärz und schließlich während der bürgerlichen Revolution von 1848. Bereits in den Jahren nach 1830, als die Ausläufer der Pariser Julirevolution auch die deutschen Staaten erreichten, war es mehrfach zu spontanen Demonstrationen gekommen, bei denen Lärminstrumente traktiert und revolutionäre Lieder gesungen wurden: »Heil dir im Siegerkranz, heut bleibt keene Scheibe janz«, hieß es beispielsweise 1835 in Berlin.8 Als dann im März 1848, wieder von Paris ausgehend, in fast allen deutschen Residenzen Straßentumulte losbrachen, entwickelten sich die Katzenmusiken rasch zu einer überall verbreiteten Aktionsform. Der englischstämmige Rechtshistoriker George Phillips, der 1849 in Freiburg im Breisgau eine Abhandlung Ueber den Ursprung der Katzenmusiken publizierte, schilderte im Vorwort, wie er diese Schrift »unter dem Geheul der in allen Gauen des deutschen Vaterlandes ertönenden Katzenmusiken«9 erarbeitet habe. Das Spektrum dieser Aktionsform reichte von kleinen Gruppen, die sich mit ein paar Lärminstrumenten bewaffneten, bis hin zu gewaltigen Massentumulten. In Wien etwa suchte die aufgebrachte Menge mehrmals Repräsentanten des verhaßten Metternich-Regimes mit ohrenbetäubenden Katzenmusiken heim, wobei sich bis zu 20.000 Menschen einfanden und mit verschiedenen Orchesterinstrumenten, Siehe Barbara James und Walter Moßmann: Glasbruch 1848 – Flugblattlieder und Dokumente einer zerbrochenen Revolution, Darmstadt und Neuwied 1983, 7. 9 George Phillips: Ueber den Ursprung der Katzenmusiken. Eine canonistisch-mythologische Abhandlung, Freiburg im Breisgau 1849, 2. 8

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Trommeln und Geräuscherzeugern wie Ratschen, Klappern oder zweckentfremdetem Haushaltsgerät ein gewaltiges Getöse veranstalteten.10 (Abb. 2, S. 170) So sinnbildlich wurden diese Aktionen für die Wiener Revolution, daß sich die satirische Politikzeitschrift, die ab Juni 1848 von Sigmund Engländer und Willi Beck herausgegeben wurde, zunächst Wiener Katzen-Musik nannte. Ab September hieß sie dann Wiener Charivari (Katzenmusik), in Anlehnung an das seit 1832 erscheinende Pariser Vorbild, die Zeitschrift Charivari. (Abb. 3 u. 4, S. 170 u. 171) Auch in Berlin nahmen innerhalb kürzester Zeit die Katzenmusiken eklatant zu. Schon bald tauchte überall in der Stadt ein anonymes Plakat auf, das sich »an die Bürger und Einwohner Berlin’s« richtete und den Titel trug: Wozu dienen und wozu führen die Katzen-Musiken? (Abb. 5, S. 171) »Seit 8 Tagen«, so war dem Anschlag vom Mai 184811 zu entnehmen, »hat das früher hier fremde Wesen der Katzenmusiken sich Eingang verschafft. […] Die Katzenmusiken (Charivari’s) können wichtig sein, wenn sie offen ausgehen von denen, welche einen unbestreitbaren Einfluß üben auf das Volk, und dessen Stimme mehr oder minder aussprechen, und wenn sie gerichtet sind gegen die, denen allgemeine und verdiente politische Mißbilligung gebührt; […] sie werden strafbar und verbrecherisch, wenn sie, erzeugt von den Motiven des Umsturzes und der Volksverführung […] von Böswilligen geleitet, das Gesetz, die Verfassung, die Regierung und deren gesetzliche Organe unwürdig angreifen und beschimpfen, das Band der Ordnung lösen, Personen und Eigenthum gefährden, und dadurch unberechenbare Conflicte herbeizuführen drohen«. Emphatisch schließt der Text mit dem Appell: »Dulde keiner, der es redlich meint mit dem Vaterlande und der Stadt und ihren Einwohnern, noch länger den gefährlich werdenden Unfug von Demonstrationen und KatzenMusiken […]! Jeder wirke kräftig und friedlich dahin, daß sie aufhören, ohne daß sie erst durch Gesetze und deren Mittel verbannt werden müssen!!!«12 Doch genau dieser Fall trat nur wenige Tage später ein: Katzenmusiken wurden unter Strafe gestellt. (Abb. 6, S. 172) In einer amtlichen Bekanntmachung verkündeten am 27. Mai 1848 das Oberhaupt der Armee, General-Major von Aschoff, und der Berliner Polizeipräsident von Minutoli, daß in Zukunft die Anstiftung zu und die Teilnahme an Katzenmusiken »mit Gefängnis bis zu 6 Wochen oder entsprechender Geldstrafe geahndet« werde. Die Begründung lautete13: »Die seit einiger Zeit überhand nehmenden sogenannten Katzenmusiken, welche bis tief in die Nacht hinein dauern, haben nicht allein Siehe hierzu: 1848, »das tolle Jahr« – Chronologie einer Revolution, Katalog zur 241. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, hg. von Walter Öhlinger, Wien 1998, 41 f., 98, 104, 109 und 170. 11 Der Text bezieht sich auf die am 22. Mai 1848 in Berlin eröffnete Nationalversammlung. 12 Wozu dienen und wozu führen die Katzen-Musiken?, Berlin [Mai] 1848, Deutsches Historisches Museum Berlin (Do 71/76I). 13 Bekanntmachung, Berlin, 27. Mai 1848, Deutsches Historisches Museum Berlin (Do 56/ 1254). 10

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die nächtliche Ruhe der Einwohner gestört, sondern sind auch in argen Unfug ausgeartet, indem dadurch Schlägereien, Verwundungen und Eigenthumsverletzungen herbeigeführt worden sind.« Wenig später, am 30. Juni 1848, verhängte auch in Wien der Sicherheitsausschuß ein solches Verbot, für dessen Einhaltung die Nationalgarde sorgte.14 Diese Zeugnisse verdeutlichen, daß die Katzenmusiken beim liberalen Bürgertum schlecht angesehen waren. Aus dessen Perspektive standen solche Lärmaktionen für die drohende Radikalisierung der bürgerlichen Revolution in Richtung einer sozialen. Doch den fundamentalen Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung wollten die bürgerlichen Liberalen um jeden Preis verhindern. Ihr Ideal war vielmehr ein konstitutioneller Nationalstaat, der gute ökonomische Perspektiven bieten sollte und daher nichts weniger vertrug als andauernde Unruhen und Aufruhr nach jakobinischem Vorbild. In diesem Interesse arrangierte sich der bürgerliche Flügel der Revolution bekanntlich rasch mit den Vertretern der alten Ordnung. Nachdem in Preußen eine Verfassung zugesagt worden war, kam dort bereits im November die Revolution zum Erliegen.

III. Revolution in der Musik Was indessen auf Dauer nachblieb, war ein Begriff von Katzenmusik, der überaus eng mit bedrohlichen Vorstellungen wie Revolution, gefährlichem Radikalismus und gesellschaftlichem Umsturz verknüpft war. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, weshalb in der künstlerischen Kritik seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Invektive ›Katzenmusik‹ bevorzugt auf solche Werke gemünzt erscheint, welche die überlieferten Grundlagen der Musik in Frage stellten. Die Vorstellungen der politischen Revolution und der künstlerischen Revolution fielen im Topos der Katzenmusik zusammen. Exemplarisch kann man sich diese begriffliche Aufladung durch einen Blick auf die Rezeption der Werke Richard Wagners vergegenwärtigen. Wagner war ein steckbrieflich gesuchter Protagonist der Dresdner Mairevolution von 1849, ein politischer Exilant, der erst elf Jahre später nach einer Teilamnestie durch den sächsischen König nach Deutschland zurückkehrte. Zudem wurde er von Franz Liszt und seiner ›neudeutschen Fortschrittspartei‹ als Schöpfer einer ›Musik der Zukunft‹ gepriesen. Damit verkörperte Wagner in der öffentlichen Wahrnehmung den politischen und künstlerischen Revolutionär in Personalunion. Das wiederum schlug sich in charakteristischen Schmähungen seiner Werke nieder. »Diesem Abschnitt Beispiele aus Tristan hinzuzufügen, schlage ich den Klavierauszug auf, um nochmals zu suchen. Aber suchen? Nein! Auf jeder Seite An die Bewohner Wiens!, Kundmachung des Sicherheitsausschusses vom 30.6.1848, siehe 1848, »das tolle Jahr« (Anm. 10), 170. 14

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finden sie sich dutzendweise […]. Was dazu gesungen wird, ist natürlich für diese Harmonie ganz gleichgültig. Das ist höhere Katzenmusik«15, schrieb beispielsweise der Dirigent und Musikschriftsteller Heinrich Dorn 1870. Zu einem ähnlichen Urteil kam Dorn auch hinsichtlich anderer Wagner-Opern16: »Eine grauenvollere Katzenmusik könnte nicht erzielt werden, als Wagner in seinen Meistersingern erreicht, und wenn sämtliche Leiermänner Berlins in den Renzschen Zirkus gesperrt würden, und jeder eine andere Walze drehte.« Und selbst August Wilhelm Ambros, ein Freund Liszts und Gegner Eduard Hanslicks, stöhnte17: »In dem Ton-Charivari der Meistersinger-Ouverture stehen wir wahre Pein aus.« Auch außerhalb des deutschen Sprachraumes war der Katzenmusik-Topos beliebt, wenn es um Wagner und die ›neudeutsche Schule‹ ging. Prosper Mérimée, der gefeierte Autor der Novelle Carmen, spottete 1861 über den Tannhäuser18: »Mir scheint, ich könnte morgen etwas Ähnliches schreiben – inspiriert von meiner Katze, die über die Tastatur des Klaviers marschiert.« Und über Franz Liszts Hungaria mokierte sich 1882 die Londoner Zeitung Era19: »Die Violinspieler machen dauernd Kapriolen und kratzen beinahe ganz am Steg herum, wo der Ton dem verzweifelten Wimmern einer verliebten Katze auf dem Dach um Mitternacht ähnelt.« Wie das Schmähwort von der ›Katzenmusik‹ an den Protagonisten der ›neudeutschen Schule‹ und ihrer ›Musik der Zukunft‹ haftete, zeigen überdies Zeugnisse aus der Literatur und der bildenden Kunst. Heinrich Heine veröffentlichte 1854 das Gedicht Jung-Katerverein für Poesie-Musik, eine ebenso brillante wie bissige Satire auf das Programm der ›neudeutschen Schule‹.20 Wagner, auf den Heine vor allem zielte, wird namentlich nicht erwähnt, wohl aber Hector Berlioz und Franz Liszt.21 Die neunzehn Strophen enthalten nahezu sämtliche Facetten des Katzenmusik-Topos; es wird noch darauf zurückzukommen sein. Die wohl bekannteste bildliche Darstellung von Katzenmusik ist Moritz von Schwinds Katzensymphonie von 1866. (Abb. 7, S. 172) Heinrich Dorn: Aus meinem Leben, Berlin 1870, zitiert nach Nicolas Slonimsky: Lexicon of Musical Invective – Critical Assaults on Composers Since Beethoven’s Time, London 2000, 234. 16 Heinrich Dorn 1870 in der Montagszeitung, Berlin, zitiert nach ebd., 235. 17 Ambros 1870 in der Wiener Presse, zitiert nach Richard Wagner im Spiegel der Kritik, hg. von Wilhelm Tappert, Leipzig 1903, 14. 18 »Il me semble que je pourrais écrire demain quelque chose de semblable en m’inspirant de mon chat marchant sur le clavier d’un piano», zitiert nach Slonimsky: Lexicon (Anm. 15), 229. 19 »The violinists are always capering and scraping nearly up to the bridge, where the tone is apt to resemble the forlorn wail of an amorous cat upon the tiles at midnight«, zitiert nach ebd., 117. 20 Siehe Albrecht Riethmüller: Programmusik in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts, in: Programmusik, hg. von Albrecht Goebel, Mainz 1992, 9–29; zu Heines Gedicht 28 f. 21 Jung-Katerverein für Poesie-Musik, in: Heinrich Heine – Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr, 3/1: Romanzero, Gedichte. 1853 und 1854, Lyrischer Nachlaß, bearbeitet von Frauke Bartelt und Albert Destro, Hamburg 1992, 222–225. Siehe auch die Erläuterungen im zugehörigen Apparatband 3/2, 1233–1248. 15

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Schwind widmete das Blatt dem Violinvirtuosen Joseph Joachim, einem BrahmsFreund und dezidierten Gegner der musikalischen ›Fortschrittspartei‹ Franz Liszts. Den Anlaß für die Widmung gab Joachims Ernennung zum Direktor der Berliner Hochschule für Musik im Jahr 1866. Diese offizielle Würdigung wertete Schwind augenscheinlich als Etappensieg gegen die ›Neudeutschen‹, über die er sich mit der Katzensymphonie lustig machte. Darauf deutet zumindest ein Brief an Eduard Mörike vom 19. Januar 1869, dem Schwind eine Reproduktion der Katzensymphonie beilegte. Ironisch rät er dem Dichterfreund22: »Sie mühen sich innerlich vergeblich ab, den überwundenen Standpunkt zu behaupten, und wollen sich immer noch nicht in die Arme der Zukunftspoesie werfen, wo allein Heil ist. Was wollen Sie! Vergebliche Mühe! Sehen Sie, ich habe den großen Schritt getan und beschwöre Sie, ein Gleiches zu tun. Ich bin Musiker geworden, und zwar Zukunftsmusiker im zweiten höheren Grade. Weg mit dem alten, steifen, trockenen Notensystem! Veraltet, überwunden, abgetanes Zeug – es braucht ein neues, durchgeistigtes, lebensvolles Ausdrucksmittel für meine neuen ungeahnten Gedanken – ob es Töne, Bilder, oder der Teufel weiß was sind, das ist auch ganz Wurst – ich habe das Unglaubliche geleistet. Beiliegende, Hr. Joachim gewidmete Sonate [!] sei ein redender Beweis. Er gesteht, daß er nicht imstande ist, sie zu spielen – dieser Hexenmeister auf der Geige!« Kurzum: ein »Riesenschritt in der Musik«. Vor dem Hintergrund solcher Anspielungen auf die ›Zukunftsmusiker‹ und das Wagnersche ›Kunstwerk der Zukunft‹23, das alle Einzelkünste vereinen sollte (»Töne, Bilder, oder der Teufel weiß was«), ist Schwinds Katzensymphonie offenkundig als Sottise gegen die Musik der ›Neudeutschen‹ zu verstehen. Nachdem es im 19. Jahrhundert derart üblich geworden war, Musik, die einen fortschrittlichen Anspruch erhob, als Katzenmusik zu schmähen, zielte seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts der Topos folgerichtig vor allem auf die progressive Schule Arnold Schönbergs. Dabei läßt sich die Linie zur Wagner-Kritik nicht selten bis in den Wortlaut hinein rückverfolgen. »Gänzlich ablehnen muß ich die fünf Orchesterstücke«24, so 1912 beispielsweise Hugo Leichtentritt rigoros. »Ein tragikomisches Schauspiel, zu dieser tollen Katzenmusik das Gesicht des dirigierenden Schönberg zu sehen, der mit bald verzücktem, bald verzweifeltem Ausdruck die Spieler anfeuerte. […] Und dies sollte die Musik der Zukunft sein?« Zwei Jahre später bezeichnete Ernst Decsey Schönbergs erste Kammersymphonie als »eine Art Katermusik, jaulend, jammernd, desparat«25. Und Felix Borowski schimpfte im November 1913 26: »Eine Katze, die auf der Tastatur eines Klaviers entlang läuft, könnte 22 Brief an Eduard Mörike vom 19. Januar 1869, zitiert nach Moritz von Schwind – Briefe 1822–1870, hg. von Hannelore Gärtner, Leipzig 1986, 200 f. 23 Wagners gleichnamiger Aufsatz war 1850 erschienen. 24 Hugo Leichtentritt im Februar 1912, zitiert nach Slonimsky: Lexicon (Anm. 15), 150. Hervorhebung F.G. 25 Ernst Decsey im Februar 1914, zitiert nach ebd., 157. 26 Felix Borowski im November 1913, zitiert nach ebd., 156.

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eine lieblichere Melodie hervorbringen als jede von denen, die dem Bewußtsein des Wiener Komponisten entspringen«.

IV. Musik als körperliche Attacke Die besondere Eignung des Katzenmusik-Topos als Kampfbegriff gegen das Neue in der Musik erschöpfte sich nicht in der Möglichkeit, musikalische und politische Revolution assoziativ zu verknüpfen, eine Möglichkeit, die, wie gezeigt, aus historischen Gründen nahe lag. Vielmehr ergibt die Analyse der Belegstellen, daß eine ganze Reihe weiterer Aspekte mitschwangen. Erinnert sei zunächst an die eine der beiden Grundbedeutungen von ›Katzenmusik‹ – eine Musik, deren Hören physische Qual bereitet. Dieser implizite Vorwurf gegen neue Musik, sie käme einer akustischen Körperverletzung gleich, bildet einen wesentlichen Strang des Urteilsgeflechts. Pointiert kommt diese Ansicht in der berühmten Wagner-Karikatur zum Ausdruck, die 1869 in der Pariser Zeitschrift L’Eclipse erschien. (Abb. 8, S. 173) Der progressive Komponist als Gewalttäter, der gezielt das Gehör des Auditoriums attackiert – diese Vorstellung, die der Karikaturist hier treffsicher im Bild faßte, schwingt dort, wo von Katzenmusik die Rede ist, stets mit. Explizit wird die besagte Vorstellung beispielsweise in dem zitierten Stoßseufzer von Ambros, man habe bei der Meistersinger-Ouvertüre »wahre Pein« auszustehen. Unter dem Aspekt ,Katzenmusik als physische Gewalt‹ muß überdies eine lange ikonographische Tradition erwähnt werden, die den eben beschriebenen Sachverhalt auf bemerkenswerte Weise variiert. Es handelt sich um zahlreiche Darstellungen, in denen Katzenmusik dadurch entsteht, daß die Katze selbst malträtiert wird – indem ihr beispielsweise jemand auf den Schwanz tritt –, worauf sie schrille Schmerzensschreie ausstößt. Ein beliebtes Motiv innerhalb dieser Tradition ist insbesondere ein skurriles Musikinstrument, nämlich das sogenannte Katzenklavier. Das erste hier abgebildete Beispiel, ein Stich des Dresdner Graveurs Johann Kellerthaler des Jüngeren aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, zeigt eine wüste Narrenkapelle.27 Im Clavichord stecken Katzen und Hunde, die einerseits selbst spielen, andererseits auf Tastendruck Schreie von sich geben (Abb. 9, S. 173). Das zweite Beispiel, eine anonyme Darstellung um 1810, stammt aus Paris.28 Sie zeigt in der rechten Bildhälfte ein Katzenklavier, das »Forté-Miaulino« beschriftet ist. Als Erfinder dieses Instruments nennt der Künstler Bazile Minet, also »Basil Kätzchen« (Abb. 10, S. 174). Abgebildet bei Karl Storck: Musik und Musiker in Karikatur und Satire – Eine Kulturgeschichte der Musik aus dem Zerrspiegel, Oldenburg 1910, 187. 28 Abgebildet bei Yane Fromrich: Musique et Caricature en France au XIXe Siècle, Genf 1973, 76. 27

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In dieser Tradition, die hier durch die beiden Abbildungen des Katzenklaviers nur kurz gestreift werden kann, stehen auch jene häufigen Invektiven gegen neue Musik, die behaupten, sie klänge, als ob man Katzen quäle. Der Aspekt der physischen Attacke erscheint auch hier, doch entsteht die Pein des Hörers gewissermaßen indirekt: Das Gequälte wird vielmehr in der Musik selbst verortet. Exemplarisch sei eine Kritik von Franz Liszts Dante-Symphonie zitiert, die im Februar 1886 in der Bostoner Gazette erschien29: »Die Kakophonie des Werks ist nicht zu ertragen. Man hat den Eindruck, als ob der Komponist versucht habe, in der Musik jegliches Schmerzgeheul und Gestöhn abzubilden, das der Mensch jemals vernahm, […] dazwischen eingestreut eine Auswahl der verschiedenen Ausdrucksschattierungen, die nächtliches Katzengeschrei annehmen kann.«

V. Neue Musik als Karikatur von Musik Wie eingangs erwähnt, wird unter Katzenmusik häufig die Karikatur von Musik verstanden. Seit jeher bekamen innovative Komponisten zu hören, ihre Musik sei gar keine ›richtige‹ Musik, sondern lediglich ein Zerrbild davon. Dabei sind es, wie die Belegstellen zeigen, vor allem drei Gesichtspunkte, die aus traditionalistischer Perspektive den Zerrbild-Charakter der neuen Musik konstituieren – sie sei dilettantisch, ermangele der Inspiration und strotze vor Mißklängen. Alle drei Gesichtspunkte lassen sich nicht nur in den schriftlichen Zeugnissen, sondern auch ikonographisch fassen.30 Die Vorstellung, daß Katzenmusik herauskäme, wenn Dilettanten oder Amateure, also nichtprofessionelle Liebhaber von Musik, diese ausübten, liegt zahlreichen Bilddarstellungen des Topos zugrunde – etwa einer Berliner Lithographie von 1848, die Concert à la Mice-Katze überschrieben ist und eine Gruppe Straßenmusiker zeigt, deren Publikum sich die Ohren zuhält.31 Ganz explizit macht diese Vorstellung der Titel einer anonymen deutschen Zeichnung, die auf etwa 1830 zu datieren und Das Liebhaber-Concert (Katzenmusik) benannt ist. (Abb. 11, S. 174) Auch in der Dichtung war der Vergleich amateurhafter, schlecht ausgeführter oder schlecht komponierter Musik mit Katzenlauten gängig. Heines bereits erwähnter Jung-Katerverein für Poesie-Musik etwa fordert »die Herrschaft des Genies / Das freylich manchmal stümpert, / Doch in der Kunst oft unbewußt / Die höchste Staffel erklimpert. // Er huldigt dem Genie, das sich / Nicht von der Natur entfernt hat, / Sich nicht mit Gelehrsamkeit brüsten will / Und wirklich auch nichts gelernt hat.« Zitiert nach Slonimsky: Lexicon (Anm. 15), 119. Für ergiebige ikonographische Hinweise danke ich Franz Jürgen Götz, Arbeitsstelle München des Répertoire International d’Iconographie Musicale (RIdIM), sehr herzlich. 31 Deutsches Historisches Museum Berlin (Do 53/546). 29 30

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Wer demzufolge das Schmähwort von der Katzenmusik gegen progressive Komponisten in Stellung brachte, ließ damit zugleich durchblicken, daß er deren künstlerische Kompetenz in Frage und sie mit Dilettanten auf eine Stufe stellte. Eng damit verwandt, aber etwas anders akzentuiert, ist jene Bedeutungsnuance, durch die den Komponisten progressiver Musik ein eklatanter Mangel an Inspiration unterstellt werden soll. Die gängige Formulierung, die Kritiker zu diesem Zweck verwendeten, ist die von der »Katze, die über die Tastatur des Klaviers marschiert« – zwei solche Beispiele, gegen Wagner und Schönberg gerichtet, wurden bereits zitiert. Hier geht es mithin um eine Form von Katzenmusik, bei der das Tier nicht, wie sonst üblich, als jaulend, jammernd, heulend oder fauchend apostrophiert wird, sondern bei der es selbst gar keinen stimmlichen Laut von sich gibt. Vielmehr entsteht hier Katzenmusik, indem vier Pfoten willkürlich und wahllos Tasten der Klaviatur niederdrücken. Die Implikationen dieses Bildes werden vollends erst deutlich, wenn als Hintergrund die Genie- und Inspirationsästhetik des 19. Jahrhunderts mitbedacht wird. Sie bestimmte fast alle künstlerischen Wertungen mehr oder minder explizit und ragte noch weit bis in das 20. Jahrhundert hinein. Der Maßstab dieser Urteile ist das singuläre künstlerische Genie, das durch die Inspiration einer transzendenten Wahrheit teilhaftig wird. Diese Wahrheit offenbart sich dann, zum Kunstwerk geformt, einer andächtigen Hörerschaft. Das Genie erschafft also die Musik nicht aus sich selbst heraus, es dient vielmehr als Medium einer höheren Macht, die sich in der Inspiration kundgibt.32 Wenn nun vor dieser Folie Musik mit einem Katzenspaziergang auf der Tastatur verglichen wird, insinuiert das, dem Komponisten dieses Werks sei lediglich in einem Maß Inspiration zuteil geworden, über das jede beliebige Katze auch verfüge. Ein vernichtenderes Urteil über das ›Genie‹ eines Künstlers ist schwer denkbar. Als wichtiger Teil des Tertium comparationis fungiert dabei das Unbewußte. Es kennzeichnet einerseits das Inspiration empfangende Genie, andererseits, als Mangel an Bewußtsein ins Lächerliche gewendet, auch die Katze, die sprichwörtlich ›ohne Sinn und Verstand‹ die Tasten niederdrückt. Ein zentraler Aspekt, der für traditionsbewußte Kritiker zum Zerrbild-Charakter der innovativen Musik beitrug, war ihre dissonante Textur. Auch um diese Eigenschaft anzuprangern, ist die Invektive Katzenmusik gleich zweifach geeignet. Zum einen kann damit auf den rauhen Klangeindruck abgehoben werden, den das Geschrei brünstiger Katzen erzeugt. Mit dieser Assoziation operiert beispielsweise eine Tirade, die Oscar Comettant im Mai 1872 in dem Pariser Blatt Le Siècle gegen den jungen Georges Bizet veröffentlichte. Nachdem er Bizet zunächst der WagnerHörigkeit bezichtigt hat, fährt er fort33: »Herrn Bizet und seinem Meister wird es Siehe hierzu umfassend Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik, I und II, Darmstadt 1985. 33 Zitiert nach Slonimsky: Lexicon (Anm. 15), 62. 32

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nicht gelingen, die menschliche Natur zu ändern. Für einen Hörer mit gesundem Geist und gesunden Ohren wird dieses chromatische Miauen eines verliebten […] Katers, […] begleitet von so vielen verminderten Septakkorden, wie das Miauen Noten enthält, niemals eine tonale, expressive, wohlausgewogene Melodie ersetzen, […] die von den richtigen Akkorden begleitet wird.« Doch spielt der Katzenmusik-Topos nicht allein auf klangliche Rauhheit an. Zudem dient er der fundamentalen Kritik an einem Satztypus, bei dem Dissonanz dadurch entsteht, daß die einzelnen Stimmen lineare Autonomie besitzen, der vertikale Zusammenklang also dem horizontalen Geschehen nachgeordnet ist. Solches ›dis-sonare‹, das Auseinandertönen der einzelnen Stimmen, wird häufig als klanglicher Wirrwarr beschrieben, der dem Durcheinanderschreien mehrerer Katzen ähnle. In dem Roman Der deutsche Gilblas, den Johann Christoph Sachse 1822 veröffentlichte, ist beispielsweise folgende Schilderung einer Wirtshausszene zu lesen34: »Ein Musicant spielte die Melodie des ersten, der andere die des zweiten und der dritte die Melodie des dritten Liedes […]. Mit vieler Mühe gelang es dem Wirthe, diesem Katzenkonzert ein Ende zu machen.« Mehrere Musiker spielen gleichzeitig eine selbständige Melodie; das klangliche Resultat ist ein mißtönendes Zufallsprodukt, das den Namen ›Katzenmusik‹ verdient – was Sachse hier burlesk erzählt, kann bei etlichen traditionalistisch orientierten Kritikern als generelle Skepsis gegen eine lineare Schreibweise dingfest gemacht werden, die dem vertikalen Zusammenklang, wie sie unterstellen, nur noch sekundäre Bedeutung beimißt. Eines der prägnantesten Beispiele für die Abwehr linear generierter Harmonik ist das bereits zitierte Urteil Heinrich Dorns über Wagners Meistersinger, eine »grauenvollere Katzenmusik könnte nicht erzielt werden«, selbst »wenn sämtliche Leiermänner Berlins in den Renzschen Zirkus gesperrt würden, und jeder eine andere Walze drehte«35.

VI. Komponisten schreiben Katzenmusik Bezogen sich die bisherigen Ausführungen auf die rezeptionsästhetische Seite des Katzenmusik-Topos’, so soll auf die produktionsästhetische wenigstens noch hingewiesen werden. Denn nicht wenige Komponisten griffen in ihrer Musik den Topos auf. Zum einen handelte es sich dabei um Persiflagen. Gioacchino Rossinis Oper Otello beispielsweise, uraufgeführt 1816 in Neapel, gab nicht nur Anlaß für ein po-

34 Zitiert nach dem Artikel Katzenconcert, in Deutsches Wörterbuch, hg. von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, V, München 1984 (= Leipzig 1873), XI, 292 f. 35 Vgl. auch Heines Schilderung des vom Jung-Katerverein veranstalteten Konzerts: »Das war ein Charivari, als ob / Einen Kuhschwanzhopsaschleifer / Plötzlich aufspielten, branntweinberauscht, / Drey Dutzend Dudelsackpfeifer. // Das war ein Tauhu-Wauhu, als ob / In der Arche Noah anfingen / Sämmtliche Thiere unisono / Die Sündfluth zu besingen.«

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puläres Duetto buffo di due gatti für zwei Singstimmen und Klavier (es wurde lange Zeit fälschlicherweise Rossini selbst zugeschrieben); auch der Dresdner Dirigent und Opernkomponist Carl Gottlieb Reißiger (1798 –1859) verfertigte nach Motiven aus Otello ein Katzenduett. Zum anderen reizte es Komponisten, Katzenlaute naturalistisch in ihre Musik zu  ajkovskij das Miauen von integrieren. Als einer der ersten verwendete Pëtr Il’ic C Katzen im Orchester, nämlich 1890 im letzten Bild des Balletts Spjašcaja krasavica (Die schlafende Schöne). Diese russische Tradition setzte Igor’ Stravinskij mit den Berceuses du Chat für Singstimme und drei Klarinetten fort, die in den Jahren 1915 und 1916 in der Schweiz entstanden. Selbstverständlich muß Peter und der Wolf von Sergej Prokof ’ev erwähnt werden, dazu als Beispiel außerhalb Rußlands Maurice Ravel, der 1925 in L’enfant et les sortilèges am Ende des ersten Bildes ein Katzenpaar von großem Orchester begleitet miauen ließ.36 Ein vielschichtiges Beispiel kompositorischer Auseinandersetzung mit dem Katzenmusik-Topos stammt von Erwin Schulhoff. Er wurde 1894 in Prag geboren und kam 1942 – als Jude, Kommunist und ›Neutöner‹ von den Nazis verfolgt – im bayerischen Internierungslager Wülzburg um. 1927 erschien in der Wiener Universal Edition Schulhoffs Toccata sur le Shimmy »Kitten on the Keys«.37 Das Stück, das auch den letzten Satz seiner Cinq études de jazz bildet, ist eine Bearbeitung des populären Ragtimes Kitten on the Keys von Zez Confrey, der 1922 in New York bei Mills Music veröffentlicht worden war. (Abb. 12, S. 175) In der Machart seines Stückes griff Confrey naturgetreu und spielerisch den Topos von der Katze auf, die über das Klavier läuft. Für Interpreten gab er die Anweisung38: »Klettern Sie unbedingt die Oktaven hoch in dem Teil, der klingen soll, als ob eine Katze die Tastatur entlangspringt. Mit anderen Worten, machen Sie eine Faust, wenn Sie die hinauf- und hinunterlaufende Katze nachahmen, sonst klingt es nicht echt.« Zur selben Zeit, als Confrey in den USA sein Klavierstück schrieb, setzte sich in Deutschland der junge Erwin Schulhoff nachdrücklich von der überkommenen Genieästhetik ab. In einen Notizheft hielt er damals fest, er zähle sich zu jenen Künstlern, die sich bemühen, »den bürgerlichen Baro[c]k und die üblichen Verkehrsregeln abzuschütteln und sich frei zu geben, Leben zu bejahen, Pathos zu verneinen, sie wollen nicht Aestheten, nicht Ethiker sein«. Denn, so Schulhoff, »letzten Endes ist jede Kunst Charlatanerei und Lüge, weil sie immer die Dinge anders gibt als sie in Wirklichkeit sind, ja, mit falschem Pathos die Dinge idealisiert«. Seiner Ansicht nach jedoch solle Musik »in erster Linie durch Rhythmus körperliches WohlSiehe Hellmuth Christian Wolff: Katzenmusik, in: Musica 39 (1985), 161–163. Siehe zum folgenden Markus Lüdke: »strange sounds emanating from the piano…‹. Überlegungen zur Jazzrezeption an Erwin Schulhoffs »Toccata sur le Shimmy ›Kitten on the Keys de Zez Confrey‹«, in: »Zum Einschlafen gibt’s genügend Musiken« – Die Referate des Erwin Schulhoff-Kolloquiums in Düsseldorf im März 1994, hg. von Tobias Widmaier, Hamburg 1996, 45–59. 38 Zitiert nach ebd., 47. 36 37

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behagen, ja sogar Ekstase erzeugen, sie ist niemals Philosophie«. In »einem Zeitalter, in welchem Materialismus und Realismus vorherrscht«, sei kein Platz für Kunst »als die lächerlich große Geste«39. Die Philippika, die Schulhoff hier gegen die Genie- und Inspirationsästhetik formulierte, begann er kurz darauf auch kompositorisch umzusetzen, und zwar in erster Linie durch eine intensive Jazz-Rezeption.40 Dabei ist es wohl kaum Zufall, sondern dürfte programmatisch verstanden werden, daß er gerade Kitten on the Keys aufgriff – und damit einen Lieblingstopos der Genieästhetiker provokativ ins Positive wendete. Die Inspiration, der seine Musik entsprang, kam nicht von oben, sondern von ›unten‹ – nämlich vom Jazz. * Das Urteil ›Katzenmusik‹, so kann abschließend festgehalten werden, bezieht sich so gut wie ausschließlich auf Musik, deren Autoren explizit oder implizit einen innovativen Anspruch erheben. Erfahrungen, die der Urteilende beim Hören solcher Musik gemacht hat, sind in dem Ausdruck ›Katzenmusik‹ gebündelt aufgehoben. a) Die innovative Musik wird als willkürliches Durcheinander wahrgenommen, in dem keine Ordnung zu erkennen ist. Dieser Aspekt der ästhetischen Erfahrung wird verbal durch den Vergleich mit dem Durcheinanderschreien mehrerer Katzen vermittelt. b) Die innovativen Anteile der Musik werden als Abweichung von dem gewohnten System künstlerischer Normen wahrgenommen. Der Verstoß gegen hergebrachte und erlernte Regeln löst Irritation aus und weckt Assoziationen an das politisch-soziale Phänomen der Revolution. Diesen Aspekt der ästhetischen Erfahrung erfaßt der Katzenmusik-Topos aufgrund der Konnotationen, die ihm aus der politischen Protestkultur insbesondere um die Mitte des 19. Jahrhunderts zugewachsen sind. c) Die innovative Musik wird als verzerrte Variante ›richtiger‹ Musik wahrgenommen. Dieser Eindruck entspricht, vor dem Hintergrund der sich im 19. Jahrhundert entwickelnden Verfremdungsästhetik, auch durchaus häufig der kompositorischen Intention. (Man denke beispielsweise an die berühmte ›idée fixe‹, das Thema, das in der Symphonie fantastique von Hector Berlioz die Geliebte symbolisiert. Es erscheint im Finale, die Abscheu des enttäuschten Liebhabers abbildend, in einer ordinär entstellten Variante.) Um diesen Aspekt der ästhetischen Erfahrung sprachlich zu verdeutlichen, wird das Gehörte mit den anthropomorphen, wie eine Karikatur von Musik klingenden Katzenlauten verglichen. 39 Zitiert nach Erwin Schulhoff: Schriften, hg. und kommentiert von Tobias Widmaier, Hamburg 1995, 11–14. 40 Siehe hierzu Albrecht Riethmüller: Erwin Schulhoffs Vitalisierung der Musik durch Tanz und Jazz, in: Zum Einschlafen gibt’s genügend Musiken (Anm. 37), 33–43.

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d) Das freiere Verhältnis zur Dissonanz, das innovative Musik prägt, löst beim Urteilenden körperliches Mißbehagen aus. Dieser Aspekt der ästhetischen Erfahrung wird vermittelt, indem an das massiv störende, im Wortsinn ›auf die Nerven gehende‹ Geheul der Katzen erinnert wird. Somit ist der Katzenmusik-Topos ein prägnantes Beispiel für die Funktionsweise des ästhetischen Urteils im Bereich der Musik. Denn deren Nichtbegrifflichkeit und hermetische Terminologie bringen mit sich, daß für die sprachliche Vermittlung musikalischer Erfahrung stärker als in den anderen Künsten auf Analogien aus der lebensweltlichen Erfahrung zurückgegriffen wird. Deshalb sind Urteile über Musik selten unvermischt ästhetisch. Sie knüpfen im allgemeinen an außerästhetische Erfahrung an, die im sprachlichen Urteil mit der ästhetischen insofern vermengt erscheint, als jene zum sprachlichen Transport von dieser herangezogen wird. Dabei scheint, wie sich am Katzenmusik-Topos zeigt, das verbale Urteil um so überzeugender und schlagkräftiger, je mehr Aspekte der musikalischen Erfahrung sich durch die außerästhetische Assoziation abdecken lassen.

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Abb. 1: Roman de Fauvel, Paris, Bibliothèque Nationale (fonds français 146, fol. 34r).

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Abb. 2: Katzenmusik in Wien 1848, Wien, Historisches Museum.

Abb. 3: Wiener Katzen-Musik, Berlin, Deutsches Historisches Museum (Do 97/241)

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171 Abb. 4: Wiener Charivari, Berlin, Deutsches Historisches Museum (Do 97/242).

Abb. 5: Wozu dienen und wozu führen die Katzen-Musiken?, Berlin, [Mai] 1848.

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Abb. 6: Bekanntmachung, Berlin, 27. Mai 1848.

Abb. 7: Moritz von Schwind: Die schwarze Katze (Katzensymphonie), 1866.

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Abb. 8: Wagner-Karikatur aus L’Eclipse.

Abb. 9: Stich von Johann Kellerthaler dem Jüngeren, 1. Hälfte 17. Jhd.

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Abb. 10: Nous sommes douze, anonym, ca. 1810. Abb. 11: Das Liebhaber-Concert (Katzenmusik), ca. 1830, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum (HB 26081a).

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Abb. 12: Zez Confrey: Kitten on the Keys.

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Künstlerische Kreation und religiöse Erfahrung Verwendungsgeschichtliche Anmerkungen zum Begriff der Inspiration Von Renate Schlesier Das Reden von religiöser oder religiös konnotierter Erfahrung hat in jüngster Zeit gerade unter Literaturwissenschaftlern einen auffallenden Aufschwung genommen. Diese Tendenz steht bei ihren herausragendsten Vertretern ausdrücklich unter den Auspizien einer kultisch gefärbten Beschwörung von ›Präsenz‹, die gegen historisch-philologische Textinterpretation ausgespielt wird. Spätestens seit George Steiners Buch Real Presences von 1989 1 hat religiöse Erfahrung im Zeichen des Stichworts ›Präsenz‹, dem eine übernatürliche Macht zugeschrieben wird, offensichtlich eine neue Aktualität im Selbstverständnis von Philologen gewonnen. Einen Kulminationspunkt hat diese gegenwartszentrierte Orientierung 2002 und 2004 mit Hans Ulrich Gumbrechts Büchern The Powers of Philology und Production of Presence erreicht.2 Worum es dabei geht, macht der Untertitel des letztgenannten Buches explizit deutlich: What Meaning Cannot Convey. Den Obertitel kommentierend wird dabei suggeriert, daß Präsenz und Bedeutung einander unweigerlich ausschließen und daß die Macht der Präsenz eine unwiderstehlich dominierende Funktion ausübt, der man sich nur unterwerfen könne und die sich der Bedeutung, und also auch der Deutung, entzieht. Den Texten soll – analog zur Heiligen Schrift – der Status von »sakrale[n] Objekten«3 verliehen werden (so Gumbrecht), so daß die zentrale Aufgabe, die Literaturwissenschaftlern gestellt sei, nur in einer Theologie der Kunst bestehen könne (so Steiner).4 Demgegenüber hat Hans Robert Jauß 1 Deutsch unter dem Titel: Von realer Gegenwart – Hat unser Sprechen Inhalt?, München und Wien 1990; vgl. auch George Steiner: Grammars of Creation, London 2001 (deutsch: Grammatik der Schöpfung, München und Wien 2001). 2 The Powers of Philology, Illinois 2002 (deutsch: Die Macht der Philologie – Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, Frankfurt/M. 2003); Production of Presence – What Meaning Cannot Convey, Stanford 2004 (noch kämpferischer war der ursprünglich geplante Buchtitel formuliert: The Powers of Presence – What Resists Meaning; siehe Gumbrecht: Macht der Philologie, 17, Anm. 8). 3 Gumbrecht: Macht der Philologie (Anm. 2), 18. 4 Diese Theologie sei nach Steiner auch auf die Moderne anwendbar, siehe z.B. Von realer Gegenwart (Anm. 1), 298: »In neuerem Kunstschaffen und Denken ist es nicht ein Vergessen, das am Werk ist, sondern ein negativer Theismus […]. Unsere ästhetischen Formen erkunden das Nichts, die Freiheit der Lücke, die durch den Rückzug (Deus absconditus) des Messianischen und des Göttlichen entsteht«. Zu grundsätzlichem Wohlwollen (trotz einiger dogmatischer Vorbehalte) gegenüber Steiners ästhetischer Theologie von professionell christlich-theologischem Standpunkt aus vgl. Theologie und ästhetische Erfahrung – Beiträge zur Begegnung von Religion und Kunst, hg. von

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2004 · © Felix Meiner Verlag · ISSN 1439-5886

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(der die Publikation von Gumbrechts neuen Büchern nicht mehr erlebt hat) kurz nach Erscheinen und anläßlich von Steiners oben genanntem Buch davor gewarnt, zu »glauben, aus der entzauberten Welt der Moderne geradewegs in den Schoß einer profanen Kunstreligion zurückkehren zu können«5. Daß Gumbrechts durchaus missionarisch vorgetragenes Programm einer Transformation von Philologie in körperbetonte Idolatrie Jauß eher eingeleuchtet hätte, ist kaum anzunehmen. Dies heißt jedoch nicht, daß Jauß das Problem des Verhältnisses von Kunst und Religion gleichgültig war. Die Frage nach dem Status von religiöser Erfahrung bei der Kunstproduktion und -rezeption war für ihn seit je aufs engste mit der Notwendigkeit verbunden, die Beziehung zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung genauer zu bestimmen. Als Basis dafür benutzte er lange Zeit ein geschichtsphilosophisches Modell: Die Ablösung der ästhetischen Erfahrung von der religiösen Erfahrung wurde von ihm als Fortschritt, ja als Befreiung gedacht und zu einem wichtigen Spezifikum der Moderne erklärt.6 Bis zur Genieästhetik, sogar noch bis zur Erlebnislyrik des 19. Jahrhunderts habe allerdings die »platonische Enthusiasmuslehre« weitergewirkt, »die den schöpferischen Akt des Dichters und ›Sehers‹ objektiv, als ein Heraustreten aus sich selbst und Erfülltwerden durch göttliche Inspiration erklärte«7. Mit der Möglichkeit, daß die historischen Verhältnisse komplexer sein könnten, hat Jauß sich gegen Ende seines Lebens auseinandergesetzt, im Kontext des Konstanzer Kolloquiums »Historische Anthropologie – Literarische Anthropologie« von 1991. In Anlehnung an die Arbeiten des französischen Paläontologen, Anthropologen und Prähistorikers André Leroi-Gourhan vermutete Jauß, daß der Mensch 30.000 Jahre lang keine Aufspaltung zwischen Kunst und Religion vornahm, sondern vielmehr eine »fundamentale Verbindung« zwischen »Kunst und Religion, ästhetische[r] und religiöse[r] Erfahrung« bestanden habe, die emotional erklärbar sei.8 Jauß war jedoch davon überzeugt, daß eine »neu zu begründende Historische Anthropologie«9 sich mit einer solchen Vermutung ebensowenig begnügen könne wie mit der (etwa von Dietmar Kamper vorgenommenen) Abqualifizierung von Sprache als angeblich durch und durch repressiver, gegen körperliche Erfahrung gerichteter Instanz symbolischer Ordnung. Dagegen entwirft Jauß, unter Berufung Walter Lesch, Darmstadt 1994, darin vor allem die Aufsätze von Karl-Josef Kuschel: Gegenwart Gottes? Zur Möglichkeit theologischer Ästhetik in Auseinandersetzung mit George Steiner, 145–165, und Jean-Pierre Wils: Die Gegenwart des Mythos? Überlegungen zu einer theologischen Ästhetik der Abwesenheit, 166–182, hier 177–182. 5 Hans Robert Jauß: Über religiöse und ästhetische Erfahrung – zur Debatte um Hans Belting und George Steiner (zuerst 1991), in: ders.: Wege des Verstehens, München 1994, 346–377, hier 346. 6 Vgl. besonders Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik – I. Versuche im Feld der ästhetischen Erfahrung, München 1977, 36. 7 Ebd., 33. 8 Jauß: Wege des Verstehens (Anm. 5), 366. 9 Ebd., 367.

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auf die »Befunde einer physiologischen Ästhetik«, ein Modell von Potentialität menschlicher Sprache, insbesondere der künstlerischen Sprache, das man als ›Anthropologie genuiner sprachlicher Subversivität‹ bezeichnen könnte10: »Sprache [kann] nicht allein als Instrument der Normierung dienen, sondern auch die Lizenz ästhetischer Rede nutzen, um Erfahrungen, Bedürfnisse und Wünsche zu artikulieren, die der moralische Kanon einer offiziellen Kultur auszuschließen sucht. [...] Der normierenden Internalisierung der Körperlichkeit steht auf Schritt und Tritt eine Exteriorisierung leibhafter Erfahrung gegenüber, die der imaginativen Lizenz der Sprache zu danken ist.« Verfügt die menschliche Sprache jedoch von Anfang an über die Möglichkeit ästhetischer Freiheit, so wird damit zugleich die Gültigkeit der These unterminiert, daß, wie Jauß mit Leroi-Gourhan angenommen hatte, »die Scheidung ästhetischer von religiöser Erfahrung [...] eine späte Konsequenz der Evolution des sozialen Organismus« sei.11 Angesichts der subversiven Lizenz menschlicher Sprache drängt sich Jauß daher schließlich die Frage auf, ob »ästhetische Erfahrung nicht erst nach Erlangung ihrer Autonomie, sondern schon auf dem Weg zu ihr als das heteronome, weil grenzüberschreitende und horizontbildende Vermögen par excellence angesehen werden kann«12. Dies ist meines Wissens Jauß’ letztes Wort in dieser Sache geblieben, und er hat darauf verzichtet, das, was er hier historisch-anthropologisch als »ästhetische Erfahrung« bezeichnet, produktionsoder rezeptionsästhetisch zu differenzieren und in ihrem Verhältnis zu religiöser Erfahrung zu reflektieren. Vorüberlegungen zu einer solchen Differenzierung sollen nun im Folgenden angestellt werden, und zwar anhand einer verwendungsgeschichtlichen Untersuchung des Begriffs der Inspiration, also eines Konzepts, in dem sich die Vorstellung von künstlerischer Produktion als religiöser Erfahrung und die Auffassung der damit verbundenen ästhetischen Erfahrung in der okzidentalen Tradition am wirkungsvollsten verdichtet. Dabei soll es nicht zuletzt um die Frage gehen, ob der Gedanke einer religiösen Erfahrung post festum, also nach der Entstehung der AutonomieÄsthetik, den Jauß am Weiterwirken des Inspirationsgedankens bis in die Moderne festgemacht hatte, in asymmetrischer Entsprechung dem von Jauß entworfenen Gedanken einer ästhetischen Erfahrung avant la lettre, also vor der Entstehung der Autonomie-Ästhetik, korrespondiert. Daß es sich bei der Auffassung von der göttlichen Inspiration des Dichters um ein antikes, auf Platon zurückgehendes Denkmodell handelt, wie Jauß analog zu zahlreichen anderen Forschern vor ihm und nach ihm angenommen hat, wurde vor einigen Jahren durch den Mediävisten Friedrich Ohly vehement in Frage gestellt. Vielmehr handele es sich bei dem Begriff der Inspiration, so Ohly, um ein spezifisch christliches Konzept, so daß der »inzwischen unbedacht vage für alles Mögliche sei 10 11 12

Ebd. Ebd., 366. Ebd., 369.

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es der Antike, sei es der Moderne verwandte Begriff rechtens der christlichen Rede von der Inspiration aus dem Geist Gottes vorbehalten bleiben« sollte.13 Wogegen Ohly sich hier zu Recht wendet, ist die undifferenzierte Verwendung des Inspirationsbegriffs, wie sie tatsächlich mittlerweile zum oft unkritisch kanonisierten Standard von Lexika, Handbüchern, Monographien und wissenschaftlichen Abhandlungen in den unterschiedlichsten Disziplinen zu gehören scheint. Richtig ist auch, daß es sich bei der »Rede von der Inspiration aus dem Geist Gottes« um ein spezifisch christliches Konzept handelt, das nicht mit nur scheinbar identischen, verwandten oder ähnlichen Auffassungen vom Verhältnis zwischen einem Gott und einem Menschen analogisiert oder gar gleichgesetzt werden sollte. Worüber Ohly hier jedoch deklamatorisch hinweggeht, ist die traditionsgeschichtlich außerordentlich relevant gewordene Tatsache, daß bereits im frühen Mittelalter, spätestens aber seit Humanismus und Renaissance eben jene christliche Inspirationsauffassung mit antiken vorchristlichen Auffassungen dichterischer Produktion amalgamiert, ja bis zur Unkenntlichkeit der divergierenden Bestandteile damit verschmolzen worden ist.14 Und für diesen Synthetisierungsprozeß hat Platon tatsächlich eine entscheidende Vorarbeit geleistet (auf die noch zurückzukommen sein wird). Zunächst ist festzuhalten, daß in der Tat erst innerhalb des frühmittelalterlichen Christentums das mit dem Verbum inspirare (»einhauchen«) verbundene lateinische Wortfeld systematisch zu einem legitimatorischen Lehrgebäude der Übertragung des göttlichen Geistes auf den Menschen ausgestaltet wurde. Jedoch muß zuvor noch an zwei weitere traditionsgeschichtliche Fakten erinnert werden: zum einen, daß die Nötigung dazu von Fragen dichterischer Produktionsästhetik vollständig unabhängig war, und zum anderen, daß die hebräische Bibel selbst keines spiritualistischen Lehrgebäudes bedurft hatte, um den Gedanken der Übertragung des göttlichen »Hauchs« auf den Menschen zu rechtfertigen: Ihr genügte die Erzählung vom göttlichen Atem (hebr. ruach), der zu Beginn der Weltschöpfung ganz materiell über dem Wasser schwebt15 und den Gott dem ersten Menschen, den er aus einem Erdenkloß gemacht hatte, in die Nase bläst.16 Andererseits tauchte der Gedanke des »Einhauchens« keineswegs an denjenigen zentralen Stellen des Buches Exodus17 auf, an denen davon erzählt wird, wie Gott auf dem Sinai das Gesetz (Tora), die Gebote und Rechtsordnungen, die er zunächst Moses mündlich übermittelt hatte und die von diesem anschließend als ›Buch des Bundes‹ niedergeschrieben wurden, seinerseits auf steinernen Tafeln aufschreibt (und sogar noch eigenhändig eine Kopie des Textes anfertigen muß, da Moses im Zorn über den Tanz ums goldene

Friedrich Ohly: Metaphern für die Inspiration, in: Euphorion 87 (1993), 119–171, hier 121. Siehe dazu die reich dokumentierte Studie von Christoph J. Steppich: Numine afflatur – Die Inspiration des Dichters im Denken der Renaissance, Wiesbaden 2002. 15 Gen. 1.2. 16 Gen. 2.7. 17 Besonders Ex. 19–24.12; Ex. 32.15 f., Ex. 34.1. 13 14

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Kalb die ersten Tafeln zerbrochen hatte). Ebensowenig erfordert die Erzählung von Gottes Ankündigung gegenüber dem Propheten Jeremia, nach der ersten Zerstörung des Jerusalemer Tempels mit dem Volk Israel einen ›neuen Bund‹ schließen zu wollen, die Vorstellung einer »Einhauchung«. Die biblische Darstellung bleibt auch hier vom Denkbild des Schreibens (wenn auch metaphorisch gewendet) dominiert: Gott verkündet dem Propheten, sein Gesetz in das Herz der Israeliten »einschreiben« zu wollen.18 Die für die hebräische Bibel so konstitutive Vorstellung von Gott als dem Schreiber19 seiner eigenen Verordnungen (und damit nicht zuletzt als dem Verfasser der hebräischen Bibel) war jedoch nicht mehr hinreichend, als es darum ging, auch die jüdische Bibelübersetzung ins Griechische, die Septuaginta, die im Kontext der von der griechischen Sprache dominierten hellenistisch-jüdischen Kultur während des 2. Jahrhunderts vor Christus notwendig geworden war, als genuines Gotteswort zu rechtfertigen. Um dies zu tun, bewaffnete sich der griechisch schreibende jüdische Gelehrte Philon von Alexandrien mit Argumenten, die aus der griechischen Philosophie, vor allem aus Platon, sowie aus jüngeren Teilen der hebräischen Bibel (besonders aus den Propheten und dem Hiob-Buch) geschöpft waren.20 Dadurch wurde es ihm möglich, den Atem (pneËma, pnoÆ) des monotheistischen Gottes aus einer schöpferischen Initiierung menschlich-organischen Lebens zu einem Übertragungsmedium von göttlichem Geist zu spiritualisieren, der sich in der Übersetzung der Bibel verkörpert, nicht anders als schon im Original. Während es jedoch für Philon dabei darum ging, mit Hilfe des Inspirationsgedankens die normative Gültigkeit nicht allein der hebräischen Bibel, sondern gerade auch der griechischen Übersetzung zu sanktionieren, standen die Kirchenväter vor einem grundlegend neuen Legitimationsproblem: Ihnen mußte daran gelegen sein, für die Heilige Schrift des Christentums (das ›Neue Testament‹) dieselbe Gültigkeit beanspruchen zu können, wie sie für die Heilige Schrift des Judentums (die hebräische Bibel, das von den Christen so genannte ›Alte Testament‹, einschließlich seiner griechischen Übersetzung) bereits bestand. Zu Hilfe kam ihnen dabei eine Textstelle aus einem auf den Apostel Paulus zurückgeführten Brief, in der, anknüpfend an philonisches Gedankengut und bezogen auf die hebräische Bibel, folgendes dekretiert Jer. 31.33. Vgl. Johannes Leipoldt: Die Frühgeschichte der Lehre von der göttlichen Eingebung, in: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der Älteren Kirche 44 (1952/53), 118–145; zu Beispielen für christliche Ausformungen der Vorstellung vom (schreibenden) Finger Gottes im Mittelalter siehe Ohly: Metaphern (Anm. 13), 126 f. 20 Dazu Leipoldt: Frühgeschichte (Anm. 19), 128; vgl. die ausführlichen Quellenanalysen von Helmut Burkhardt: Die Inspiration heiliger Schriften bei Philo von Alexandrien, Gießen 1988 (Philo nur als Vorläufer der Personalinspirationslehre); Jonathan Whitlock: Schrift und Inspiration – Studien zur Vorstellung von inspirierter Schrift und inspirierter Schriftauslegung im antiken Judentum und in den paulinischen Schriften, Neukirchen-Vluyn 2002, 74 f., 105–121 (Personal- und Verbalinspiration bei Philo nicht unterschieden). 18 19

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wird21: »Alle Schrift, von Gott eingegeben (yeÒpneustow), ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit«. Dieser Gedanke einer »von Gott [durch seinen Atem] eingegebenen« Schrift fehlt in der hebräischen Bibel (wie in der rabbinischen Literatur) vollständig und ist auch im Neuen Testament singulär. Die griechische Wortbildung theopneustos an dieser Stelle, die vor dem Neuen Testament in der Überlieferung nicht vorkommt, hat dann der lateinische Kirchenvater Tertullian22 an der Wende vom 2. zum 3. Jahrhundert als erster mit dem lateinischen Ausdruck divinitus inspirata übersetzt, der für diese Stelle dann auch in der Vulgata, der zwischen dem 4. und dem 6. Jahrhundert entstehenden kanonischen lateinischen Bibelübersetzung, verwendet werden wird (omnis scriptura divinitus inspirata). Vor diesem Hintergrund kann Papst Gregor der Große im 6. Jahrhundert Gott von der Rolle des realen Schreibers (scriptor) schließlich ganz entlasten und den Heiligen Geist als auctor und inspirator der Heiligen Schrift zum dictator stilisieren, demgegenüber der das mündliche Diktat ausführende menschliche Schreiber nur noch als ein Werkzeug (calamus, der Griffel) bewertet werden kann.23 Durch diese Verwendung des Terminus inspiratus bei der Übersetzung einer Paulus-Stelle aus dem Griechischen wurde es der Vulgata zugleich möglich, den spiritualistischen Inspirationsgedanken auch dem Alten Testament zu injizieren. Dafür boten sich vor allem zwei Textpassagen an: die bereits erwähnte Stelle im Schöpfungsbericht, die in der Vulgata folgenden Wortlaut erhält24: et inspiravit in faciem eius spiraculum vitae (»und er hauchte seinem Gesicht den Hauch des Lebens ein«) sowie eine Stelle aus dem Buch Hiob25: sed ut video spiritus est in hominibus et inspiratio Omnipotentis dat intellegentiam (»damit ich aber sehe, daß der Geist in den Menschen ist und die Einhauchung des Allmächtigen die Verstandeskraft gibt«). Bei letzterer Formulierung handelt es sich im übrigen um die erste Stelle, an der das Substantiv inspiratio – die direkte lateinische Vorform des Wortes Inspiration in den modernen Sprachen – in der Überlieferung erscheint. Im außerchristlichen Wortschatz des Lateinischen fehlt das Substantiv inspiratio vollständig. Durch den Kunstgriff der Vulgata, ein und dasselbe Wortfeld, dasjenige des Verbums inspirare, in drei so unterschiedlichen Sinnzusammenhängen zu gebrauchen, stellte nun die lateinische Bibelübersetzung ein Potential bereit, das den Exegeten alle Arten von synthe2 Tim. 3.16. Vgl. Werner Brändle: Artikel Inspiration/Theopneustie, III: Kirchen- und theologiegeschichtlich, in: Religion in Geschichte und Gegenwart – Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hg. von Hans Dieter Betz u.a., IV, Tübingen 42001, 169. 23 Vgl. dazu Jan-Dirk Müller: Auctor – Actor – Author. Einige Anmerkungen zum Verständnis vom Autor in lateinischen Schriften des frühen und hohen Mittelalters, in: Der Autor im Dialog – Beiträge zu Autorität und Autorschaft, hg. von Felix Philipp Ingold und Werner Wunderlich, St. Gallen 1995, 17–31, hier 19 f.; zu weiteren (vorchristlichen, christlichen, islamischen und literarisch modernen) Belegen für das Verständnis des Menschen als Gottes »Schreibrohr« vgl. Ohly: Metaphern (Anm. 13), 128–143. 24 Gen. 2.7. 25 Hiob 32.8. 21 22

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tisierenden, nicht zuletzt spiritualisierenden Verknüpfungen von Lebensschöpfung, Verstandesschöpfung und Schriftschöpfung ermöglichen wird. Denn der dadurch sprachlich vorgegebene gemeinsame Modus göttlicher »Inspiration« erlaubt, alle drei Schöpfungsvorgänge miteinander zu analogisieren. Diese Möglichkeit hatte die griechische Bibelübersetzung, die Septuaginta, bemerkenswerterweise nicht genutzt. Statt der im Lateinischen angewendeten sprachlichen Verknappung und Prägnanz, die die Wortformen inspiravit und inspiratio mit inspirata zu einer auf Anhieb hörbaren oder lesbaren Einheit einer einzigen göttlichspirituellen Aktivität verbinden, bleibt der »Atem« Gottes in der Septuaginta auf ein materielles Vorbild angewiesen, auch da, wo er metaphorisch umgelenkt wird. An derjenigen Stelle der Schöpfungsgeschichte, wo die Vulgata das Wort inspiravit setzt, steht in der Septuaginta §nefÊshsen (von §mfusãv, »einen Luftzug – fËsa – hineinpusten«): Und dieser Luftzug wird im direkten Kontext als »Atem des Lebens« (pnoØ zv∞w) spezifiziert, ohne zwingende Reduktion auf reine Geistigkeit – während der Wortlaut der Vulgata, spiraculum vitae, eher in eine spiritualistische Richtung lenkt. Vor allem aber an der Hiob-Stelle ist das sprachliche Spektrum in der Septuaginta von dem der Vulgata in signifikanter Weise unterschieden. Während es dort heißt: sed ut video spiritus est in hominibus et inspiratio Omnipotentis dat intellegentiam, lautet der Wortlaut in der Septuaginta éllå pneËmã §stin §n broto›w, pnoØ d¢ pantokrãtorÒw §stin ≤ didãskousa (»doch der Atem ist in den Sterblichen, die Atmung aber des Allmächtigen ist die Lehrerin«). Für die Abweichung zwischen den beiden Übersetzungen ist an der Hiob-Stelle jedoch nicht allein entscheidend, daß der »Atem« in der Septuaginta stärker materiell und dynamisch konnotiert bleibt (pneËma und pnoÆ versus spiritus und inspiratio), sondern auch, daß hier nicht wie in der Vulgata die Verstandeskraft (intellegentia) als eine unmittelbare Gabe der Inspiration erscheint. Vielmehr wird die didaktische Vermittlungsfunktion unterstrichen, die die göttliche »Atmung« besitzt: Sie ist die »Lehrerin« (didãskousa); der Gedanke, daß Verstandeskraft eine bloße Gabe ist, die auf Belehrung verzichten könnte, taucht nicht auf. An keiner Stelle der Bibel aber, weder in der hebräischen Bibel noch in den im Christentum kanonisierten griechischen und lateinischen Fassungen des Alten und Neuen Testaments, wird das »Einhauchen« des göttlichen Atems, die buchstäbliche und metaphorisch umspielte »Inspiration«, mit dichterischer Produktion in Verbindung gebracht. Auch an anderen als den hier genannten Textstellen, dort nämlich, wo vom »Einhauchen« des göttlichen (mündlichen) Wortes in die Propheten oder vom »Hineinblasen« des Heiligen Geistes durch Jesus in die Jünger die Rede ist, handelt es sich ausnahmslos um das autoritativ wahre göttlich-geistige Wort, das mit Dichtung nicht das Geringste zu tun hat.26 Vergleichbares gilt für die einzige Stelle 26 Z.B. 2 Petr. 1.21: »Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben von dem heiligen Geist (uÑpÚ pneÊmatow èg¤ou ferÒmenoi / spiritu sanctu inspirati) haben Menschen im Namen Gottes geredet.« Erst die Vulgata bringt hier die Prophetie mit »Einhauchung« in Verbindung, im Unterschied zur griechischen Originalfas-

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in der nicht-christlichen lateinischen Literatur, an der der Vorgang des inspirare als göttliches »Einhauchen« in einen Menschen dargestellt ist, zu Beginn des 6. Buches von Vergils Aeneis. Dort heißt es über Apollo und die Sibylle des italischen Cumae27: magnam cui mentem animumque / Delius inspirat vates aperitque futura (»eine große Empfindungsfähigkeit und Geisteskraft / haucht ihr der delische Seher ein und eröffnet ihr die zukünftigen Dinge«). Der Gott Apollo ist hier selbst der Seher, und die Sibylle wird Seherin durch ihn, der durch sein »Einhauchen« von Empfindungsfähigkeit und Geisteskraft dafür die Voraussetzungen bei ihr schafft. Der dezidierte Ausschluß des Verhältnisses zwischen Gott und Dichter aus den Verwendungsbereichen der Semantik des »Einhauchens« in der gesamten antiken nicht-christlichen lateinischen Dichtungstradition28 (und ebenso auch in der jüdisch-griechischen Überlieferung) entspricht der Sachlage in der griechischen Dichtungstradition seit Homer – mit einer einzigen Ausnahme: Tatsächlich findet sich die Vorstellung, daß dem Dichter eine Bedingung seiner Kunst durch göttliches »Einhauchen« übertragen wird, an der ersten Stelle der antiken griechischen Literatur, an der ein Dichter seinen Namen nennt: im Proömion von Hesiods Theogonie. Hesiod rühmt sich dort, eine körperlich-performative Voraussetzung seiner Sangeskunst den Musen zu verdanken29: Die Musen »hauchten göttliche Stimme mir ein, zu rühmen, was war und was sein wird« (§n°pneusan d° moi aÈdØn / y°spin, ·na kle¤oimi tã tÉ §ssÒmena prÒ tÉ §Ònta). Dieses »Einhauchen«30 der göttlichen Stimme sung des Neuen Testaments, die die Vorstellung von Ekstase (wörtlich hier: »Weggetragen-Sein«) anklingen läßt. Vgl. Joh. 20.22: »Und als er das gesagt hatte, blies er in sie hinein (§nefÊshsen) und spricht zu ihnen: Nehmt hin den heiligen Geist.« Die Vulgata setzt an dieser Stelle insuflavit, übersetzt hier also das »Einblasen« nicht mit inspirare. 27 Vergil: Aeneis 6.11–12. Zu meiner Übersetzung von mens und animus vgl. den Kommentar von Eduard Norden: P. Vergilius Maro Aeneis Buch VI, Leipzig 31926, 119. 28 Dies trifft tatsächlich ausschließlich auf die literarische Tradition zu, und darüber hinaus auf die explizite Verwendung des Wortfelds inspirare: Cicero gebraucht an der berühmten Stelle in seiner von Petrarca wiederentdeckten Rede Pro Archia Poeta, 8.18, nicht das Verbum inspirare, sondern inflare (»hineinblasen«), um in platonisierender Manier das Poeta-doctus-Konzept rigoros abzulehnen: ceterarum rerum studia et doctrina et praeceptis et arte constare, poetam natura ipsa valere et mentis viribus excitari et quasi divino quodam spiritu inflari.Vgl. dazu Steppich: Numine afflatur (Anm. 14), 111. 29 Hesiod: Theogonie 31–32. Dies ist die einzige Textstelle vor Platon, an der buchstäblich von ›Inspiration‹ (»Einhauchen«, §mpne›n) die Rede ist (allerdings ganz anders konnotiert als Platons §p¤pnoia, siehe unten, Anm. 44/45); dies geschieht jedoch ohne Rekurs auf Ekstase (durchaus mit dem Anspruch, ein Wissen über Vergangenes und Zukünftiges erhalten zu haben, und dennoch ohne den Anspruch, ein Seher zu sein) und wird vorab in einen Vorgang des »Lehrens« der Dichtkunst (»des schönen Gesangs«, kalØ éoidÆ,V. 22) durch die Musen eingeordnet. Im übrigen sind es gerade nicht Lieder, die »eingehaucht« werden, sondern eine göttliche »Stimme« (aÈdÆ), also das besonders exquisite akustische Klangmedium; ein genauer Wortlaut ist damit eben nicht vorgegeben. – Das Folgende bezieht sich auf das gesamte Proömion (V. 1–115). 30 Das von Hesiod verwendete Verbum §mpn°v findet sich auch bei Homer, jedoch niemals bezogen auf Gesang oder Dichtung. An einer Stelle bezeichnet es den am Rücken eines Kriegers zu verspürenden Atem von Pferden (Ilias 17.502); an anderen Stellen handelt es sich um das »Einhauchen« einer besonders starken psychischen Energie in einen Menschen durch einen Gott:

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ist nun aber in der Darstellung Hesiods keineswegs ausreichend, um den für ihn spezifischen, komplexen Prozeß zu beschreiben, in dem er zum Sänger wurde, und ebensowenig hinreichend zur Kennzeichnung der Spezifika, die im allgemeinen das Verhältnis zwischen einem Sänger und den Musen auszeichnen sollen. Was den Prozeß betrifft, bei dem Hesiod selbst zum Sänger wird, so gehört dazu zunächst eine lehrhafte und teilweise selbstreferentielle Ansprache der Musen an ihn, die den Übergang Hesiods vom Status des Hirten zu dem des Sängers vorbereitet. Des weiteren geht dem »Einhauchen« der Stimme die rituelle Übergabe eines Würdezeichens, des Zepters aus einem Lorbeerzweig, durch die Göttinnen selbst an Hesiod voraus. Dem »Einhauchen« und der Kennzeichnung von dessen generellem Zweck (nämlich dem Rühmen des Vergangenen und des Zukünftigen) folgen wiederum konkrete Anweisungen an Hesiod (und zwar, das Geschlecht der seligen immer seienden Götter hymnisch zu preisen, sie, die Musen, selbst aber am Anfang und Ende jedes Liedes zu besingen). Es handelt sich hier also sehr wohl um ein »Einhauchen« göttlicher Stimme in einen Menschen, mit dem lateinischen Wort gesagt: um ›Inspiration‹, jedoch wird durch den Kontext der dichterischen Darstellung zweierlei ausgeschlossen, zum einen, daß sich die göttliche Einwirkung auf dieses »Einhauchen« beschränkt, zum anderen, daß damit der Sänger zum bloßen Mundstück der Musen wird. Sie ›diktieren‹ ihm keinen Wortlaut, den er nur wiederholt, sondern sie belehren ihn und räumen ihm einen Gestaltungsspielraum ein, von dem eine genauere Analyse zeigen könnte, daß Hesiod ihn bereits im Kontext des Proömions auf äußerst vielfältige und virtuose Weise nutzt und dabei sein Können, seine Kunst, selbstbewußt demonstriert.31 Der Sänger, so wie Hesiod ihn schließlich auch generalisierend – sogar als den gerechten Königen ebenbürtig – beschreibt, ist nun aber keineswegs von den Musen in Ekstase versetzt. Sie ergreifen nicht auf eine solche Weise gewaltsam von ihm Besitz, sondern er wird von den Musen geliebt, und deshalb fließt die süße Stimme aus seinem Mund. Er ist nicht etwa Sklave und willenloses Werkzeug der Musen, sondern ihr auserwählter, verehrungsvoller Diener (therapon),32 und er besingt in dieser Eigenschaft die Ruhmestaten früherer Menschen und die seligen Götter. Dank der Gaben der Göttinnen verfügt er über die Fähigkeit, durch seine Lieder die Menschen ihre Sorgen vergessen zu lassen. Die ›Inspiration‹ selbst ist nichts Spirituelles: Das »Einhauchen« (der Stimme, und eben nicht der Lieder) ist durchaus materiell und hat sogar etwas mit dem Geliebtwerden durch Göttinnen zu tun. Die m°now (»Kampfeswut«: durch Athene: Ilias 10.482, durch Apollon: Ilias 15.59 f.), yãrsow (»Mut«: Odyssee 9.381); vgl. auch die göttliche Eingebung (§n°pneuse fres‹ da¤mvn), »ein Tuch zu weben«,

von der Penelope berichtet (Odyssee 19.138 f.). 31 Vgl. dazu Verf.: Les Muses dans le prologue de la Théogonie d’Hésiode, in: Revue de l’Histoire des Religions 199/2 (1982), 131–167. Siehe auch die Aufsätze von Jean Rudhardt, Gregory Nagy und Graziano Arrighetti in: Le métier du mythe – Lectures d’Hésiode, hg. von Fabienne Blaise, Pierre Judet de La Combe und Philippe Rousseau, Lille 1996. 32 Hesiod: Theogonie 100.

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›Inspiration‹ ist aber keineswegs etwas, das mit einem Zustand der Vernunftlosigkeit, Unbewußtheit und Passivität gleichzusetzen ist. Und sie ist eingebettet in einen rituellen Kontext, bei dem die religiöse Sphäre durch den Sänger sogar noch eher aktiv besetzt ist als die mit ihr verbundene politisch-soziale Sphäre durch die Herrscher. Die Kunstfertigkeit des Sängers ist nicht bloß ein Geschenk der Musen, sondern wird auch von der Belehrung durch die Göttinnen und ihren Anweisungen bestimmt. Die durch die Musen vorgegebenen Richtlinien hat der Sänger nicht sklavisch zu befolgen, vielmehr ist es ihm möglich, sich damit auf eigenständige und variable Weise auseinanderzusetzen – was Hesiod in seinem Text dann auch praktisch vorführt –, ja, er kann sogar den Musen selbst vorgeben und in den Mund legen, was sie ihm vorzusingen haben. Auch bei Hesiods Vorgänger, dem griechischen Dichter, den man konventionell Homer nennt, findet man in der Ilias wie in der Odyssee vielfältige Reflexionen, mit denen die Spezifika eines Sängers und seiner Kunst selbstreferentiell umkreist werden.33 Auch in den homerischen Epen setzt die Kunst des Sängers ein privilegiertes Verhältnis zu den Musen, ja sogar zu anderen Göttern voraus, und auch hier bittet der Sänger die Musen, ihm das zu sagen, was er von ihnen hören will, auch hier rühmt er sich sowohl der Gaben, die er von ihnen erhalten hat, als auch ihrer Liebe zu ihm. Dies gilt vor allem für den Dichter selbst, der seine Epen jeweils, unter Verwendung des Personalpronomens der ersten Person Singular, mit einem Musenanruf beginnt, und das gilt ebenso für die anderen Sängerfiguren, die in der epischen Erzählung als Akteure vorgeführt werden, auf die kein Fürstenhof und vor allem kein fürstliches Gastmahl verzichten kann. Von einem »Einhauchen« der Stimme des Sängers durch die Musen ist jedoch in den homerischen Epen (im Unterschied zu Hesiod) kein einziges Mal die Rede, wie bei Hesiod aber ebensowenig von einer Ekstase oder einem Enthusiasmos. Anders als bei Hesiod ist bei Homer aber auch von konkreten Anweisungen der Muse an den Sänger keine Rede. Das privilegierte Verhältnis des Sängers zu seiner Muse zeigt sich vor allem darin, daß die Göttin ihn nicht allein belehrt, sondern ihn auf äußerst vielfältige Weise stimuliert, ihn anreizt und antreibt, ihm Fähigkeiten verleiht und ihn mit Eigenschaften (wie dem »göttlichen Singen-Können«) begabt, ja sogar, daß sie ihn losläßt und ihm die Zügel schießen läßt.34 Gerade durch letzteres ist eine Freiheitsmöglichkeit angedeutet, die weit über das hinausgeht, was Hesiod für sich in Anspruch genommen hatte, und von der in der Erzählung der Odyssee die Zentralfigur Odysseus am uneingeschränktesten Gebrauch macht.35 Denn im Zentrum der Odyssee, vier Gesänge lang, vom 9. bis zum 12., läßt der Dichter Odysseus selbst als epischen Sänger Siehe vor allem Ilias 1.1, 2.484–493; Odyssee 1.1, 8.43–99, 8.471–542, 17.518–521. Dies gilt allerdings speziell für die Odyssee: »belehren« (didãskv: 8.481, 488; vgl. auch 17.519), »antreiben« (ırmãv: 8.499), »verleihen« (Ùpãzv: 8.498), »loslassen« (én¤hmi: 8.73). 35 Vgl. Verf.: Transgressionen des Odysseus, in: Reisen über Grenzen – Kontakt und Konfrontation, Maskerade und Mimikry, hg. von Verf. und Ulrike Zellmann, Münster 2003, 133–141. 33 34

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auftreten, der es durchaus mit den professionellen Sängern aufnehmen kann, aber bezeichnenderweise, ohne daß Odysseus dazu eines Musenanrufs oder einer sonstigen direkten Legitimation durch die Einwirkung der Musen bedarf. Im 22. Gesang der Odyssee jedoch erreicht die selbstreferentielle Reflexion des Dichters über den Status und die Qualifikation des Sängers ihren Höhepunkt. Und hier zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit, warum es tatsächlich unangemessen wäre, die von den ältesten griechischen Dichtern entwickelten Vorstellungen von der Dichtkunst mit dem christlichen (oder dem platonischen) Begriff der Inspiration zu umschreiben.36 In den Handlungszusammenhang der Odyssee ist diese überaus pointierte poetologische Reflexion auf besonders subtile Weise eingebaut. Der Kontext macht unmißverständlich deutlich, wie ernst diese selbstreferentielle Aussage zu nehmen ist, denn es geht dabei buchstäblich um Leben und Tod. Diese Aussage hat sich der Dichter fast bis zum Schluß seines Epos aufgespart, bis zu dem Zeitpunkt, als innerhalb der Erzählung das Leben eines Sängers auf dem Spiel steht und damit die Möglichkeit geschaffen ist, einer künstlerischen Selbstbestimmung die Aufgabe zu übertragen, den Sänger vor dem Tode zu erretten: Mitten in dem Gemetzel, das Odysseus nach seiner Rückkehr auf Ithaka in seinem Palast an den Freiern seiner Gattin vollzieht, stürmt Phemios, der Sänger an Odysseus’ eigenem Fürstenhof, der während der Abwesenheit des Herrn die Freier bei ihren Gastmählern mit seinen Gesängen unterhalten hatte, aus seinem Versteck hervor, um Odysseus zu bitten, ihn zu verschonen. Die selbstreferentielle Aussage, von der sich der Sänger hier in extremis die Macht verspricht, ihm das Leben zu retten, lautet wie folgt37: gounoËma¤ sÉ, ÉOduseË. sÁ d° mÉ a‡deo ka¤ mÉ §l°hson. aÈt“ toi metÒpisyÉ êxow ¶ssetai, e‡ ken éoidÚn p°fn˙w, ˜w te yeo›si ka‹ ényr≈poisin ée¤dv. aÈtod¤daktow dÉ efim¤, yeÚw d° moi §n fres‹n o‡maw panto¤aw §n°fusen. ¶oika d° toi parae¤dein Õw te ye“. t“ mÆ me lila¤eo deirotom∞sai.

»Ich umfasse deine Kniee, Odysseus. Du mußt vor mir Respekt haben und Mitleid mit mir. Dir selbst wird es hinterher ein Schmerz sein, wenn du den Sänger tötest, der ich sowohl für die Götter als auch für die Menschen singe. Selbstgelehrt bin ich, und ein Gott hat mir in den Sinn Sangesbahnungen, alle möglichen, eingepflanzt. Es gebührt mir, in deiner Gegenwart zu singen wie vor einem Gott. Deshalb sehne dich nicht danach, mir die Kehle durchzuschneiden.«

36 Dies trifft im übrigen nicht allein für Homer und Hesiod zu, sondern für die gesamte antike griechische Dichtungstradition, also ebenso für die archaischen Lyriker und Pindar. Das oft als Gegenbeispiel angeführte Archilochos-Fragment (fr. 120 West) ist nicht produktionsästhetisch formuliert, sondern bezieht sich auf die performative Situation der Aufführung des Dithyrambos zu Ehren des Dionysos. 37 Odyssee 22, 344–349 (Übersetzung R.S.).

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Die hier vom Sänger an erster Stelle vorgebrachten Argumente (und die noch hilfsweise hinzugefügten) werden Erfolg haben: Odysseus läßt den Sänger tatsächlich am Leben. Außer einem politischen Funktionsträger, dem Herold Medon, wird er schließlich der einzige sein, der dem Freiermord entgeht. Auch hier ist, einer häufig vorgebrachten Forschungsmeinung zum Trotz, von Inspiration offensichtlich keine Rede,38 und ebenso verzichtet der Sänger auf eine explizite Erwähnung der Musen. Mit dem ersten von ihm vorgebrachten Argument beruft er sich vielmehr darauf, eine Respektsperson zu sein, und zwar dank seines Publikums, zu dem nicht allein die Menschen zählen, sondern selbst die Götter. Man könnte es, mit Benutzung moderner Terminologie, folgendermaßen ausdrücken: Durch das Gewicht seiner Sangespraxis, die sogar den Göttern, wie den Menschen, ästhetische Rezeptionserfahrung vermittelt, beansprucht der Sänger, unantastbar zu sein. Damit ist ein zweites Argument verschränkt, das direkt ad hominem zukunftsweisend ausgerichtet ist und die Person des Odysseus als individuellen Rezipienten anspricht, der sich selbst durch den Mord am Sänger um die ästhetische Erfahrung des Zuhörers bringen und dann über diesen Erfahrungsverlust Schmerz empfinden würde. Überraschend – und viele Forscher irritierend – ist vor allem das dritte Argument: daß der Sänger »selbstgelehrt« (autodidaktos) sei. Man kann sich fragen, ob dieses Argument nicht höchst ungeschickt ist, denn warum sollte Odysseus ausgerechnet einen Sänger verschonen, der durch sich selbst (also nicht durch die höhere Instanz der Götter) gelehrt geworden ist. Unter einer solchen Voraussetzung wirkt dann das folgende vierte Argument als noch rasch nachgetragene Erwähnung der göttlichen Sanktion des Sängers, wobei der vom Tode Bedrohte den angeblichen Widerspruch zwiDie Autoren, die diese Stelle als Beleg für Inspiration betrachten, verzichten darauf, die Möglichkeit einer semantischen Differenz zwischen »einhauchen« und »einpflanzen« in Betracht zu ziehen. (Dies gilt a fortiori auch für die Differenz zwischen »einhauchen« auf der einen Seite, »geben«, »lehren«, »antreiben« – und deren Differenzen – auf der anderen Seite.) Bei den meisten Autoren handelt es sich bei dieser Homogenisierung letztlich um eine Übertragung von Platons »Anhauchungs«-Begriff (§p¤pnoia, siehe Anm. 44/45) auf die autoreferentiellen Aussagen Homers. Die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen diesen Aussagen und Platons Inspirationskonzept unterstreichen – in kritischer Auseinandersetzung mit der vorherrschenden Forschungsposition – vor allem E. N. Tigerstedt: Furor Poeticus. Poetic Inspiration in Greek Literature before Democritus and Plato, in: Journal of the History of Ideas 31 (1970), 163–178 (zu Od. 22, 347 f.: 168) und Penelope Murray: Poetic Inspiration in Early Greece, in: The Journal of Hellenic Studies 101 (1981), 87–100 (zu Od. 22, 347 f.: 96 f.). Trotz dieser verdienstvollen Differenzierung interpretieren jedoch auch diese beiden Autoren die Odyssee-Stelle als Beleg für Inspiration, benutzen also diesen Begriff ihrerseits als homogenisierende Metapher. Damit entfällt letztlich auch die Möglichkeit der Unterscheidung zwischen Homers und Hesiods Auffassung von Dichtung; ein weiteres Beispiel dafür ist Wolfgang Rösler: Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, in: Poetica 12 (1980), 283–319, hier vor allem 291 f.; vgl. auch Heinz Schlaffer: Poesie und Wissen – Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt/M. 1990, besonders 26–28, wo unter den synonymen Oberbegriffen Enthusiasmus und Inspiration nicht allein die Differenzen zwischen Homer und Hesiod, sondern auch die zwischen den griechischen Dichtern und Platon, ja sogar zwischen der Bibel und der griechischen Epik radikal ausgeschaltet werden. 38

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schen »Selbstgelehrtheit« und Abhängigkeit von einer göttlichen Macht im Eifer der Selbstverteidigung notgedrungen in Kauf nimmt. Das fünfte Argument wäre dann eine variierende Wiederholung des ersten und zweiten Arguments, bei der der Sänger schließlich nicht allein sich seines eigenen, von niemandem, auch nicht vom politischen Herrscher, in Frage zu stellenden Amtes rühmt, sondern zugleich dem angeredeten Odysseus als einem göttergleichen Menschen schmeichelt. Schon Eric Robertson Dodds hat sich 1951 in seinem berühmten Buch The Greeks and the Irrational dagegen ausgesprochen, zwischen den eben zitierten Ausdrücken autodidaktos und »von einem Gott eingepflanzte Sangesweisen« einen Gegensatz zu sehen39: »Die zwei Teile dieser Aussage werden nicht als Widerspruch empfunden: Ich glaube, er [Phemios] will damit sagen, daß er die Lieder nicht von anderen Sängern übernommen hat, sondern daß er ein eigenständiger Dichter ist, der sich darauf verlassen kann, daß ihm die Verse aus einer unbekannten und unkontrollierbaren Tiefe spontan zuwachsen, wie er sie gerade braucht.« Ob man sich eine solche psychologisierende Spekulation zu eigen machen muß, um den beiden hart aneinander gefügten, auf Anhieb gegenstrebig wirkenden Teilen der Aussage und ihrer Reihenfolge gerecht zu werden, erscheint mir zweifelhaft. Doch Dodds ist sicherlich zuzustimmen, daß es sich an dieser Stelle um eine komplexe poetologische Aussage handelt, die eine innere Logik besitzt. Man kann tatsächlich den Eindruck gewinnen, daß hier in antizipatorischer Weise die in der späteren Tradition entwickelten Konzepte des poeta doctus wie des poeta creator spannungsvoll miteinander in eine analytische komplementäre Beziehung gebracht sind und ein intellektuelles Selbstbewußtsein des Künstlers formuliert wird, das auf der Möglichkeit der künstlerischen, produktiven Eigenständigkeit beharrt, ohne sie allein von professioneller Technik oder kontrollierter Ratio abhängig zu machen. Nur die »Bahnungen«40 der dichterischen Komposition sind es also, dieser autoreferentiellen Aussage zufolge, die der Kontrolle des Sängers, des Dichters entzogen sind. Sie sind naturhaft »eingepflanzt« (also ausdrücklich nicht ›eingehaucht‹) in Verstand und Eric Robertson Dodds: Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt 1970 (englisch: The Greeks and the Irrational, Berkeley/Los Angeles/London 1951), 9. Dodds versteht allerdings die o‡mai (V. 347) als »Lieder« (»lays«), wie die Mehrheit der Forscher (kanonisiert z. B. bei M. Schmidt: Artikel aÈtod¤daktow, in: Lexikon des frühgriechischen Epos, I, hg. vom Thesaurus Lingue Graecae, Göttingen 1979, 1619 f., sowie in dem Handbuch von Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ›Longin‹. Eine Einführung, Darmstadt 21992, 77). Vgl. auch Anm. 40. 40 »Eingepflanzt« sind hier eben keine fertigen Lieder, sondern »Wege« (o‡mai) – im Sinne von »Bahnen« bzw. »Bahnungen« (für den Gesang); vgl. Margalit Finkelberg: The Birth of Literary Fiction in Ancient Greece, Oxford 1998, 51 (»path«; vgl. aber 54 die Übersetzung »lays«). Auch Finkelberg trägt jedoch zur Homogenisierung bei (vgl. Anm. 38), wenn sie (hier 54) die OdysseeStelle als Beleg für Inspiration versteht. Eine differenziertere Position vertrat bereits Wolfgang Schadewaldt: Die Gestalt des homerischen Sängers, in: ders.: Von Homers Welt und Werk – Aufsätze und Auslegungen zur homerischen Frage, Stuttgart 41965, 54–86, hier 74 f.; vgl. auch seine Prosa-Übersetzung der Textstelle, in: Homer: Die Odyssee, Hamburg 1958: »Sangesbahnen«. 39

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Sinne des Künstlers. Die Idee einer Inspiration liegt dieser Auffassung offensichtlich völlig fern. Kein vorher feststehender ›Inhalt‹, und auch keine fertigen Formen, wurden dem Sänger durch eine göttliche Macht vermittelt, ihm wurde keine Inspiration zuteil, sondern vielmehr etwas, was man später als ingenium oder auch: die Bedingungen der Möglichkeit des künstlerischen Schaffens bezeichnen wird. Ohne eigene Anstrengung des Lernens und Übens aber, ohne das sich selbst Ausbilden als Künstler käme es zu keiner künstlerischen Kreation. Darum muß die Deklaration der »Selbstgelehrtheit«, des Autodidaktischen,41 das den selbständigen Intellektuellen bekanntlich bis in die Moderne hinein auszeichnet, am Anfang stehen, aber darum darf der Künstler es dabei auch nicht bewenden lassen, sondern muß eine Instanz oder eine Dynamik anerkennen, die als etwas Göttliches gedacht werden kann und dessen präzise Identität im Kontext der antiken griechischen Kultur vorsichtigerweise am ehesten als etwas Unbestimmtes – »ein Gott« – umschreibbar ist. Vor diesem Hintergrund mag es erstaunlich scheinen, daß die hier in der homerischen Odyssee zu findende, derartig modern wirkende Konzeption des künstlerischen Kreationsprozesses, deren subversive Implikationen das Spannungsfeld von ästhetischer und religiöser Erfahrung auf vielfältigste Weise auszumessen erlauben, durch den Inspirationsgedanken des lateinisch geprägten Christentums so gründlich zugeschüttet werden konnten, – ja, daß es diesem Gedanken gelang, die spezifisch selbstbewußten, operativ in ihren Werken selbst vorgebrachten poetologischen Reflexionen der ältesten griechischen Dichter, Homer und Hesiod, für lange Zeit unkenntlich zu machen. Zur Erklärung dieses Faktums muß zum Schluß noch an die Vorarbeit erinnert werden, die antike griechische Philosophen dafür geleistet haben und ohne die der christliche Inspirationsgedanke wohl kaum von so durchschlagendem Erfolg, vom Mittelalter bis in die Gegenwart, gekrönt gewesen wäre. Zunächst ist hier Demokrit zu nennen, ein Zeitgenosse der griechischen Tragiker. Dem patristischen christlichen Autor Klemens von Alexandrien verdanken wir ein fragmentarisches Zitat dieses Philosophen, in dem das Geschmacksurteil der besonderen »Schönheit« (oder »Güte«) von Dichtung davon abhängig gemacht wird, daß der Dichter (poihtÆw) mittels einer »Gotterfülltheit« (metÉ §nyousiasmoË) sowie eines »heiligen Atems« (fleroË pneÊmatow) schreibt.42 Dabei handelt es sich um die älteste Textaussage innerhalb der antiken griechischen Überlieferung, in der (im Unterschied zu Hesiod) eine Art von absolut gesetztem Inspirationsgedanken aufscheint; ob der Enthusiasmos hier jedoch als ekstatische religiöse Erfahrung zu Das Problem dieser Selbstcharakteristik wird umgangen, wenn man aÈtod¤daktow umstandslos mit yeod¤daktow gleichsetzt (einem Wort, das erstmals bei Paulus, 1 Thess. 4.9, vorkommt), wie Tigerstedt es tut: Furor poeticus (Anm. 38), 168; Plato’s Idea (Anm. 43), 11, Anm. 22; vgl. die in eine ähnliche Richtung zielende Argumentation bei Finkelberg: Literary Fiction (Anm. 40), 55 f. 42 Demokrit: fr. B 18 Diels-Kranz: poihtØw d¢ ëssa m¢n ín grãfhi metÉ §nyousiasmoË ka‹ fleroË pneÊmatow kalå kãrta §st¤n. (»Was ein Dichter schreibt mittels von Gotterfülltheit und heiligem Atem ist überaus schön.«) 41

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deuten ist, wie von vielen Forschern mit Selbstverständlichkeit angenommen wird, ist durchaus nicht sicher.43 Folgenreich ausgestaltet wurde dieses Konzept jedoch wenig später durch Platon. Bei seiner berühmten Auflistung der vier Arten des göttlichen Wahnsinns in seinem Dialog Phaidros werden diese ausdrücklich als »Anhauchung« (§p¤pnoia) durch verschiedene Götter vorgeführt44: die mantische mania werde durch Apollon angehaucht, die zu den Mysterieneinweihungen gehörige durch Dionysos, die dichterische durch die Musen und schließlich die erotische durch Aphrodite und Eros. Ähnlich stellt Platon im Dialog Menon45 verschiedene Berufsgruppen auf eine Stufe, die Orakelverkünder, die Wahrsager, die Dichter, ja auch die Politiker – allerdings nur unter der Bedingung, daß diese alle in ihren Reden viele und große Dinge auf vollständig richtige Weise vollbringen. Dies jedoch, so heißt es bei Platon, können sie nur, weil sie göttlich sind, weil sie einen Gott in sich haben (§nyousiãzein), weil sie durch einen Gott angehaucht (§p¤pnoi) und außer sich gebracht (katexÒmenoi) worden sind. Um Mißverständnissen vorzubeugen, formuliert Platon den dabei zum Tragen kommenden Antagonismus in aller Schärfe: Das Richtige, das sie sagen und bewirken, kommt nicht von ihnen selbst, sondern ausschließlich von der göttlichen Instanz; sie selbst aber, fügt er noch triumphierend hinzu, wissen nicht einmal, wovon sie reden. Damit gelingt es Platon, einen Gegensatz zu konstruieren, den seine Lieblingsfeinde, die griechischen Dichter, selbst unermüdlich und radikal in Frage gestellt hatten. Die subtile homerische Diagnose des künstlerischen Kreationsprozesses als eines von göttlichen Gaben zwar ermöglichten, aber autonomen und potentiell subversiven, auch von politischen Herrschaftsverhältnissen unabhängigen intellektuellen Vorgangs, soll, so will es Platon, ihre Geltung ein für alle Mal verlieren. Und er läßt es sich nicht nehmen, diese Zielrichtung im Dialog Ion, einem Gespräch des Sokrates mit einem als Rhapsoden praktizierenden Homerspezialisten und -verehrer, aufs gründlichste und expliziteste, unter Einsatz aller ihm zu Gebote stehenden Mittel der Dialektik und der Ironie, auszubuchstabieren.46 Die Grenze zwischen den Dichtern und den Philosophen wird zuungunsten der Dichter so scharf wie nur möglich gezogen: Alles, was ein Dichter kann, könne er nicht durch Kunst (t°xnh) und nicht durch Verstandesleistung. Gerade weil der Dichter von Platon auf höchst ambivalente Weise zu einer »heiligen Sache« (xr∞ma flerÒn) stilisiert wird und zum »Gotterfüllten« (¶nyeow, §nyousiazÒmenow), kann der Philosoph ihm auch alle Vernunft und Wissenschaft (noËw und §pistÆmh) absprechen, ihn zum Besessenen (katexÒmenow, ¶kfrvn, oÈk ¶mfrvn) erklären und daher mit ekstatischen Kultan43 Dies wäre jedenfalls nicht kompatibel mit Demokrit: fr. B 21 Diels-Kranz; vgl. dazu E. N. Tigerstedt: Plato’s Idea of Poetical Inspiration, in: Commentationes Humanorum Litterarum Societas Scientiarum Fennica 44/2 (1969), 4–76, hier 73–76, und Murray: Poetic Inspiration (Anm. 38), 100. 44 Platon: Phaidros 265b. Vgl. auch 245a (mania der Dichter, aber ohne »Anhauchung«). 45 Platon: Menon 99c–d. 46 Platon: Ion, vor allem 533d–536d.

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hängern wie den Korybanten und den dionysischen Bakchantinnen gleichsetzen. Der Dichter, so heißt es hier ausdrücklich, äußert sich zwar im Wort (lÒgow), aber wer spricht, ist nicht der Dichter, sondern der Gott selbst. Bemerkenswerterweise verzichtet Platon gerade in diesem Dialog, in dem der Typus des homerischen Sängers mit schneidendem Sarkasmus auf beispiellose Weise lächerlich gemacht wird, darauf, dem Dichter immerhin eine »Inspiration« (§p¤pnoia) durch einen Gott zu konzedieren, wie er dies vor allem in den Dialogen Phaidros und Menon getan hatte.47 Er wählt statt dessen ein technisches, ein naturwissenschaftliches Bild, um den Dichter endgültig als eigenständigen Künstler abzuqualifizieren und zugleich die Muse als eine zwar göttlich genannte, aber physikalisch interpretierte dynamis zu entzaubern: Die Dichter, so heißt es hier, würden an der Muse hängen, wie die eisernen Ringe am Magnetstein. Weiter kann die polemische Entintellektualisierung der Dichtkunst wohl kaum getrieben werden, als es hier geschieht.48 Das christliche Inspirationskonzept konnte das Erbe dieses platonischen Procedere antreten und es sowohl zur Konstruktion einer (von der Einwirkung des Menschen unabhängigen) Heiligen Schrift verwenden wie in die Nobilitierung der von Gott eingegebenen Verstandesleistung (intellegentia) transformieren. Eine weitere folgenreiche Umwertung stand noch bevor, von der Platon selbst nicht verschont blieb: die neuplatonisch geprägte, vor allem von Marsilio Ficino entworfene Theorie des furor poeticus, die ganz im Zeichen der Neuentdeckung Platons durch den Westen stand, nachdem 1423 zum ersten Mal ein vollständiges Manuskript der platonischen Schriften aus Byzanz nach Italien gelangt war und die Dialoge bald darauf ins Lateinische übersetzt wurden. An andere zeitgenössische Florentinische Gelehrte anknüpfend, transformierte Ficino Platons Lehre von der göttlichen mania in ein programmatisches Kunstmodell, in eine bis dahin »ungeahnte Aufwertung Vgl. auch Apologie 22a–c: dort werden die Dichter wie im Ion nicht als »inspiriert« (»göttlich angehaucht«), sondern als »gotterfüllt« (§nyousiãzontew, wie die Wahrsager) bezeichnet; Gesetze 719c: dort beschränkt sich Platon auf die schon im Ion verwendete Charakteristik »nicht bei Sinnen« (oÈk ¶mfrvn). Bezeichnenderweise beansprucht hier der Sprecher (der Athener) im Namen der Dichter etwas zu artikulieren, das seit altersher durch die Dichter verbürgt und allgemein anerkannt sei – was die überwältigende Mehrheit der philologischen Forscher bis in die Gegenwart kritiklos übernommen hat, obwohl es keinen anderen Beleg als eben diese Platon-Stelle dafür gibt. Die gründlichste und zuverlässigste Analyse aller relevanten Platon-Stellen hat Tigerstedt: Plato’s Idea (wie Anm. 43) vorgelegt; vgl. auch Penelope Murray: Plato on Poetry, Cambridge 1996 (mit Kommentar zu den Ion- und Politeia-Stellen sowie einer Dokumentation der übrigen einschlägigen Textstellen), 6–12, 235–238, und die konzise Synopse bei Fuhrmann: Dichtungstheorie (Anm. 39), 78–80. 48 Zu anderen Aspekten von Platons Unternehmen, die Dichtung philosophisch zu entqualifizieren bzw. zu vereinnahmen vgl. Verf.: Pathos und Wahrheit. Zur Rivalität zwischen Tragödie und Philosophie, in: »Kultur« und »Gemeinsinn« [=Interventionen 3], hg. von Jörg Huber und Alois Martin Müller, Basel/Frankfurt/M. 1994, 127–148. Vgl. die treffende lapidare Charakterisierung von Platons epistemologischem Alleinvertretungsanspruch bei Axel Gellhaus: Enthusiasmos und Kalkül – Reflexionen über den Ursprung der Dichtung, München 1995, 64: »Instrument der Erkenntnis ist Dichtung nur dort, wo sie Philosophie ist.« 47

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und Idealisierung des Wesens der Dichtung«49, die zwar Platons kunstfeindlichen Intentionen zuwiderlief, jedoch deren Grundlage unangetastet ließ. Die von Platon vollzogene Entintellektualisierung der künstlerischen Produktion wurde von Ficino eben gerade nicht rückgängig gemacht und blieb nicht allein bis in die Entstehungszeit der modernen Ästhetik und viele ihrer bis heute reichenden Erscheinungsformen,50 sondern bis zu den religiös verklärten Selbststilisierungsversuchen mancher moderner und postmoderner Dichter, aber auch Philosophen und Philologen, bewahrt – unter christlichen oder neo-paganen Vorzeichen. Andere Dichter bis in die Gegenwart hinein haben allerdings dagegen Widerspruch eingelegt, in einer Weise, die wie eine Reihe von Variationen zu der poetologischen Aussage des vom Tode bedrohten homerischen Sängers Phemios wirkt. Diese antiplatonische Selbstreflexion moderner Autoren kann hier jedoch nicht weiterverfolgt werden. Nur so viel sei bemerkt, daß die Spannung zwischen ästhetischer Erfahrung und religiöser oder religiös interpretierbarer Erfahrung ein offenbar in der europäischen Tradition von Homer über das Mittelalter bis in die Moderne virulent gebliebener Reflexionsstimulus einer selbstreferentiellen Anthropologie51 des Sprachkünstlers geblieben ist – und zwar nicht als ein kontinuierlich ablaufender Wirkungsprozeß, sondern als ein jeweils individuell und kulturell spezifischer Versuch einzelner Künstler, gelehrter und selbstgelehrter, sich mit dieser Spannung produktiv und womöglich kritisch auseinanderzusetzen und damit der Komplexität der künstlerischen Kreation auf die Spur zu kommen. Steppich: Numine afflatur (Anm. 14), 165; vgl. auch Tigerstedt: Plato’s Idea (Anm. 43), 20, 26. Dazu zählen auch die vorherrschenden Positionen innerhalb der modernen Klassischen Philologie. Aktuelles Beispiel für die communis opinio einer Platons Autorität unkritisch folgenden Lektüre Homers (explizit gegen Murray: Poetic Inspiration, Anm. 38): Grace M. Ledbetter: Poetics Before Plato – Interpretation and Authority in Early Greek Theories of Poetry, Princeton und Oxford 2003, mit der axiomatischen Behauptung (hier 31), daß Homer generell (wenn auch mit Ausnahme von Od. 22, 347 f.) »portrays the poet as a passive conveyor of divine inspiration, as the prophet through whom the Muses speak«; ähnlich konventionell Andrew Ford: Homer – The Poetry of the Past, Ithaca/London 1992, 32, der sich strikt gegen die (z.B. von Murray und Tigerstedt, Anm. 38, stark gemachte) Möglichkeit wendet, daß bei Homer gerade die intellektuellen Dimensionen im Verhältnis zwischen Dichter und Muse reflektiert sein könnten: dies sei nichts als ein »romantisches« Vorurteil. 51 Zu anderen Auffassungen von poetischer Anthropologie vgl. Poetry and Prophecy – The Anthropology of Inspiration, hg. von John Leavitt, Ann Arbor 1997, und Walter Falk: Die Inspiration in Religion und Dichtung, in: Religion – Literatur – Künste. Aspekte eines Vergleichs, hg. von Peter Tschuggnall, Anif/Salzburg 1998, 129–149. Leavitt (hier 12) stützt seine kulturanthropologisch weitausgreifenden Überlegungen vor allem auf Platon und behauptet mit dem ›main-stream‹ der philologischen Forschung, Platons Dialoge (vor allem Ion und Phaidros) zeigen, »what was generally assumed about poetry and prophecy in the classical period«. Falk geht von dem theologisch gefärbten universalistischen Axiom aus, »daß die Eigenart des Menschen durch Inspiration bestimmt werde« (hier 129), beansprucht, dies in jahrzehntelangen empirischen Forschungen bestätigt zu haben (hier 147) und sorgt sich apologetisch um den Fortbestand der Menschheit, »wenn die seit der Aufklärung freigesetzten verderblichen Tendenzen nicht aufgehalten und durch heilsame ersetzt werden können« (hier 141). 49 50

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Die hier vorgelegten fragmentarischen Anmerkungen zur Verwendungsgeschichte des Begriffs der Inspiration enden also mit einem Caveat52: Ohne eine genauere Kenntnis der komplexen und gegenstrebigen Traditionsverschränkungen des Inspirationsgedankens vor 1800 können dessen Transformationen und Aktualisierungen nach 1800 (der literarischen wie der wissenschaftlichen) wohl kaum angemessen erfaßt werden.

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Dem damit verbundenen Programm hoffe ich in weiteren Studien nachgehen zu können.

Dichtung als Begeisterungserfahrung Zur Konzeption des Platonischen Ion* Von Martin Vöhler

Platons Dialoge enthalten zahlreiche Stellungnahmen zur Dichtung. Vom Ion bis zu den Nomoi finden sich einschlägige Passagen in seinem Werk.1 Gemeinsam ist ihnen, daß sie keine stringente Argumentationslinie bilden, sondern vielmehr durch ihre Kontextgebundenheit Brüche erzeugen und Widersprüchlichkeiten provozieren. Platon nutzt die Vielfalt der Personen und Perspektiven offenbar dazu, verschiedene, auch gegenläufige Positionen auszuprobieren. Dabei sind seine Fragestellungen von grundsätzlicher Bedeutung. Sie umfassen ein weites Themenspektrum und entwickeln Leitbegriffe der ästhetischen Diskussion: Zur Bestimmung des Werkcharakters behandelt Platon Wahrheit und Lüge, Bild und Abbild, Wirklichkeit und Scheinwirklichkeit der mimetischen Produkte. Auf der Produktionsseite unterscheidet er zwischen Wissen und Begeisterung, Kunstfertigkeit und Enthusiasmus. Im Blick auf die Wirkung kontrastiert er Vergnügen und Belehrung, Affekt und Einsicht. Die Gegensatzpaare nutzt er zur Polarisierung. Sie werden vermittels der jeweils neuen Gesprächskonstellationen der Dialoge in ständiger Bewegung gehalten. Die Polemik gegen die Dichter wird zudem mit eminent literarischen Mitteln entfaltet. In den dichtungskritischen Passagen häufen sich prägnante Bilder, Vergleiche und Metaphern. * Für Anregungen und Kritik danke ich den Mitgliedern des Heidelberger Leibnizkreises (M. Baumbach, B. Borg, B. Full, J. Hamilton, D.-N. Hasse, M. Holtermann, H. Köhler, M. Korenjak, G. W. Most, S. Rebenich, B. v. Reibnitz, A. Stähli, A. Wessels). 1 Einen Überblick gibt Stefan Büttner: Die Literaturtheorie bei Platon und ihre anthropologische Begründung, Tübingen/Basel 2000, 1–17. Aus der neueren Forschung zu Platons Dichterkritik wurden folgende Beiträge berücksichtigt: Grace M. Ledbetter: Poetics Before Plato – Interpretation and Authority in Early Greek Theories of Poetry, Princeton 2003; Andrew Ford: The Origins of Criticism – Literary Culture and Poetic Theory in Classical Greece, Princeton 2002; Stephen Halliwell: The Aesthetics of Mimesis – Ancient Text and Modern Problems, Princeton/Oxford 2002; Silke-Maria Weineck: The Abyss Above – Philosophy and Poetic Madness in Plato, Hölderlin and Nietzsche, Albany (New York) 2002; Stavros Tsitsiridis: He genese tes logotechnikes hermeneias – He hermeneia tu poiematos tu Simonide ston »Protagora« tu Platona, Athen 2001; Günter Figal: Die Wahrheit und die schöne Täuschung – Zum Verhältnis von Dichtung und Philosophie im Platonischen Denken, in: Philosophisches Jahrbuch 107 (2000), 301–315; Penelope Murray: Plato on Poetry – Ion; Republic 376e–98b; Republic 595–608b, Cambridge 1996; Christopher Janaway: Images of Excellence – Plato’s Critique of the Arts, Oxford 1995; Giovanni R. F. Ferrari: Plato and Poetry, in: The Cambridge History of Literary Criticism – I: Classical Criticism, ed. by Gorge A. Kennedy, Cambridge 1989, 92–148; Stephen Halliwell: Plato, Republic 10, Westminster 1988; Paul Woodruff: What Could Go Wrong with Inspiration? Why Plato’s Poets Fail, in: Plato on Beauty, Wisdom, and the Arts, ed. by Julius Moravcsik and Philip Temko, Totowa (New Jersey) 1982, 137–150.

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Im folgenden soll die Stellung des Ion im Kontext der Platonischen Dichtungskritik behandelt werden. Mit dem frühen Dialog positioniert sich Platon erstmals in dem »alten Streit zwischen Dichtung und Philosophie«2. Dieser hatte bereits eine lange Tradition. Platon läßt ihn nicht auf sich beruhen, sondern entfacht ihn neu. Im Übergang vom alten zum neuen Streit erhält der kleine Dialog ein großes Gewicht. Dies soll im folgenden hervorgehoben werden, indem die spezifische Übergangsstellung des Ion markiert wird. Der Dialog fällt unter den Frühdialogen durch seine besondere Formgebung auf: Insgesamt von ungewöhnlicher Kürze, überrascht das Gespräch mit seinem langen, monologischen Mittelteil, der von einem dialogischen Anfang und Schluß eingerahmt wird. Unter dem leichten, heiteren Ton verbirgt sich ein komplexer Text, dessen Tücken gleich zu Beginn seiner modernen Rezeption deutlich werden.3 Bei seiner Wiederentdeckung im deutschen Sprachraum sorgte der Ion für einen Eklat. Leopold Graf zu Stollberg übersetzte den Dialog zusammen mit dem Phaidros und dem Symposion im ersten Teil seiner Sammlung unter dem Titel Auserlesene Gespräche des Platon.4 Im Vorwort dieser Ausgabe zeigt sich Stolberg besonders an Platons Enthusiasmus interessiert. Er entwirft eine christliche Deutung des Sokrates, der »auf den Flügeln der Ahnung«5 sich weit über seine Zeitgenossen erhoben und bereits der »Morgenröthe« des Christentums entgegengesehen habe.6 Die vermeintliche Kontinuität von Platonischer und christlicher Begeisterung, die Platon zum »Mitgenossen einer christlichen Offenbarung« machte, forderte Goethes Protest heraus. Stolberg erhält den Vorwurf unangemessener religiöser Vereinnahmung, aber auch der Dialog selbst mißfällt Goethe, wie er in seinen Ausführungen erläutert. Goethe erkennt in dem Gespräch »nichts als eine PersiStaat 607b: palaiå diaforå filosof¤& te ka‹ poihtikª; der griechische Platontext folgt der Ausgabe: Platonis Opera, ed. by John Burnet, I–V, Oxford 1900–1907. 3 Zum Hintergrund vgl. Max Wundt: Die Wiederentdeckung Platons im 18. Jahrhundert, in: Blätter für Deutsche Philosophie 15 (1941), 149–158. Eine frühe, überaus bemerkenswerte Rezeption des Ion findet sich beim jungen Schelling. Unter dem Titel Über Dichter, Propheten, Dichterbegeisterung, Enthusiasmus, Theopneustie, und göttliche Einwirkung auf Menschen überhaupt [August 1792] beschäftigt sich Schelling mit dem Ion. Er liest, exzerpiert und kommentiert den damals noch wenig beachteten Dialog im Blick auf Platons Begeisterungsanalyse. Eine »präliminarische Transkription« des im Berliner Schellingnachlaß erhaltenen Textes bietet Michael Franz im Anhang 1 seiner Habilitationsschrift Schellings Tübinger Platon-Studien, Göttingen 1996, 283–305, zur Deutung des Entwurfs 191–210. Auf den von der Forschung unberücksichtigten Text hatte Rüdiger Bubner hingewiesen und ihn als Quelle für die Rekonstruktion der Anfänge des Idealismus im Tübinger Stift genutzt: Die Entdeckung Platons durch Schelling, in: Neue Hefte für Philosophie 35 (1995), 32–55, bes. 38–42; eine erweiterte Fassung unter dem Titel Die Entdeckung Platons durch Schelling und seine Aneignung durch Schleiermacher enthält Bubners Studie Innovationen des Idealismus, Göttingen 1995, 9–42. Den Hinweis verdanke ich Michael Franz. 4 Leopold Graf zu Stolberg: Auserlesene Gespräche des Platon – Erster Teil, in: Gesammelte Werke der Brüder Christian und Friedrich Grafen zu Stolberg, XVII, Hamburg 1824, 331–377. 5 Ebd., VII. 6 Ebd., XV f. 2

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flage«7. Hatte Stollberg seiner Übersetzung den Titel Ion, oder von der Poesie gegeben, so behauptet Goethe im Gegenzug, »mit der Poesie« habe »das ganze Gespräch nichts zu thun«8. Er erklärt den Dialog für dichtungstheoretisch irrelevant und sieht die Verbindung zur Dichtung allein in der Personalsatire gegeben. Der Dialog entwickle einen persönlichen Angriff, mit dem Platon den Rhapsoden Ion habe blamieren wollen. Goethes Ansicht traf auf eine breite Zustimmung und bestärkte die Platonforschung in der Skepsis gegenüber dem Dialog. Schleiermacher fügte formale Bedenken hinzu und erklärte den Ion für unecht bzw. für eine Schülerarbeit.9 An Schleiermachers Kritik knüpfte zuletzt noch Hans Diller an.10 Einen Wendepunkt in der Rezeption markiert erst die Dissertation von Hellmut Flashar11, die die Aufmerksamkeit wieder stärker auf den Dialog selbst lenkt und ihn überzeugend dem Platonischen Werk zuordnet. In der Folge wurde besonders der negative Aspekt des Gesprächs herausgestellt:12 Platon widerlegt den Wissensanspruch des Rhapsoden, indem er die Handwerker zum Vergleich heranzieht. Deren überprüfbares, technisches Wissen (téchne) wird zum Beurteilungsmaßstab des Rhapsodenwissens. Der Ion fügt sich insofern gut in die Reihe der Platonischen Frühdialoge ein, als diese die téchne zum »Maßstab der Beurteilung aller Wissensansprüche«13 erheben. In dem Gespräch zwischen Sokrates und dem Rhapsoden stellt sich heraus, daß Ion über sein Wissen keine Auskunft zu geben vermag. Es beruht, wie ihm Sokrates attestiert, nicht auf ›technischen‹ Grundlagen, sondern auf der Begeisterung (enthusiasmós), die ihrerseits zum Gegenstand des Gesprächs wird. Hinter der (von Goethe so stark hervorgehobenen) polemischen Oberfläche des Dialogs vollzieht sich also eine grundsätzliche Prüfung des Wissens, die den Typus des dichterischen Wissens strikt von dem des handwerklichen Wissens abgrenzt. Die Begeisterung (der Dichter, der Rhapsoden und des Publikums) und das Wissen (der Handwerker) geraten in einen polaren Gegensatz. Der Aspekt der Wissensprüfung gehört, wie die neuere Forschung herausgestellt hat, ins Zentrum des Dialogs. Damit aber ist, wie im folgenden (Teil I) zu zeigen sein wird, sein Themenspektrum nicht erschöpft. Denn größeres Gewicht noch als die Wissensprüfung erhält der Enthusiasmus im Gefüge des Dialogs. Platon betont diese Gewichtung, indem er mit der Figur des Ion einen Rhapsoden – und keinen 7 Johann Wolfgang von Goethe: Plato als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung [1796], in: Goethes Werke, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887–1919, I.41/2, 169–175, hier 171. 8 Ebd., 173. 9 Eine Übersicht zur nachgoetheschen Rezeption des Ion gibt Hellmut Flashar: Der Dialog Ion als Zeugnis platonischer Philosophie, Berlin 1958, 1–16. 10 Hans Diller: Probleme des Platonischen »Ion«, in: Hermes 83 (1955), 171–187. 11 Flashar: Ion als Zeugnis (Anm. 9). 12 Ledbetter: Poetics Before Plato, 78–98; Halliwell: Aesthetics of Mimesis, 41–43; Janaway: Images of Excellence, 14–35; Woodruff: What Could Go Wrong, 137–50 (alle Anm. 1). 13 Vgl. Günter Figal: Sokrates, München 21998, 41–62, bes. 49.

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Dichter14 – zum Gesprächspartner des Sokrates wählt. Die Pointe dieser Gesprächskonstellation scheint mir bislang noch nicht zureichend erschlossen. Ion versteht sich in ausgezeichneter Weise auf die Erfahrung der Begeisterung und deren Vermittlung an die Zuhörer. Sein Erfolg liegt darin, das Publikum zu fesseln und dessen Aufmerksamkeit während des Vortrags geschickt zu lenken. Platon wählt den Rhapsoden keineswegs nur, um dessen Wissensansprüche15 zu widerlegen, sondern nutzt ihn als einen Begeisterungsexperten, durch den er das weite Gebiet des Enthusiasmus erkundet. Größe und Grenzen des Enthusiasmus erfahren hier, erstmals in den Platonischen Dialogen, eine eingehende Behandlung. Das Gespräch wird zu einem Grundlagentext über ästhetische Erfahrung: Platon diskutiert die von der Dichtung ausgehende Begeisterungsübertragung und verortet sie in dem spezifischen Kontext der griechischen Kultur. Die altehrwürdige Einheit von Wissen und Begeisterung tritt infolge seiner Kritik auseinander. Die Kunsterfahrung selbst kommt in den Blick. Sie erscheint religiös fundiert, doch erweist sich das von ihr vermittelte Wissen als zweifelhaft.16 Der Ion enthält (wie im Teil II gezeigt werden soll) mit seiner Konfrontation von Wissen und Begeisterung wie auch mit seiner Begeisterungsanalyse zentrale Aspekte der Dichtungskritik, die Platon in den späteren Dialogen aufgreifen und ausführlich behandeln wird. Die Gesprächskonstellation zwischen Sokrates und dem Rhapsoden ermöglicht es, ins Zentrum der Dichtungskritik zu gelangen und dabei eine Fülle grundsätzlicher Fragen aufzuwerfen. Es zeichnet den frühen Dialog aus, daß er die verwirrende Problematik der Begeisterungserfahrung in forcierter Kürze und Polemik exponiert.

14 In seiner Abhandlung über den Platonischen Enthusiasmus verdeutlicht Roberto Velardi die grundlegende Erinnerungs- und Bildungsfunktion der Rhapsodenaufführungen für die griechische Kultur, doch erweist sich seine These: »Insomma Ione è Omero« als Kurzschluß, insofern Platon im Ion weder den Autor Homer noch sein Werk untersucht, sondern vielmehr am Beispiel Homers den Vorgang der Begeisterungsübertragung behandelt, vgl. Enthusiasmòs – Possessione rituale e teoria della comunicazione poetica in Platone, Rom 1989, 41. 15 Von Hellmut Flashar wird Ion im Nachwort seiner Übersetzung (Platon: Ion. Griechischdeutsch, München 1963, 50) als ein »durch und durch sophistischer Rhapsode« bezeichnet. Als »something of a literary critic« erscheint der Rhapsode bei Ferrari: Plato and Poetry (Anm. 1), 94. Beide Deutungen verfehlen die Gesprächskonstellation. Mit dem Detail des Einnickens (Ion 532c) grenzt Platon den Rhapsoden deutlich von den Sophisten ab. Ion vertritt gerade nicht den aufgeklärten Universalismus, sondern die ältere, auf Homer fokussierte Bildungstradition. Seine Kenntnisse beschränken sich eingestandenermaßen allein auf die Werke Homers. Platon kann seinen Protagonisten daher kaum zur Karikierung sophistischer Bildungsansprüche gebrauchen. 16 Heinz Schlaffer beschreibt den Ion von daher als einen markanten Wendepunkt, an dem die Erkenntnis über Dichtung einsetzt und in dessen Folge Philologie, Poetik und Literaturgeschichte entstehen: Poesie und Wissen – Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt/M. 1990, 11–44; vgl. auch Silke-Maria Weineck: Talking about Homer – Poetic Madness, Philosophy, and the Birth of Criticism in Plato’s »Ion«, in: Arethusa 31/1 (1998), 19–42.

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I. Nach der Fiktion des Dialogs kommt der Rhapsode Ion17 geradewegs aus Epidauros, wo er vor einem Publikum von bis zu 20.000 Zuhörern einen Rhapsodenwettbewerb gewonnen hatte. (530a) Sokrates erkundigt sich sogleich nach dem Homerverständnis, das Ion beansprucht. Denn Ion ist ein moderner Rhapsode, der seinen Vortrag nicht jedesmal neu improvisiert, wie es die alten Sänger (Aoiden) taten,18 sondern der sich auf einen festen Text stützt und ihn zusammen mit eigenen Erklärungen vorträgt. Wie diese Erklärungen aussahen, läßt sich nicht rekonstruieren, doch bilden sie jedenfalls eine frühe Form der Textkommentierung, auf die Ion stolz ist. Im Gespräch bekräftigt er den Anspruch, vor allem etwas von Homer zu verstehen. Auf ihn sei er spezialisiert. Ihn könne er nicht nur rezitieren, sondern auch besser als jeder andere auslegen.19 Die anderen Dichter hingegen kenne er nicht entfernt so gut. (532b/c) Sie interessierten ihn auch kaum, so daß er, wie er freimütig zugibt, bei den Vorträgen ihrer Werke zuweilen einnicke. (532c) Diese freimütig erklärte Ignoranz hat den Dialog in der Rezeptionsgeschichte starker Kritik ausgesetzt: Goethe schreibt dem Rhapsoden eine »unglaubliche Dummheit«20 zu. Ion habe sich über die von ihm vorgetragenen Kunstwerke keinerlei Gedanken gemacht21: »Wahrscheinlich begünstigte ihn [Ion] eine gute Gestalt, ein glückliches Organ, ein Herz, fähig gerührt zu werden; aber bei alledem blieb er ein Naturalist, ein bloßer Empiriker, der weder über seine Kunst noch über die Kunstwerke gedacht hatte, sondern sich in einem engen Kreise mechanisch herumdrehte und sich dennoch für einen Künstler hielt und wahrscheinlich von ganz Griechenland für einen großen Künstler gehalten wurde. Einen solchen Tropf nimmt der Platonische Sokrates vor, um ihn zu Schanden zu machen. Erst gibt er ihm seine Beschränktheit zu fühlen, dann läßt er ihn merken, daß er von dem Homerischen Detail wenig verstehe, und nöthigt ihn, da der arme Teufel sich nicht Über den historisch faßbaren Rhapsoden Ion von Ephesos, der hinter dem Dialogpartner des Sokrates steht, ist außer dem Datum seines Siegs (413 v. Chr.) nur wenig bekannt, vgl. Debra Nails: The People of Plato – A Prosopography of Plato and the Other Socratics, Indianapolis/Cambridge 2002, 175. 18 Vgl. Joachim Latacz: Artikel Rhapsoden, in: Der neue Pauly, X, Stuttgart/Weimar 2001, 947 f., hier 947: »Die Prägung [des Wortes Rhapsode] ist vielleicht ursprünglich ironisch-abschätzig gemeint [...], jedenfalls aber eine Kontrastbildung zu aoidós, ›kreativer Sänger‹, als Reaktion auf das Aufkommen des neuen Berufsstandes [...].« Zur Tätigkeit der Rhapsoden im Kontext der Panathenäen vgl. George Nagy: Plato’s Rhapsody and Homer’s Music – The Poetics of the Panathenaic Festival in Classical Athens, Cambridge (Massachusetts)/London 2002, bes. 9–35; H. Alain Shapiro: Les Rhapsodes aux Panathénées et la céramique à Athènes à l’époque archaique, in: Culture et Cité – L’avènement d’Athènes à l’époque archaique, publ. par Annie Verbanck-Piérard et Didier Viviers, Brüssel 1995, 127–137. 19 Ion 530c: »Ich [Ion] vermeine am schönsten von allen Menschen über Homer zu reden«. 20 Goethe: Plato als Mitgenosse (Anm. 7), 173. 21 Ebd., 172. 17

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mehr zu helfen weiß, sich für einen Mann zu erkennen, der durch unmittelbare göttliche Eingebung begeistert wird.« Die Dummheit Ions sei unbestritten, doch steht sie nicht im Zentrum des Gesprächs. Wenn Platon den Rhapsoden in den dialogischen Partien am Anfang und Ende des Dialogs der Unwissenheit überführen läßt, so geschieht dies gewissermaßen obligatorisch. Gehört doch die Aporie zum Programm der Frühdialoge. Wie in den anderen Frühdialogen tritt auch im Ion das philosophische Wissen dadurch hervor, daß Sokrates das Nichtwissen des Gesprächspartners erkennbar macht. Er gibt ihm, wie Goethe bemerkt, »seine Beschränktheit zu fühlen«. Doch darin erschöpft sich die Pointe des Dialogs keineswegs. Vielmehr fährt Sokrates fort, die Begeisterungskräfte der Dichtung zu prüfen. Hierzu aber eignet sich der Rhapsode in besonderer Weise, da er sowohl Empfänger wie auch Vermittler der göttlichen Begeisterung ist. Das Gespräch ist dreiteilig aufgebaut. In seinem Eingang (530–33d) wird der Wissensanspruch Ions geprüft und widerlegt. Das Argument ist einfach: Sokrates geht davon aus, daß jedes Wissen auf ein Ganzes (hólon, 532c) gerichtet sei. Ions Wissen aber ziele nicht auf den Bereich der gesamten Dichtkunst, sondern allein auf die Kenntnis Homers, so daß ihm statt des beanspruchten Fach- und Sachwissens (téchne, epistéme, 532c6) nur die Begeisterung für Homer zugestanden werden könne. Sokrates trennt also die Homerbegeisterung vom Homerverständnis, wenn er abschließend resümiert: Es sei eine göttliche Kraft (theia dynamis), die Ion bewege, gut über Homer zu sprechen, nicht aber ein Fachwissen.22 Mit dem Stichwort von der göttlichen Begeisterungskraft ist bereits das Zentrum des Dialogs erreicht. Hier, im zweiten Teil des Dialogs (533d–36d), lenkt Sokrates mit seiner Rede die Aufmerksamkeit vom Rhapsoden auf den Rezeptionsprozeß selbst. Seine Argumentation stützt sich dabei wesentlich auf prägnante Bilder. Er beginnt mit dem berühmten Gleichnis vom Magnetstein: ka‹ går aÏth ≤ l¤yow oÈ mÒnon aÈtoÁw toÈw daktul¤ouw êgei toÁw sidhroËw, éllå ka‹ dÊnamin §nt¤yhsi to›w daktul¤oiw Àst' aÔ dÊnasyai taÈtÚn toËto poie›n ˜per ≤ l¤yow, êllouw êgein daktul¤ouw, Àst' §n¤ote ırmayÚw makrÚw pãnu sidhr¤vn ka‹ daktul¤vn §j éllÆlvn ≥rthtai: pçsi d¢ toÊtoiw §j §ke¤nhw t∞w l¤you ≤ dÊnamiw énÆrthtai. oÏtv d¢ ka‹ ≤ MoËsa §ny°ouw m¢n poie› aÈtÆ, diå d¢ t«n §ny°vn toÊtvn êllvn §nyousiazÒntvn ırmayÚw §jartçtai.

Denn auch dieser Stein zieht nicht nur die Eisenringe selbst an, sondern er verleiht den Ringen auch die Kraft, so daß sie ihrerseits dasselbe zu bewirken vermögen wie der Stein, nämlich andere Ringe anzuziehen, so daß bisweilen eine ganz lange Kette von Eisenringen aneinander geheftet ist; diesen allen aber haftet von jenem Stein her die Kraft an. So Ion 533d: »Es steht dir dies nämlich nicht als Fachwissen zu Gebote, über Homer gut zu reden, wie ich eben bereits sagte, sondern es ist eine göttliche Kraft, die dich bewegt.« 22

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bewirkt aber auch die Muse eine göttliche Ergriffenheit teils unmittelbar, teils heftet sie sich, indem an diesen göttlich Ergriffenen sich andere begeistern, eine ganze Kette an. (533d–e)23

Die magnetisch verbundene Kette (hormathós, 533e) reicht in ihrer Kraftübertragung von der Gottheit bis zum Publikum. Nicht nur der Dichter, sondern auch die Mittlerfiguren (die Schauspieler, Chorsänger und Rhapsoden) wie zuletzt auch die Zuschauer und Zuhörer werden einbezogen und von der Gewalt des Enthusiasmus ergriffen. Mit dieser Vorstellung der Begeisterungsübertragung weicht Platon von der alten, seit Homer vertretenen Vorstellung ab, nach der sich der dichtende Sänger mit seiner Muse in einem exklusiven Verhältnis befindet. Seine Aufgabe ist es, die Ereignisse mit möglichster Genauigkeit vor Augen zu stellen. Damit aber dies gelingt, bedarf er, wenn er selbst nicht dabei war, eines Augenzeugen, dessen Schilderung er vertrauen kann. Diese Aufgabe erfüllen die Musen. Sie ermöglichen es dem Sänger, so zu erzählen, als ob er selbst Zeuge des Geschehens gewesen wäre. Dieses ›Als-ob‹ wird von Homer bereits selbst thematisiert. So hebt Odysseus, als er bei den Phaiaken dem Vortrag des Demodokos zuhört, dessen Nähe zum Geschehen lobend hervor: DhmÒdok', ¶joxa dÆ se brot«n afin¤zom' èpãntvn: µ s° ge MoËs' §d¤daje, DiÚw pãÛw, µ s° g' 'ApÒllvn: l¤hn går katå kÒsmon 'Axai«n o‰ton ée¤deiw, ˜ss' ßrjan t' ¶payÒn te ka‹ ˜ss' §mÒghsan 'Axaio¤, Àw t° pou µ aÈtÚw pare∆n µ êllou ékoÊsaw.

Demodokos, ausnehmend vor allen Menschen preise ich dich, sei es, die Muse, die Tochter des Zeus, hat dich gelehrt, sei es, Apoll [hat dich gelehrt], ganz nach der Ordnung nämlich singst du das Unheil der Achaier: Was sie getan und gelitten und was sie ausgestanden haben, die Achaier, wie als ob du selbst dabei warst oder es von einem anderen gehört hast. (Odyssee 8.487–91)

In seinem Lob hebt Odysseus als grundsätzliche Anforderung an den Gesang das Gebot der Ausführlichkeit und Genauigkeit hervor. Je plastischer die geschilderten Ereignisse vor Augen treten, desto besser. Beim Zuhören scheint es Odysseus, der das ganze Unheil erlebt hatte, so, als ob auch Demodokos dabei gewesen sei. In diesem ›Als-ob‹ liegt das Ideal des epischen Berichts. Er soll die Ereignisse mit möglichster Genauigkeit vor Augen stellen.24

23 24

Dem griechischen Text ist die Übersetzung von Hellmut Flashar beigefügt (Anm. 15). Zu dem ›Als-ob‹ bzw. ›as if present‹-Motiv vgl. Halliwell: Aesthetics of Mimesis (Anm. 1), 20.

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Damit aber dies gelingt, bedürfen die Sänger des göttlichen Beistands. Ohne die Hilfe der Musen, wüßten die Sänger »gar nichts«. Dies hebt der Musenanruf vor dem Schiffskatalog hervor: uÑme›w går yea¤ §ste pãrest° te ‡st° te pãnta, ≤me›w d¢ kl°ow o‰on ékoÊomen oÈd° ti ‡dmen:

Denn ihr [Musen] seid Göttinnen und seid zugegen bei allem und wißt alles. Wir aber hören nur die Kunde und wissen gar nichts. (Ilias 2.485 f.)

Hier wird die Wahrheit der berichteten Ereignisse25 aus dem göttlichen Beistand (der Muse) abgeleitet. Zugleich aber treten die Dichter durchaus selbstbewußt auf. Demodokos betont den schöpferischen Eigenanteil an seiner Dichtung, wenn er mit einem gewissen Stolz sagt: aÈtod¤daktow d' efim¤, yeÚw d° moi §n fres‹n o‡maw panto¤aw §n°fusen:

Selbstgelehrt bin ich, ein Gott aber pflanzte mir die vielfältigen Wege [des Gesangs] in den Sinn. (Odyssee 22.347–48)

Die Auskunft des Sängers, von einem Gott gelehrt zu sein, ist konventionell. Der vorangestellte Zusatz aber, selbstgelehrt (autodídaktos) zu sein, hebt die eigene Leistung in ungewohnter Weise hervor. Die Abweichung ergibt sich aus der besonderen Situation, in der sie vorgetragen wird: Der auf Ithaka lebende Sänger Phemios geht in dem Moment über die gewöhnliche Formel hinaus und betont die eigene Leistung, als Odysseus ihn töten will. War er doch, wenn auch wider Willen, jahrelang vor den Freiern aufgetreten. Im Ion sprengt Platon die Exklusivität des Homerischen Begeisterungsverhältnisses zugunsten einer vielgliedrigen Kette der Begeisterung auf. Der Enthusiasmus, der traditionell dem Dichter vorbehalten war und zur Legitimation des Wahrheitsanspruchs diente, wird nunmehr als Überwältigung gefaßt, die von der Gottheit ausgeht und in gradueller Abstufung auf die einzelnen Glieder der Kette übergreift. Das Bild der magnetischen Kette verbindet Vermittler und Rezipienten untereinander und aufs engste mit dem göttlichen Zentrum, von dem die Übertragung der Begeisterung ausgeht. Mit diesem Bild stellt Platon (im Anschluß an Demokrit) den Vorgang der Begeisterung in ein neues Licht.26 25 Bekräftigt wird hier die »Wahrheit der Aussage«, vgl. Burghard Damerau: Die Wahrheit der Literatur – Glanz und Elend der Konzepte, Würzburg 2003, 24. 26 Der Einfluß Demokrits auf Platons Konzeption des dichterischen Enthusiasmus ist in der Forschung unbestritten, allerdings angesichts der schlechten Quellenlage schwer zu bestimmen. Das Bild des Magnetsteins geht vermutlich auf Euripides zurück. Zum Einfluß von Demokrit und Euripides vgl. Flashar: Ion als Zeugnis (Anm. 9), 55–58.

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Hatte er Ion das Fachwissen abgesprochen, so geht Sokrates mit demselben Argument gegen die Dichter vor. Von den epischen Dichtern, wie Homer, behauptet er, daß sie nicht aufgrund eines Fachwissens (téchne), sondern in göttlicher Begeisterung und Ergriffenheit (éntheoi, katechómenoi) ihre Dichtung hervorbringen: pãntew går o· te t«n §p«n poihta‹ ofl égayo‹ oÈk §k t°xnhw éll' ¶nyeoi ˆntew ka‹ katexÒmenoi pãnta taËta tå kalå l°gousi poiÆmata.

Denn alle guten Ependichter singen nicht auf Grund eines Fachwissens, sondern in göttlicher Begeisterung und Ergriffenheit alle diese schönen Dichtungen. (533e)

Die Ergriffenheit wird also zur notwendigen Bedingung der dichterischen Produktivität, während das Fachwissen und die Kunstfertigkeit verzichtbar erscheinen.27 Diese Argumentation erfährt bei den Lieddichtern (melopoioí) noch eine Steigerung. Um zu zeigen, daß sie ihr Dichten im Zustand höchster Ergriffenheit vollziehen, stellt Sokrates Vergleiche zu den Korybanten und Bakchantinnen her. ka‹ ofl melopoio‹ ofl égayo‹ …saÊtvw, Àsper ofl korubanti«ntew oÈk ¶mfronew ˆntew ÙrxoËntai, oÏtv ka‹ ofl melopoio‹ oÈk ¶mfronew ˆntew tå kalå m°lh taËta poioËsin, éll' §peidån §mb«sin efiw tØn èrmon¤an ka‹ efiw tÚn =uymÒn, bakxeÊousi ka‹ katexÒmenoi, Àsper afl bãkxai érÊontai §k t«n potam«n m°li ka‹ gãla katexÒmenai, ¶mfronew d¢ oÔsai oÎ, ka‹ t«n melopoi«n ≤ cuxØ toËto §rgãzetai, ˜per aÈto‹ l°gousi. l°gousi går dÆpouyen prÚw ≤mçw ofl poihta‹ ˜ti épÚ krhn«n melirrÊtvn §k Mous«n kÆpvn tin«n ka‹ nap«n drepÒmenoi tå m°lh ≤m›n f°rousin Àsper afl m°littai, ka‹ aÈto‹ oÏtv petÒmenoi: ka‹ élhy∞ l°gousi.

Wie die Korybantentänzer nicht bei Sinnen sind, wenn sie tanzen, so dichten auch die Liederdichter nicht bei Sinnen diese schönen Lieder, sondern sobald sie eintreten in den Strom von Harmonie und Rhythmus, schwärmen sie, und zwar in Besessenheit, wie die Bacchantinnen aus den Flüssen Milch und Honig schöpfen, wenn sie im Zustand der Ergriffenheit, nicht aber, wenn sie bei Besinnung sind, so vollzieht sich das auch in der Liederdichter Seele, wie sie auch selbst sagen. Denn es sagen ja doch zu uns die Dichter, daß sie von honigfließenden Quellen aus irgendwelchen Musengärten und -triften die Lieder pflücken und uns bringen, wie die Bienen, auch selbst so umherflatternd. (Ion 533e–34b)

Genau wie die Korybanten28, die im Dienst der großen Mutter unter Trommelund Flötenbegleitung orgiastisch tanzen und nicht bei Sinnen sind, seien auch die 27 Vgl. Phaidros 245a: »Wer aber ohne den Wahnsinn (manía) der Musen an die Pforten der Dichtkunst kommt, im Vertrauen darauf, er werde nur vom Handwerklichen her ein rechter Dichter sein, der bleibt selbst unfertig, und von der Poesie der in Wahnsinn Versetzten wird die des Besonnenen in den Schatten gestellt.« 28 Die Korybanten sind bei Platon oft vertreten: Kriton 54d; Euthyphron 277d–e; Symposion 215c–e; Phaidros 288b; Nomoi 790d–91a. Vgl. dazu die beiden Arbeiten von Ivan M. Linforth: The

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Lieddichter in ihrem Enthusiasmus außer sich. Der Bildwechsel führt von der korybantischen zur kultisch verwandten bakchischen Sphäre. Sokrates verbindet die Lieddichter mit den Bakchen, die Milch und Honig trinken und, wenn ihr Gott präsent ist, in einen ekstatischen Rausch verfallen: ka‹ élhy∞ l°gousi. koËfon går xr∞ma poihtÆw §stin ka‹ pthnÚn ka‹ flerÒn, ka‹ oÈ prÒteron oÂÒw te poie›n pr‹n ín ¶nyeÒw te g°nhtai ka‹ ¶kfrvn ka‹ ı noËw mhk°ti §n aÈt“ §nª: ßvw d' ên tout‹ ¶x˙ tÚ kt∞ma, édÊnatow pçw poie›n ênyrvpÒw §stin ka‹ xrhsmƒde›n.

Und wahr sagen sie. Denn ein leichtes Ding ist der Dichter, beschwingt und heilig, und nicht eher in der Lage zu dichten, bevor er nicht in göttliche Begeisterung geraten und von Sinnen ist und der Verstand nicht mehr in ihm wohnt. (534b)

Erst wenn sie von Sinnen seien und der Gott selbst durch sie hindurch spreche, entstehe die gute Dichtung. Die drei Vergleiche bilden eine Klimax, deren Ziel es ist, mit der alten Vorstellung vom komplementären Zusammenwirken zwischen Dichter und Muse zu brechen, die bereits Demodokos in der Odyssee für sich beansprucht hatte. Platon weicht mit den Bildern von Magnet, Korybanten und Bakchen markant vom konventionellen Verständnis der Dichtung und ihrer Topik ab,29 um die poetische Begeisterung mit der drastischen Hervorhebung des Wahnsinns zu diskreditieren. Der Dichter wird jetzt zum bloßen Gefäß. Sein Verstand erscheint als Störfaktor und muß ihm vom Gott im Begeisterungsprozeß geraubt werden. Im Enthusiasmus wird der Dichter zum »Sprecher« und »Vermittler« der Götter (hermenéus ton theón, 534e), wie die Rhapsoden wiederum zu »Vermittlern der Vermittler« (535a) werden.30 Nach der Erörterung des Übertragungsvorgangs widmet sich Platon den psychologischen Aspekten der Begeisterung. Sokrates präsentiert seinem Gesprächspartner Spannungshöhepunkte des Epos, etwa wie Odysseus auf die Schwelle springt, sich den Freiern zu erkennen gibt und die Pfeile vor sich ausstreut, oder wie Achill gegen Hektor losstürmt, oder wie Andromache, Hekabe und Priamos klagen.31 Dabei betont Sokrates die mitreißende Wirkung der Szenen, die die Hörer nach Ithaka oder Troja versetzen. Ion bekräftigt diese Erfahrung, wobei er die Tränen der Rührung, die zu Berge stehenden Haare oder das Herzklopfen der Furcht als somatische Indikatoren der Ergriffenheit hervorhebt. Ein solches Pathos Corybantic Rites in Plato und Telestic Madness in Plato, Phaedrus 244DE, in: University of California Publications in Classical Philology 13 (1944/50), 93–120 und 121–62. 29 Vgl. René Nünlist: Poetologische Bildersprache in der frühgriechischen Dichtung [=Beiträge zur Altertumskunde 101], Stuttgart/Leipzig 1998. 30 Alle Gruppen sind spezialisiert. Während Ion allein von Homer etwas versteht, sind auch die Dichter speziellen Gattungen (Dithyramben, Lobgesänge, Tänze, Sagen, Jamben) zugeordnet. (534c) 31 Zur Auswahl der Homerstellen vgl. Flashar: Ion als Zeugnis (Anm. 9), 67.

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versuche er seinen Hörern weiterzugeben: Wenn nämlich die Zuschauer weinen, könne er später lachend das Geld einnehmen, lachen sie aber, so müsse er über die Geldeinbuße weinen (535e). Wie schon beim Einnicken Ions, so desillusioniert Platon auch hier die erhabene Vorstellung vom Rhapsoden, der seinen Vortrag durchaus mit materiellen Erwägungen verbindet und nicht vom Enthusiasmus allein lebt.32 Im dritten und letzten Teil des Gesprächs (536d–42b) kommt Sokrates nochmals auf den Wissensaspekt zurück. War das Eingangsgespräch (530a–33c) zu dem Ergebnis gekommen, daß Ion über kein allgemeines literarisches Wissen verfüge, so entzieht der Schlußteil dem Rhapsoden auch das beanspruchte Fachwissen. Sokrates klärt Ion über die Grenzen seines vermeintlichen Wissens auf. Wenn der Rhapsode annimmt, er verstehe etwas von all den Dingen, über die er in seinen Vorträgen spricht, so überschätzt er sein Können. Sokrates stellt im Gegenzug eine Hierarchie des Wissens von Gebrauch, Verfertigung und Nachahmung auf und zeigt, daß die Fachleute jeweils besser Beschied wissen als Ion. Beispielsweise könne ein Arzt die Zusammensetzung eines wundheilenden Medikaments (538c) zweifellos besser beurteilen als der Rhapsode.33 Ion vertritt, wie sich im folgenden herausstellt, ein ebenso stolzes wie naives Bewußtsein seines Könnens, das zu seiner Widerlegung einer mühsamen Prüfung bedarf.34 Als er schließlich sein Nichtwissen eingestanden hat, nennt ihn Sokrates einen »göttlichen und nicht fachkundigen Homerverherr-

32 Am Schluß der Rede geht Platon den Gattungsunterschieden nach. Auf die Frage, weshalb Ion nur von Homer und nicht von den anderen Dichtern ergriffen werde, setzt Sokrates nochmals den Korybantenvergleich ein: Auch die Korybanten werden nicht von jeder Musik hingerissen, sondern nur von derjenigen Melodie, die zu dem Gott gehört, von dem sie besessen werden können. (536c) 33 Der Schlußteil ist als élenchos konzipiert, der Meinungen durch ihre Prüfung und Begründung in Wissen überführt. Nur an einer Stelle macht Ion einen erfolgversprechenden Ansatz, sich aus der Sokratischen Umklammerung zu befreien, indem er ein formales Wissen beansprucht, das den dichterischen Stil (prépon, 540b) betrifft: Im Gegensatz zu den übrigen Fachleuten wisse er nämlich, was einem Mann im Unterschied zu einer Frau oder einem Sklaven zu sprechen gezieme, oder wie sich der Befehlshaber vom Befehlsempfänger im Ausdruck unterscheide. Doch setzt sich Sokrates über diesen Einwand hinweg und fährt mit seinem Katalog von Fallbeispielen fort, in denen Ion seine Unwissenheit eingestehen muß, bis er schließlich den tollkühnen Versuch wagt, sich das Wissen eines Feldherrn zuzumaßen, was Sokrates mit Leichtigkeit widerlegt. Zu Platons Gradation von technischem Wissen, dichterischem Wissen und Rhapsodenwissen vgl. Christopher Janaway: Craft and Fineness in Plato’s »Ion«, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 10 (1992), 1–23, bes. 12 f. 34 Der Ion läßt sich als Kritik des unreflektierten ›Könnens-Bewußtseins‹ lesen. Zum Begriff des ›Könnens-Bewußtseins‹ vgl. Christian Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M. 1980, 435–439; ders.: Die politische Kunst der Tragödie, München 1988, 156–178. Die einschlägigen Stellen versammelt Rudolf Löbl: Techne – Untersuchung zur Bedeutung dieses Wortes in der Zeit von Homer bis Aristoteles, Würzburg 1997. Eine umfassende Studie bietet Burkhard Meißner: Die technologische Fachliteratur der Antike – Struktur, Überlieferung und Wirkung technischen Wissens in der Antike (ca. 400 v. Chr. – ca. 500 n. Chr.), Berlin 1999.

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licher«35. Dies ist das letzte Wort des Dialogs: Eine göttliche Inkompetenz zeichnet unseren armen Rhapsoden aus. Sein Erfolg beruht allein auf der suspekt gewordenen Begeisterung. Mit dem Ion grenzt sich Platon entschieden von der traditionellen Konzeption des dichterischen Enthusiasmus ab. Sokrates spaltet den überlieferten Zusammenhang von Enthusiasmus und Wissen auf.36 Beide Momente werden voneinander isoliert und gegeneinander ausgespielt. Die Dichter erscheinen als ›heilige Wesen‹, denen zugleich ihr Wissen abgesprochen wird. Aber nicht nur das Verhältnis von Begeisterung und Wissen, sondern auch die Begeisterung selbst wird problematisiert. Platon stellt ihre Ambivalenz heraus. Sie erscheint als ein göttliches Geschenk wie auch als ein Instrument der Täuschung. Um ihre Zweideutigkeit zu demonstrieren, eignet sich die Wahl des Rhapsoden in besonderer Weise. Ion wird von Platon als Täuschungsvirtuose vorgestellt. Es gelingt ihm souverän, sein panhellenisches Publikum in Bann zu halten, andererseits aber unterliegt er selbst dem Zauber der Homerischen Dichtung. Diese Doppelseitigkeit macht ihn zu einem idealen Gesprächspartner für den Platonischen Zweck. Mit seiner Hilfe gelingt es Platon, zentrale Positionen seiner Dichtungskritik zu exponieren. Die hier angelegten Argumente werden in den späteren Dialogen aufgenommen, präzisiert und in drei verschiedenen Richtungen vertieft. Diese seien im folgenden kurz umrissen.

II. Die polemische Seite des Ion, die das Wissen des Rhapsoden in Frage stellt, führt Platon im Staat konsequent fort. Die Dichterkritik des 10. Buches knüpft am Diskussionsstand des Ion an: Hatte Platon dort das Wissen der Experten, etwa der Wagenlenker und Ärzte, dem Wissen respektive Unwissen des Rhapsoden vorgezogen, so wird das Argument hier, auf der Grundlage der Ideenlehre, differenziert. Es erfolgt bekanntlich eine dreifache Abstufung des Wissens zwischen Idee, Abbild und Abbild des Abbilds. (595c–97e) Stets erweist sich das dichterische Wissen als drittklassig und philosophisch irrelevant. (597e–98d) Zu dem ontologischen Argument kommt ein psychologisches. Bereits im Ion hatte sich Sokrates ausführlich berichten lassen, wie der Rhapsode ganz darauf konzentriert ist, sein Publikum emotional zu Ion 542b: ToËto to¤nun tÚ kãllion uÑpãrxei soi par' ≤m›n, ÖIvn, ye›on e‰nai ka‹ mØ texnikÚn per‹ ÑOmÆrou §pain°thn. 35

36 Auf die Entwicklung der Dichterkritik seit Hesiod und den Vorsokratikern gehe ich hier nicht ein, vgl. Ledbetter: Poetics before Plato (Anm. 1); Glenn W. Most: Die Poetik der frühen griechischen Philosophie, in: Handbuch Frühe Griechische Philosophie – Von Thales bis zu den Sophisten, hg. von Arthur A. Long, aus dem Englischen von Karlheinz Hülser, Stuttgart/Weimar 2001, 304–333, bes. 308–317; Richard Kannicht: Der alte Streit zwischen Philosophie und Dichtung. Zwei Vorlesungen über Grundzüge der griechischen Literaturauffassung, in: Der altsprachliche Unterricht 23/6 (1980), 6–36.

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lenken, indem er mit seinem Vortrag Pathos, Tränen und Herzklopfen erzeugt. Platon führt dieses Argument jetzt aus, indem er dem Publikum attestiert, daß es allein nach spannenden Stoffen verlange und mit so unvernünftigen Helden wie Achill in seinem Zorn (601e1) Vorlieb nehme, statt sich von ihnen zu distanzieren. Sowohl das ontologische wie das psychologische Argument begründen den Ausschluß Homers und der mimetischen Dichtung aus dem Staat (607a vgl. 595a–c).37 Den Enthusiasmusbezug des Ion vertieft der Phaidros. Die Dichtung erscheint in der zweiten Sokrates-Rede (43e–57b) wie im Ion als göttliche Gabe (theia dosis). Sokrates argumentiert hier zwar dichtungsapologetisch, doch geht es ihm dabei nur scheinbar um die Rehabilitierung der Dichtung. Das Argument zielt vielmehr auf die Legitimation der Philosophie durch die Begeisterung. Um diesen Anspruch plausibel zu machen, greift Platon auf bekannte Vorbilder zurück: Auf den prophetischen Wahnsinn, dessen Schutzgott Apoll ist, auf den rituellen Wahnsinn, dessen Schutzgott Dionysos ist, und schließlich auf den poetischen Wahnsinn, der von den Musen ausgeht. (245a) Platon verzichtet auf die Überblendung von dionysischem (bzw. korybantischem) und dichterischem Wahnsinn, die er im Ion vorgenommen hatte. Die Bereiche werden wieder getrennt. Doch die Gleichstellung der Begeisterungsformen, die die Rede anbietet, täuscht: Der Vorzug der Philosophie bleibt unübersehbar. Während die Philosophen in der Wertung der Berufstätigkeiten die höchste Position einnehmen, erscheinen die Dichter weit abgeschlagen. Platon positioniert sie maliziös hinter den Sporttrainern, auf Platz 6. Dagegen erhält die Philosophie eine gefestigte Stellung, indem ihr jetzt auch der enthusiasmós, der bislang der Dichtung vorbehalten war, zugeschlagen wird. Wissen und Enthusiasmus zeichnen nunmehr die Philosophie aus. Sie übernimmt somit die beiden ausgezeichneten Momente, die nach dem älteren Verständnis für die Dichtung reserviert waren. Selbstbewußt tritt die Philosophie an die Stelle der Dichtung, die ihr nunmehr vollständig subordiniert ist. Eine dritte im Ion angelegte Dimension untersucht Platon im Zusammenhang seiner Kritik der Rhetorik. Im Ion erläutert der Rhapsode, wie er sich ganz auf die Begeisterungsübertragung konzentriert. Hierin liege seine Kompetenz. Anders als die alten Sänger, die Aoiden, braucht er den Vortrag nicht zu extemporieren. Was er sagt, stehe fest, denn sein Vortragstext ist bereits kanonisiert. Seine Aufgabe beschränkt sich also darauf, die Begeisterung kundig zu steuern, was ihm mühelos gelingt, wenn er seine Hörer nach Ithaka oder Troja versetzt. Der Rhapsode wird damit in Platons Sicht zum Vorläufer der Rhetoren, die gezielte Täuschungsmanöver 37 Um die Wucht des sokratischen Angriffs zu verdeutlichen, sei ein Blick auf Rousseau gestattet: Rousseau erklärte der Großen Nation den Krieg, als er behauptete: Künste und Wissenschaften führten keineswegs zum Fortschritt der Kultur, sondern vielmehr zu deren Verfall. Seine beiden Diskurse (Discours sur les Sciences et les Arts, 1750, und Discours sur l’Origine de l’Inegalité parmi les Hommes, 1755, in: Schriften zur Kulturkritik, eingeleitet, übersetzt und hg. von Kurt Wiegand, Hamburg 41983) verschaffen ihm eine unerhörte Aufmerksamkeit. Platons Staat diente ihm als Vorbild für seine Provokation.

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vornehmen, wofür Platon zahlreiche Beispiele gibt: So fühlt sich Sokrates etwa im Menexenos vom Zauber einer Rede auf die Gefallenen so sehr ergriffen, daß er sich nicht mehr in Athen glaubt, sondern sich auf die Inseln der Glückseligen versetzt sieht. Die bezaubernde Wirkung der demagogischen Rede habe ihn über mehrere Tage in ihrem Bann gehalten, bis er sich endlich wieder ins gewohnte Athener Leben zurückgefunden habe (234c–35e). Bedenklicher wird die Suggestionskraft der Rede in der Apologie dargestellt, wenn Sokrates einleitend sagt, er sei von der Rede seiner Ankläger vollständig gebannt. Sie sei so schön gewesen, daß er sich beinahe selbst vergessen habe – doch der Wahrheit entspreche sie nicht. Der hier behauptete Kontrast von Schönheit und Wahrheit betrifft neben der Rhetorik auch die Dichtung. Der Wirkungszweck beider Disziplinen wird als Bezauberung und Magie vorgestellt. Dagegen betont Platon durchgängig den antirhetorischen Gestus seiner Philosophie: Der Verzauberung und Selbstvergessenheit stellt er die philosophische Reflexion gegenüber. Er setzt auf ironische Distanz, Entzauberung und Verblüffung. Dem täuschenden Schein begegnet er mit dem Wissensanspruch der Philosophie. So entsteht in den Dialogen eine Filiation von Dichtung und Rhetorik einerseits und der sokratischen Philosophie andererseits. Der Zorn gegen die Sophisten verbindet sich mit dem Zorn gegen die Dichter. Aus dieser Filiation begründet sich meines Erachtens die extreme Schärfe, mit der Platon gegen die Dichter vorgeht. Der »Streit zwischen Dichtung und Philosophie« findet in Platons Polemik seinen Höhepunkt. Innerhalb der antiken Dichtungstheorie wird Platons Angriff gegen die Dichter in zwei Schüben revidiert: Aristoteles rechtfertigt den Wissensanspruch der Dichtung, indem er den uniformen Literaturbegriff aufgibt und der Dichtung (im 9. Kapitel seiner Poetik) ihre eigene Wahrheit zubilligt.38 Longin wiederum rehabilitiert die Wechselwirkung von enthusiasmós und téchne, gegen die Platon mit seinem Ion angetreten war. Indem Platon die überlieferte Einheit von enthusiasmós und téchne in ein direktes Gegensatzverhältnis überführt, gewinnt der »alte Streit« eine neue Dynamik. Platon entwickelt Bilder und Vorstellungen, die die gewohnten Vorstellungen aufbrechen, verschieben, mit neuen Assoziationen verbinden, sie ironisieren oder paradoxal verkehren, so daß prachtvolle Provokationen entstehen: An die Stelle der Musenbegeisterung treten Tanz, Rausch, Wahnsinn und Ekstase, die Arbeit der Dichter wird zum Begeisterungsflug, ihr Wissen erweist sich deshalb als fragwürdig, auch das Vergnügen des Publikums gerät bereits unter Verdacht. In Platons Werk bildet der Ion somit den Auftakt einer Polemik, die im folgenden vertieft und entfaltet wird. Platon radikalisiert den alten Streit in einer bis dahin unerhörten Weise. Dabei erweist sich die von Goethe monierte Gesprächskonstellation des Ion als ein geschickt kalkulierter Griff: Platon stellt Sokrates weder einen Dichter noch einen Vertreter des Publikums gegenüber, sondern eine Mittlerfigur, die einerseits selbst vom EnVgl. hierzu Wolfgang Rösler: Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike, in: Poetica 12 (1980), 283–319. 38

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thusiasmus ergriffen ist, andererseits aber den Enthusiasmus funktionalisiert und zur Hörerlenkung einsetzt. Wissen und Begeisterung treten in der Figur des Rhapsoden höchst anschaulich auseinander: Ion erweist sich in seinem Wissensanspruch als vollständig inkompetent, doch versteht er es göttlich, seine Hörer zu lenken. Die Einheit von Dichtung und Wissen, die Ion unter Berufung auf Homer voraussetzt, wird der Kritik unterworfen. Sokrates hält zwar im Einklang mit Ion am Faktum der Begeisterung fest, doch entzieht er dem Enthusiasmus, den die Dichtung hervorruft, seine Substanz: Das Wissen, das sich im Erlebnis der Begeisterung herstellt, hält der Sokratischen Prüfung nicht stand, es ist fragwürdig geworden. Der Begeisterungszustand ist neu zu bestimmen. Mit dieser Aufgabe eröffnet Platons Ion das bis heute anhaltende Gespräch über die Eigenart ästhetischer Erfahrung.

Körper-Theater und Selbst-Erkenntnis Konzepte von Erfahrung in der indischen Philosophie Von Angelika Malinar

I. Religiöse Erfahrung und außereuropäische Kontexte Fragt man nach Anknüpfungspunkten für Konzepte, die in der europäischen Moderne bedeutsam geworden sind, in außereuropäischen Kulturen, so geschieht dies auch vor dem Hintergrund unterschiedlicher Konstruktionen des ›Fremden‹. Solche Konstruktionen erfolgen oft, und auch schon in vormodernen Konstellationen des Kulturkontakts, mit Hilfe von »asymmetrischen Gegenbegriffen«1. Dabei wird das Eigene so definiert, daß ein Vergleich mit dem niedriger bewerteten Entgegengesetzten hinfällig wird. In der Moderne scheint der Prozeß des sogenannten »othering«2 jedoch komplexer zu verlaufen und führt zu einer doppelten Positionierung gegenüber anderen gesellschaftlichen Organisationsformen und kulturellen Praktiken:3 Zum einen geht es um die Wahrnehmung, Erforschung und Integration kultureller und historischer Alterität mit einem zuweilen durchaus kulturkritischen Anliegen,4 zum anderen aber um die Abgrenzung vom ›Anderen‹ durch verschiedene Formen der Ausgrenzung, Hierarchisierung etc.5 Auch die indische Kultur ist seit Ende des 18. Jahrhunderts ein Feld für solche interkulturellen Interaktionen, und die Frage nach Vergleichbarkeit und Verwandtschaft, nach Wert und Nutzen Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft – Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt/ M. 1979, 212 f.: »In solchen Fällen erhebt eine konkrete Gruppe einen exklusiven Anspruch auf Allgemeinheit, indem sie einen sprachlichen Universalbegriff nur auf sich selbst bezieht und jede Vergleichbarkeit ablehnt. Derartige Selbstbestimmungen treiben Gegenbegriffe hervor, die den Ausgegrenzten diskriminieren.« 2 Mit diesem Wort bezeichnet man vor allem koloniale Praktiken und Diskurse, durch die der Andere zum ›Anderen‹ gemacht wird. Siehe dazu z. B. Homi K. Bhabha: The Location of Culture, London 1994. 3 Die Untersuchung dieser Prozesse ist inzwischen Gegenstand zahlreicher Publikationen. In bezug auf die Kunst siehe z. B. Sylviane Leprun: Le théâtre des colonies – Scénographie, acteurs et discours de l’imaginaire dans les expositions 1855–1937, Paris 1986; Erika Fischer-Lichte: Das eigene und das fremde Theater, Tübingen 1999; oder Die fremde Form, hg. von Wolfgang Marschall u. a., Bern 1992. 4 Kulturkritik erscheint als integraler Bestandteil der Moderne. Im Anschluß an Koselleck könnte man das als eine invertierte Anwendung der asymmetrische Gegenbegriff bezeichnen. – Zur Bindung der Modernitätskritik an die Moderne siehe z. B. Bettina Gruber: Mystik, Esoterik, Okkultismus: Überlegungen zu einer Begriffsdiskussion, in: Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900, hg. von Moritz Baßler und Hildegard Châtellier, Strasbourg 1998, 27–39. 5 Für solche Ausgrenzungen im kolonialen Kulturkontakt siehe z. B. die von Edward W. Said ausgelöste ›Orientalismus‹-Debatte: Orientalismus, Frankfurt/M. 1981. Für frühe Konzepte der Integration des Anderen siehe z. B. Anthony Pagden: The Effacement of Difference – Colonialism 1

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2004 · © Felix Meiner Verlag · ISSN 1439-5886

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der hier tradierten Konzepte wurde intensiv diskutiert. Dies erfolgte nicht zuletzt auch in bezug auf ›Großbegriffe‹ der abendländischen Tradition wie ›Religion‹ oder ›Philosophie‹.6 Dabei kam es zu durchaus unterschiedlichen Einschätzungen: Während man die Existenz von Religion in Indien nach anfänglichen Widerständen letztlich akzeptierte, scheint sich im Falle der Philosophie die auf Hegel zurückgehende Skepsis gehalten zu haben. Eine ähnliche Konstellation kann man auch in bezug auf die Konzepte ›religiöse‹ und ›ästhetische‹ Erfahrung verzeichnen. Denn zur Ausdifferenzierung von Religion und Kunst als funktionalen Teilsystemen der Gesellschaft und der damit einhergehenden Freisetzung des Individuums gehört auch eine Neubestimmung des Begriffs ›Erfahrung‹. Dabei wird ›Erfahrung‹ als ein speziell am Individuum orientierter Modus der Partizipation postuliert und, dem jeweiligen Teilsystem entsprechend, als z. B. ›religiös‹ oder ›ästhetisch‹ ausgewiesen. Der Einzelne kann dann produktiv, rezeptiv oder liminal an diesen Erfahrungsfeldern teilnehmen. Aus dieser Perspektive betrachtet, bezeichnen Begriffe wie ›religiöse‹ und ›ästhetische Erfahrung‹ einmalige historische Errungenschaften der europäischen Moderne, denn allen anderen Kulturen fehle das Subjekt bzw. die Individualität als der entscheidende Bezugspunkt.7 Die Abwesenheit moderner Individualität müßte dann auch das Fehlen damit verbundener Modi der Erfahrung nach sich ziehen. Diese Perspektive markiert die eine Seite der eingangs vermerkten doppelten Positionierung, die Abgrenzung und Ausgrenzung des Nicht-Modernen. Andererseits gehören Bewegungen und Strategien der Integration gleichermaßen zur Moderne, nicht allein unter dem Paradigma von ›Exotismus‹ oder ›Primitivismus‹, sondern auch durch die Einführung komparatistischer Perspektiven und Methoden, die dazu dienen, die Reichweite der eigenen Konzepte und Werte auszuloten. Die Beschäftigung mit and the Origins of Nationalism in Diderot and Herder, in: After Colonialism – Imperial Histories and Postcolonial Displacements, ed. by Gyan Prakash, Princeton 1995, 129–152. Ein markantes Beispiel für eine Kollision dieser unterschiedlichen Haltung gegenüber dem ›Fremden‹ ist im frühen 19. Jahrhundert die Debatte zwischen den sogenannten ›Orientalisten‹ und ›Anglisten‹ über den Wert von Persisch und Sanskrit sowie der in diesen Sprachen verfaßten Literatur in bezug auf das im kolonialen Indien anzustrebende Erziehungssystem. Die Auseinandersetzung gewannen die Anglisten, und 1835 wurde das britische Bildungssystem in Indien eingeführt. Vgl. Gauri Visvanathan: Masks of Conquest, Princeton 1989. 6 Siehe dazu Wilhelm Halbfass: Indien and Europa – Perspektiven ihrer geistigen Begegnung, Basel 1981. 7 Einflußreiche soziologische Deutungen dieses Ausdifferenzierungsprozesses beschreiben moderne Individualität in Abgrenzung von vormodernen Formationen. So unterscheidet z. B. Niklas Luhmann die »Inklusionsindividualität« vormoderner Gesellschaften von der durch »Exklusion« konstituierten Individualität der Moderne. Vgl. Gesellschaftsstruktur und Semantik, III, Frankfurt/M. 1998. Auch Louis Dumont stellt, wenngleich unter anderen Vorzeichen als Luhmann, die »individualistische Gesellschaft« der europäischen Moderne die »holistische« Gesellschaft Indiens gegenüber, in der das Individuum nicht der dominante Referenzpunkt gesellschaftlicher Kommunikation sei. Vgl. Homo Hierarchicus – The Caste System and its Implications, Chicago 1980.

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der Vergleichbarkeit der eigenen kulturellen Paradigmen ist unter dem Zeichen zunächst des Humanismus und dann der sogenannten ›anthropologischen Konstanten‹ zu einem eigenen gesellschaftlichen bzw. wissenschaftlichen Projekt geworden. In bezug auf die neu ausdifferenzierten Modi ›ästhetischer‹ bzw. ›religiöser‹ Erfahrung wird deren Vergleichbarkeit unterschiedlich eingeschätzt. Während die Frage nach der Anwendbarkeit des Konzepts der ›ästhetischen Erfahrung‹ auf außereuropäische Kontexte noch keine eindeutige Antwort erhalten hat,8 so wird ›religiöse Erfahrung‹ als Konstituente des anthropos inzwischen global konzediert. Diese Durchlässigkeit ist charakteristisch für neuere, oft komparatistisch angelegte Publikationen, in denen ›religiöse Erfahrung‹ als anthropologische Konstante und kulturvarianter Tatbestand von Religionen gilt. Das ermöglicht relativ großzügige Definitionen von ›religiöser Erfahrung‹ z. B. als »an experience doctrinally and soteriologically central to a religious tradition«9. Solche weiten Definitionen vermeiden eine nähere Bestimmung der emotionalen oder epistemologischen Qualität, welche ›religiöse Erfahrung‹ von anderen Modi der Erfahrung unterscheiden soll. In den für die einschlägige Diskussion grundlegenden Werken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts finden sich jedoch solche Spezifikationen von Modus und Inhalt, die dazu dienen, ›religiöse Erfahrung‹ als eine eigene Form von Erfahrung zu postulieren. So wird in der an Friedrich Schleiermacher anschließenden religionsphänomenologischen Tradition Religion als eine grundlegende Disposition aufgefaßt. Religion und religiöse Erfahrung basieren auf einer den Menschen gemeinsamen, aber unterschiedlich ausgeprägten emotionalen Fähigkeit, einem kognitiven ›Vermögen‹ bzw. einer spezifischen ›Anlage‹. Nach Schleiermacher zeigt sich Religion im »Sinn und Geschmack fürs Unendliche«, und er hält fest10: »Der Mensch wird mit der religiösen Anlage geboren wie mit jeder andern«. Auch Rudolf Otto11 knüpft an diese Tradition an, wenn er einen sensus numinis, einen Sinn für das »Überweltliche«, postuliert. In seinem für die psychologisch-empirische Tradition grundlegenden Werk von 1902 wendet sich William James jedoch gegen die Postulierung eines »religious sentiment«. Vom psychologischen Standpunkt aus betrachtet, unterscheiden sich die Emotionen, die im Kontext von Religion ausgelöst bzw. angefordert werden, nur durch ihren Referenzrahmen von den Emotionen des Alltags. Was man als ›religiöse‹ Liebe oder Ehrfurcht bezeichnet, sind nur ›normale‹ Gefühle in Ein Grund dafür ist nicht zuletzt das Problem des zugrunde gelegten Kunst-Begriffs, im Falle der indischen Kunst deren dominante Rezeption als ›religiöse Kunst‹. 9 Keith E. Yandell: The Epistemology of Religious Experience, Cambridge 1993, 15. Diese weite Definition wird dann in manchen Studien wieder eingeschränkt oder führt zu einer Vermeidung dieses Terminus, z. B. William P. Alston: Perceiving God – The Epistemology of Religious Experience, Ithaca 1991, 34. Beide Publikationen beschäftigen sich im übrigen mit der ›Realität‹ der Erfahrung und mit der Frage, ob religiöse Erfahrung als Beweis für die Existenz Gottes dienen kann. 10 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion – Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Stuttgart 1969, 36 bzw. 96. 11 Rudolf Otto: Sensus numinis – Das Gefühl des Überweltlichen, Stuttgart 1932. 8

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einer speziellen Ausprägung12: »[R]eligious awe is the same organic thrill we feel in a forest at twilight, or in a mountain gorge; only this time it comes over us at the thought of our supernatural relations; […]. As concrete states of mind, made up of feeling plus a specific sort of object, religious emotions of course are psychic entities distinguishable from other concrete emotions; but there is no ground for assuming a simple abstract ›religious emotion‹ to exist as a distinct elementary mental affection by itself, present in every religious experience without exception.« Nach James ist Erfahrung im Kontext von Religion eine Weise, in der das Subjekt in der Einsamkeit (»solitude«) mit dem umgeht, was es als »divine« erachtet.13 Hier wird nicht allein religiöser Pluralismus als empirischer Tatbestand anerkannt, sondern auch explizit der Anteil des Subjekts an der Konstruktion des jeweils Göttlichen hervorgehoben. So wird es möglich, religiöse Erfahrung als einen selbstinduzierten Zustand zu verstehen, der aus der Beschäftigung mit den eigenen Glaubensinhalten entsteht. Die Voraussetzungen und die Mechanismen dieser Selbstinduktion sind Gegenstand psychologischer Forschung geblieben. In Religionswissenschaft, Soziologie und Ethnologie beschäftigt man sich eher mit den kulturellen Konstruktionen, die beeinflussen und zum Teil vorgeben, was ein Einzelner als ›göttlich‹ ansehen mag.14 Diese Perspektive erlaubt es, die Frage nach ›religiöser‹ Erfahrung auch in kulturellen Kontexten zu untersuchen, die nicht durch den Ausdifferenzierungsprozeß der Moderne geprägt sind. Die Einbeziehung außereuropäischer Kontexte in die Analyse ›religiöser Erfahrung‹ ist inzwischen so weit gediehen, daß sie sowohl phänomenologisch wie terminologisch in vergleichende Studien eingeordnet werden. Dabei wird jedoch der spezifische Referenzrahmen von Terminologie und Deskription in der jeweiligen Tradition oft nicht präzise genug erarbeitet.15 William James: The Varieties of Religious Experience, Cambridge (Massachusetts) 1985, 31. Eine ähnliche Position hatte bereits Friedrich Max Müller vertreten: »Wenn wir also von unserem Bewußtsein in Bezug auf religiöse Gegenstände als von einer besonderen Anlage oder facultas sprechen, […] so meinen wir damit doch nur unser Bewußtsein, in der Form und Entfaltung, die es annimmt, wenn es mit religiösen Gegenständen zu tun hat.« Vorlesungen über den Ursprung und die Entwicklung der Religion, Stuttgart 1890, 24 f. 13 Ebd., 34. 14 Die neuere Debatte um Religion und sie konstituierende bzw. begleitende Emotionen bewegt sich nach wie vor in diesem Spektrum, erweitert jedoch durch die neurobiologische Forschung. Siehe dazu John Corrigan: Emotions Research and the Academic Study of Religion, in: Religion and Emotion – Approaches and Interpretations, New York (im Druck). 15 Das gilt insbesondere für die indischen Religionen, deren Einbeziehung bereits von Rudolf Otto in relativ großem Stil vorgenommen wurde. Yandell: Religious Experience (Anm. 9), 24 und passim, unterscheidet fünf Formen religiöser Erfahrung, von denen drei mit Sanskrit-Begriffen bezeichnet werden: Neben den beiden bekannten Modi »numinous« (den er wie Otto auf monotheistische Religionen bezieht) und »nature mystical« führt er »nirvanic«, »kevalic« und »moks.a« Erfahrungen an. Diese Klassifikation ist aufgrund des fehlenden Bezuges auf den indigenen Kontext höchst problematisch. Das gilt auch für die Typologisierung ›religiöser Erfahrung‹ im einschlägigen Artikel der von Mircea Eliade herausgegebenen Encyclopaedia of Religion. Dort wird 12

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Vor diesem Hintergrund dienen die folgenden Ausführungen dazu, eigenständige Reflexions- und Deskriptionshorizonte in der indischen Kultur aufzuzeigen, in denen spezielle Modi von Erfahrung behandelt werden. Dabei handelt sich vor allem um epistemologische Referenzrahmen, die bislang zugunsten der Beschäftigung mit den Inhalten bzw. Objekten der Erfahrung eher vernachlässigt wurden.16 Das, was man in diesem Zusammenhang als ›religiöse Erfahrung‹ ansprechen kann, unterscheidet sich sowohl von gewöhnlichen Wahrnehmungsprozessen als auch von Spezialfällen wie der ästhetischen Erfahrung. ›Religiöse‹ Erfahrung wird dabei auf zwei Ebenen erörtert: zum einen in bezug auf eine veränderte Selbstwahrnehmung des Subjekts, zum anderen in bezug auf die Objekt-Seite als Erfahrung einer ›transzendenten‹ Entität. Letztere wird in den verschiedenen philosophischen und theologischen Schulen der indischen Tradition auf recht unterschiedliche Weise zum Ziel religiöser Praxis erhoben.17 Um dies zu zeigen, werden zwei zum Hinduismus gehörende Schulen näher betrachtet: die Sa¯m. khya-Philosophie und der Kashmirische S´ivaismus. Beide lehren ein unsterbliches und immaterielles Bewußtseinsprinzip, den a¯tman, das »Selbst«. Dieses Selbst verkörpert sich solange, bis es sich erkennt. In beiden Schulen wird religiöse Erfahrung als eine erkennende Wahrnehmung bzw. ›Schau‹ des Selbst gedeutet. Sie ist ein Spezialfall von wahrnehmender Erkenntnis, der sich vom alltäglichen Normalfall an wichtigen Punkten unterscheidet. Bei der Deutung von Wahrnehmung, Erkenntnis und Erfahrung spielen Konzepte von Verkörperung eine maßgebliche Rolle. Diese begründen den für die Interpretation von Erfahrung in indischen Traditionen grundlegenden Zusammenhang zwischen körperlichen, emotionalen und kognitiven Dimensionen von Wahrnehmung und Erkenntnis. Beide Traditionen verbindet, daß sie das grundlegende Deutungsparadigma ›Verkörperung‹18 variieren und die in der religiösen Praxis angestrebte Erkenntnis mit dem vergleichen, was sich während einer Theateraufführung abspielt. die Bhagavadgi¯ta¯ zum textuellen Paradigma für unterschiedliche Spielarten religiöser Erfahrung erhoben. Vgl. James A. Martin: Religious Experience, in: The Encyclopeadia of Religion, ed. by Mircea Eliade, XII, Chicago 1987, 323–330. 16 Das gilt insbesondere für die einflußreichen Publikationen von Rudolf Otto: West-Östliche Mystik, München 1971, oder Mircea Eliade: Yoga – Unsterblichkeit und Freiheit, Frankfurt/M. 1985, der den Yoga den archaischen Ekstasetechniken zuordnet. Eine religionshermeneutisch orientierte, indologische Darstellung des Yoga bietet Gerhard Oberhammer: Strukturen yogischer Meditation – Untersuchungen zur Spiritualität des Yoga, Wien 1977. 17 Damit werden hier die zwei Formen von »experience« zusammengebracht, die Yandell: Religious Experience (Anm. 9), 19, aufgrund ihrer unterschiedlichen Struktur auseinanderhalten möchte. Er unterscheidet religiöse Erfahrungen vom Typ »subject/consciousness – object« vom Typ »subject – aspect« (das Subjekt entdeckt hier einen »Aspekt« seiner selbst). 18 Für die Konjunktur dieses Begriffs in der Moderne siehe Embodiment and Experience – The Existential Ground of Culture and Self, ed. by Thomas J. Csordas, Cambridge 1994, und Verkörperung, hg. von Erika Fischer-Lichte u. a., Tübingen 2001. Komparatistisch interessant erscheint in diesem Zusammenhang vor allem das für die indische Tradition grundlegende Axiom, daß der Körper

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II. Körper und Verkörperung Die in beiden Schulen entwickelten Konzepte von Erfahrung werden auf der Grundlage einer in der indischen Kultur weitgehend akzeptierten Deutung körperlicher Existenz entwickelt, die es deshalb zuerst zu umreißen gilt. Dieses Modell kann als paradigmatisch angesehen werden und liegt den unterschiedlichen Lehren hinduistischer Gemeinschaften in der Vergangenheit und in der Gegenwart zugrunde. Es findet sich in Texten, die zum Teil bis ins 5.-6. Jahrhundert v. Chr. zurückreichen, wie in den Upanis.aden, oder in der Bhagavadgi¯ta¯, die um die Zeitenwende zu datieren ist. In diesen Texten wird ein Konzept der Person aus der Bestimmung der Beziehung zwischen dem »Selbst« (a¯tman)19 und dem Körper (s´ar¯i ra, deha) entwickelt. Das Selbst ist eine lichthafte, aus Bewußtsein bestehende, körperlose und unsterbliche Entität. Der Körper erhält durch die Anwesenheit des a¯tman seine Empfindungsfähigkeit und kann dadurch überhaupt Erfahrungen machen, d. h. ›Glück und Leid‹ erfahren.20 Das Selbst repräsentiert das alle Erkenntnisprozesse begleitende selbst-reflexive bzw. intentionale Moment, es ermöglicht das Bewußtsein ›von etwas‹ und wird dementsprechend in manchen Texten auch als »Zeugen-Bewußtsein« (sa¯ks.¯i n) bezeichnet. Das Selbst ist, losgelöst vom Körper, bei allen Lebewesen identisch und, nach manchen Traditionen, wesensgleich mit dem ›höchsten Seienden‹ bzw. dem höchsten Gott. Loslösung des Selbst vom Körper bedeutet dann entweder ein ›Freisetzen‹ des Selbst, ein ›Eingehen‹ in das ›höchste‹ Selbst oder eine ewige Ko-Präsenz mit einem Gott bzw. einer Göttin (die als ›höchstes‹ Selbst definiert sind). Dementsprechend geht es bei der religiösen Erfahrung je nach Lehrtradition entweder um die Erkenntnis und situative Freisetzung des Selbst, um das temporäre ›Eingehen‹ in dieses oder die ›Schau‹ eines Gottes bzw. einer Göttin. Bleibt man in diesem Zustand, so führt das letztlich dazu, daß das Selbst den Körper verläßt und dieser stirbt. Die religiöse Erfahrung vollendet sich somit in einem gelungenen Tod.21 Bereits in einem der ältesten Texte zu diesem Thema wird die Erkenntnis dieses den Bezug des Einzelnen zur Welt konstituiert bzw. er selbst Teil einer als Körper interpretierten Welt ist. Dabei spielt, wie im folgenden gezeigt wird, die Beziehung zwischen Körperlichkeit und (schau-)spielerischer Gestaltnahme eine wichtige Rolle. 19 Trotz einiger Parallelen wird hier auf eine Wiedergabe des Begriffs a ¯ tman mit »Seele« verzichtet, weil dadurch eine zu große Nähe sowohl zu christlichen als auch zu neuzeitlichen Konzepten suggeriert würde. 20 Das heißt jedoch nicht, daß der a ¯ tman selbst diese Erfahrung macht. Im Gegenteil, in den meisten Traditionen ist er frei von allen Befindlichkeiten. – ›Glück und Leid‹ dienen als Kompositum der Bezeichnung für die Qualität dessen, was man in der körperlichen Existenz gewöhnlicherweise erfährt. 21 Der Tod ist gelungen, wenn man ohne Sehnsüchte oder Ängste stirbt und keine neuen Bindungen an den Körper produziert. Vgl. Verf.: Wiederverkörperung oder Abschied vom Ich – Der Tod und sein Jenseits in der altindischen Literatur, in: Tod, Jenseits und Identität – Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie, hg. von Jan Assman und Rolf Trauzettel, Freiburg 2002, 764–798.

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Selbst bereits zum Ziel erhoben22: »In […] diesem Körper befindet sich ein kleiner Lotus, ein Haus. Darin ist ein kleiner leerer Raum. Was sich in diesem befindet, danach muß man suchen, das, wahrlich, muß man zu erkennen trachten. […] Himmel und Erde sind innen darin untergebracht; Feuer und Wind; Sonne und Mond; Blitz und Gestirne. Was in dem Körper eines Lebewesens vorhanden und was nicht darin vorhanden ist, all das ist in diesem kleinen Raum untergebracht. […] Nicht altert dies […] durch das Altern dieses Körpers, nicht wird es erschlagen, wenn dieser erschlagen wird. […] Dies ist das Selbst, das von Schlechtem befreit ist, das alterlose, todlose, kummerlose.« Der Hinweis darauf, daß »Himmel und Erde« usw. im Selbst verankert sind, macht deutlich, daß das Selbst aufgrund seiner ontologischen Differenz zur Körper-Welt deren Erfahrung erst ermöglicht. Auch wird dem Selbst hier ein schöpferisches Potential zugeschrieben, was in manchen späteren Traditionen dazu führt, in diesem Selbst wenn nicht sogar den Schöpfer(-Gott) selbst, so doch dasjenige zu sehen, was Schöpfung hervorruft. Es gibt ein überaus breites Spektrum an Deutungen dieses Konzeptes mit entsprechenden Praktiken, Deskriptionen und Postulaten. Der Modus religiöser Erfahrung variiert nach Maßgabe des Objektbezugs und der diesen Objektbezug mediatisierenden Praxis. Eine Gemeinsamkeit kann jedoch festgehalten werden: Die zu erreichende Erkenntnis geht mit einer Transformation des Körpers einher bzw. wird durch eine solche Transformation erst ermöglicht, sei es in Form einer zunehmenden Transparenz und Erweiterung der kognitiven und sinnlichen Vermögen, sei es als Auflösung des Körpers. Ausgangspunkt aller Bemühungen um die Erkenntnis des Selbst und Hauptinhalt der entsprechenden Lehrtexte ist die lebensweltliche Normalsituation der Verkörperung, d. h. das in einem Körper weilende Selbst. Verkörperung konstituiert so den primären Weltbezug des Einzelnen, und zugleich wird er dadurch Teil der Körper-Welt und gehört zum Ensemble der Lebewesen. Aus einer soteriologischen Perspektive betrachtet, zeigt die Tatsache der Verkörperung an, daß das Selbst bislang nicht erkannt wurde. Dieses Nicht-Erkennen resultiert aus einer oft als ›anfangslos‹ gedeuteten Neigung des Selbst zur körperlichen Existenz. Das wird durch die Lehre vom karman erklärt, wonach man aufgrund früherer Existenzen bereits ein Kontakt zum Körper und eine Erfahrung der Welt besteht. Die dadurch bedingte Neigung führt zur Verkörperung, d. h. zum Entstehen eines KörperSelbst-Verbundes, dessen Eigenschaften sich nach der Verfassung des Selbst richten: Je ›heller‹ und klarer das Bewußtsein, desto näher rückt man der Selbst-Erkenntnis und desto ›besser‹ ist der Körper. Die wahrnehmbare Person, der empirisch Einzelne (vyakti) ist somit ein Körper-Selbst-Verbund, der mit allen anderen Lebewesen die körperliche Grundausstattung teilt (Sinnesvermögen, Gliedmaßen etc.), sich aber in seiner ›Existenzweise‹ bzw. Disposition (svabha¯va) unterscheidet. Die Qualität des verkörperten Selbst spiegelt sich im ›Geburtsort‹ des Körpers (neben der Gattungszugehörigkeit bei Menschen auch die soziale Schicht) wider. Die gesellschaftliche 22

Cha¯ndogya-Upanis.ad 8.1.1, 3, 5.

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Ordnung, das traditionelle Kastensystem, stellt von dieser Perspektive aus betrachtet nur ein Klassifikationsschema für die Qualität des jeweiligen Körper-Selbst-Verbundes dar. Jede Emotion, jede Erfahrung, jede Erkenntnis lagert sich im Körper ab, und umgekehrt haben alle körperbezogenen Aktivitäten einen unmittelbaren Einfluß auf die anderen Vermögen und beeinflussen die Klarheit des Bewußtseins. Das Bemühen um kognitive oder soteriologische Transformation bzw. um Spezialformen von Erkenntnis geht von daher notwendigerweise mit einer Veränderung des Körpers einher. Deshalb spielen auf Transformation zielende Körperpraktiken, Diätetik, Meditation usw. in fast allen religiösen und auch in vielen performativen Traditionen Indiens eine große Rolle. Religiöse Praxis führt somit zu einer transformierenden religiösen Erfahrung, in deren Folge sich die Beziehung zwischen dem Selbst und dem Körper verändert. Dies möchte ich anhand der Sa¯m.khya-Philosophie näher erörtern.

III. Der unbeteiligte Zuschauer: Verkörperung und Selbst-Erkenntnis im Sa¯m. khya Die Philosophie des Sa¯m.khya hat sich in den ersten vorchristlichen Jahrhunderten in Indien entwickelt und lehrt ein Grundinventar von »Seinskonstituenten« (sogenannte tattva), aus denen alles Seiende besteht. Dieses Inventar wurde von vielen späteren philosophisch-theologischen Schulen akzeptiert und prägt bis in die Gegenwart indisches Denken. Die folgende Analyse behandelt den ältesten erhaltenen Lehrtext, die Sa¯m. khyaka¯rika¯ von I¯s´varakr. s.n.a (ca. 4.– 5. Jhd. n. Chr.).23 Konstitutiv für die Philosophie des Sa¯m.khya ist die Unterscheidung zwischen zwei als ›anfangslos‹ gedeuteten Sphären, deren Verbindung sowohl das Entstehen der Körperwelt insgesamt als auch der einzelnen Körper ermöglicht: Auf der einen Seite steht der purus.a bzw. jña, der Erkennende, das Bewußtseins-Prinzip. Der purus.a vermag etwas als etwas zu erfahren, er ist der »Sehende«, der »Zuschauer«, kann aber nichts produzieren. Alles Handeln und Produzieren kommt allein der zweiten Sphäre zu: der prakr.ti, der »selbsttätigen Natur«24. Sie ist im Gegensatz zum purus.a produktiv und bringt im Medium ihrer eigenen Formen die Körperwelt hervor, sie hat jedoch dabei kein Bewußtsein ihrer selbst. Alle Körper sind Produkte der prakr.ti und deshalb so selbsttätig und aktiv wie diese. Der Art des Körpers entspricht der Verfassung des sich auf ihn beziehenden Bewußtseins (purus.a) und dient dessen Zwecken. Nach Aussage der Sa¯m. khyaka¯ rika¯ (SK) verbinden sich beide Seiten, weil Siehe dazu Gerald L. Larson: Classical Sa¯m.khya, Delhi 1979 (mit Text und englischer Übersetzung); Gerald L. Larsona und Ram S. Bhattacharya: Sa¯m.khya – A Dualist Tradition in Indian Philosophy [= Encyclopaedia of Indian Philosophies, ed. by Karl H. Potter, IV], Princeton 1987. 24 Diese Übersetzung zeigt an, daß es sich um ein Konzept von Natur handelt, das Aspekte der Begriffe ›(Ur-)Materie‹ und ›Natur‹ kombiniert. Vgl. Verf.: Natur-Beweise – Zur Interpretation und Funktion des prakr. ti-Konzepts im Sa¯m. khya, Tübingen 1998. 23

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sich der purus.a irrtümlicherweise mit dem Körper und der Körperwelt identifiziert. Diese Identifikation ist jedoch notwendig, damit das Bewußtsein sich verkörpert. Dadurch wird ihm zweierlei ermöglicht: die Erfahrung der körperlichen Existenz (bhoga)25 und das »erkennende Sehen« (dars´ana), das es erlaubt, das Bewußtsein von seiner Verkörperung ontologisch zu unterscheiden. Religiöse Erfahrung nach dem Sa¯m.khya liegt somit in der Erkenntnis der Autonomie und Differenz des eigenen Bewußtseins. Um dies zu erreichen, bedarf es einer Veränderung des normalen Erkenntnismodus durch eine Praxis, welche in die ›natürlichen‹, d. h. selbsttätig ablaufenden, Erkenntnisprozesse und Handlungsmuster eingreift. Denn, das sei nochmals betont, der Körper ist eine Manifestation der Natur und deshalb so selbsttätig wie diese. Das zeigt sich am markantesten in den Funktionen des Körpers, die nur bedingt kontrollierbar sind. Körperliche Existenz heißt, mit einem kognitiven und sensuellen Organismus ausgestattet zu sein, der sich andauernd bewegt, regt, die Daten der Außenwelt verarbeitet und seine eigenen Bedürfnisse prozessiert. Dabei besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen sogenannten geistigen Vermögen, wie Ich-Bewußtsein, Denkvermögen und Urteilskraft26 und den Sinnesorganen. Alle sind aktiv und ihrer Disposition entsprechend in die Interaktion mit der Umwelt eingebunden. Denken und Erkennen sind natürliche, keine vom Körper abgespaltene ›geistige‹ Aktivitäten; und umgekehrt führen veränderte kognitive Prozesse zu Eingriffen in die Selbsttätigkeit des Körpers. Deshalb spielen Körpertechniken nicht nur im Normalleben eine bedeutende Rolle, was sich in zahlreichen Reinheitsvorschriften und diätetischen Maßnahmen zeigt, sondern auch in Ausnahmesituationen wie etwa Meditation, Trance, Spielen oder Tanzen. Diese sind Kontexte für spezielle Formen von Erkennen und körperlicher Präsenz, die mit Eingriffen in die normalen körperlichen Funktionen einhergehen. Diese Eingriffe können zum einen aus Kontrollmaßnahmen bestehen, die dazu dienen, die Selbsttätigkeit zu beherrschen und umzufunktionieren, wie sie z. B. in den Körpertechniken der indiDas Sanskrit-Wort bhoga kann als »Erfahrung« übersetzt werden, es bezeichnet Erfahrung in einem sehr weiten Sinn, die sich auf alles bezieht, was einer Person im Laufe des Lebens widerfahren kann, was sie erlebt und sich einverleibt hat (in Anknüpfung an die Verbalwurzel bhuj, genießen, sich einverleiben). Spezieller bezieht sich bhoga auf die Erfahrung der Resultate des eigenen Handelns (karmaphalabhoga). Davon sind Begriffe zu unterscheiden, durch die Erfahrung eher auf einer kognitiven Ebene verankert und als »wahrnehmende« bzw. auf »Wahrnehmbaren basierende« Erkenntnis (pratyaks.a, prati¯ti) gedeutet wird. In der philosophischen Diskussion gilt letzteres als ein akzeptiertes Mittel der Erkenntnis (prama¯n.a). Eine spezielle Form der wahrnehmenden Erkenntnis ist die Selbstwahrnehmung bzw. das Selbstgefühl im Sinne der Empfindungsfähigkeit (vedana, samvedana). Schließlich gibt es noch Begriffe, die in den jeweiligen philosophischen bzw. theologischen Schulen entwickelt wurden, um Spezialfälle von Erfahrung und Erkenntnis zu bezeichnen (rasa, anubhava etc.). Diese verschiedenen Ebenen können hier nur angedeutet werden. 26 Im Sa ¯ m.khya werden drei kognitive, sogenannte ›innere Vermögen‹ (antah.karan.a) gelehrt: Vorstellungskraft, Denken (manas), Ich-Bewußtsein (aham . ka¯ra) und Urteilsvermögen (buddhi). Andere Traditionen, wie z. B. der Yoga, lehren nur ein Bewußtseinsorgan (citta). 25

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schen Yoga-Traditionen angeboten werden (Stillsitzen, Ausrichtung der Sinnesvermögen auf einen Gegenstand, Ausschaltung ablenkender Gedanken, Verlangsamung des Atems etc.). Zum anderen führen solche Eingriffe aber auch zum zeitweiligen Zusammenbruch der geordneten, zweckgebundenen Selbsttätigkeit des Körpers z. B. in performativen Kontexten von Ritualen, Festen, aber auch in Momenten eines besonderen Anblicks, der Schau und Vision, wenn der Einzelne in Ekstase, in Trance oder anderweitig ›außer sich‹ gerät. Gestik und Motorik werden unkoordiniert, es kommt zu sprachlicher Dissoziation und Ohnmacht.27 Solche Modi der Erfahrung basieren auf Eingriffen in die Aktivität der kognitiven Vermögen und zeichnen sich dementsprechend auch im Körper ab. Solche Eingriffe können zwar auch im normalen Leben vorkommen (wie etwa Krisensituationen, Absencen), es gibt aber in der indischen Kultur spezielle Bereiche, die der Einzelne aufsuchen kann, um das gewöhnliche Sozialleben zu unterbrechen (z. B. Feste, Rituale, Theateraufführungen, Textperfomanzen) oder um sich, wie z. B. im Sa¯m.khya, dauerhaft mit der Einübung von auf Körperkontrolle basierenden Erfahrungsmodi und Erkenntnisinhalten zu beschäftigen (Textrezitationen,Yoga, Askese etc.). Die Deutung von Wahrnehmung von Erkenntnis in der Sa¯m.khya-Philosphie basiert auf der These, daß das Selbst grundsätzlich von allen kognitiven und sensuellen Vermögen des Körpers geschieden ist. Das körperlose Bewußtsein fungiert nur als Zuschauer und Zeuge, der die Wahrnehmung der Aktivitäten der kognitiven Vermögen überhaupt erst möglich macht. Das bedeutet, daß die kognitiven Vermögen nicht auf der Seite des Bewußtseins-Selbst angesiedelt sind, sondern als feinstoffliche und damit zum Körper gehörende Vermögen gelten. Die Tätigkeit der kognitiven Vermögen ist jedoch immer schon geprägt vom Vorleben des verkörperten Selbst (karman). Denn sowohl die kognitiven als auch die sinnlichen Vermögen begleiten als der »feinstoffliche Leib« (su¯ks.ma s´ar¯i ra) des Selbst auf seinem (Wiedergeburts-)Weg durch die Körper und dienen als Speicher des Erlebten und Gelebten. Das verkörperte Selbst erscheint so als Reflex und Agent der es begleitenden ›Ablagerungen‹, es ist ›durchparfümiert‹28 von seinem Vorleben und den daraus resultierenden, aktuellen Dispositionen. Diese Ablagerungen prägen die Begegnung mit der Welt der Objekte. Kontakt mit der Umwelt bedeutet deshalb nicht nur die Affizierung der Sinnesvermögen, sondern auch die Manifestation und Evokation eigener, jeder Wahrnehmung und Erfahrung immer schon vorgängiger Bewußtseinsinhalte. Aufgrund ihrer Anreicherung mit vorgängigen Erfahrungen Diese Eingriffe zählen zu einer eigenen Form religiöser Erfahrung in mystisch-ekstatischen Traditionen, die aber hier nicht weiter berücksichtigt werden können. Siehe dazu z. B. June McDaniel: The Madness of Saints – Ecstatic Religion in Bengal, Chicago 1989. 28 Zwei häufig verwendete Termini für diese produktiven und als Programm der gegenwärtigen Existenz abzuarbeitenden Überreste aus der Vergangenheit sind sam . ska¯ra, die Ablagerung, das Sediment, und va¯sana¯, das aus früheren Erfahrungen stammende Wissen bzw. nach einer anderen, wortspielerisch zu verstehenden Ableitung, die ›Parfümierung‹. Siehe auch: Karma and Rebirth in Classical Indian Traditions, ed. by Wendy Doniger O’Flaherty, Berkeley 1980. 27

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sind die kognitiven Vermögen gegenüber den durch die Sinnesvermögen präsentierten Objekte nicht neutral, sondern durch bestimmte Attraktions- und Repulsionstendenzen gekennzeichnet. Das erklärt, warum die Menschen, obwohl sie alle gleichermaßen zu bestimmten Empfindungen fähig sind, so unterschiedlich auf ein und dasselbe Objekt reagieren. Gewöhnliche Wahrnehmung ist somit in hohem Maße von den individuellen Dispositionen der kognitiven und sensuellen Vermögen gekennzeichnet. Mit der Sa¯m.khya-Philosophie teilen die meisten philosophischen Schulen die Ansicht, daß Objekt-Wahrnehmung immer von sogenannten vikalpa bzw. sam . kalpa (diskursiven bzw. dispositiven Vorstellungen der kognitiven Vermögen) begleitet wird, die das Wahrgenommene bereits im Moment der Wahrnehmung einfärben. Entscheidend für die Überführung eines wahrgenommenen Objektes in eine ›vorstellungshaltige‹ Erkenntnis ist die Einschaltung des »Ich« als primären Referenzpunkts des Erkenntnisprozesses. Das Sa¯m.khya postuliert dafür ein eigenes kognitives Vermögen, den sogenannten aham. ka¯ra (wörtl. »Ich-Macher«).29 Dieses partizipiert an allen Erkenntnisprozessen durch die Erzeugung einer Ich-Vorstellung bzw. die Artikulation des Personalpronomens »ich« (aham). Der Autor der Yuktid¯i pika¯, einem Kommentar zur Sa¯m. khyaka¯rika¯, erklärt dazu30: »Das Ich-Bewußtsein erzeugt in der Tat die Vorstellung ›Dieser da bin ich‹, welche aus einer Reflexion von sich selbst als einem Handelndem besteht.« Diese den Erkenntnisprozeß mit konstituierende Ich-Vorstellung bestimmt das Verhältnis des Subjekts zu den Objekten, deren Eigenart normalerweise nicht wahrgenommen bzw. nur nach Maßgabe der interessegeleiteten und ich-bestimmten Vorstellungen im Bewußtseinsorgan des Subjekts abgebildet wird. Grundlegend für die Deutung von Erfahrung und Erkenntnis ist somit die folgende Trias: (1) das selbstilluminierte bzw. selbstreflexive Bewußtsein (purus.a, a¯tman), (2) die kognitiven und die Sinnesvermögen (indriya), welche (3) den Kontakt mit den Objekten (vis.aya) herstellen. Aus dieser Deutung der gewöhnlichen Wahrnehmung folgt, daß alle Spezialfälle von Wahrnehmung und Erkenntnis auf einer Transformation dieses Schemas basieren und von daher folgendes beinhalten: erstens eine Kontrolle der Selbsttätigkeit der sinnlichen und kognitiven Vermögen, zweitens eine Bearbeitung des 29 Vgl. dazu Johannes A. B. van Buitenen: Studies in Sa ¯ m. khya (II) – Aham . ka¯ra, in: Journal of the American Oriental Society 77 (1957), 15–25. 30 kartuh sva . ¯ tmapratyaya¯vamars´a¯tmako yo ’yam aham iti pratyaya utpadyate sa khalv aham . ka¯rah.; Yuktidi¯pika¯ ad Sa¯m. khyaka¯rika¯ 24, p.194,3; zitiert nach: Yuktidi¯pika¯ – The Most Significant Commentary on the Sa¯m. khyaka¯rika¯, critically ed. by Albrecht Wezler and Shujun Motegi, Stuttgart 1998. Dieser Sachverhalt wird auch von dem ansonsten eine andere philosophische Lehre vertretenden . Philosophen S´ankara (frühes 9. Jh. n. Chr.) formuliert, indem er den interessegeleiteten Objektbezug einer freien Erkenntnis der Dinge wie folgt gegenüberstellt: »›Ich bin der Handelnde. Dieses da soll mir gehören‹ so (denkend, mit diesen Vorstellungen) funktioniert das Handeln. (Wahre) Erkenntnis [dagegen] beruht auf den Dingen (selbst).« (aham ¯ mamedam. sya¯d iti karma . karta . pravartate / vastva¯dhi¯na¯ bhavet vidya¯ / Upades´asahasr¯i 1.13). Zit. nach: S´ankara’s Upades´asa¯hasr¯i , critically ed. by Sengaku Mayeda, Tokyo 1973.

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Ich-Bezugs zu den Objekten und drittens eine Transformation der Dispositionen der kognitiven Vermögen insgesamt. Der Weg zur Erkenntnis des erkennenden Bewußtseins beinhaltet eine Abwendung von den Sinnesobjekten zugunsten einer Beschäftigung mit dem ›Eigenleben‹ der kognitiven Vermögen. Es ist der Versuch, eine Kontrolle über die selbsttätigen Bewegungen der Bewußtseinsorgane zu gewinnen und die angesammelten Bewußtseinsinhalte soweit zu beseitigen, daß die Objekte und schließlich auch das Selbst in der »eigenen Gestalt« (svaru¯ pa) erscheinen können.31 Dieses Ziel verbindet das Sa¯m.khya und zahlreiche andere philosophisch-theologischen Schulen mit Traditionen des Yoga. Im Sa¯m.khya wird die zu erzielende Erkenntnis als eine ›Schau‹ gedeutet (dar s´ana), die nicht nur das erkennende Bewußtsein, den purus.a, sondern auch die ihm alle Erfahrungen ermöglichende Natur, die prakr.ti, freisetzt. Die Körperwelt zu ›sehen‹ und sich als ›Erkennenden‹ zu begreifen, heißt, die Objekte als Objekte zu erkennen und sie nicht länger mit dem Wort bzw. der Vorstellung ›Ich‹ an sich zu binden, sich einzuverleiben oder von sich wegzustoßen. Diese Form von Erkenntnis impliziert die Unterbrechung der Identifikation mit der Verkörperung bzw. die Wahrnehmung der Verkörperung als einer solchen. Beides, die Verkörperung und ihre Betrachtung, wird in der Sa¯m. khyaka¯rika¯ mit einer Theateraufführung verglichen. Dabei geht es zunächst um den Vergleich der Verkörperung des Selbst mit der Tätigkeit eines Schauspielers32: »Um dem Zweck des purus.a zu dienen, verwandelt sich der feinstoffliche Körper33 (in verschiedene sichtbare Körper) […] wie ein Schauspieler.« Diesen Vergleich erklärt der Kommentator Va¯caspatimis´ra wie folgt34: »Wie doch ein Schauspieler das eine oder andere Kostüm anlegt und so [König] Ra¯ma, Aja¯tas´atru oder Vatsara¯ja wird, so wird der feinstoffliche Körper, indem er diesen oder jenen grobstofflichen Körper annimmt, ein Gott, ein Mensch, ein Tier oder ein Baum.« Die Erfahrung körperlicher Existenz ist mit der Verkörperung einer Rolle vergleichbar: Das Selbst nimmt einen Körper an und existiert als dieser so, wie der Schauspieler die Person auf der Bühne ist. Dieses Moment der Realität der Verkörperung wird im Kommentar durch die zweimalige Verwendung der Verbalform bhavati (von der Wurzel bhu¯ , existieren, werden) bestätigt. Es handelt sich in beiden Fällen um einen Vorgang der Realisierung; Verkörperung ist keine Illusion, keine Vorspiegelung falscher Tatsachen, sondern die Mani31 Diese Möglichkeit der Erfahrung wird manchmal mit dem Konzept einer ›vorstellungsfreien‹, d. h. nicht-diskursiven Wahrnehmung (nirvikalpa pratyaks.a) des Objektes verbunden. . 32 purusa . ¯ rthahetukam. idam […] nat. avad vyavatis..t hate lingam / SK 42/ 33 Dieser ist das von den Sinnes- und kognitiven Vermögen begleitete, transmigrierende Selbst. 34 yatha ¯ hi nat. as ta¯m ta¯m. bhu¯ mika¯m. vidha¯ya ra¯ma ajatas´atrur va¯ vatsara¯jo va¯ bhavaty evam. tattatsthu¯las´ari¯ragrahen.a devo va¯ manus.yo va¯ pas´ur va¯ vanaspatir va¯ bhavati su¯ks.mam . s´ari¯ram ity arthah. // Sa¯m. khyatattvakaumudi¯ ad SK 42; zitiert nach: Srinivasa A. Srinivasan: Va¯caspatimis´ra’s Tattvakaumudi¯ – Ein Beitrag zur Textkritik bei kontaminierter Überlieferung, Hamburg 1967, 148. Andere Kommentatoren vergleichen die Phase der Inkarnation mit dem Kostümwechsel hinter dem Bühnenvorhang . (pat. a¯ntaren.a; bei Gaud. apa¯da ad SK 42, siehe auch Jayamangala ad SK 42).

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festation eines individuellen Körper-Selbst-Verbundes als Ausdruck seiner Verfassung in der gegenwärtigen Existenz, die sich, wie bereits gesehen, immer vor dem Hintergrund eines Vorlebens abspielt. Wie der Auftritt eines Schauspielers auf zwei Ebenen gleichzeitig stattfindet, in der Gegenwart der Aufführung und in der JetztZeit des aufgeführten Stückes, so bedeutet auch Verkörperung zum einen immer die reale und momentane Gegenwart dessen, der sich verkörpert. Zum anderen findet Verkörperung als Existenz in einer sozialen bzw. historischen Gegenwart statt, die sich für den Verkörperten vor dem Hintergrund einer bestimmten Vorgeschichte abspielt und diese fortsetzt, so wie ein Theaterstück in einem bestimmten Moment der sich schon ereigneten Geschichte der Akteure einsetzt. Verkörperung setzt jedoch voraus, daß man sie nicht reflektiert, sich nicht distanziert, d. h. sich selbst nicht beim Spielen zusieht und aus dem Körper heraustritt. In ähnlicher Weise basiert auch die gewöhnliche Verkörperung des Selbst auf der Identifikation mit der Selbsttätigkeit und den Neigungen der Körpers und seiner Vermögen, die allesamt dazu dienen, das Bewußtsein Erfahrungen machen zu lassen, und zwar so lange bis es seine fundamentale Differenz zur Körperwelt erkennt. Angesichts des soeben erörterten Vergleichs zwischen Verkörperung und Schauspiel erscheint es konsequent, daß die Erkenntnis der Differenz ebenfalls auf die theatralische Situation bezogen wird. Diese fundamentale Transformation des gewöhnlichen Erkennens und Erfahrens (bhoga) in ein »erkennendes Sehen« (dar s´ana) parallelisiert Sa¯m. khyaka¯rika¯ 59 wie folgt mit dem Ende einer Theateraufführung35: »So wie eine Tänzerin, nachdem sie sich dem (am Aufführungsort versammelten) Publikum36 gezeigt hat, vom Tanz abläßt, so verschwindet auch die prakr.ti, wenn sie sich für den purus.a zur Erscheinung gebracht hat.« Somit entsteht das »Theater«37 der Körperwelt dadurch, daß der purus.a, das Bewußtsein, sich wie ein Schauspieler (nat.avad) verkörpert und die Welt erlebt, indem er selbst am Stück teilnimmt. Es wird hier weiterhin deutlich, . rangasya dars´ayitva¯ nivartate nartaki¯ yatha¯ nr. tya¯t / purus.asya tatha¯tma¯nam . praka¯s´ya vinivartate prakr. tih. // SK 59/ 36 Das Wort ran.ga dient als Bezeichnung sowohl des Aufführungsortes (Bühne, Theater usw.) als auch des Publikums insgesamt. Der einzelne Zuschauer wird als preks.aka bezeichnet. In der Übersetzung folge ich der Deutung der Kommentatoren, die den Akzent hier eher auf die versammelten Zuschauer legen. Vgl. Va¯caspatimis´ra ad SK 59, Srinivasan 166, 12). In der Yuktidi¯pika¯ . wird ranga wie folgt erklärt: »Versammlung von Männern, deren sozialer Status, individuelle Eigenart und deren Kenntnisse ganz unterschiedlich sind, zum Zwecke des Zuschauens (Betrach. . tens).« (na¯na¯varn.asvabha¯vavijña¯na¯na¯m preks.a¯rthina¯m. purus.a¯n.a¯m. sangha¯to ranga ity ucyate / ad SK 59, .. Yuktidi¯pika¯ 1998, 264,21.) Zu ranga siehe die Belege bei Heinrich Lüders: Nepathya. Ein Beitrag zur Geschichte des indischen Theaters, in: ders.: Kleine Schriften, hg. von Oskar von Hinüber, Stuttgart 1973, 125 ff. 37 Dieser Vergleich der Naturtätigkeit mit einer Theateraufführung wäre angesichts des auch in der europäischen Tradition wichtigen Topos vom ›Welt‹- bzw. ›Naturtheater‹ in einer komparatistischen Perspektive der näheren Untersuchung wert. Da diese im vorliegenden Rahmen nicht unternommen werden kann, sei im folgenden nur auf einige in diesem Vergleich berührte Aspekte der indischen Theater-Ästhetik hingewiesen. 35

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daß die Aufführung, das Theater einen performativen Wert für das Bewußtsein hat: Es dient als Schauspiel allein der es betrachtenden Bewußtseinsentität. Der Autor der Yuktid¯i pika¯ stellt fest, daß alle Schauspieler-Körper letztlich der Realisierung des Zweckes des purus.a dienen38 und somit Hilfsmittel auf dem Weg zur Erkenntnis sind. Dementsprechend bedeutet das Ende der Aufführung auch das Ende von Verkörperung. Der Vergleich betrifft jedoch noch einen anderen Aspekt, der sich auf die soteriologischen Implikationen der im Vergleich aufgerufenen Theater-Ästhetik bezieht. Der Text beschreibt das Ende der Aufführung für einen einzelnen, ›idealen‹ Zuschauer, der aufgrund seiner Fähigkeit zum erkennenden Sehen (dars´ana) die Aufführung als Aufführung betrachten kann. Das ist dann der Fall, wenn man das Schauspiel nicht länger durch einen Prozeß der Identifikation zu seinem eigenen macht und sich selbst in den Akteuren lieben, leiden und sterben sieht. Der gewöhnliche (laukika) Zuschauer sieht zumeist sich selbst auf der Bühne und meint, das Aufgeführte zu durchleben, obgleich er Zuschauer bleibt.39 Dieser Prozeß entspricht dem, was im Sa¯m.khya als die durch einen Irrtum ausgelöste Identifikation der vielen purus.a mit der prakr.ti erklärt wird, wonach jeder einzelne purua etwas zu sein glaubt, was er nicht ist (vgl. SK 22). Erst wenn der Zuschauer sich unbeteiligt (uda¯si¯na, SK 22) wiederfindet, erkennt er die Aufführung als eine solche. Er hat ›gesehen‹ und aufgehört, das Geschehen auf sich zu beziehen. In diesem Moment hat die Aufführung ihren Zweck erfüllt, und die Bühne kann geräumt werden; zumindest für den einzelnen Zuschauer.40 Dementsprechend zieht sich auch die Tänzerin vom Zuschauer zurück, sie unternimmt nichts, um ihn wieder ins Theater zu locken. Die Aufführung ist für immer beendet. Die Erfahrung der Differenz hat den Charakter einer letzten Vorstellung und bedeutet das Schwinden der Attraktion, die auf der Identifikation mit dem Schauspiel basiert. Die Erkenntnis des Schauspiels als eines Schauspiels führt zum Verlassen des Theaters. Der Zuschauer erscheint dabei ohne eine besondere Regung; er ist weder beglückt noch angeekelt, sondern, nachdem er das ganze Spektrum der Emotionen purus.a¯rthasiddhyartha, ad SK 42; Yuktidi¯pika¯ 1989, 123,9. Eine solche Identifikation mit den Akteuren auf der Bühne verhindert nach Ansicht späterer ästhetischer Theorien den »Genuß« der Aufführung, den sogenannten rasa, der eben gerade in der distanzierten und distanzierenden Erfahrung jener Befindlichkeiten besteht. Ob der Autor der Sa¯m. khyaka¯rika¯ diese Deutung teilte oder auch nur kannte, ist bei der derzeitigen Quellenlage nicht zu entscheiden. Das gilt auch für die Frage, ob die befreiende Erkenntnis an dieser Stelle implizit auf die rasa-Lehre des Na¯.t yas´a¯stra (ca. 2.–3. Jh. n. Chr.; »Lehrwerk über das Theater«) bezogen wird. Einige Kommentatoren unternehmen einen solchen Vergleich (siehe Gaud. apa¯da . und Mangalavr. tti ad SK 59). An dieser Stelle kann die mit der Interpretation des rasa-Konzeptes im Na¯.t yas´a¯stra verbundene weitläufige Diskussion nicht dargestellt werden, für eine grobe Orientierung siehe Edwin Gerow: Indian Poetics, Wiesbaden 1977; Verf.: Rasa: The Audience and the Stage, in: Journal of Arts and Ideas 17/18 (1989), 33–42. 40 Die Kommentatoren weisen darauf hin, daß das Ende der Aufführung nur den ›sehenden‹ purus.a betrifft, während das Schauspiel für den Rest der drama-identifizierten Zuschauer weitergeht. 38 39

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durchlebt hat, von allen Attraktionen und Repulsionen befreit und gelöst (mukta).41 Das Theater erlaubt somit dem Zuschauer, sich von allen Erfahrungsgehalten zu lösen. So erscheinen am Ende beide Seiten zufrieden, denn sie haben ihre jeweilige Bestimmung erreicht42: »Dadurch sieht das erkennende Bewußtsein (purus.a), das sich wie ein Zuschauer unversehrt (am Ende der Vorstellung nach wie vor) auf seinem Platz befindet, die selbsttätige Natur (prakr.ti), die aufgehört hat, etwas zu produzieren […]. Der eine, der Betrachter, (denkt): ›Ich habe sie gesehen‹; die andere, die aufhört, (denkt): ›Ich bin gesehen worden.‹ Obgleich beide noch in Verbindung miteinander stehen, gibt es keinen Anlaß für weitere (schöpferische) Aktivität.« Das Bewußtsein wird hier zum ›Zeugen‹ seiner Verkörperungen und erkennt sich in seiner wahren Position als der Zuschauer, der es immer schon ist: als derjenige, der sich nach allem, was er während der Aufführung erlebt zu haben meint, dennoch svastha wiederfindet. Das Wort svastha kann sowohl »am eigenen Platz« als auch »in guter Verfassung, unversehrt, gesund« bedeuten. Diese Doppeldeutigkeit markiert jedoch die beiden hier angesprochenen Aspekte recht präzise. Aber auch für die Schauspieler-Seite gilt, daß man nun aufhören kann, nachdem man den Zweck ›Gesehen-zu-werden‹ erfüllt hat. Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß der Vergleich zwischen der Verkörperung als Existenzprinzip des Bewußtseins und dem Besuch einer Theateraufführung nicht zu einer Diskreditierung des letzteren führt. Auch wird im Sa¯m.khya die Natur und ihr Körper-Theater nicht negativ gewertet, denn nur dadurch kann das Bewußtsein sich als Zuschauer erkennen.

IV. Verkörperung als Schauspiel des höchsten Bewußtseins im Kashmirischen S´ivaismus Etwas anders gestaltet sich die Situation in der Interpretation der philosophischtheologischen Tradition des Kashmirischen S´ ivaismus. Dieser Schule entstammt auch eine der einflußreichsten Deutungen der rasa-Lehre als einer ästhetischen Erfahrung, die von dem wohl wichtigsten Philosophen dieser Tradition, Abhinavagupta (10.-11. Jhd. n. Chr.) vorgelegt wurde.43 Darin postuliert Abhinavagupta 41 Dies ist dann der Zustand, der immer wieder als »Erlösung« übersetzt wird, um dessen soteriologische Dimension anzudeuten. Es handelt sich aber eher um den Zustand des »LosgelöstSeins« als Resultat einer »Loslösung« von der körperlichen Existenz. 42 tena ¯ nivr. ttaprasava¯m arthavas´a¯t […] prakr. tim . pas´yati purus.ah. preks.akavad avasthitah. svasthah. // SK 65/ dr. .s.t a¯ mayety upeks.aka eka¯h. / dr. .sta¯ham ity uparamaty anya¯ / sati sam. yoge ’pi tayoh. prayojanam. na¯sti sargasya // SK 66/. 43 Zu rasa in bezug das Theater siehe oben Anm. 36. Zu Abhinavaguptas Lehre siehe Raniero Gnoli: The Aesthetic Experience according to Abhinavagupta, Varanasi 1968. Im folgenden kann das komplizierte Lehrsystem des Abhinavagupta und des Kashmirischen S´ ivaismus insgesamt nicht im einzelnen dargelegt werden. Siehe dazu einführend Bettina Bäumer: Abhinavagupta – Wege ins Lichte. Texte des tantrischen S´ ivaismus aus Kashmir, Zürich 1992.

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einen neue Form des rasa, der ästhetischen Erfahrung, und zwar als die »Ruhe« und »Befriedung« (s´a nta rasa). Dieser rasa kommt dem nahe, was als Resultat einer Erfahrung des göttlichen Seins angesehen wird, aber auch umgekehrt wird dadurch die ästhetische Erfahrung der religiösen angenähert. Die Fähigkeit dazu gilt als ein Grundelement menschlicher Existenz, denn die emotionalen und kognitiven Dispositionen (bha¯va), die allen rasa-s zugrunde liegen, gehören zur körperlichen Grundausstattung, d. h. zur Tatsache der Verkörperung44 und sind je nach ›Vorleben‹ unterschiedlich ausgeprägt. Diese Disposition ist nicht auf bestimmte Erfahrungsinhalte spezialisiert (wie das ›Unendliche‹, das ›Heilige‹45), sondern gilt als eine besondere Form der Selbstwahrnehmung. Der Erfahrungsmodus für »Religiöses« (s´a nta rasa) basiert auf der Disposition zu s´a ma, zu »Gleichmut« bzw. »Leidenschaftslosigkeit«, die man auch im gewöhnlichen Leben erfährt; und zwar, wenn man etwas aufgeben oder hinter sich lassen möchte.46 Die Erfahrung der rasa-s basiert also auf gewöhnlichen Formen der Selbstwahrnehmung, die jedoch im ästhetischen bzw. religiösen Referenzrahmen modifiziert und gesteigert werden. Die Modifikation besteht darin, daß die Dinge »leibhaftig« erscheinen (sa¯ks.a¯t) und die Wahrnehmung nicht durch gegenläufige kognitive Prägungen gestört und behindert (avighna)47 wird. Allen Erfahrungen von rasa ist das ›Erstaunen‹ gemeinsam, was den Unterschied zu anderen Erkenntnisformen anzeigt48: »Die Realisierung des rasa, dessen Eigenart in einer außergewöhnlichen Form des Erstaunens49 besteht, unterscheidet sich von Erinnerungen, Schlußfolgerungen oder alltäglichen Selbstwahrnehmungen.« Abhinavagupta stellt weiterhin fest, daß es sich hier um eine wahrnehmende Erkenntnis sui generis handelt, die weder durch andere Erkenntnismittel bewiesen (wie z. B. durch Schlußfolgerung) noch in gewöhnlichen Kontexten reproduziert werden kann. Die Realisation des rasa (rasana¯), die ästhetische Erfahrung muß deshalb jedoch nicht als unbegründet bzw. ohne Beweiskraft angesehen werden, denn sie ist als eine Form der Selbstwahrnehmung (sam . vedana) verbindlich.50

Abhinavagupta stellt dazu in seinem Kommentar zum Na¯.t yas´a¯.stra fest, daß alle Lebewesen von Geburt an diese insgesamt neun Formen der Selbst-Wahrnehmung (sam. vid) besitzen. Deren Aktivierung folgt der Regel (nya¯ya): Jeder »haßt es mit Schmerz in Berührung zu kommen und ist darauf aus, Freude zu erfahren« (duh.khasam . s´les.avidves.¯i sukhasva¯danasa¯darah.; Gnoli: Aesthetic Experience (Anm. 43), 18. 45 Siehe oben Abschnitt I. 46 kim cic ca jiha ¯ sur; Gnoli: Aesthetic Experience (Anm. 43), 18. . 47 Zu den die ästhetische Erfahrung störenden Hindernissen gehören u. a. Mängel in der Qualität des Theaterstückes bzw. der Aufführung und das Gefangensein des Zuschauers in eigenen Erfahrungen, die ihn angesichts des Schauspiels beschäftigen. Siehe ebd., 15 ff. 48 So wird es von Abhinavagupta in seinem Kommentar zum Na ¯.t yas´a¯stra dargelegt: alaukikacamatka¯ra¯tma¯ rasa¯sva¯dah. smr. tyanuma¯nalaukikasam. vedanavilaks.an.ah.; ebd., 21. 49 Die andere mögliche Übersetzung lautet »Erstaunen über das Außergewöhnliche«. 50 Gnoli: Aesthetic Experience (Anm. 43), 22. 44

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Die Erfahrung des Selbst im Kontext von religiös orientierten Körpertechniken (yoga) wird jedoch von der ästhetischen Erfahrung nochmals unterschieden, und das beruht auf der im Kashmirischen S´ivaismus entwickelten Deutung von Verkörperung. Der kashmirische S´ivaismus unterscheidet sich von der Sa¯m.khyaPhilosophie grundlegend dadurch, daß er eine theistische Deutung der Beziehung zwischen dem Selbst und der Körperwelt lehrt: Das verkörperte Selbst ist ein wesensidentischer Teil von S´iva, dem höchsten Gott. Auch das Prinzip der Verkörperung unterscheidet sich vom Sa¯m.khya, indem es als Resultat einer Kontraktion (sam. koca) des Selbst gedeutet wird, d. h. als eine Einschränkung seiner Lichthaftigkeit und damit seiner Erkenntniskraft durch sogenannte Verpanzerungen (kañcuka). Dementsprechend impliziert die Erkenntnis des Selbst, die religiöse Erfahrung, eine Expansion und Extension des Bewußtseins im Körper, die den erfolgreichen Adepten in Erstaunen (vismaya, S´ iva-Su¯ tra 1.12) und Verzückung (camatka¯ra) versetzt. Der Körper ist in diesem Zustand ganz vom Bewußtsein und damit von dessen kognitiven und kreativen Kräften (s´a kti) durchzogen. Im Gegensatz zum erkennenden und sich dann vom Theater abwendenden Bewußtsein im Sa¯m.khya wird hier die Erkenntnis des Selbst als eine beglückende und alle Vermögen freisetzende Erfahrung beschrieben. Diese Erfahrung unterscheidet sich insofern von derjenigen nach dem Sa¯m.khya, als die Beziehung zwischen Selbst und Körper anders gedeutet wird: Demnach ist das Bewußtseins im Zustand seiner Selbst-Erkenntnis nicht wie im gewöhnlichen Leben kontrahiert (sa m . koca) und »verpanzert« (kañcuka), sondern im Körper expandiert, es durchzieht und illuminiert ihn. Wie im Sa¯m.khya resultiert jedoch auch hier die Erfahrung aus einer grundlegenden Veränderung des normalen Erkenntnisprozesses durch kontrollierende bzw. disruptive Eingriffe.51 Die dadurch hervorgerufene Transformation ist von Erstauen und Verzückung begleitet. Der Einzelne erkennt, daß das normalerweise kontrahierte Bewußtsein aufgrund seiner selbst-illuminierenden Struktur überhaupt erst alle Erfahrung ermöglicht. Aber auch in den Objekten erscheinen die Zeichen des Bewußtseins in Form einer ihnen zukommenden Lumineszenz. Selbst-Erkenntnis geht somit mit der Erfahrung einer Lumineszenz einher, die auch sonst, aber zumeist unerkannt und abgeschattet, sowohl die individuellen Erkenntnisvermögen als auch die Objektwelt durchzieht. Deren plötzliche Sichtbarkeit läßt das erkennende Subjekt staunen. Weiterhin verweist die Lumineszenz auf die Zugehörigkeit aller Dinge zur göttlichen Schaffenskraft (s´a kti), die dadurch qualifiziert ist. Deshalb wird die Erkenntnis des Selbst zu einer Erfahrung des göttlichen Seins bzw. des Gottes S´iva. Die Qualifizierung des Bewußtseins durch ein Vermögen (s´a kti) zur Gestaltung und Kreation durchzieht alles Existierende nach der Lehre des Kashmirischen 51 Ein solcher Eingriff kann auch durch einen unvorhersehbaren und nicht vom Adepten zu bewirkenden Gunsterweise bzw. die Gnade des Gottes hervorgerufen werden. Es handelt sich dabei um den sogenannten s´aktipa¯ta, das »Herabstürzen der göttlichen Kraft«, welches den Adepten sofort von allen »Verpanzerungen« befreit.

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S´ivaismus noch in einer weiteren Form, und zwar als spanda, als »innere Schwingung«. Damit ist die spezifische »Frequenz« gemeint, die jedes Lebewesen besitzt und seine Existenzweise, seine Verkörperung charakterisiert. Diese »Schwingung« verbindet die Lebewesen mit dem göttlichen Sein, das in seinem weltzugewandten, kreativen Aspekt ebenfalls als spanda erscheint. Dementsprechend besteht ›religiöse Erfahrung‹ hier in der Partizipation an den Modi des göttlichen Seins und Erscheinens. Momente z. B. einer außergewöhnlichen Klarheit des Bewußtseins, von Verzückung und Entrückung, des Außer-Sich-Seins oder auch des Versinkens des Bewußtseins in ein Objekt sind temporäre Kontakte mit der im Objekt und im eigenen Bewußtsein vorhandenen »Schwingung« und Lumineszenz. Dieser Sachverhalt macht auch die Beschäftigung mit ästhetischen Phänomenen und insbesondere mit der Situation im Theater für die Philosophen dieser Schule so attraktiv. Die z. B. von den Zuschauern im Theater erfahrbaren Zustände erweisen sich demnach als temporär erlebte Expansionen des Bewußtseins und Affizierungen durch die »Schwingungen« der an der Aufführungssituation beteiligten Personen. Deshalb werden Theater und andere Kunstformen als Möglichkeiten gesehen, die Verpanzerungen (kañcuka) zu lockern, die das Bewußtsein für gewöhnlich daran hindern, sich im eigenen Körper auszubreiten und diesen zu bewegen. Nicht zufällig wird von daher dem Gott S´ iva die Ikonographie des Tanzes zugeschrieben. Der Gott ist »König der Tänzer« (nat. ara¯ja) und erscheint somit in einem ganz von Bewußtsein erfülltem Körper; der Gott bringt nichts anderes zur Erscheinung als die Schwingung (spanda) und das kreative Vermögen (s´a kti) seines eigenen Bewußtseins. Die diesem Konzept entsprechende ›Schau‹ des Selbst durch den erfolgreichen Yogin wird im Vergleich mit einer Theateraufführung beschrieben. Diese Beschreibung findet sich in einem kanonischen Lehrwerk der Tradition, dem S´ iva-Su¯ tra (ca. 8.-9. Jhd. n. Chr.) mitsamt dem Kommentar des Ks.emara¯ja (ca. 11. Jhd.), eines Schülers von Abhinavagupta. Es handelt sich dabei um eine Aufführung, die sich dem erfolgreichen Yogin darbietet, wenn er gleichzeitig zum Zuschauer und zum Schauspieler bzw. Tänzer seiner selbst bzw. des Selbst geworden ist. Der Körper des Yogin verwandelt sich im Stadium der Erkenntnis in sein eigenes Theater. Diesem Szenario sind die drei folgenden knappen Merksätze gewidmet52: »Das Selbst ist der Tänzer. Das innere (sich verkörpernde) Selbst ist die Bühne. Die Sinnesvermögen sind die Zuschauer.« Der Kommentator Ks.emara¯ja erklärt53: »›Das Selbst ist ein Tänzer‹ heißt, daß es tanzt; es bringt auf seiner eigenen Leinwand (d. h. der Leinwand seines eigenen Bewußtseins) allein durch das Spiel der ihm eigenen Schwingung eine Vielfalt von verschiedenen Bewußtseinszuständen (bzw. Bühnenrollen) wie dieses oder jenes Wachbewußtsein usw. zur Erscheinung; diese (Vielfalt) hat das . S´ ivasu¯ tra 3.9–11: nartaka a¯tma¯ / rango ’antara¯tma¯ / preks.aka¯n.¯i ndriya¯n.i / Zitiert nach: S´ iva Su¯ tras – The Yoga of Supreme Identity. Text of the su¯tras and commentary Vimars´ini¯ of Ks.emara¯ja, ed. by Jaiveda Singh, Delhi 1979, 152–156. 53 nr tyati,antarvigu ¯ hitasvasvaru¯ pa¯vas..t ambhamu¯ lam . tattajja¯gara¯dina¯na¯bhu¯ mika¯prapañcam. svaparispan. dali¯layaiva svabhittau prakat. ayati iti nartaka a¯tma¯ / Vimars´ini¯ ad Sivasu¯ tra 3.9; ebd., 152. 52

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eigenste, im Innersten verborgene Wesen (des Selbst) zur Grundlage.« Der Kommentator bezieht diese Struktur auf die Aktivitäten des Gottes S´ iva, der dieses ›Welt-Theater‹ bzw. die Welt als Theaterstück (trailokyana¯.t aka, jaganna¯.t ya) geschaffen hat und dabei selbst mitspielt und auch Regie führt. Die Verkörperung ist demnach ein dem Wesen des Bewußtseins entsprechendes Spiel, welches seiner inneren Schwingung (svaparispanda) entspricht. Als Bühne, d. h. als Erscheinungsort, dient das innere, feinstoffliche Selbst, was Ks.emara¯ja wie folgt erklärt: »Bühne heißt, wo man erfreut wird, (und zwar) durch das Selbst, welches zum Gefäß (für verschiedene Rollen) wird, um im Theater, welches die Welt ist, mitzuspielen (wörtl.: sein Spiel zur Erscheinung zu bringen); sie (die Bühne) ist der Ort, wo diese oder jene Rolle angenommen wird.« Das innere Selbst bedeutet hier die verkörperte, d. h. die kontrahierte Form des Bewußtseins (samkoca¯vabha¯satattva) in Form einer feinstofflichen Matrix54: »Auf diese setzt das Selbst seinen Fuß, um das Theater der Welt durch die Bewegungsabfolge der Schwingungen seiner inneren Vermögen (oder auch: Tanzpositionen)55 zur Erscheinung zu bringen.« Den Anblick dieses Schauspiels deutet Ks.emara¯ja als eine spezielle, in ihr Höchstmaß gesteigerte Form des ästhetischen Genusses (rasa) von Erstaunen und Verzückung. Die Sinnesvermögen des Yogin werden dabei zum Zuschauer, indem sie bei der Betrachtung des Schauspiels nach innen gedreht sind (antarmukhyataya¯ )56, und so »ermöglichen sie (dem Yogin) in der fortschreitenden Aufführung des Theaterstücks, den (ästhetischen) Genuß der Verzückung in seiner ganzen Fülle, in der . rajyate ’smin, jaganna¯.t yakr¯i d.a¯ pradars´ana¯ s´ayena a¯ tmana¯ iti rangah., tattadbhu¯ mika¯ grahan.astha¯ nam; […] tatra hy ayam . kr. tapadah. svakaran.aparispandakramen.a jaganna¯.t yam a¯bha¯sayati / Vimars´ini¯ ad Sivasu¯ tra 3.10; ebd., 155. 55 Zahlreiche Worte des Sanskrittextes sind doppeldeutig und deshalb sowohl auf den Erkenntnisprozeß als auch auf die Theatersituation beziehbar. 56 Von einer solchen, bei ihm aber eher ins Metaphorische gerückten, Umdrehung der Augen spricht auch Friedrich Nietzsche in seiner Beschreibung des Zustands des Künstlers im Akt der »künstlerischen Zeugung« (als Verschmelzung des Künstlers mit dem »Urkünstler der Welt«). Er vergleich diesen Zustand mit dem »unheimlichen Bild des Märchens, das die Augen drehn und sich selber anschauen kann; jetzt ist er zugleich Subjekt und Objekt, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer«. Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik oder Griechentum und Pessimismus, München 1980, 40. (Im indischen Kontext wäre dies religiöse Erfahrung im Medium performativer Kunst.) – Friedrich Nietzsche und Georg Wilhelm Friedrich Hegel repräsentieren an manchen Punkten die eingangs vermerkte doppelte Positionierung gegenüber vormodernen bzw. außereuropäischen Konzepten. Vgl. z. B. Hegels kritische Haltung gegenüber dem die »Augen verdrehenden« indische Yogi: »Yoga […] ist weder Vertiefung in einen Gegenstand überhaupt, wie man sich in die Anschauung eines Gemäldes, oder in einen wissenschaftlichen Gegenstand vertieft, noch Vertiefung des Menschen in sich selbst, d.i. in seinen konkreten Geist, in die Empfindungen oder Wünsche desselben.Yoga könnte man darum nur abstrakte Andacht nennen, weil sie sich nur in die vollkommene Inhaltslosigkeit des Subjekts und des Gegenstandes, und damit zur Bewußtlosigkeit hin steigert […] unsere Andacht kommt aus einem konkreten Geiste und ist an einen inhaltsvollen Gott gerichtet.« Recension von: »Ueber die unter dem Namen Bhagavad-Gi¯ta¯ bekannte Episode des Mahabharata« von W. v. Humboldt [1827], in: ders.: Berliner Schriften 1818–1831, hg. von Walter Jaeschke, Hamburg 1997, 120. 54

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alle Differenz geschwunden ist«57 zu erfahren. Die ästhetische Erfahrung unterscheidet sich von der Erfahrung des Selbst dadurch, daß sie zeitlich und räumlich an die Aufführungssituation gebunden ist. Im ästhetischen Kontext wird sie durch die Distanzierung von der Ich-Gebundenheit der eigenen Erfahrungsmöglichkeiten ermöglicht. Die Sinnesvermögen und auch die kognitiven Vermögen bleiben dabei jedoch nach außen gewandt. Die Basis für die Transformation des Ich-Bezuges in der ästhetischen Erfahrung bleibt die Aufführungssituation und die Anwesenheit anderer Beteiligter. In der im Text beschriebenen Schau des Selbst sind die Sinnesvermögen jedoch nach innen gewendet, und die Situation hat den Charakter einer Privatvorstellung, die solange dauert wie der Yogi es vermag oder möchte. In beiden Fällen handelt es sich jedoch darum, die Ausdehnung und »Schwingung« des im gewöhnlichen Leben eher kontrahierten Bewußtseins am eigenen Leib zu erfahren. V. Schlußbemerkung In der indischen philosophisch-theologischen Tradition werden bestimmte Spezialformen von Wahrnehmung und Erkenntnis und damit von Erfahrung körperlicher Existenz gelehrt, die mit dem verglichen werden können, aber auch unterschieden werden müssen von dem, was in der europäischen Moderne als ›ästhetische‹ bzw. ›religiöse‹ Erfahrung geführt wird. Bezieht man die in den indischen Quellen vorgetragenen Deutungen auf den eingangs angeführten neuzeitlichen Diskurs über religiöse Erfahrung, so lassen sie sich zum Teil mit denen Deutung vergleichen, die religiöse Erfahrung als eine ›normale‹ Erfahrung auffassen, bei der jedoch noch ›etwas anderes‹ hinzukomme. Allerdings ist dieses ›Andere‹ im indischen Kontext nicht allein ein bestimmtes Objekt oder eine spezifische Situation, sondern beinhaltet auch eine oft bereits schon im Vorfeld eingeübte Veränderung der gewöhnlichen Erkenntnisprozesse auf seiten des Subjekts. Den Referenzrahmen für die Beschreibung und Interpretation solcher Erfahrungen stellt das Konzept der Verkörperung dar, d. h. Lehren von der Struktur der Verbindung zwischen dem Bewußtseins-Selbst und seinem Körper. Im Zustand der Verkörperung sind die kognitiven und sensuellen Vermögen immer schon bereits geprägt von dem ›Vorleben‹ des sich verkörpernden Bewußtseins und nehmen somit die Welt der Objekte unter dem Einfluß bestimmter Dispositionen (z. B. der Repulsion und Attraktion) wahr. Aber nicht nur das, der gesamte Körper entspricht der Verfassung des Bewußtseins. Aufgrund der Wechselwirkung zwischen diesen beiden Dimensionen, finden Erkenntnisprozesse immer einen Niederschlag im Funktionieren des Körpers, und ebenso umgekehrt sind bestimmte Körperpraktiken die Voraussetzung für die Etablierung bestimmter Modi der Wahrnehmung tatprayogapraru¯ d.hya¯ vigalitavibha¯ga¯m . camatka¯rarasasam. pu¯ rn.ata¯m a¯padayanti / Vimars´ini¯ ad Sivasu¯ tra 3.11; ebd., 156. 57

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und Erkenntnis. Die Erkenntnis und Freisetzung des Selbst erscheinen als Resultat eines zumeist langen Weges der Transformation der gewöhnlichen Strukturen von Wahrnehmung und Erkenntnis, der jedoch auf deren Basis stattfindet. Die Erörterung dieses Modus von Erfahrung findet von daher in den beiden hier diskutierten Traditionen auf einer epistemologischen Ebene statt. Es handelt sich dabei um zwei Formen religiöser Erfahrung im Sinne einer Erkenntnis bzw. ›Schau‹ des Selbst, die für die indische Kultur repräsentativ sind: Im Sa¯m.khya erstrebt man die Erkenntnis des Selbst, welches als zu befreiendes Bewußtseins-Prinzip im eigenen Körper weilt; im Kashmirischen S´ ivaismus geht es um die Schau des Selbst als wesensgleich mit dem höchsten Gott. In beiden Fällen erfolgt ein Vergleich dieser Erkenntnis mit den Strukturen einer Theateraufführung. Dadurch werden Beschreibung und Deutung ästhetischer Erfahrung derjenigen der Erkenntnis des Selbst angenähert und zugleich von ihr unterschieden. Im Kashmirischen S´ ivaismus wird dabei ein eigener Erfahrungsmodus gelehrt, der sich auf die Selbst- und Gotteserkenntnis bezieht und deren Realisierung anzeigt. Dieser Erfahrungsmodus ist jedoch signifikanterweise den Modi ästhetischer Erfahrung (rasa) angelehnt und gehört zu dem auch für sie geltenden epistemologischen Kontext. Diesen Kontext galt es nicht allein vor dem Hintergrund der eingangs angesprochenen Polarität im Umgang mit außereuropäischen Konzepten darzulegen, sondern es ging auch darum, einen Referenzrahmen aufzuzeigen, durch den fremdkulturelle Konzepte und Praktiken nicht nur als Chiffren des Anderen, sondern auch inhaltlich auf die Frage nach der Reichweite eigener Begriffe bezogen werden können.

Verantwortung im Kontext von R eligion und Kunst Von Alois Hahn

I. Die Verantwortung im Kontext der neueren Gehirnforschung Die Problematik der persönlichen Verantwortung hat in jüngster Zeit eine brisante Aktualität gewonnen, und zwar durch die von vieldiskutierten Hirnforschern wie etwa Wolf Singer und Gerhard Roth formulierten Theorien1: »Ihre These lautet: Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst. Freiheit und Verantwortung sind Schall und Rauch, reine Einbildung – und dies nicht weil wir im Griff des Milieus wären, sondern im Griff des Gehirns. Neuronale Prozesse sorgen dafür, daß all unser Denken und Handeln determiniert ist. Ist das die Wiederkehr der Gehirnmythologie des neunzehnten Jahrhunderts? Singer und Roth führen keine akademische Diskussion. Aus den Ergebnissen der Hirnforschung leiten sie handfeste Konsequenzen für die Lebenswelt ab, für die Rechtsprechung und das Erziehungssystem«. So bringt die FAZ die Debatte auf einen Nenner. Dabei fällt zwar sogleich auf, daß die Argumente der Gehirnforscher auch ihr eigenes Gehirn einschließen müßten, in diesem Sinne also ›selbstimplikativ‹ sind. Auch die Gehirnforschung wäre dann nur das Resultat der Determiniertheit der Gehirne ihrer Autoren. Die Frage nach der Wahrheit der hier vorgetragenen Forschungen ließe sich im strengen Sinne nicht mehr stellen. Wenn Singer und Roth denken, sie dächten über das Denken, dann denken sie nur, daß sie darüber dächten. Auch ein sozialer Konsens, den sie für ihre Positionen durch Kommunikation erreichen, müßte dann als Resultat der zufälligen Konkordanz der Gehirne der Beteiligten, Dissens als deren ebenso zufällige Dissonanz aufgefaßt werden. Was als Wahrheit erscheint, wäre nur die autopoietisch erzeugte Konstruktion von Stimmigkeitserfahrung bei in sich geschlossen operierenden Systemen: Ihre Konkordanz wäre ein interzerebraler Kopplungseffekt. Aber selbst wenn Singer und Roth recht hätten, würde das die soziologische Frage nicht unbedingt tangieren. Die nämlich klammert den Richtigkeitsanspruch dieser FAZ, Nr. 256, 4.11.2003, 33. Unterdessen haben sich zahlreiche Geistes- und Naturwissenschaftler in der FAZ in diese Debatte eingeschaltet, neben Wolf Singer und Gerhard Roth u. a. Otfried Höffe, Klaus Lüderssen, Hans-Ulrich Kröber, Eberhard Schockenhoff, Reinhardt Olivier, Herbert Helmrich, Lutz Wingert, Thomas Buchheim, Christian Schwägerl, Karl Clausberg und Cornelius Weiller. Die Auseinandersetzung wird fortgesetzt. Daß eine Tageszeitung derart intensiv an diesem Thema ›dranbleibt‹, kann als Indiz für dessen andauernde Aktualität gewertet werden. Eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Positionen liegt aber jenseits des Rahmens dieses Aufsatzes. 1

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2004 · © Felix Meiner Verlag · ISSN 1439-5886

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und ähnlicher Determinismus-Hypothesen zunächst einfach aus, so wie Husserl den naiven Realitätsglauben der Lebenswelt einer Epoché unterwirft. Der Soziologe konstatiert zunächst, daß solche Determinismen als Unterstellungen nicht mit Singer und Roth, auch nicht mit der ›Gehirn-Mythologie‹ des neunzehnten Jahrhunderts beginnen. Die Frage, ob Menschen für ihr Handeln verantwortlich sind oder nicht, hat die Philosophie und die Theologie nicht nur im Kontext des Christentums seit jeher beschäftigt. Dabei zeigt sich, daß sowohl extreme Determinismusannahmen als auch Konzepte strenger Tatverantwortung im Kontext religiöser Doktrinen geltend gemacht werden. Ich gestehe, daß mir die Vorstellung, die Geschichte der Theologie als Evolution der Gehirne ihrer Autoren zu schreiben, einigermaßen abstrus vorkommt. Das muß halt an der Beschaffenheit meines Gehirns liegen. In jedem Falle soll es mir hier nicht darauf ankommen. Mir geht es vielmehr um die sozial verpflichtenden Zuschreibungen von Verantwortung. Gesellschaften unterscheiden sich eben unter anderem durch die Differenz solcher Zuschreibungen. Es könnte gut sein, daß die Auffassungen der modernen Gehirnforschung sich durchsetzen. Dann hätte das in der Tat gravierende Folgen für die soziale Definition von Verantwortung, und zwar auch dann, wenn zukünftige Forschungen diese Annahmen widerlegten. Die Wirkung der Determinismusunterstellung wäre größtenteils unabhängig von ihrer Wahrheit. Denn: »If situations are defined as real, they are real in their consequences« (W. I. Thomas). Der Glaube an die Prädetermination unseres Tuns und Empfindens durch unser eigenes Gehirn stünde dann in der Tradition des Glaubens an die Prädestination durch das ›Gehirn‹ Gottes, sozusagen das ›cerebrum cerebrorum‹. Jedenfalls ist die Frage nach der Freiheit unseres Willens und die daraus resultierende Problematik der Verantwortung für unser Tun und Unterlassen viel älter als die Hirnforschung. Sie begleitet die europäische Philosophie und Theologie seit ihren Anfängen. Das Problem der Verantwortung ist nicht vollständig identisch mit dem des freien Willens. Immerhin hängt die eine mit dem anderen zusammen. Nicht erst seit der neueren Gen- oder Hirnforschung zerbrechen sich die Gelehrten über diese Frage die Köpfe. Bereits Erasmus bemerkt in seinem gegen Luther gerichteten Text über das ›liberum arbitrium‹, daß es sich hier um eine ebenso alte wie dornige Frage handelt, die nicht erst auf Luther oder Karstadt warten mußte, um gestellt zu werden2: »Inter difficultates, quae non paucae occurrunt in divinis literis, vix ullus labyrinthus inexplicabilior quam de libero arbitrio. Nam haec materia iam olim philosophorum, deinde theologorum etiam, tum veterum, tum recentium ingenia mirum in modum exercuit, sed maiore, sicut opinor, negotio quam fructu.« Ausgangspunkt ist immer, daß nicht nur das Handeln von Personen, sondern erst recht deren Vorstellungen und Motive für die soziale Umgebung, aber auch zum Erasmus von Rotterdam: De libero arbitrio diatribe sive collatio, I a1, zitiert nach Ausgewählte Schriften, hg. von Werner Welzig, IV, Darmstadt 1969, 2. Für die Debatte über diese Frage im Mittelalter vgl. Peter von Moos: Das Geheimnis der Prädestination im Mittelalter, erscheint in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2, 2004 (Sondernummer: Was ist das Mittelalterliche an der Philosophie des Mittelalters?, hg. v. Enno Rudolph). 2

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Teil für die Handelnden oder Erlebenden selbst, in hohem Maße als kontingent erfahren werden. Die anderen sind für uns und wir sind für sie Überraschungsfelder. Aber wir sind dies auch für uns selbst. Wie stark auch immer wir das Gefühl haben mögen, in bestimmten Situationen Herr und Meister unserer Entscheidungen zu sein, die Empfindung von Kontingenz läßt uns nie ganz los. Wir selbst und die anderen sind immer auch ein Geheimnis.3 Die Zuschreibungen von Verantwortung an Gott oder das Milieu, das Gehirn oder den Teufel, das Schicksal oder den Zwang durch Herrschaft oder Wirtschaft deuten diese Kontingenzerfahrung zwar auf völlig unterschiedliche Weise. Immer aber stehen sie im Kontext der Bestimmung des Unbestimmbaren. Bekanntlich hat Luhmann diese Funktion der Religion zugewiesen.4 II. Verantwortung und Verantwortlichkeit Die Konstruktionen der modernen Gehirnforschung wirken vermutlich deshalb so provozierend, weil sie der normalen Alltagskonstruktion von Wirklichkeit widersprechen. Nicht als spielte die Kategorie der unverfügbaren Determination unseres Handelns in dessen lebensweltlicher Deutung keine Rolle. Sie ist lediglich nicht der Universal horizont unserer Orientierung. Diese geht nämlich davon aus, daß, von Ausnahmefällen abgesehen, der Löwenanteil der Handlungen von ihren Tätern zu verantworten ist. Zumindest ist das der Ausgangspunkt aller Beurteilungen. An dieser Stelle empfiehlt sich eine terminologische Differenzierung, die auf Luhmann zurückgeht, nämlich die zwischen Verantwortung und Verantwortlichkeit.5 Luhmann hat diese Unterscheidung im Kontext seiner Organisationssoziologie eingeführt. Vereinfacht geht es darum, daß man differenzieren muß zwischen dem, der als Verursacher eines Effekts ausgemacht werden kann, und dem, der dafür geradestehen muß. So werden in Organisationen typischerweise eine Fülle von Entscheidungen an der Basis getroffen. Da deren Resultate stets in höherem oder niederem Maße ungewiß sind, absorbiert eine solche Entscheidung Unsicherheit. Der Entscheider überspringt gewissermaßen die Kluft zwischen gegenwärtigem Wissen und dem Unwissen über die Zukunft. Das heißt aber nicht unbedingt, daß er auch dafür geradestehen muß, wenn etwas schiefgeht6: »Die Verteilung der Verantwortung und die Verteilung der Verantwortlichkeit fallen in großen formalisierVgl. hierzu Verf.: Soziologische Aspekte von Geheimnissen und ihren Äquivalenten, in: Schleier und Schwelle. Archäologie der literarischen Kommunikation V, Bd.1, Geheimnis und Öffentlichkeit, hg. von Aleida und Jan Assmann, München 1997, 23–40, und Verf.: Geheim, in: Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne [=Zeitsprünge – Forschungen zur Frühen Neuzeit 6], hg. von Gisela Engel u.a., Frankfurt/M. 2002, 21–42. 4 Vgl. hierzu Verf.: Luhmanns Beobachtung der Religion, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 53 (2001), 580–589. 5 Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 21972, 184. 6 Ebd., 187. 3

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ten Systemen strukturell auseinander. In den unteren Rängen wird die Unsicherheit absorbiert, die Spitze absorbiert Lob und Tadel.« Es fallen hier die Zuständigkeit für eine Entscheidung und die Zurechnung ihrer Effekte auseinander. Luhmann hebt für Organisationen den positiven Beitrag hervor: Riskante Entscheidungen werden gerade deshalb vielfach möglich, weil unklärbar bleibt, wer letztlich verantwortlich sein soll7: »Dafür ist ein schützendes Dunkel von Verantwortung und Verantwortlichkeit wesentlich«. Ein klassischer Fall für soziale Kämpfe um Verantwortlichkeit in diesem Sinne wäre etwa die Berufung auf sogenannte Befehlsnotstände. Strittig ist dann nicht die Tatverantwortung, wohl aber die zugehörige Verantwortlichkeit. Auch wenn wir daran glauben sollten, daß Gott oder unser Gehirn letztlich die Verantwortung für unsere Taten trüge, dürfte es uns im sozialen Leben schwer fallen, den einen oder das andere auch dafür verantwortlich zu machen. Schon deshalb, weil beide schwer zur Verantwortung gezogen werden können. Daß aber prinzipiell religiöse Gründe geltend gemacht werden können, um die Tatverantwortlichkeit auf Gott abzuwälzen, erleben wir gegenwärtig in massiver Form etwa bei Mordanschlägen, von denen die Täter behaupten, sie seien die Vollstreckung göttlichen Willens. Die Eigenverantwortlichkeit verschwindet geradezu hinter der Zuständigkeit Gottes. Die heiligen Texte aller Religionen sind voll von Hinweisen darauf, daß Gott oder die Götter die Erschlagung ihrer Feinde angeordnet haben. Der Gläubige handelt dann nur noch als Instrument des Göttlichen. Von den Texten Homers bis zum Alten Testament, um nur diese zu nennen, bis zum ›deus lo vult‹ der Kreuzfahrer und den mohammedanischen Eroberungskriegen zieht sich die Spur der Verschiebung der Verantwortlichkeit auf Gott. So erschlägt Odysseus nicht etwa allein aus eigener Rachsucht die Freier, sondern weil ihn Athene dazu auffordert. Josua erschlägt nicht von sich aus die Kanaaniter, sondern weil der Herr es ihm befiehlt. Nachdem er Jericho zerstört und die Bevölkerung erschlagen hat, spricht der Herr zu ihm: »Du sollst mit Ai und ihrem Könige tun, wie du mit Jericho und ihrem Könige getan hast« ( Josua, 8.4). Die Reihe der Texte ließe sich beliebig verlängern. Freilich sind es im Kontext von Religion nicht immer die Götter, die als verantwortlich dargestellt werden. Oft sind es auch ihre Widersacher, die sich der Menschen als ihrer Werkzeuge bemächtigen. Dann taucht entsprechend die Frage auf, ob ein Exorzismus reicht oder ob die Hexen an ihrer Besessenheit mitschuldig und also verantwortlich sind.8 In der Gegenwart finden sich solche Formen der säkularisierten Besessenheit etwa bei den ›Multiples‹, die eine immer größer werdende Aufmerksamkeit amerikanischer Psychiater auf sich ziehen.9 Ebd. Vgl. hierzu Verf.: Die Cautio Criminalis aus soziologischer Sicht, in: Friedrich Spee zum 400. Geburtstag – Kolloquium der Friedrich-Spee-Gesellschaft Trier, hg. von Gunther Franz, Paderborn 1995, 103–110. 9 Vgl. hierzu Ian Hacking: Rewriting the Soul – Multiple Personality and the Sciences of Memory, 7 8

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III. Absicht und Unabsichtlichkeit In alltäglichen Lebensräumen, die nicht durch hierarchisierte Positionen und den Kampf um Zuständigkeiten charakterisiert sind, in denen auch nicht die Möglichkeit besteht, Götter oder Teufel oder Alters als Verantwortliche zu benennen, ist die Differenz zwischen Verantwortung und Verantwortlichkeit wesentlich schwieriger durchzusetzen als in Bürokratien, Glaubenskriegen oder psychiatrischen Kontexten. Man geht zunächst einmal davon aus, daß der Täter für das Handeln, das er verantwortet, auch verantwortlich ist. Hier kann nicht auf Zuständigkeitsgefälle verwiesen werden. Wenn wir uns gegen eine entsprechende Zumutung wehren wollen, müssen wir geltend machen, die Handlung, für die man verantwortlich gemacht werden soll, sei unabsichtlich erfolgt. Falls uns das gelingt, sind wir unter modernen Bedingungen (in archaischen Kontexten kann das ganz anders sein) in der Tat nicht nur entschuldigt, sondern aller Verantwortlichkeit ledig. Jedenfalls gilt das dann, wenn wir zusätzlich zeigen können, daß wir weder mit Absicht noch aus Fahrlässigkeit Situationen haben eintreten lassen, in denen wir unabsichtlich bestimmte Taten begehen. Der klassische Fall wäre etwa die Trunkenheit. Wir sind unter Umständen für die im Zustand der Trunkenheit begangenen Taten nicht verantwortlich, wohl aber dafür, daß wir in ihn gerieten.10 Die Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, um auf Unabsichtlichkeit zu erkennen, sind allerdings nicht beliebig groß. Sie variieren überdies von Kultur zu Kultur. Hinzu kommt, daß es gravierende Folgen haben kann, bestimmte an sich entschuldigende Quellen von Unzurechnungsfähigkeit anzuzapfen. Vor allem deshalb, weil die in Anspruch genommene Ursache für Entlastung von Verantwortung dauerhafte Beschädigungen der Identität des Entschuldigten zur Konsequenz haben kann. So sehr uns in Ausnahmefällen daran gelegen sein mag, nicht zur Verantwortung gezogen (= verantwortlich gemacht) zu werden, so sehr müssen wir für den Normalfall daran interessiert sein, als verantwortlich handelnde Persönlichkeiten behandelt zu werden, die für das, was sie tun, selbst einstehen. Als prinzipiell nicht verantwortungsfähiger Mensch zu gelten bedeutet in der Regel eine massive Beschädigung der eigenen Identität. Die Bereitschaft, diesen Ausnahmezustand zu beanspruchen, also absichtlich dafür zu plädieren, in einer bestimmten Situation in bestimmter Hinsicht unabsichtlich gehandelt zu haben, erwächst vor allem aus der Tatsache, daß wir etwa bei abweichen-

Princeton 1995, und Verf.: Personelle Vielfalt und Organisationsidentität, in: Personelle Vielfalt in Organisationen, hg. von Hartmut Wächter, Günther Vedder und Meik Führing, München/Mehring 2003, 101–113. 10 Vgl. hierzu ausführlicher Verf.: Schuld und Fehltritt, Geheimhaltung und Diskretion, in: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne [=Norm und Struktur 15], hg. von Peter von Moos, Köln/Weimar/Wien 2001, 177–202.

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dem Verhalten, Vergehen oder Verbrechen Schuldfähigkeit und d.h. Verantwortlichkeit voraussetzen. Um den normalen Folgen normaler Verantwortlichkeit, also vor allem Strafen oder Vorwürfen, zu entgehen, kann es opportun erscheinen, den Status der zumindest vorübergehenden Anormalität zu reklamieren. Damit können wir dann unter Umständen nicht nur vor Gott, sondern auch vor den Menschen auf Gnade hoffen. Damit ein solches Plädoyer aber Erfolg haben kann, muß es auf Kategorien zurückgreifen können, die im Sinnhaushalt der sozialen Umgebung plausibel sind. Diese verfügt nämlich immer über mehr oder weniger feste Vorstellungen davon, für was jemand verantwortlich ist und für was nicht, was als Absicht und was als unabsichtlich gelten kann, wenn auch die konkrete Zuweisung des einen oder des anderen Etiketts durchaus Gegenstand von Verhandlungen sein kann. Die beste Rettung der Situation und der durch das Versagen oder die zumindest objektiv verbrecherische Handlung diskreditierten Identität scheint – zumindest auf den ersten Blick – die Inszenierung von Unabsichtlichkeit zu sein. In diesem Sinne argumentiert Goffman11: »Ein Individuum ist nicht nur bemüht, seiner jeweiligen Tätigkeit erfolgreich nachzugehen. Es ist vielmehr auch ständig bemüht, ein Image von sich zu wahren, das vor den anderen zu bestehen vermag. […] Jedes Schwanken muß ausgeglichen werden, häufig in der Weise, daß das stürzende Selbst als ein nicht-ernsthaftes Selbst dargestellt wird, wodurch die wirkliche Person freigesetzt ist, um stillschweigend eine das Gleichgewicht wiederherstellende Position einzunehmen. So ist das Individuum ständig um eine verteidigungsfähige Position und eine verteidigungsbereite Haltung bemüht. Es gibt kleine Vorführungen, um aktiv eine Beziehung zu solchen Regeln darzustellen, die als für es verbindlich angesehen werden können.« Als eindrucksvolles Beispiel erwähnt Goffman eine Kellnerin, die einen Tumor hat und deshalb beim Servieren zittert. Durch den Hinweis auf ihr Stigma stellt sie sich aber gleichzeitig als jemanden dar, der weiß, daß man eigentlich nicht auf diese Weise servieren darf, andererseits aber dient ihr das Leiden als Inszenierung der Unabsichtlichkeit, durch die sie als entschuldigt gelten kann. Was Goffman nicht erwähnt, ist allerdings die mögliche unbeabsichtigte Nebenfolge solcher Selbstinszenierungen. Unabsichtlichkeit entschuldigt zwar in der Situation.Wenn es sich aber um eine dauernde Inkompetenz handelt, wird die Frage nach der Legitimität der Inhaberschaft einer Position unabweisbar. Insofern wird mit jeder Inszenierung von Unabsichtlichkeit, wenn sie der Entschuldigung für ein Fehlverhalten oder eine situative Unangemessenheit dienen soll, dann ein vielleicht noch größeres Risiko eingegangen, wenn sie den Verdacht erweckt, sie sei Moment eines zwar vielleicht unverschuldeten, aber doch auf Dauer mit einer gegebenen Position nicht zu vereinbarenden körperlichen oder geistigen Defizits. Man kann also zwar immer auf momentane körperliche Schwächen hinweisen, um aktuelles Verhalten als unabsichtlich gegen Vorwürfe zu immunisieren. Zusätzlich ist aber auch Vgl. Erving Goffman: Das Individuum im öffentlichen Austausch – Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt/M. 1974, 252. 11

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darauf zu achten, daß dabei nicht eine Unzuverlässigkeit und generelle Unverantwortlichkeit signalisiert wird, die das Vertrauen in die Fortsetzbarkeit der in Rede stehenden Erledigung von Aufgaben erschüttert. Ein Minister darf keinen Meineid leisten.12 Tut er es doch, ist er in dieser Position untragbar. Nun ertappt man ihn beim Falscheid. Es gelingt dem Verteidiger, dieses Versagen als Folge eines einmaligen ›Blackouts‹ zu inszenieren. Denn würde es sich um einen psychischen Dauerschaden handeln, wäre der Minister zwar nicht wegen Meineid zu belangen, aber als Minister gleichwohl nicht weiter verwendbar. Dies ist bei jedem Hinweis auf den Körper, die Seele oder das Gehirn als Ressource für Entschuldigungen und als Quelle für die Entlassung aus dem Status des verantwortlich Handelnden zu berücksichtigen. Zumindest in einigen Situationen des wirklichen Lebens ist damit zu rechnen, daß das, was die aktuelle Situation rettet, nicht sofort vergessen wird, also als identitätsrelevante Hypothek für die weitere Existenz zu Buche schlagen könnte.

IV. Der Körper als Organ von Inszenierung und als Ressource für Ausreden Eine der wichtigsten Ressourcen für die Behauptung, ein gegebenes Handeln sei unabsichtlich gewesen, ist unser Körper. Dieser ist zwar einerseits Instrument unseres Willens und insofern Organ der Mitteilung unserer Absichten. Er zeigt als solches an, wofür wir verantwortlich zeichnen, und zwar sowohl in bezug auf unsere Identität als auch hinsichtlich der jeweiligen Situationen, in denen wir agieren. Niemals aber kann diese Gleichsetzung vollkommen sein. Unser Leib ist immer auch in spezifischer Weise eigen- und widerständig, und zwar sowohl gegenüber den Intentionen seines ›Eigentümers‹ als auch gegenüber gesellschaftlichen Dressuren. Wir können unser Niesen oder unser Schwitzen, unser Nasenbluten, unser Lachen oder Weinen, unser Erröten und unser Zittern keinesfalls perfekt ›in den Griff‹ bekommen, wenn auch kulturell und individuell hier höchst unterschiedliche Niveaus erreichbar sind. Vor allem sind – wiederum in der Moderne – nicht alle Krankheiten als unabsichtliche Folge absichtlichen Handelns interpretierbar. Der Körper ist insofern stets auch ein nicht von seinem ›Eigner‹ geschriebener Text, sondern Manifestation einer Sprache, die auf die Differenz zur gesprochenen Sprache seines Trägers hin beobachtbar ist. Diese Beobachtung nun wird nicht nur von anderen vollzogen, auch wir selbst können unsere Leibesvorgänge auf ihre Wirkung auf andere abschätzen. Immer wieder gelingt es uns dann unter Umständen, absichtlich Bewegungen, Gesten und Auffälligkeiten aller Art zu produzieren, von denen unsere Umgebung glaubt, es handele sich um Symptome, deren Auftreten gerade spontan sei, so daß man es hier mit untrüglichen Zeichen von UnabsichtlichDas hier erzählte Beispiel ist nicht völlig frei erfunden. Eventuelle Erinnerungen an die bayerische Rechtsgeschichte sind gleichwohl für den vorliegenden illustrativen Zweck unerheblich. 12

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keit zu tun habe. Der Körper ist also einerseits Ressource für Ausreden, weil er uns mit symptomatischen Gebrechen versorgt, die als eindeutig unbeabsichtigt gelten können und Fehlleistungen entschuldigen. Wenn wir unseren Körper (und unseren Geist) aber so gut beherrschen, daß wir die Symptome, die sich normalerweise malgré nous einstellen, unbemerkt zu inszenieren vermögen, dann liefert das scheinbar Unabsichtliche guten wie bösen Absichten Vorschub. Dabei versteht es sich nicht von selbst, den Körper als ein System zu konzipieren. In vielen Gesellschaften wird er vielmehr selbst als ein Ensemble von keineswegs voll aufeinander abgestimmten Kräften und Wirkungen erlebt und thematisiert. So wird etwa bei den Griechen der lebendige Leib niemals als Singular, sondern als Plural beschrieben, wie uns Vernant berichtet. Das griechische Vokabular für den Körper wird durch äußerste Vielfalt bestimmt, selbst wenn es sich darum handelt, seine Totalität zu bezeichnen. So bedeutet etwa der Ausdruck ›gyîa‹ die Gliedmaßen in ihrer Eigenschaft als Beweger, ›mélea‹ heißen sie als Sitz von Kraft. ›Kára‹ kann den Kopf meinen, aber auch metonymisch das Ganze der Gestalt und auch die in dieser Gestalt erscheinende Person. Nach Vernant gilt für das Alte Griechenland13: »Es gibt keinen Terminus, der den Körper als organische Einheit bezeichnet, auf die sich das Individuum in der Multiplizität seiner vitalen und mentalen Funktionen stützt. Das Wort ›sôma‹, das man mit ›Körper‹ übersetzt, bezeichnet ursprünglich den Leichnam, d.h. das, was übrigbleibt vom Individuum, wenn es, von allem verlassen, was in ihm Leben und körperliche Dynamik inkarnierte, auf eine reglose Form, ein bloßes Abbild reduziert ist […]. Der Terminus ›démas‹ (in der Akkusativform angewandt) meint nicht den Körper, sondern die Gestalt oder die Statur […]. Er wird oft in Beziehung gesetzt zu ›eîdos‹ oder ›phyé‹, womit der sichtbare Aspekt einer Gestalt ausgedrückt wird. Auch ›chrós‹ entspricht nicht dem Körper, sondern lediglich der äußeren Hülle, der Haut, der Kontaktfläche des Ich mit dem anderen. Außerdem kann es auch den Teint bezeichnen.« Und andererseits sind diese vielfältigen körperlichen Komplexe in archaischen Gesellschaften normalerweise keinesfalls als von der Seele oder dem Geist getrennte Entitäten aufgefaßt. Geistige Vermögen und leibliche Prozesse schwingen ineinander, ohne daß je eine binäre Kodierung von Leib hier, Geist da streng vollzogen würde, da der Multiplizität der Körperlichkeiten eine ebensolche Mannigfaltigkeit von Seelenkräften und geistigen Strebungen entspricht. Das trifft auch auf die griechische Frühzeit zu, von der es bei Vernant heißt14: »Im archaischen Griechenland gibt es noch nicht die Leib-Seele-Unterscheidung«. Die hier am griechischen Beispiel exemplifizierten Gegebenheiten ließen sich im übrigen durch eine Fülle ethnographischen Materials vervollständigen. Die Idee eines einheitlich funktionierenden Systems von Körperlichkeit widerspricht Jean-Pierre Vernant: Corps obscur, corps éclatant, in: Corps des dieux, publ. par Charles Malamoud et Jean-Pierre Vernant, Paris 1986, 19–46, hier 22 (Übersetzung A. H.). 14 Ebd. 13

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zunächst durchaus ›naiver‹ Anschauung. Dieser präsentiert sich der Körper gerade erst einmal als Differenz von rechts und links,15 oben und unten, vorn und hinten, von verschiedenen sinnlichen Vermögen und vitalen Funktionen und Zuständen. Gerade die Differenz der leiblichen Vermögen und Empfindungen läßt die Idee eines systematischen Zusammenhangs zwischen ihnen zu einer Abstraktionsleistung werden, die sich nicht von selbst versteht, sondern voraussetzungsvoll und ganz unwahrscheinlich ist. Dafür spricht schon die Tatsache, daß wir über verschiedene körperliche Vorgänge in unterschiedlichem Ausmaße gebieten: Warum sollen meine Finger, die ich wegen ihrer weitgehenden Willensunterworfenheit fast als Fortsetzung meines Bewußtseins in die äußere Welt ansehen kann, dem gleichen Zusammenhang zuzurechnen sein wie die Verdauung, für die das so gut wie nicht, oder auch wie meine Zehen, für die das in erheblich geringerem Maße zutrifft?16 Die Vorstellung vom Körper als einem einheitlichen System ist selbst Resultat von Evolution. Die konzeptionelle Entwicklung, die zur Binarisierung des LeibBewußtseins-Verhältnisses geführt hat, entspringt nicht zuletzt gesteigerten sozialen Bedürfnissen nach größerer Berechenbarkeit der Körper und ihrer sozialen Kontrolle. Soziale Kontrolle des Körpers kann nämlich zwar auch direkt beim Körper ansetzen, also gleichsam unter Umgehung des Bewußtseins, in vielen Fällen ist es aber effizienter, die soziale Kontrolle des Körpers über die Beeinflussung des Bewußtseins zu perfektionieren. Das aber setzt voraus, daß der Körper als Maschine erscheint, für die das Bewußtsein verantwortlich ist, weil es über sie gebietet und über sie verfügen kann. Nur der dem Geist gehorsame Körper kann als dessen Werk voll der individuellen Verantwortung zugerechnet werden und insofern sozial als Vollzugsorgan der Person behandelt und sanktioniert werden. Der historische Zusammenhang der Radikalisierung der begrifflichen Konzeption vom Körper als einem einheitlichen System, einer Maschine eben, und den in der frühen Neuzeit entstehenden Verfahren zur Steigerung der Niveaus von Überwachung und Kontrolle, sind keinesfalls als zufällig anzusehen. Das haben auf verschiedene Weise und für verschiedene Gruppen Foucault, Elias und Marx gezeigt.17 Freilich, die völlige Beherrschung des Körpers durch das Bewußtsein oder die Gesellschaft ist allemal Utopie.

15 Vgl. hierzu die klassische Arbeit von Robert Hertz: La prééminence de la main droite: étude sur la polarité religieuse, in: Revue Philosophique 68 (1909), 553–580. 16 Vgl. hierzu ähnliche Überlegungen bei Michel Serres: Les cinq sens – Philosophie des corps mêlés 1, Paris 1985, 18 ff. 17 Verf.: Differenzierung, Zivilisationsprozeß, Religion. Aspekte einer Theorie der Moderne, in: Kultur und Gesellschaft [=Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Sonderheft 27], hg. von Friedhelm Neidhardt u.a., Opladen 1986, 214–231.

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V. Umwelt, Technik und die Bosheit der anderen als Störfaktoren Der Körper hat kein Monopol auf die Funktion, als Ausrede zu dienen bzw. tatsächlich Grund dafür zu sein, daß wir unser Handeln nicht entsprechend unseren Absichten führen können. Die Umwelt, und zwar sowohl als natürliche als auch als soziale, spielt in diesem Kontext eine ebenso große Rolle. Wir können sie deshalb beschwören, wenn wir bestimmte unserer Handlungen als nicht gewollt ausflaggen wollen. Aber auch hier gilt, daß nicht jede Beschwörung ankommt, daß unabhängig von der Wahrheit einer behaupteten Begebenheit Glaubwürdigkeit von Inszenierung abhängig ist. Im Grunde geht es hier darum, das Konzept der Verteilung von ›Zuständigkeiten‹, das im bürokratischen Kontext eine so große Rolle spielt, in der alltäglichen Lebenswelt geltend zu machen. Eine der wichtigsten ›Ressourcen‹ für Unabsichtlichkeit ergibt sich aus den Behinderungen durch andere Menschen, deren Ungeschicklichkeit, Fahrlässigkeit, Bedrohlichkeit oder Gewaltsamkeit wir nicht ausweichen können. Es ist klar, daß jemand der durch Gewalt an etwas gehindert oder zu etwas gezwungen wird, als nicht verantwortlich anzusehen ist.18 In vielen Fällen ist aber gerade das schwer zu beweisen, weil es z. B. an Zeugen fehlt oder Aussage gegen Aussage steht. Wenn man Berichte etwa von Vergewaltigungsprozessen (oder auch anderen Verbrechen) analysiert, kann man sich davon einen tragischen Eindruck machen. Die Richter stellen sich oft (oder sind) skeptisch. Jedenfalls haben sie unausgesprochene Kriterien, nach denen sie eine Darstellung als wahrheitsgemäß oder bloß inszeniert behandeln, und sind sich wohl auch – zumal bei längerer Praxis – sicher, daß sie ihre Pappenheimer kennen. Es geht dabei eben nicht nur um die Frage, ob bestimmte Vorgänge geschehen sind, sondern ob die behauptete Unabsichtlichkeit tatsächlich vorlag. Auch hier ist die glaubwürdigste Darstellung nicht immer die wahre. Das Trauma von Opfern hängt eben damit zusammen, daß sie nicht nur die Umstände eines Verbrechens noch einmal schildern müssen, sondern daß sie dabei einerseits hinlänglich bewegt erscheinen müssen, um als wirkliche Opfer anerkannt zu werden, andererseits aber der Bericht auch nicht ›zu emotional‹ ausfallen darf, wenn nicht der Eindruck entstehen soll, das Opfer ›spiele bloß Theater‹. Der Anspruch auf Unabsichtlichkeit einer Handlung braucht im übrigen nicht nur damit begründet zu werden, daß man nur unter Zwang agiert habe, ganz ähnlich wirkt der Hinweis auf eine der eigenen Tat vorausgehende Schuld Alters. Man leugnet dann nicht, den anderen geschlagen zu haben, verweist aber darauf, daß dieser angefangen habe, also im eigentlichen Sinne der moralisch Verantwortliche für das sei, was ich ihm angetan habe: »Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt«, heißt es dann. Dazu bedarf es in der Regel Auch das ist selbstverständlich eine zivilisatorische Errungenschaft. In vielen traditionellen Gesellschaften gelten Frauen als magisch schuldig, selbst wenn sie Opfer von Vergewaltigungen wurden, und können verstoßen werden. 18

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erheblichen Aufwandes an Inszenierung: Beschuldigung von Alter als Entschuldigung von Ego. Das Problem, das dabei entsteht, liegt in der Paradoxie des Anfangs und der Interpunktion der reziproken Sequenzen.19

VI. Verantwortung gegenüber Gott Der Zusammenhang zwischen Verantwortung und Intentionalität spielt nun nicht nur im weltlichen Kontext eine Rolle. Auch Religionen unterscheiden sich danach, welche Bedeutung sie der Differenz zwischen Absichtlichkeit und Unabsichtlichkeit zuerkennen. Für die christliche Tradition ist in diesem Zusammenhang vor allem die Theorie der Gültigkeit der Sakramente von Relevanz. Die institutionell verfaßte Kirche hat ein Interesse daran, die Gültigkeit der Spendung nicht von der Würdigkeit des Spenders abhängig zu machen. Sonst müßte der Rezipient sich auch um den Lebenswandel des Priesters kümmern, wenn er sich sicher sein will, das Sakrament gültig empfangen zu haben. Diese Verantwortung nimmt ihm die Institution der Kirche ab. Es gilt insofern das Prinzip ›ex opere operato‹. Ganz anders sieht es selbstverständlich aus, wenn es um die Würdigkeit des Sakramentenempfängers geht. Hier gilt: »Wer aber unwürdig ißt und trinkt, der ißt und trinkt sich das Gericht.« Hier geht es im Christentum immer um das ›opus operantis‹. Anders in vielen archaischen Religionen, wo bestimmte Riten eine gleichsam objektive Wirkung haben und die Bewußtseinslage der Beteiligten irrelevant sein kann. Der einzelne Gläubige muß im Kontext der etablierten christlichen Kirche also nur für sich selbst die Verantwortung übernehmen. Diese Perspektive wird dann die einzige, wenn die institutionelle Dimension entfällt, weil sich das sakramentale Geschehen ohnehin auf eine Beziehung zwischen dem einzelnen Gläubigen und seinem Gott reduziert. Falls aber die Gültigkeit des Sakraments auch von der Würdigkeit des Priesters abhängt, dann ergibt sich aus der Sicht des Empfängers eine Doppelverantwortung. Für Europa läßt sich die Dramatisierung der Intentionalität seit dem 12. Jahrhundert besonders eindrucksvoll an der Sündenlehre des Abaelard illustrieren. In ihr wird die Verlegung des Schwerpunktes bei der Sündenanalyse von den äußeren Handlungen auf die Intentionen besonders markant. Für sie ist Sünde nicht eigentlich an ein äußeres Tun gebunden. Vielmehr liegt deren Kern in einem intentionalen Akt, in der Zustimmung zur Sünde. Nur durch diesen Konsens entsteht eine Schuld der Seele, durch die sie sich die Verdammnis verdient, indem sie sich vor Gott schuldig macht. Diese radikale Verlegung der Sünde ins Innere kontrastiert aufs massivste mit früheren Konzeptionen, in denen eine eher ›äußere‹ SchuldaufZur Analyse des Streits um die richtige Interpunktion von Ereignissequenzen in Interaktionen vgl. Paul Watzlawick u.a.: Menschliche Kommunikation – Formen, Störungen, Paradoxien, Bern/Stuttgart/Wien, 1974, 57–61. 19

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fassung gängig war und in der Fehltritt und Schuld jedenfalls nicht primär über die Analyse der Intention differenziert werden konnten. Die Welt des frühen Mittelalters ist, wenn man Jacques Le Goff folgen will, eine extrovertierte Welt. Äußere Pflichten und Verfehlungen stehen im Zentrum der ethischen Aufmerksamkeit20: »C’est un monde […] qui se définit par des attitudes, des conduites, des gestes. Les gens ne peuvent y être jugés que sur des actes, non sur des sentiments. […] Le Wehrgeld par exemple considère bien à côté des actes des acteurs mais en fonction de leur situation objective selon une classification très rudimentaire d’ailleurs: libres, et non libres, membres de telle ou de telle communauté nationale – non de leurs intentions». Und die ›vor-abaelardische‹ kirchliche Sündenlehre paßt zu dieser Auffassung: Den als äußere Handlung aufgefaßten Sünden korrespondiert eine ebenso an der äußeren Vergeltung orientierte Buße. Die Beichte ist eine Tarifbeichte, die die Strafe in Relation zur Schwere der Tat – ohne allzu ausführliche Erforschung der Motive – festsetzt. Mit Abaelard ist jedenfalls für das Verhältnis des Menschen zu Gott mit der Verknüpfung von Sünde und Absichtlichkeit die Entlassung alles Nichtintentionalen aus der Sphäre dessen bewirkt, wofür man sich verantworten muß. Damit verbunden war auch die Konzeption, daß auch die Verzeihung Gottes durch einen intentionalen Akt, nämlich den der ›contritio‹ bewirkt wurde. Die vollkommene Reue tilgte auch die Sündenschuld, für die man verantwortlich war. Daß die Übertragung dieses Konzepts in die Sphäre des Rechts nicht ohne weiteres möglich ist, läßt sich relativ deutlich machen. Gott kann durch unsere Sünden nicht real geschädigt werden. Wir beleidigen ihn durch unsere Intentionen. Durch deren Rücknahme nehmen wir auch die Beleidigung zurück. Da Gott über die vollständige Einsicht in die ›occulta cordis‹21 verfügt, weiß er auch, ob die Kontrition echt oder unecht war. Bei Rechtsverstößen schädigen wir andere in der Regel real, und zwar ganz unabhängig davon, ob wir absichtlich gehandelt haben. Die Ermordeten werden auch durch unsere Reue nicht wieder lebendig. Außerdem kann niemand sagen, ob die Reue eines Täters echt ist oder nicht, denn uns Menschen ist der Blick ins Innere von Alter Ego versagt. Die rechtliche Fassung der Verantwortlichkeit muß dieser Differenz Rechnung tragen. Zwar kann ein einzelner Geschädigter einem anderen verzeihen, wenn er davon überzeugt ist, dieser bereue seine Taten. Aber auch moderne Gerichte können einen von ihnen als Täter Identifizierten nicht in gleicher Weise von der Verantwortlichkeit für die Tatfolgen entlassen, so sehr auch Jacques Le Goff: Pour un autre Moyen Age – Temps, travail et culture en Occident. Paris 1977, 167. Ich habe mich zur Problematik der Geschichte der Beichte aus soziologischer Sicht ausführlicher geäußert in Verf.: Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), 408–434, und Verf.: Differenzierung, Zivilisationsprozeß, Religion (Anm. 17). 21 Vgl. hierzu die wichtige Arbeit von Peter von Moos: »Herzensgeheimnisse« (occulta cordis) – Selbstbewahrung und Selbstentblößung im Mittelalter, in: Schleier und Schwelle (Anm. 3), 89–111. 20

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eine ursprünglich im theologischen Kontext entwickelte Bindung der Verantwortlichkeit an die Intentionalität und der Strafe an die Unbußfertigkeit auch für unser Rechtsbewußtsein prägend geworden ist. Ein zusätzlicher Grund liegt darin, daß die Rechtsstrafe nicht nur an den Täter adressiert ist, sondern auch die Verletzten und ihr Strafbedürfnis im Auge behalten muß, ganz abgesehen von den generalpräventiven Fiktionen, auf die sie schwer verzichten kann. Durch die sichtbare Strafe wird die höchst prekäre Unterstellung der Normgeltung, deren Kontrafaktizität sich ja gerade durch die reale Übertretung gezeigt hat, urgiert. Deshalb wären Rechtsstrafen auch dann unverzichtbar, wenn die Theorien von Singer und Roth zum juristischen ›common sense‹ gehörten. Ändern würden sich die Begründungen für Strafen, nicht die Strafnotwendigkeit als solche. Bei Abaelard wird die Verantwortung des eigenen Jenseitsschicksals exklusiv dem Einzelnen zugeschanzt. Es ist seine Gesinnung, die zählt. Ob man ihn deshalb zum Vater der von Max Weber so perhorreszierten ›Gesinnungsethik‹ machen soll, bleibe dahingestellt. Darunter hatte Weber bekanntlich die Abkoppelung der ethischen Verantwortung für Folgen von Handeln und Nicht-Handeln gemeint, die sich die von Weber so genannte Verantwortungsethik gerade auflädt. In der seit dem Vierten Laterankonzil erfolgenden Institutionalisierung der jährlichen Pflichtbeichte wird dieses Individualisieren der Verantwortung mit der Sozialisierung des Bekenntnisses verknüpft, das ›opus operantis‹ des Beichtenden mit dem ›opus operatum‹ der äußeren Sakramentenspendung. Damit wird die Bindung an die eigene Sünde nicht nur eine Gewissensangelegenheit, sondern zusätzlich Komponente einer Spezialkommunikation, die den einzelnen auf seine Taten festlegt, insofern sie als intendiert und somit verantwortungspflichtig darstellbar sind. Die Alleinverantwortung für das Heil wird zumindest teilweise eine Gemeinschaftsverantwortung, in die sich der bekennende Sünder und der Seelsorger teilen, dem der Sünder anvertraut ist. Immerhin geht es zunächst nur um die Verantwortung und die Verantwortlichkeit für einzelne Taten. Diese Festlegung verschärft sich, wenn der Einzelne nicht mehr nur für einzelne Taten, sondern für die Gottwohlgefälligkeit seines gesamten Lebens verantwortlich wird. Das wird seit dem 15. Jahrhundert vor allem als theologische Reaktion auf den Rückfall in die Sünde nach der Beichte zunehmend geltend gemacht. An sich müßte der Sünder ja nach der durch Reue getilgten Schuld – selbstredend mit Unterstützung der ihm in der Beichte zuteilwerdenden sakramentalen Gnade – gegen den Rückfall resistent sein. Ist er es nicht, so zeigt dies nach katholischer Auffassung, verstärkt seit der Gegenreformation, daß er seine Sünden nicht aufrichtig bereut hat, die Beichte also ungültig war. Am Rückfall wird die Unbußfertigkeit abgelesen. Der einzelne wird nunmehr also nicht nur für seine einzelnen Taten, sofern er sie absichtlich begangen hat, sondern auch für deren Wiederholung religiös haftbar gemacht. Er trägt nunmehr die Verantwortung für seine Sündenbiographie. Die Frommen leben also so, als komme es auf jeden Augenblick an, statt sich auf die prekäre Hoffnung der ständigen Verzeihbarkeit aller Sünden zu verlassen.

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Auch die protestantische, zumal die reformierte Theologie wird vom Phänomen des Rückfalls irritiert. Nur reagiert sie völlig anders darauf. Für sie ist der Rückfall nicht das Zeichen defizitärer guter Absichten und Gesinnungen, sondern defizitärer Gnade. Am unbußfertigen Leben erfahren der Einzelne und seine Umgebung etwas über den mutmaßlichen Ratschluß Gottes. Er hat über das Heil des einzelnen Menschen von Ewigkeit her verfügt. Man könnte eigentlich sagen, Gott hat die Verantwortung für Heil oder Unheil des Menschen, der nichts selbst dazu beitragen kann, gleichwohl aber verantwortlich gemacht wird. Die naheliegende Konsequenz in dieser Situation wäre es, wenn der Einzelne, weil von Verantwortung für sein Seelenheil entlastet, sein Leben nach dem Prinzip der sittlichen Laxheit gestaltete. Wenn man ohnehin verdammt ist, so kann man sich durch irdisches Lotterleben nichts verderben. Und umgekehrt: Im Falle der Erwählung wird einem die Sünde nicht angerechnet. Tatsächlich haben die Puritaner aber nicht nach dieser Maxime gelebt, sondern im Gegenteil sich um die Heiligung ihrer gesamten Vita bemüht. Statt die metaphysische Unzuständigkeit für das Heil zu Verantwortungslosigkeit zu nutzen, haben sie gelebt, als ob es auf jeden Moment ankäme. Wir verdanken Max Weber zumindest eine mögliche Auflösung dieses Paradoxons. An die Stelle des Strebens nach dem eigenen Heil tritt das Streben nach subjektiver Heilsgewißheit. Die Konsequenzen im äußeren Handeln sind aber nahezu dieselben. Vergleicht man die gegenreformatorische Betonung des durch Beichte unterstützten, zwar gnadenhaft begünstigten, aber in letzter Instanz doch für das Heil selbstverantwortlichen Willens und den völlig entgegengesetzten reformatorischen Entwurf der Leugnung der Verantwortung des Einzelnen für sein Heil, so verblüfft die Parallelität der ethischen Resultate bei völlig konträrer theologischer Fundierung. Es könnte sein, daß auch der Glaube an die Prädetermination durch das je eigene Gehirn oder – war das nicht noch oder ist es schon von gestern??? – die Gene eine ähnlich paradoxe Wirkung zeitigt. Was virtuell jede Verantwortung fürs eigene Leben zu tilgen scheint, wirkt genau entgegengesetzt. Da man vermutlich aus der vorgängigen Gehirnanalyse prognostisch ebenso wenig verläßlich Genaues ableiten kann wie die Babylonier aus der Analyse der Lebern, wird jeder gut daran tun, die Qualität seines Gehirns durch seinen Lebenswandel zu dokumentieren, statt auf die Hoffnung zu bauen, daß man ihm für seine Schlechtigkeit mit dem Hinweis auf sein Gehirn Absolution zuteil werden lasse.

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VII. Moderne Kunst als Ort legitimer Verantwortungslosigkeit? 22 Vormoderne Kunst hatte sich nicht nur der ästhetischen Verantwortung zu stellen. Sie war stets auch religiösen, politischen und moralischen Sanktionen unterworfen. Auch heute ist ihr Anspruch, völlig autonom zu sein, keineswegs allgemein akzeptiert, nicht einmal innerhalb der Sphäre der Kunst selbst. Die durch die Ausdifferenzierung der Kunst mögliche Abkoppelung von außerhalb ihrer selbst liegenden Rücksichten und Verantwortlichkeiten ist im übrigen nicht gratis zu haben. Zwar kann sie sich Übertretungen leisten, die in normaler‹ Kommunikation den Strafrichter auf den Plan riefen. Aber das ist nur möglich, weil die Transgression der dort geltenden Regeln als ansonsten (also z. B. im Bereich der Moral oder der Politik) folgenlos aufgefaßt werden kann. Gerade ihre gesellschaftliche Harmlosigkeit (genauer gesagt: deren Unterstellung) gestattet den Künsten ihre Freiheit zur Provokation. Die Freiheit erweist sich allerdings bei näherem Hinsehen als drastischer Zwang. Wenn Transgression gestattet ist, so ist sie dies unter der Bedingung, etwas Neues zu sein. Kopierte Transgression ist jedenfalls nach den Regeln der Avantgarde die eigentliche Transgression gegen den Geist der Kunst. Sie kann in ihrem Kontext deshalb keinesfalls geduldet werden. Man könnte auch sagen: Kopierte Transgression ist überhaupt keine mehr. Deshalb eben ist sie ein Verstoß gegen die Regel »Keine Kunst ohne Transgression!« Bei aller Verabschiedung von Verantwortlichkeiten gegenüber anderen Subsystemen etabliert sich also eine kunstspezifische Eigenverantwortlichkeit. Diese ist im Kontext der Avantgarde als Innovation bestimmt. Aber das heißt nicht als beliebige Lizenz zu Beliebigem. Nicht als pure Negation, die willkürlich Bestehendes lediglich mit einem Minuszeichen versieht, vermag sie sich zu legitimieren. Kunst ist nicht schlicht identisch mit dem mephistophelischen Prinzip, daß alles, was besteht, wert ist, zugrunde zu gehen. Sie darf sich zwar Extreme leisten. Aber gerade deshalb gerät sie unter den Bann neuer Verantwortung23: »Gleichwohl hat das künstlerische Extrem zu verantworten, ob es der Logik der Sache, einer wie sehr auch verborgenen Objektivität gehorcht, oder bloß der privaten Willkür oder dem abstrakten System.« Die Legitimation zieht alles artistische Überschreiten »wesentlich aus der Tradition, die es negiert. Hegel hat gelehrt, daß, wo ein Neues unvermittelt, schlagend, authentisch sichtbar wird, es längst sich bildete und nun die Hülle abwirft«.24 Das, was oft als radikaler Bruch erscheint, ist demnach gerechtfertigt dadurch, daß es die wie immer auch geniale Die folgenden Überlegungen greifen Gedanken auf, die ich erstmals in der posthum erschienenen Gedenkschrift für meinen Freund Ulrich Schulz-Buschhaus skizziert habe. Vgl. Verf.: Transgression und Innovation, in: Poetologische Umbrüche – Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus, hg. von Werner Helmich, Helmut Meter und Astrid Poier-Bernhard, München 2002, 452–465. 23 Theodor W. Adorno: Arnold Schönberg (1874–1951), in: ders.: Prismen – Kulturkritik und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1976 (11953), 189. 24 Ebd., 189. 22

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Ratifikation des künstlerisch Unvermeidlichen ist.25 Verantwortung im Reich der Kunst bestünde also in der verantwortlichen Radikalität der Negation. Verantwortlich deshalb, weil sie nicht nur ›aliquid novi‹ brächte, sondern sich in den Kontext dessen, was ansteht, plausibel, um nicht zu sagen zwingend, einführt. Das Gebot, neu zu sein, findet sich gewiß nicht nur in der Kunst. Auch die neuzeitliche Wissenschaft soll neue Wahrheiten produzieren. Aber die Neuheit ist auch hier niemals Selbstwert. Zumindest ihrem Selbstverständnis nach ging es immer um Wahrheit. Ihretwegen waren dann auch Vorwürfe der Transgression von den Helden und Heiligen der Forschung zu ertragen. Nicht die bahnbrechende Neuheit der kopernikanischen Ideen oder der Thesen Sigmund Freuds dienten ihren Anhängern als Argument. Alle Neuheit in den Wissenschaften ist nur erlaubt, weil sie für sich beanspruchen kann, die Wahrheit zu sein. Wenn auch ihre Behauptungen im Lichte der Moral oder der Religion als Transgressionen erscheinen mögen, für den Wissenschaftler wäre es eine Transgression – sei es gelegen oder nicht – , eine Wahrheit nicht zu sagen. Die Wissenschaft verfügt über ein subsystemspezifisches Kriterium, bloße Innovation von Transgression zu unterscheiden, nämlich die Wahrheit. Das Staunen, das die Wissenschaft erzeugt, bezieht sich auf die Welt, die sich im Lichte neuer Ansichten überraschend anders zeigt, als man bisher dachte. Wären die Überraschungen der Wissenschaft nicht auf die Welt zurückzurechnen, müßte man von Fälschungen sprechen. In der Kunst hingegen wurde das Neue als solches spätestens seit Giotto geschätzt. Zumindest im westlichen Europa waren die Kunststile und die literarischen Formen nicht mit der gleichen Striktheit religiös oder politisch kanonisiert wie die dargestellten Inhalte. (Im Gegensatz offenbar zu ostkirchlichen Tendenzen). Man konnte, ja sollte künstlerisch oder als Dichter Regeln übertreten, ohne deshalb schon eo ipso ein Gotteslästerer zu sein, wenn es freilich auch dafür Grenzen gab. Trotz dieser Sonderstellung der Kunst unter den Sozialsystemen, die verständlich machen könnte, daß sich hier »das Gebot, neu zu sein, schneller und radikaler durchsetzt als anderswo«26, kommt diese Tendenz doch erst voll zum Durchbruch mit jener Ausdifferenzierung, die erst im 19.Jahrhundert voll etabliert wird und im Prinzip des ›L’art pour l’art‹ eine erste programmatische Formel für ihre Selbstbeschreibung findet. Aber diese an der Neuheitserwartung sich orientierende subsystemspezifische autonome Entwicklung war und ist keinesfalls frei von Konflikten. Zwar spielte Gotteslästerung schon bald kaum eine Rolle mehr. Aber wie der Prozeß gegen Flauberts Mme Bovary zeigt, war die bürgerliche Öffentlichkeit keinesfalls unsensibel gegenüber dem, was sie für die Verletzung der ›geheiligten

Ebd., 197. Niklas Luhmann: Die Behandlung von Irritation – Abweichung oder Neuheit?, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik, IV, Frankfurt/M. 1995, 70. 25 26

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Werte‹ des Familienlebens hielt.27 Von den entdifferenzierenden Praktiken der Nazis und der Protagonisten des Sozialistischen Realismus ganz zu schweigen.28 Doch das Problem ergab sich eben nicht nur aus offenkundigen Spannungen zwischen den Erwartungen, die innerhalb des Kunstsystems en vogue waren, und denen, die von außen an es gerichtet wurden. Luhmann lenkt in diesem Zusammenhang das Augenmerk auf den »Konflikt mit einer Tradition, die lehrte, daß ein Kunstwerk ein Zeichen für etwas anderes sei, etwa eine Allegorie oder eine Darstellung idealer Wesensformen, wie sie in der Natur nicht zu finden seien. Das, worin das Neue besteht, kann nicht zugleich Zeichen für etwas anderes sein. Mit der Entwicklung einer historischen Stilkunde und mit zunehmend aggressiverer, in alle Tradition eingreifender Dissidenz, ergibt sich daher zwangsläufig die Notwendigkeit, Kunst als referenzlos zu denken; oder besser: ihre Referenz auf die Ablehnung vergangener Formen und Stile einzuschränken.«29 Diese Referenzlosigkeit scheint nun in verschiedener Hinsicht das Zentralproblem des Kunstsystems der Gegenwart zu sein. Jeder Versuch, sie an eine außer ihr liegende ›Wahrheit‹ zu binden, muß auf dem historisch erreichten Niveau der Reflexion als schlichter Versuch der Mystifikation empfunden werden. Aber wo läge die Wahrheit der Kunst als Kunst (die aufzugeben, wenn man sich an Adorno hielte, die eigentliche Sünde wider die Kunst wäre, also die systeminterne Transgression kat’exochän)? Außerdem würde die bloße Verpflichtung der Kunst auf Neuheit gerade wegen ihrer sachlichen Referenzlosigkeit kaum noch Unterschiede zur Mode erkennen lassen. Stilverstöße im 27 Zumindest für die Literatur stimmt die These der Referenzlosigkeit eben deshalb nicht, weil zwar vielleicht der Stil, nicht aber die Themen diesem Modell entsprechen. Man muß jedenfalls erhebliche Phantasie aufwenden, um die Flaubertschen Romane als ein freies Spiel der Signifikanten zu deuten, die nur von literarisch ungebildeten Menschen, wie z. B. den bloß dilettierenden Soziologen, auf die gesellschaftliche Realität bezogen werden können. Soziologen und Staatsanwälten, versteht sich. Dabei hat kurioserweise der Staatsanwalt sehr viel besser begriffen als Flauberts Verteidiger Sénard, daß der Roman im Sinne der bürgerlichen Moral eine Transgression darstellte. Sénard muß, um das Werk vor Zensur zu retten, aus dem traurigen Schicksal Emmas ein abschreckendes Beispiel für »une éducation donnée à une femme au-dessus de la condition dans laquelle elle est née, comme il arrive trop souvent chez nous« destillieren. Damit wird die Position des Apothekers Homais als die des Autors behauptet, obwohl gerade er implizit verspottet wird, und zwar trotz seiner im Sinne des liberalen Bürgertums bis hin zu Habermas politisch absolut korrekten Auffassungen. Deutlich ist jedenfalls, daß Flaubert aus der Perspektive der Moral eine, wenn auch strafrechtlich folgenlose, Transgression beging, und zwar durch ein Werk, das gerade durch seinen künstlerischen Rigorismus im Bereich der Literatur dem Ideal der radikalen Modernität entspricht, subsystemspezifisch also keine Transgression darstellt, sondern durch seine Innovativität sich gerade als konform erweist. Zur Problematik der Interpretation der Madame Bovary vgl. einen der schönsten Aufsätze von Ulrich Schulz-Buschhaus: Homais oder die Norm des fortschrittlichen Berufsbürgers. Zur Interpretation von Flauberts Madame Bovary (1977), in: ders.: Flaubert – Die Rhetorik des Schweigens und die Poetik des Zitats, Münster 1995, 7–30. 28 Daß hier beide in einem Atemzuge genannt werden, will selbstredend nichts über die Vergleichbarkeit der Motive und des Grades der moralischen Verwerflichkeit dieser Systeme im allgemeinen besagen. 29 Luhmann: Die Behandlung von Irritation (Anm. 26), 71.

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Bereich der Kunst wären dann bloß noch analog zu Übertretungen im Bereich der Kleiderordnung. Nun ist zwar alles Moden unterworfen, aber die Gegenstände, die nur der Mode gehorchen, verlieren auf prekäre Weise an Legitimität, zumal wenn sie den Anspruch erheben, eine ernsthafte Beschäftigung zu sein. Das gilt nicht nur für die Religion, sondern auch für die Kunst. Hier aber scheint es uns kaum noch zu irritieren.30 Es muß also starke Motive geben, die Referenzlosigkeit der Kunst selbst um den skizzierten Preis des Desinteresses, ja der völligen Irrelevanz für jedes andere Subsystem zu postulieren. Vermutlich liegt der zentrale Grund darin, daß nur durch sie die Durchsetzung einer von Einmischungen anderer Subsysteme befreite rein auf Innovation abstellende Autonomie möglich ist. Ob die Kunst, zumal die Literatur, je die beanspruchte Unabhängigkeit erreicht oder eine lediglich programmatische Fiktion einer Avantgarde ist, kann hier ganz offen bleiben. Es geht zunächst um den Anspruch als solchen. Ein solcher findet sich etwa in Roland Barthes’ Überlegungen, über ein ›Zerplatzen‹ der lyrischen Wörter in reine asyntaktische Entbindung aus Zusammenhängen Referenzlosigkeit herzustellen31: »L’éclatement du mot poétique institue alors un objet absolu […]. Ces mots-objets sans liaison […] dont la vibration purement mécanique touche étrangement le mot suivant mais s’éteint aussitôt, ces mots poétiques excluent les hommes«. Dabei wird hier das Programm der Abkoppelung von Bezügen so weit radikalisiert, daß es sich auch auf die im künstlerischen Kontext selbst ergebenden Anschlüsse bezieht. Wie Ulrich Schulz-Buschhaus gezeigt hat, war für einen Autor wie La Bruyère das Modisch-Werden der Frömmigkeit ein höchst irritierendes Phänomen: La Bruyère hat in seinem berühmten Aphorismus über die Mode beobachtet, daß die Frömmigkeit des Monarchen die Höflinge dazu bringt, sich als ›devot‹ darzustellen. Ulrich Schulz-Buschhaus: La Bruyère und die Historizität der Moral – Bemerkungen zu ›De la Mode‹ 16, in: ders.: Moralistik und Poetik, Hamburg 1997, 191–202. Die Frömmigkeit verliert zwar durch die Tatsache, daß sie zur bloßen Mode wird, an Glaubwürdigkeit. Aber ihr Selbstanspruch kann immer noch – und das versucht La Bruyère eben – gegen ihre Erscheinung als Mode kritisch gewendet werden. Aber wie ließe sich der Selbstanspruch der Kunst gegen ihre bloß modische Präsenz artikulieren, ohne daß man ein leeres Postulat verkündete oder eine schlichte Unvernunftehe der Kunst mit der Religion, der Moral, der Political Correctness oder welchem Partner auch immer zu empfehlen? 31 Roland Barthes: Le degré zéro de l’écriture, Paris 1972, 39. Vgl. hierzu Ulrich Schulz-Buschhaus: Die Geburt einer Avantgarde aus der Apotheose des Kriegs. Zu Marinettis Poetik der ›parole in libertà‹, in: Romanische Forschungen 104 (1992), 132–151. Dort findet sich auch der Hinweis auf eine Deutung der futuristischen Lyrik von Octavio Paz, in der ebenfalls diese Tendenz zur Konzentration auf den ›bindungslosen‹ Signifikanten unterstrichen wird, also auf eine Lyrik, von der man sagen könnte, daß ihre Elemente sich auf die ›basale Selbstreferenz‹ (Luhmann) zurückziehen: »El poema futurista no se encaminaba hacia el futuro sino que se precipitaba por el agujero del instante o se immobilizaba en una serie inconexa de instantes fijos. Eliminación del tiempo como succesión y como cambio.« (Los hijos del limo, Barcelona/Carácas 31981, 171, zitiert nach ebd., 148.) SchulzBuschhaus argumentiert sehr einleuchtend, daß die poetologischen Programme sowohl Barthes’ als auch Marinettis eine besondere Form der Distinktionsstrategie der Avantgarde seien. 30

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Die Referenzlosigkeit der Kunst ist vielleicht auch deshalb so intrikat, weil sie die Widersprüchlichkeit ihrer Selbstreferenz deutlich macht. Die ›Ablehnung vergangener Formen und Stile‹ wird spätestens dann als paradoxe Anweisung durchschaut, wenn man sie als Anweisung begreift. Die Verantwortung dafür, stets etwas Neues zu schaffen, steht gerade dann, wenn sie als Konstante begriffen wird, in einem eigentümlichen Widerspruch zu sich selbst: Wer ihr genügt, fügt sich der Tradition, der Tradition zu widersprechen. Nur durch Wiederholung könnte man also der immer wiederholten Praxis, sich nicht zu wiederholen, entsprechen.32 Die eigentliche Transgression wäre, auf Transgression zu verzichten.33 Genau diese Überlegung ist natürlich eine der Grundlagen für Gehlens Konzept der ›Posthistoire‹, das in der Flut der Arbeiten zur ›Postmoderne‹ nahezu völlig vergessen zu sein scheint. Aber selbst wenn man immer etwas Neues fände, so wäre am Ende eben die Permanenz des Neuen ein alter Hut. Genau dies scheinen Ex-Avantgardisten wie Umberto Eco begriffen zu haben: Jetzt wird die Verweigerung gegenüber dem Postulat der Innovation das radikal Überraschende. Ulrich Schulz-Buschhaus hat diesen Zusammenhang in bestechender Weise ans Licht gehoben.34 Der angebliche Post-Modernismus in den Künsten ist nicht das Ende der Moderne, sondern die Transgression eines bestimmten Prinzips der Bildung von Anschlüssen. Statt Postmoderne empfehle es sich daher von Post-Avantgarde zu sprechen. Eine andere Alternative wäre freilich das Verstummen. Adorno hat das als letzte Konsequenz des Spätwerks von Schönberg und »Weberns Lyrik« zu entdecken geglaubt: »Die Neigung zum Verstummen, wie sie in Weberns Lyrik die Aura jeden Tons bildet, ist dieser von Schönberg ausgehenden Tendenz verschwistert. Sie läuft aber auf nicht weniger hinaus, als daß Mündigkeit und Vergeistigung der Kunst mit dem sinnlichen Schein virtuell die Kunst selber tilgen. Emphatisch arbeitet in Schönbergs Spätwerk die Vergeistigung der Kunst an deren Auflösung und findet sich so mit dem kunstfeindlichen und barbarischen Element abgründig zusammen.« Adorno: Arnold Schönberg (Anm. 23), 211. 33 Für Luhmann besteht das Hauptproblem der Kunst nicht nur in der Schwierigkeit, immer etwas Neues zu finden, sondern parallel dazu in der Kompetenz des Betrachters, immer etwas Neues zu entdecken. Die damit verknüpfte Paradoxie entspringt aus der Anweisung, daß man das Veraltete nicht vergessen darf, um das Neue als Neues erfassen zu können. Vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, I, Frankfurt/M. 1997, 215 f. Andererseits aber betont Luhmann, daß das überraschte Staunen auch den Künstler selbst betrifft: »Der Betrachter mag vom Gelungensein des Werkes überrascht sein und dann Schritt für Schritt nachzukonstruieren versuchen, wie das möglich war. Aber auch der Künstler läßt sich von der unter seinen Händen entstehenden Ordnung überraschen.« Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995, 236. Meine eigenen Überlegungen zum Zusammenhang von Kunst und Überraschung habe ich in meiner Habilitationsschrift Systeme des Bedeutungswissens – Prolegomena zu einer Soziologie der Geisteswissenschaften, Tübingen 1973, darzustellen versucht und neuerdings in: Kunst, Wahrnehmung und Sinndeutung, in: Diesseitsreligion – Zur Deutung und Bedeutung moderner Kultur, hg. von Anne Honer, Ronald Kurt und Jo Reichertz, Konstanz 1999, 153–182. 34 Vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus: Critica e recupero dei generi – Considerazioni sul ›Moderno‹ e sul ›Postmoderno‹, in: Problemi 101 (1995), 4–15. Wiederabdruck in: ders.: Il sistema litterario nella civiltà borghese, Milano 1999, 33–48, und ders.: Funktionen des Kriminalromans in der post-avantgardistischen Erzählliteratur, in: Projekte des Romans nach der Moderne, hg. von Ulrich Schulz-Buschhaus und Karl-Heinz Stierle, München 1997, 331–368, hier 331–343. 32

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Aber selbst im Lager der ›klassischen‹ Avantgarde lassen sich zwei Richtungen unterscheiden: Die eine nämlich setzt auf das Prinzip der Autonomie der Kunst um den Preis der Abkoppelung von Sinnbezügen, die auch jenseits des Kunstsystems Relevanz haben. Das entspräche eben einer eigentümlichen ›Verantwortungslosigkeit‹ für das, was jenseits ihrer Sphäre aus ihr wird. Die oben skizzierte Position Roland Barthes’ könnte als Beispiel für sie stehen. Ernstgenommen, würde die Umsetzung seines Programms ja zur totalen Sinnfinsternis führen, wenn nicht kongeniale Interpretationen Brücken zwischen der Referenzlosigkeit des Werkes und den Relevanzstrukturen der anderen Subsysteme schlügen. Das ›Verstummen‹, von dem Adorno in bezug auf Webern spricht, ist als solches nur zu erkennen, wenn es sich als solches inszeniert (z. B. durch ›Unterbrechung‹, ›Nicht-Anfangen‹, ›hörbares Aufhören‹ im auf Fortsetzung gestimmten Erwartungsraum) oder durch Interpreten, die ihrerseits keinesfalls stumm sind, in performativer Paradoxie als ›Sagen des Unsagbaren‹ in die Kommunikation zurückgeholt wird, aus der es sich angeblich bereits verabschiedet hat. Gerade die fortgeschrittensten Werke der Avantgarde bedürfen deshalb zu ihrer Existenzsicherung solcher Deutungen. Wie Gehlen bereits vor Jahrzehnten beobachtet hat, wird nur durch solche Deutungsarbeit erstrangige Kunst von schlichtem Unsinn unterscheidbar.35 Man könnte die hier gemeinte Variante der Avantgarde durch die Hypertrophie der Selbstreferenz charakterisieren. Der zweite Typus der Avantgarde wäre demgegenüber gerade an der Hypertrophie der Fremdreferenz zu erkennen. Das beste Beispiel für ihn wäre in meinen Augen der italienische Futurismus, so wie ihn Ulrich Schulz-Buschhaus beschrieben hat. Er weist zwar darauf hin, daß die Idee der ›parole in libertà‹ von Marinetti In dem Maße wie die ästhetische Reizung diffus bleibt, d.h. eines konnotativen Horizontes entbehrt, wird Deutung erforderlich. Nur sie vermag die sozusagen blinde Energie, die durch die ungedeutete innerästhetische Provokation gestaut wird, zu entladen oder jedenfalls in den Kosmos sinnvollen Handelns zu integrieren. Die Deutung von Kunstwerken wird also um so notwendiger, je weniger sich das Kunstwerk selbst deutet. Die Rätselhaftigkeit des Kunstwerkes ergibt sich jedoch nicht erst durch das Fehlen des konnotativen Rahmens, wie er für einen Großteil der modernen Kunst, und zwar nicht nur der bildenden Kunst, typisch geworden ist. So bringt z. B. schon die Verwendung von zwar konnotativ gemeinten, jedoch nicht allgemein verstandenen Symbolen und Motiven ein Deutungsdefizit. Das Bild hat in solchen Fällen immer zum Pendant die Deutung, deren Funktion teils vom Künstler selbst, teils von der spezifisch auf Kunstinterpretation bezogenen Kritik und Wissenschaft übernommen wird. Gehlen sieht als den entscheidenden Schritt zur Verstärkung der Deutungsbedürftigkeit von Bildern die Kunst des Kubismus. Hier habe sich erstmals die hohe Bildrationalität nur noch durch den Rückgriff auf die zwar geistvolle, aber entlegene Theorie der Künstler erschließen lassen, so daß sie den Bildern selbst nicht mehr zu entnehmen gewesen sei: »Im Bild allein war sein Sinn, die Legitimierung seines Soseins, nicht mehr auffindbar, dieser Sinn zog sich in den Prozeß seines Entstehens zurück, in die Erfahrungen, Reflexionen und Theorien des Künstlers. Von hier aus ging es in gerader Linie zur Abstraktion weiter […]. Die aus dem Bilde nicht mehr eindeutig ablesbare Bedeutung etablierte sich neben dem Bild als Kommentar, als Kunstliteratur und – auch als Kunstgerede«. Arnold Gehlen: Zeit-Bilder, Frankfurt/M./Bonn 1960, 53 ff. 35

Verantwortung im Kontext von Religion und Kunst

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einer ähnlichen Distinktionsstrategie entspringt, wie wir sie oben bei Barthes feststellen konnten. Daneben wird aber bei Marinetti ein anderes Avantgarde-Konzept sichtbar, das zwar auch auf Distinktion zielt, zugleich aber die Referenzlosigkeit der modernen Kunst durch radikale Überschreitung der Grenzen zu überwinden sucht. In der Formulierung von Schulz-Buschhaus36: »Nun ist der Futurismus eine, um nicht zu sagen die idealtypische Avantgarde-Bewegung vor allem insofern, als er seine Aktivitäten nicht auf den Raum von Kunst und Literatur beschränkt, sondern mit eklatanten Aktionen das gesellschaftliche Leben selbst zu bestimmen, oder moderner formuliert, die sozialen Funktionssysteme der Politik, der Wirtschaft, des Militärs usw. zu okkupieren sucht.« Ganz ähnlich will auch D’Annunzio die Dichtung in den Dienst des Kampfes gegen den verhaßten Feind Österreich einsetzen. Zwar waren Marinetti und D’Annunzio Antipoden in bezug auf die Gründe, die sie für die Notwendigkeit der literarischen Einmischung in die Kriegspropaganda angeben, in ihrer Gegnerschaft zu einer literarischen Avantgarde, die gerade auf das Prinzip des ›L’art pour l’art‹ setzt, sitzen sie indessen im gleichen Boot. Der Zwang zur Innovation, der für das Kunstsystem konstitutiv ist, führt hier zur Inszenierung von Skandalen. Die Transgression als solche wird als ästhetisches Ereignis aufgeführt37: »Wir wollen die Museen, die Bibliotheken, die Akademien aller Art zerstören und gegen den Moralismus, den Feminismus und gegen jede opportunistische oder utilitaristische Feigheit kämpfen«, heißt es bei Marinetti. Man würde den Sinn der futuristischen Transgressionen und ähnlicher Happenings, wie sie gegenwärtig etwa durch die Aktionen Schlingensiefs wieder in Mode kommen, aber gründlich mißverstehen, unterstellte man ihnen eine reale Entdifferenzierung von Kunst und Politik oder Kunst und Recht. Spätestens beim Eintreffen der Polizei wird das deutlich. Man beruft sich dann auf die Freiheit der Kunst. Die Straße war nur die Bühne, die Transgression nichts als Theater. Die Bühne aber ist eben dadurch definiert, daß sie zwar alle Realität aufführen kann, aber eben nur als Aufführung. Normalerweise setzt das voraus, daß bereits vor Beginn des Spektakels feststeht, was Bühne und was Zuschauerraum ist. Der Witz der Happenings besteht darin, daß diese Demarkationslinie den Zuschauern erst nachträglich deutlich wird. Bisweilen bedarf es eines Gerichtsprozesses, der klärt, daß das, was Transgression (im strafrechtlichen Sinne) zu sein schien, schon deshalb keine sein kann, weil es sich um Kunst gehandelt hat. Für die aber darf Referenzlosigkeit in Anspruch genommen werden. Wer aber die gerichtsfest behaupten kann, ist mundaner Verantwortlichkeit entzogen.

Ulrich Schulz-Buschhaus: Zwei Diskurse der literarischen Kriegführung: Marinetti und D’Annunzio (mit einer Anmerkung über Hugo von Hofmannsthal), in: Österreich und der große Krieg 1914 –1918 – Die andere Seite der Geschichte, hg. von Klaus Amann und Hubert Lengauer, Wien 1989, 60–66. 37 Filippo Tommaso Marinetti: Teoria e invenzione futurista, Milano 1968, zitiert nach SchulzBuschhaus: Zwei Diskurse der literarischen Kriegsführung (Anm. 36), 60. 36

Caspar David Friedrich und Friedrich Schleiermacher * Von Werner Busch

Der Mönch am Meer (Abb. 1, S. 265) entstand in einem komplizierten Prozeß von 1808 bis 1810, in der Zeit der napoleonischen Besetzung Sachsens und Pommerns. Das Bild ist nachweislich viermal grundsätzlich überarbeitet worden und insofern ein Palimpsest. Sein gegenständlicher Bestand wurde mehr und mehr reduziert, es gab ursprünglich Schiffe auf dem Meer, Fischreusen an den Seiten, der Himmel wurde mehrfach grundsätzlich übermalt, und damit war die Ausdrucksdimension des Bildes jeweils eine andere, bis ein radikal reduziertes Bild, bestehend aus vier Gegenständen, Strand, Mönch, Meer und Himmel, übrigblieb. Gegen alle Regeln der klassischen Kunst hatte das Bild am Ende weder eine seitliche Rahmung, die das Bild immanent zu einer Form rundete, vielmehr war es zu den Seiten hin offen, was Kleist zu der berühmten Metapher von den weggeschnittenen Augenlidern verleitete, noch war das Bild für den Betrachter räumlich zu erschließen, das dunkle Meer über hellem Strand war nicht wirklich als dahinter sich erstreckend zu lesen, was Brentano zu der Formulierung brachte, das Bild täte dem Betrachter einen Abbruch – in doppeltem Sinne: bezogen auf einen kontinuierlichen Sehvorgang und in bezug auf das Verhältnis von Strand und Meer, die scharfe Uferlinie schafft keinen Übergang zum dunklen Meer. 1809 stellte sich bei Friedrich offenbar der Eindruck ein, das Bild brauche ein Pendant. Er begann die Abtei im Eichwald (Abb. 2, S. 265) zu malen, in identischem Format. Beide Bilder waren 1810 vollendet, zuerst offenbar die Abtei. Sie wurden in Berlin gemeinsam ausgestellt, vom preußischen Kronprinzen gekauft und blieben seitdem zusammen. Links hat der Mönch zu hängen, rechts die Abtei. Der Grund dafür: Die Abtei ist die Antwort auf den Mönch. Friedrich argumentiert oft in Bilderpaaren, bei denen das zweite die dialektische Antwort auf das erste ist. Nun ist – und dies kann man als Regel festhalten – alles in Friedrichs Bildern vor der Natur studiert, allerdings inseriert er die sorgfältig vor der Natur aufgenommenen Teile einem abstrakten, auf der Bildfläche nach bestimmten Gesetzen entworfenen Gerüst, d.h. die Teile sind in der Natur studiert, das Ganze jedoch ist bildgestiftet. Nicht selten montiert Friedrich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten Studiertes zu einem neuen Bildorganismus. Für den Mönch am Meer und die Abtei im Eichwald heißt das: Das Strandstück, auf dem der Mönch steht, entstammt einer Zeichnung von 1801 (Abb. 3, S. 266), die sich genau lokalisieren läßt: Friedrich zeigt den Lobber Großen *

Der Text folgt in Teilen meinem Buch Caspar David Friedrich – Ästhetik und Religion, München 2003; dort die Zitatnachweise.

ZÄK Sonderheft · Jahrgang 2004 · © Felix Meiner Verlag · ISSN 1439-5886

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Strand auf Rügen mit Blick auf Lobber Ort, den Beginn der Steilküste am Ende der Bucht und weiter in der Ferne das sogenannte Nordperd beim Seebad Göhren. Auch heute noch ist der Punkt der Aufnahme genau auszumachen und damit auch der Standpunkt des Mönchs. Selbst der Abbruch, von dem Brentano allerdings in weiterreichender Weise spricht, ist gegenständlich nachvollziehbar. Ende August, als Friedrich die Zeichnung von 1801 aufgenommen hat, wird der Strand auch heute noch leicht unterspült, ein Abbruch von etwa 50 cm entsteht. Setzt man sich zum Zeichnen, wie Friedrich es getan haben wird, an den Strand, so hat man besonders bei schlechtem Wetter die scharfe Linie vom Strand zum Meer als Seherfahrung. Die Abtei im Eichwald gibt die Ruine Eldena bei Greifswald wieder, die Eichen sind 1809 bei Neubrandenburg studiert, selbst die Licht-Schatten-Scheidung – der untere Teil im Schatten, der obere im Licht – ist auf einer Eichenzeichnung (Abb. 4, S. 266) festgehalten, das Astwerk mit seinen komplizierten Überschneidungen wird wörtlich von der Studie ins Bild übertragen. Kurz: Die absolute Befolgung des Naturvorbildes scheint Friedrich Gottes Schöpfung gegenüber gefordert, jede Abweichung wäre ein Verstoß gegen die göttliche Wahrheit. Doch was der Mensch in der Natur sieht und studieren kann, ist immer nur ein Ausschnitt. Deswegen lehnt Friedrich schon relativ früh die bloße Vedute ab. Im Ausschnitt, in der Vedute, in der bloßen Naturnachahmung kann das Göttliche nicht anschaulich werden. Eine Ahnung des Göttlichen ist in der Anschauung nur zu gewinnen, wenn dem Bild eine abstrakte, vom Künstler verfügte Ordnung eingeschrieben ist, die der Anschauende unter dem Mantel des Naturbildes erspürt. Diese Ordnung ist in so gut wie jedem Bild von Friedrich nachweisbar. Häufigstes Strukturierungsprinzip ist der Goldene Schnitt. Schon beim Tetschener Altar kommen alle vier Linien dieses Teilungssystems zur Geltung. Beim Goldenen Schnitt erfolgt die Teilung so, daß sich die gesamte Strecke zum größeren Abschnitt der Teilung verhält wie dieser zum kleineren. Offenbar empfindet das menschliche Auge dieses Teilungsverhältnis als besonders angenehm. Die ästhetisch befriedigendste Linie ist die rechte Senkrechte des Goldenen Schnittes, beim Tetschener Altar befindet sich auf ihr das Kreuz Christi, auf Hunderten von klassischen Bildern ist dies der Ort des Bildhelden. Wie wir sehen werden, verwendet Friedrich auch zahlreiche andere Strukturierungsverfahren, und zwar eigentlich geometrische. Nun ist das Verblüffende, daß der Mönch am Meer beinah als das einzige Bild Friedrichs alle sonst bei ihm geläufigen Ordnungssysteme verweigert und auch keine eigenen entwickelt. Das mag erklären, warum man das Bild als Ausdruck von gänzlichem Nihilismus hat verstehen wollen. Es verweigert ästhetische Ordnung. Um so mehr herrscht diese im Pendant, der Abtei im Eichwald vor, die schon von daher als Aufhebung der Negativität des Mönches fungiert. Die Senkrechten des Goldenen Schnittes verlaufen bei der Abtei auf den Stämmen der beiden größten Eichen, die die Ruine links und rechts rahmen, diese selbst markiert genau die senkrechte Mittelachse des Bildes. Wichtiger noch allerdings ist eine geometrische Figur, die für Friedrich geradezu zu einem Grundprinzip geworden ist: die Hyperbel. Man hat früh von seinem hyperbolischen

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Schema gesprochen. In sanftem Bogen senkt sie sich als umflorte Scheide zwischen Hell und Dunkel von links und rechts zur Mitte des Bildes und hinterfängt die Abtei. Die Punkte jedoch, an denen sie an die Bildränder stößt, markieren genau die untere Waagerechte des Goldenen Schnittes. So ist das ganze Bild in eine absolute Ordnung gebracht, die, auch in inhaltlichem Sinn, ohne daß hier darauf einzugehen wäre, die Unordnung des Mönches dialektisch aufhebt. Die Hyperbel nun allerdings, das läßt sich schon jetzt sagen, ist eine überzeugende Metapher für die Unendlichkeit – und zwar aufgrund ihrer mathematischen Definition. Ihre Arme, die bei der Abtei aus dem Bilde herausstreben, nähern sich ihren Asymptoten unendlich an, ohne sie je zu erreichen. So soll es auch, protestantisch gedacht, mit unserem Streben zu Gott sein. Und hier kommt nun Schleiermacher ins Spiel – in verschiedener Hinsicht. Friedrich hatte Mai 1798 die Kopenhagener Akademie verlassen, war in seine Heimatstadt Greifswald gereist, von da nach Berlin, und hielt sich hier offenbar im Juli und August auf. Im September war er dann allerdings schon in Dresden, um dort dauerhaft seinen Wohnsitz zu nehmen. In Berlin kann er eigentlich nur seinen Jugendfreund und Landsmann Reimer aufgesucht haben, der gerade die Langesche Buchhandlung übernommen hatte. Es ist verlockend, sich vorzustellen, beide hätten hier schon Kontakt zu Schleiermacher gehabt, denn im August entwarf Schleiermacher seine Reden Über die Religion, die dann 1799 bei Unger in Berlin erschienen, die überarbeitete zweite Ausgabe von 1806 kam bereits bei Reimer heraus. Und bei diesem Text dürfte es sich um Friedrichs wichtigste Quelle überhaupt handeln. Am 12. September 1810, im übrigen sechs Tage vor Goethe, kam Schleier macher in Friedrichs Dresdner Atelier. Schleiermacher war – wir müssen wohl sagen: unter anderem – in offizieller Mission unterwegs. Am 22. Juni 1810 war er auf Antrag Wilhelm von Humboldts Ordentliches Mitglied der Sektion für den öffentlichen Unterricht im Preußischen Innenministerium geworden. Als solcher war er auch für die Akademien und die Ausstellungen der Akademie der Künste zuständig. Wie die Akten der Akademie vom Juli belegen, kümmerte sich Schleiermacher auch um Einzelheiten der Vorbereitung der Ausstellung des Jahres 1810. Es ist nicht abwegig anzunehmen, daß Schleiermacher nicht nur die Auswahl der Bilder für die Ausstellung bestimmte, sondern auch die allerletzte Überarbeitung des Mönches am Meer, die zu einer völligen Reduktion im Gegenständlichen führte. Denn erst durch die letzte Überarbeitung konnte aus dem Bilderpaar Mönch am Meer und Abtei im Eichwald eine Schleiermacher wie Friedrich befriedigende Antithese werden, befriedigend nicht nur durch ihre Aussage selbst, sondern mehr noch durch die Art ihrer Aussagestiftung. Einstweilen mag es genügen, darauf hinzuweisen, daß Schleiermacher bei aller gelegentlichen Nähe zu Pantheistischem und Mystischem, die auch Friedrich auszeichnete, und trotz seiner engen Vertrautheit mit den frühromantischen Gedanken eines Tieck und Schlegel, mit dem er Weihnachten 1797 in Berlin zusammengezogen war, in einem sich grundsätzlich von allem Pantheismus unterschied – wie auch

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Friedrich. Beide wiesen metaphysische Spekulation zurück und sahen die Essenz des Christentums in einer vollständigen Abhängigkeit von Gott und seiner Gnade. Nicht ein Aufgehen im All oder ein Sichverfließen in die Natur, sondern ein demutsvolles Warten auf Gottes Gnadenerweis entsprach ihrer Grundüberzeugung. Darin unterschieden sich reformierte und lutherische Glaubensüberzeugung nicht. Und auch das Gegensatzpaar Mönch und Abtei dürfte nur vor diesem Horizont zu verstehen sein. Der Mönch steht am Meer und sinnt angesichts des unendlichen Meeres über Gottes unbegreifliche Schöpfung nach, doch sein Nachsinnen eröffnet ihm keine Hoffnung, die Bildordnung verweigert die Hoffnungseröffnung als Erfahrung für den Betrachter. In der Abtei jedoch, trotz Nacht und Schnee, wird gezeigt, wie Hoffnungseröffnung allein zu denken ist: Auf die Kirchenruine zu bewegt sich ein Trauerzug. Hoffnung aber scheint erst nach dem Tode auf, und die abstrakte Bildordnung in ihrer Absolutheit gibt uns einen Vorschein davon. Nun wird man trotz der persönlichen Begegnungen von Schleiermacher und Friedrich, trotz Schleiermachers direkter Involvierung in die Frage der Ausstellung von Friedrichs Mönch am Meer und Abtei im Eichwald in Berlin, auch trotz Schleiermachers Abfassung einer eigenen Ästhetik (1819/25) nicht sagen können, er habe eine besondere Affinität zur bildenden Kunst gehabt. Er konnte offenbar mit Bildern direkt nichts anfangen, all sein Interesse war auf Zwischenmenschliches gerichtet. Die Rolle der Kunst bedenkt er immer nur dann, wenn sie Mittlerfunktion zum Religiösen einnehmen kann. So dürfen wir auch nicht erwarten, in den Reden Genaueres über die bildende Kunst und ihre Prinzipien zu hören. Es geht allein um die Erfahrung des Religiösen. Dieser Erfahrungsprozeß jedoch, der von Schleiermacher in immer neuen Anläufen und sprachlichen Umkreisungen geschildert wurde, konnte für Friedrich von größter Bedeutung sein. Religiöses resultiert für den Schleiermacher der frühen Ausgabe der Reden aus Anschauung und Gefühl. Wahre Anschauung allerdings ist nicht bloße Kenntnisnahme der Dinge und schon gar nicht von dem Ziel getragen, die angeschauten Dinge begrifflich zu fixieren. Zur Erfüllung kommt sie nur, wenn sie übergeht »in ein staunendes Anschauen des Unendlichen«. Das hat verschiedene Konsequenzen. Staunendes Anschauen ist mit Notwendigkeit passiv, so passiv, wie Friedrichs Rückenfiguren es sind. Nicht der Mensch ergreift die Dinge, sondern die Dinge ergreifen ihn; er verharrt in Anschauung und erwartet die Wirkung der Dinge. Sie erfüllen ihn mit religiösem Gefühl. Schleiermacher betont diese einzig denkbare Form der religiösen Erfahrung immer wieder: »[D]ie religiösen Gefühle lähmen ihrer Natur nach die Tatkraft des Menschen und laden ihn zum stillen, hingegebenen Genuß«; »Der Sinn sucht sich Objekte, er geht ihnen entgegen und bietet sich ihren Umarmungen dar«; »Alles Anschauen geht aus von einem Einfluß des Angeschaueten auf den Anschauenden«; »[…] und was Ihr also anschaut und wahrnehmt, ist nicht die Natur der Dinge, sondern ihr Handeln auf Euch«. Besonders an dieser letzten Formulierung wird deutlich, daß Schleiermacher sich intensiv und vor allem kritisch mit Kant auseinandersetzt. Wie Kant geht er in

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Lockescher Tradition davon aus, daß die Dinge ihre Realität nur im Bewußtsein als Wirkende und Wahrgenommene haben. Nach Kant unterliegen sie damit dem Verstand, der sie durch Vergleich in eine logische Ordnung bringt. Dieser Abstraktionsprozeß ermöglicht ihre begriffliche Fassung. Aus ihr resultieren letztendlich Metaphysik und Moral, erste auf Denken, zweite auf Wollen gegründet. Und genau hier greift Schleiermacher ein, indem er einen »schneidenden Gegensatz […] in welchen sich die Religion gegen Moral und Metaphysik befindet«, konstatiert. Das Wesen der Religion »ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl«. Religion will sich vom Einfluß des Universums »in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen«, »was aber darüber hinauswill und tiefer hineindringen in die Natur und Substanz des Ganzen, ist nicht mehr Religion und wird, wenn es doch noch dafür angesehen sein will, unvermeidlich zurücksinken in leere Mythologie«. Das ist vorsichtig formuliert, doch in seiner eigentlichen Bedeutung genommen radikal. Denn mit der leeren Mythologie ist nichts anderes gemeint als die verfaßte Religion mit all ihren verbindlichen Glaubenssätzen. Der Mensch, schreibt Schleiermacher, »soll alles mit Religion tun, nichts aus Religion«. Religion ist nichts Angenommenes, aus Tradition Vermitteltes und Übernommenes, sondern in der Erfahrung Gelebtes. Doch wie ist dies praktisch vorzustellen? Der menschliche Verstand, sagt Schleiermacher, will »zerstückeln und anatomieren« und zerstört damit die Ganzheit, das, was »ein Ganzes ist in sich selbst«. Der Anschauung ist immer nur das Einzelne in seiner eigentümlichen Form zugänglich, in der Versenkung in seine Erscheinung entsteht religiöses Gefühl und damit die Vorstellung von Ganzheit. »Religion haben heißt das Universum anschauen«. So haben wir also eine Doppelbewegung. Die Anschauung nimmt das Einzelne wahr, die vollkommene Kontemplation seiner Eigentümlichkeit hebt es in religiösem Gefühl auf, hebt es aus dem bloßen Zusammenhang der Gegenstände heraus und schlägt es der Unendlichkeit zu, läßt es im Universum aufgehen. Zugleich führt uns die Anschauung des Universums nicht etwa über uns hinaus, vielmehr läßt sie uns die eigene Nichtigkeit erkennen und löst damit Demut aus. Ziel ist es, das Unendliche in uns selbst zu erkennen. Doch, so Schleiermacher, nicht viele sind geschickt, es wahrzunehmen. Sie brauchen einen Mittler, theoretisch kann dies jeder sein, der – und hier bleiben Pietismus und Herrnhutertum für sein Denken wirksam – ein Erweckungserlebnis gehabt hat. Jeder hat sein eigentümliches geistiges Leben und kann erfahren, »wie auf einmal mitten unter dem Endlichen und Einzelnen das Bewußtsein des Unendlichen und des Ganzen sich ihm entwickelt hat«. Damit kann er zum Mittler für andere werden – womit Schleier macher das Laienpriestertum propagiert. Die vierte Rede ist zu einem Gutteil diesem Gedanken gewidmet. »Wo ist denn in dem Allen jener Gegensatz zwischen Priestern und Laien, den Ihr als Quelle so vieler Übel zu bezeichnen pflegt? Ein falscher Schein hat Euch geblendet: dies ist gar kein Unterschied zwischen Personen, sondern nur ein Unterschied des Zustandes und der Verrichtun-

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gen. Jeder ist Priester, indem er die Andern zu sich hinzieht auf das Feld, welches er sich besonders zugeeignet hat und wo er sich als Virtuosen darstellen kann: jeder ist Laie, indem er der Kunst und Weisung eines Andern dahin folgt, wo er selbst Fremder ist in der Religion.« Das führt in der Kunst zu einem, wie Schleiermacher es nennt, »höhern Realismus«. Doch die Gegenstände dieses höheren Realismus sind nicht etwa solche, die das Gefühl am meisten aufregen, sondern diejenigen, gleich wie gering sie sind, die anschauende Vertiefung, d.h. Absorption ermöglichen. Damit argumentiert Schleiermacher deutlich gegen das Sublime: »Nicht im Donner des Himmels noch in den furchtbaren Wogen des Meeres sollt Ihr das allmächtige Wesen erkennen […] diese Empfindungen selbst sind nicht Religion«; »Was in der Tat den religiösen Sinn anspricht in der äußeren Welt, das sind nicht ihre Massen, sondern ihre Gesetze.« Ihre Gesetze, so dürfen wir ergänzen, die eine Ahnung der kosmischen Ordnung hervorbringen: Erst das ermöglicht die Vorstellung der göttlichen Einheit. Und diese Gesetze legt Friedrich seinen Bildern zugrunde. Wie der Hinweis auf die Differenz von Masse und Gesetz, auf das komplexe Verhältnis von Einheit und Vielheit, aber auch die vielfältigen Bemühungen um den Begriff der Unendlichkeit – trotz der Verwandtschaft mit Spinozas Denken – deutlich machen, ist Schleiermacher von der romantischen Verschränkung von Religion, Philosophie und Mathematik nicht unberührt geblieben, ja, er war ganz offensichtlich ein ausgezeichneter Mathematiker. Nicht nur existiert ein unveröffentlichtes Geometrisches Studienheft Schleiermachers im Archiv in Berlin, in dem über Fläche, Raum und Zeit reflektiert und jede Art von Linie als ein dynamisches Gebilde begriffen wird. Er war den Weiterungen der Mathematik, etwa der Interpretation des Bewegungsmotives in Arithmetik und Geometrie – der transzendentalen Mathematik –, die letztlich auf Leibniz und Leonhard Euler zurückzuführen ist, vollkommen gewachsen. Schleiermacher kannte offensichtlich auch die nachgelassenen mathematischen Fragmente von Novalis, denn es ist aller Wahrscheinlichkeit nach so, daß Schlegel ihn an der Herausgabe der Fragmente beteiligt hat. In Schleiermachers Grundlinien einer Kritik der Sittenlehre von 1803 ist ein erster Reflex darauf aufgehoben. Schleiermacher entwickelt hier wie andernorts eine komplexe Zeichenlehre, um durch die Scheidung verschiedener Zeichenarten zu bestimmen, inwieweit die Zeichen der Sprache in rein mathematische Verhältnisse zu überführen sind. In der Kritik der Sittenlehre beschäftigt sich Schleiermacher im Rahmen der Erörterung des mathematischen Funktionsbegriffes vor allem mit geometrischen Kurven bzw. Figuren und mit arithmetischen Reihen. Es dürfte kein Zufall sein, daß Friedrich in einer Fülle von Bildern gerade geometrische Figur und arithmetische Reihe miteinander verschränkt, sie geradezu ein Strukturmodell ergeben, das in der Lage ist, über das Verhältnis von Wirklichem, gegenständlich Einzelnem und transzendentem Unendlichen anschaulich zu reflektieren und die Reflexion dem Beschauer als einen vom Gefühl getragenen Denkraum zu eröffnen. Neben der Hyperbel

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verwendet Friedrich auch andere Kurvenformen, man könnte sie halbe Hyperbeln oder Parabeln nennen; er experimentiert mit ihnen besonders 1818 und verbindet sie zugleich mit dem Prinzip der rhythmischen Reihung, besonders auf kleinen, kaum mehr als 20 x 30 cm großen Seebildern. Das Morgen oder Ausfahrt der Boote (Abb. 5, S. 267) genannte Bild zeigt im Zentrum ein vom Ufer sich entfernendes Boot – sein Mast markiert die Mitte des Bildes. Im Heck sitzt ein altdeutsch gekleidetes Paar, neben sich eine große, nicht zu identifizierende Fahne, zwei Bootsleute führen das Schiff mit einem großen roten Segel. Die Fahne und das altdeutsche Paar mögen auf einen patriotischen Gedanken verweisen. Links vom Schiff staffeln sich am Ufer hohe gegabelte Stangen zum Aufhängen der Netze in die Tiefe, rechts verlieren sich in langer Kette Boote in die Tiefe des Meeresraumes. Die Spitzen der Stangen links, die Maste der Boote rechts bilden eine kürzere und eine längere Kurvatur, wozu gegenläufig die Steine des Vordergrundes, neben denen die Stangen befestigt sind, und vor allem die Bootskörper der sich verlierenden Reihe eine Entsprechung bilden. Da links und rechts gleichermaßen bildparallel aufgehängte Netze erscheinen, hat es bei aller Bewegung eine klare, ansatzweise symmetrische Figur. Die jeweils unteren Bögen der Stangen wie der Boote fußen im Wortsinne in dem großen schwarzen Anker am Ufer, der damit so etwas wie der Fixpunkt des Bildes ist. Ein weiteres Beispiel sei unter diesem Aspekt betrachtet: Friedrichs Frau am Meer (Abb. 6, S. 267), wohl wieder 1818 zu datieren, zeigt eine am Ufer auf einem großen glatten Rügenschen Felsbrocken bildparallel gelagerte Frau, an der eine Kette von links aus der Bucht vor Kap Arkona auf Rügen kommender Boote vorbeizieht, sich dabei mehr und mehr dem Ufer nähernd. Das Kap im Hintergrund, wie könnte es anders sein, markiert genau die Bildmitte. Dem ansteigenden hyperbolischen Bogen der Mastspitzen entspricht nicht nur der abfallende Bogen der Schiffskörper selbst, sondern auch die von links nach rechts leicht abfallende Uferlinie. So wie sich bei dem Ausfahrtbild die Schiffe in der Ferne verlieren, so liegt ihr Ziel auch hier außerhalb des Bildes. Der sehr ungewöhnliche bildparallele Blick der Frau, von den an flachen Stangen hängenden Fischreusen geleitet, führt mit den Schiffen aus dem Bild. Alles geht auf ein Ziel zu, doch ist es nicht benennbar. Ob man Diesseits und Jenseits und zudem den Fels des Glaubens bemühen muß, bleibe dahingestellt, das Nachsinnen über das unbenennbare Ziel ist das eigentliche Thema. Kein Wunder ist es in diesem Zusammenhang sicherlich auch, daß die Horizontlinie, die die Asymptote der beiden Hyperbelzweige bildet, mit der unteren Waagerechten des Goldenen Schnitts zusammenfällt. Sie ist die Unendlichkeitslinie. Es lohnt sich nach diesen Bildbetrachtungen, den mathematischen Gedanken Schleiermachers noch ein wenig nachzugehen, denn sie können die Ineinanderblendung von genau studiertem Naturfragment und abstrakter geometrischer Matrix bei Friedrich besser verständlich machen. Bislang mag der Eindruck entstanden sein, wir verstünden die abstrakte geometrische Form, die Friedrich seinen Bildern zugrunde legt, als eine bloße Metapher der göttlichen Ordnung. Schleiermacher

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kann uns lehren, daß die geometrische Form nicht als ein fixes Bild, als eine statische Figur zu begreifen ist, in dem die Naturversatzstücke ihren definitiven Ort finden, sondern vielmehr als ein dynamisches Gebilde, in dem die Dinge ihren vorläufigen Platz einnehmen. Er ist subjektiv vom Künstler verfügt, markiert ein momentanes Verhältnis von Ding und Ordnung, das in einem anderen Erfahrungsmoment anders ausfällt. Das jeweilige Bild bestimmt dieses Verhältnis neu, ist also immer nur Entwurf, von der Hoffnung getragen, einem definitiven Verhältnis von Ding und Ordnung, von Natur und Gott schrittweise näher zu kommen, und zwar durchaus in dem Bewußtsein, daß dieses Ziel nie erreicht werden kann. Im einzelnen: Schleiermacher stellt sich den Menschen zeitlebens in seinem Denken, Fühlen und Handeln als auf dem Wege vor, etwa in der Christlichen Sittenlehre (1826/27) auf dem richtigen oder falschen Wege zur absoluten Seligkeit oder zur absoluten Sünde. Die Extreme werden nie erreicht, die Annäherung – und hier kommt die Mathematik ins Spiel – geschieht nur asymptotisch. Die jeweilige Situation des Menschen auf seinem Wege läßt sich konsequenterweise mit der Figur der Parabel verdeutlichen. Seine Energie, die Beschaffenheit seines religiösen Bewußtseins, führt den Menschen fort auf dieser Kurve, Stillstand ist nur im Tode. Schleiermacher ist überzeugt davon, daß Gott nur an seinen Werken erkannt werden kann und daher auch nur in seinen Werken, in der Natur, darstellbar ist, also mittelbar. Die Werke haben ihr Objekt im Endlichen, der Wirklichkeit, und bedürfen der Einbindung in eine verweisende höhere, aber abstrakte Ordnung, die der Mittler auf der Basis seines religiösen Affiziertseins vorschlägt. Das Affiziertsein gibt ihm eine Ahnung des Unendlichen. Und zur Verbildlichung dieser Ahnung drängt sich Schleiermacher die mathematische Analogie auf; sie kann das Verhältnis von Einzelnem und Ganzem in seiner permanenten Bewegung vorführen. Da der Mittler, der religiös Affizierte, das Werden seines (religiösen) Bewußtseins verspürt – so schon in Schleiermachers Reden –, drängt es ihn, es in seinem jeweiligen Stande zu entäußern; dazu bedarf er der Gegenstände der Wirklichkeit. Aber die Versenkung ins einzelne Wirkliche ermöglicht die Vorstellung des Ganzen, das allein im mathematischen Bild adäquat zu fassen ist. Der Vorgang ist mathematischer Analysis zu vergleichen. Die Linie einer geometrischen Figur ist das Ergebnis des Zusammenfließens einer Vielzahl von Einzelpunkten, die ihrem Gesetz, ihrer mathematischen Funktion folgen. Wie Schleiermachers Geometrisches Studienheft deutlich macht, folgt er bei dieser Vorstellung der Bildung der geometrischen Figuren unmittelbar Eulers Analyse der »Funktionen krummer Linien«, womit dieser das Prinzip der Bewegung in Arithmetik und Geometrie integriert, selbst wenn Leibniz dem vorgearbeitet hatte. Dem analytischen Zweig der Mathematik geht es um die Berechnung variabler Größen, ob nun in geometrischen Kurven oder in arithmetischen Reihen. Machen wir uns klar, daß in Friedrichs Serie kleiner Seebilder mit gestaffelten Schiffen arithmetische Reihe und geometrische, dreidimensional raumgreifende Figur miteinander verschränkt sind, zudem aber Anfang und Ende von Reihe und Figur nicht angegeben sind, die Figuren somit über das

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Bild hinaus tendenziell unendlich fortsetzbar erscheinen, dann wird der Gedanke unausweichlich, daß Friedrich die mathematische Analyse nutzt, um den Weg des Menschen als fortschreitende Bewußtwerdung des Göttlichen zu veranschaulichen. Der die Bilder Betrachtende erfährt die abstrakte Figur als Verweis auf Göttliches und hat sich in ein Verhältnis zu ihr zu setzen. Es wird ihm nahegelegt, dies anhand des Bildes zu tun, das damit selbst als Mittler auftritt. In seiner Kritik der Sittenlehre von 1803 verbindet Schleiermacher Ethik und Mathematik, in seiner Dialektik (1811, 1814/15) Denken und Mathematik. 1803 bittet ihn sein Freund und Verleger Reimer um den Entwurf einer Titelvignette für seine Sittenlehre, die die »moralischen Prinzipien sehr gut ausdrückt«. Schleiermacher schlägt ineinandergeschachtelte Ellipsen vor, deren Brennpunkte gegeneinander verschoben erscheinen. Die Funktion also bleibt gleich, wenn auch der Parameter sich ändert. Fallen die Brennpunkte zusammen, entsteht die absolute Form des Kreises, und die Funktion ist eine andere. Wieder thematisieren die ineinandergeschachtelten Ellipsen die unendlich Annäherung oder die unendliche Entfernung von der Kreisform, die hier für das Absolute einstehen kann. Relative Annäherung ist möglich, ein gänzliches Ankommen nicht. Die allerwichtigste Form für Schleiermacher ist jedoch die Hyperbel; sie ist das überzeugendste mathematische Äquivalent für den Weg zu ethischer Vervollkommnung. Philosophisch gesehen, kreist Schleiermachers Sittenlehre um die Idee des höchsten Gutes. Die Idee existiert und ist dennoch ungreifbar, nur die unendliche Annäherung ist möglich. Die mathematische Formel, aus der Funktion der Kurve geboren, gibt nun die Möglichkeit, unzählige Punkte auf derselben zu bestimmen; ebenso ist es mit dem ethischen Gesetz. Warum nun aber ist es gerade die Hyperbel, die für Schleiermacher und eben auch für Friedrich die wichtigste Figur abgibt? Zum einen sind Ellipse, Parabel, Hyperbel, die Schleiermacher und Friedrich bedenken, Kegelschnittfunktionen. Ihren Zusammenhang konnte die Infinitesimalgeometrie darstellen, indem sie mathematisch das Hervorgehen der einen aus der anderen Form zu berechnen vermochte. Zum anderen – und dies leistet Schleiermacher in seiner Dialektik – ist gerade die Hyperbel in der Lage, die Göttlichkeit der Figur zu bezeugen. Ihren Brennpunkt nämlich versteht Schleiermacher als die transzendentale Idee Gottes, die alle Denkbewegungen auf der Bahn der Hyperbelzweige bestimmt, selbst sich aber der Erkenntnis entzieht. Sie ist die wirkende Kraft, in deren Gravitationsfeld sich die Kurve entfaltet. Erneut sind allein asymptotische Annäherungen an die Idee Gottes möglich, wobei, wie Schleiermacher in der Dialektik bestimmt, der eine Ast der Asymptote auf die absolute Einheit, der andere auf die absolute Vielheit verweist. Die absolute Einheit meint Gott, die absolute Vielheit die Welt, und wieder bietet sich die Übertragung auf Friedrichs Bilder an. Bei seinem hyperbolischen Schema ist die deutlicher markierte Hyperbel dem Himmelsraum eingeschrieben, sie führt über die Bildränder in die Unendlichkeit und kann im Sinne Schleiermachers auf die Idee Gottes verweisen. Das Gravitationsfeld, das die Hyperbel bestimmt, ist bei Friedrich häufig durch Sonne oder Mond besetzt und damit als göttlich bezeichnet.

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Die zweite Hyperbel am Boden, zumeist schwächer ausgeprägt, faßt die Vielfalt der Welt; man könnte sie als abgetöntes Spiegelbild der Himmelsfigur begreifen. Nachdrücklich ist darauf hinzuweisen, daß der Begriff der Einheit, die als transzendente Einheit Gott meint, für Schleiermacher mathematisch zu verstehen ist und dabei nicht als Bestimmung eines statischen Zustandes gelten kann, sondern dynamisch gedacht wird. Das einheitliche Prinzip zeigt sich in zwei Formen der Progression: als arithmetische in ›zählenden Reihen‹ und als geometrische in ›steigenden Reihen‹. Arithmetische und geometrische Reihe mitsamt der ihnen innewohnenden stetigen Bewegung auf ein nie zu erreichendes Ziel hin machen nicht selten auch in ihrer Verschränkung die Friedrichschen Bildfiguren aus. Sie zeugen somit von seinem in jedem Bild erneuerten Versuch, der Idee Gottes, wie sie sich in der Natur offenbart, näherzukommen. Für den Künstler scheint diese Idee im Prozeß des Malvollzuges auf, für den Betrachter im Prozeß des Nachvollzuges des Malprozesses. Dies ist auch der Prozeß des Nachvollzuges der bei Friedrich möglichen Sinnstiftung, und Schleiermacher hat ihm dafür offensichtlich Anleitung geben können.

Caspar David Friedrich und Friedrich Schleiermacher

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Abb. 1: Caspar David Friedrich: Der Mönch am Meer, 1808–1810, Öl auf Leinwand, Berlin, Nationalgalerie.

Abb. 2: Caspar David Friedrich: Die Abtei im Eichwald, 1809–1810, Öl auf Leinwand, Berlin, Nationalgalerie.

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Abb. 3: Caspar David Friedrich: Das Zickersche Höft (recte: Lobber Großer Strand), 1801, Feder, mit Bleistift quadriert, Hamburger Kunsthalle. Abb. 4: Caspar David Friedrich: Studie einer Eiche, 1809, Federzeichnung, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum.

Rechte Seite



Abb. 5: Caspar David Friedrich: Morgen (Ausfahrt der Boote), um 1816/18, Öl auf Leinwand, Hannover, Landesmuseum. Abb. 6: Caspar David Friedrich: Frau am Meer, um 1818, Öl auf Leinwand, Winterthur, Sammlung Oskar Reinhart.

Caspar David Friedrich und Friedrich Schleiermacher

쑶 Abb. 5

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쑴 Abb. 6

ANSCHRIFTEN DER AUTOREN

Dr. Bernd Blaschke Freie Universität Berlin Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Hüttenweg 9 14195 Berlin [email protected]

PD Dr. Angelika Malinar Freie Universität Berlin Institut für Indische Philologie Königin-Luise-Straße 34a 14195 Berlin [email protected]

Prof. Dr.Werner Busch Freie Universität Berlin Kunsthistorisches Institut Koserstr. 20 14195 Berlin [email protected]

Prof. Dr. Gert Mattenklott Freie Universität Berlin Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Hüttenweg 9 14195 Berlin [email protected]

PD Dr. Friedrich Geiger Freie Universität Berlin Sfb 626 Altensteinstr. 2-4 14195 Berlin [email protected]

Prof. Dr. Herbert Molderings Ruhr-Universität Kunstgeschichtliches Institut Universitätsstr. 150a 44801 Bochum [email protected]

Prof. Dr. Alois Hahn Universität Trier FB IV – Soziologie 54286 Trier

Dr. Brigitte Obermayr Freie Universität Berlin Sfb 626 / Altensteinstr. 2-4 14195 Berlin [email protected]

apl. Prof. Dr. Matthias Jung Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. Institut für Philosophie Grüneburgplatz 1 60629 Frankfurt/M. [email protected]

apl. Prof. Dr. Helmut Pape Otto-Friedrich-Universität Bamberg Fakultät Pädagogik, Philosophie, Psychologie Markusplatz 3 96045 Bamberg [email protected]

Dr. Michael Lüthy Freie Universität Berlin Sfb 626 Altensteinstr. 2-4 14195 Berlin [email protected]

Prof. Dr. Renate Schlesier Freie Universität Berlin Institut für Religionswissenschaft Altensteinstr. 40 14195 Berlin [email protected]

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Anschriften der Autoren

Prof. Dr. Arbogast Schmitt Philipps-Universität Marburg Seminar für Klassische Philologien Wilhelm-Röpke-Str. 6d 350372 Marburg [email protected] Prof. Dr. Martin Seel Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. Institut für Philosophie Grüneburgplatz 1 60629 Frankfurt/M. [email protected]

PD Dr. Martin Vöhler Freie Universität Berlin Sfb 626 Altensteinstr. 2-4 14195 Berlin [email protected]