Urteil und Erfahrung: Kants Theorie der Erfahrung. Erster Teil 9783666230134, 9783647230139, 9783525230138

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Urteil und Erfahrung: Kants Theorie der Erfahrung. Erster Teil
 9783666230134, 9783647230139, 9783525230138

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Rainer Enskat

Urteil und Erfahrung Kants Theorie der Erfahrung Erster Teil

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-23013-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

[In der Kritik der reinen Vernunft] wird die Erfahrung als ein Rätsel aufgegeben Hermann Cohen

Was das Studium einer tiefen Philosophie so sehr erschwert, ist, daß man im gemeinen Leben eine Menge von Dingen für so natürlich und leicht hält, daß man nicht glaubt, es wäre gar nicht möglich, daß es anders sein könnte; [...] Wenn ich sage: dieser Stein ist hart […] so ist dieses ein solches Wunder von Operation, daß es eine Frage ist, ob bei Verfertigung manches Buches so viel angewandt wird. […] Diese leichten Dinge schwer zu finden, verrät keinen geringen Fortschritt in der Philosophie. Georg Christoph Lichtenberg

Hier läßt sich der Zweifel [ob Erfahrung sichere Kriterien der Unterscheidung von Einbildung bei sich führe] nun leicht heben und wir heben ihn auch jederzeit im gemeinen Leben Kant

Inhalt

Einleitung Von der Fruchtbarkeit der Erfahrung zu den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1. Inwiefern der Mensch in die Welt paßt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2. Inwiefern ein Selbst- und Weltvertrauen des Menschen berechtigt ist 31 3. Wissenschaftstheoretische und ontologische Mißverständnisse der Theorie der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 4. Die Paradoxie der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 5. Die Entdeckung des Leitfadens einer Entdeckung . . . . . . . . . . . . 70 6. Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins? . . . . . . . . . 85 Dimensionen des Urteilsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

7. Logische Einheit und alogische Vielheit: Form, Funktion und Feld der reinen und ursprünglichen Apperzeption 103 8. Die kognitive Mikrozeitlichkeit des Urteils: Die Drei-Synthesen-Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 9. Eine kleine Protologik von Gegenstandsbegriffen . . . . . . . . . . . . 182 10. Das elementarlogische Know-how: Die Urteilsfunktionen . . . . . . . 191 10.1 Stand der Forschung – Kritik und Fortsetzung . . . . . . . . . . . . 191 Exkurs über formale und transzendentale Anthropologie der Erfahrung . . 214 10.2 Mit Reich gegen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 10.3 Das System der Urteilsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Dimensionen des Urteilsgegenstandes I  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

11. Die urteilsfunktionalen Kategorien: Die metaphysische Deduktion der Kategorien . . . . . . . . . . . . . . 251 12. Abschluß und Übergang: Von den urteilsfunktionalen Kategorien zu den Gebrauchsbedingungen der Kategorien . . . . . . . . . . . . . . 272

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Inhalt

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

Einleitung Von der Fruchtbarkeit der Erfahrung zu den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung

1. Inwiefern der Mensch in die Welt paßt Am Ende des Dezenniums, an dessen Anfang Kant beginnt, die ersten systematischen Resultate seines kritischen Geschäfts zu veröffentlichen, sieht er sich veranlaßt, eine terminologische Prägung einzuführen, die aus einem tiefgehenden und weitreichenden Gedanken hervorgegangen ist. Den Anlaß für diese Prägung bildet eine paradoxe Entdeckung. Sie eröffnet die Möglichkeit, die Struktur eines Typs von Urteilen zu analysieren, die auf einen Legitimationsgrund zurückgeführt werden können, der in einer Emotion besteht. Doch diese Emotion ist von einer Art und von einem Grad von Reinheit, so daß diesen Urteilen durch diesen Legitimationsgrund und trotz dessen Emotionalität sogar die Eigenschaft verliehen wird, Urteile a priori, also nicht-empirisch fundierte Urteile zu sein.1 Dies sind die reinen Geschmacksurteile über das Schöne individueller Entitäten der Natur wie z. B. über das Schöne eines Exemplars der Tulpe.2 Die Tiefenstruktur dieser Urteile unterzieht Kant in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft einer außerordentlich komplexen systematischen Analyse, obwohl diese Urteile mit fast schon rührender Einfachheit in der grammatischlogischen Standardform Dies ist schön sprachliche Gestalt annehmen können. Da solche Urteile wegen ihres exzeptionellen emotionalen Gehalts und Legitimationsgrundes aber keinerlei Erkenntnisse enthalten, obwohl sie an­gesichts ihrer grammatisch-logischen Oberflächenform immer noch im konventionellen Sinne Urteile sind, verweisen sie auf eine präkognitive Dimension der urteilenden Subjektivität.3 Daher sieht Kant sich veranlaßt, die terminologische Rede von den Erkenntnisurteilen einzuführen, um diesen kognitiven Urteilstyp trennscharf genug vom neu entdeckten emotionalen Urteilstyp der reinen Ge1 Daß die Apriorität eines Urteils vor allem eine Eigenschaft des Grundes ist, auf dem seine Wahrheit beruht, und in diesem indirekten Sinne dann auch eine Eigenschaft des Urteils selbst, dessen Wahrheit auf einem solchen Grund beruht, zeigt V, 221. 2 Vgl. V, 215. 3 Vgl. hierzu vor allem Wolfgang Wieland, Urteil und Gefühl. Kants Theorie der Urteilskraft, Göttingen 2001.

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Einleitung

schmacksurteile über das Schöne abgrenzen zu können.4 Wohl bietet diese terminologische Neuprägung durch ihren lexikalischen Gehalt keine neue sachliche Information. Denn Kant hat noch ganz unabhängig von den Analysen der Dritten Kritik zu bedenken gegeben: »Alle Erkenntnis besteht in Urteilen«.5 Sogar die gesamte Analyse der nicht-kognitiven reinen Geschmacksurteile wird daher noch am Leitfaden der klassischen vier formallogischen Urteilsdimensionen der Relation, der Quantität, der Qualität und der Modalität durchgeführt. Bedeutsam wird die terminologische Neuprägung ausschließlich durch den strukturellen Abgrenzungsbedarf, auf den Kant durch die Entdeckung des präkognitiven, emotionalen und gleichwohl apriorischen Legitimationsgrundes der reinen Geschmacksurteile aufmerksam geworden ist. Sie hat ihm die Augen für die lange verborgen gebliebene Einsicht geöffnet, daß nicht umgekehrt alles Urteilen in Erkenntnissen besteht. Mit seinen Analysen des paradoxen Legitimationsgrundes der reinen Geschmacksurteile signalisiert Kant überdies das endgültige innere Ende jener »dornigen Pfade der Kritik«,6 auf denen er fast drei Jahrzehnte lang in verwickelten formalen und materialen Analysen von Produkten der Urteilskraft der Frage nachgegangen ist, »was denn dasjenige für eine geheime Kraft sei, wodurch das Urteilen möglich wird«.7 Durch sein Zutrauen in die methodische Fruchtbarkeit dieser anfänglichen Frage nach einer solchen Kraft hat Kant indessen auch von Anfang an sogleich eine Dimension des Urteilens ins Auge gefaßt, zu der die Philosophie unserer Tage nur mit spürbarem Zögern einen von methodologischem und sachlichem Zutrauen gefaßten Zugang findet. Es ist indessen diese Dimension, deren Binnendifferenzierung Kant durch die schrittweise Arbeit der nachfolgenden fast drei Jahrzehnte als die transzendentale Dimension des Urteilens analysiert hat: »Das Wort transzendental bedeutet bei mir […] eine Beziehung […] nur aufs Erkenntnisvermögen«.8 Seine frühe Frage nach der geheimen Kraft, durch die das Urteilen möglich wird, ist daher gleichzeitig und zumindest im Rückblick auch Kants erste transzendentale Frage avant la lettre. Die scheinbare Differenz zwischen dem Erkenntnisvermögen und der Kraft, durch die das Urteilen möglich wird, wird indessen offensichtlich restlos durch seinen Gedanken aufgehoben, daß alle Erkenntnis in Urteilen besteht. Denn sofern das Wort 4 Vgl. V, 209. 5 R 4638. 6 B XLIIII; vgl. auch IV, 367. 7 II, 60; zur Fokussierung auf dieses Diktum vgl. vom Verf., Die Aufklärung der Urteilskraft, in: E. Donnert (Hg.), Europa in der frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 6: Mittel-, Nord- und Osteuropa, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 215–228; zur systematischen Erörterung der Tragweite dieses Diktums für Kants Philosophie, vgl. vom Verf., Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft, Weilerswist 2008, bes. S. 523–624. 8 IV, 292.

Inwiefern der Mensch in die Welt paßt Inwiefern der Mensch in die Welt paßt

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transzendental bei Kant eine Beziehung nur auf das Erkenntnisvermögen hat, hat es daher im selben Sinn stets auch eine Beziehung nur auf das Urteilsvermögen bzw. auf die Urteilskraft. Welche außerordentliche systematische Tragweite Kants Zutrauen in die methodische Tragweite der Frage nach dem Geheimnis der Urteilskraft mit sich gebracht hat, kann leicht eingeschätzt werden: Die Schlußstücke der Analytiken sowohl der Ersten wie der Zweiten Kritik behandeln Möglichkeiten und Grenzen der theoretischen bzw. der praktischen Urteilskraft; und den inneren Abschluß des »kritische[n] Weg[s]«9 bildet schließlich sogar eine Kritik der Urteilskraft.10 Eine besonders wichtige Tragweite, die die beständige transzendentale Orientierung Kants für die Arbeit am Urteilsproblem mit sich bringt, besteht unter diesen Voraussetzungen daher auch darin, daß sie die Arbeit an der Klärung von logischen Strukturen des Urteilens von Anfang an um eine Dimension erweitert, die in der bis heute mit Erfolg kultivierten methodischen Tradition der Logik nahezu planmäßig ausgeblendet bleibt  – um die Dimension der Fähigkeiten, Vermögen, Fertigkeiten und Kompetenzen, die ihre Inhaber zum Urteilen in bestimmten logischen und in bestimmten gegenstandsorientierten Formen disponieren. Wie die Texte aller drei Kritiken auf Schritt und Tritt zeigen, ist das ans Hyperkomplexe grenzende Format von Kants Theorien nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, daß er beständig darauf bedacht ist, die Aufmerksamkeit auf die Verflechtungen zwischen den Elementen dieser beiden Dimensionen wachzuhalten – also auf die Verflechtung zwischen den logischen Elementen der Urteilsstrukturen und den Vermögen, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Subjektivität, von denen bzw. von deren Gebrauch für ihre Inhaber das Gelingen – aber auch das Mißlingen – von Urteilen mit den entsprechenden logischen und gegenstandsorientierten Strukturen abhängt. Es ist sogar Kant selbst inmitten seiner Arbeit an diesen Theorien nicht immer leicht gefallen, den springenden Punkt mit der größtmöglichen Knappheit zu markieren, auf den es für das sachliche und das methodische Verständnis der komplizierten systematischen Bezüge zwischen diesen beiden Dimensionen und ihren korrespondierenden Elementen unmittelbar ankommt. Erst in der wichtigen langen Fußnote der Vorrede der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft trifft er mit der hier mitgeteilten Arbeitsdefinition des Urteilsbegriffs diesen Punkt, indem er sich an »der genau bestimmten Definition eines Urteils überhaupt« orientiert und es als »eine Handlung« auffaßt, »durch die gegebene Vorstellungen zuerst Erkenntnisse eines Objekts werden«.11 Einen 9 A 856, B 884. 10 Die Metaphysik der Sitten, die in buchtechnischer Hinsicht zweifellos den Abschluß dieses Wegs bildet, gehört indessen noch in die doktrinal-metaphysische Obhut der Zweiten Kritik. 11 IV, 475*, Kants Hervorhebung; zu weiteren Einzelheiten und zur methodischen und systematischen Rolle dieser Arbeitsdefinition vgl. unten S. 106–111, bes. 119 f., 127 f.

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Einleitung

der zentralen Handlungscharaktere des Urteils hebt Kant am deutlichsten dadurch hervor, daß er auf eine spezifisch subjektive, die temporale Auffassungsform des Handlungscharakters des Urteils verweist: »Nun ist in jedem Urteil subjektiv eine Zeitfolge«.12 Das urteilende Subjekt kann also von den Vorstellungen, speziell von den Begriffen, von denen es auch im Sinne der Arbeitsdefinition des Urteilsbegriffs Gebrauch macht, stets nur nach und nach, also in sukzessiver Form Gebrauch machen, und zwar auch in dem in logischer Hinsicht elementarsten Fall eines kategorischen Urteils, in der Subjekt-Prädikat-Form.13 12 XX , 369. Diese These erweist sich bei genauerem Hinsehen als die Hauptthese von Kants Konzeption des inneren Sinns, vgl. hierzu unten S. 91, Anm. 260. Auch Michael Wolff, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel. Mit einem Essay über Freges Begriffsschrift, Frankfurt/M. 1995, scheint diese temporale Form der Urteilsakte zu berücksichtigen, vgl. S. 22ff; Beatrice Longueness, Kant on the Human Standpoint, Cambridge 2005, bestreitet eine Berücksichtigung einer temporalen Form dieser Handlungen, vgl. S. 93 ff. Zu Kants minutiöser Analyse der Zeitlichkeit des Urteilsakts vgl. jedoch unten 8.  Ab. René Descartes, Meditationes de prima philosophia (16411), wieder abgedr. in: ­Œuvres de Descartes. Publiées par Ch. Adam et P. Tannery. Nouvelle présentation, en co-édition avec le Centre National de la Recherche Scientifique, vol. VII, Paris 1964, S. 1–90, rekurriert implizit auf eine temporale Form des Akts des Denkens, wenn er meditiert: »[…] ego sum, ego existo, certum est. Quandiu autem? Nempe quandiu cogito«, Med. II, sect.6; zu den Begriffen des Denkens und des Urteilens bei Descartes und Kant vgl. unten S. 31, Anm. 96. In den Logik-Erörterungen unserer Tage wird diese temporale Dimension nur sehr selten einmal und dann auch nur bei sehr speziellen thematischen Gelegenheiten berücksichtigt. An prominenter Stelle findet sich eine solche Berücksichtigung bei Willard V. Orman Quine, Word and Object (19601), Cambridge, Mass. 1973, bei Gelegenheit der Erörterung der Frage, wie man die Grenzen der Zeitspanne bestimmen kann, die durch die Verwendung der temporalen Situationsvariable »now« in satzförmigen Äußerungen angedeutet wird: »One possible answer […] would be to construe the temporal boundaries as those of the shortest utterance of sentential form containing the utterance of ›now‹ in question«, S. 1735. Obwohl Quine gewiß nicht ein typischer Sprechakttheoretiker ist, hat er mit der Bindung des zeitlichen Formats indexikalischer sprachlicher Äußerungen an deren sentential form einen Logik-Aspekt fruchtbar gemacht, der ganz allgemein für die Analyse sprachlicher Äußerungen, also von Sprechakten fruchtbar ist; vgl. unten S. 12, Anm. 13. Zu einer ausdrücklich sprechakt-theoretisch orientierten, aber theoretisch unterbelichteten Behandlung der temporalen Form eines Urteilsakts durch einen eminenten Sprechakttheoretiker wie John Searle vgl. unten S. 176, Anm. 226. Zur Berücksichtigung der temporalen Form speziell von mentalen Urteilsakten vgl. auch unten S. 13, Anm. 15. Gottfried Seebaß, Das Problem von Sprache und Denken, Frankfurt/M. 1981, behandelt S. 339–349 ausführlich das Thema Kurze Dauer von Denkleistungen, vgl. hierzu unten S. 131, Anm. 96. Zu Kants Analyse der kognitiven Mikrozeitlichkeit des Urteilsakts vgl. unten 8. Ab. Zu der für den Handlungscharakter des Urteils zentralen Bedingung der Spontaneität vgl. unten S. 158–159. 13 Zu Recht macht daher Wieland, Urteil, darauf aufmerksam, daß Kant signifikant häufig in der den Vollzugscharakter des Urteils akzentuierenden substantivierten Verbalform vom Urteilen spricht und nicht ausschließlich in der den Resultat- oder Erfolgscharakter des Urteils akzentuierenden Nominalform vom Urteil, vgl. S.  88 f. Das reine Geschmacksurteil ist daher in der sprachlichen, grammatischen und logischen Standard-

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Mit dem Handlungscharakter des Urteils hat Kant daher auch einen Angelpunkt zwischen logischer Analyse der Urteilsstruktur und transzendentaler Analyse des Erkenntnis- bzw. Urteilsvermögens getroffen, dessen Tragfähigkeit, Wichtigkeit und Tragweite für Kants Philosophieren man schwerlich wird überschätzen können. Denn nur mit Blick auf Handlungen oder Akte des Urteilens kann man überhaupt sinnvoll nach den Vermögen, Fähigkeiten, Kompetenzen und den anderen subjektiven oder personalen dispositionellen Attributen fragen, von deren Gebrauch für ihren Inhaber die Möglichkeit abhängt, Urteilsakte in solchen Formen zu vollziehen, daß sie in diesen  – und nur in diesen – logischen Formen Erfolge vom Typus der Erkenntnis, insbesondere der Erfahrungserkenntnis erzielen. Da ein Subjekt von diesen seinen Vermögen, Fähigkeiten und Kompetenzen unter Umständen aber auch in mehr oder weniger mißglückten Formen Gebrauch machen kann, können die Urteilsakte, deren es insbesondere auf der Linie seiner Erkenntnisbeflissenheit fähig ist, ebenfalls in Fehlschläge münden. Ganz allgemein kann man nur mit Blick auf Handlungen sinnvoll von Erfolgen und von Mißerfolgen sprechen, die man durch sie erzielt bzw. sich einhandelt – im Fall der Erkenntnisurteile also wahre bzw. falsche Urteile oder Erkenntnisse bzw. Irrtümer. Gewiß knüpft Kant mit der Exposition dieser Handlungskomponente des Urteils auch an eine Tradition der Logik nicht nur seiner unmittelbaren Vergangenheit an. So behandelt Christian Wolff, der »größte […] unter allen dogma­ tischen Philosophen«14, die klassische Triade von Begriff, Urteil und Schluß im Ersten Kapitel seiner lateinischen Logik von 174015 unter der Überschrift De ­tribus mentis operationibus in genere16 und definiert speziell das Urteil als eine »actio mentis«.17 Doch ganz unbeschadet dieser Tradition fällt der Orientierung am Handlungscharakter des Urteils im Rahmen von Kants Theorie eine ganz andere Bedeutsamkeit zu. Denn sie bildet nicht mehr und nicht weniger als den zentralen systematischen Verknüpfungspunkt in dem erstmals von Kant strikt differenzierten Spannungsfeld zwischen der logischen Analyse des Urteils und der transzendentalen Analyse von Vermögen, Fähigkeiten und Kompetenzen form Dies ist schön gerade in seiner temporalen Vollzugsform auch im Sinne von Quines Kriterium der sentential form,vgl. oben S. 12, Anm. 12, ein Musterbeispiel für einen sehr kurzen Urteilsakt. 14 B XXXVI. 15 Christian Wolff, Philosophia rationalis sive logica methodo scientifica pertracta. E ­ ditio tertia, Frankfurt und Leipzig 1740. Zu einer zeitgenössischen Konzeption von mentis operationes vgl. Peter Geach, Mental Acts, Bristol 1971; Geach konzipiert den zentralen mental act von Anfang an als judgement, vgl. S. 7 f., und berücksichtigt dessen temporale Form ebenso von Anfang an als einen Grundcharakter solcher Akte, vgl. S. 9 f. sowie 104 f. Allerdings vernachlässigt Geach den von Quine, vgl. oben S. 12, Anm. 12, so scharfsinnig berücksichtigten Aspekt der logischen Form von mental acts. 16 Wolff, Philosophia, S. 125. 17 129.

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Einleitung

für das erfolgsbeflissene und erfolgsträchtige Urteilen in bestimmten logischen und gegenstandsorientierten Formen. Und da Kant das Urteil in seiner Arbeitsdefinition des Urteilsbegriffs unter den Begriff der Handlung subsumiert, bildet der Begriff der Handlung sogar innerhalb seiner Theoretischen Philosophie den Grundbegriff. Die Handlungskomponente ist der kognitiven Erfolgs- bzw. Mißerfolgskomponente des Urteils – Erkenntnis bzw. Irrtum – übergeordnet. Urteile sind spezielle Formen von Handlungen.18 Die von Kant planmäßig berücksichtigte strikte Verflechtung zwischen ­logisch analysierbaren Urteilsstrukturen und transzendental analysierbaren Urteils- bzw. Erkenntnisvermögen haben für die Untersuchungen der Dritten Kritik eine auf den ersten Blick irritierende Form angenommen. Zwar hat sich Kant zur terminologischen Neuprägung der Erkenntnisurteile gerade durch die Einsicht in die nicht-kognitive, emotionale Tiefenstruktur der reinen Geschmacksurteile veranlaßt gesehen. Dennoch sind seine Analysen dieser Tiefenstruktur nicht zuletzt deswegen so komplex ausgefallen, weil an ihnen wieder‑ um sowohl logische Analysen der formalen Binnenstruktur dieser Urteile wie transzendentale Analysen der diese Struktur mitbestimmenden Urteils- bzw. Erkenntnisvermögen beteiligt sind. Es kann daher auf den ersten Blick einen Eindruck von Widersprüchlichkeit erwecken, wenn Kant zu dem Ergebnis kommt, daß an der von ihm durchsichtig gemachten nicht- bzw. präkognitiven Tiefenstruktur der reinen Geschmacksurteile gleichwohl Erkenntnisvermögen beteiligt sind. Doch die Konsistenz des so formulierten Resultats seiner Analysen kann leicht eingesehen werden, wenn man berücksichtigt, daß die Erkenntniskräfte an dieser nicht- bzw. präkognitiven Struktur in einem außerordentlichen Modus beteiligt sind: Sie erschöpfen sich in einem harmonischen Spiel, das durch seinen harmonischen Charakter in einem auf keine andere Weise sonst realisierbaren Modus am günstigsten für die Erkenntnis-überhaupt ist.19 18 Insofern leitet Kant mit Hilfe dieser Arbeitsdefinition des Urteilsbegriffs sogar in eine ganze Theorie speziell des urteilenden und allgemein des mentalen Handelns ein; vgl. hierzu unten 8. Ab. Man würde daher einem gravierenden Mißverständnis zum Opfer, fallen wenn man den kausaltheoretischen und konsequentalistischen Begriff unserer alltäglichen leibhaftigen Handlungen inmitten einer körperhaften und von Zustandsänderungen geprägten Welt mit Kants nicht-konsequentalistischem Handlungsbegriff verwechseln würde. Kant charakterisiert Handlungen im Rahmen der Zweiten Analogie als »Verhältnis des Subjekts der Kausalität zur Wirkung«, A 205, B 250. Handlungen sind im Licht von Kants Theorie also als solche Wirkungen des Subjekts der Kausalität. Mentale Handlungen können und müssen indessen vollständig durch spezielle formale, logische und temporale sowie gegenstandsreferentielle Vollzugscharaktere erfaßt werden, durch die sie gerade als mentale Handlungen charakterisiert sind. Einige klärende Bemerkungen hierzu bietet sowohl Volker Gerhardt, Handlung als Verhältnis von Ur­sache und Wirkung, in: G. Prauss (Hg.), Handlungstheorie und Transzendentalphilo­sophie, Frankfurt/M. 1986, S.  98–131, wie Rüdiger Bittner, Handlungen und Wirkungen, in: dass., S. 13–26. 19 Vgl. V, 238 f.

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Durch den Spielcharakter dieses Modus sind die Erkenntniskräfte daher in einer einzigartigen Weise radikal gerade von allen Erfolgsintentionen suspendiert, die die Subjektivität in allen anderen Fällen ihres Urteilens mit Hilfe ihrer Erkenntniskräfte verfolgt. Im reinen Geschmacksurteil über ein schönes Ding der Natur erschöpfen sich die Erkenntniskräfte in der Selbstgenügsamkeit der von der Subjektivität empfundenen Harmonie eines intentionslosen und daher auch erfolgsindifferenten Spiels. Die Einsicht in diese einzigartige Selbstgenügsamkeit des ästhetisch vermittelten Spiels der Erkenntniskräfte ist daher genauso widerspruchsfrei das transzendentale Gegenstück zu den logischen Analysen des reinen, präkognitiv fundierten Geschmacksurteils wie Kants logische Analysen der Erkenntnisurteile und seine transzendentalen Analysen des erfolgsorientierten Gebrauchs der Erkenntniskräfte einander widerspruchsfrei ergänzen. Doch die logischen und die transzendentalen Analysen, mit deren Hilfe Kant die nicht-kognitiv fundierten Urteile über das Schöne von naturwüchsigen Dingen zum Thema macht, sind nicht nur widerspruchsfrei. Sie bringen sogar eine außerordentliche erkenntnistheoretische Tragweite mit sich. Diese Tragweite kann mit Hilfe eines einfachen Diktums charakterisiert werden, mit dem Kant die Tragweite seiner komplizierten, teils logischen und teils transzendentalen Analysen des reinen Geschmacksurteils schon relativ früh wie in einer vorweggenommenen Quintessenz auf den Punkt gebracht hat. Wenn Adickes’ Deutung der Indizien tragfähig ist, dann stammt es aus der Zeit der ersten Hälfte des stummen Jahrzehnts von Kants explorativen teils urteilslogischen und teils transzendentalen Untersuchungen. Durch seine Pointierung scheint dies Diktum nicht nur in der gegenwärtigen Kant-Forschung zu einiger Berühmtheit zu gelangen: »Die schöne Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe«.20 Allerdings gibt dies Diktum seine ganze sachliche Bedeutsamkeit auch erst dann zu verstehen, wenn man es unmittelbar mit Kants Gedanken von dem Gefühl und der Reflexionslust verbindet, in denen sich der urteilenden Subjektivität das harmonische Spiel der Erkenntniskräfte präsentiert, das dem reinen Geschmacksurteil über das Schöne eines solchen Dinges zugrunde liegt. Denn bei der innerweltlichen Paßform des Menschen, die die schönen Dinge zeigen, handelt es sich nun einmal um gar keine andere als seine kognitive Paßform für diese Welt, also um die Form, in der er primär mit seinem Erkenntnis- bzw. Urteilsvermögen in diese Welt paßt. Andernfalls könnten es gar nicht irgendwelche Dinge eben dieser Welt sein, die geeignet sind, das optimale, harmonische Zusammenspiel seiner Erkenntniskräfte auch nur okkasionell zu begünstigen. Und indem Kants Diktum seine sachliche Bedeutsamkeit dadurch zu verstehen gibt, daß die von ihm thematisierte innerweltliche Paßform des Menschen iden-

20 R 1820a.

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Einleitung

tisch mit dessen kognitiver Paßform ist,21 schließt diese Bedeutsamkeit allerdings sämtliche Typen von Erkenntnisurteilen in einem vielfach differentiellen Sinne ein: Als Erkenntnisurteile umfassen sie sowohl die theoretischen wie die praktischen Urteile,22 und unter den praktischen Urteilen nicht nur die moralischen und die rechtlichen, sondern sogar auch die politischen Urteile.23 Kants ästhetisches Diktum über die innerweltliche kognitive Paßform des Menschen hat zwar fast zwei Jahrzehnte warten müssen, bevor Kant dahin gelangt war, mit der Kritik der ästhetischen Urteilskraft eine Theorie auszuarbeiten, auf die ein solches Diktum angewiesen ist, wenn es mit einem ernstzunehmenden philosophischen Anspruch verbunden werden kann.24 Doch Kants späte Ausarbeitung des theoretischen Potentials dieses frühen Diktums wirft im Rückblick ein aufschlußreiches Licht auf die Möglichkeiten, die die Transzendentalphilosophie sich aus eigener Kraft erschließen kann, wenn es um die Frage geht, womit der Anfang der »transzendentalen Reflexion«25 gemacht werden kann. Denn jedenfalls und spätestens in diesem Licht zeigt sich, daß das authentische ›selbsteigene‹ Gefühl des Schönen – und nicht erst das Diktum über das Schöne – ein Potential enthält, mit den transzendentalphilosophischen Untersuchungen anzufangen: Das Diktum ist bereits, wie Kant im Laufe seiner philosophischen Arbeit durchschaut hat, ein entsprechend anfängliches Dokument der transzendentalen Reflexion. Denn was das Gefühl des Schönen zeigt, zeigt es nur dem, der des Gefühls des Schönen sowohl gewärtig wie der später so apostrophierten transzendentalen Reflexion auf seine Aktualität fähig ist. Zwar hat Kant mit der Publikation der Ersten Kritik öffentlich gezeigt, daß er unter den möglichen Anfängen der transzendentalen Reflexion denjenigen zuerst mit der größten Energie verfolgt hat, der die Möglichkeiten und die Grenzen der dem Menschen möglichen Erfahrungserkenntnis auslotet. Doch auch die Bearbeitung dieser thematischen Untersuchungsrichtung zeigt im Licht der Kritik der ästhetischen Urteilskraft eine nur allzu auffällige Konzentration auf die Analyse der Möglichkeiten und der Grenzen gerade jener Erkenntniskräfte, deren harmonisches Spiel Kant erst durch die Arbeit an diesem Teil der Dritten 21 Kants unmittelbare Fortsetzung des Diktums – »… zeigen an, daß selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme«  – gibt, ungeachtet aller transzendentalen Vorläufigkeit und urteils-logischen Unbestimmtheit, zu verstehen, daß die innerweltliche Paßform des Menschen jedenfalls ein kognitives Format hat. 22 Vgl. VII, 209 f. 23 Den Erkenntnischarakter der politischen Urteile erörtert Kant im II. Anhang seiner Abhandlung zur Politischen Philosophie Zum ewigen Frieden im Rahmen der sog. transzendentalen Formeln des öffentlichen Rechts, die nichts anderes als Kriterien für die Abgrenzung zwischen rechtlichen und politischen Erkenntnisurteilen sind, vgl. VIII, 381–386. 24 Die Indizien seiner Niederschrift verweisen nach den Kriterien des Herausgebers ­Adickes auf die erste Hälfte der 70er Jahre. 25 Vgl. A 261, B 317 f.

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Kritik in seiner ganzen Feinstruktur entdeckt und analysiert hat. Der Anfang der transzendentalphilosophischen Untersuchungen kann zwar in vielfältigen Formen gemacht werden. Aber nur in einer Form kann er, wie das unmittelbare Resultat des stummen Jahrzehnts in Gestalt der Ersten Kritik zeigt, so gemacht werden, daß auch die schrittweisen Fortsetzungen des ›kritischen Wegs‹ in hinreichend kontrollierbarer Weise möglich werden. Die theoretische Latenzzeit des Diktums über die indikatorische Funktion der schönen Dinge für die innerweltliche kognitive Paßform des Menschen wirft nicht nur ein Licht auf psychische Tiefenstrukturen von Kants persön­ lichen philosophischen Arbeitsformen. Sie bietet auch einen bedeutsamen Anlaß, Einseitigkeiten und Überspitzungen einer notorischen Methoden-Kontroverse auf ein abgewogenes Maß von divergierenden heuristischen Intentionen zurückzuführen, die nicht nur an der Kant-Interpretation beteiligt sind. Es geht dabei um das Allerwelts-Faktum, daß jeder philosophische Autor in verschiedenen Phasen seiner Arbeit unterschiedliche Gedanken, Überlegungen und Argumentationen auch dann erarbeitet, formuliert und publiziert, wenn diese unterschiedlichen Gedanken, Überlegungen und Argumentationen gleichwohl einem einheitstiftenden theoretischen Thema gewidmet sind. Die Dokumentationsformen für solche Gedanken, Überlegungen und Argumentationen können den unterschiedlichsten literarischen Genres angehören. Sie können in privaten Notizen, quasi-experimentellen Protokollen und Briefen ebenso Gestalt annehmen wie in publizierten Miszellen, Artikeln, Aufsätzen, Abhandlungen oder Büchern, und gelegentlich sogar in Gedichten. Gemeinsam ist allen diesen kognitiven Akten und deren Produkten sowie ihren sprachlichen Gestalten die zeitliche, sukzessive Erscheinungs- und Vollzugsform. Die sprachlichen und die literarischen Gestalten, die diese Akte und deren Produkte in privaten Aufzeichnungen und in Publikationen annehmen, liegen daher stets in zeitlich mehr oder weniger weitläufig zerstreuten Dokumentationsformen auch dann vor, wenn sie in erkennbarer Weise dasselbe Thema behandeln, z. B. das Erlebnis der Schönheit anläßlich der sinnlichen Wahrnehmung von Hervorbringungen der Natur oder die Transzendentale Deduktion der Kategorien anläßlich von Beobachtungen alltäglichster Prozesse und Zustandsänderungen in der Natur. In extremen Fällen der Überlieferungsgeschichte wie der der Aristotelischen Metaphysik kann ein Text, den die Forschung auf Grund von mancherlei verschiedenartigen sachlichen Kriterien und Forschungskonventionen als buchtechnische Einheit akzeptiert hat, sogar nicht nur aus disparaten Arbeitsphasen des Autors stammen, sondern von ihm selbst weder jemals kohärent gemacht noch veröffentlicht worden sein. Sowohl angesichts solcher extremen Fälle wie angesichts der Regelfälle von zeitlich zerstreuten Stellungnahmen eines philosophischen Autors zu einem kohärenzstiftenden Thema seiner Arbeit hat sich auch in der Kant-Forschung eine mehr oder weniger offene Methoden-Kontroverse entzündet. Es gehört in-

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dessen zu den typischen Einseitigkeiten und Überspitzungen auch dieser Kontroverse, daß einige der Beteiligten einander gar nicht als Repräsentanten ernstzunehmender, wenngleich divergierender Methodenkulturen wahrnehmen und respektieren, sondern als Quasi-Wilderer in Kants disparaten Text-Corpora bzw. als philologisch eingeschränkte Förderer der Monokultur von immanenten Interpretationen der vom Autor durch Publikation und Publika­tionszeit autorisierten bzw. quasi-autorisierten Texte. Die Repräsentanten der immanenten Interpretationsmethode pflegen den vom Autor durch Publikation autorisierten Texten eine zusätzliche Autorität mit Hilfe eines publizistischen Kriteriums zu verleihen. Ein klassisches Votum dieses Typs hat Benno Erdmann formuliert: »Als primäre Quelle für die Lehrmeinung eines Philosophen sollten ausschließlich die von ihm selbst veröffentlichten Schriften gelten. Allein an sie ist die unmittelbare historische Wirksamkeit seiner Gedanken gebunden, in weitaus überwiegendem Maß auch deren Nachwirkung in späteren Generationen. Gewiß darf die Geschichte der Philosophie an Nachlaßstücken, die nach Ursprung oder Inhalt den Gedankenverlauf der primären Quellen bereichern oder lehrreiche Blicke in die Werkstatt der Gedankenarbeit möglich machen, nicht vorbeigehen. Aber sie kommen mit verschwindenden Ausnahmen nur als Ergänzungen in Betracht«.26 26 Benno Erdmann, Die Idee von Kants Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1917, S.  4. In den Augen von Reinhardt Brandt, Die Urteilstafel. Kritik der reinen Vernunft A 67–76, B 92–101, Hamburg 1991, ist man zu ›lehrreichen Blicken in die Werkstatt der Gedankenarbeit‹ eines philosophischen Autors auch dann durch diesen Autor »nicht ermächtigt«, S. 16, wenn man dessen philosophische Ansprüche mit Hilfe von ›Nachlaßstücken, die nach Ursprung oder Inhalt den Gedankenverlauf der primären Quellen bereichern‹, zu prüfen, zu beurteilen oder in noch besserer Form zu rechtfertigen sucht als es dem Autor unter den Umständen einer einzelnen Publikation selbst gelungen ist. Wenn man sich an einer solchen Prüfung, Beurteilung oder Verbesserung unter Vorzeichen der Philosophie versucht, dann ist in den Augen Brandts »Die Relation zwischen Autor und Leser […] gestört«, ebd., Hervorhebung R. E. Mit der Auffassung, daß es sich bei ›der‹ Relation zwischen einem philosophischen Autor und einem philosophischen Adressaten seines Textes um eine (asymmetrische)  (Foucault-inspirierte?) Ermächtigungsrelation handle, betritt Brandt allerdings hermeneutische terra obscura. Da Brandt argumentiert, daß »Die Interpretation […] die grundsätzlichen, vom Autor einkalkulierbaren Verstehensmöglichkeiten anvisieren [muß]«, ebd., Hervorhebungen R. E., scheint er das Ziel eines philo­sophischen Autors, die von ihm un-kalkulierbaren (kritischen) Beurteilungsmöglichkeiten seiner philosophischen Adressaten herauszufordern, gar nicht zu kennen. Das Verstehen eines Textes ist gewiß eine notwendige Voraussetzung zur Beurteilung der sachlichen Angemessenheit der im Medium dieses Textes wie auch immer verstandenen Begriffe, Thesen, Argumente und Theorien. Aber der philosophische Autor muß erst noch geboren werden, der daran ein Genügen findet, daß seine Texte ausschließlich zum hermeneutischen Medium für die Erprobung der ebenfalls un-kalkulier­ baren Verstehensmöglichkeiten unzähliger anonymer Leser gemacht werden. Der philosophisch ambitionierte Leser eines philosophischen Textes  – und für einen solchen hält zu Recht auch Brandt sich – steht daher in einer symmetrischen Relation zum Autor

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Nun sind allerdings sowohl die immanenten Interpretationen der von Kant durch Veröffentlichung publizistisch autorisierten Texte wie auch die alle anderen thematisch einschlägigen Texte zu Rate ziehenden, transzendenten Interpretationen der publizierten Zentraltexte an demselben Ziel orientiert, sofern sie beide philosophische Ansprüche erheben: Der sachliche Reifegrad der vom Autor durch Publikation dokumentierten Theorie – und damit der Grad ihres Beitrags zur Klärung des von ihr behandelten Themas – soll möglichst zuverlässig beurteilt werden können. Die Autoren immanenter Interpretationen untersuchen mehr oder weniger stillschweigend die Frage, ob dieser Reifegrad ausreicht, um dem jeweils interpretierten Text auch ohne wesentliche Hilfen durch unpublizierte Texte zu attestieren, daß er eine konsistente, kohärente, wohlbegründete und tragfähige Theorie repräsentiere – tragfähig auch in dem Sinne, daß sie z. B. eine Teiltheorie ist, die ausreicht, eine daran anschließende Theorie zu tragen, also z. B. so, wie Kant seine Theorie der Urteilsfunktionen mit dem Anspruch verbindet, daß sie reif genug ist, mit ihrer Hilfe auch die Metaphysische Deduktion der Kategorien gelingen zu lassen.27 Die Autoren transzendenter Interpretationen untersuchen indessen, ob die in den publizierten Zentraltexten dokumentierte Theorie wegen mehr oder weniger gravierender Inkonsistenzen, Inkohärenzen, Begründungsmängel oder anderer Reifemängel auf Hilfen angewiesen ist, wie sie sich nur jenseits der vom Autor publizierten Texte finden lassen. Es liegt indessen auf der Hand, in welchen Formen die beiden hermeneu­ tischen Methoden einander ergänzen können: Die transzendente Methode ist jeweils nur dann legitim, wenn auch die beste unter den jeweils vorliegenden immanenten Interpretationen gravierende Reifemängel der in den publizierdes jeweiligen Textes: Beide behandeln die im Text verhandelten Sachfragen vor allem sub ratione veritatis und nicht ausschließlich sub ratione interpretationis. Eine hermeneutisch realistische und sachlich fruchtbare Auffassung von den Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit philosophischen Texten bekundet Ernst Kapp, Theorie und Praxis bei Aristoteles und Platon (19381), wieder abgedr. in: ders., Ausgewählte Schriften, hg. v. H. und I. Diller, Berlin 1968, S. 167–179, wenn er die Frage erörtert, welche methodischen Einstellungen vonnöten und nützlich sind, »Wenn man für die Ursprünge philosophischer Gedanken interessiert ist. […] Denn das Interesse für den Ursprung eines Gedankens setzt das Interesse für den Gedanken selbst voraus, und diesem Interesse werden, wenn man nicht Philologe in einem kaum vorstellbar engen Sinne ist, moderne Anwendungsformen des Gedankens und eine moderne Ausdrucksweisen entsprechen, die an den Ursprüngen nicht vorhanden gewesen zu sein brauchen«, S. 167. Die Relation zwischen einem philosophischen Autor und den von ihm angesprochenen Lesern ist daher alleine schon insofern nicht eine asymmetrische Ermächtigungs-Relation, sondern eine symmetrische Kooperations-Relation zwischen dem Autor in der Rolle des Philo­ sophen und seinem Leser in der Rolle des Philosophie-Beflissenen in ihren gemeinsamen Bemühungen um Klärung – oder sogar Lösung – eines gemeinsam thematisierten Problems; vgl. auch unten S. 24, Anm. 46. 27 Vgl. zu diesem speziellen und außerordentlich wichtigen Fall unten 11. Ab.

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ten Texten dokumentierten Theorie erkennen läßt, wie sie nur unter Zuhilfenahme von nicht durch Publikation autorisierten Texten des Autors ausgeglichen werden können; die immanente Methode ist indessen nur solange legitim, wie ihre Möglichkeiten noch nicht kunstvoll genug ausgeschöpft worden sind, um über den Reifegrad der publikations-autoritativ dokumentierten Theorie zu urteilen. Es versteht sich von selbst, daß es diesseits und jenseits solcher abstrakten methodologischen Reflexionen auf die sorgfältigen und in der Regel mikroskopischen Beurteilungen der textuellen Einzelfälle ankommt, denen durch nichts anderes vorgegriffen werden kann. Wechselseitige Exklusivitätsansprüche auf eine sich selbst stilisierende ›kommentarische‹ oder eine sich selbst nicht weniger stilisierende ›philosophische‹ Interpretation mißverstehen daher ihre eigenen methodologischen Legitimationsgründe. Eine immanente, ›kommenta­rische‹ Interpretation eines philosophischen Textes kann genauso philosophisch bzw. unphilosophisch sein wie dessen transzendente Interpretation. In diesem Sinne ist es jedenfalls eine ›transzendente‹ Interpretation von Kants vergleichsweise frühem Diktum über die von schönen Naturdingen indizierte innerweltliche Paßform des Menschen, wenn man dessen genuine Begründung in dem Gedanken sieht, den Kants relativ späte Theorie der reinen Geschmacksurteile impliziert – weil der Mensch ohne die Wirklichkeit von natürlichen Dingen im Horizont seiner Sinneswahrnehmung auch nicht in der okkasionellsten und flüchtigsten Form zum als schön empfundenen harmonischen Spiel seiner Erkenntniskräfte veranlaßt werden könnte. Denn es ist ausschließlich eine solche Interpretation, die Kants relativ frühes Diktum als fruchtbare proto-transzendentale Einsicht in das kognitive Format der innerweltlichen Paßform des Menschen erkennen läßt. Eine philosophisch fruchtbare, transzendentale Einsicht, die diesen Namen verdient und Kants eigenen Ansprüchen genügt, bietet sein frühes Diktum daher ausschließlich im Licht der späteren Theorie. Kants Entdeckung der emotionalen Tiefenstruktur der reinen Geschmacksurteile ist nicht die einzige und nicht die erste, aber eine der wichtigsten Gelegenheiten, bei denen er eine Einsicht gewinnt, die erst im Rückblick ein erhellendes Licht auf die Kohärenz aller vorangegangenen Schritte seines kritischen Geschäfts wirft. Solche nachträglichen Einsichten und ihre kohärenzstiftenden, gleichsam rekurrierenden Tragweiten gehören zu den wichtigsten untrüglichen Anzeichen dafür, daß es sich bei der Philosophie, die Kant auf dem ›kritischen Weg‹ entworfen hat  – auf dem Weg, der »allein noch offen [ist]«28  –, im besten Sinne von Husserls trefflichem Wort um eine Arbeitsphilosophie handelt.29 28 A 856, B 884. 29 »Ich [arbeite noch bis] klimme selbst durch schweere Subtilitaeten zum Gipfel der Principien, nicht so wohl als würde der Gesunde Verstand ohne diesen Umschweif dazu ge-

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Nachträgliche Einsichten und deren kohärenzstiftende rekurrierende Tragweiten, wie sie die Anstrengungen einer solchen Arbeitsphilosophie mit sich bringen, hat Kant durch seine unablässig fortgesetzten logischen und transzendentalen Analysen in fast jeder Phase seines kritischen Wegs immer wieder von neuem gewonnen. Die vorliegende Einleitung verfolgt daher ein vierfaches Ziel. Sie soll zum einen diejenigen unter Kants vorläufigen und nachträglichen Einsichten mit Blick auf ihre kohärenzstiftenden rekurrierenden Tragweiten markieren und erörtern, die auch für die nachfolgenden Mikro-Analysen und für die Beurteilung seiner Theorie der Erfahrung wichtig sind. Sie soll außerdem auf die Nachteile aufmerksam machen, die die Kant-Forschung dem Bild von dieser Theorie ohne Not einhandelt, wenn sie solche einschlägigen nachträg­ lichen Einsichten Kants und deren kohärenzstiftenden rekurrierenden Tragweiten nicht gebührend berücksichtigt. Mit Blick auf diese beiden Ziele soll diese Einleitung überdies die systematische Untersuchung von Kants Theorie der Erfahrung von Erörterungen entlasten, die herkömmlicherweise zur Klärung der sog. Entwicklungsgeschichte eines Denkers beitragen sollen. Doch bei dieser Geschichte handelt es sich bei einem Denker wie Kant nicht um ein naturwüchsiger psychisches Geschehen, sondern so gut wie ausschließlich um eine Geschichte von Arbeitserfahrungen, wie sie nur durch minutiöse selbstkritische logische und transzendentale Reflexionen und Analysen gewonnen werden können. Ihrem logischen und ihrem transzendentalen Gehalt und ihrer Tragweite für das Format von Kants Theorie der Erfahrung trägt man in buchtechnischer Hinsicht schließlich am angemessensten dadurch Rechnung, daß man sie nach Möglichkeit um ihrer selbst willen erörtert, also um klarzustellen, welches klärende Licht sie von Anfang an auf das Format dieser Theorie werfen.30 Über eine der ersten und für längere Zeit wichtigsten Gelegenheiten zu einer solchen nachträglichen Einsicht und ihrer rekurrierenden Tragweite für die Kohärenz des Schlüsselwerks des kritischen Wegs spricht Kant sogar im Kolleg – und zwar noch sehr spät –, wenn er seinen Zuhörern berichtet, »wieviel Mühe es ihm gemacht, da er mit dem Gedanken, die Kritik der reinen Vernunft zu langen können, sondern um allen sophistischen Subtilitäten, die sich dagegen erheben, ganzlich die Kraft zu benehmen«, R 5654, S. 313. 30 Wegen ihres arbeitsphilosophischen Charakters, der sie von Dokumenten einer wohlumrissenen ›Lehre‹ unterscheidet, haben die Texte von Kants Philosophie das Wohlwollen von Interpretationshypothesen im Schutz eines principle of charity nicht nötig. Das schließt zwar nicht aus, daß Autoren, die ihre Interpretationshypothesen als Ausdruck eines Wohlwollens interpretieren, zu aufschlußreichen Interpretationen gelangen. Doch das liegt dann mit Blick auf Philosophen wie Kant nicht an irgendeinem Wohlwollen des Interpreten, sondern am philosophischen Format des Autors des interpretierten Texts. Es ist in solchen Fällen also eine Angelegenheit der schlichten hermeneutischen Billigkeit, in die Texte dieser Autoren auch weiterhin das bewährte Zutrauen in ihr philosophisches Format zu investieren.

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schreiben, umging, zu wissen, was er eigentlich wolle«.31 Mit relativer chronologischer Bestimmtheit habe er berichtet: »Zuletzt habe er gefunden, alles ließe sich in die Frage fassen, sind synthetische Sätze a priori möglich?«.32 Doch dies Zuletzt ist immerhin erst zwei Jahre nach der Publikation der ersten Auflage der Ersten Kritik in den Prolegomena dokumentiert.33 Läßt man einmal die nicht unwichtige Unschärfe auf sich beruhen, daß Kant bei diesem späten Rückblick – und in den Prolegomena – die ausgereifte wie-Form dieser Frage »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich«34 nicht berücksichtigt hat, dann zeigen die Prolegomena und der Schritt zur Formulierung der wiederum erst vier Jahre später gefundenen wie-Form dieser Frage ein bedeutsames Muster der Arbeitserfahrungen, durch die sich Kant  – aber selbstverständlich nicht nur Kant – Einsichten erarbeitet hat, die kohärenzstiftende rekurrierende Tragweiten mit sich bringen. Die jüngst geprägte treffliche Wendung von der »Erkenntnis in Zerstreuung«35 faßt die hierfür typischen Arbeitserfahrungen in formelhafter Prägnanz zusammen. Sie macht darauf aufmerksam, daß anspruchsvolle Erkenntnisse, wie sie durch hinreichend strenge philosophische Arbeit gewonnen werden können, nur durch kohärenzstiftende Überwindung vorangegangener Zerstreuung gewonnen werden können. Kant hat diesen Zusammenhang und seine außerordentliche Bedeutsamkeit im Rückblick auf seinen Arbeitsweg zur wie-Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile apriori sogar selbst ganz unmißverständlich in diesem Sinne kommentiert: »Man gewinnt dadurch schon sehr viel, wenn man eine Menge von Untersuchungen unter die Formel einer einzigen Aufgabe bringen kann«.36 Die Bedeutsamkeit dieses Kommentars Kants zur kohärenzstiftenden rekurrierenden Funktion seines eigenen Arbeitsgangs wird sogar noch erhöht, wenn man beachtet, daß er hier einen exemplarischen Fall einer kognitiven Struktur ins Auge faßt, die er selbst am 31 XXIV, 1.2, 783–784. 32 784. 33 Vgl. IV, 275 f. 34 B 19, Kants Hervorhebung. 35 Dieter Henrich, Werke im Werden. Über die Genesis philosophischer Einsichten, München 2011, S.  132. Offensichtlich geht die Prägung dieser Wendung gerade bei einem Kant-Kenner wie Henrich auf Kants bekannte Einsicht zurück: »Denn das empirische Bewußtsein, das verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts. Diese Beziehung geschieht […] dadurch, daß ich eine zu der anderen hinzusetze und und mir der Synthesis derselben bewußt bin«, B 133. Auch das empirische Bewußtsein eines Denkers ist diachron mehr oder weniger zerstreut. Auch er kann diese Form der Zerstreuung stets nur nachträglich und stets nur mehr oder weniger überwinden, indem es ihm gelingt, sie mit Hilfe seiner Erinnerung »herüberzurufen«, A 121, und mit Hilfe seiner reflektierenden Urteilskraft Elemente dieser Zerstreuung thematisch, sachlich und formal zueinander ›hinzuzusetzen‹ und sich ›der Synthesis derselben‹ bewußt zu sein. Deswegen ist diese Fähigkeit sogar »für Logik und Metaphysik nöthig und nützlich«, VIII, 133. 36 B 19.

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›höchsten Punkt‹ seiner Theorie der Erfahrung in ihrer elementarsten Form erörtert. Um dies zu durchschauen, braucht man Kants Kommentar lediglich in der Sprache zu paraphrasieren, die er an diesem ›höchsten Punkt‹ verwendet: ›Man gewinnt dadurch schon sehr viel, wenn man eine zerstreute Mannigfaltigkeit von Vorstellungen, wie man sie nach und nach durch eine zerstreute Mannigfaltigkeit von Untersuchungen zu seinen Vorstellungen gemacht hat, durch einen außerordentlich komplexen Akt apperzeptiver Synthesis unter eine Formel bringen kann, die die Einheit der Aufgabe ausdrückt, in deren Dienst alle diese zerstreuten Untersuchungen und Vorstellungen vom Autor gestellt sind‹.37 Die kohärenzstiftende rekurrierende Tragweite der wie-Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile apriori geht sogar so weit, daß Kant mit ihr geradezu punktgenau die Nahtstelle trifft, an der er schon in der ersten Auflage der Ersten Kritik den Satz formuliert hat, der die formal korrekte Antwort auf die wie-Frage gibt: »Auf solche Weise sind synthetische Urteile a priori möglich, wenn …«.38 Bei der ›Erkenntnis in Zerstreuung‹, die Kant durch diesen Satz seiner Einleitung in die abschließende Formulierung und Erörterung der »Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt«39 thematisiert, handelt es sich daher um die Erkenntnis, die er durch Überwindung der zerstreuten Mannigfaltigkeit von Vorstellungen und Untersuchungen des ›stummen Jahrzehnts‹ gewonnen hat, indem er »die formalen Bedingungen der Anschauung a priori, die Synthesis der Einbildungskraft, und die notwendige Einheit derselben«40 durch einen eminenten Akt höchst komplexer apperzeptiver Synthesis in der abschließenden Einheit »Des Systems der Grundsätze des reinen Verstandes«41 zusammenfaßt. Erst mit dem Resultat dieser Überwindung hat Kant selbst als Autor seiner Theorie der Erfahrung jene »Einheit des Bewußtseins« gewonnen, von der zu bedenken gibt, daß sie »nur die Einheit im Denken [ist]«,42 hier also die systematische Einheit in demjenigen philosophischen Denken, das der Theorie gewidmet ist, die »die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung« mit den »Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung« identifiziert.43 Kants eigener, erst spät im Kolleg mitgeteilter Rückblick auf einen systematisch außerordentlich wichtigen Fall von ›Erkenntnis in Zerstreuung‹ bietet eines von mindestens zwei zentralen Mustern der methodischen Schrittfolge 37 Zu dieser Sprache am ›höchsten Punkt‹ von Kants Theorie vgl. B 129–136. Die gesamte kognitive Struktur, um die es sich hier handelt, wird allerdings erst in der Verflechtung der §§ 15–16 der ersten Auflage und der Seiten A 97–104 der zweiten Auflage durchsichtig; vgl. hierzu unten 7.–8. Ab. 38 A 158, B 197, Hervorhebung R. E. 39 Ebd., Kants Hervorhebung. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 B 421–422. 43 Vgl. A 158, B 197.

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seiner Arbeit. In dem einen Muster stiftet ein einzelner Schritt der »logische[n] Reflexion«44 bzw. der »transzendentale[n] Reflexion«45 eine bis dahin noch nicht gelungene ›Einheit des Bewußtseins‹ des reflektierenden Autors in einer bis da hin noch zerstreut gewesenen Mannigfaltigkeit seiner Untersuchungen. Das andere zentrale Muster bieten in Kants Schriften die Schrittfolgen, die ein anfängliches proto-transzendentales Diktum so lange zugunsten einer Mannigfaltigkeit von logischen und transzendentalen Untersuchungen fruchtbar machen, bis der Inhalt des anfänglichen Diktums in den Inhalt einer reifen, kohärenten transzendentalen ›Erkenntnis in Zerstreuung‹ transformiert werden kann. In der Auseinandersetzung mit einer Arbeitsphilosophie, die wie die Kantische diesen Namen verdient, wäre es in methodischer Hinsicht geradezu absurd, wenn man diese Auseinandersetzung exklusiv auf eine einzige heuristische oder hermeneutische Einstellung zu verpflichten versuchte. Und gerade unter Aspekten der Philosophie wäre es geradezu anmaßend, aus Gründen irgendeiner methodischen Monokultur die Berücksichtigung dessen für illegitim zu erklären, was Kant selbst alles auf dem jahrzehntelangen ›kritischen Weg‹ gelernt hat, ohne es unter dem Zeitdruck seines weit vorgerückten Alters und der beständigen Sorge um seine Gesundheit sowie in der außerordentlichen Konzentration auf seine drei großen und seine diversen kleineren ›kritischen‹ Publikationen in diese Publikationen einzuarbeiten. Eine methodische Einstellung legitimiert bzw. delegitimiert sich auch in der Philosophie durch die Grade der inneren Konsequenz, der Plausibilität und der Erschließungserfolge aller ihrer konkreten Schritte, aber nicht durch eine quasi-lutherische Dogmatisierung ihrer methodologischen Prämissen.46 44 A 262, B 318. 45 A 263, B 319. 46 Vgl. hierzu Reinhard Brandt, »Das Wort sie sollen lassen stahn«. Zur Edition und Interpretation philosophischer Texte, erläutert am Beispiel Kants, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 44 (1990), S. 351–374. Die Stilisierung der kommentarischen bzw. immanenten Interpretation zur »objektiven Interpretation«, Reinhardt Brandt, Interpretation philosophischer Texte. Eine Einführung in das Studium antiker und neuzeitlicher Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1984, S. 11–29, hat eine der wichtigsten Lektionen von Kants Theoretischer Philosophie noch nicht gelernt: Keine Objektivität ohne Subjektivität – eine wie auch immer ›objektiv gültige‹ Interpretation eines Textes ist grundsätzlich nicht ohne die subjektive methodische Leistung des interpretierenden Subjekts möglich. Wie ein interpretierendes ›Subjekt‹ in welcher methodischen Einstellung und mit Hilfe welcher Beurteilungskriterien zu einer ›objektiv gültigen‹ Interpretation gelangen kann, kann durch keinerlei Methodenzwang – so der treffliche Paul Feyerabend – festgelegt werden. Für Brandt scheint subjektiv mit willkürlich synonym zu sein und objektiv mit empirisch ermittelt. Unter Brandts quasi-lutherischen methodologischen Prämissen wird die Interpretation philosophischer Texte zu einer empirischen Spezialdisziplin der jeweils zuständigen nationalsprachlich orientierten Philologie bzw. Literaturwissenschaft. Ihren philosophischen Charakter beziehen solche Interpretationen unter diesen Prämissen im günstigsten Fall auf parasitären Wegen aus dem philosophischen Charak-

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Unter diesen Voraussetzungen ist es umso aufschlußreicher zu sehen, wie das relativ frühe proto-transzendentale Diktum über die von den schönen Dingen indizierte innerweltliche kognitive Paßform des Menschen in Verbindung mit der reifen Theorie der reinen Geschmacksurteile über diese schönen Dinge sogar ein Licht auf die von Kant in der Ersten Kritik analysierte Struktur der Erfahrung werfen kann. Vor allem die erst ganz zuletzt gewonnene Einsicht in die strikt subjektivistische Struktur der reinen Geschmacksurteile und in die mit dieser Struktur verflochtene und für die Erkenntnis-überhaupt günstigste Stimmung und Reflexionslust eröffnet Kant eine Möglichkeit, eine viel zu häufig vernachlässigte Komponente der Erfahrungserkenntnis ans Licht zu holen. Denn das, was die schönen Dinge mit Blick auf die innerweltliche kognitive Paßform des Menschen zeigen, besteht in diesem Licht gerade in dem Umstand, daß auch die Erfahrungserkenntnis dem Menschen – und zwar gerade im Licht der von ihm faktisch erfüllten komplexen subjektiven Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung – eine Möglichkeit zur unmittelbaren Teilhabe an Stimmungen der Erkenntniskräfte eröffnen. Zwar räumt Kant ein, daß sich die für das Erlebnis des Schönen charakte­ ristische und für die Erkenntnis-überhaupt günstigste, harmonische Stimmung der Erkenntniskräfte und Reflexionslust nicht nahtlos auf die Erkenntnis­urteile übertragen. Denn »die Stimmung der Erkenntniskräfte hat nach Verschiedenheit der Objecte, die gegeben werden, eine verschiedene Proportion«47 – im Fall der Erkenntnisurteile und damit speziell der Erfahrungsurteile also jedenfalls eine nicht-harmonische Proportion. Allerdings hat Kant im Anschluß an die Dritte Kritik keine Gelegenheit mehr genommen, genauere Erwägungen über die Proportionalitätsmaße der Stimmungen anzustellen, die für die Erkenntniskräfte charakteristisch sind, sofern sie sich insbesondere an den Objekten möglicher Erfahrungserkenntnisse bewähren. Es ist auch mehr als fraglich, ob man ter des Inhalts der jeweils interpretierten Texte. Doch über den philosophischen Charakter dieser Texte können (dürfen?!) die Autoren solcher Interpretationen im Grunde selbst gar nicht urteilen. Denn worin die spezifisch philosophische Relevanz auch nur eines einzigen Satzes in irgendeinem beliebigen Text besteht, läßt sich mit den von Brandt favorisierten ›empirischen‹ Mitteln nicht im geringsten beurteilen. Interpreten mit dieser methodischen Einstellung müssen sich – kaum anders als Diogenes Laertius – in nahezu traditionshöriger Form einer zum vorläufigen(!) Konsens gewordenen Meinung über den philosophischen Charakter eines Textes anschließen. Jedes von einem Interpreten wie auch immer hypothetisch(!) eingeführte und damit auf empirische(!) Bewährungsproben am Text angewiesene und ihnen auch faktisch (empirisch!) ausgesetzte Kriterium für die mehr oder weniger große philosophische Relevanz irgendeines beliebigen Satzes eines Texts muß unter Brandts Voraussetzungen mit quasi-lutherischer Rechtgläubigkeit als subjektiv, also als willkürlich diskreditiert werden, wenn es sich nicht wörtlich (z. B. deutsch) im (griechischen?!) Text wiederfindet; vgl. hierzu auch die Auffassung des Gräzisten Ernst Kapp, oben S. 18, Anm. 26. 47 VII, 238.

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mit den formalen Mitteln der logischen Urteilsanalyse und den transzendentalen Mitteln der Analysen von entsprechenden kognitiven Vermögen und Fähigkeiten sowie mit Blick auf das Spektrum unterhalb der günstigsten Proportion dieser Stimmung überhaupt zur Fixierung von irgendwelchen bestimmten Proportionalitätsmaßen gelangen kann. Unzweifelhaft ist lediglich, daß diese Proportionen nicht mehr uneingeschränkt harmonisch sind. Sie können daher die Weltangemessenheit der kognitiven Paßform des Menschen offenbar auch nicht in der unüberbietbaren Einfachheit, Unvermitteltheit und Eindeutigkeit zeigen wie die reinen Geschmacksurteile der Form Dies ist schön. Wenn sich das Harmonische der Proportion der Erkenntniskräfte im Fall der reinen Geschmacksurteile über das Schöne eines naturwüchsigen Dinges überdies im Modus des Spiels einstellt, dann wird sich das Nicht-harmonische der Proportion der Erkenntniskräfte im Fall der Erkenntnisurteile offenbar auch nur in einem nicht-spielförmigen Modus, also in einer mehr oder weniger großen und von Unlustmomenten begleiteten Anstrengung oder sogar anstrengenden Arbeit einstellen können. Dennoch verhindert dieser nicht-spielförmige Modus der Reflexionslust nicht, auf dem ›critischen Weg‹ zur Einsicht in eine »der praktischen Bestimmung des Menschen weislich angemessene […] Proportion seiner Erkenntnisvermögen«48 zu gelangen. Auch diese Einsicht in eine nichtharmonische, aber immerhin noch ›weislich angemessene‹ Proportion der Erkenntnisvermögen gelingt – ebenso wie im Zuge der Analyse der Bildung des reinen Geschmacksurteils – durch eine Analyse der »Beschäftigung der Urteilskraft, welche uns unsere eigenen Erkenntniskräfte fühlen läßt«.49 Insbesondere auf dem Weg zur Beurteilung und Erkenntnis der praktischen Bestimmung des Menschen verbindet sich mit diesem Gefühl ein Grad der Reflexionslust, so daß »[diese Beschäftigung der Urteilskraft, R. E.] macht, daß man sich gerne mit einer solchen Beurteilung unterhält«, weil sie »der Tugend oder der Denkungsart nach moralischen Gesetzen eine Form der Schönheit [gibt]«.50 Vor allem aber erörtert Kant im Zusammenhang mit der Rolle der Reflexions­ lust (der reflektierenden Urteilskraft) auch einen Fall, der mit Blick auf seine Theorie der Erfahrung ebenso bedeutsam wie unscheinbar ist. Seine Erörterung auch dieses Falls entspringt seiner durch die Dritte Kritik geschärften Aufmerksamkeit für Erkenntnisse, deren Strukturen nicht nur wegen der ›Verschiedenheit der Objecte‹, sondern außerdem aus andersartigen Gründen einen minderen Grad und eine mindere Form an Reflexionslust aufweisen als sie für die reinen Geschmacksurteile charakteristisch sind. Er stellt in diesem Zusammenhang überdies in Rechnung, daß er bereits ein Angehöriger einer späten Phase der Geschichte ist, während der die der menschlichen Gattung eigentümliche 48 V, 146. 49 160, Hervorhebung R. E; zu Format und Rolle dieses Gefühls vgl. unten S. 13093. 50 Ebd., Hervorhebungen R. E; vgl. hierzu auch unten S. 131, Anm. 93.

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Urteilskraft ihre vielfältigen Bewährungsproben schon mit unzähligen Erfolgen durchgemacht hat. Mit Blick auf diese spezielle, geschichtlich orientierte Reflexionslust-Bilanz macht Kant auf das unscheinbare Ausfallsphänomen aufmerksam, daß wir trotz der kognitiven Paßform für die Welt, inmitten von der wir seit unvordenklichen Zeiten existieren, in unserem Alltagsleben gar nichts mehr von der Reflexionslust verspüren, die im reinen Geschmacksurteil immer wieder von neuem in einzigartiger Form präsent ist: »Zwar spüren wir an der Faßlichkeit der Natur […] keine merkliche Lust mehr«.51 Hierfür gibt er indessen eine wohldurchdachte kognitionspsychologische Erklärung im gattungsgeschichtlichen Maßstab zu bedenken: »[…] aber sie [die Reflexionslust, R. E.] ist gewiß zu ihrer Zeit gewesen, und nur weil die gemeinste Erfahrung ohne sie nicht möglich sein würde, ist sie allmählich mit dem bloßen Erkenntnisse vermischt und nicht mehr besonders bemerkt worden«.52 Gerade durch dies radikale, wenngleich geschichtlich bedingte Ausfallsphänomen der Reflexionslust macht Kant im Rückblick indirekt auf einen unmittelbaren systematischen Zusammenhang aufmerksam, durch den die Analyse der reinen Geschmacksurteile und die in der Ersten Kritik entwickelte Theorie der Erfahrung unmittelbar zusammenhängen. Denn bei der ›gemeinsten Erfahrung‹, in der das diagnostizierte Ausfallphänomen der Reflexionslust greifbar wird, handelt es sich gerade um den Typ von Erfahrung, dessen Struktur er im Rahmen dieser Theorie analysiert. Nichts kann dies deutlicher zeigen als der Umstand, daß Kant diese ›gemeinste‹ Erfahrung vorzugsweise mit Hilfe solcher ›gemeinen‹ Erfahrungsurteile wie Die Sonne härtet den Ton, Die Sonne schmelzt das Wachs,53 Die Sonne erwärmt den Stein54 in musterhafter Weise exemplifiziert.55 Insbesondere an solchen ›gemeinen‹ Erfahrungsurteilen bewährt sich ›die Faßlichkeit der Natur‹ in doppelter Hinsicht. Denn zum einen sind es gerade als widerläufig wahrgenommene Aggregatzustandsänderungen wie das Schmelzen des Wachses, das Hartwerden des Tons und das Warmwerden des Steins, die trotz ihrer wahrnehmungsspezifischen Kontraste in einer die Reflexionslust besonders belebenden Weise gleichwohl in Gestalt des Sonnenscheins und mit Hilfe des Verstandesgebrauchs der Kausalkategorie auf einen und denselben Typ von Bedingung namens Ursache zurückgeführt werden können. Sie geben daher offensichtlich für die ›gemeinste Erfahrung‹ geradezu paradigmatische Beispiele ab, mit denen die Reflexionslust ›zu ihrer Zeit‹, also zur Zeit solcher kausalen Ent­deckungen verbunden gewesen ist. Andererseits hat sich die ›Faßlichkeit der Natur‹, die sich in solchen ›gemeinen‹ Erfahrungsurteilen zeigt und durch die 51 V, 187. 52 Ebd. 53 Vgl. A 765, B 793 – A 766, B 794; vgl. vor allem auch IV, 298–301. 54 IV, 301*. 55 Zur genaueren Analyse von Struktur und Funktion der Erfahrungsurteile vgl. unten S. 33–34, 36–51, 63–69.

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solche kausalen Strukturen ursprünglich entdeckt worden sind, schon längst im gattungsgeschichtlichen Maßstab – durch »Erfahrenheit langer Zeiten«56 – bewährt. Dennoch sind solche kausalen Strukturen seit der Zeit ihrer ursprüng­ lichen Entdeckung und ersten Bewährungsproben in einem solchen Maß in den habituellen und verläßlichen kognitiven, technischen und praktischen Haushalt des menschlichen Alltagslebens übergegangen, daß sich die ursprüng­liche Reflexionslust an ihrer Entdeckung und an ihren ersten Bewährungsproben bis zur Unmerklichkeit mit ihrem rein kognitiven Gehalt ›vermischt‹ hat; denn »das Alltägige oder Gewohnte löscht [die Aufmerksamkeit] aus«.57 Kants abstrakte Erörterung dieses Falltyps und seine bevorzugten Musteranalysen kausaler ›gemeinster Erfahrungen‹ können besonders deutlich zeigen, mit welcher Tragweite und gleichzeitig mit welcher mikroskopischen Tiefenschärfe er die Analysen der emotionalen Basis der reinen Geschmacksurteile für die Analysen so wichtiger theoretischer Urteile wie der Erfahrungsurteile fruchtbar gemacht hat. Die Dritte Kritik bildet mit diesem Teil ihrer Analysen daher nicht einfach das selbstgenügsame Schlußstück in einer Folge von drei ›Kritiken‹. In Verbindung mit dem pointierten, nahezu aphoristischen Diktum, daß die schönen Dinge die kognitive Paßform des Menschen für die Welt zeigen, sowie in Verbindung mit der gattungsgeschichtlichen ReflexionslustBilanz der ›gemeinsten‹ Erfahrungen bzw. Erfahrungsurteile wird vielmehr umgekehrt im Rückblick ein direkter Ausblick auf eine zwiefältige Strukturkomponente der in der Ersten Kritik analysierten Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung eröffnet: In der ›Faßlichkeit der Natur‹ speziell durch kausal orientierte Erfahrungsurteile der ›gemeinsten‹ Form zeigt sich die kognitive Paßform des Menschen für die Welt in paradigmatischer Weise; und in der Reflexionslust, die Kant mit den geschichtlich frühen kausalen Entdeckungen und Bewährungsproben verbunden sieht, zeigt sich die Rückbindung der dem Menschen möglichen Erfahrung an Tiefenschichten seiner Emotionalität. Gleichwohl reicht der Ausblick, der damit auf Strukturkomponenten der dem Menschen möglichen Erfahrung eröffnet wird, doch auch noch weiter als bis zu den im Dunkel der Vorgeschichte verschwindenden Anfängen kausaler Ent­ deckungen und Bewährungsproben durch entsprechend orientierte Erfahrungsurteile. Denn es gilt ganz allgemein: »Durch das Neue, wozu auch das 56 R 5645, S. 287–288. Zu der apostrophierten ›Erfahrenheit langer Zeiten‹ gehört z. B. die für die Metallurgie so wichtige frühgeschichtliche Entdeckung der kausalen Möglichkeit der Metallschmelze. Auf sie ist der enthusiastische Rousseau-Leser Kant vielleicht durch Jean-Jacques Rousseau, Discours sur l’inégalité, in: ders., Œuvres complètes III, Paris 1964, aufmerksam geworden, wenn dieser diese Entdeckung auf eine frühgeschicht­liche »circonstance extraordinaire de quelque volcan«, S. 172, zurückführt; vgl. hierzu im Zusammenhang vom Verf., Zur Methode der Zivilisationskritik, in: ders., Bedingungen, S. 298–302. 57 VII, 163, Kants Hervorhebung.

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Seltene und das verborgen Gehaltene gehört, wird die Aufmerksamkeit belebt. Denn es ist Erwerb«.58 Zu diesen die Aufmerksamkeit belebenden Erwerbsformen des Neuen gehören auch Entdeckungen, ausgeschlossen sind allerdings »die Entdeckung, Berührung oder öffentliche Ausstellung eines Stücks des Alterthums […], wodurch eine Sache vergegenwärtigt wird, von der man nach dem natürlichen Lauf der Dinge hätte vermuthen sollen, daß die Gewalt der Zeit sie längst vernichtet hätte«.59 Mit Blick auf die Ausschließung solcher historischen Entdeckungen von den die Aufmerksamkeit belebenden Erwerbsformen gibt Kant eine spezielle Variante eines negativen Authentizitätskriteriums zu bedenken, das sich an einem Authentizitätsmoment der Erfahrung orientiert: »Wir erfahren keine Begebenheit, die uns erzehlt wird«.60 Stellt man indessen Kants Erörterung der Schwundformen in Rechnung, die die Reflexionslust gerade in Verbindung mit den ursprünglichen Entdeckun­ gen im Rahmen von ›gemeinsten‹ Erfahrungsurteilen und deren Bewährungsproben im Laufe der Gattungsgeschichte durchgemacht haben, dann fällt auch ein neues Licht auf die wissenschaftsgeschichtliche Fortsetzung dieser Frühgeschichte der Erfahrung. Denn im Zuge dieser Fortsetzung hört der Erwerb des Neuen durch Entdeckungen und Bewährungen insbesondere von Fällen von Kausalität mit Hilfe von entsprechenden Erfahrungsurteilen nicht auf. Vor allem die zum ersten Mal von Francis Bacon in programmatischer Form auf Begriffe gebrachte Methodologie der experimentellen Ursachenforschung zielt planmäßig darauf, die Naturforschung nicht nur einfach Neues, sondern vor allem Neues und von der Natur bislang ›verborgen Gehaltenes‹ mit Hilfe von Experimenten entdecken zu lassen.61 Es sind in Bacons Konzeption daher gerade bislang verborgenen Prozesse (latent processes)62 und geheimnisvolle Bewegungen (secret motions),63 deren Entdeckung sich die experimentelle Ursachenfor58 VII, 163, Kants Hervorhebung. 59 Ebd. 60 R 2844. Das ausgereifte positive Authentizitätskriterium Kants ergibt sich erst aus dem komplexen Zusammenhang der Spontaneität des Ich denke mit der außerordentlich wichtigen konditionalen Rolle, die den authentischen Wahrnehmungsurteilen für den empirischen Gebrauch von Kategorien zugunsten von Erfahrungsurteilen zukommt; vgl. hierzu unten S. 32–51. Zur kognitiven Schlüsselrolle der Authentizität vgl. auch vom Verf., Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht, Göttingen 2005. 61 Zu Bacons programmatischer methodologischer Konzeption der experimentellen naturwissenschaftlichen Ursachenforschung vgl. vom Verf., Dimensionen des Kausalwissens, in: ders., Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht, Göttingen 2005, S. 307–376, bes. 308–354. 62 Francis Bacon, Novum Organon, in: The Works of Francis Bacon (WFB), coll. and ed. by James Spadding et al., London 1858, Faksimileneudruck, Stuttgart 1989, Bd. IV, S. 119 f., 122 f., 123–124, 126, 146. 63 Vgl. ders., New Atlantis, in: WFB III, S. 156.

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schung der Physik in besonders fruchtbarer Form zum Ziel setzen kann.64 Nur deswegen kann Kant Bacon mit Blick auf die Naturforschung als den methodologischen Initiator der Entdeckung des ›Heeresweges der Wis­senschaft‹65 rühmen und paradigmatischen Experimenten Galileis, Torricellis und Stahls eine Schlüsselfunktion für die Belebung auch einer neuen methodologischen Reflexionslust zu schreiben. Denn es ist diese neue methodologische Reflexionslust, durch die »allen Naturforschern ein Licht auf[ging]«.66 Dies Licht geht von dem aus dieser Reflexionslust hervorgegangenen methodologischen Grundsatz aus, daß »Die Vernunft […] mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinstimmende67 Erscheinungen für Gesetze gelten können, in der einen Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenem ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen [muß], zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt«.68 Es ist unter diesen wissenschaftshistorischen Vorzeichen Kant selbst, der darauf aufmerksam macht, daß und inwiefern die Reflexionslust, die in der langen Bewährungsgeschichte der ›gemeinsten‹ kausalen Erfahrungen bzw. Erfahrungsurteile geschwunden ist, durch die Entdeckungen der experimentellen Ursachenforschung der neuzeitlichen Naturwissenschaft zu Recht eine außerordentliche Wiederbelebung durchmacht. Kants eigene analytische Bemühungen um eine Klärung des Kausalitätsproblems bilden geradezu ein neuzeit­liches Paradigma dieser wiedererwachten Reflexionslust. Dabei standen zu seiner Zeit die spektakulärsten Entdeckungen der experimentellen naturwissenschaft­ lichen Ursachenforschung und damit eine weitere Steigerung der entsprechenden Reflexionslust noch ein Jahrhundert lang bevor: Mit der Entdeckung insbesondere der Röntgenstrahlung beginnen Entdeckungen von Prozessen, wie sie in der irdischen Lebenswelt der Menschen ohne eine erfolgreiche Zuhilfenahme von entsprechend raffinierten Versuchsanordnungen noch nicht einmal existieren würden.69 Im Licht der jüngsten Entwicklung, die die Kausalitätstheorie mit Mitteln der modernen Logik, Wissenschaftstheorie, Epistemologie und

64 »and let the investigation of the Efficient cause, and of Matter, and the Latent Process […] constitute Physics«, ders., The Great Instauration, in: WFB IV, S. 26. 65 Vgl. B XII f. 66 B XIII . 67 Ich schließe mich der Konjektur Erdmanns an, der statt »übereinkommende« hier »übereinstimmende« vorzieht; beide Worte drücken indessen denselben von Kant thematisierten Reflexionsbegriff der Einstimmung aus, vgl. A 262, B 317 – A 263, B 319. 68 B XIII . 69 Vgl. zu den ontologischen und den epistemologischen Eigentümlichkeiten solcher Entdeckungen vom Verf., Authentisches Wissen, S. 367–370.

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Handlungstheorie durchgemacht hat,70 mag sich das Reflexions- und Analyseniveau von Bacons Konzeption bescheiden ausnehmen. In demselben Licht mögen Kants logische und transzendentale Analysen des Kausalitätsproblems ganz andere methodische Orientierungen zeigen. Gleichwohl konvergieren alle diese und andere neuzeitliche Untersuchungen des Kausalitätsproblems, ganz ungeachtet aller Arten von teilweise erheblich divergierenden methodischen und sachlichen Orientierungen, in dem einen von Kant so mikroskopisch erschlossenen Punkt: Sie signalisieren immer wieder von neuem die von der modernen experimentellen naturwissenschaftlichen Naturforschung provozierte Reflexionslust am Nachdenken über die logischen, die epistemologischen, die ontologischen und die technischen Strukturen der Kausalität. Diese von den Fortschritten vor allem der Naturwissenschaften motivierte Reflexionslust mit ihrer spezifischen thematischen Orientierung ist insofern die neuzeitliche Nachfolgerin jener Reflexionslust, die im Laufe der unvordenklich langen Geschichte der alltäglichen Bewährungsproben für die ›gemeinsten‹ kausalen Erfahrungen bzw. Erfahrungsurteile bis zur Unmerklichkeit geschwunden war.

2. Inwiefern ein Selbst- und Weltvertrauen des Menschen berechtigt ist Wenn die schönen Dinge zeigen, daß der Mensch wegen seiner spezifischen kognitiven Fähigkeiten in die Welt paßt, in der er existiert, und wenn der Mensch sich mitsamt diesen kognitiven Fähigkeiten durch eine einzigartige Form reiner Emotionalität mit solchen in dieser Welt vorkommenden Naturdingen verbunden fühlen kann, dann kann sich Kants Theorie der Erfahrung nicht in einer selbstgenügsamen und abstrakten formalen Analyse der Möglichkeits­ bedingungen der Erfahrung und der ihrer Gegenstände71 erschöpfen. Denn innerhalb der Grenzen der Welt dieser ihm möglichen Erfahrung und ihrer Gegenstände kommen nun einmal auch Dinge vor, die in paradigmatischer Weise Gelegenheit bieten, das durch sie – und nur durch sie – begünstigte Erlebnis der Schönheit im Medium reiner Geschmacksurteile zu aktualisieren. Doch solche Dinge – wie z. B. eine Tulpe – gehören andererseits zu demselben Typ von Dingen, die auch exemplarische Gegenstände von Wahrnehmungsurteilen wie z. B. Diese Tulpe ist rot und Dieser Stein ist (jetzt) warm,72 Diese(r) (Portion) Ton

70 Vgl. zur Einführung in dies jüngste Problemfeld die instruktive Behandlung durch Wolfgang Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie (19731), 2., verb. und erw. Aufl., Berlin/Heidelberg/New York 1983. 71 Vgl. A 158, B 197 – A 235, B 287. 72 Vgl. IV, 305*.

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ist (jetzt) hart, Diese(s) (Portion) Wachs ist (jetzt) weich73 sind. Die Beziehungen zwischen beiden Urteilstypen sind, ungeachtet aller sonstigen tiefgehenden strukturellen Unterschiede, durch mindestens eine formale Übereinstimmung bestimmt. Denn Urteile beider Typen können vom jeweils urteilenden Subjekt gleichwohl nur im Ausgang von sinnlichen Wahrnehmungen von Dingen getroffen werden, mit Blick auf die »die Wahrnehmung […] der einzige Charakter der Wirklichkeit [ist]«,74 also der einzige Charakter ihrer Existenz. Urteile beider Typen sind deswegen auch mit einer wahrnehmungsrelativen Okkasiona­ lität der Akte verflochten, durch die solche Urteile an solche sinnenfällig existierenden Dinge gebunden sind. Das reine Geschmacksurteil wird dadurch nicht etwa zu einem Wahrnehmungsurteil. Aber die Faktizität des Akts, durch den es vom Subjekt vollzogen wird, setzt den wahrnehmungsrelativen Gegenstandsbezug eines Wahrnehmungsurteils voraus und schließt daher auch dessen wahrnehmungsrelative und daher okkasionelle Existenzvoraussetzung ein. Ungeachtet dieser formalen Übereinstimmung und ungeachtet aller sonstigen strukturellen Unterschiede zwischen diesen beiden Urteilstypen fällt der wahrnehmungsrelativen Existenz ihrer Bezugsgegenstände wie der einer Tulpe, der Sonne, eines Steins, einer Portion Wachs und einer Portion Ton die Schlüsselrolle eines Knotenpunkts zwischen der Theorie der Erfahrung und der Theorie des Schönen zu. Denn im Fall der reinen Geschmacksurteile bildet der Ausgang von einem Wahrnehmungsurteil über einen solchen Gegenstand eine notwendige, wenngleich nur okkasionell erfüllte Bedingung für die Möglichkeit, ein reines Geschmacksurteils zu bilden; im Licht der in den Prolegomena erstmals skizzierten Theorie75 bildet der Ausgang von einem – bzw. mehr als einem – solchen 73 Vgl. A 765, B 793 – A 766, B 794. Eine formale Feinanalyse könnte bei den Wahrnehmungs­ urteilen, die von reinen Geschmacksurteilen vorausgesetzt werden, allerdings differenzieren. Denn für das urteilende Subjekt eines reinen Geschmacksurteils ist es nicht zwingend notwendig, über einen Begriff zu verfügen – z. B. über den Begriff der Tulpe –, unter den es den wahrgenommenen Urteilsgegenstand subsumieren könnte. Die Gültigkeit des reinen Geschmacksurteils ist von allen Begriffen unabhängig, vgl. V, 211 f. Das Wahrnehmungsurteil, das vom reinen Geschmacksurteil vorausgesetzt wird, hat daher, streng genommen, die Normalform Dies ist F, wobei »F« eine echte Leerstelle für ein (noch) unbestimmtes Prädikat markiert. Diese deiktische Minimalform eines Wahrnehmungsurteils signalisiert also lediglich, daß das urteilende Subjekt eine räumlich Nahbeziehung und eine zeitliche Gegenwartsbeziehung sowie irgendeine sensitive, primär eine in den Gesichtssinn fallende Beziehung zu dem wahrgenommenen Urteilsgegenstand unterhält. Das Erlebnis der Schönheit, das dem Subjekt anläßlich der Wahrnehmung eines solchen Gegenstandes vermittelt wird, kann dann allerdings zu einem außerordentlichen Motiv werden, nach Eigenschaften des Urteilsgegenstandes zu suchen, die sich durch Begriffe – z. B. durch die Begriffe der Blütenpflanze und der Einkeimblättrigkeit – konzipieren lassen, unter die ein solcher Gegenstand subsumiert werden kann, so daß die prädikative Leerstelle in der minimalen deiktischen Normalform ausgefüllt werden kann; zu den Wahrnehmungsurteilen vgl. auch unten S. 37–44, 63–64, 65–68. 74 A 225, B 273. 75 Vgl. IV, 298–301.

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Wahrnehmungsurteil eine ebenfalls notwendige und ebenfalls nur okkasionell erfüllte Bedingung für die Möglichkeit, ein Erfahrungsurteil zu bilden, z. B. das kausal orientierte Erfahrungsurteil »Die Sonne erwärmt den Stein«.76 Ohne solche Erfahrungsurteile und daher auch ohne die für ihre Bildung unerläßlichen Wahrnehmungsurteile könnte der Mensch noch nicht einmal den geringsten Anteil an dem »absolute[n] Ganze[n] aller möglichen Erfahrung«77 erwerben. Die kognitive Paßform, die der Mensch für eine Welt mitbringt, in der auch solche Dinge wie Tulpen, Steine, Wachsportionen, Tonportionen und die Sonne vorkommen, bewährt sich daher auch nur dann in fruchtbarer Weise, wenn er weiß, wie er Erfahrungsurteile und damit wachsende Anteile an diesem absoluten Ganzen der ihm möglichen Erfahrung gewinnen kann. Ohne sorgfältige und differenzierte Aufmerksamkeit auf die kognitiven und die methodischen Potentiale, die die von ihm jeweils schon gewonnenen Wahrnehmungsurteile über solche Dinge für eine mehr oder weniger vielfältige Teilhabe an der ihm möglichen Erfahrung mit sich bringen, wäre diese Form von kognitiver Fruchtbarkeit für ihn nicht möglich. Es ist daher auch kein Zufall, daß Kant erst im Licht der in den Prolegomena erstmals publizierten Konzeption der Wahrnehmungsurteile und der Erfahrungsurteile eine prägnante, wenngleich halbmetaphorische Fassung für einen Gedanken gefunden hat, der nicht nur offen für 76 IV, 305*. Für die Bildung des für Kant paradigmatischen Erfahrungsurteils Die Sonne erwärmt den Stein durch das urteilende Subjekt sind offensichtlich mindestens die Wahrnehmungsurteile Der Stein ist (jetzt) warm und Die Sonne beleuchtet (jetzt) den Stein dieses Subjekts und die (impliziten) Erinnerungsurteile Der Stein war (vorhin noch) kühl und Die Sonne hat (vorhin) angefangen, den Stein zu beleuchten desselben Subjekts eine notwendige Bedingung – implizit deswegen, weil ein authentisches Erinnerungsurteil an die Form Ich erinnere (mich) (jetzt) (daran), daß-p gebunden ist, während ein schlichtes perfektisches Urteil wie Der Stein war (vorhin noch) kühl bei genauerem Hinsehen aus formalen Gründen offen läßt, ob das urteilende Subjekt nicht vielleicht auf den Erinnerungsbericht eines anderen Subjekts zurückgreift. Es fällt jedoch auf, daß Kant selbst den Authentizitätsfaktor solcher Urteile explizit gemacht hat. So hat er das andere exempla­ rische Wahrnehmungsurteil »er [der Turm] ist rot«, R 3145, vgl. auch IX , 113, in das wahrnehmungsrelative differenzierte und zweifach egozentrische Urteil »Ich, der ich einen Turm wahrnehme, nehme an ihm die rote Farbe wahr«, ebd., nicht nur umgeformt; er hat die kategorische Form eines solchen Wahrnehmungsurteils sogar ausdrücklich dafür kritisiert, daß es eine logische Form zeige, die eigentlich einem Erfahrungs­urteil vorbehalten sein sollte, vgl. ebd. sowie B 142. Solche Differenzierungen Kants zeigen, daß er offensichtlich auf einem Weg ist, auf dem auch bei solchen perfektischen Wahrnehmungs- bzw. Erinnerungsurteilen wie Der Stein war (vorhin noch) kühl der Authentizitätsfaktor durch eine Umformung wie Ich erinnere mich jetzt, daß ich, der ich (vorhin) einen Stein wahrgenommen habe, an ihm (vorhin) Kühle wahrgenommen habe explizit gemacht werden müßte. Kant ist damit auf einem Weg, an dessen Ende für unterschied­liche Urteilstypen ebenso unterschiedliche sprachlich-grammatische, grammatisch-logische ›Normalformen‹ gebildet werden können, wie sie von der modernen Epistemischen Logik für ihre konzentrierten formal-analytischen Ziele fruchtbar gemacht werden. 77 IV, 328.

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diesen formalen Zusammenhang ist, sondern auch eine ebenso prägnante methodologische Selbstverortung Kants enthält: »Mein Platz ist das fruchtbare­ Bathos der Erfahrung«,78 also der fruchtbare Boden der Erfahrung. Der metaphorische Einschlag dieser Formulierung signalisiert in der für Metaphern typischen Weise, daß damit eine Einsicht formuliert wird, für deren Komplexität eine Metapher zumindest einstweilen die angemessenste sprach­liche Kurzform bietet, während nur eine entsprechend komplexe Theorie den angemessenen begrifflichen Klartext zu dieser Metapher liefern kann.79 Es ist indessen aufschlußreich, daß Kant seine halbmetaphorische methodologische Selbstverortung schon zu einer Zeit trifft, als er sich noch deutlich im Vorfeld seiner ›critischen‹ Wende orientiert. Denn eine Vorform dieser Selbstverortung findet sich ausgerechnet im Kontext seiner Streitschrift gegen Swedenborgs ›Geisterseherei‹. Er kontrastiert hier den »niedrigen Boden der Erfahrung« direkt mit dem »leeren Raume, wohin uns die Schmetterlings­f lügel der Metaphysik gehoben hatten«.80 Nur allzu offensichtlich spricht sich in diesem 78 IV, 373*, Kants Hervorhebung. 79 Welchen hohen Grad an sachlicher Aufmerksamkeit Kants Metaphern verdienen, zeigt zuletzt in besonders umsichtiger und eindringlicher Weise Joachim Ringleben, Kants leichte Taube. Philosophisch-theologischer Versuch über den Widerstand, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2009, S. 419–440; vgl. hierzu auch unten S. 34, Anm. 80. 80 II, 368, Kants Hervorhebung. Es liegt auch auf der Hand, daß Kants Bild von den Schmetterlingsflügeln der Metaphysik dem Bild von der leichten Taube der Meta­physik entspricht, das er in der Einleitung der ersten Auflage Ersten Kritik, A 5, prägt. Die aufschlußreiche Besonderheit des metaphorischen Kontrasts in der Anti-SwedenborgSchrift besteht nur allzu offensichtlich darin, daß die beiden Metaphern wie antizipierende Stellvertreter einerseits der reifen Theorie der Erfahrung und andererseits der Metaphysik-Kritik der Ersten Kritik fungieren. Vom »Boden der Erfahrung«, A 3, spricht Kant denn auch ebenso noch in der Einleitung der ersten Auflage der Ersten Kritik. Der Umstand, daß er erst in den Prolegomena zum ersten Mal vom fruchtbaren Boden der Erfahrung spricht, zeigt in der unscheinbarsten und gleichzeitig prägnantesten Form an, daß ihm mit der Konzeption der Wahrnehmungsurteile und ihrer funktionalen Verflechtung mit den Erfahrungsurteilen auch die Einsicht in die wahrnehmungsspezifischen Bedingungen der Fruchtbarkeit der Erfahrung gelungen ist. Ein ›empirischer Realist‹ war Kant daher schon lange, bevor er eingesehen hat, wie man mit guten Gründen gleichzeitig auch ein ›transzendentaler Idealist‹ sein kann; vgl. zum inneren Zusammenhang dieser beiden Haltungen IV, 374–375. Kants Haltung des ›empirischen Rea­listen‹ ist die durchschnittliche kognitive Haltung unseres nicht-wissenschaftlichen und wissenschaftlichen Alltags. Seine aus dieser Haltung erarbeitete transzendentale Theorie der Erfahrung hat deswegen eine ›Detranszendentalisierung‹ nicht nötig, weil sie uns ›empirische Realisten‹ mit Hilfe der formalen Analyse-Methoden ihres Transzendentalen Idealismus gemeinsam darauf aufmerksam macht, wie komplex und wie tief in unserer Subjektivität verzweigt die kognitiven Bedingungen sind, von denen unsere Berechtigung abhängt, ›empirische Realisten‹ zu sein. Kants Verflechtung des Transzendentalen Idealismus mit dem Empirischen Realismus ist daher auch jedem ›Neuen Realismus‹ uneinholbar voraus. Vgl. auch unten S. 98, Anm. 273.

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frühen Diktum ein kognitives Zutrauen und Vertrauen in die realen, vom ›­Boden‹ der Erfahrung eröffneten Möglichkeiten der Erfahrung aus, die noch von keiner thematischen transzendentalen Reflexion auf die formalen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung berührt sind. Doch nicht nur dies direkte proto-transzendentale Zutrauen und Vertrauen in die realen Möglichkeiten der Erfahrung bildet eine notwendige Bedingung für einen Anfang der transzendentalen Reflexion auf die für die Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis maßgeblichen Erkenntniskräfte. Für einen Anfang der transzendentalen Re­flexion auf die kognitive innerweltliche Paßform des Menschen bildet das Er­lebnis der Schönheit von Dingen der natürlichen Welt eine ebensolche notwendige Bedingung. Transzendentale Reflexionen und Analysen »müssen sich also auf etwas stützen, was man schon als zuverlässig kennt, von da man mit Zutrauen ausgehen und zu den Quellen aufsteigen kann, die man noch nicht kennt«, um »deren Entdeckung«81 zuwege zu bringen. Das wiederholte anfängliche Diktum, das dies Zutrauen und Vertrauen in den fruchtbaren B ­ oden der Erfahrung dokumentiert, ist daher im Rückblick genauso ein wie auch immer bescheidener Anfang einer solchen Reflexion wie das ebenso proto-transzendentale Diktum, das das Erlebnis der Schönheit solcher Dinge als Indiz der innerweltlichen Paßform des Menschen interpretiert. Die Frage, womit der Anfang der transzendentalen Reflexion auf die formalen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung gemacht werden muß, findet daher mit Blick auf Kants philosophische Arbeitssituation und sein ausgereiftes Diktum vom fruchtbaren Boden der Erfahrung mindestens drei Hinweise auf charakteristische Anfangsbedingungen. Kants vergleichsweise frühe Reflexion über die durch die schönen Dinge indizierte innerweltliche kognitive Paßform des Menschen und seine noch frühere halbmetaphorische Selbstverortung auf dem Boden der Erfahrung ergänzen einander zu einem unüberbietbar prägnanten Spiegelbild: Gemeinsam lassen sie sehen, wie die außerordentlich komplexen, abstrakten und weit ausgreifenden theoretischen Anstrengungen Kants letzten Endes – und gleichsam umgekehrt, wie es sich für ein Spiegelbild gehört  – in zwei einfachen, jedem Menschen zugänglichen Erfahrungen des proto-transzendentalen Denkens zusammengefaßt werden können. Es ist daher auch nur schwer zu übersehen, was Kant mit Hilfe der halb­ metaphorischen Rede vom fruchtbaren Boden der Erfahrung zu verstehen gibt: Gleichsam in der zur Abstraktions- und Komplexitätssteigerung seiner transzendentalen Untersuchungen umgekehrten Richtung wird ein Licht auf den elementarsten Knotenpunkt geworfen, der das theoretische Netz zusammenhält, das in der Ersten Kritik durch die formale und abstrakte Rede von den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und denen der möglichen Gegen81 IV, 275.

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stände der Erfahrung geschürzt wird. Die Erste Kritik selbst vermag daher auch durchaus den Spannungsbogen zu beschreiben, den die Transzendentalphilosophie der Erfahrung von ihrem abstraktesten Punkt bis zum fruchtbaren Boden der Erfahrung durchmißt. In dieser Beschreibung ist der kognitive Akt des Ich denke nicht nur »der höchste Punkt«,82 sondern auch »die Form […], die jeder Erfahrung83 anhängt, […] als bloß subjektive Bedingung derselben«.84 Dagegen fassen die Prolegomena in methodischer Hinsicht gerade nicht ausschließlich die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung ins Auge. Sie ergänzen dies Thema vielmehr durch die nicht weniger wichtige Thematisierung der Bedingungen der Fruchtbarkeit der Erfahrung. Kant hat den methodologischen Unterschied zwischen der Ersten Kritik und den Prolegomena nur notdürftig und mit einer terminologischen Anleihe bei den Chemikern als den zwischen »analytischer Methode« und »synthetischer Lehrart«85 umschrieben. Doch diese Umschreibung klammert gerade den neuen Gesichtspunkt aus, den Kant durch die Orientierung an den Fruchtbarkeitsbedingungen der Erfahrung ins Auge faßt. Viel aufschlußreicher ist der Umstand, daß Kant die neu entwickelte Konzeption der konkreten Wahrnehmungsurteile und der konkreten Erfahrungsurteile in den Prolegomena sogar der »Logische[n] Tafel der Urteile«86 voranstellt, anstatt den Leser auf die Präsentation dieser Tafel wie in der Ersten Kritik lediglich durch abstrakte programmatische, disziplinäre und begriffsanalytische Erörterungen (vgl. A 67, B 92 – A 69, B 94) vorzubereiten. Während die Erste Kritik die Theorie der Erfahrung im Ausgang vom ›höchsten Punkt‹ gleichsam ›von oben‹ konzipiert, konzipieren die Prolegomena sie im Ausgang von der ›gemeinsten Erfahrung‹ gleichsam ›von unten‹.87 Mit Blick auf die völlig neu thematisierten Fruchtbarkeitsbedingungen der Erfahrung hat Kant denn auch eine hermeneutische Analogie geprägt, die im Kontext der Prolegomena in ganz unmißverständlicher Weise die neu entdeckte methodische Schlüsselrolle zu verstehen gibt, die »den Erscheinungen (Wahrnehmungen)«88 für die Fruchtbarkeit der Erfahrung zufällt. Denn auch dann, wenn der Mensch die in 82 B 131*. 83 Hervorhebung R. E. Zu dem von Kant erst später bemerkten Problem, das mit dem distributiven Quantor viele in Verbindung mit dem Begriff der Erfahrung verbunden ist, vgl. unten S. 48–49. 84 A 354, Kants Hervorhebung. 85 IV, 263, Kants Hervorhebungen; die Herkunft dieser terminologischen Unterscheidung und damit auch deren zumindest analoge methodologische Bedeutsamkeit für seine Untersuchungen betont Kant im Anschluß an die Prolegomena denn auch sogleich im Kontext der Ersten Kritik, vgl. vor allem B XVIII *, XXI *. 86 IV, 302–303. 87 Kant selbst hat diese hodegetische Metaphorik zwei gegenläufige methodische Orientierungen der Transzendentale Deduktion der Kategorien konzipiert, vgl. zum Weg ›von unten‹ ausdrücklich A 119 f., zum Weg ›von oben‹ implizit A 116 f. sowie unten S. 77231. 88 IV, 305.

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der Ersten Kritik analysierten notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung erfüllt, wird er von ihnen nur dann in fruchtbarer Weise zugunsten der Erfahrung Gebrauch machen können, wenn er sich auch darauf versteht, »Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können«.89 Gewiß ist auch dieser methodologische, hermeneutik-analoge Satz immer noch ein Satz der Transzendentalphilosophie. Denn es sind »die reinen Verstandesbegriffe«,90 von denen man richtig Gebrauch machen können muß, wenn man Erscheinungen bzw. Wahrnehmungen bzw. Wahrnehmungsurteile mit ihrer  – und nur mit ihrer  – Hilfe so zu ›buchstabieren‹ sucht, daß die ›Leseerfolge‹ die Form der Erfahrung bzw. der Erfahrungsurteile gewinnen können.

89 312. Gerold Prauss, Erscheinung bei Kant. Ein Problem der »Kritik der reinen Vernunft«, Berlin/New York 1971, hat diese Hermeneutik-Analogie Kants noch einen Schritt weiter konstruiert und zu bedenken gegeben, daß »[d]er eigentliche Sinn dieses Modells […] sich erst [erschließt]«, wenn man das »Lesen als Deuten von Buchstaben und […] Erfahrung als Deuten von Erscheinungen«, S. 94, interpretiert, »wenn er auch nicht das Wort »deuten« verwendet«, S.  49. Daß seine entsprechenden Ausführungen zu dieser Inter­ pretationshypothese unvergleichlich viel differenzierter sind als die von ihm berücksichtigten Interpretationen Cohens, vgl. 94 f., und Cassirers, vgl. ebd., kann nicht gut bestritten werden. Unangemessen ist es jedoch, diese seine Deutung kurzerhand dadurch zu präsentieren, daß er Kant selbst eine »Deutungstheorie von Wahrnehmung und Er­scheinung«, Gerold Prauss, Einführung in die Erkenntnistheorie, Darmstadt 1980, S. 1325, zuschreibt. P.s Unschärfen, um es mit dem gebührenden Respekt für die vielfachen weiterführenden Aufschlüsse seiner Untersuchungen zu formulieren, beginnen mit seiner These: »Das Wahrnehmungsurteil ist danach also durchaus nichts anderes als diese Wahrnehmung, sondern gerade diese Wahrnehmung selbst«, S.  151, P.s Hervorhebungen. Denn Kant ist der Auffassung, daß Wahrnehmungsurteile »[…] nur die Wahrnehmungen [verknüpfen]«, IV, 304, Hervorhebung R. E. Zu Recht hebt daher M ­ anfred Baum, Deduktion und Beweis in Kants Transzendentalphilosophie. Untersuchungen zur Kritik der reinen Vernunft, Königstein/Ts., 1986, hervor, daß »[…] … in einem Wahrnehmungsurteil doch eine Wahrnehmung beurteilt [wird]«, S. 39, Hervorhebung R. E. Zu dieser von Prauss vernachlässigten formalen Verknüpfungsfunktion der Wahrnehmungsurteile vgl. unten S. 38–40, bes. S. 39, Anm. 100, 40, Anm. ­101–103, zu seiner Interpretation der Erfahrungsurteile vgl. unten S.  48, Anm.  124, und S.  51, Anm. 135. Eine hermeneutisch angemessene Skizze dieser Zusammenhänge findet sich bei Heiner F. Klemme, Kants Philosophie des Subjekts. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Verhältnis von Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis, Hamburg 1996, S. 200–204. Friedrich Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus, Frankfurt/M. 1968, unterscheidet im Gegensatz zu Prauss zwar sorgfältig die ­Typen der Wahrnehmungs- und der Erfahrungs-urteile, vgl. S. 134 f., und ebenso die »Folge unserer Wahrnehmungen«, S. 140, Hervorhebung R. E., von den Wahrnehmungs-urteilen, hat aber gleichwohl unübersehbare Schwierigkeiten, die formalen Unterschiede zwischen den Wahrnehmungsund den Erfahrungsurteilen hinreichend trennscharf zu erfassen; vgl. hierzu auch unten S. 49, Anm. 126. 90 IV, 312.

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Doch es gehört gerade zu den bedeutendsten Errungenschaften, die Kant am ursprünglichen Leitfaden der Frage nach dem Geheimnis der Urteilskraft in den Prolegomena dokumentiert, wenn er die Erscheinungen bzw. Wahrnehmungen, deren richtige ›Buchstabierung‹ mit Hilfe von Kategorien zu deren ›Lektüre‹ als Erfahrung berechtigt, auf die logische Stufe eines ganz bestimmten Typs von Produkten der Urteilskraft transponiert – auf die Stufe der Wahrnehmungs-urteile. Es sind daher Wahrnehmungs-urteile und nicht irgendwelche logisch unstrukturierten und wahrheitsindifferenten ›Erscheinungen‹, ›Wahrnehmungen‹, ›Sinnesdaten‹ oder andere unverfügbare Widerfahrnisse der psycho-neuro-physischen Rezeptivität des Menschen, die mit Hilfe von Kategorien ›buchstabiert‹ werden. Die logische Stufe dieses Urteilstyps ist dadurch charakterisiert, daß Wahrnehmungsurteile jedenfalls und mindestens »der logischen Verknüpfung der Wahrnehmungen in einem denkenden Subjekt [bedürfen],« wenngleich »keines reinen Verstandesbegriffs«.91 Damit stellt Kant außerdem unmißverständlicher als in der Ersten Kritik klar, inwiefern der »Aktus der Spontaneität«,92 der in dem »formale[n] Satz der Apperzeption«93 Ich denke94 ausgedrückt wird und »für alle Verbindung gleichgeltend sein müsse«,95 »den Grund der […] Möglichkeit des Verstandes, sogar in seinem logischen Gebrauche, enthält«96. Denn damit zeigt sich in aller wünschenswerten Klarheit, daß des denkenden Subjekts spontaner Akt der »Vereinigung der Vorstellungen in einem Bewußtsein […] das Urteil [ist]« – kurz: daß »Denken soviel als Urteilen [ist]«.97 Das formale Paradigma für den logischen, urteilsförmigen Charakter der Verknüpfung von nicht-urteilsförmigen Wahrnehmungen in Einem  – und demselben  – Subjekt bzw. Bewußtsein durch eben dies Eine und selbe Subjekt bzw. Bewußtsein hat Kant selbst durch das Musterbeispiel »Ich, der ich einen Turm wahrnehme, nehme an ihm die rote Farbe wahr«98 geprägt. Zwar ist der Turm, auf den dies Wahrnehmungsurteil bezogen ist, im strikten Rahmen eines solchen Urteils kein Gegenstand möglicher Erfahrung. Ein solcher könnte ja nur im Rahmen eines Erfahrungsurteils mit Hilfe der

91 IV, 298; vgl. auch 304–305. 92 B 130. 93 A 354. 94 Vgl. B  131 f. 95 Ebd. 96 Ebd. 97 IV, 304. Diese Klarstellung Kants verwendet Tobias Rosefeldt, Das logische Ich. Kant über den Gehalt des Begriffs von sich selbst, Berlin 2000, daher auch zu Recht als eine der wichtigsten Prämissen seiner in methodischer Hinsicht vorzüglich gearbeiteten und ­v ieles Wichtige klärenden Untersuchung, vgl. S. 9 f.; vgl. hierzu im einzelnen unten vor allem 7. Ab. 98 R 3145, Hervorhebungen R. E.; vgl. auch IX , 113; vgl. oben S. 31–33, bes. S. 32, Anm. 73, 33, Anm. 76, vor allem unten S. 68, Anm. 197.

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einen oder anderen Kategorie identifiziert werden.99 Dennoch ist der Turm, wie das anaphorische »an ihm« andeutet, in dem schwachen, wahrnehmungsrela­ tiven Sinn ein Gegenstand, daß der Turm, den ich wahrnehme, derselbe Gegenstand ist, an dem ebenfalls ich die rote Farbe wahrnehme. Die vom denkenden Subjekt eines Wahrnehmungsurteils mit Hilfe dieses Urteils selbst, also spontan gestiftete Identität dieses denkend-urteilenden Subjekts mit dem Subjekt von zwei – oder mehr als zwei – Wahrnehmungen impliziert die entsprechend wahrnehmungsinvariante – wenngleich nicht wahrnehmungs-unabhängige – Identität eines wahrgenommenen Gegenstandes.100 Und da die Identität eine symmetrische Relation ist, impliziert diese zweifache Identitätsrelation offenbar die 99 Vorläufig muß die Frage offen bleiben, ob Entitäten wie die Sonne, ein Turm, Steine, Wachs- und Tonportionen, auf die in den von Kant exemplifizierten Wahrnehmungsurteilen Bezug genommen wird, nicht in einem präzisierbaren Sinn mit einer Anwendung der Substanz-Kategorie insbesondere in ihrer schematisierten Form verbunden sind. Immerhin wird die anaphorische Bezugnahme […] an ihm […] in dem subjektidentitären Wahrnehmungsurteil Ich, der ich einen Turm wahrnehme, nehme an ihm die rote Farbe wahr gelegentlich von Kant selbst direkt als kategorialer Ausdruck eingestuft: »Die Wörter ›an‹, ›durch‹, ›zu‹ sind die Funktion der Kategorie«, R 5107. Wegen dieser Auffassung kann Kant auch ganz kohärent zu bedenken geben: »Unsere gemeine Sprache enthält schon alles das, was die Transzendentalphilosophie mit Mühe herauszieht«, XXIX, 1, 804. 100 Kant gibt mit der differenzierten Paraphrase eines Wahrnehmungsurteils daher einen deutlichen Wink in Richtung auf zwei von ihm respektierte formale Minimalstandards für den logischen Status eines Urteils: Durch die mit Hilfe des zweifachen »ich« angedeutete reflexive Identifikation des einen Turm wahrnehmenden Subjekts mit dem die rote Farbe an ihm wahrnehmenden Subjekt durch dasselbe denkende Subjekt und durch die mit Hilfe des anaphorischen »an ihm« angedeutete Identifikation des wahrgenommenen Turms mit dem Träger der wahrgenommenen roten Farbe durch das denkende Subjekt gibt er zu verstehen, daß es diese formalen, identitätsstiftenden kognitiven Leistungen des denkenden Subjekts sind, durch die es dasjenige zugunsten einer minimal-logisch strukturierten, urteilsförmigen Einheit überwindet, was er im systematischen Zusammenhang als ›An-sich-Zerstreutheit des empirischen Bewußtseins‹ in logisch noch unverknüpfte Widerfahrnisse der rezeptiven Sinnlichkeit charakterisiert, vgl. vor allem B 133 f.; diese für Wahrnehmungsurteile als Urteile charakteristischen identitären Formkomponenten übersieht Prauss, vgl. oben S.  37, Anm.  89; vgl. zu den Einzelheiten unten 7.  Ab. Damit ist auch die Frage von Dieter Henrich, Diskussionsbeiträge, in: Die Beweisstruktur der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe – eine Diskussion mit Dieter Henrich, in: B. Tuschling (Hg.), Probleme der »Kritik der reinen Vernunft«. Kant-Tagung Marburg 1981, Berlin/New York 1984, S.  41–96, beantwortet, »in welcher Weise […] sich Wahrnehmungen und Erkenntnis qua Synthesisleistungen voneinander unterscheiden und auf den gemeinsamen Einheitsgrund der Apperzeption beziehen [lassen]«, S.  80: Wahrnehmungen sind durch die (mehr oder weniger komplexe) subjekt-identitäre Form von Wahrnehmungs-urteilen auf die sie stiftenden Synthesen der reinen und ursprünglichen Apperzeption bezogen, Erkenntnisse sind durch die kategorialen Formen der Erfahrungs-­ urteile – also der wichtigsten empirischen Erkenntnisurteile – auf diesen gemeinsamen Einheitsgrund bezogen.

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Umkehrung eines solches Wahrnehmungsurteils in der Form Ich, der ich die rote Farbe wahrnehme, nehme sie an einem Turm wahr.101 Ausschlaggebend bleibt indessen, ganz unbeschadet aller sonst noch mög­ lichen formal-analytischen Differenzierungen,102 der Umstand, daß es sich bei den Erscheinungen bzw. Wahrnehmungen, die durch ›Buchstabieren‹ in ›lesbare Texte‹ der Erfahrung transformiert werden können, im Licht der verbesserten Logik-Konzeption der Prolegomena um wahrheitsfähige Urteile und gerade nicht um wahrheitsindifferente und unverfügbare psycho-neuro-physiologische Widerfahrnisse des jeweils wahrnehmenden Subjekts handelt.103 Kants paradigmatisches Erfahrungsurteil Die Sonne erwärmt den Stein, das mit dem zweistelligen Prädikat … erwärmt … in umgangssprachlich verkürzter Form 101 Auf die Möglichkeit einer solchen Umkehrung (»juxtaposition«) des Wahrnehmungsurteils macht schon Vleeschauwer, Déduction III, S.  145 f., aufmerksam, wenngleich nicht mit Hilfe von identitätslogischen Gründen. Ob das präpositionale an ein sprachlich-grammatisches Indiz ist, das bereits auf eine Substantialitätsunterstellung verweist, die mit dem Bezug auf den jeweils wahrgenommenen und beurteilten Gegenstand verbunden wird, darf hier offen bleiben. Immerhin gibt Kant selbst gelegentlich zu bedenken: »Würden wir die transcendentalen Begriffe so zergliedern; so wäre dies eine transcendentale Grammatik, die den Grund der menschlichen Sprache enthält; z. B. wie das praesens, perfectum, plusqamperfectum in unserem Verstande liegt, was adverbia sind usw.«, XXVIII . 2.1, 576–577, Kants Hervorhebungen. Präpositionen wie an sind auch keine schlechten Kandidaten für eine solche transzendentale Grammatik. 102 Nach den Formalisierungsstandards der modernen Logik müßte man beispielsweise ein egozentrisches Wahrnehmungsurteil, wie es Kant formuliert, in eine Konjunktion aus zwei Identitätsurteilen mit singulären ich-Referenzen und definiten Kennzeichnungen zerlegen: ich bin identisch mit dem, der einen Turm wahrgenommen hat und ich bin identisch mit dem, der an einem Turm die rote Farbe wahrgenommen hat. Doch da eine Konjunktion jedes ihrer Glieder unabhängig vom jeweils anderen impliziert, würde in dem Implikat ich bin identisch mit dem, der an einem Turm die rote Farbe wahrgenommen hat die Bedingung verloren gehen, daß der erwähnte Turm identisch mit dem Turm-Referenten in dem anderen Implikat derselben Konjunktion ist – eine Identität, die in Kants egozentrischer Version durch das anaphorische an ihm respektiert wird. Andererseits kann man diese anaphorische Referenz nicht in das zweite Konjunktionsglied integrieren, weil dann das entsprechende von einer Konjunktion geforderte wahrheitsdifferente Implikat einer solche Konjunktion in Gestalt des Satzes ich bin identisch mit dem, der die rote Farbe an ihm wahrgenommen hat die unbestimmte Referenz … an ihm … enthalten würde und damit wahrheitsindifferent wäre. 103 Bei der Wahrheitsdifferenz der Wahrnehmungsurteile handelt es sich allerdings um den in logischer Hinsicht atypischen Fall von Urteilen, die »bloß für uns, d. i. für unser Subjekt [gelten]«, IV, 298, weil mit einem solchen Urteil gar nicht der Anspruch verbunden ist, daß es »mit einem Gegenstande übereinstimmt«, ebd. Der Geltungsmodus eines Wahrnehmungsurteils ist daher der der Monovalenz, weil seine egozentrische logische ›Normalform‹ nur die beiden Fälle zuläßt, daß es auf das jeweils urteilende Subjekt entweder zutrifft oder aber einen unaufrichtigen Akt bildet, also einen Akt, der gar nicht mehr irgendeinem logischen, sondern nur noch einem moralischen Modus angehört, oder aber einen kognitions-defizitären oder sogar pathologischen Fall bildet, also nur noch eine indikatorische Valenz hat.

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die wahrnehmungsspezifisch verschlüsselte Kausalkategorie verwendet,104 geht also aus einem ›Buchstabieren‹ hervor, das darauf zielt herauszufinden, ob einige schon verfügbare Wahrnehmungsurteile und Erinnerungsurteile (vgl. oben S. 33, Anm. 76) gleichsam mit Hilfe des ›Alphabets‹ der Kategorien ›buchstabiert‹ werden können, so daß dies kausal orientierte Erfahrungsurteil berechtigterweise behauptet werden kann. Bei den Elementen, die auf diese Weise ›buchstabiert‹ werden können müssen, handelt es sich mindestens und jedenfalls um Wahrnehmungsurteile vom Typus Ich, der ich (jetzt) einen Stein wahrnehme, nehme an ihm (jetzt) Wärme wahr und Ich, der ich (jetzt) die Sonne wahrnehme und (jetzt) einen Stein wahrnehme, nehme (jetzt) an ihnen den Lichteinfall der Sonne auf den Stein wahr, aber offensichtlich auch um Erinnerungsurteile vom Typus Ich erinnere mich (jetzt), daß ich, der ich (vorhin) einen Stein wahrgenommen habe, (vorhin) an ihm Kühle wahrgenommen habe und Ich erinnere mich (jetzt), daß ich, der ich (vorhin) die Sonne wahrgenommen habe und (vorhin) einen Stein wahrgenommen habe, (vorhin) den Lichteinfall der Sonne auf den Stein wahrgenommen habe. Es darf hier offen bleiben, auf wieviele Wahrnehmungsurteile dieses oder eines anderen Typs und auf wieviele Erinnerungsurteile dieses oder eines anderen Typs ein der Erfahrung fähiges Subjekt jeweils zurückgreifen können muß, wenn es berechtigt ist, die Kausalkategorie oder auch eine andere Kategorie zugunsten der Behauptung eines entsprechenden Erfahrungsurteils zu verwenden. Es darf ebenfalls offen bleiben, auf wieviele kommunikativ vermittelte Wahrnehmungsurteile und Erinnerungsurteile anderer erfahrungsfähiger Subjekte ein solches Subjekt jeweils angewiesen ist, da es ja doch in Rechnung stellen muß, daß das intendierte Erfahrungsurteil »für 104 Eine unverkürzte, syntaktisch differenzierte Form könnte die Verwendung der Kausalkategorie durch das Urteil in der Version Weil die Sonne den Stein beleuchtet, wird er warm (wärmer) präsentieren; vgl. unten S. 46 f. Weder die sachliche Angemessenheit dieser weil-Grammatik von Kausalitätsurteilen noch die sachliche Angemessenheit der einfacheren Prädikat-Grammatik … erwärmt … wird durch die treffliche Bemerkung Gilbert Ryles, Der Begriff des Geistes (engl. 1949), Stuttgart 1969, beeinträchtigt: »Die Erklärung [eines Ereignisses, R. E.] folgt nicht dem Muster ›Das Glas zerbracht, weil es von einem Stein getroffen wurde‹, sondern eher dem Muster ›Das Glas zerbrach, als es von einem Stein getroffen wurde, weil es zerbrechlich war‹«, S. 61. Die Berücksichtigung einer dispositionellen Komponente jenseits der episodischen Komponente der kausalen Struktur bildet zwar – ebenso wie die Berücksichtigung einer nomologischen Kom­ponente  – einen Fortschritt in der analytischen Durchdringung dieser Struktur. Dennoch bilden einfache prädikative Erfahrungsurteile über episodische Formen von Kausalität – z. B. Der (geworfene) Stein zerbrach das Glas – den ausschlaggebenden diagnostischen Urakt in der Erschließung von Fällen von Kausalität. Erst im Licht eines solchen diagnostischen – wie auch immer grammatisch-logisch einfachen – Urakts wird es sinnvoll, nach dispositionellen, nomologischen und anderen explanatorischen Faktoren zu suchen. Zu diesem diagnostischen Charakter von kausalthematischen (Erfahrungs-) Urteilen vgl. Stephen Toulmin, Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaft (engl. 1953), Göttingen 1969, S. 124 f., 168 f.

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jedermann gültig sein solle«,105 und daher schon einmal probeweise die kommunikative Weite des Konsenses mit seinen eigenen Wahrnehmungsurteilen und Erinnerungsurteilen zu erkunden sucht. In jedem Fall kann die Aufmerksamkeit auf eine wie auch immer große Vielzahl von Wahrnehmungsurteilen und Erinnerungsurteilen, auf die ein Subjekt eines (kategorial strukturierten) Erfahrungsurteils rekurrieren können muß, besser als alles andere verständlich machen, inwiefern ein solches Erfahrungsurteil ein »synthetische[s] Urteil«106 ist: Es wird vom urteilenden Subjekt mit Hilfe der einen oder anderen Kategorie durch eine Synthesis (Verbindung, Verknüpfung, coniunctio) von wie auch immer vielen Wahrnehmungsurteilen und Erinnerungsurteilen gewonnen. Doch diese wie auch immer komplexe kognitive Leistung ist nichts, was etwa irgendwelchen eminenten, beispielsweise wissenschaftlichen Talenten oder Experten vorbehalten wäre. Wir erzielen sie vielmehr auch »jederzeit im gemeinen Leben«, so daß sie auch hier »wahrhafte Erfahrung ausmachen«.107 Kants so banal scheinende Beispiele kausal orientierter Erfahrungsurteile sind daher Muster für Strukturen, deren Obhut in zwei ganz verschiedenen Dimensionen aufgehoben ist. In der einen Dimension sind sie Muster der komplexen kognitiven Leistungen, die die Menschen seit unvordenklichen Zeiten jederzeit ›in ihrem gemeinen Leben‹ vollbringen. In dieser Dimension ihres gemeinen Lebens haben sich die Menschen durch die unaufhörlichen Bewährungsproben, die solche Erfahrungsurteile bestanden haben, ein respektables Selbstvertrauen in die kognitiven Vermögen, Fähigkeiten und Fertigkeit erworben, mit deren Hilfe sie immer wieder von neuem neue Erfahrungsurteile gewinnen. In derselben Dimension haben sie sich indessen ein nicht weniger respektables Weltvertrauen in die Eignung von unüberschaubar vielen wahrnehmungsrelativen Entitäten erworben, sich als Bedingungen für den Gewinn von belastbaren Erfahrungsurteilen zu bewähren. In der anderen Dimension sind Kants Beispiele von Erfahrungsurteilen aus dem gemeinen Leben Muster dafür, daß Erfahrungsurteile auch dann, wenn sie sich in einem geschichtlich überreichen Maß bewährt haben, einer logischen und einer transzendentalen Analyse gleichwohl fähig und bedürftig sind. Denn auch die höchsten Grade ihrer geschichtlichen Bewährung im gemeinen Leben können einen Mangel an Einsicht in die Gründe der Berechtigung, solche Erfahrungsurteile überhaupt zu behaupten, nicht wettmachen. Bewährungen und Bewährungsproben sind prinzipiell eine Angelegenheit der nachträglichen Geschichte. Gründe der Berechtigung sind hingegen eine Angelegenheit der prinzipiell vorgängig möglichen Einsicht. Daran ändert sich auch dann nichts, wenn die Gründe der Berechtigung, Erfahrungsurteile zu behaupten, lange warten müssen, bis es gelingt, sie durch Analysen mit Hilfe 105 IV, 298. 106 301*. 107 337.

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einer transzendentalen Deduktion des von Kant vorgeführten Typs zu durchschauen und »auf Begriffe zu bringen«.108 Kants Hermeneutik-Analogie vom kategorialen Buchstabieren der Wahrnehmungsurteile zugunsten ihrer Lektüre als Erfahrungsurteile bietet daher die prägnanteste methodologische Pointierung seiner halbmetaphorischen Rede vom ›fruchtbaren Bathos der Erfahrung‹ und damit auch seiner in den Prolegomena zum ersten Mal wenigstens in nuce neu entwickelten Theorie der Bedingungen der Fruchtbarkeit der Erfahrung. Die in logischer und in transzendentaler Hinsicht elementarste, aber in methodischer Hinsicht primäre Bedingung dieser Fruchtbarkeit bilden die Wahrnehmungsurteile mitsamt ihren (wahrnehmungsrelativen) Existenzvoraussetzungen über solche Dinge wie Tulpen, Türme, Steine, Wachsportionen, Tonportionen, die Sonne und unzählige andere Dinge dieser und verwandter Typen. Und zwar handelt es sich bei ihnen um diese Fruchtbarkeitsbedingung der Erfahrung offenkundig deswegen, weil die Wahrnehmungsurteile das ausschließliche und genuine Material für die von Kant apostrophierte kategoriale Buchstabierung bilden, durch die Erfahrungsurteile und daher wachsende Anteile an der dem Menschen möglichen Erfahrung aus Wahrnehmungsurteilen gewonnen werden können.109 Gleichsam im Rücklicht der Theorie der reinen Geschmacksurteile ge­w innen daher Komponenten in Kants transzendentaler Theorie der Erfahrung an Gewicht, an Binnendifferenzierung und an Kontur, die andernfalls weit unter dem Niveau ihrer systematischen Wichtigkeit unauffällig bleiben würden: 1.) Die schönen Dinge indizieren die innerweltliche kognitive Paßform des Menschen; 2.) reine Geschmacksurteile wie Diese Tulpe ist schön setzen implizite wahre Wahrnehmungsurteile wie Dies ist rot, Dies ist eine Tulpe und Diese Tulpe ist rot durch das Subjekt des reinen Geschmacksurteils ebenso voraus wie wahrnehmungsrelative Existenzunterstellungen dieses Subjekts mit Blick auf die entsprechenden wahrgenommenen Dinge; 3.) wahre Wahrnehmungsurteile bilden die charakteristische kognitive und methodische Primärbedingung für die nicht-ästhetische, kognitive Erprobung der innerweltlichen kognitiven Paßform des Menschen; 4.) Erfahrungsurteile wie Die Sonne erwärmt den Stein, Die Sonne härtet den Ton, Die Sonne schmelzt das Wachs bilden paradigmatische Beispiele der wichtigsten kognitiven Bewährungsproben, denen der Mensch seine innerweltliche kognitive Paßform aussetzen kann, wenn es darum geht, Anteile an der ihm möglichen Erfahrung zu erwerben; 5.) die Klärung der Unterschiede und der Zusammenhänge zwischen Wahrnehmungsurteilen und Er108 A 78, B 104. 109 Die hier skizzierte Analyse der funktionalen und formalen Zusammenhänge zwischen Wahrnehmungsurteilen und Erfahrungsurteilen berührt sich in wichtigen Punkten mit den trefflichen Analysen von Peter Rohs, Wahrnehmungsurteile und Erfahrungsurteile, in: G. Schönrich und Y. Kato (Hg.), Kant in der Diskussion der Moderne, Frankfurt/M. 1996, S. 166–189, vor allem 166–175.

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fahrungsurteilen gehört deswegen in die Obhut der transzendentalen Theorie der Erfahrung, weil diese Unterschiede und Zusammenhänge ausschließlich durch die Formen gestiftet werden, in denen urteilende und der Erfahrung fähige Subjekte von nicht-empirischen Kategorien wie der Kausalkategorie bloß empirischen Gebrauch machen können; 6.) die Analyse der Gründe der Berechtigung des bloß empirischen Gebrauchs von Kategorien wie der Kausalkategorie in Erfahrungsurteilen, wie sie nur durch Wahrnehmungsurteile veranlaßt werden können, ist Angelegenheit einer Untersuchung, die Kant unter dem Namen der Transzendentalen Deduktion durchgeführt hat. Kants halbmetaphorische Rede vom fruchtbaren Boden der Erfahrung gibt daher ganz ungeachtet ihrer vergleichsweise bescheidenen begrifflichen Binnendifferenzierung noch einen anderen Gedanken zu verstehen als die differenziertere hermeneutik-analoge Kurzformel, mit deren Hilfe Kant seine Konzeption der Fruchbarkeitsbedingungen der Erfahrung pointiert. Denn diese Halbmetaphorik stellt analog zwei Seiten vor Augen wie an jeder Paßform  – auch an der innerweltlichen kognitiven Paßform des Menschen – mindestens zwei Seiten beteiligt sind, die zueinander passen. In diesem Sinne verweist einerseits die Rede vom fruchtbaren Boden der Erfahrung sowohl auf die vom Menschen schon erworbenen und bewährten Anteile an der ihm möglichen Erfahrung wie darauf, daß diese Anteile analog verläßlich wie der Erdboden sind, auf dem der Mensch nicht nur einfach lebt, sondern der auch selbst ein vielfältiges alltägliches und wissenschaftliches Medium und Feld dieser mög­lichen Erfahrung ist. Es sind daher auch solche schon erworbenen und bewährten Anteile an der dem Menschen möglichen Erfahrung, die Kant ganz gezielt mit Hilfe von kausal orientierten Erfahrungsurteilen des menschlichen Alltags wie Die Sonne erwärmt den Stein, Die Sonne härtet den Ton, Die Sonne schmelzt das Wachs exemplifiziert. Diese Beispiele für vorwissenschaftliche Erfahrungsurteile sind mithin deswegen so wichtig, weil sie diejenige Seite der innerweltlichen kognitiven Paßform des Menschen in geradezu paradigmatischer Weise repräsentieren, auf der sich gleichsam die wichtigsten kognitiven Früchte zeigen, die diese Paßform im Zuge der geschichtlichen Auseinandersetzung des Menschen mit den innerweltlichen Phänomenen schon längst im Übermaß gezeitigt hat. Die andere der beiden Seiten dieser Paßform zeigt sich in der von Kant betonten Fruchtbarkeit des Bodens der Erfahrung: Angesichts der schon gezeitigten Früchte dieser Paßform sieht sich der Mensch in geschichtlich überreich bewährten Maßen sowohl zu Selbstvertrauen wie zu Weltvertrauen berechtigt. Das Maß seines berechtigten Selbstvertrauens ist daran gebunden, daß er von den in die Tiefen seiner Subjektivität sich verzweigenden und verästelnden Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, also von seinen entsprechenden kognitiven Vermögen, Fähigkeiten und Kompetenzen auch weiterhin in fruchtbringender Weise Gebrauch machen kann, insbesondere von seinen entsprechenden kognitiven Vermögen, Fähigkeiten und Kompetenzen im bloß empirischen Gebrauch

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von Kategorien wie der Kausalkategorie zugunsten von Erfahrungsurteilen. Das Maß seines berechtigten Weltvertrauens ist indessen daran gebunden, daß er in den Höhen, Tiefen und Weiten seiner innerweltlichen Wahrnehmungssphäre auch weiterhin immer wieder von neuem auf neue und neuartige Dinge treffen kann, die Anlässe zu Wahrnehmungsurteilen geben, wie sie sich mit Hilfe von dafür geeigneten Kategorien in neue Erfahrungsurteile und damit in neue Anteile an dem Ganzen der ihm möglichen Erfahrung transformieren lassen. Es ist insbesondere der Gedanke der Berechtigung des spezifischen Selbstvertrauens des Menschen in seine weltangemessene kognitive Paßform, von dem Kant bis ins Zentrum seiner transzendentalen Analysen getragen wird, wenn er den Platz seiner philosophischen Anstrengungen mit unüberhör­barem Pathos mit dem fruchtbaren Boden der Erfahrung identifiziert. Denn das, was in der subjektiven Tiefe der kognitiven Paßform des Menschen verborgen ist und auf seine transzendentalanalytische Entdeckung gleichsam wartet, ist nichts anderes als das, »was zu nichts Mehrerem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntnis möglich zu machen«.110 Auf den ›dornichten Wegen‹ dieser Entdeckung ist Kant der erste, der planmäßig die Gründe der Berechtigung dieses Selbstvertrauens des Menschen in seine weltangemessene kognitive Paßform analysiert und sich nicht mit den Graden und den Formen seiner geschicht­lichen Bewährung zufrieden gibt. Diese Paßform wird von den schönen Dingen zwar in unüberbietbar unmittelbarer Weise angezeigt. Doch alleine durch das unmittelbare Erlebnis dieser Art von Schönheit wird sie noch nicht im mindesten auf dem zentralen kognitiven Feld der dem Menschen möglichen Erfahrung bewährt. Ihre Bewährung zeigt sich erst in der immensen Fülle der Erfahrungsurteile – vor allem der von Kant paradigmatisch eingeführten kausal orientierten Erfahrungsurteile –, die die Menschen alleine schon in der langen und weitverzweigten Geschichte ihres kognitiven, praktischen und technischen Alltagslebens erworben haben. Von der Frage nach den Gründen der Berechtigung des Selbstvertrauens des Menschen in seine die Möglichkeit der Erfahrung eröffnenden kognitiven Fähigkeiten handelt Kant indessen in der direktesten und konzentriertesten Form in einem systematischen Brennpunkt der Ersten Kritik. Denn unter dem von den Rechtslehrern seiner Zeit geborgten Terminus der Deduktion111 arbeitet er in Gestalt der Transzendentalen Deduktion der Kategorien eine entsprechende Argumentation aus. Sie soll mit Hilfe von formal-analytischen Mitteln die Gründe der Berechtigung des ausschließlich empirischen Gebrauchs von nicht-empirischen Begriffen wie den Kategorien der Substanz und der Ursache aufzeigen.112 Denn es »sind die Kategorien Bedingungen der Möglichkeit der 110 IV, 373*. 111 Vgl. A 84, B 116 f. 112 Vgl. B 159–165.

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Erfahrung«113 in dem Sinne, daß »sie […] nur zur Möglichkeit empirischer Erkenntnis [dienen]« und »haben […] keinen anderen Gebrauch«,114 sondern sind »von bloß empirischem […] Gebrauche«.115 Über das einzigartige Medium dieses einzig berechtigten, empirischen Gebrauchs solcher Begriffe ist sich Kant indessen erst im zweiten publikationsreifen Anlauf endgültig klar geworden. Denn erst in den Prolegomena identifiziert er dies Medium auch in termino­ logisch zugespitzter Form mit den von ihm so genannten Erfahrungsurteilen,116 exemplifiziert sie durch ein Urteil der alltäglichsten Erfahrungserkenntnis wie Die Sonne erwärmt den Stein und analysiert das seiner grammatisch-logischen Form nach zweistellige Prädikat »… erwärmt …« als den äußerst verknappten sprachlichen Ausdruck des empirischen Gebrauchs der Kausalkategorie.117 Nun bereitet es zwar keinerlei Mühe, diese sprachökonomische verknappte Gestalt eines durch die Kausalkategorie strukturierten Erfahrungsurteils in ein Urteil der komplexeren Form Weil die Sonne den Stein bestrahlt, wird er warm zu transformieren. Durch eine solche Umformung kommt außerdem in einer besonders aufschlußreichen Form die konditionale Syntax auch direkt zum Ausdruck, die Kant im Licht der hypothetischen Urteilsform mit der Kausalkategorie bekanntlich ohnehin verbunden sieht.118 Doch wichtiger für die Einschätzung der Tragweite von Kants später Entdeckung, daß die schönen Dinge die Paßform indizieren, die die kognitiven Fähigkeiten des Menschen für die Welt mitbringen, in der er lebt, ist vorläufig noch etwas anderes. Denn wenn alltägliche Allerweltsurteile vom Typ Die Sonne erwärmt den Stein das charakteristische und exklusive Medium für den nur transzendental legitimierbaren empirischen Gebrauch von nicht-empirischen Begriffen wie der Kausal-Kategorie bilden, dann vertrauen die Menschen berechtigterweise schon seit unvordenklichen Zeiten darauf, daß ihre kognitiven Fähigkeiten die Paßform für die Welt mitbringen, in der Auseinandersetzung mit deren Phänomenen sie im Medium solcher Urteile an der ihnen möglichen Erfahrung teilhaben. An dieser uralten Berechtigung ändert sich auch dann nichts, wenn es erst in einer Spät113 B 161; vgl. auch A 94, B 126; A 128 f.; B 167 f. 114 B 147. 115 A 139, B 178. 116 Vgl. IV, 298–301. 117 Vgl. 301*. 118 Vgl. hierzu im einzelnen unten 10.3.–11. Ab. Obwohl Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding, Tübingen 1962, S.  108–109, diese weil-Grammatik selbst verwendet, vgl. S. 108, identifiziert er fast im selben Atemzug irrtümlich die logisch-hypothe­tische Form des wenn-dann-Urteils mit der kausal-kategorialen Form des weil-deshalb-Urteils, vgl. S. 108–109. Der Unterschied zwischen beiden Formen ist indessen gravierend. Denn die wenn-dann-Grammatik ist sowohl im Licht der Junktoren-Logik wie im Licht der alltäglichen Gebrauchsgrammatik damit verträglich, daß der Sachverhalt besteht oder aber nicht besteht, den der wenn-Satz repräsentiert; dagegen legt sich der Benutzer der weilGrammatik darauf fest, daß der Sachverhalt besteht, den der weil-Satz repräsentiert.

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zeit der Geschichte mit Mitteln der transzendentalen Reflexion und Analyse gelingt, die Gründe dieser Berechtigung, also die Rechtfertigung dieser Form des Kategorien­gebrauchs zu entdecken und »auf Begriffe zu bringen«.119 Berücksichtigt man die alltäglichen Allerweltsmuster, durch die Kant Erfahrungsurteile exemplifiziert und mit dem charakteristischen und exklusiven Medium des empirischen Gebrauchs von Kategorien wie der Kausalkategorie identifiziert, dann zeichnet sich innerhalb der Ersten Kritik eine ähnlich irritierende Disproportion ab wie innerhalb der Dritten Kritik. Denn der theoretische Aufwand, den die Erste Kritik in die Analyse der Berechtigungsgründe für den exklusiv empirischen Gebrauch solcher nicht-empirischen Begriffe investiert, steht in einem ähnlich disproportionalen Verhältnis zur sprachlich-grammatisch einfachen Gestalt solcher Erfahrungsurteile wie der theoretische Aufwand, den die Dritte Kritik in die Analyse der Berechtigungsgründe investiert, reine Geschmacksurteile in der nahezu rührend einfachen Form Dies ist schön zu treffen. Es wäre indessen ein arger Irrtum zu meinen, daß es sich bei konkreten Erfahrungsurteilen nur um beiläufige und nachträgliche Illustrationen von etwas handeln würde, was in der vermeintlich wahren philo­sophischen, abstrakten Form ohnehin schon in den beiden Fassungen der Transzendentalen Deduktion der Kategorien gelingen müsse. Denn diese Deduktion ist gar nichts anderes als die transzendentale Rechtfertigung des ausschließlich empirisch berechtigten Gebrauchs von Kategorien wie der Kausalkategorie in solchen Erfahrungsurteilen. Diese Deduktion erhält daher geradezu ihre unmittelbare Aufgabenstellung überhaupt nur durch die Frage nach den Gründen der Berechtigung, solche Urteile mit Anspruch auf objektive Gültigkeit zu treffen. Doch diese Zuspitzung des Deduktionsproblems auf die Frage nach den Gründen der Berechtigung, Kategorien wie die Substanzund die Kausalkategorie exklusiv im Zuge eines einzigartigen Typs von Urteilen zu gebrauchen, ist eine unmittelbare Frucht der zum ersten Mal in den Prolegomena dokumentierten Einsicht in das fruchtbare Spannungsverhältnis zwischen Wahrnehmungsurteilen und Erfahrungsurteilen.120 Es ist daher eine der wichtigsten methodischen Pointen der zweiten Fassung der Transzendentalen Deduktion, daß dem § 27, der deren Resultat formuliert,121 im § 26 eine eingehende exemplarische Erörterung der Gründe vorhergeht, die im konkreten und paradigmatischen Fall eines Urteils über das Gefrieren von Wasser zum empirischen Gebrauch der Kausalkategorie in einem Erfahrungsurteil berechtigen.122 An einem von mehreren paradigmatischen Beispielen des empirischen Gebrauchs der Kausalkategorie im Rahmen eines passenden Er119 A 78, B 103. 120 Vgl. IV, 298–301. 121 Vgl. B 165–169. 122 Vgl. B 162–163; zumindest indirekt wird der Typus des Erfahrungsurteils allerdings auch schon B 142 f. ins Spiel gebracht.

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fahrungsurteils exemplifiziert Kant daher in musterhafter Weise die allgemeine »Auflösung der Aufgabe […], wie nun Erfahrung vermittelst jener Kategorien und nur allein durch dieselbe[n] möglich sei«123 – eben durch ihren Gebrauch in Erfahrungsurteilen. Die in den Prolegomena zum ersten Mal apostrophierten, exemplifizierten, thematisierten, analysierten und trennscharf gegeneinander abgegrenzten Typen der Erfahrungsurteile und der Wahrnehmungsurteile124 gehören daher von Anfang an beide zu jenem genuinen Analysematerial einer Transzendentalen Deduktion der Kategorien ›von unten‹, an dem sich Kant in deren zweiter Fassung auf Schritt und Tritt – wenngleich bis zum vorletzten Paragraphen nur stillschweigend – orientiert. Wohl behandelt Kant Vorformen des strukturellen Unterschieds zwischen beiden Urteilstypen auch schon in der ersten Fassung dieser Deduktion. Doch es ist von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit zu beachten, daß er sich hier darauf beschränkt, lediglich den Plural der Rede »von verschiedenen Erfahrungen« zu kritisieren und den abstrakten Unterschied zwischen »viel Wahrnehmungen«, »einer und derselben allgemeinen Erfahrung« sowie der »durchgängige[n] und synthetische[n] Einheit der Wahrnehmungen« zu thematisieren, die »gerade die Form der Erfahrung aus[macht]«.125 Die formallogischen, die epistemologischen und die kategorialanalytischen Einsichten in die strukturellen Unterschiede und die funktionalen Zusammenhänge zwischen zwei entsprechenden Urteilstypen hat er sich erst auf dem Weg von der ersten Fassung der Ersten Kritik zu den Prolegomena bis zur Publikationsreife erarbeitet. Doch diese Einsichten sind, wie die entsprechenden Differenzen zwischen den beiden Fassungen der transzendentalen KategorienDeduktion zeigen, aus mehreren Gründen von erheblicher sachlicher Tragweite. Zum einen machen diese Einsichten mit Blick auf diese Differenzen darauf aufmerksam, daß es nicht nur viele Wahrnehmungen bzw. Wahrnehmungs123 IV, 475*, Kants Hervorhebung. 124 Sowohl die formalen Analysegrade wie die formalen und funktionalen Trennschärfen, die Kant mit Blick auf Wahrnehmungsurteile und Erfahrungsurteile entwickelt, werden bei Prauss, Erscheinung, im Rahmen seiner Hypothese einer kantischen Deutungs­ theorie vernachlässigt; vgl. hierzu auch unten S. 51, Anm. 135. 125 A 110. Auf diese scheinbar bloß grammatischen Zusammenhänge kommt Kant ebenfalls zu sprechen, wenn er betont: »Man kan nämlich nicht … von Erfahrungen (experientiae experientiarum) sprechen«, XXII, 514, Kants Hervorhebung, und im Rückblick auf die A 110 eingeführte Singular-Grammatik von Erfahrung fortfahren: »Diese Gramatische Einheit in der Bezeichnung …«, 515. In der programmatischen Skizze R 5663 Über formale und materiale Bedeutung einiger Worte notiert er: »Es giebt mehrere Worte, die im Singulari gebraucht einen anderen Sinn haben, als wenn man sie im Plurali braucht; sie sind alsdann im Singulari in formaler, im Plurali in materialer Bedeutung zu nehmen«. Mit der Selbstkorrektur A 110 und der Einführung des Begriffs des Erfahrungsurteils in den Prolegomena legt Kant den Begriff der Erfahrung ›in formaler Bedeutung‹ auf den Gebrauch im Singular und den Begriff des Erfahrungsurteils ›in materialer Bedeutung‹ auf die Brauchbarkeit im Plural fest.

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urteile und die Eine Erfahrung gibt, sondern auch viele Erfahrungsurteile und die Eine Erfahrung. Durch diese Einsichten werden Fragen nach den strukturellen Beziehungen zwischen vielen Wahrnehmungsurteilen, vielen Erfahrungsurteilen und der Einen Erfahrung virulent, wie sie Kant vorher noch gar nicht thematisch bedacht hat.126 Zum anderen werden durch diese Einsichten mit Blick auf diese Differenzen nicht nur die strukturellen Unterschiede zwischen Wahrnehmungsurteilen und Erfahrungsurteilen innerhalb der transzendentalen Kategorien-Deduktion wichtig.127 Vor allem wird unter diesen Vorzeichen innerhalb dieser Deduktion auch die strikte funktionale Kohärenz zwischen diesen beiden Urteilstypen wichtig – also der erstmals in den Prolegomena skizzierte Gedanke, daß das Verfügen eines der Erfahrung fähigen Subjekts über hinreichend viele und hinreichend spezifische Wahrnehmungsurteile die notwendige und charakteristische Bedingung dafür ist, daß es in fruchtbarer Form an dem Ganzen der ihm möglichen Erfahrung teilhaben kann  – nämlich in Form von immer zahlreicheren und immer besser durch Wahrnehmungs­ urteile bewährten Erfahrungsurteilen. Diese Bewährungsproben im Medium der Wahrnehmungen bzw. Wahrnehmungsurteile sind extrem umfangreich. Denn »wer kann alle Wahrnehmungen aufzählen?«, in der Dimension der Zeit 126 Vgl. hierzu im einzelnen unten S. 58–59. Wenn Wolfgang Carl, Die transzendentale Deduktion der Kategorien in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Ein Kommentar, Frankfurt/M. 1992, gelegentlich im Plural von »Erfahrungen«, S.  51, spricht, dann zeigt sich darin, ganz unbeschadet vieler verdienstlicher, auch prinzipieller Klärungen durch seinen Kommentar, doch eine auch prinzipielle Unschärfe. Denn Kant kritisiert in der Passage A 110 f. gerade die konventionelle plurale Sprechweise von Erfahrung-en, um sie auf die plurale Sprechweise von »viel Wahrnehmungen« einzuschränken und die unitäre Sprechweise »einer und derselben allgemeinen Erfahrung« vorzubehalten. Diese Unschärfe Carls ist vor allem darauf zurückzuführen, daß er im Ganzen seines Kommentars die Tragweite zu verkennen scheint, die Kants endgültige Einsicht in den strukturellen Unterschied zwischen Wahrnehmungsurteilen und Erfahrungsurteilen für die Konzeption der Transzendentalen Deduktion mit sich bringt. Denn wohl verfügen die Menschen seit unvordenklichen Zeiten über unzählige mehr oder weniger gut bewährte Erfahrungsurteile, aber prinzipiell niemals über die ›eine und selbe allgemeine Erfahrung‹. Mit jedem neuen durch Wahrnehmungen hinreichend bewährten Erfahrungsurteil verfügen sie vielmehr stets nur über einen neuen Anteil an dieser ihnen möglichen einen und selben allgemeinen Erfahrung. Doch es sind solche Fortschritte, wie sie nur durch den ausschließlich empirisch berechtigten und transzendental gerechtfertigten Gebrauch von Kategorien in solchen Erfahrungsurteilen erzielt werden können. Wenn Kambartel, Struktur, »Eine Analyse der Bedeutungen, die bei Kant dem Terminus Erfahrung zukommen«, S. 94, erprobt, dann vernachlässigt er jedoch durchweg das mit A 110 und den Prolegomena erreichte Niveau der trennscharfen Struktur- und Funktionsunterschiede zwischen vielen Wahrnehmungen, vielen Wahrnehmungsurteilen, vielen Erfahrungsurteilen und der Einen Erfahrung, an der die Menschen mit Hilfe von Wahrnehmungen, Wahrnehmungs- und von Erfahrungsurteilen in zunehmendem Maß teilhaben können und auch faktisch teilhaben. 127 Vgl. vor allem B 141–142.

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»sind sie ins Unendliche erstreckt«.128 Deswegen stützt sich ein Erfahrungs­ urteil im Rahmen seiner Bewährungsproben, »obgleich aus reinen Quellen des Verstandes entsprungen, dennoch … auf durchgängige Bestätigung«129 Die Transzendentale Deduktion der Kategorien kann sich daher gar nicht in den beiden abstrakten Diagnosen erschöpfen, 1.) daß »die Kategorien Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung [sind]«130 bzw. »die Gründe der Möglichkeit der Erfahrung enthalten«,131 und 2.) daß »sie […] nur zur Möglichkeit empirischer Erkenntnis [dienen]« und »keinen anderen Gebrauch [haben]«,132 also »von bloß empirischem […] Gebrauche sind«.133 Wohl markieren diese beiden Diagnosen in abstrakter Form die beiden thematischen Brennpunkte dieser Deduktion. Doch erst durch die Einsicht der Prolegomena in die strikte funktionale Kohärenz der Wahrnehmungsurteile und der Erfahrungsurteile werden außer den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung auch die Bedingungen der Fruchtbarkeit der Erfahrung als das genuine Zwillings-Thema dieser Deduktion thematisiert.134 Wahrnehmungsurteile bilden wegen ihres empirischen 128 XXI, 95. 129 IV, 327. 130 B 161; vgl. auch A 128. 131 B 167. 132 B 147. 133 A 139, B 178. 134 Zu Recht schreibt daher Vleeschauwer, Déduction III, S. 15–18, im Anschluß an Erdmann den Fortschritt von der ersten zur zweiten Auflage der Ersten Kritik vor allem dieser zuerst in den Prolegomena dokumentierten Einsicht zu; er spricht ebenso zu Recht davon, daß es Kant auf dieser Linie darauf ankomme, »à mettre en évidence le rôle primordial du jugement«, S. 16; er stellt aber ebenfalls klar, daß dies Augenfällig-machen der primordialen Rolle des Urteils nicht verwechselt werden dürfe mit einer späten Ent­deckung dieser Rolle; vielmehr ist Kant dies Augenfällig-machen gelungen »grâce à une plus saine conception du jugement«, S. 284, Hervorhebung R. E.; erst im Licht dieser reiferen Konzeption könne er in der berühmten langen Fußnote in der Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft sogar behaupten, daß er endlich »en possession complète du nouveau principe de la déduction«, S. 17, der Kategorien sei; vgl. auch S. 141 f.; er hält Kants Erörterung der Strukturen und der Rollen der Wahrnehmungsund der Erfahrungsurteile in den Prolegomena sogar für »l’essence de la nouvelle déduction«, II, S. 476. Es ist daher bestenfalls zweitrangig zu klären, ob Klaus Reich, Die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel (19321), Berlin 19482, Vleeschauwers Auffassung zu Recht – und dies auch noch mit einem argumentum e silentio – mit der Bemerkung kritisiert, er schreibe Kant im Licht der Prolegomena sogar eine »neue Theorie des Urteils«, Reich, Vollständigkeit, S. 40, Anm. 23a), Hervorhebung R. E., zu und nicht nur – aber immerhin – eine reifere, also differenziertere Konzeption. Wichtig ist ausschließlich die Tragweite, die die differenziertere Urteils-Konzeption der Prolegomena für die Durchführung der transzendentale Kategoriendeduktion von unten mit sich bringt. Exemplarische Elemente von ihr hat Kant in der zweiten Auflage der Ersten Kritik nur allzu offensichtlich in den Passagen B 142 f., B 162–163 wenigstens beiläufig eingeflochten. Baum, Deduktion und Beweis, macht denn auch die Unterscheidung einer wichtigen Schrittfolge in den §§ 21 ff. dieser Deduktion von Kants Rekurs auf »(verknüpfte Wahrnehmungen)«,

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Gehalts die empirischen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungsurteile und damit die Bedingung der Möglichkeit, konkrete Anteile, also konkrete ›Früchte‹ am Ganzen der möglichen Erfahrung zu erwerben, also konkrete ›Früchte‹ dieser Möglichkeit zu ernten. Die in den Prolegomena zum ersten Mal dokumentierte Einsicht in die strukturelle Differenz und in die strikte funktionale Kohärenz dieser beiden Urteilstypen bringt daher offensichtlich eine der wichtigsten Entdeckungen Kants in jener Dimension der Produkte der Urteilskraft mit sich, die Kant seit seiner frühen Frage nach dem Geheimnis der Urteilskraft planmäßig erkundet. Kant zeigt im Licht dieser Entdeckung in methodisch vorbildlicher Form, daß er ein Faktum der Erfahrung – also sowohl ein Faktum der alltäglichen wie eines der wissenschaftlichen Erfahrung  – nicht etwa simpliciter akzeptiert. Er vermag vielmehr erst und nur im Licht der ihm schon zur Verfügung stehenden Theorie der Erfahrung ›critisch‹ zu beurteilen, daß die Menschen die von ihm analysierten Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung nicht nur von Anfang an faktisch erfüllen, sondern von ihnen auch mit unaufhörlich reicher werdender Fruchtbarkeit ebenso faktisch Gebrauch gemacht haben und auch weiterhin immer werden Gebrauch machen können – ohne daß es jemals so etwas wie ein oder das Faktum der Erfahrung geben könnte, sondern höchstens wachsende Anteile an der dem Menschen möglichen Erfahrung.135 Indessen kann die Leitfadenrolle des Urteils bzw. der Urteilsfunktionen für die Transzendentalphilosophie – nichts anderes als Vleeschauwers rôle primordial du jugement – zusammen mit Kants exemplarischen Formalanalysen der Wahrnehmungsurteile und der Erfahrungsurteile den Eindruck erwecken, als könnte sich Kant eigentlich auf eine im weiten Sinne des Wortes logische Analyse von Erfahrungsurteilen bzw. auf eine vergleichende logische Analyse von Erfahrungsurteilen und von Wahrnehmungsurteilen sowie von anderen Urteilstypen beschränken. Tatsächlich hat Kant sogar ausdrücklich die Möglichkeit von Untersuchungen vorgesehen, die sich primär durch »die logische

S. 12, abhängig, vgl. auch S. 149–150; Michael Wolff, Die Analyse der Erfahrung in Kants Prolegomena, in: H.  Lyre/O.  Schliermann (Hg.), Kants Prolegomena. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt/M. 2012, S. 127–167, schreibt Kants Erörterungen der Wahrnehmungs- und der Erfahrungsurteile sogar ein solches Gewicht zu, daß er sie als eine Analyse der Erfahrung auffaßt, obwohl in seiner Abhandlung der ganze theoretische Komplex ausgeblendet bleibt, den die transzendentale Analytik der Erfahrung in der Transzendentalen Logik der Ersten Kritik umfaßt. Vgl. hierzu unten 7.–12. Ab. sowie Zweiter Teil. 135 Insofern irrt Prauss, Erscheinung, doppelt, wenn er »das Faktum der Erfahrung, wonach sie als empirisches Urteil jederzeit wahr oder falsch werden kann«, S. 12, Hervorhebungen R. E., thematisiert: Weder ist die Erfahrung jemals ein Faktum noch ist irgendein (empirisches) Erfahrungsurteil jemals die Erfahrung; wohl aber ist es im Licht von Kants Theorie ein Faktum, daß wir durch Erfahrungsurteile wachsende Anteile an der uns möglichen Erfahrung schon erworben haben und weiterhin erwerben können.

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Reflexion«136 leiten lassen und sich ausschließlich mit »einer Aufmerksamkeit auf die Gründe der Wahrheit«137 von Urteilen begnügen – also auf die mit einer Kategorie, mit einem Wahrnehmungsprädikat bzw. mit anderen Urteilselementen verbundenen Wahrheitsgründe der entsprechenden Urteile. Eine solche Untersuchungsrichtung bewegt sich offenbar in einer zumindest mittelbaren Nachbarschaft zum gemeinsamen Konvergenzpunkt mit einer wahrheitskonditionalistischen Semantik, wie sie seit Gottlob Freges langjährigen logischen Pionieruntersuchungen und insbesondere seit Alfred Tarskis formalsemantischer Pionierarbeit sowie seit Carnaps erster Lehrbuchversion einer solchen Semantik138 richtungweisend geworden ist. Es sind ja gerade Kants Analysen der Erfahrungs- und der Wahrnehmungsurteile in den Prolegomena, die zeigen können, daß und inwieweit Kants Untersuchungen mit dieser Untersuchungsrichtung zumindest konvergieren.139 Dennoch ist Kant über eine solche ausschließlich von der logischen Reflexion geleiteten Analyse von Urteilen von Anfang an hinausgegangen. Er hat plan­ mäßig »die transzendentale Reflexion«140 immer dann geübt, »wenn es nicht auf die logische Form […] ankommt«,141 sondern darauf, ob die Begriffe, mit denen die Wahrheitsgründe eines Urteils verbunden sind, »zu einer oder der anderen Erkenntnisart [gehören, R. E.]«,142 Durch die vielfältige Verwendung des Prädikats des Transzendentalen im Ganzen der ›critisch‹ gewordenen Philo­sophie und in deren diversen systematischen Verzweigungen hat er darüber hinaus in unmißverständlicher Weise signalisiert, daß die so verstandene transzen­dentale Reflexion seine philosophischen Anstrengungen sogar dominiert. Die lexikalische Erläuterung »Das Wort transzendental bedeutet bei mir […] eine Beziehung […] nur aufs Erkenntnisvermögen«143 erschöpft sich daher nicht in ihrem propositionalen Gehalt. Sie hat im Kontext der auf elementare nachträgliche Klärungen bedachten Prolegomena vor allem auch eine didaktische Funktion. Es 136 A 262, B 318, Kants Hervorhebungen. 137 A 261, B 316. 138 Vgl. Rudolf Carnap, Introduction to Semantics, Mass. 1943. 139 Beatrice Longuessness, Kant and the Capacity to Judge. Sensibiliy and Discursivity in the Transcendental Analytic of the Critique of Pure Reason (franz. 19931), Princeton 1998, hat in diesem Zusammenhang daran erinnert, daß »Kant inherits the term condition from Wolff and his school. Wolff’s notion of a condition is related to his explanation to what makes a judgement true«, S. 95, also bezogen auf den Grund der Wahrheit eines Urteils. Zu Recht warnt sie aber auch davor zu übersehen, daß Wolffs Konzeption der Wahrheitsbedingungen bzw. -gründe von Urteilen von Kant nicht nahtlos übernommen werden kann, weil sie ihn wegen Wolffs Bindung dieser Wahrheitsbedingungen an Begriffe vom Typ der conceptus communes auf die Wahrheit analytischer Urteile festlegen würde, vgl. S. 96–97. 140 A 262, B 319, Kants Hervorhebungen. 141 A 262, B 318. 142 A 261, B 317. 143 IV, 292.

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wird noch einmal in zugespitzter Form eingeschärft, daß Kants philo­sophische Anstrengungen sogar dann, wenn es im Rahmen des einen oder anderen Untersuchungsganges ›auf die logische Form ankommt‹, gleichwohl plan­mäßig der weiterführenden Frage nach der ›Beziehung aufs Erkenntnisvermögen‹ nachgehen. Deswegen stellt Kant ja sogar den Abschnitt der un­mittelbaren Einleitung in seine Konzeption der (logischen) Urteilsfunktionen unter die Überschrift »Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt«.144 Es liegt daher auch sofort auf der Hand, welche methodische Tragweite diese planmäßige weiterführende Beziehung gerade auch der im engeren Sinne logischen, die urteilsinternen Formen betreffenden Fragestellungen ›aufs Erkenntnisvermögen‹ mit sich bringt: Kants Untersuchungen wird eine zusätzliche, ins nahezu Hyperkomplexe führende Komplexitätsdimension hinzufügt. Methodisch gut kontrollierbare transzendentale Untersuchungen umfassen zwar logische Unter­suchungen als einen unverzichtbaren Teil, aber, wie die Geschichte der Logik bis heute zeigt, nicht umgekehrt. Kant macht damit indirekt darauf aufmerksam, daß logische Untersuchungen um eine ganze Dimension ihrer mög­lichen Tragweite gebracht werden, wenn sie nicht mit der transzendentalen Frage verbunden werden, welche Beziehung die von ihr jeweils untersuchten logischen Funktionen zu den spezifischen kognitiven Fähigkeiten der Subjekte haben, die von diesen logischen Funktionen Gebrauch machen, indem sie mit ihrer Hilfe urteilen Im Licht von Kants früh entworfenem Gedanken von der kognitiven Paßform des Menschen für die Welt zeigt daher bereits die planmäßige transzendentale Orientierung der Untersuchungen der Ersten Kritik eine Tragweite, die um genau einen Schritt weiter reicht als es Kant selbst unmittelbar in Aussicht stellt. Das gilt vor allem für das transzendentale Kernstück  – für die Transzenden­ tale Deduktion der Kategorien. Unmittelbar in Aussicht gestellt wird mit ihr eine transzendentale Analyse der Gründe der Berechtigung für den exklusiv empirisch möglichen Gebrauch dieser nicht-empirischen Begriffe. In Wahrheit liefert diese Deduktion darüber hinaus auch die transzendentale Analyse der Berechtigungsgründe des Selbstvertrauens des Menschen in seine kognitive Paßform für die Welt der ihm möglichen Erfahrung. Das Erkenntnisvermögen, auf das die transzendentale Orientierung diese Berechtigungsgründe bezieht, charakterisiert Kant in der konzentriertesten Form daher zum ersten Mal auch ausdrücklich im Anschluß an diese Deduktion und damit an der vorletzten Nahtstelle der Ersten Kritik – also in dem auf diese Deduktion folgenden Zweiten Buch, das vor allem Von der transzendentalen Doktrin der Urteilskraft handelt. An dieser Stelle faßt er bereits den allergrößten Teil seiner nahezu hyperkomplexen Untersuchungen in der komprimiertesten Form zusammen. Er formuliert diese Charakterisierung daher in einem Satzgefüge, das entsprechend dieses extremen Komplexitätsgrades auch extrem abstrakt ist. Und da der 144 A 67, B 92, Hervorhebung R. E.

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letzte Arbeitsgang der Untersuchungen noch aussteht, formuliert er die frag­ lichen Bedingungen vorläufig noch in hypothetischer Form. Demnach ist eine methodisch kontrollierbare Einsicht in die Berechtigungsgründe des Selbstvertrauens des Menschen in seine die Möglichkeit der Erfahrung eröffnenden kognitiven Fähigkeiten möglich, »wenn wir die formalen Bedingungen der Anschauung a priori, die Synthesis der Einbildungskraft, und die notwendige Einheit der­selben in einer transzendentalen Apperzeption,145 auf eine mög­liche Erfahrungserkenntnis überhaupt beziehen, und sagen: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthe­tischen Urteile a priori«.146 Es liegt selbstverständlich auf der Hand, daß ein nicht hinreichend vor­ bereiteter Leser mit dieser hochabstrakten Formulierung des wichtigsten vorletzten Zwischenergebnisses von Kants Untersuchungen zur subjektiven Struktur der Erfahrung nur verschwindend wenig anfangen kann. Kant formuliert dies Zwischenergebnis überdies in einer Sprache, an der sowohl die terminologischen Traditionen seines Jahrhunderts beteiligt sind, aber auch die theoretischen Terme, die er in den vorausgegangenen Untersuchungen geprägt hat. Doch zu dem Wenigen, das auch der nicht hinreichend vorbereitete Leser dieser Formulierung entnehmen kann, gehört jedenfalls der Gedanke, daß die Möglichkeit der Erfahrung vom richtigen Gebrauch von drei ganz bestimmten funktional miteinander verflochtenen kognitiven Fähigkeiten abhängt. Immerhin ist dies Wenige aber auch wichtig genug, um den wichtigsten systematischen Knotenpunkt in Kants kritischem Geschäft markieren zu können, bis zu dem gleichsam das Licht reicht, mit dem Kants frühe suggestive These über die indikatorische Funktion der schönen Dinge auch noch das spezifische kognitive Format beleuchtet, durch das der Mensch in die Welt der ihm möglichen Er­fahrung paßt.

3. Wissenschaftstheoretische und ontologische Mißverständnisse der Theorie der Erfahrung Wenn Kant den Ausgangspunkt und den Fluchtpunkt seiner transzendentalanalytischen Anstrengungen auf dem ›fruchtbaren Boden‹ der Erfahrung lokalisiert, dann beleuchtet er die kognitive Paßform des Menschen für die Welt der ihm möglichen Erfahrung nicht nur mit Blick auf die eine der beiden zueinander passenden Seiten dieses Formats, also nicht nur mit Blick auf die Tiefe 145 Hervorhebung der drei kognitiven Fähigkeiten, R. E. 146 A 158, B 197, Kants Hervorhebungen; vgl. auch A 111 f., B 147–148, 161 f.; vgl. hierzu im einzelnen Zweiter Teil.

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der sich verzweigenden und verästelnden subjektiven, kognitiven Bedingungen dieser Fruchtbarkeit, sondern auch mit Blick auf die Früchte, die nur mit Hilfe dieser Bedingungen hervorgebracht werden können. Die Fruchtbarkeit dieser Tiefe zeigt sich nun einmal darin, daß sich der Mensch gerade auch ›im gemeinen Leben‹ nach und nach konkrete Strukturen dieser Welt wie z. B. kausale Strukturen erschließt – und sich im Laufe seiner Geschichte auch schon in unüberschaubarer Fülle erschlossen hat –, deren Erkenntnis ihm durch die von ihm erfüllten subjektiven Bedingungen möglicher Erfahrung eröffnet wird. Die Erfahrungserkenntnisse, die er im alltäglichen menschheitsgeschichtlich er­ worbenen und bewährten Selbstvertrauen auf diese Bedingungen bisher schon erworben hat, gehören allerdings nicht ausschließlich der alltäglichen Allerweltserfahrung an. In einem in Kants Augen zu seiner Zeit geradezu sprunghaft steigenden Maß gehören sie auch der wissenschaftlich geförderten Erfahrung an. Der alltägliche Allerweltscharakter der Erfahrung zeigt sich gleichwohl in besonders prägnanter Weise im Fall von Erfahrungsurteilen, wie Kant sie zum ersten Mal in den Prolegomena und danach am Ende des § 19 und im vorletzten Paragraphen der zweiten Fassung der Transzendentalen Deduktion in paradigmatischer Form exponiert und analysiert.147 Denn im Licht dieser Analysen zeigt sich die Fruchtbarkeit der Erfahrung in erster Linie in der geschichtlich bewährten Überfülle von alltäglichen kausal orientierten Allerweltsurteile wie Die Sonne erwärmt den Stein, Die Sonne härtet den Ton, Die Sonne schmelzt das Wachs.148 Da Kant nicht sonderlich an einheitlichen sprachlichen Standardversionen für solche Urteilstypen interessiert ist, kann er ein kausal orientiertes Erfahrungsurteil sinngemäß und bedeutungsgleich auch in der Variante Die Sonne ist durch ihr Licht Ursache der Wärme [des Steins, R. E.]149 formulieren. Doch hat man den von Kant exponierten kategorialen Kern solcher sprachlich-grammatisch variierenden kausal orientierten Erfahrungsurteile erst einmal berücksichtigt, dann zeigt sich diese Fruchtbarkeit genauso unverkürzt, wenngleich erst in zweiter Linie in der ebenfalls immer größer werdenden Fülle von experimental-wissenschaftlichen bzw. ärztlich-klinischen Formen solcher kausal orientierten Erfahrungsurteile wie Dieser Kurzschluß ist durch Eindringen von Wasser ins Isoliermaterial der elektrischen Leitung ausgelöst worden und Diese Herzinnenwandentzündung ist durch Befall mit Streptokokken ausgelöst worden. Nicht nur das Auslösungs-Vokabular signalisiert durch seine Familienzugehörigkeit zum Kausalitäts-Vokabular in solchen Urteilen den empirischen Gebrauch der Kausal-Kategorie. Die kausale Verbal-Grammatik, die Kant in der exemplarischen Form des zweistelligen Prädikats … erwärmt … benutzt, kann ebenso in der Form Der Befall der Herzinnenwand mit Streptokokken ent147 Vgl. IV, 298–301 bzw. B 142, 162–163. 148 Vgl. A 765, B 793 – A 766, B 794. 149 Vgl. IV, 312.

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zündet sie verwendet werden. Kausal orientierte Erfahrungsurteile können daher grammatisch angemessen auch in präpositionalen Formen wie Der Stein wird durch die Sonnenbestrahlung warm,150 Der Kurzschluß ist durch das Eindringen von Feuchtigkeit in das Isoliermaterial geschehen bzw. Diese Herzinnen­ wandentzündung ist durch Befall mit Streptokokken geschehen ausgedrückt werden. Solche in die Grammatik der kausal orientierten Erfahrungsurteile gehenden Erörterungen können unmittelbar zeigen und bewähren, was Kant im Auge hat, wenn er allgemein zu bedenken gibt, daß seine Kategorialanalysen und grammatische Analysen »in der Tat nahe miteinander verwandt [sind]«.151 Im Licht von Kants Halbmetapher vom fruchtbaren Boden der Erfahrung und seiner korrespondierenden Theorie gehören alle derartigen grammatischen Varianten von Erfahrungsurteilen zu den fruchtbaren Manifestationen des berechtigten Selbst- und Weltvertrauens, mit denen der Mensch gerade auch seine kausal-diagnostischen kognitiven Fähigkeiten in der Welt erprobt, in die er so paßt, daß sich solche Erfahrungsurteile immer wieder von neuem sowohl in kognitiver wie in praktischer und in technischer Hinsicht bewähren. In der kognitiven Auseinandersetzung mit den Phänomenen dieser Welt kann ein solches Wesen im Licht von Kants Theorie vermöge dieser Fähigkeiten und in Gestalt solcher Kausaldiagnosen in unermeßlich fruchtbarer Weise an der einen und selben ihm möglichen Erfahrung von objektiven Strukturen dieser Welt teilhaben. Der hochabstrakte Satz, mit dem Kant die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zusammenfassend auf drei von ihm analysierte kognitive Zentral­ fähigkeiten des Menschen zurückführt, faßt ebenso prägnant noch ein anderes, nicht weniger anspruchsvolles Resultat seiner vorausgegangenen Untersuchungen zusammen: Er identifiziert diese subjektiven Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung mit den Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung.152 Diese Identifikation läßt dies Kernstück von Kants Theorie der Erfahrung zweifellos noch anspruchsvoller und komplexer werden als sie ohne diese Identifikation auch schon wäre. Dies Anspruchsniveau und dieser Komplexitätsgrad nehmen sogar geradezu paradoxe Züge an, wenn man berücksichtigt, mit welchen Mitteln Kant die damit angemeldeten Ansprüche einlöst. Denn zu diesen Mitteln gehören die Formulierungen, mit denen er die synthetischen Urteile apriori präsentiert und in deren Licht die so identifizierten Bedingungen »objektive Gültigkeit [haben]«.153 Damit formuliert Kant nicht nur das thema­tische Zentrum der von ihm erarbeiteten Theorie der Erfahrung. Er 150 Die kausal-kategoriale Komponente kann man in sogar noch unscheinbarerer Form schon durch die Präfix-Komponente des Er-wärmungs-Vokabulars ausgedrückt sehen. 151 IV, 323. 152 Vgl. A 158, B 197. 153 Ebd.

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markiert damit innerhalb dieser Theorie auch eine Zäsur, an der sich der Zugang zu einer Paradoxie öffnet, die der Legitimations-Paradoxie der reinen Geschmacksurteile durchaus ebenbürtig ist. Diese Paradoxie der Erfahrung zeichnet sich in mehreren Formen ab. Gleichsam in ihrer oberflächlichen Dimension zeichnet sie sich in zwei ans Irrationale grenzenden Disproportionen ab. Die eine Disproportion zeigt sich in der paradoxen Inkommensurabilität, die zwischen den schlichten lexikalischen und grammatischen Formen unserer alltäglichen kausal orientierten Erfahrungsurteile und dem Umstand besteht, daß Kant mindesten den außerordentlichen theoretischen und methodischen Aufwand der transzendentalen Ästhetik, der formalen Logik, der metaphysischen und der transzendentalen Deduktion der Kategorien sowie der SchematismusLehre und des Grundsatz-Kapitels investieren muß, um die Gründe der Berechtigung des Anspruchs auf objektive Gültigkeit vollständig einsichtig machen zu können, der mit solchen Erfahrungsurteilen verbunden werden kann. Diese paradoxe Disproportion ist nur allzu offenkundig der ebenso paradoxen Disproportion unmittelbar verwandt, in der das geradezu rührend einfache reine Geschmacksurteil des Typs Dies ist schön zu dem ebenfalls nahezu hyperkomplexen methodischen und theoretischen Aufwand steht, den Kant in die Analyse von dessen Tiefenstruktur investiert. Andererseits zeigt aber auch der propositionale Gehalt jedes einzelnen synthetischen Urteils apriori, das eine Möglichkeitsbedingung der Erfahrung ebenso wie eine ihrer Gegenstände formuliert, nahezu triviale Züge. Diese Quasi-Trivialität springt wiederum besonders deutlich in die Augen, wenn man sich an demjenigen synthetischen Urteil apriori orientiert, dessen Fassung schließlich aus der langjährigen Auseinandersetzung Kants mit der ›Humeschen Erinnerung‹154 hervorgegangen ist. Denn der propositionale Gehalt des Kausalitätsprinzips nimmt sprachliche Fassungen an wie »Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt«155 oder »daß, wenn eine Begebenheit wahrgenommen wird, sie jederzeit auf etwas, was vorhergeht, bezogen werde, worauf sie nach einer Regel folgt«.156 Doch gerade die Quasi-Trivialität des propositionalen Gehalts eines solchen synthetischen Urteils apriori steht ebenfalls in einer paradoxen Disproportion zu dem fast schon hyperkomplexen methodischen und theoretischen Aufwand, den Kant in die Ausarbeitung und schließlich in die Begründung aller Urteile dieses Typs investiert. Mancher sogar fachkundige Leser hat sich durch die Quasi-Trivialität des propositionalen Gehalts der synthetischen Urteile apriori über die Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung und ihrer Gegenstände sogar verführen lassen, sie mit heuristischen Maximen, Postulaten und anderen me154 Vgl. IV, 260. 155 A 189; vgl. auch A 195, B 240; A 200, B 254; A 201, B 246–247. 156 IV, 296.

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thodischen Desideraten sowohl unseres alltäglichen Selbst- und Weltvertrauens wie der empirischen Forschung zu verwechseln.157 Nun spricht zwar einerseits gerade diese Quasi-Trivialität dafür, daß dieser propositionale Gehalt tatsächlich geeignet ist, einen mehr oder weniger stillschweigenden, aber spontanen Leitgedanken sowohl von Naturforschern wie unseres alltäg­lichen Selbst- und Weltvertrauens auf Begriffe zu bringen. Doch wenn andererseits für einen theoretischen Physiker die Einstellung zur Kausalität allgemein nur »als methodischer Grundsatz«158 oder als »claim of causality in ordinary physics« bzw. als »usual demand […] for […] causality«159 oder als »ein heuristisches Prinzip, ein Wegweiser«160 legitimiert werden kann, dann läßt es sich allerdings »ebenso wenig beweisen wie […] widerlegen, es ist also weder richtig noch falsch«.161 Methodologische Grundsätze, Forderungen und Weg­weiser sind stets nur mehr oder weniger fruchtbar und in buchstäblich unzähligen Erprobungsprozeduren mehr oder weniger bewährungsfähig, mehr oder weniger verläßlich, aber nicht in endlich vielen Erprobungsprozeduren defintiv entscheidbar, begründbar oder beweisbar. In Kants Theorie der Erfahrung ist das von ihm formulierte Kausalitätsprinzip jedoch ebenso ein beweisbarer Satz wie das Substanzialitätsprinzip und jedes andere ebenbürtige Prinzip.162 Doch im Rahmen einer methodologischen Einstellung zur Kausalität, wie sie vorzugsweise von tätigen Naturforschern kultiviert wird, haben die pro­ positionalen Gehalte von Kants Formulierungen des Kausalitätsprinzips auch noch eine Tragweite, die in eine andere Richtung führt. Denn die entsprechenden Formulierungen ›propositionalisieren‹ offenbar nur nachträglich das normalerweise stillschweigende habituelle Selbst- und Weltvertrauen, das wir bereits in unserem praktischen Alltagsleben hegen, wenn sich jeder von uns in beständig wechselnden Situationen beständig auf mehr oder weniger stillschweigende situationsgebundene kausal orientierte Erfahrungsurteile des Typs Die Kugel, die auf diesem ausgestopften Kissen liegt, drückt ein Grübchen in 157 Von Maximen spricht irrtümlicherweise gelegentlich sogar Robert Paul Wolff, Kant’s Theory of Mental Activity. A Commentary on the Transcendental Analytic of the Critique of Pure Reason, Gloucester, Mass. 1973, S. 261 f., 319. 158 Hermann Weyl, Philosophie der Mathematik und Naturwissenschaft (19281), München 19663, S. 246. 159 Niels Bohr, The Quantum of Action and the Description of Nature (19291), in: ders., Atomic Theory and the Description of Nature, Cambridge 1961, S. 105 bzw. 107; gegen einen Versuch, die Analogien der Erfahrung als Postulate (claims) aufzufassen, verwahrt Kant selbst seine Theorie bei Gelegenheit der Beobachtung, daß in dieser irrigen Form ins­ besondere mit dem »Grundsatz der Beharrlichkeit« allenfalls der »gemeine Verstand« verfahre, IV, 335*, aber gerade nicht die Transzendentalphilosophie. 160 Max Planck, Die Kausalität in der Natur (19321), in: ders., Vorträge und Erinnerungen, Darmstadt 1973, S. 268. 161 Ebd. 162 Vgl. A 162, B 202 – A 235, B 287. Vgl. hierzu ausführlich Zweiter Teil.

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dies Kissen, Der geheizte Ofen, der in diesem von Kälte umgebenen Zimmer steht, erwärmt dies Zimmer,163 Die Sonne erwärmt diesen Stein, Die Sonne härtet diese Portion Ton, Die Sonne schmelzt diese Portion Wachs verläßt. Derselbe pro­positionale Gehalt, der im Bewußtsein des empirischen Forschers zu einem wie auch immer zentralen methodologischen Grundsatz seiner Untersuchungen gehört, zeigt beim genaueren Hinsehen mit Mitteln der logischen und der t­ranszendentalen Reflexion und Analyse offenbar ein Janus-Gesicht: Er fungiert  zwar zuallererst als ein weitgehend unreflektierter Inhalt unseres generellen alltäglichen Selbst- und Weltvertrauens, erweist sich indessen bei gründlicher logischer und transzendentaler Analyse als der propositionale Gehalt desjenigen synthetischen Urteils apriori, auf dessen Wahrheit sich unser alltägliches Selbst- und Weltvertrauen in einer sich selbst niemals ganz durchsichtigen Weise verläßt. Auf einer Reflexionsstufe gleichsam zwischen diesem doppelten Vertrauen und der Stufe der logischen und der transzendentalen Überlegungen kann dieser selbe propositionale Gehalt indessen auch als das Reflexions-Resultat einer »Hochstilisierung des praktischen Behauptens zu theoretischen Aussagen«164 aufgefaßt werden, also als Hochstilisierung speziell zu methodologischen Aussagen von grundlagentheoretisch reflektierenden Naturwissenschaftlern. Die methodische Funktion, die der propositionale Gehalt einer sprachlichen Formulierung im Bewußtsein und in der Selbstdeutung eines aktiven Naturforschers wie unseres alltäglichen Selbst- und Weltvertrauens ausübt, sollte daher nicht mit dem formalen und funktionalen Status verwechselt werden, den derselbe propositionale Gehalt erst im Licht einer Theorie zeigt, die sich zutraut zu begründen, daß und warum die Wahrheit dieses propositionalen Gehalts wegen seiner Apriorität prinzipiell unabhängig ist von allen Wechselfällen einer empirischen Bewährungsbedürftigkeit im praktischen Alltagsleben und in der wissenschaftlichen Forschung. Es ist allerdings dieser theoretische Status, der diesen propositionalen Gehalt in das Kontrastlicht taucht, in dem seine quasiTrivialität paradoxe Züge annimmt. Denn die Einsicht in den logischen und den transzendentalen Status dieses propositionalen Gehalts ist trotz dessen QuasiTrivialität erst das Resultat der nahezu hyperkomplexen theoretischen Anstrengung, die es Kant gekostet hat, die Konzeption der (theoretischen) synthetischen Urteile apriori auszuarbeiten, zu denen die Kausalitäts-Analogie trotz ihres quasi-trivialen propositionalen Gehalts gehört. Diese Anstrengung umfaßt nicht mehr und nicht weniger als die sechs Kernabschnitte der Ersten Kritik – also die Transzendentale Ästhetik, die Theorie der Urteilsfunktionen, die Metaphysische und die Transzendentale Deduktion der Kategorien sowie die Schematismus-Lehre und das Grundsatz-Kapitel. Sogar der Antinomie-Teil der 163 Vgl. A 202, B 247–248. 164 Paul Lorenzen, Konstruktive Wissenschaftstheorie, Frankfurt/M. 1974, S. 13.

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Transzendentalen Dialektik gehört aus methodologischen Gründen noch in diesen Zusammenhang. Denn in diesem Teil wird eine »skeptische Methode«165 erprobt, die das Ziel verfolgt, »die Grenze des Bodens, worauf allein dem reinen Verstand sein Spiel erlaubt ist«166  – also die Grenze des ›fruchtbaren Bathos der Erfahrung‹ – von der Seite aus in größtmöglicher Helligkeit zu beleuchten, auf der wir uns bewegen, wenn wir die Grenzen dieses fruchtbaren Bathos überspringen und daher in der Region jenseits dieser Grenze Grundsätzen anhängen, »die in der Erfahrung weder Bestätigung erhoffen, noch Widerlegung fürchten dürfen«.167 Denn in allen vier Paaren der hier möglichen einander widerstreitender Grundsätze168 verläßt man sich unter der Kennzeichnung dieWelt-im-ganzen irrtümlich auf die diesen Grundsätzen gemeinsame unerfüllte Präsupposition, daß die-Welt-im-Ganzen als ein Gegenstand möglicher Erfahrung in Frage komme.169 Die Komplexität dieser logischen und transzendentalen Analysen hat immerhin dazu geführt, daß sogar Kant selbst gelegentlich versäumt hat, Knotenpunkte im fast schon hyperkomplexen Netz seiner Theorie der Erfahrung so zu markieren, daß sie nicht gründlichen Missverständnissen ausgesetzt ist. So ist es gerade der quasi-triviale propositionale Gehalt, mit dem er das Kausalitätsprinzip in der ersten Auflage der Ersten Kritik formuliert, was durch ein solches Versäumnis immer wieder in die Irre geführt hat. Denn der Gedanke, daß das entsprechende synthetische Urteil a priori eine notwendige Möglichkeitsbedingung der Erfahrung und die eines ihrer Gegenstände thematisiert, wird durch den isolierten propositionalen Gehalt der Formulierung Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt in einer geradezu irreführenden Form verkürzt. Er wird daher immer wieder einmal gerade von Lesern, die einen ausgeprägten formalen Scharfsinn in die Interpretation dieser Formulierung investieren, mit einem ontologischen Prinzip verwechselt, als wenn es sich in der Form erschöpfen ließe ›Zu allem, was geschieht (anhebt zu sein), gibt es etwas, worauf es nach einer Regel folgt‹ und eine physikalische Struktur der Welt thematisieren würde.170 Kant hat sich offenbar zu unrecht

165 166 167 168 169

A 424, B 451, Kants Hervorhebung. A 296, B 352. A 421, B 448. Vgl. A 426, B 454 – A 461, B 489. Vgl. hierzu die treffliche formal-analytische Diagnose durch Günther Patzig, Art. Widerspruch, in: H.-M. Baumgartner und Chr. Wild (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973, 1694–1702, bes. S. 1697 f. 170 »Alle physikalischen Objekte [in einer wirklichen Welt] sind kausal bestimmt«, Heinrich Scholz, Einführung in die Kantische Philosophie (1943/1944), in: ders., Mathesis Universalis. Abhandlungen zur Philosophie als strenger Wissenschaft, hg. v. H.  Hermes, F. Kambartel und J. Ritter, Darmstadt 19692, S. 152–218, hier: S. 211; »Es existiert eine absolute, auf der Kausalstruktur der Welt beruhende Relation ›früher als‹ (›spä-

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darauf verlassen, daß der systematische Status dieses Prinzips gegen solche ontologischen Mißverständnisse hinreichend durch den systematischen Kontext abgeschirmt sei, in dem es formuliert und begründet wird  – also durch den doppelten Umstand, daß es als eine der drei »Analogien der Erfahrung«171 eingeführt wird und als eine von mehreren (notwendigen) Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung und eines ihrer Gegenstände konzipiert ist.172 Die nicht-onto­logische, transzendentale Vollform dieses Prinzips besagt daher bei wenig genauerem Hinsehen, ›daß Erfahrung nur dann möglich ist, wenn es zu allem, was geschieht (anhebt zu sein), etwas gibt, worauf es nach einer Regel ter als‹), die für beliebige physikalische Zustände und Vorgänge definiert ist«, Wolfgang Steg­müller, Gedanken über eine mögliche Rekonstruktion von Kants Metaphysik der Erfahrung (1967–19681), wieder abgedr. in: ders., Aufsätze zu Kant und Wittgenstein, Darmstadt 1974, S. 1–61, hier: S. 39. Zu einer ausführlicheren Kritik dieser ontolo­ gischen Mißverständnisse vgl. vom Verf., Kants Paradoxie der Erfahrung, in: R. Enskat (Hg.), Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 2015, S. 9–46-, bes. S. 38–43. Kants eigene unmißverständliche Verwerfung der ontologischen Version hat nicht die nötige Aufmerksam gefunden: »Hätten wir diese Analogie […] dogmatisch, d. i. aus Begriffen, beweisen wollen: daß nämlich … jede Begebenheit etwas im vorigen Zustande voraussetze, worauf sie nach einer Regel folgt, … so wäre alle Bemühung vergeblich gewesen«, A 216, B 263–A 217, B 248. Nach einem Ausweg aus dieser ontologischen Aporie erkundigt sich Kant im Licht und im Schutz der reifen Theorie daher sogleich im gespielten Ton dessen, der sich anders nicht mehr zu helfen wußte: »Was blieb uns übrig?«, und antwortet: »Die Möglichkeit der Erfahrung …«, A 217, B 264. 171 A 176, B 218. 172 Allerdings hat sich Kants nomineller Umgang mit dem disziplinären Titel der Ontologie in der Zeit nach der Publikation der ersten Auflage der Ersten Kritik relativ schnell gewandelt. In der Auseinandersetzung mit Garves 1782 anonym erschienener Rezension kritisiert er dessen Identifikation der Deduktion der Kategorien und der Lehre von den Grundsätzen mit der traditionellen Logik und Ontologie zu Recht auf das schärfste, vgl. IV, 376*. Doch schon in Volckmanns Metaphysik-Nachschrift vom WS 1784– 1785 geht er dazu über, die Transzendentalphilosophie als die neue, kritisch gewordene Ontologie darzustellen, vgl. XXVIII .1, 390 f., und die beiden disziplinären Titel synonym zu verwenden, vgl. 470. In Dohnas Nachschrift der Metaphysik-Vorlesung vom WS 1792–1793 wird die Transzendentalphilosophie dann schon ohne Umschweife mit dieser neuen, kritisch gewordenen Ontologie identifiziert, vgl. XXVIII .2.1, 679, die in Übereinstimmung mit der Ersten Kritik, vgl. A 290, B 346, lehrt, daß der Begriff des Gegenstandes der oberste Begriff ist, den sie analysiert, vgl. XXVIII . 2.1, 622; vgl. Claudia Bickmann, Differenz oder das Denken des Denkens. Topologie der Einheitsorte im Verhältnis von Denken und Sein im Horizont der Transzendentalphilosophie Kants, Hamburg 1996, S.  LXVIIIf. Eine erste Spur dieser nominell modifizierten Einstellung findet sich sogar schon in der Ersten Kritik selbst, vgl. A 845, B 873. Es ist insofern sogar vertretbar, die Transzendentalphilosophie als ein Unternehmen aufzufassen, das transzendentale Beweispflichten der Ontologie entdeckt und einzulösen sucht, deren sich die traditionelle Ontologie selbst gar nicht bewußt war; vgl. hierzu Manfred Baum, Transzendental Proofs in Kant’s ›Critique‹, in: Transcendental Arguments, S. 3–26, bes. S. 8 f., sowie ausführlich und gründlich Baum, Deduktion und Beweis, S. 181–190.

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folgt‹.173 Doch es liegt auf der Hand, daß sich der sachliche Anspruch, der mit einem Prinzip verbunden wird, ebenso radikal ändert wie die mit diesem Anspruch verbundene Begründungspflicht, wenn es eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung thematisiert und nicht eine Struktur eines Zusammenhanges zwischen Entitäten der raumzeitlichen Welt. Mit dem so konzipierten Kausalitätsprinzip ist es daher sogar ohne weiteres wenigstens in logischer Hinsicht verträglich, daß es weder solche Prozesse noch die entsprechenden sie tragenden Entitäten noch eine kausal strukturierte Welt gibt.174 173 Das verkennt auch Eric Watkins, Kant and the Metaphysics of Causality, Cambridge 2005, wenn er seine Untersuchungen in der These zusammenfaßt, daß »Kant’s arguments in the Second … Analogy unite ontological and epistemological elements by claiming that certain ontological commitments – causality … – are presupposed by the epistemic claims concerning our knowledge of succession«, S. 425; vgl. auch S. 214–216 und hier insbesondere die schiefen Alternativen von »metaphysics« und »epistemology«, bes. S. 214 f. Kants Theorie der Kausalität kennt jedoch keine »ontological commitments« in der Rolle von »presuppositions« von »epistemic claims concerning our knowledge of succession«; wohl aber sucht sie in Gestalt der Zweiten Analogie einen von mehreren transzen­dentalen Sätzen über die notwendigen und hinreichenden Bedingungen mög­licher Erfahrung zu beweisen und durch diesen Beweis die alltägliche wissenschaft­liche und nicht-wissenschaftliche Zuversicht zu rechtfertigen, mit der wir nach existierenden(!) Trägern von Zuständen und Zustandsänderungen suchen können, die in kausalen und daher irreversiblen temporalen Relationen zueinander stehen. Zwar nicht einer ontologisierenden Verkürzung, aber doch einer Entstellung des ›critischen‹ transzendentalen Konditionalismus fällt C. F. v. Weizsäcker, Kants »Erste Analogie der Erfahrung« und die Erhaltungssätze der Physik, in: Argumentationen. Festschrift für Josef König, hg. v. H. Delius und G. Patzig, Göttingen 1964, S. 256–275, zum Opfer, wenn er diese Analogie durch die Formulierung paraphrasiert: »Es wird in der Erfahrung immer etwas geben, was sich zu den Erscheinungen verhält wie eine dauernde Substanz zu ihren wechselnden Akzidentien«, S. 256, Hervorhebungen R. E. Sieht man einmal von dem irrigen futurischen Prognosemodus ab, dann lautet die korrekte Vollform der Ersten Analogie: Erfahrung ist nur dann möglich, wenn »Bei allem Wechsel der Erscheinungen […] die Substanz [beharrt], und das Quantum derselben […] in der Natur weder vermehrt noch vermindert [wird]«, A 182, B 224, oder – in Verbindung mit dem explizit gemachten und zu ontologischen Verkürzungen verführenden Existenz-Faktor: ›Erfahrung ist nur dann möglich, wenn es bei allem Wechsel der Erscheinungen etwas gibt, das beharrt und dessen Quantum in der Natur weder vermehrt noch vermindert wird‹. Vorsichtiger als v. Weizsäcker und hermeneutisch umsichtiger trifft P. Mittelstaed, Philosophische Probleme der modernen Physik, Mannheim 1966, S. 127–130, die Kantische Intention. Hier hat auch Konrad Cramer, Nicht-reine synthetische Urteile apriori. Ein Problem der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants, Heidelberg 1985, S. 182–195, klar gesehen. 174 Dieser Punkt wird neuerdings wenigstens indirekt mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte berührt, die Wolfgang Detel mit Blick auf die Aristotelische Metaphysik skizziert, in: Aristoteles. Metaphysik. Bücher VII und VIII . Aus dem Griechischen von Wolfgang Detel unter Mitarbeit von Jula Wildberger. Kommentar von Wolfgang Detel, Frankfurt/M. 2009, S. 655–724, wenn er schreibt: »Ein wichtiges Element […] bei Kant war der Ausschluß modaler de re-Aussagen über die Welt. […] Kant zufolge sind modale Aussagen dagegen lediglich de dicto, das heißt, sie stellen nur dar, wie wir über die Welt reden und denken« (701–702). Allerdings irrt Detel ebenso wie mancher andere, wenn

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Nun sind die speziellen »synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes«175, die Kant als »Analogien der Erfahrung«176 entwirft, gewiß alles andere als Erfahrungsurteile, wie sie als Früchte von kategorialen Transformationen von Wahrnehmungsurteilen geerntet werden können. Dennoch hat Kant in diesem komplexesten, voraussetzungsreichsten Schlußstück seiner Theorie der Erfahrung nicht versäumt, die formale Verknüpfung zwischen diesen Grundsätzen und den Erfahrungsurteilen zu berücksichtigen. Angesichts der verzögerten Ausarbeitung der Konzeption der Wahrnehmungs- und der Erfahrungsurteile im Rahmen seiner Skizze der Fruchtbarkeitsbedingungen der Erfahrung in den Prolegomena ist es umso aufschlußreicher, daß Kant dem Faktum einer solchen formalen Verknüpfung schon in der Ersten Kritik auf der Spur ist, ohne sie jedoch in allen Punkten konkret genug bestimmen zu können. Auf der Spuren­ suche nach dieser Verknüpfung hat sich ihm gleichwohl eine Möglichkeit eröffnet, erstmals ein funktionales Moment dieser Grundsätze ernstzunehmen, das zwar in der wörtlichen Bedeutung ihres (deutschen) Namens aufbewahrt ist, aber nur allzu leicht lediglich beschworen wird, ohne aus dieser Bedeutungskomponente die entsprechende Konsequenz zu ziehen – eine Konsequenz, wie sie Bertrand Russell gelegentlich durch seine Erinnerung an Platons und Aristoteles’ Kritik von Prinzipienlehren manches Vorsokratikers angemahnt hat, der zwar ein Prinzip einführt, aber »makes very little use of it«.177 Kant hat diesen wichtigen Gebrauchsaspekt von Prinzipien zu Recht beachtet, wenn er daran erinnert, daß Grundsätze ihren Namen nicht nur deswegen tragen, »weil sie selbst er meint, daß »Kant […] durch eine […] transzendentale subjektphilosophische Reflexion auf die Bedingungen unserer Erkenntnis und unseres Bezugs auf die Welt die Metaphysik aus dem Bereich begründbarer Einsichten ausgeschlossen und damit das nachmetaphysische Zeitalter eingeläutet«, S.  701, habe. Detel und andere Proponenten der These von einem von Kant eingeläuteten nach-metaphysischen Zeitalter halten irrtümlich eines von drei einander ergänzenden Metaphysik-Kriterien Kants –das systemspezifische, das sachgebietsspezifische und das methodologische – für sein einziges Metaphysik-Kriterium. Doch das systemspezifische Kriterium, an dem sie sich offensichtlich orientieren, betrifft ausschließlich »die ganze (wahre sowohl als scheinbare) philosophische Erkenntnis im systematischen Zusammenhange, und [die, R. E.] heißt Metaphysik, wiewohl«, so leitet Kant sogleich die methodologische Version des Kriteriums ein, »dieser Name auch […] der Kritik gegeben werden kann, um […] die Untersuchung alles dessen, was jemals a priori erkannt werden kann, […] von allem empirischen aber, im­gleichen dem mathema­tischen Vernunftgebrauche unterschieden ist, zusammen zu fassen« KrV A 841, B 869. Er charakterisiert die in der Ersten Kritik entworfene Theorie daher gelegentlich um der Pointierung willen sogar als »die Metaphysik von der Metaphysik«, X, 269. Seine, wenn man denn so will, de-dicto-Theorie der Erfahrung ist eine nicht-empirische und in diesem methodologischen Sinne metaphysische Theorie der Erfahrung. 175 A 158, B 197. 176 A 176, B 218. 177 Bertrand Russell, History of Western Philosophy and its Connection to Political and Social Circumstances from the Earliest Times to the Present Day, London 19792, S. 80.

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nicht in höheren und allgemeineren Erkenntnissen gründen«, sondern auch deswegen, »weil sie die Gründe anderer Urteile in sich tragen«.178 Erst im Licht der Prolegomena zeigt sich indessen mit der nötigen Klarheit und Konkretion, daß es die Erfahrungsurteile sind, deren gewichtigste Gründe diese Grundsätze in sich tragen. Orientiert man sich an dem paradigmatischen Erfahrungsurteil Die Sonne erwärmt den Stein, dann liegt es auf der Hand, daß der in erster Linie einschlägige transzendentale Grundsatz der Kausalität Erfahrung ist nur dann möglich, wenn alles, was geschieht (anhebt zu sein), etwas voraussetzt, worauf es nach einer Regel folgt den Grund für dies Erfahrungsurteil allerdings nur in einer funktional sehr differenzierten Form ›enthält‹. Denn ›unter allem, was geschieht (anhebt zu sein)‹, bildet das Warmwerden eines Steines selbstverständlich ebenso nur einen speziellen Fall wie die Kausalität der Erwärmung eines Steines durch die Sonne lediglich einen speziellen Fall von Kausalität unter allen möglichen Fällen von Kausalität bildet, in denen ›etwas, was geschieht (anhebt zu sein), etwas voraussetzt, worauf es nach einer Regel folgt‹. Doch hier zeigt sich unmittelbar die Tragweite, die die Aufmerksamkeit mit sich bringt, die Kant zuerst in den Prolegomena auf den Zusammenhang zwischen den Bedingungen der Möglichkeit und den Bedingungen der Fruchtbarkeit der Erfahrung lenkt. Denn durch ihre ebenso spontanen und uralten wie unaufhörlichen und fruchtbaren kategorialen Transformationen von einschlägigen Wahrnehmungsurteilen in kausal orientierte Erfahrungsurteile haben die Menschen ›im gemeinen Leben‹ zwar unübersehbar viele kognitive ›Früchte‹ dieses Typs nicht nur geerntet, sondern intendieren solche kognitiven ›Früchte‹ spontan auch immer wieder von neuem. Gleichwohl verweisen diese wahrnehmungsgestützten Erfahrungsurteile des kausalkategorialen Typs durch die wahrnehmungs- und die gegenstandsspezifischen Unterschiede zwischen ihren propositionalen Gehalte auf eine ins Unermeßliche gehende Diversität. Alleine schon Kants spärliche Sammlung alltäglicher Musterbeispiele Die Sonne erwärmt den Stein, Die Sonne weicht das Wachs auf, Die Sonne härtet den Ton, Die Kugel drückt ein Grübchen ins Kissen, Der Ofen heizt das Zimmer bietet durch die Unterschiede zwischen den wahrnehmungs- und gegenstandsspezifischen propositionalen Gehalten dieser Erfahrungsurteile ein wenn auch höchst fragmentarisches Muster des immensen Haushalts an Erfahrungsurteilen, auf deren Bewährungsgrade sich die Menschen in allen Regionen der Welt verlassen können. Im unauslotbaren Medium solcher wahrnehmungsgestützten sowie wahrnehmungs- und gegenstandsspezifischen Erfahrungsurteile können die Menschen indessen nur dann in uneingeschränktem Maß an derselben kognitiven Struktur namens Erfahrung teilhaben, wenn nicht nur einiges oder vieles oder das meiste von dem, was ›geschieht (anhebt zu sein)‹, sondern wenn ›alles, was geschieht (anhebt zu sein), in demselben, kategorialen Sinne etwas voraus178 A 148, B 188.

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setzt, worauf es nach einer Regel folgt‹. Eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung, wie sie der Grundsatz der Kausalität formuliert, formuliert daher auch eine Bedingung der Invarianz, mit der alle Erfahrungsurteile, die diesen Namen verdienen – also alle ›Früchte‹ der Möglichkeit der Erfahrung –, an einer und derselben kognitiven Struktur namens Erfahrung teilhaben, obwohl sie ohne eine ins Unermeßliche gehende wahrnehmungsspezifische Diversität nicht gewonnen, nicht ›geerntet‹ werden könnten. Wenn die Grundsätze der Möglichkeit der Erfahrung ›die Gründe anderer Urteile in sich tragen‹, dann sind dies also die Gründe dafür, daß alle Erfahrungsurteile, die diesen Namen verdienen, an derselben kognitiven Struktur namens Erfahrung teilhaben.

4. Die Paradoxie der Erfahrung Die ans Inkommensurable grenzende Disproportion zwischen der Komplexität von Kants Theorie der Erfahrung und der Einfachheit des propositionalen Gehalts der so zentralen Analogien der Erfahrung ist paradox. Gleichwohl bildet diese Paradoxie doch nur ein Oberflächenindiz für die tiefliegende Paradoxie der Erfahrung, deren Struktur Kant durch seine theoretischen Anstrengungen auf die Spur gekommen ist. Im Rückblick auf die ganze in der Ersten Kritik ausgearbeitete Theorie der Erfahrung hat Kant diese Paradoxie denn auch alsbald durchschaut und in zwei Anläufen sogar ausdrücklich formuliert: »Man soll niemals sagen: das lehrt die Erfahrung«179 oder »das lerne ich […] durch Erfahrung«,180 »sondern das ist erforderlich zur Möglichkeit der Erfahrung«.181 Es ist nur allzu offenkundig, daß diese Paradoxie die traditionelle an der Struktur des Lernens orientierte Selbstdeutung sowohl aller empirischen Forschung wie allen alltäglichen kognitiven Selbst- und Weltvertrauens förmlich auf den Kopf stellt. Umso mehr fällt auf, daß diese Paradoxie in der Aufmerksamkeit der Kant-Forschung anscheinend eine zunehmend unscheinbar werdende Rolle gespielt hat. Dabei hat Hermann Cohen sogleich in der ersten Auflage seines thematischen Pionier-Werks zu bedenken gegeben, daß durch Kants Erste Kritik »[…] die Erfahrung als ein Rätsel aufgegeben [wird]«.182 Und Herbert James Paton hat in seinem thematisch ebenso zentrierten Pionier-Kommentar zur Ersten Kritik die Ausstrahlung dieser Paradoxie sogar auf alle einzelnen von Kant in diesem Rahmen erarbeiteten Auffassungen immerhin noch mehr als eine Generation später in einen Brennpunkt seiner hermeneutischen Diagnose gestellt: »In the main Kant’s views are still as paradoxical, and as contrary to 179 180 181 182

XXII, 92*. IV, 305*. XXII, 92*.

Hermann Cohen, Kants Theorie der Erfahrung Berlin 18711, S. 3.

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accepted ideas, as they were when they were written«.183 An der Trefflichkeit dieser Diagnose hat sich bis in unsere Gegenwart kaum irgendetwas geändert. Doch wichtiger noch als alle derartigen hermeneutischen Erfahrungsberichte ist der Umstand, daß Kant selbst die hermeneutischen Erfahrungen von Widerspenstigkeit vorhergesehen hat, die seine Theorie seinen Lesern auf Grund von deren ganz anders strukturierten Arbeitserfahrungen in der Philosophie bereiten wird. Daß seine Theorie zumindest sehr »ungewohnt«184 sei, eher aber »wohl sehr widersinnig und befremdlich«,185 auch »übertrieben«186 aussehe, müsse als »das Paradoxe«187 an ihr von Anfang an einkalkuliert werden. Doch gerade deswegen verdient die für Kants Theorie der Erfahrung so zentrale Paradoxie der Erfahrung verständlicherweise auch schon in einer Einleitung in eine Auseinandersetzung mit dieser Theorie besondere Aufmerksamkeit. Denn die erstmalige Andeutung dieser Paradoxie in den Prolegomena bildet ebenfalls einen Teil der Tragweite der komplexen Entdeckung, die Kant in diesem Kontext skizziert hat: 1.) der Entdeckung des Typs der Erfahrungsurteile als dem angestammten Medium des ausschließlich empirisch berechtigten Gebrauchs der Kategorien als nicht-empirischer Begriffe – also derjenigen Gebrauchsform dieser Begriffe, deren Legitimationsgründe Kant in der Transzendentalen Deduktion der Kategorien analysiert, aber erst in deren zweiter Fassung unmittelbar mit dem Typus der kategorial strukturierten Erfahrungsurteile verflochten sieht;188 2.) der Entdeckung des Typs der Wahrnehmungsurteile; 3.) der Entdeckung, daß Erfahrungsurteile darauf angewiesen sind, aus Wahrnehmungsurteilen mit Hilfe einer kategorialen Transformation gewonnen zu werden; und 4.) der Entdeckung, daß diese dreigliedrige Entdeckung der Entdeckung der Fruchtbarkeitsbedingungen der Erfahrung gleichkommt. Daß die Formulierung der Paradoxie der Erfahrung unmittelbar mit dieser komplexen Entdeckung zusammenhängt, kann durch nichts deutlicher werden als durch den Umstand, daß Kant die Struktur des Lernens in der ersten Fassung der transzendentalen Kategorien-Deduktion noch in der konventionellen Form konzipiert, wonach »Erfahrung […] uns […] lehrt«189 bzw. wonach »wir […] durch Erfahrung […] lernen«.190 Erst in den Prolegomena führt die Ent­deckung des kategorial strukturierten Typus des Erfahrungsurteils und dessen rand183 Herbert James Paton, Kant’s Metaphysic of Experience. A Commentary on the First Half of the Kritik der reinen Vernunft. In Two Volumes (19361), Volume One, London/New York 19611, S. 47. 184 A 36, B 53. 185 A 114; vgl. auch A 127. 186 A 127. 187 B 152. 188 B 141–142, 162–163. 189 A 112. 190 A 126.

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scharfe Abgrenzung gegen den Typus des Wahrnehmungsurteils zu der korrigierten lerntheoretischen Einsicht: »[…] nur die Wahrnehmung [lehrt mir etwas]«.191 Den Modus dieses Lehrens bzw. Lernens durch die Wahrnehmung charakte­risiert Kant indirekt durch die Bemerkung, daß »der Erfahrungssatz sofern allemal zufällig [ist]«.192 Denn damit gibt Kant zu verstehen, daß Wahrnehmungsurteile wie z. B., »daß auf die Beleuchtung des Steines durch die Sonne jederzeit Wärme folge«,193 zufällige Gelegenheiten bieten zu lernen, was anläßlich von Wahrnehmungsurteilen eines jeweils ganz bestimmten Typs darüber hinaus »erforderlich [ist] zur Möglichkeit der Erfahrung«.194 Wahrnehmungsurteile bilden daher das unabdingbare primäre, wenngleich okkasionell-kontingente Medium und Material für die kategoriale Bildung von Erfahrungsurteilen. Nur und erst dann, wenn man bereits über Wahrnehmungsurteile eines bestimmten Typs verfügt, »[wird] Erfahrung […] allererst durch diesen Zusatz des Verstandesbegriffs (der Ursache)  erzeugt«.195 Mit Hilfe eines wahrnehmungsspezifischen zweistelligen Kausalprädikats wie …erwärmt… in dem Erfahrungsurteil Die Sonne erwärmt den Stein kann das urteilende erfahrungsfähige und -beflissene Subjekt diesen erfahrungserzeugenden Zusatz für die Möglichkeit der Erfahrung fruchtbar machen und damit den formalen Akt der Bildung dieses Erfahrungsurteils aus dem Wahrnehmungsurteil, ›daß auf die Beleuchtung des Steines durch die Sonne jederzeit Wärme folge‹, zumindest mit einem vorläufigen kognitiven Erfolg des wichtigsten Typs abschließen. Erfahrungsurteile und die durch sie erzielten Teilhaben ihrer Subjekte an der dem Menschen möglichen Erfahrung sind daher insofern zufällig als sie okkasionell sind, und sie sind okkasionell, weil sie niemals anders als bei Gelegenheit und im Ausgang von bestimmten Wahrnehmungen bzw. Wahrnehmungsurteilen erstmals getroffen werden können. Und man lernt nur durch Wahrnehmungen bzw. Wahrnehmungsurteile, weil man nur bei Gelegenheit von Wahrnehmungsurteilen lernen kann, in welchem Maß man Erfahrung nur mit Hilfe des durch sie begünstigten empirischen Gebrauchs von Kategorien erwerben kann.196 Lernerfolge werden in den kategorialen Formen von Erfahrungsurtei191 IV, 305*. 192 Ebd., Hervorhebung R. E. 193 Ebd. 194 XXII, 92*. 195 IV, 305*. 196 Wegen ihrer okkasionell-kontingenten Wahrnehmungsbasis sind Erfahrungsurteile ganz ungeachtet ihrer nicht-empirischen kategorialen Komponente »Urtheile […], die durch Versuch und Erfolg continuierlich bewährt werden«, VIII, 140. Vgl. hierzu auch die Erörterungen von Beatrice Longueness, Kant and the Capacity of Judgement (franz. 19931), Princeton 1998, S.  167–195, und vor allem die vorzüglichen Analysen durch Michael Wolff, Die Analyse der Erfahrung in Kants Prolegomena, in: H.  Lyre und O. Schliermann (Hg.), Kants Prolegomena. Ein kooperativer Kommentar Frankfurt/M. 2012 S. 127–167.

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len erzielt. Lernmodi werden durch kategoriale Transformationen von Wahrnehmungsurteilen in solche Erfahrungsurteile gestaltet.197 Die Struktur von Kants Paradoxie der Erfahrung zeigt daher zunächst lediglich, daß die Struktur des Lernens auf dem Feld der dem Menschen möglichen Erfahrung komplizierter ist als es konventionell gewordene lerntheoretische Gebrauchsformeln des wissenschaftlichen und des nicht-wissenschaftlichen Alltags zu verstehen geben. Indessen sind Paradoxien keine undurchdring­ lichen Geheimnisse. Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß Kant selbst am meisten zur Auflösung der von ihm herausgestellten Paradoxie der Erfah197 Konstantin Pollock, Wie sind Erfahrungsurteile möglich?, in: Kants Prolegomena, S. 103–125, verkennt gründlich den theoretischen Gehalt sowie die theoretische Tragfähigkeit und Tragweite, die diese Konzeption mit sich bringt. Er ist der Auffassung »erstens, daß Wahrnehmungsurteile in der Form, in der sie hier in §§ 18–19 (+20) vorgestellt werden, einen unvermittelbaren Fremdkörper in Kants kritischer Philosophie darstellen, und zweitens, daß Kant sich dessen im Lauf seiner weiteren philosophischen Entwicklung, etwa zwischen 1785 und 1789, selbst bewußt geworden ist«, S.  112. Das von Pollock bemühte, vermeintlich genuin Kantische definitive Kriterium für die Obsoletheit dieser Konzeption – wonach Wahrnehmungsurteile zu dem gehören, »was jederzeit bloß subjektiv bleiben muß«, IV 206, Hervorhebung R. E., zitiert bei Pollock, S. 120 – trifft auf Wahrnehmungsurteile deswegen nicht zu, weil sie zwar als Wahrnehmungsurteile trivialerweise ›jederzeit bloß subjektiv bleiben müssen‹, aber nicht-trivialerweise das einzige für Menschen wenigstens okkasionell verfügbare empirische Material (Reflexionsbegriff der Materie!) bieten, das mit Hilfe von jeweils geeigneten Kategorien in die Formen (Reflexionsbegriff der Form!) von Erfahrungsurteilen transformiert werden kann. Ebenso geht auch Pollocks Datierungs-Vermutung zu Kants angeblicher späterer Einsicht in die Obsoletheit der Unterscheidung zwischen den beiden Urteilstypen  – »etwa zwischen 1785 und 1789«  – ins Leere: Im Zusammenhang mit seinen Analysen des reinen Geschmacksurteils-des-Schönen und dessen komplizierter logischer Struktur kommt Kant Anfang der 90er Jahre – in der ω-Phase der Reflexionen  – mit R 3145 noch einmal thematisch auf Strukturen und Funktionen der Wahrnehmungs- und der Erfahrungsurteile zurück und entwirft sogar die aufschlußreiche grammatisch-logische Syntax eines exemplarischen Wahrnehmungsurteils: »Ich, der ich den Turm wahrnehme, nehme an ihm die rote Farbe wahr«, vgl. auch IX , 113. (Das entsprechend strukturierte reine Geschmacksurteil entwirft Kant in dieser Phase ­daher schließlich in der Form »… die Rose, die ich anblicke, erkläre ich durch mein Geschmacksurteil für schön«, V, 215.) Damit wird die in der Ersten Kritik nur abstrakt thematisierte »Beziehung auf die Identität des Subjekts«, B 133, in der Mannigfaltigkeit seiner Wahrnehmungen zum ersten Mal mit Hilfe einer identitären reflexiven ReferenzGrammatik eines exemplarischen Wahrnehmungsurteils ›vor Augen gestellt‹. R 3146 aus derselben ω-Phase grenzt überdies in genauer Parallele zu dem Beispiel eines objektiv gültigen und eines subjektiv gültigen Urteils, B 142, das exemplarische Urteil »der Ofen ist warm« ausdrücklich als »Erfahrungsurteil«, Kants Hervorhebung, gegen das Wahrnehmungsurteil »ich empfinde Wärme in der Berührung des ofens« ab. Mit seiner sachlichen Einschätzung fällt Pollock jedenfalls sogar noch hinter den schon durch Prauss, Erscheinung, erreichten Forschungsstand zurück. Schon Longueness, Capacity, ist Kants logischer Analyse der Wahrnehmungsurteile, wie R 3145 sie präsentiert, ebenfalls auf der Spur, vgl. S. 190–195.

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rung beigetragen hat. Dabei zeigt sich, daß sich diese Auflösung dadurch ergibt, daß Kant ganz einfach von einer durch seine Theorie eröffneten Möglichkeit Gebrauch macht, ein Strukturmerkmal der Erfahrung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, für das durch eine andere Üblichkeit unseres alltäg­lichen Sprachgebrauchs ebenso gleichsam vorgesorgt ist wie durch die Rede vom Lernen aus bzw. durch Erfahrung. Spät, aber nicht zu spät hat Kant in den einschlägigen Textstücken des Opus postumum in immer wieder erneuerten Anläufen in der aus dem alltäglichen Sprachgebrauch stammenden robusten, geradezu handwerklichen Sprachform betont, daß Erfahrung etwas ist, was wir machen.198 Diese Sprachform ist indessen offenkundig nur die gebrauchskonventionale Variante von Kants eher produktionstechnisch akzentuierter Redeweise aus den Prolegomena, wonach Erfahrung durch den Zusatz einer Kategorie zu einem vorgängigen Wahrnehmungsurteil erzeugt wird.199 Insofern trägt Kant mit Mitteln seiner Theorie einerseits zu einer paradoxen Delegitimierung der alltäglichen Sprachform vom Lernen aus bzw. durch Erfahrung bei, andererseits aber auch zur exklusiven Legitimierung der nicht weniger alltäglichen Sprachform, in deren Licht Erfahrung etwas ist, was wir machen. Eine restlos befriedigende Aufhellung dieser Struktur bleibt zwar selbstverständlich der Theorie vorbehalten, die die entsprechenden Legitimationsgründe im einzelnen zu analysieren unternimmt. Immerhin hat Kant aber auch unter Verwendung von Beispielen für Erfahrungsurteile von geradezu handgreiflichem Format gezeigt, inwiefern Erfahrung nicht nur im Spiegel unserer Alltagssprache, sondern sogar im Zusammenhang unserer Alltagstechniken durchaus etwas ist, was wir machen: »[W]enn ich die Kugel auf das Kissen lege, so folgt auf die vorige glatte Gestalt desselben ein Grübchen«.200 Denn »Handlung bedeutet schon das Verhältnis des Subjekts zur Kausalität der Wirkung«,201 so daß »Handlungen immer der erste Grund von allem Wechsel der Erscheinungen [sind]«.202 Es liegt auf der Hand, daß Kant hier unter dem Handlungsaspekt den ersten Schritt nicht nur in Richtung auf ein interventionistisches Kausalitätsmodell des technischen Alltagslebens tut. In nuce formuliert er damit ebenso den ersten Schritt in Richtung auf den in wissenschafts198 Vgl. die Nachweise im Register von XXII, 658; vgl. auch unten S. 69 f., bes. Anm. 203, 75, Anm. 234. 199 Daß diese Form des Machens im Licht von Kants Theorie eine genuine Komponente des Erkennens bildet, akzentuiert zu Recht Manfred Baum, Erkennen und Machen in Kants »Kritik der reinen Vernunft«, in: B. Tuschling (Hg.), Probleme in Kants »Kritik der reinen Vernunft«. Kant-Tagung Marburg 1981, Berlin/New York 1984, 161–177. Zu einer ausführlicheren Analyse dieser Zusammenhänge vgl. vom Verf., Kants Paradoxie, S. 14–16, 44 f.. 200 A 203, B 248. 201 A 205, B 250, Hervorhebung R. E. 202 Ebd.

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theoretischer Hinsicht wichtigsten Spezialfall dieses Modells  – in Richtung auf die Auffassung, daß das Experiment die für die Wissenschaft wichtigste Form einer kausalen Intervention in wahrnehmbare Zustände wahrnehmbarer Gegenstände bildet.203

5. Die Entdeckung des Leitfadens einer Entdeckung Differentialanalysen von Wahrnehmungsurteilen und von kausal orientierten Erfahrungsurteilen sowie die Formulierung und Erörterung des speziellen synthetischen Urteils apriori, das in der Transzendentalen Doktrin der Urteilskraft der Ersten Kritik den logischen und den transzendentalen Status des Kausalitätsprinzips kennzeichnet, bilden einen ausgereiften Ertrag der Tragweite, die die Frage nach dem Geheimnis der Urteilskraft aus der kleinen Gelegenheitsschrift von 1762 Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren mit sich gebracht hat.204 Diese Tragweite beginnt sich allerdings bereits unmittelbar im Kontext dieser kleinen Gelegenheitsschrift selbst abzuzeichnen. Unter völligem Bruch mit allen bis dahin in seinen Publikationen dokumentierten vorwiegenden Forschungsinteressen konzentriert sich Kant hier ausschließlich auf eine logische Erörterung von diversen Urteilstypen, und zwar so, daß die von ihm berücksichtigten Typen bei genauerem Hinsehen sogar das ganze Spektrum aller überhaupt möglichen Urteilstypen immerhin in paradigmatischer Weise umfassen. Die Unterschiede zwischen diesen Typen sind in dieser anfänglichen Phase allerdings primär noch durch die Inhalte und noch nicht durch die Formalstrukturen der Urteile markiert, die dieses Spektrum repräsentieren. An dem einen Extrempunkt dieses Spektrums sind sensitive Urteile wie Ich rieche den milden Duft des Brotes205 verortet, durch die mehr oder weniger komplexe Empfindungen thematisiert werden; in einem davon weiter entfernten Abschnitt dieses Spektrums sind generelle empirische Urteile wie Einige Gelehrte sind fromm206 verortet, mit denen in klassischen logischen Formen wie Quantität, Qualität, Relation und Modalität einerseits ein Wahrheitsanspruch erhoben werden kann und die andererseits traditionellerweise als Elemente syllogistischer Schlüsse verwendet werden können; in einem noch weiter ent203 Eine der prägnantesten Formulierungen für diese Struktur aus der Feder eines modernen aktiven Vertreters der Naturwissenschaften findet sich bei Hermann Weyl, Philo­ sophie der Mathematik und Naturwissenschaften (19261) München/Wien 1966: »Für den Experimentator sind die [ursächlichen, R. E.] Bedingungen derjenige Teil des Geschehens, der in seiner Gewalt steht«, S. 244, Weyls Hervorhebung. 204 Vgl. hierzu auch vom Verf., Krise und Kritik der Urteilskraft, in: Bedingungen, S. 523–539. 205 Vgl. II, 60. 206 Vgl. 54.

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fernten Abschnitt dieses Spektrums sind typische metaphysische Urteile wie Die Seele des Menschen ist unteilbar207 verortet; und an dem anderen Extrempunkt dieses Spektrums tauchen schließlich metalogische Urteile auf, mit denen diagnostiziert werden kann, wie »richtig geschlossen werden könne«208 – also MetaUrteile, die die logischen Formen von anderen Urteilen und deren logische Interrelationen thematisieren. Offensichtlich markieren die Empfindungsurteile und die metalogischen Urteile bereits in dieser unscheinbaren Gelegenheitsschrift die beiden Extreme des ganzen Spektrums der Urteilstypen, deren die Urteilskraft in der von Kant hier thematisierten geheimnisvollen Weise fähig ist.209 Will man sich mit urteilsanalytischen Problemstellungen nicht in der unüberschaubaren und unauslotbaren Vielfalt der Urteilstypen verlieren, die dies Spektrum bereithält, dann lohnt es sich, Relevanzkriterien zu erwägen, die philosophischen Untersuchungen helfen können, Orientierungen über mehr oder weniger aufschlußreiche, paradigmatische Urteilstypen zu gewinnen. Kants eigener Weg durch das sich hier öffnende Labyrinth ist ein besonders lehrreiches Beispiel für die geradezu sprichwörtliche Umständlichkeit und Langwierigkeit des Wegs, auf dem man zu einer abschließenden Orientierung über ein kohärentes Gefüge solcher Urteilstypen gelangen kann. Denn erst auf dem Schlußstück seines kritischen Wegs war aus dem Spektrum unterscheidbarer Urteilstypen210 nur noch die zentrale Dyade der Erkenntnisurteile und der reinen Geschmacksurteile übrig geblieben. Doch auch diese Dyade gliedert sich auf der Seite der Erkenntnisurteile immer noch in die theoretischen und die praktischen Urteile,211 während sich die theoretischen Urteile vor allem in Erfahrungsurteile und Wahrnehmungsurteile gliedern,212 die praktischen Urteile indessen vor allem in moralische Urteile213 bzw. ethische Urteile214, in recht­ liche Urteile215 und in politische Urteile.216 Die Bedeutsamkeit dieser in ihren Mikrodifferenzierungen noch nicht einmal erschöpfend präsentierten Urteilstypologie aus der kritischen Epoche von Kants Denken zeigt vor allem im Kontext der Ersten Kritik gleichsam ein JanusGesicht. Gleichsam mit dem einen Auge des einen Gesichts ist sie an erkenntnistheoretischen Entwürfen wie denen von Locke, Leibniz und Hume orientiert, 207 Vgl. 50. 208 Vgl. 55. 209 Die später von Kant in der Ersten Kritik und in den Prolegomena eingeführten so wichtigen Typen der synthetischen Urteile apriori bzw. der Erfahrungsurteile können in diesem Spektrum selbstverständlich noch nicht auftauchen 210 Vgl. hierzu vom Verf., Bedingungen, S. 523–539. 211 Vgl. V, 209. 212 Vgl. IV, 298–301. 213 Vgl. IV, 389–390. 214 Vgl. VI, 214. 215 Vgl. 236–237. 216 Vgl. VIII, 381–386.

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mit dem anderen Auge desselben Gesichts aber auch gleichzeitig an der traditionellen Logik. Denn die Typologie soll einerseits gerade nicht einen Überblick über das Analysematerial von selbstgenügsamen logischen Untersuchungen der diversen syntaktischen, semantischen und referentiellen Formen bilden, die für Urteile der apostrophierten Typen charakteristisch sind. Sie soll vielmehr so knapp wie möglich über die logischen Leitfäden orientieren, mit deren Hilfe die transzendentalphilosophischen Untersuchungen Kants ein Projekt verfolgen, das im Vergleich sowohl mit den überlieferten erkenntnistheoretischen Entwürfen wie mit den überlieferten Logiken geradezu revolutionär ausfällt. Sowohl in Lockes Essay Concerning Human Understanding wie in Humes Treatise on Human Nature bzw. in den Enquiries Concerning the Human Understanding und in Leibniz’ Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain werden Urteile, urteilsinterne logische Formen bzw. urteilsexterne Gegenstandsbezüge mit nahezu verschwindender Aufmerksamkeit thematisiert. Im XIV. Kapitel des Vierten (und letzten) Buches im Zweiten Band von Lockes Essay  – also im zweiundsechzigsten von neunundsechzig Kapiteln des ganzen Werks – wird auf einer einzigen halben Druckseite der Ertrag aus der bis dahin zweitausendjährigen Geschichte der Urteilslogik mit Hilfe einer minimalistischen Quintessenz eher zum Verschwinden gebracht, als daß er auch nur versuchsweise zur Geltung gebracht würde.217 Nicht viel anders ergeht es dem Thema der Urteile in Leibniz’ Nouveaux Essais, die ihre Hauptthemen in genauer buchtechnisch gegliederter Parallele zu Lockes Essay behandeln. Im XIV. Kapitel ihres Vierten Buchs wird auf das Urteil bzw. auf die Urteilskraft ganz ebenso wie bei Locke nicht mehr als ein flüchtiges Streiflicht von noch nicht einmal einer ganzen Druckseite geworfen.218 Diese nahezu verschwindende thematische Aufmerksamkeit ist selbstverständlich deswegen umso bemerkenswerter als Leibniz unter den neuzeitlichen Klassikern der Philosophie der eminente Logiker ist. Seine formallogischen Studien, wie sie postum zuerst 1903 im Kontext der von Louis Couturat herausgegebenen Opuscules et fragments inédits zugänglich geworden sind, hätten ihm eine Fülle von Möglichkeiten geboten, urteilsinterne logische Formen innerhalb seiner erkenntnistheoretisch orientierten Essais ebenso zu thematisieren wie urteilsexterne Gegenstandsbezüge am Leitfaden solcher logischen Formen. Im Gegensatz zu den Untersuchungen dieser beiden Autoren reserviert Hume dem Thema der Urteile in keinem seiner beiden Traktate auch nur den kleinsten buchtechnischen Abschnitt. Zwar ist selbstverständlich in beiden Werken im nominellen Sinne durchaus vielfach von Urteilen die Rede. Doch selbst in den in logischer, 217 Vgl. John Locke, An Essay Concerning Human Understanding. In Two Volumes (Edited with an Introduction by John W. Yolton) London/New York 1967, Volume Two, S. 248–249. 218 Vgl. G. W. Leibniz, Nouveaux Essais sur l’Entendement Humain, in: ders. Sämtliche Schriften und Briefe. Sechste Reihe. Sechster Band, Berlin 1990, S. 456–457.

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in erkenntnistheoretischer und in ontologischer Hinsicht interessantesten Fällen wie denen der Kausalität wird diesen nominellen Urteilen in Humes Theorie bekanntlich lediglich der Status sprachlich-grammatisch wohlformulierter Dokumente von subjektiv-individuellen und subjektiv-kollektiven Gewohnheiten bzw. von vorläufig noch nicht enttäuschten Erwartungen attestiert. Als Medien oder als Träger auch bloß von möglicher objektiver Wahrheit bzw. Falschheit kommen sie in Humes Theorie aus prinzipiellen Gründen gar nicht in Frage. Im Vergleich mit diesen ebenso randständigen wie flüchtigen Behandlungsweisen von Urteilen und ihren logischen Strukturen innerhalb von erkenntnistheoretischer Untersuchungen eröffnet Kant in der kritischen Epoche seines Denkens nicht weniger als eine Revolution der traditionellen methodischen Einstellungen. Kants weitläufige und tiefenscharfe urteilsanalytische und kognitionsanalytische, transzendentale Probeuntersuchungen durchziehen zunächst sein stummes Jahrzehnt zwischen 1770 und 1781. Im Labyrinth dieser Untersuchungen gelangt er schließlich auch an den Wendepunkt, der für seine urteilsanalytische Zentralorientierung und für die damit fest verbundene transzendentale Orientierung entscheidend wird. Im Rückblick des späteren Werkstattberichts der Prolegomena berichtet er, daß »ich mich nach einer Verstandeshandlung um[sah], die alle übrigen enthält und sich nur durch die verschiedenen Modifikationen oder Momente unterscheidet, das Mannigfaltige der Vorstellungen unter die Einheit des Denkens zu bringen, und da fand ich, diese Verstandeshandlung bestehe im Urteilen«,219 also im Akt bzw. im Vollzug des Akts des Urteilens. In Verbindung mit seiner relativ frühen Einsicht, daß Erkenntnisse die Struktur von Urteilen haben, ist er daher an diesem Wendepunkt der Entdeckung des Leitfadens einer Entdeckung220 auch schon darüber orientiert, daß an Erkenntnissen in irgendeiner noch zu klärenden Form die logischen Strukturen beteiligt sein müssen, die für das Urteilen als Urteilen – also für das genuine Medium von möglicher Wahrheit und Falschheit  – charakteristisch sind. Diese feste und elementare Bindung seiner transzendentalen Zentral­ orientierung an die Logik-Orientierung seines ›critisch‹ gewordenen Wegs ist es denn auch, die ihn stets vor den psychologistischen Abwegen, Holzwegen und sonstigen Irrwegen seiner erkenntnistheoretischen Interpreten des 19. Jahrhunderts bewahrt hat. Wenn man, wie es allerdings erst das 19. Jahrhundert getan hat, die drei am Geheimnis der Urteilskraft arbeitenden Kritiken auch nominell dem disziplinären Typus der erkenntnistheoretischen Untersuchungen zurechnet, dann gerät man daher nur dann nicht auf solche Abwege, Holzwege und 219 IV, 323. 220 Nicht im Sinne eines Werkstattberichts, sondern als Thema eines buchtechnisch dokumentierten Untersuchungsprogramms formuliert dies der Titel des Ersten Hauptstücks der Transzendentalen Analytik A 66, B 91; als Theorem formuliert dies A 69, B 94. Vgl. auch den pointierten Kommentar von Wolff, Theory, daß »the act of judgement is fundamental to cognition«, S. 42.

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Irrwege, wenn man berücksichtigt, daß an den transzendental orientierten Untersuchungen der drei Kritiken durchweg sorgfältige logische Primär­analysen von elementaren theoretischen, praktischen und ästhetischen Urteilstypen beteiligt sind. Die Arbeitserfahrungen, die Kant auf den Wegen und Umwegen seiner Auseinandersetzungen mit den logischen, den urteilsförmigen Strukturen von Erkenntnissen gesammelt hat, werden von ihm in der Ersten Kritik zu dem methodologischen Leitfaden-Projekt ausgearbeitet, durch das eine Formale Logik der Urteilsfunktionen strikt mit einer Transzendentalen Logik der kategorialen Bedingungen möglicher Erfahrungserkenntnis verflochten wird. Der Inhalt des zitierten Werkstattberichts den Prolegomena über die Ent­ deckung der heuristischen Schlüsselrolle der Orientierung am Urteilsakt sollte daher nicht vorschnell durch den Verdacht entwertet werden, Kant deute hier Teile der verwickelten Analysen seines ›stummen Jahrzehnts‹ nachträglich und in einem Akt der Selbststilisierung zu einem eindeutig identifizierbaren und datierbaren context of discovery um.221 Wichtig ist ausschließlich das sach­liche und das methodische Gewicht, das der Inhalt dieses Werkstattberichts denjenigen Teilen von Kants Theorie des Urteilsakts beimißt, die einschließlich der Prolegomena schon publiziert sind und auch später noch publiziert werden  – einschließlich der zweiten Auflage der Ersten Kritik. Der status quaestionis, den der Werkstattbericht mit einem Wendepunkt im stummen Jahrzehnt identifiziert, ist jedenfalls nur allzu offenkundig derselbe, den die Erste Kritik mit der Leitfadenrolle identifiziert, die die formalen Analysen der Urteilsfunktionen für die Analysen derjenigen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung spielen, die Kant mit den Kategorien identifiziert.222 Die von Kant berichtete Ent­ deckung des urteils-logischen Leitfadens der Entdeckung der Kategorien bildet offensichtlich den für die Konzeption des methodischen Zusammenhangs von Formaler und Transzendentaler Logik wichtigsten systematischen Ertrag des Zutrauens, das Kant in die methodische Fruchtbarkeit der frühen Frage nach dem Geheimnis der Urteilskraft gehegt hat. Denn erst damit ist der Punkt erreicht, an dem dies Zutrauen Kant zu dem Schritt geführt hat, mit dem er zeigen kann, aus welchen Gründen das Zutrauen gerechtfertigt ist, das er nicht nur der methodischen Fruchtbarkeit der Frage nach dem Geheimnis der Urteilskraft 221 Die Untersuchungen von Wolfgang Carl, Der schweigende Kant. Die Entwürfe zu einer Deduktion der Kategorien vor 1781, Göttingen 1989, gehen auf Kants Werkstattbericht und dessen arbeitsgeschichtlichen Realgehalt nicht ein, wiewohl sie unter dem vom Werkstattbericht betonten urteilslogischen Aspekt durchaus mancherlei Aufschlüsse bieten. Es wird nicht klar, ob Carl die Entdeckung des Leitfadens der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe deswegen ausblendet, weil er Kants Konzeption der Urteilsfunktionen sowohl an sich wie für die Rolle eines solchen Leitfadens nicht zutraut, was Kant ihr zutraut; vgl. hierzu auch unten S. 113, Anm. 41. 222 Vgl. B 161 f., 167 f.; vgl. hierzu auch noch einmal Vleeschauwers wichtige Einschätzung, oben S. 50, Anm. 134.

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schenkt, sondern auch der Paßform des Menschen für die Welt und schließlich auch dem ›fruchtbaren Bathos der Erfahrung‹. Im Schutz des von ihm entdeckten Leitfadens verläßt sich Kant daher generell darauf, daß die Kernelemente jeder Formalen Logik – Urteilsformen bzw. -funktionen  – den Leitfaden für Untersuchungen abgeben müssen und können, die einer Antwort auf die Frage nach den Bedingungen möglicher Erfahrungserkenntnis gewidmet sind.223 Mit dem entsprechenden Augenpaar seines urteilstheoretischen Janus-Kopfs blickt Kant daher auf das transzendentallogische Fernziel, diese Bedingungen an diesem Leitfaden durchschaubar zu machen. Mit dem Augenpaar des anderen Gesichts wirft Kant indessen gleichzeitig auch kritische Blicke auf bestimmte Inhalte der überlieferten Logik. Allerdings schränkt der logische Leitfaden, durch dessen Einführung er die methodischen Einstellungen der Erkenntnistheorie revolutioniert – also die ›Urteilstafel‹, wie er sie in den Prolegomena zum ersten Mal apostrophiert224  –, die logischen Funktionen bzw. Formen, die von alters her zum gemeinsamen Elementar­ bestand der Formalen Logik gehören, sogleich auf eine exklusive Kernmenge von zwölf Elementen ein. Die methodische Schlüsselrolle eines formallogischen Leitfadens, der an zwölf wohlbestimmte logische Urteilsformen bzw. -funktionen geknüpft ist, kann auf den ersten Blick eine methodologische Verwandtschaftsbeziehung zu einer besonders fruchtbaren Untersuchungsrichtung der gegenwärtigen Philosophie sichtbar machen. Unter dem Namen der Analytischen Philosophie ist es dieser Untersuchungsrichtung gelungen zu zeigen, mit welchen Graden nicht nur an Fruchtbarkeit, sondern auch an Strenge die Philosophie arbeiten kann, wenn sie ihre Themenstellungen im regelmäßigen Ausgang vom Medium der wahrheitsfähigen Gebilde – also der Urteile bzw. der Sätze, der Aussagen, der Behauptungen, der Gedanken, der Propositionen u. ä.  – erarbeitet und untersucht. Einen ihrer besonders gut bewährten Leitaspekte findet diese Untersuchungsrichtung angesichts der unüberschaubaren Vielfalt der unterschiedlichsten Typen von wahrheitsfähigen Gebilden in der Frage nach den jeweils spezifischen Wahrheitsbedingungen von wahrheitsfähigen Gebilden eines bestimmten Typs. Doch ganz analog eröffnen sich auch für Kant angesichts der schwer überschaubaren Vielfalt von Urteilstypen entsprechend vielfältige Wege einer »Untersuchung,« die die »Aufmerksamkeit auf die Gründe der Wahrheit«,225 z. B. auf die notwendigen und hinreichenden »formalen Bedingungen der empirischen Wahrheit«226 entsprechender Urteilstypen lenkt. In Übereinstimmung mit einem methodologischen Selbstverständnis der Ana­ 223 Vgl. A 66, B 91 f. 224 Vgl. IV, 302. 225 A 261, B 316, Kants Hervorhebung. 226 A 191, B 236.

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lytischen Philosophie ist diese Untersuchungsrichtung auch bei Kant der »logi­ sche[n] Reflexion«227 anvertraut. Sieht man einmal vom Spezialfall der mathematischen Urteile ab,228 dann sind in Kants Rahmen die Urteile aller anderen Typen ausdrücklich einer logischen Reflexion auf ihre Wahrheitsgründe, also auf ihre notwendigen und hinreichenden Wahrheitsbedingungen sowohl fähig wie auch bedürftig. Das gilt sogar mit Blick auf den in vielen Hinsichten atypischen Sonderfall der reinen Geschmacksurteile. Denn auch sie haben angesichts ihrer Apriorität einen Grund ihrer Wahrheit, ganz unbeschadet der Tatsache, daß es sich bei diesem Wahrheitsgrund um das in einer einzigartigen Emotion manifest werdende harmonische Spiel der Erkenntniskräfte handelt. Indirekt ver­körpern die reinen Geschmacksurteile insofern eine einzigartige Form einer emotionalen Wahrheit, deren Wahrheitsbedingungen im harmonischen Spiel der Erkenntniskräfte liegen. Wenn Kants kritisches Geschäft gleichwohl nicht die methodische und die thematische Gestalt einer formalen wahrheitskonditionalistischen Semantik angenommen hat, dann deswegen, weil es von Anfang an förmlich auf Schritt und Tritt von einem komplizierten Wechselspiel aus dieser logischen Reflexion und einer »transzendentale[n] Reflexion«229 auf die zu diversen Urteilstypen befähigenden kognitiven Vermögen des urteilenden Subjekts geleitet ist. Deswegen hat sich Kant durch den anderen wichtigen Leitgedanken der (logischen) Urteilsförmigkeit von Erkenntnissen auch schon von Anfang an niemals zu einer reduktionistischen Verkürzung verführen lassen, in deren Schatten er nur noch eine logische Reflexion auf die wahrheitskonditionalen Formen von Urteilen für nötig und fruchtbar gehalten hätte. Gewiß bereitet diese methodische, transzendentale Orientierung Kants nicht wenigen gerade seiner gegenwärtigen fachkundigen Leser nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Denn die geradezu planmäßige Orientierung philosophischer Analysen an sprachlich artikulierten oder dokumentierten Resultaten kognitiver Akte ist in der Gegenwart ganz unbeschadet ihrer internen Fruchtbarkeit und Strenge doch in einem erheblichen Umfang und mit einer beträchtlichen Tiefenwirkung zu einem rigiden methodischen Habitus geworden. Dieser läßt es verständlicherweise schwierig, wenn nicht sogar abwegig erscheinen, einer methodischen Einstellung unmittelbares Zutrauen zu schenken, die in solchen Resultaten prinzipiell nur ein mehr oder weniger aufschlußreiches, aber auch vordergründiges sprachliches Schauspiel von hintergründigen Aktivierungen von Erkenntnisvermögen und von kognitiven Erfolgen solcher Aktivierungen zu sehen scheint. Innerhalb der jüngeren Kant-Forschung hat daher vor allem Robert Paul Wolff die an den Erkenntnisvermögen, ihren Aktivierungen und deren möglichen Er227 A 262, B 318. 228 Vgl. A 261, B 316–317. 229 A 262, B 318–319.

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folgen orientierte methodische, spezifisch transzendentale Einstellung Kants zum Leitaspekt seiner thematischen Untersuchungen über Kant’s Theory of Mental Activities gemacht: »[…] keys to the Kantian doctrine are: […] the epistemological turn, […] and […] the shift from a theory of mental contents to an account of mental functions«.230 Dennoch sollte eine ausgewogene Beurteilung von Kants Erster Kritik eine rigide transzendentale Konzentration auf die rein subjektive Dimension der Erkenntnisvermögen ebenso zu vermeiden suchen231 wie eine Fixierung auf Kants nur allzu offenkundige Vernachlässigung einer planmäßigen formalen Analyse der sprachlichen Gestalten von mehr oder weniger erfolgreichen Aktivierungen kognitiver und anderer subjektiver Vermögen und Fähigkeiten. Was insbesondere die faktische Vernachlässigung der sprachlichen Dimension des Urteilens durch Kant betrifft, so ist sie nicht etwa einer entsprechenden Blindheit für die Wichtigkeit zuzuschreiben, die die Sprache für die kognitiven Aktivitäten hat. Zwar ist es unübersehbar, daß Kant in seiner Konzeption des Urteilsaktes und von dessen temporaler Vollzugsform der Orientierung am mentalen Typus dieses Aktes den Vorzug gibt. Gleichwohl bewegt er sich mit diesen Überlegungen 230 Wolff, Theory, S. 320; zu den Fehleinschätzungen, die Wolff gleichwohl in nicht wenigen wichtigen Einzelpunkten unterlaufen sind, vgl. inzwischen die trefflichen kritischen Bemerkungen von Wolfgang Carl, Die transzendentale Deduktion in der Ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft. Ein Kommentar, Frankfurt/M. 1992, bes. S. 49 ff., 1179, 12117, 14317, 17166 sowie unten S. 90, Anm. 257. 231 Eines der wichtigsten generellen Interpretations- und Analyseverdienste der Unter­ suchungen von Carl, Ein Kommentar, dürfte besteht darin, daß er die Kontroverse um die subjektive und die objektive Deduktion der Kategorien – und zwar mit Blick sowohl auf die A- wie die B-Deduktion – als eine Kontroverse um eine bloß scheinbar vollständige Alternative entlarvt, gleichgültig wie man diese Alternative auf buchtechnische Teile der ersten bzw. der zweiten Fassung der Ersten Kritik verteilt, vgl. S. 44–54. Carl nimmt vielmehr Kants Bemerkung strikt ernst, daß diese Deduktion »zwei Seiten [hat]«, A XVI, und zeigt, daß und inwiefern ihre subjektive und ihre objektive Seite gleichsam die beiden Seiten einer und derselben Medaille sind, so daß Kant die ganze Medaille mit beiden Seiten erst in der Verbindung der A- mit der B-Deduktion präsentiert, wenngleich er ihre beiden Seiten aus unterschiedlichen Winkeln und mit unterschiedlichen Lichtstärken  – vielleicht sogar mit unterschiedlichen Lichtsorten  – beleuchtet. Kant selbst hat den strikten methodischen Zusammenhang beider Seiten jedenfalls durch die kohärenzstiftende Leitfrage herausgestellt, »wie nämlich subjektive Bedingungen des Denkens sollen objektive Gültigkeit haben«, A 89, B 122, Kants Hervorhebungen. Carl behandelt daher die ganze Deduktion als eine ›von oben‹, vgl. bes. S. 95 ff.; immerhin beginnt ja auch die B-Deduktion nicht nur einfach ›von oben‹, sondern sogar vom »höchste[n] Punkt«, B 133*. Zu der Frage, inwiefern die A-Deduktion nicht nur wegen A 116–A 119 in einem präzisierbaren Sinne ›gemeinsame Sache‹ mit dem ›höchsten Punkt‹ der B-Deduktion macht, vgl. unten 7.–8. Ab.; zu der Frage, ob andererseits die B-Deduktion das Deduktionsproblem im Licht der Konzeption der Wahrnehmungsund der Erfahrungsurteile der Prolegomena in noch besser durchdachter Form auch »von unten«, A 19 f., konzipiert als die A-Deduktion mit ihrer vergleichsweise undifferenzierten Konzeption von »dem Empirischen«, A 119, ebd., vgl. Zweiter Teil.

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bei genauerem Hinsehen auch in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Konzeptionen des sprachlichen Typus eines solchen Aktes: »Wir würden gar nicht urteilen, wenn wir keine Wörter hätten«.232 Die Bindung des mentalen Charakters des Urteilsaktes an den Sprechaktcharakter des Urteilens ist sogar so fest, daß nicht nur die Kommunikation des urteilenden Subjekts mit seinesgleichen, sondern sogar die Kommunikation des urteilenden Subjekts mit sich selbst davon abhängt: »Wir bedürfen der Wörter, um nicht allein andern, sondern uns selbst verständlich zu werden«.233 Wenn daher von Kants Logik-Konzeption des Urteils die Rede ist, dann ist es angesichts der gegenwärtigen methodischen Einstellungen der Logik umso wichtiger, daran zu erinnern, daß Kant den Urteilsakt ebenso wie die logischen Formen der Urteile und die Elemente, die im Urteilsakt fungibel gemacht werden, jedenfalls in seinen publizierten Schriften so gut wie durchweg als mentale Akte, als Akte, Formen und Leistungen eines entsprechenden Bewußtseins auffaßt. Die gegenwärtigen methodischen Einstellungen der Logik suchen indessen so weit wie nötig, zweckmäßig und möglich von einer Orientierung an den sprachlichen Dokumentations- und Äußerungsformen der von ihr thematisierten und untersuchten logischen Elemente zu profitieren.234 Diese Orientierung hat logischen Untersuchungen unzweifelhaft einen uneingeschränkt schätzenswerten methodischen Vorteil eingebracht. Denn sowohl der Logiker selbst wie auch jeder Adressat seiner Untersuchungen und Untersuchungsergebnisse kann sich unter dieser Voraussetzung an sprachlich dokumentierten Ausgangspunkten, Bezugspunkten und Anhaltspunkten der logischen Untersuchungen orientieren. Solche sprachlichen Dokumentationsformen bieten nur allzu offenkundig ein viel verläßlicher objektivierbares Medium sowohl der Selbstverständigung wie der kommunikativen Verständigung als bewußtseins­ interne Elemente, wie sie von Kant nicht nur in seiner Theorie der Urteilsfunktionen, sondern auch in allen seinen transzendentalen Untersuchungen thema232 XXIV.1, 588. 233 R 3444; zu Kants Thematisierung des Bedingungszusammenhangs von Urteilen, Denken und Sprechen vgl. unten S. 98–101, 130–145, sowie seine unmißverständliche Überlegung: »Denken ist Reden mit sich selbst«, VII, 192 234 Vgl. hierzu die besonders pointierte Formulierung: »Logic chases grammar up the tree of truth-conditions«, Willard Van Orman Quine, Philosophy of Logic, Englewood Cliffs 1970, S.  36, Hervorhebung R. E.; eine nicht-metaphorische und nicht auf die Semantik der Wahrheitsbedingungen eingeschränkte methodische Einstellung bekundet Jaakko Hintikka, Epistemic Logic and the Methods of Philosophical Analysis (19681), wieder abgedr. in: ders., Models for Modalities. Selected Essays, Dordrecht/Boston 1969, S. 3–19, wenn er zu bedenken gibt: »A branch of logic […] is best viewed as an explanatory model in terms of which certain aspects of our ordinary language can be understood«, S. 5. Kants Transzendentale Logik bietet in diesem Sinne ein explanatorisches Modell für unser umgangssprachliches Sprechen davon, daß Erfahrung etwas ist, was wir machen, vgl. oben S. 69–70 f.

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tisiert werden. Solche bewußtseinsinternen Elemente sind nun einmal primär dadurch charakterisiert, daß sie als solche sowohl vom individuellen Logiker wie von jedem Adressaten seiner Untersuchungen und Untersuchungsergebnisse stets nur wiederum im authentischen bewußtseinsinternen Vollzug bzw. Nachvollzug thematisiert werden können, ohne daß eine intersubjektive Kontrolle solcher Vollzüge und Nachvollzüge möglich wäre. Doch gerade deswegen ist es umso wichtiger zu beachten, daß man Kants methodische Einstellungen im Rahmen seiner logischen und seiner transzendentalen Untersuchungen mißverstehen würde, wenn man unterstellen würde, daß er von einer prinzipiellen Sprachunabhängigkeit der von ihm thematisierten bewußtseinsinternen Elemente überzeugt wäre.235 Wie die beiden zitierten Schlüsselreflexionen zeigen, ist sogar das Gegenteil der Fall: Eine strikte sprachliche Bindung ist sowohl für diejenigen bewußtseinsinternen Elemente charakteristisch, die in formaler wie in materialer Hinsicht zur Struktur der Urteile gehören, wie für diejenigen, die der Selbstverständigung jedes einzelnen Subjekts dienen, aber auch für diejenigen bewußtseinsexternen Elemente, die seinem kommunikativ vermittelten Verstehen von seinesgleichen dienen. Zwischen diesen drei unterschiedliche Aspekte akzentuierenden Prämissen besteht aber offensichtlich ein strikter formaler Zusammenhang. Denn sowohl die Selbstverständigung des Subjekt wie sein kommunikativ vermitteltes Verstehen von seinesgleichen kann nur dann ein gelingendes sein – das Wort verstehen ist ja nach dem trefflichen linguistischen Kriterium von Gilbert Ryle ein Erfolgswort –, wenn die Subjekte diese Formen des Verstehens im Medium der Urteile erproben. Die Oberprämisse in diesem Prämissenkomplex bildet dann offenbar der Gedanke der Bindung unserer Urteilsakte an das Verfügen über die dafür tauglichen Wörter. Die wichtigsten impliziten Prämissen bilden sodann der Gedanke des Erfolgscharakters des Verstehens sowohl seiner selbst wie von seinesgleichen und der Gedanke, daß Urteilsakte das angestammte Medium für das Verstehen seiner selbst und von seinesgleichen bilden. Diese mit Blick auf ihre Inhalte außerordentlich komplexen und mit Blick auf ihre Tragweite außerordentlich umfassenden Prämissen bilden nur allzu offenkundig gleichwohl so selbstverständliche Prämissen aller einschlägigen Untersuchungen Kants, daß er sie eben deswegen gar nicht mehr für ausdrücklich formulierungsbedürftige Prämissen der von ihm publizierten Untersuchungen und Untersuchungsergebnisse gehalten hat. Doch obwohl diese Reflexionen nicht im Kontext seiner publizierten theoretischen Untersuchungen formuliert werden, fällt es nicht schwer, ihrer sachlichen Kohärenz mit diesen Untersu235 Der erste, der Kant eine systematische Vernachlässigung der sprachlichen Dimension vorwirft, ist bekanntlich Johann Gottfried Herder, Metakritik der Kritik der reinen Vernunft (17991), Berlin 1955; die Möglichkeit einer Gegensteuerung zu dieser Karikatur von Kants Konzeption stellt Seebaß, Sprache, in Aussicht, vgl. S. 4326.

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chungen auf die Spur zu kommen: Es sind Kants Erwägungen zu den Kriterien für die Unterschiede zwischen Graden der Klarheit von Vorstellungen, die hier weiterhelfen. Denn wenn »das Bewußtsein [von einer Vorstellung, R. E.] zum Bewußtsein des Unterschieds [dieser Vorstellung, R. E.] von andern zureicht, »dann ist diese »Vorstellung […] klar«.236 Doch Urteile, in denen nun einmal in ebenso einfachen logischen, kategorischen Formen wie in komplexen logischen, nicht-kategorischen Formen von Vorstellungen Gebrauch gemacht wird, sind gerade wegen des hohen Bewußtseinsgrades der logischen Rollen-Unterschiede zwischen den in ihnen gebrauchten Vorstellungen das paradigmatische Medium des entsprechenden Wörter-Gebrauchs. Deswegen ist das Urteils-­ Bewußtsein die Form des Bewußtseins, die Kants Differenz-Kriterium für Formen des Bewußtseins von Vorstellungen nicht nur optimal erfüllt, sondern diese Erfüllung durch den urteilsförmigen Wörter-Gebrauch auch in der klarsten Form demonstriert – sowohl für die Selbstverständigung des Urteilenden wie für das Verstehen seines jeweiligen Kommunikationspartners.237 Kants Überlegung zur Angewiesenheit sowohl des Urteilens wie des Verstehens seiner selbst und von seinesgleichen auf Wörter entspringt daher einer zweifachen Einsicht: Daß einerseits das Verfügen über Wörter für korrespondierende Vorstellungen eine Bedingung dieses urteils-reifen Grades des Bewußtseins ist und daß andererseits der Gebrauch von Wörtern im authentischen Urteilsakt ein einzigartiges Indiz für eben diesen Reifegrad des Bewußtseins ist. Insofern – aber auch nur insofern – ist Kants Urteilstheorie auch eine Theorie des urteilsreifen Bewußtseins. Gleichzeitig liegt es auf der Hand, daß mit der Bindung des Urteilsaktes an die Sprache auch der Schritt getan ist, der es erlaubt, diesen Akt nicht nur in der Dimension der Bewußtseinsakte, sondern ebenso in der der sprachlichen Akte, also der Sprechakte zu verorten. Die Orientierung an der sprachlichen Form der Urteilsakte läßt überdies noch einmal in ganz besonderer Weise das zeitliche Format der Urteilsakte, gerade auch das der logisch einfachsten, der kategorischen Urteilsakte evident werden. Dieser von Kant berücksichtigte strikte Bedingungszusammenhang zwischen der Sprache und den urteilsreifen Stufen des Bewußtseins ist in seinen Schriften – und nicht zuletzt in seinen publizierten Schriften – noch in einer ganz anderen Weise präsent als in abstrakten, wie auch immer rudimentären und beiläufigen Reflexionen und Argumentationen dieses Teils einer Bewußtseinstheorie. Zwar ist diese andere Weise der Präsenz nicht nur auf den ersten Blick unauffällig. Umso schlagender belegt sie die Konsequenz, mit der Kant 236 B 414*, Kants Hervorhebung. 237 Ein eigenes Kontrastbeispiel Kants für Vorstellungen, deren Aktualisierung sich wegen ihres extrem niedrigen Klarheitsgrades sprachlichen Artikulationsformen entzieht, betrifft die »Verbindung dunkler Vorstellungen […], wenn [der Tonkünstler] viele Noten im Phantasieren zugleich greift«, B 414*.

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diesen Bedingungszusammenhang immer dann respektiert, wenn er im Zuge seiner abstrakten Überlegungen zum Tragen kommt. Das ist ganz einfach immer dann der Fall, wenn Kant konkrete Beispiele für Urteile (Die Sonne erwärmt den Stein) oder für isolierte Urteilselemente, also für Vorstellungen, speziell für Empfindungen (rot-überhaupt), Anschauungen (nacheinander, Ziehen-­einerLinie) oder für Begriffe (Körper, Ursache)  oder für logische Modalitäten (notwendig), Quantitäten (alle), Qualitäten (nicht) oder Relationen bzw. Funktionen (Wenn …, dann …) mit sprachlichen Mitteln präsentiert. In allen derartigen Fällen beschränkt sich Kant nicht mehr darauf, formale und funktionale Strukturen und Typen von Urteilen und Urteilselementen in abstrakten Formen zu thematisieren, sondern geht dazu über, solche Strukturen und Typen in konkreten sprachlichen Formen exemplarisch zu präsentieren. Im Rahmen von transzendentalphilosophischen Untersuchungen empfiehlt es sich angesichts dieses sprachlichen Präsentationsmodus sogar, auf die spezifisch transzendentalen Verzweigungen von Kants Untersuchungen Rücksicht zu nehmen, also darauf, daß »Das Wort transzendental […] bei mir […] eine Beziehung […] nur aufs Erkenntnisvermögen [bedeutet]«.238 Durch konkrete, exemplarische sprachliche Präsentationen von Urteilen und Urteilselementen zeigt ein Autor einer Urteilstheorie – im Rahmen von Kants Texten also jedenfalls Kant selbst –, daß er zugunsten seines persönlichen Erkenntnis- bzw. Urteilsvermögens einen Reife- bzw. Kompetenzgrad erworben hat, der die ganze Komplexitätsspanne umfaßt, die von den in seiner Theorie behandelten formalen und funktionalen Komplexitätsgraden solcher sprachlich exemplifizierten Urteile bis zu den Komplexitätsgraden der logischen und transzendentalen ­Reflexionsurteile reicht, mit denen er im Rahmen seiner Theorie die Strukturen der von ihm behandelten Urteile auch selbst wiederum in sprachlich dokumentierten Formen thematisiert, analysiert und charakterisiert. Umgekehrt sind es aber auch erst solche logischen und transzendentalen Reflexionen, die darauf zielen, die Art und den Grad der Komplexität solcher Urteile durchsichtig zu machen. Dabei ist es unübersehbar, daß zwischen der geradezu suggestiv einfachen sprachlichen und grammatischen Oberflächenform von Erfahrungsurteilen239 wie Die Sonne erwärmt den Stein und ihren von Kant analysierten fast schon hyperkomplexen logischen und transzendentalen Tiefenstrukturen (zeitliche und räumliche reine Formen apriori der Anschauung, Einheit der Apperzeption, Urteilsfunktionen, Kategorien, Schemata)  eine geradezu irrationale Disproportion besteht. Umso wichtiger ist es für den Autor einer Theorie, in der solche Strukturen in entsprechenden nahezu hyperkomplexen methodischen Formen und auf extrem hohen Abstraktionsstufen analysiert werden, so 238 IV, 292, Kants Hervorhebung. 239 Vgl. zur Einführung sowohl dieses Terminus wie einschlägiger Musterbeispiele IV, 298–301.

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konkret wie möglich zu zeigen – und zwar sowohl zur Selbstkontrolle wie zur Kontrolle durch die Adressaten der publizierten Dokumentation seiner Theorie –, wovon seine Theorie denn nun eigentlich eine Theorie ist und wovon nicht. Der Gedanke der Sprachabhängigkeit und damit auch der der sprachlichen Dimension der Urteilsakte bildet daher nicht nur den Inhalt einer für Kant selbstverständlichen Prämisse seiner Theorie des urteilsreifen Bewußtseins. Dieser Gedanke ist für ihn sogar in einem solchen Maße selbstverständlich, daß er ihn in der publizierten Fassung dieser Theorie gar nicht für erwähnenswert hält. Nicht zuletzt respektiert Kant diese Prämisse in methodischer Hinsicht mit aller Konsequenz aber eben auch immer dann, wenn er konkrete Beispiele für Urteile oder für Urteilselemente formuliert, um zu zeigen, wovon die Strukturen, die er analysiert, überhaupt Strukturen sind und wovon nicht. Die Unauffälligkeit, mit der diese Beispiele im Kontext seiner Theorien auftauchen, sollte daher weder darüber hinwegtäuschen, daß Kant im Licht und im Schutz dieser Prämisse arbeitet, noch darüber, daß seine sprachlichen Präsentationen von exemplarischen Urteilen und Urteilselementen methodische Konsequenzen aus dieser Prämisse sind. Umso mehr ist man angesichts von Kants überlieferten, wie auch immer spärlichen und beiläufigen thematischen Reflexionen und Argumentationen zum strikten Bedingungszusammenhang zwischen bewußtseinsinternen Urteilsakten und dem Verfügen über sprachliche Elemente zugunsten des Vollzugs von Urteilsakten berechtigt, die Selbstverständlichkeit zu seinen Gunsten in Rechnung zu stellen, mit der er sich über diesen Bedingungszusammenhang ganz offenkundig im klaren ist. Diese Berechtigung reicht dann allerdings auch aus, seine Thesen über bewußtseinsinterne Urteilsakte und deren kognitive Erfolge – aber auch über entsprechende Mißerfolge – stets auch dadurch zu erproben, daß man sie auf ihre korrespondierenden sprach­ lichen Artikulationen bezieht. Unter diesen Umständen empfiehlt es sich, vorsichtig zu sein, damit man aus den unübersehbaren methodischen Unterschieden zwischen der an der sprachlichen Dimension orientierten modernen Logik und der sogenannten Vorstellungslogik Kants nicht einen ausschließenden Gegensatz konstruiert, der in die Irre führen würde. Denn wie so oft auf ganz anderen Untersuchungsfeldern kommt es auch hier darauf an, nicht nur das zu berücksichtigen, was Kant mit den Inhalten seiner Formulierungen zu bedenken gibt, sondern auch auf das, was er unabhängig von seinen Formulierungen tut, wenn er Logik treibt. Zwar bleibt es richtig, daß Kant die logischen Strukturen, Formen und Funktionen primär im Medium der Vorstellungen verortet. Dennoch sollte man nicht den Umstand vernachlässigen, daß Kant kein einziges konkretes Beispiel für eine Vorstellung verwendet, ohne die jeweilige exemplarische Vorstellung durch ein Wort, durch eine Phrase bzw. durch einen Satz sprachlich auszu­drücken. Dies kann eine primitive Vorstellung wie z. B. eine sensitive Vorstellung sein, etwa die Vorstellung einer Farbe, die er dann durch ein entsprechendes Farb-

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wort ausdrückt, z. B. »rot«; es kann eine komplexe, teils sensitive, teils anschauliche und teils begriffliche Vorstellung wie die eines Hundes sein; es kann eine komplizierte sog. anschauliche Vorstellung wie die von dem Konstruktionsverfahren sein, durch das man das kongruente Gegenstück zu einer gegebenen geometrischen Figur gewinnt; es kann eine vergleichsweise sehr komplexe, teils kategoriale, teils sensitive und teils anschauliche Vorstellung wie die von der Verursachung der Aufweichung einer Materieportion durch Erwärmung sein – für jede Exemplifizierung einer wie auch immer primitiven oder wie auch immer komplexen Vorstellung verwendet Kant sprachliche Mittel. Man hat es daher im Fall von Kants konkreter Ausarbeitung der Logik mit einer gleichsam gespaltenen methodischen Einstellung zu tun: Die logischen Strukturen, Formen und Funktionen werden zwar durchweg im Medium der Vorstellungen verortet; aber konkrete Beispiele für solche Vorstellungen werden ebenso durchgängig mit Hilfe von sprachlichen Ausdrücken präsentiert. Bei dieser gleichsam gespaltenen methodischen Einstellung handelt es sich indessen weder um ein Indiz für einen Fall von Irrationalität noch um ein Indiz für eine Inkonsistenz oder Inkohärenz. Sie ist vielmehr ein Indiz dafür, daß Kant seine Ausarbeitung der Logik stillschweigend durch ein Postulat ergänzt, das er selbst auf Schritt und Tritt befolgt und lediglich nicht explizit formuliert. Man kann es in Analogie zu einem Prinzip in der Sprechakttheorie von John Searle als Kants linguistisches Expressibilitäts-Postulat apostrophieren240 und so formulieren: Jede Vorstellung, sofern sie im Rahmen von Urteilen verwendet werden kann – und damit auch jedes Urteil selbst –, muß mit sprachlichen Mitteln – also mit Hilfe von Worten, Phrasen oder Sätzen – ausgedrückt oder bezeichnet werden können.241 Hat man den linguistischen, den sprachanalytischen und den sprachphilo­ sophischen Blindheitsverdacht gegen Kant erst einmal neutralisiert, dann tut der Leser Kants gut daran, wenn er sich ebenso vor der Umkehrung einer solchen Blindheit in Acht nimmt und mit seiner Aufmerksamkeit nicht starr auf 240 Vgl. John Searle, Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language (19691), Cambridge 1974, S. 19–21. 241 In meinem Buch, Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes, Berlin/New York 1978, habe ich planmäßig von der dadurch legitimierten Erlaubnis Gebrauch gemacht, Kants Theorie der räumlichen Anschauung und deren Tragweite für die Euklidische Geometrie auch auf der Linie dieses linguistischen Expressibilitätspostulats zu untersuchen – also mit Hilfe der Frage zu untersuchen, inwiefern unsere Alltagssprache, die konventionelle Sprache dieser Geometrie und bestimmte Teile formaler Sprachen Mittel bereitstellen, mit deren Hilfe sich die von Kant behandelten Formen empirischer räumlicher Anschauungen (links-rechts, oben-unten, vorne-hinten) sowie die von ihm behandelten Formen reiner räumlicher Anschauungen (gerade, krumm, senkrecht, kreisförmig, dreieckig u. a.) in dem von Kant beanspruchten theoretisch kohärenten Format als Formen rekonstruieren lassen, die selbstverständliche Elemente unserer elementarsten räumlichen Handlungsorientierungen bilden.

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die andere Dimension von Kants Philosophie fixiert ist. Es handelt sich dabei um die Dimension, die Kant gerade mit seiner prägnanten Bemerkung über die spezifisch transzendentale Orientierung seiner Untersuchungen am Erkenntnisvermögen ins Auge faßt. Die strikte Orientierung an dieser subjekt-internen Dimension des Erkennens rechtfertigt es selbstverständlich mehr als jedes andere Element von Kants transzendentalphilosophischen Untersuchungen, den Typus seiner Philosophie als den einer Subjektivitätsphilosophie zu verzeichnen. Dennoch ist auch hier Vorsicht geboten. Denn da diese Vermögen nun einmal Vermögen der Erkenntnisse, insbesondere der objektiv-gültigen sind, disponieren sie die Subjekte, die ihre Inhaber sind, nun einmal primär für kognitive Akte und für die entsprechenden kognitiven Akterfolge bzw. Mißerfolge, die aus ihrem Gebrauch resultieren, aber nicht primär dafür, von Philosophen unter diesen Subjekten transzendental analysiert zu werden. Die intrin­sische Gebrauchs- und Erfolgsdisposition der Erkenntnisvermögen macht es daher dem transzendental reflektierenden und analysierenden Philosophen sogar zur methodischen Pflicht, die Resultate seiner Vermögensanalysen auf Schritt und Tritt auch im Licht der Strukturen der Erfolge bzw. der Mißerfolge zu kontrollieren, in denen sich jeweils der gelungene bzw. mißlungene Gebrauch der von ihm analysierten kognitiven Vermögen manifestieren können muß, wenn es Vermögen, Gebrauchsakte, Gebrauchserfolge bzw. -mißerfolge sind, mit denen deren Subjekte in die Welt der ihm möglichen Erfahrung passen. Bei den zentralen Gebrauchserfolgen, die die Inhaber dieser Erkenntnisvermögen mit ihrer – und nur mit ihrer – Hilfe erzielen können, handelt es sich aber nun einmal ausschließlich um diverse Typen von (logisch strukturierten) Urteilen, speziell von Erkenntnisurteilen. Es gibt denn auch kein einziges systematisches Lehrstück in irgendeiner der drei Kritiken, in dem Kant nicht auf paradigmatische Urteilstypen rekurrieren würde, die auch einer Kontrolle dessen dienen, wozu der Mensch durch seine für ihn charakteristischen Erkenntnisvermögen disponiert ist. Wenn Kant daher in den Prolegomena und in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die von ihm so genannte analytische Methode befolgt,242 dann dient dies nicht nur dem didaktischen Zweck, »für zukünftige Lehrer«243 einen Leitfaden zu bieten, der sicherer durch das Labyrinth der ›dornigen Wege‹ der Ersten Kritik und der in Arbeit befindlichen Zweiten Kritik führen kann als diese selbst; dann dient dies auch der methodischen Demonstration, wie man paradigmatische theoretische Urteile, speziell Erfahrungsurteile und Wahrnehmungsurteile bzw. paradigmatische praktische Urteile, speziell moralische bzw. rechtliche Urteile so analysieren kann, daß die spezifischen kognitiven Erfolge wenigstens in paradigmatischer Weise ans Licht gebracht werden können, zu

242 Vgl. IV, 265 f. 243 255.

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deren Gewinn die urteilende Subjektivität durch die Erkenntnisvermögen disponiert ist, mit denen sie begabt ist. Umso bemerkenswerter ist es, daß die Dritte Kritik in dieser methodischen Hinsicht den Prolegomena und der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten ungleich verwandter ist als der Ersten und der Zweiten Kritik. Denn das paradigmatische Grundmuster des reinen Geschmacksurteils Dies ist schön ist nicht nur von Anfang an präsent. Es wird – analog den exemplarischen Wahrnehmungsund den exemplarischen Erfahrungsurteilen in den Prolegomena sowie ebenso analog den exemplarischen moralischen Urteilen in der Grundlegungs-Schrift und obwohl es nicht zu den Erkenntnisurteilen gehört – mit jedem seiner vier logischen Hauptmomente auch bei jedem neuen methodischen Hauptschritt der Analytik des Schönen erneut unmittelbar exponiert. Der Leser kann sich auf diese Weise jederzeit ohne nennenswerte Mühe – und ganz unbeschadet der einzigartigen emotionalen Tiefenstruktur dieses Urteilstyps – die sprachliche, die grammatische und die logische Oberflächenform des reinen Geschmacksurteils direkt vor Augen führen. Nur in ihm ist gleichwohl jene ä­ sthetische Stimmung präsent, zu der ihr Träger anläßlich seiner mehr oder weniger flüchtigen Begegnungen auch mit minimalen Schönheiten244 wie z. B. der einer Tulpe veranlaßt werden kann – aber dies eben auch nur deswegen, weil er unter dem Namen des reinen Geschmacks eine ›selbsteigene‹ Zentralfähigkeit seiner Urteilskraft innehat, die ihn in Gestalt eben dieser Stimmung zu dem präkognitiven Vorspiel disponiert, das für die Erkenntnis-überhaupt am günstigsten ist.

6. Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins? Die Berücksichtigung der beständigen methodischen Orientierung Kants an den konkreten paradigmatischen Urteilstypen, deren logischer und transzendentaler Analyse sein kritisches Geschäft im ganzen gewidmet ist, gibt das wichtigste Vorbeugungsmittel ab, sich durch den subjektivitätstheoretischen Grundzug dieses Geschäfts nicht in die Irre führen zu lassen. Dieser Grundzug prägt sich in einer radikalen Form auch in der von Kant erst ganz zuletzt entdeckten emotionalen Tiefenstruktur der reinen Geschmacksurteile aus. Zwar sind die Vollzüge dieser Urteile ähnlich wie die Vollzüge der Wahrnehmungsurteile und die der ohne sie nicht möglichen Erfahrungsurteile an okkasionelle Umstände gebunden. Sie können stets nur bei Gelegenheit der Begegnung der urteilenden Subjektivität mit einem sinnenfälligen Phänomen getroffen werden. Doch das Format der Schönheit, die die reinen Geschmacksurteile thematisieren, ist durch die emotionale Bindung dieses Formats an die Harmonie des 244 Vgl. zur trefflichen Prägung dieses Begriffs Wolfram Hogrebe, Semantische Ästhetik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 34/1980, S. 18–37, bes. 35 f.

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Spiels der Erkenntniskräfte des Urteilenden auch ausschließlich in der Binnenstruktur dieser Subjektivität beheimatet. Dieser subjektivitätstheoretische Grundzug scheint sich mit seiner ganzen Radikalität in Kants Theorie der Erfahrung auch am erfahrungsentferntesten, am »höchste[n] Punkt« zu zeigen, »an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Transzendental-Philosophie heften muß«.245 Diesen ›höchsten Punkt‹ bildet der »Aktus der Spontaneität«,246 der »reine[n] […] ursprüngliche[n] Apper­ zeption«.247 Den sprachlichen Ausdruck dieses spontanen Aktes bildet bekanntlich der Mikro- oder Pseudo-Satz Ich denke,248 den Kant auch als den »Satz […], der das Selbstbewußtsein ausdrückt«,249 aber auch kurz als »Ausspruch des Selbstbewußtseins«250 apostrophiert. Die Klärung der logischen Struktur dieses Satzes bzw. Ausspruchs – und damit die der Struktur des dadurch ausgesprochenen Selbstbewußtseins – bildet angesichts des Status und der Funktion des so bezeichneten höchsten Punkts sowohl allen Verstandesgebrauchs wie der Logik und der Transzendentalphilosophie zweifellos eine in methodischer Hinsicht primäre Aufgabe aller Auseinandersetzung mit Kants drei Kritiken. Umso wichtiger ist es, den Irritationen vorzubeugen, die durch einige Bemerkungen Kants zu diesen Strukturen ausgelöst werden können. Am wichtigsten unter diesen irritierenden Bemerkungen ist hier zweifellos Kants Bemerkung zur Zirkelstruktur des kognitiven Akts des ›denkenden Ich‹. Er charakterisiert das Ich dieses Akts als »dieses Ich, […], welches denkt […] um welches wir uns […] in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgendetwas von ihm zu urteilen«,251 also um von ihm beispielsweise und vor allem zu urteilen, daß es denkt. Es ist nicht nur verständlich, sondern auch verdienstlich, wenn diese zirkuläre, von Kant nur skizzenhaft charakterisierte Struktur des Selbstbewußtsein durch ebenso weitläufige wie mikroskopische Untersuchungen mit dem Ziel thematisiert wird, Kants Skizzen zu einer möglichst vollständigen Struktur­ charakteristik zu ergänzen. Auf dieser Linie ist während der vergangenen mehr als vier Jahrzehnte durch Formen einer internationalen subjektivitätstheoretischen Kooperation und Arbeitsteilung ein immer noch reicher werdendes makro- und mikroskopisches Bild von der Struktur entworfen worden, die hinter Kants Rede von der zirkulären Struktur des Selbstbewußtsein auftaucht.252 245 B 134*. 246 B 130; vgl. auch 132, 139. 247 B 132. 248 Vgl. B 131–132. 249 A 398–399. 250 A 346, B 404. 251 Ebd.; vgl. auch A 366. 252 Eine repräsentative Zwischendokumentation bietet die Festschrift zum 60. Geburtstag von Dieter Henrich, hg. v. K. Cramer, H. F. Fulda, R.-P. Horstmann und U. Pothast, Theorie der Subjektivität, Frankfurt/M. 1987.

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Doch über der Konzentration auf diese spezielle Strukturanalyse des Zirkels des Selbstbewußtseins sollte der Umstand nicht vernachlässigt werden, daß Kants Status- bzw. Funktionsanalyse des von ihm apostrophierten Ich bzw. Ich denke außer dieser Zirkelstruktur noch eine ganz andere, nicht-zirkuläre Struktur erörtert, die dies Ich zum Zentrum hat. Diese Struktur erörtert und analysiert Kant eindringlich in den ersten Paragraphen der zweiten Fassung der Transzendentalen Deduktion der Kategorien unter den Namen der Spontaneität und der Selbsttätigkeit sowie mit Hilfe der Spontaneitätsadverbien selbst und von selbst:253 Mit ihrer Hilfe gibt Kant zu verstehen, daß er am ›höchsten Punkt‹ der Theorie der Erfahrung unter dem Namen des Selbst-Bewußtsein diejenige Form des Bewußtseins eines denkend-urteilenden Subjekts analysiert, die ein Subjekt insofern und nur insofern aktiviert, als es sich mit jedem Urteilsakt, den es vollzieht, bewußt ist, Urteile – und insbesondere Erfahrungsurteile  – selbst, von selbst, spontan bzw. selbsttätig zu treffen, also insbesondere auch alltägliche Erfahrungsurteile wie Die Sonne erwärmt den Stein.254 253 Vgl. B 130 ff. Man kann die sachliche Bedeutsamkeit, die dieser scheinbar bloß lexi­ kalischen und grammatischen Eigenart der adverbialen Verwendung des Wortes selbst und der Phrase von selbst in diesem thematischen Zusammenhang zukommt, schwerlich überschätzen. Sie zeigt zunächst einmal, daß Kant in diesem theoretischen Zentrum seiner philosophischen Arbeit mit Hilfe eines sprachkritisch gereiften Entwurfs die Suggestionen und Verhexungen hinter sich läßt, die in der Philosophie spätestens seit John Lockes ›großgeschriebenem‹ Self epidemisch geworden waren, aber erst mehr als fünf Generationen nach Kants stillschweigender Korrektur durch Wittgensteins entsprechende Hinweise thematisiert worden sind, vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Schriften 1, Frankfurt/M. 1960, vgl. bes. § 413. Und Gilbert Ryle, The Concept of Mind (19411), Chicago 1969, macht sogleich auf den ersten beiden Seiten seiner Einleitung unmißverständlich klar, daß ein sachlich angemessenes Sprechen über den Geist und andere kognitive Entitäten dieses Typs auch in der Philosophie ohne die Berücksichtigung der Schlüsselrollen nicht gelingen kann, die kognitiven Adverbien für die Charakterisierung leibhaftiger Tätigkeiten – also auch den leibhaftigen, Worte verwendenden Urteilsakten – zukommt. In der nach-Wittgensteinschen und nachRyleschen Arbeit an der Theorie des Selbstbewußtseins ist die Aufmerksamkeit für Kants sprachkritisch gereifte Theorie des Selbstbewußtseins – also des Spontaneitätsbewußtseins dessen, der als Urteilender selbst tätig ist – gleichwohl, um es vorsichtig aus­zudrücken, jedenfalls nicht die Regel gewesen; vgl. hierzu auch unten S.  138, Anm.  ­109–111, 141, Anm. 120, . 254 Diese Möglichkeit, die im Grunde adverbiale selbst-Komponente in der Rede vom Selbstbewußtsein im Rahmen einer Analyse des Bewußtseins der Selbst-Tätigkeit fruchtbar zu machen, mit der das Subjekt eines Urteilsakts unabhängig von allen nicht-personalen und über-personalen Instanzen dessen logische Form bildet, übersieht John Searle, The Rediscovery of Mind, Massachusetts 1992, S. 141–143. Es geht Searle hier um die Prüfung der allgemeinen These, daß jeder Fall von Bewußtsein auch ein Fall von Selbstbewußtsein sei. Er hält die zweigliedrige Alternative zwischen einer zutreffenden, aber trivialen, und einer falschen Option für erschöpfend. Bei der zutreffenden, aber trivialen Option handelt es sich um den Fall, von der Aufmerksamkeit auf eine Situation zu der Aufmerksamkeit auf diese Aufmerksamkeit überzugehen, also sich seiner Auf-

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Diese Paragraphen können daher deutlicher als alles andere zeigen, daß Kant den springenden Punkt für die Orientierung der Analysen ›allen Verstandesgebrauchs, selbst die der ganzen Logik, und, nach ihr, die der Transzendentalphilosophie‹ erst im zweiten öffentlichen Anlauf gefunden und mit der Fähigkeit und der Ausübung der Spontaneität beliebiger Urteilsakte identifiziert hat (vgl. unten 8. Ab.). Innerhalb der Skizze der Zirkelstruktur des Selbstbewußtseins gibt Kant indessen selbst den wichtigsten Hinweis darauf, daß der Analyse dieser Struktur im Zusammenhang mit der Spontaneitäts-Konzeption der Theorie der Erfahrung eigentlich nur eine randständige Sonderrolle zukommt. Denn immerhin schränkt er selbst den Intentionsbereich seiner anschaulichen Rede von einem Zirkel, in dem wir uns um das denkende Ich ›herumdrehen‹ müssen, in völlig unmißverständlicher Weise auf die ganz speziellen thematischen Fälle ein, in denen das, was ›vom Ich geurteilt wird‹, nur mit Hilfe von Prädikaten eines ganz speziellen Typs geurteilt wird. Dies sind die Fälle, in denen sich die von ihm so genannten »Prädikate des inneren Sinnes […] auf das Subjekt [beziehen] und dieses kann nicht weiter als Prädikat irgend eines andern Subjekts gemerksamkeit bewußt zu werden, vgl. 143 f.; bei der falschen Option handelt es sich um die Fälle, in denen sich eine Person bewußt wird, in einer außerordentlichen und unintendierten Situation zu sein, vgl. 142–143. Beide Optionen fassen jedoch Formen des Selbstbewußtseins ins Auge, die Kant als empirische Formen des Selbstbewußtseins bzw. der Apperzeption einstuft, vgl. B 132 f., weil sie nachträgliche Formen der Aufmerksamkeit eines Subjekts auf seine eigene empirisch vorfindliche kognitive Situation bilden; zu dem davon strukturell verschiedenen ›reinen und ursprünglichen‹ SpontaneitätsBewußtsein vgl. unten 7. Ab. Wie Searles ergänzende Bemerkung über »unity of self«, S. 1414, zeigt, hat er Kants Text zwar nicht verstanden – was nicht sonderlich ins Gewicht fällt –, aber vor allem das fundamental-logische Problem nicht durchschaut, auf das Kant im Umkreis des Themas unity of the self durch seine Konzeption des Spontaneitätsbewußtsein aufmerksam macht. Searle orientiert sich planmäßig, wenngleich irregeleitet, an einem Problemkomplex, dem auch Kants Theorie gewidmet ist; vgl. hierzu auch unten S.  176, Anm.  226. Kemmerling, Bewußtsein, macht zu Recht auf den unscheinbaren linguistischen Umstand aufmerksam, daß Christian Wolffs erste deutsche Prägung des Substantivs Bewußtsein noch an dem substantivierten Infinitiv das Bewußt seyn orientiert war und bescheingt ihm »– für dieses Mal wenigstens  – gutes Sprach­gefühl […]: denn es geht um eine Sammelbezeichnung für die Vorgänge des Denkens, nicht um die Sache, in der sie sich abspielen«, S.  205–206. Kant orientiert sich indessen nicht an Vorgängen des Denkens, die sich irgendwo abspielen, sondern an spontanen Akten eines Subjekts. Insbesondere mit dem Begriff des Selbst-Bewußtsein konzipiert er mentale Akte eines Subjekts, sofern sich dies Subjekt dessen bewußt ist, diese Akte selbst, also spontan auszuüben, und zwar primär die Akte, selbst Vorstellungen zu logischen Einheitsformen von Urteilen zu verbinden. Vor allem sein Begriff des Selbstbewußtseins ist daher so etwas wie ein substantivierter Infinitiv der komplexen Form: sich bewußt sein, die logische Form eines Urteils durch einen Akt der denkenden Verbindung von logisch ungeformten bzw. unverbundenen Vorstellungen selbst geprägt zu haben.

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dacht werden«.255 Er schränkt also den Intentionsbereich seiner anschaulichen Rede von einer Zirkelstruktur des Ich denke bzw. des Selbstbewußtseins auf eine

255 IV, 334. Es ist kein Zufall, daß Kant diese wichtige prädikatenlogische Analyse erst in den Prolegomena im Rahmen seiner Kurzanalyse des Paralogismus ausführlich ent­ wickelt, vgl. 334–337, während er die terminologische Prägung schon in der Fassung der Paralogismus-Kritik der ersten Auflage der Ersten Kritik einführt, vgl. A 359 f. Diese Analyse ist ein Dokument seiner über die erste Fassung der Ersten Kritik hinaus fortgesetzten Auseinandersetzung mit diesem Thema. Angesichts der späten Entdeckung des Paralogismus, von Adickes an Hand von R 5553 auf die Zeit ab 1779 datiert, war die Zeit bis zur Publikation der ersten Fassung zu kurz, um das Potential dieser Entdeckung rechtzeitig ganz auszuschöpfen. In philologischer Hinsicht fällt die enge sachliche Begrenztheit dieser Primäranalyse Kants am kontrastreichsten aus, wenn man beachtet, daß der Satz Ich denke in der ersten Auflage – wenn man einmal von den programmatischen Stichworten zur sog. Rationalen Seelenlehre absieht (vgl. A 342, B 400–A 347, B 406) absieht  – fast ausschließlich im Kontext des Paralogismus-Problems auftaucht, vgl. A 342, B 399 – B 430. Er wird in diesem Kontext primär als Teil des Materials einer formallogischen Analyse eines einzigartigen Fehlschlusses (quaternio terminorum) der traditionellen Substanz-Ontologie der Seele behandelt; vgl. hierzu auch die kritischen Ausführungen zu Wolffs fundamental-ontologischem Rückfall hinter Descartes’ Orientierung am ›höchsten Punkt‹ des Ich denke bei Dieter Scheffel, Zur Grundidee der Ontologie bei Wolff und Clauberg, in: G. Jerouschek und A. Sames (Hg.), Aufklärung und Erneuerung. Beiträge zur Geschichte der Universität Halle im ersten Jahrhundert ihres Bestehens (1694–1806). Unter Mitarbeit von M. ­Beintker, R. Enskat, E. Hirsch, J. N. Neumann, R. Saage und U. Sträter, Hanau/Halle 2001, S. 157– 162. Wohl gibt der Kontext des Paralogismus’ Kant auch schon in der ersten Fassung Gelegenheit zu mancherlei Reflexionen, die auch im Rahmen der später entwickelten Konzeption des ›höchsten Punkts‹ direkt fruchtbar gemacht werden können. Den status quaestionis, den Kant mit der formalen Funktionsanalyse des Satzes Ich denke in der ersten Fassung der Ersten Kritik verbindet, repräsentiert indessen nichts klarer als das Resumé: »Da nun der Satz Ich denke […] alle Kategorien als ihr Vehikel begleitet«, A 348, B 406. Dies Resumé faßt in treffender Weise die Überlegungen zusammen, mit denen Kant in der ersten Fassung »die formale Einheit des Bewußtseins der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen«, A 105, zwar mit denselben verbalen Mitteln thematisiert wie auch in den §§ 15–16 der zweiten Fassung die Funktion des Ich denke. Dagegen wird A 105 ›die formale Einheit des Bewußtseins der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen‹ durch die Überlegung »Alsdann sagen wir: wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit bewirkt haben«, ebd., unmittelbar und ausschließlich als eine Bedingung der Gegenstandserkenntnis charakterisiert und durch die Überlegung »Alles Erkenntnis erfordert einen Begriff«, A 106, ebenso unmittelbar und ausschließlich mit den Kategorien als Bedingungen einer möglichen Gegenstands- und Erfahrungserkenntnis in Verbindung gebracht. Es sind daher diese Überlegungen von A 105 ff., die Kant mit der Formel vom Ich denke als Vehikel aller Kategorien zusammenfaßt. Doch auf dem Weg von der ersten zur zweiten Fassung der Ersten Kritik ist Kant nicht nur erstmals die Klärung des Typs der Prädikate- bzw. Urteile-des-inneren-Sinns gelungen, sondern, wie B 129–136 zeigen, sondern auch die Einsicht, daß das Ich denke das ›Vehikel‹ nicht nur aller Kategorien, sondern auch aller Urteilsfunktionen ist, vgl. hierzu unten vor allem 7.–10. Ab.

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einzigartige Urteilsform ein, auf Urteile-des-inneren-Sinns mit den Muster­ beispielen »Ich bin, Ich denke, Ich handele«256 ein. Das eminente Urteil-des-inneren Sinns Ich denke bildet daher im Licht von Kants reifer Konzeption der zweiten Auflage der Ersten Kritik den ›höchsten Punkt‹ auch in einem sich verästelnden Komplex von diversen Typen von Urteilen-des-inneren-Sinns. Zu ihnen gehören vor allem auch Wahrnehmungsurteile der auch erst mit R 3145 durchschauten Form Ich, der ich einen Turm sehe, nehme an ihm die rote Farbe wahr (vgl. oben S.  33, Anm.  76, S.  37, Anm.  89, S. 68, Anm. 197). Diese Urteile, durch die sich das Subjekt solcher Urteile mit Hilfe von Prädikaten-des-inneren-Sinns jeweils einen bestimmten mentalen Akt (des Denkens, Urteilens u. ä.) zuschreibt, bilden die genuine logische Form der Bestimmung des inneren Sinns. Sie bilden also den Akt, »das Mannigfaltige [von Vorstellungen, Empfindungen, Wahrnehmungen u. ä., R. E.] der [temporalen, also sukzessiven R. E.] Anschauung zu verbinden, d. i. unter eine Apperzeption […] zu bringen«,257 also spontan in die Form eines Urteils-desinneren-Sinns zu bringen.258 Bei dem sog. ›Inneren‹ dieses ›Sinns‹ handelt es sich daher ebenso einfach wie strikt um die temporale, sukzessive Form, in der 256 XXVIII .1, 266. »Der logische Akt Ich denke (apperceptio) ist ein Urteil (iudicium) [….] Es ist ein logischer Akt der Form nach ohne Inhalt«, XXII, 95. 257 B 153; vgl. zu Kants früher entsprechender Begriffsbildung R 1680: »Das Bewustseyn ist sensus internus«. Der in der sog. Analytischen Philosophie z. B. von Geach, Mental Acts, skeptisch erörterte Begriff des inneren Sinns (inner sense), vgl. S. 107 f., hat mit Kants entsprechendem Begriff so gut wie nichts zu tun. Jonathan Bennett, Kant’s Analytic, Cambridge 1966, kommt, ungeachtet seiner Sinnesdaten-Prämisse und seiner Vernachlässigung von Kants Logik der Urteile-des-inneren-Sinns, Kants Konzeption des inneren, temporalen Sinns allenfalls entfernt auf die Spur, wenn er formuliert: »›Our data must be handled in this way [brought under temporal concepts] – the only alternative is having no data to handle‹‹‹, S. 48, Hervorhebung J. B. Bei den Erörterungen, die Kant den drei Synthesis-Formen der Apprehension in der Anschauung, der Reproduktion in der Einbildungskraft und der Rekognition im Begriff widmet, vgl. A 98–104, handelt es sich vor allem um formale Mikro-Analysen der temporalen Formen dieser drei an jedem Urteilsakt beteiligten kognitiven Teilakte. Diese Analysen sind daher seine Mikro-Theorie des inneren Sinns. Damit können auch die Verlegenheiten überwunden werden, in die sich z. B. Wolff, Theory, S. 191–102, und Thomas D. Weldon, Kant’s Critique of Pure Reason, Oxford 19582, im Zusammenhang mit Kants verstreuten Bemerkungen zum Thema des inneren Sinn verstricken: Wolff’s Auseinandersetzung mit A 98–104 geht in die Irre, weil er nicht sieht, daß die drei Synthesis-Akte temporal differenzierte Teilakte jedes Urteilsakts sind; der Irrweg von Weldons fatalem Rückgriff auf Elemente von Tetens’ Psychologie der Aufmerksamkeit, vgl. Weldon, Kant’s, S. 261–262, wird überflüssig. Zur kognitiven Mikrozeitlichkeit der Urteilsakte im Rahmen von Kants MiniaturTheorie des inneren Sinns vgl. unten 8. Ab. 258 Die Wahrnehmungsurteile gehören allerdings nicht wegen ihrer Wahrnehmungskomponente zu den Urteilen-des inneren Sinns, sondern wegen der identitären Kom­ ponente, die die außerordentlich wichtige Überlegung R 3145 durch die zweifache egozentrische Referenz Ich, der ich den Turm wahrnehme, nehme an ihm die rote Farbe wahr

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die mentalen (und sprachlichen) Akte des Denkens und des Urteilens vom denkend-urteilenden Subjekt nicht nur vollzogen werden, sondern von ihm auch im Bewußtsein ihrer Zeitlichkeit und ihrer Spontaneität begleitet werden. Die Urteile-des-inneren-Sinns bilden daher die Formen, in denen das denkendurteilende Subjekt mit Hilfe des Verstandes und von dessen ›ursprünglichem Vermögen der Apperzeption‹ spontan den ›inneren Sinn affiziert‹, so daß es ›bewußt‹ Urteile-des-inneren-Sinns bilden kann. Die Urteile-des-inneren-Sinns bilden daher die minimal-logischen Formate der Selbst-Affektionen des inneren Sinns durch das mit Hilfe der reinen und ursprünglichen Apperzeption denkend-urteilende Subjekt. Jedes Urteil-des-inneren-Sinns  – nicht nur das eminente Urteil-des-inneren-Sinns Ich denke bzw. Ich denke, daß-p – ist daher »das unmittelbare Zeugnis meines Selbstbewußtseins«.259 Es darf hier offen bleiben, welches Licht durch diese Konzeption der Urteile-des-inneren Sinns auf Urteile des Typs Ich meine, (daß-p) Ich bin überzeugt, (daß-p) Ich weiß, (daß-p) und auf alle anderen Urteile des Typs geworfen wird, dessen systematische Analyse in unseren Tagen vor allem einen Teil der Aufmerksamkeit der Epistemischen Logik in so überaus fruchtbarer Weise auf sich zieht.260 Doch über dem scheinbar selbstgenügsamen, nicht selten vor allem Fichteinspirierten Ziel von Formalanalysen der Zirkularität des kognitiven Aktes Ich denke des Selbstbewußtseins261 vernachlässigt Kant selbst niemals das hauptsächliche Fernziel, das er mit dem unüberholbaren Fluchtpunkt seiner Arbeit an einer Theorie der Erfahrung anvisiert. In Verbindung mit dieser von der skizzierten Zirkularität gänzlich unabhängigen Orientierung zeigt »der formale Satz der Apperzeption Ich denke […] freilich keine Erfahrung, sondern die Form der Apperzeption, die jeder Erfahrung anhängt als bloß subjektive Bedingung derselben«262 – die also der Erfahrung anhängt, an der wir durch Erfahrungsurteile beispielsweise des Typs Die Sonne erwärmt den Stein teilhaben andeutet. Sie verweist auf den denkenden Akt der reinen und ursprünglichen Apperzeption, durch den das so urteilende Subjekt seine funktionale Identität als Träger von zwei Wahrnehmungen stiftet. 259 A 371. 260 Die Urteile-des-inneren-Sinns, durch die sich das Subjekt solcher Urteile mit Hilfe eines Prädikats-des-inneren-Sinns jeweils einen bestimmten mentalen Akt zuschreibt (Denken, Urteilen u. ä.), bilden die genuine logische Form der Ausübung des inneren Sinns. Bei dem sog. ›Inneren‹ dieses ›Sinns‹ handelt es sich indessen ebenso einfach wie streng um die temporale, sukzessive Form, in der die mentalen Akte des Denkens und des Urteilens vom denkend-urteilenden Subjekt nicht nur vollzogen werden, sondern von ihm auch im Bewußtsein ihrer Zeitlichkeit begleitet werden. Zur kognitiven Mikrozeitlichkeit der Urteilsakte im Rahmen von Kants Miniatur-Theorie des inneren Sinns vgl. unten 8. Ab. 261 Zu Fichtes Anteil an den formalen Problemstellungen des Selbstbewußtseins vgl. unten S. 101, Anm. 284. 262 A 354.

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können. Selbstverständlich kann man die Form, in der diese Apperzeption jeder Erfahrung ›anhängt‹, ohne Mühe auch direkt zur Sprache bringen. Man braucht nur ›den formalen Satz der Apperzeption‹ Ich denke, der diesen zentralen kognitiven Akt mit Kants theorie-internen terminologischen Mitteln überhaupt erst in standardisierter Form zur Sprache bringt, strikt von diesem Akt zu unterscheiden und mit Blick auf die ›anhängende‹ Funktion dieses kognitiven Aktes gezielt die entsprechende ›anhängende‹ logische Form dieses Satzes zu berücksichtigen. Diese Form ist offensichtlich die des Präfixes »Ich denke, daß …« eines solchen Erfahrungsurteils. Dadurch wird dies authentische Erfahrungsurteil offenbar in dieser gestuften Form in ein exemplarisches Spezialurteil des inneren Sinnes z. B. »Ich denke, daß die Sonne den Stein erwärmt« transformiert.263 Kants Bemerkung über die jeder Erfahrung bzw. jedem Erfahrungsurteil ›anhängende‹ Funktion des spontanen kognitiven Zentralaktes der Apperzeption bietet daher mit Blick auf das Ganze des nahezu hyperkomplexen Gefüges der Theorie der Erfahrung eine außerordentlich nützliche Orientierungshilfe: Sie macht darauf aufmerksam, daß der kognitive Zentralakt der Apperzeption, dessen Thematisierung und Analyse innerhalb dieses Theoriegefüges den ›höchsten Punkt‹ bilden, durch seine Spontaneität mittelbar sogar mit dem »absolute[n] Ganze[n] aller möglichen Erfahrung«264 verbunden ist, und zwar durch jedes Erfahrungsurteil, das als Urteil am ›tiefsten Punkt‹ dieses Gefüges exemplifiziert, thematisiert und analysiert wird. Kant hat sich selbstverständlich nicht damit begnügt, die Verbindung zwischen diesen beiden Extrempunkten der Theorie der Erfahrung durch einen 263 Daß der ›formale Satz der Apperzeption‹ Ich denke im Aufbau von Kants Theorie der Erfahrung ein nicht in jeder Hinsicht selbstgenügsames Gebilde ist, sondern in der für die Theorie der Erfahrung zentralen Hinsicht funktional mit der propositionalen Syntax »Ich denke, daß-p« verbunden ist, durch die er mit jedem Urteil-überhaupt verbunden ist, betont auch Wolfgang Carl, The Highest Point of Transcendental Philosophy, in: Jahrbuch des Deutschen Idealismus 5 (2007), S. 32–46, wenn er die Form »I think that […]« benutzt, um die Form des »assessment by judgements« zu charakterisieren, die mit Hilfe der reinen und ursprünglichen Apperzeption durch »acts of spontaneity« in Anspruch genommen werden muß, um »my representations«, S. 41, zu den meinen zu machen. In dieselbe Richtung zielt in vor-propositionalistischen Zeiten auch schon Reich, Vollständigkeit, wenn er diese syntaktische Funktion des ›formalen Satzes der Apperzeption‹ Ich denke in der Form »Ich denke dies oder das«, S. 31–34, präsentiert. Kant hat für die propositionale Ergänzungsbedürftigkeit des Ich denke indirekt durch den Gedanken vorgesorgt: »Allein ohne irgendeine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgibt, würde der Aktus Ich denke, doch gar nicht stattfinden, und das Empirische ist nur die Bedingung […] des Gebrauchs des reinen intellektuellen Vermögens«, B 422*. Die propositionale Ergänzung … daß-p des Aktus-Ich-denke repräsentiert indessen die Form, in der der Gebrauch jeder beliebigen empirischen Vorstellung durch den Aktus Ich denke des ›reinen intellektuellen Vermögens‹ in jedem konkreten Fall eines solchen Gebrauchs ›stattfindet‹. 264 IV, 328, Kants Hervorhebung.

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so maximal weitgespannten Bogen zu markieren. Er hat darüber hinaus darauf aufmerksam gemacht, daß die transzendentale Analyse vom ›höchsten Punkt‹, also von der »Apperzeption als einem Vermögen«265 zwar ausgehen kann, aber eben nicht etwa in irgendeiner Art eines extrem weiten Sprungs zu dem ›tiefsten Punkt‹ gelangt, mit dem die Apperzeption in der Rolle einer subjektiven Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung verbunden ist. Vielmehr gilt für sämtliche »subjektiven Quellen«, daß sie »die Grundlage a priori zu der Möglichkeit der Erfahrung ausmachen«.266 Die Möglichkeit der Erfahrung hängt von einer Vielzahl von subjektiven kognitiven Bedingungen ab – nicht nur von der Fähigkeit, temporal zerstreute und logisch unförmige bzw. unverbundene Vorstellungen spontan zu Urteilen-überhaupt zu verbinden, sondern ebenso von der Fähigkeit, Vorstellungen in wohlbestimmten logischen Formen zu diversen Formen von Urteilen zu verbinden, überdies von der Fähigkeit, bestimmte urteilsförmige Verbindungen von Vorstellungen mit Hilfe von entsprechenden Kategorien so auf (empirische) Phänomene zu beziehen, daß sich diese Phänomene als Indizien für Gegenstände möglicher Erfahrung auffassen lassen und be­währen können, und schließlich von der Fähigkeit, solche empirischen Phänomene mit Hilfe kriterieller ›Schemata‹ daraufhin zu beurteilen, ob sie sich überhaupt in zutreffender Weise als mögliche Gegenstände der Erfahrung unter solche Kategorien subsumieren lassen. Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, von denen die Theorie der Erfahrung handelt, sind daher gar nichts anderes als eben diese subjektiven kognitiven Bedingungen, also diese kognitiven Fähigkeiten. Doch die Spontaneität, mit der der elementare kognitive Zentralakt der apperzeptiven Verbindung von Vorstellungen ausgeübt wird, vererbt sich gleichsam auf alle kognitiven Akte und Akterfolge, die an einem Urteil, speziell an einem Erfahrungsurteil beteiligt sind – von der logischen Formung der Urteile als Urteile-überhaupt über die kategoriale Formung des Gegenstandbezugs der Erfahrungsurteile bis zur kriteriengeleiteten Subsumtion von Phänomenen unter Kategorien mit Hilfe von ›Schemata‹. Die Spontaneität ist daher durch diese Form der Verflechtung mit allen formalen Beiträgen zur Bildung von Erfahrungs­ urteilen der elementarste Grundcharakter auch der Erfahrungserkenntnis. Durch nichts anderes als durch diese Verflechtung des ›höchsten Punkts‹ mit dem ›tiefsten Punkt‹ seiner Theorie der Erfahrung könnte Kant klarer zu verstehen geben, daß er nicht im mindesten von der Art von Problemen berührt ist, die Wittgenstein gelegentlich durch die suggestive Maxime umschrieben hat, mit der er eine Antwort auf die Frage gegeben hat: »Was ist dein Ziel in der Philosophie? – Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen«.267 Diese bild265 A 117*. 266 A 97. 267 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: ders., Schriften 1, Frank­ furt/M. 1960, § 309.

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kräftige Maxime veranschaulicht bekanntlich die methodische Einstellung, Befangenheiten der philosophischen Tätigkeit dadurch zu überwinden, daß man sie als Resultate von Irreführungen durch falsche Formen des Fragens und anderer falscher Formen des Sprachgebrauchs zu durchschauen lernt. Kants Philosophie ist vor allem durch Fragestellungen von jungen zeitgenössischen Stiefschülern immer wieder einmal in den Verdacht geraten, daß ihr durch solche Fehlleistungen das Schicksal einer solipsistischen oder einer anderen irregeleiteten subjektivitätstheoretischen Fliegenglas-Gefangenschaften widerfahren sei. Vor allem manche Hilfsmittel, die auf der Oberfläche der sprachlichen und der kompositorischen Darstellung von Kants Reflexionen und Analysen sichtbar werden, sind geeignet, diesem Verdacht Nahrung zu geben: Die substantivierten Formen des Sprechens vom Ich, die Darstellung der Ersten Kritik nach einer ›synthetischen Lehrart‹ mit Hilfe eines ›höchsten Punkts‹ in Gestalt eines Ich denke und eine an diesem Punkt ansetzende ›Deduktion von oben‹ bilden für solche Verdachtsformen immer wieder von neuem entsprechende Blickfänge. Vor allem Schelling hat argumentiert: »Wenn es eine TranscendentalPhilosophie giebt, so bleibt ihr nur die […] Richtung übrig, vom Subjectiven als vom Ersten und Absoluten, auszugehen, und das Objective aus ihm entstehen zu lassen«.268 Doch Kants methodischer Zentralplatz ist nun einmal nach seiner unmißverständlichen Selbstbeschreibung jener ›fruchtbare – und tiefe – Boden der Erfahrung‹, der beide Seiten hat – nicht nur die in die Tiefe der Subjektivität sich verzweigenden und verästelnden kognitiven Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, sondern ebenso die zu diesen Bedingungen passenden Bedingungen der Fruchtbarkeit der Erfahrung, also die unermeßlich vielen Gegenstände möglicher Erfahrung, die sich im Medium von Empfindungen und Wahrnehmungen ankündigen können, im Medium von Wahrnehmungsurteilen erkunden lassen, durch Erfahrungsurteile entdecken lassen und dadurch die beständig wachsenden, geschichtlich erwerbbaren Anteile an der dem Menschen möglichen Erfahrung bilden. Transzendentale Untersuchungen in der von Kant eingeschlagenen Richtungen haben Befreiungen aus irgendwelchen solipsistischen und anderen subjektivitätstheoretischen Fliegenglas-Gefangenschaften nicht nötig. Sie finden – wenngleich durch komplizierte Schrittfolgen formaler und materialer Urteils-Analysen – einen Weg, auf dem sie nicht nur vom Staunen über die Fruchtbarkeit des ›fruchtbaren Bodens der Erfahrung‹ bis zur Klärung der am tiefsten verborgenen Bedingung dieser Fruchtbarkeit gelangen, zur Klärung der ›Form der Apperzeption, die jeder Erfahrung anhängt als bloß subjektive Bedingung derselben‹. Da sie diesen Weg mit einer beständigen Methodenreflexion begleitet, vermögen sie auf ihm auch mit der entsprechenden methodischen Sicherheit bis unmittelbar zum ›fruchtbaren 268 F. W. J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus (18001), in: Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Historisch-kritische Ausgabe. Reihe I: Werke 9,1, S. 32.

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­ oden der Erfahrung‹ zurückzufinden: Sie können diese subjektive SpontaneiB tätsbedingung allen Urteilens als das mehr oder weniger stillschweigende Präfix Ich denke, daß-p auch der einfachsten ›Früchte‹ des ›fruchtbaren Bodens der Erfahrung‹ zur Sprache zu bringen, z. B. des Erfahrungsurteils Die Sonne erwärmt den Stein in der Form des Urteils-des-inneren Sinns Ich denke, daß die Sonne den Stein erwärmt. Anders als auf der Linie Schellings macht Kant es sich daher nicht zur Aufgabe, ausfindig zu machen und zu zeigen, wie es uns gelingt, ›das Objektive aus dem Subjektiven entstehen zu lassen‹. Kant staunt vielmehr schon geraume Zeit vor seinen ersten Schritten auf dem kritischen Weg vor allem darüber, daß »[sich] die wissenswürdigen Dinge [zu unseren Zeiten] [häu­fen]«, und zwar sogar in so außerordentlichem Maß, daß »unsere Fähigkeit [bald] zu schwach und unsere Lebenszeit zu kurz sein [wird], nur den nützlichsten Teil daraus zu fassen«.269 Er staunt also zunächst einmal und in erster Linie über die faktisch schon erworbenen kognitiven Früchte der Fruchtbarkeit der Erfahrung. Erst auf mühseligen, mehr als zwei Jahrzehnte währenden Wegen materialer und formaler Urteilsanalysen gelangt er zu der Einsicht, daß wir uns deswegen zu Recht auf die unabsehbare Fruchtbarkeit der Erfahrung verlassen können, weil eine tiefe und komplexe kognitive Struktur unserer Subjektivität in einer diese Fruchtbarkeit ermöglichenden Form zu der Welt paßt, in der wir leben. Das letzte für Kant staunenswerte Zwischenergebnis auf dem unmittelbaren Weg zur Theorie der Erfahrung der Ersten Kritik bietet die späte Ent­deckung des Paralogismus. Von Adickes an Hand der Reflexion 5553 auf die späteste Phase 1779–1783 dieses Wegs datiert, schlägt sich auch diese Entdeckung inmitten von Kants ›dornichten Wegen der Kritik‹ wieder in zeitlich zerstreuten Formen nieder. Erst im Anschluß an die Ausarbeitung und Publikation der zweiten Fassung des Paralogismus spitzt er sie in der förmlichen Frage zu »Ist es eine Erfahrung, daß wir denken?«.270 Doch deren ausgereifte knappste Antwort ist 269 II, 57. 270 R 5661. Patricia Kitcher, Kant’s Thinker, Oxford 2011, die diese Reflexion zu Recht für »confusing«, S. 161, und »very obscure«, S. 173, hält, widmet ihr gleichwohl ebenso zu Recht eine eingehende Erörterung vgl. S.  173–175. Kant erörtert die temporale Form des Akts des Denkens in dieser Reflexion mit Hilfe eines irrealen Konditionals in der ­argumentativen Form einer reductio ad ­absurdum: Wenn der Akt des Denkens eine Erfahrung wäre – also eine »empirische Erkenntnis [eines, R. E.] Objects«, S. 318 –, dann »gäbe es eine Zeit, in welcher und mit welcher zugleich eine gegebene Zeit verflösse, welches ungereimt ist«, S. 319, Hervorhebung R. E. Diese Ungereimtheit kann in kohärenter Form durch Berücksichtigung von zwei Aspekten der formal-temporalen Urteils-­ Analyse überwunden werden: 1.) durch Berücksichtigung der Sukzessivität, die für Zustände und Zustandsänderungen charakteristisch ist, wie sie in Wahrnehmungs­ urteilen erfaßt werden und entsprechenden Erfahrungsurteilen (›empirischen Erkenntnissen eines Objects‹) zugrunde liegen; 2.) durch Berücksichtigung der Sukzessivität, die jeden Akt des Urteilens charakterisiert. Es gibt daher nicht zwei Zeiten, sondern die For-

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es andererseits, die Kant schon im Paralogismus-Text der ersten Auflage der Ersten Kritik formuliert, wenn er bemerkt, daß »der formale Satz […] Ich denke […] freilich keine Erfahrung ist, sondern die Form der Apperzeption, die jeder Erfahrung anhängt, als bloß subjektive Bedingung derselben ».271 Im Rückblick auf die auf diesen Wegen gemachten Arbeitserfahrungen könnte Kant sein Echo auf Schellings Bemerkung über die Richtung der Transzendentalphilosophie, wie es sich für eine Echo gehört, nur in einer gleichsam umgekehrten Form formulieren: ›Wenn es möglich ist, in eine Transzendentalphilosophie hineinzukommen, dann bleibt uns nur die Richtung vom men der Einen Zeit, die in Erfahrungsurteilen, Wahrnehmungsurteilen und Urteilendes-inneren-Sinns durch lexikalische und grammatische Modi zum Ausdruck kommen und insofern thematisch sind, und die Formen derselben Einen Zeit, in denen die Akte von beliebigen Urteilen unthematisch vollzogen werden. Zur ausführlichen Erörterung der temporalen Form des Akts des Denkens und Urteilens vgl. unten 8. Ab. 271 A 354. Wenn in dieser Untersuchung in verschiedenen Zusammenhängen von Entdeckungen Kants die Rede ist, dann sollte beachtet werden, daß die damit verbundene Auffassung durch eine wichtige Überlegung von Wolfgang Bartuschat, Rezension von: Wieland, Urteil und Gefühl, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen, Heft 3–4 (2002), S.  247–266, in ein ernstzunehmendes Zwielicht geraten ist. Bartuschat ent­ wickelt seine Überlegung im Ausgang, vgl. S. 247–248, von Wielands These, daß »die Philosophie letztlich nur analytische, explikative und kritische Aufgaben zu bewältigen fähig ist«, Wieland, Urteil, S.  118, und fragt, »ob dies der Philosophie jede innovatorische Kraft absprechende Verständnis von Philosophie mit Kant in Einklang zu bringen ist«, S.  248. Es ist daher wichtig zu beachten, daß Kant selbst in erhellender Weise zu der allerdings außerordentlich wichtigen Alternative entweder analytische-­ explikative-kritische oder innovatorische Fähigkeiten der Philosophie an prominenter Stelle Stellung ge­nommen hat: »Ein großer Teil, und vielleicht der größte, von dem Geschäfte unserer Vernunft, besteht in Zergliederungen der Begriffe, die wir schon von Gegenständen h ­ aben. Dieses liefert uns eine Menge von Erkenntnissen, die, ob sie gleich nichts weiter als Auf­k lärungen oder Erläuterungen desjenigen sind, was in unseren Begriffen, (wiewohl noch auf verworrene Art) schon gedacht worden, doch wenigstens der Form nach neuen Einsichten gleich geschätzt werden« und durch »­ dieses Verfahren eine wirkliche Erkenntnis a priori gibt«, A 6, Hervorhebungen R. E. Die von Bartuschat formulierte Alternative ist daher jedenfalls keine vollständige Alternative, weil sie den von Kant g­ eltend gemachten Aspekt der Entdeckung-der-Form-nach über Gebühr vernachlässigt. Um­gekehrt kann auch Wieland nicht umhin, von Ent­deckungen Kants – vermutlich in eben diesem Sinn – zu sprechen: »Auch die Quellen dieser ›eigentlich‹ metaphysischen, nämlich der synthetischen Urteile  a priori liegen […] in Aktivitäten der Subjektivität, die mitsamt ihren Resultaten von dieser [philosophischen, R. E.] Reflexion nur vorgefunden und entdeckt werden«, S.  120. Wenn daher in dieser Untersuchung in verschiedenen Zusammenhängen von Entdeckungen Kants die Rede ist, dann wird unterstellt, daß die Philosophie – auch im Sinne Kants – eine formale Reflexions- und Analyse-Disziplin ist und mit Hilfe der von ihr benutzten Re­ flexions- und Analysemittel zu ›neuen Einsichten‹, also zu Entdeckungen ›der Form nach‹ gelangen kann. Immerhin spricht sogar Kant selbst mit entsprechend gewichtigen Gründen an einer Schlüsselstelle von der »Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe«, A 66, B 91.

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Objektiven zum Subjektiven übrig, also die Richtung von den konkreten wahrnehmungsgestützten und wahrnehmungsspezifischen Erfahrungsurteilen zum höchsten Punkt des Ich denke als der Form der Apperzeption, die jeder Erfahrung als deren subjektive Bedingung bzw. jedem Erfahrungsurteil als dessen subjektive Bedingung anhängt‹. Und Kants Echo auf Wittgensteins Maxime zur Überwindung solipsistischer und anderer subjektivitätstheoretischer Fliegenglas-Gefangenschaften könnte in einer methodologisch geradezu komplementären Form lauten: ›Das Wesen, dessen ich mich mit Mitteln meiner Theorie annehme, braucht niemand, der ihm den Weg aus irgendeiner Art von Fliegenglas-Gefangenschaft zeigen müßte. Denn der angestammte Platz dieses Wesens ist zu jeder Zeit das fruchtbare Bathos der Erfahrung. Hat dies Wesen mit Mitteln der logischen und der transzendentalen Reflexion und Analyse von wahrnehmungsgestützten und wahrnehmungsspezifischen Erfahrungsurteilen den dornigen Weg bis zum ›höchsten Punkt‹ erst einmal gefunden, dann erinnert es sich an diesen Weg so, daß es von selbst Schritt für Schritt zu seinem angestammten Platz auf dem fruchtbaren Bathos der Erfahrung zurückfinden kann‹. Staunenswert auf dem kritischen Weg der Untersuchung der ursprünglichen Frage nach dem Geheimnis der Urteilskraft sind für Kant drei Entdeckungen geworden: Im Licht der Ersten Kritik und der Prolegomena ist es die Entdeckung der funktionalen Abhängigkeit aller unserer Urteile, speziell unserer Wahrnehmungs- und unserer Erfahrungsurteile von der Fähigkeit zu ihrer spontanen logischen und kategorialen, gegenstandsreferentiellen Formung. Im Licht der Zweiten Kritik und der Metaphysik der Sitten ist es die Entdeckung der Autonomie der moralischen und der rechtlichen Urteilsbildung. Ganz am Ende des kritischen Wegs wird für Kant die Entdeckung noch einmal staunenswert, daß sich in der präkognitiven, emotionalen Tiefenstruktur der geradezu rührend ein­ fachen reinen Geschmacksurteile der Form Dies ist schön noch vor aller wissenschaftlichen und sogar auch noch vor aller vorwissenschaftlichen, alltäglichen Erfahrung die kognitive Paßform des Menschen für die Welt zeigt, in der er lebt und in der Erfahrung für ihn in fruchtbaren Maßen möglich ist. Kant fragt daher in keiner Phase der kritischen Epoche seines Denkens, wie man der Fliege mit Mitteln der Philosophie den Weg aus dem Fliegenglas zeigen kann oder wie man mit solchen Mitteln das Objektive aus dem Subjektiven entstehen lassen kann. Kant hat in diesem heuristischen Sinne überhaupt nicht so etwas wie eine einheitstiftende Leitfrage, die ihn mit irgendeiner Art von traumwandlerischer Sicherheit durch das Labyrinth der ›dornigen Wege‹ seines ›kritischen Geschäfts‹ führen würde. Diese Wege sind vielmehr – nach dem treffenden Wort Edmund Husserls – die typischen Wege, Umwege, Holzwege, Abwege und gelegentlichen glücklichen Königswege einer Arbeitsphilo­ sophie, wie sie vor ihm und nach ihm nicht anders die großen und die kleineren Klassiker der Philosophie gegangen sind. Lediglich durch die Rousseau-inspi­

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rierte ursprüngliche Rätselfrage, was das für eine geheimnisvolle Kraft ist, durch die das Urteilen möglich wird, hat sich Kant ein für alle Mal und in geradezu selbstrevolutionärer Weise das unerschöpfliche Forschungsfeld sowohl der materialen und der formalen Urteilsanalysen wie der empirisch-anthro­ pologischen und der transzendentalen Analysen des Urteilsvermögens bzw. der Erkenntnisvermögen eröffnet.272 Doch auch im Licht dieser Frage sind es auf dem Weg zur Ersten Kritik immer noch unüberschaubar viele kleine und kleinste Arbeitsschritte gewesen, die ebenso viele weiterführende Fragen nach den logischen und den kognitiven Strukturen und Funktionen der diversesten Urteilstypen und Erkenntnisvermögen nötig und möglich gemacht haben – von den telepathischen Urteilen eines schwedischen Geistersehers über die Urteile einer träumenden Metaphysik bis zu den zuletzt entdeckten zirkulär strukturierten Urteilen-des-inneren-Sinns.273 Und auch nach der Ausarbeitung der ersten Fassung der Ersten Kritik ist Kant von solchen Analysen in durchaus produktiver Weise in Atem gehalten worden, wie die Entdeckung der strukturellen und funktionalen Unterschiede und Zusammenhänge zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen und die Entdeckung der emotionalen und dennoch apriorischen Tiefenstruktur der reinen Geschmacksurteile in exemplarischer Weise zeigen können. Mit der Zirkularität des Selbstbewußtseins in Gestalt der Urteile-des-inneren-Sinns haben die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung indessen nichts zu tun, wohl aber und vor allem mit einer anderen formalen Komponente des Selbstbewußtseins – mit der Spontaneität, also mit dem Bewußtsein jedes Subjekts eines Erfahrungsurteils, den Anteil an der dem Menschen möglichen Erfahrung durch sein Urteil selbst oder von selbst, mithin, wie Kant formuliert, spontan oder selbsttätig274 zu gewinnen. Dies Spontaneitäts-, Selbsttätigkeitsoder Selbst-Bewußtsein ist ein unthematischer, aber gleichwohl bewußter Vollzugscharakter sogar jedes Urteils – in der Form des Bewußtseins nämlich des urteilenden Subjekts, das Urteil mit seiner ganzen zu einem Wahrheits­anspruch berechtigenden formalen Struktur spontan, also selbst zu treffen. Zwar kann das Bewußtsein dieser Spontaneität mit Hilfe des Präfix-Urteils »Ich denke, daß …« jedes einzelnen konkreten Erfahrungsurteils direkt und in thematischer Weise zur Sprache gebracht werden. Allerdings wird dadurch ein Erfahrungsurteil wie Die Sonne weicht das Wachs auf nicht nur einfach korrekt in das Ur272 Vgl. vom Verf., Krise und Kritik der Urteilskraft, in: Bedingungen der Aufklärung, S. 515–557, sowie unten 7.–12. Ab. 273 Noch in den Prolegomena verbindet Kant die sanfte vorkritische Polemik gegen die ›Träume der Metaphysik‹ – vgl. dazu auch den Brief an Mendelssohn vom 8. April 1766 – unmittelbar mit der scharf abgrenzenden Kritik der subjektivitätsphilosophisch überspannten Gestalt des Solipsismus, wenn er ihn als träumenden, schwärmerischen bzw. mystischen Idealismus apostrophiert, vgl. IV, 293 f., 375 f. 274 Vgl. A 77, B 102; B 129, 132, 157*, 428, 430 f.

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teil-des-inneren-Sinns »Ich denke, daß die Sonne das Wachs aufweicht« umgeformt. Außerdem wird dadurch der unmittelbare und ursprüngliche Anspruch des Erfahrungsurteils auf objektive Gültigkeit neutralisiert, weil er durch den bescheideneren Anspruch auf die subjektive Gültigkeit für das jeweils denkendurteilende Subjekt aufgehoben wird. Doch vor allem wird durch eine solche Umformung die mit dem Erfahrungsurteil verbundene ursprüngliche Spontaneitätsfunktion der reinen und ursprünglichen Apperzeption neutralisiert, die im Rahmen von Kants Theorie durch die terminologische Phrase Ich denke lediglich nachträglich thematisiert und zur Sprache gebracht wird. Für die spontane Ausübung dieser Funktion kommt es nicht darauf an, daß sie thematisiert und zur Sprache gebracht wird. Es kommt vielmehr ausschließlich darauf an, daß die im Horizont der dem Menschen möglichen Erfahrung urteilende Subjektivität in jedem konkreten Fall eines Erfahrungsurteils von ihr in fruchtbarer Weise Gebrauch macht. Daher bleibt »dieses Ich, […] welches denkt«,275 außer in den Urteilen-des-inneren-Sinns gänzlich unthematisch, ohne daß deswegen irgendetwas von seiner zentralen und ursprünglichen Funktion für den Urteils- und Spontaneitätsscharakter dieser Urteile zu kurz kommen würde. Es ist nicht der thematische Bezugsgegenstand dieser Urteile. Es ist vielmehr – im Sinne des trefflichen Husserlschen Terminus – das fungierende Ich276 dieser Urteile, also das Ich, das im Medium seiner spontanen Ingebrauchnahme durch das denkende Subjekt der Erfahrungserkenntnis jedem Urteil überhaupt erst seinen Urteilscharakter verleiht: »Ich, als denkend Wesen, bin das absolute Subjekt ­a ller mir möglichen Urteile«,277 oder kurz: Das Denken des Ich »ist bloß die logische Funktion«,278 also die Funktion, durch die für ein denkendes Wesen jedes Urteil als Urteil-überhaupt seine Form gewinnt: »Also ist Denken so viel als Urtheilen«,279 oder noch genauer: »Wir können nur durch Urteile denken«.280 Doch dazu ist es nach dem systematischen Schema von Kants Theorie der Erfahrung nun einmal in erster Linie nötig, daß das Subjekt jeweils mit Hilfe geeigneter logischer Urteilsfunktionen von Vorstellungen in wohlbestimmten logischen 275 A 346, B 404. 276 Vgl. unten S. 140, Anm. 118. 277 A 348. 278 B 428. 279 IV, 304. 280 R 5650, S. 300, Hervorhebung R. E. Wegen dieser These und wegen der entsprechenden Überlegungen zur propositionalen, urteilbildenden Funktion des Denkens im Sinne des Schemas Ich denke, daß … sowie zur wortsprachlichen Bindung des Urteilens ist Kants Theorie offenbar nicht anfällig für die von Wittgenstein zu Bedenken gegebenen irre­ geführten und irreführenden Gebrauchsformen des kognitiven Worts denken, vgl. Wittgenstein, Untersuchungen, §§ 22, 25, 32, 92, 95–97, 327–332, 339, 360, 371, 376–377 bzw. S. 524, 534 f.; denn insofern als gilt: »Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen« (§ 371), ist das Wesen des in Kants Theorie analysierten Denkens in der Grammatik der Phrase Ich denke, daß … ausgesprochen. Vgl. hierzu auch unten 7. Ab.

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Formen Gebrauch macht.281 Es muß indessen darüber hinaus auch jeweils von mindestens einer den Gegenstandsbezug seines Urteils strukturierenden Kategorie Gebrauch machen. Und es muß schließlich die Empfindungen und Wahrnehmungen bzw. deren Gegenstände, von denen jedes Erfahrungsurteil seinen Ausgang nehmen muß, im Rahmen seines jeweiligen Urteils mit Hilfe der darauf abgestimmten Beurteilungskriterien (Schemata)  auch richtig unter die in Frage kommenden Kategorien subsumieren.282 Die ›Form, die jeder Erfahrung anhängt‹ und die durch die terminologische Phrase Ich denke lediglich nachträglich zur Sprache gebracht wird, ist daher gar nichts anderes als die kognitive Spontaneität, mit der jedes Erfahrungsurteil, das diesen Namen verdient, von jedem Subjekt ge­wonnen wird, das ein solches Urteil in diesen logischen, kategorialen und kriteriellen Formen trifft. Ohne diese Spontaneität könnte noch nicht einmal sinnvoll von einem Subjekt und von einem Gebrauch von irgend­ etwas durch ein Subjekt, von Urteilen, Erkenntnissen oder von Erfahrung gesprochen werden. Stattdessen könnte sinnvoll allenfalls nur noch von Widerfahrnissen gesprochen werden, wie sie in einem ununterbrochenen Affektsturm ein individuelles anthropomorphes Medium durchfluten. Kant hat daher die Spontaneität, mit der wir durch bewährte Erfahrungsurteile unaufhörlich neue Anteile an der dem Menschen möglichen Erfahrung gewinnen, gelegentlich in

281 Andreas Kemmerling, Eine reflexive Deutung des Cogito, in: K. Cramer, H.-F. Fulda und R.-P. Horstmann (Hg.), Theorie der Subjektivität, Frankfurt/M. 1987, S. 141–166, fragt im Rahmen einer aufschlußreichen hermeneutischen und systematischen Studie zum ›verschwindenden‹ cartesischen cogito, ergo sum: »Was denkt der Denker, wenn er denkt, daß er denkt?«, S.  145. Zumindest im Rahmen von Kants Konzeption der logischen Funktion des Ich denke wäre diese Frage falsch gestellt. Die Frage, mit der der Schritt vom ›höchsten Punkt‹ zum ›zweithöchsten‹ Punkt, also zum Entwurf der (vollständigen) Vielzahl der logischen Funktionen, also der Urteilsfunktionen eröffnet wird, erkundigt sich vielmehr, wie der Denker denkt, wenn er denkt, daß er denkt. Kants Antwort auf diese wie-Frage besagt im ersten Schritt, daß der Denker in bestimmten logischen Formen bzw. Urteilsformen bzw. mit Hilfe von bestimmten logischen Funktionen bzw. Urteilsfunktionen denkt; im zweiten Schritt besagt sie, daß er (außerdem) mit Hilfe von bestimmten Kategorien in gegenstandsorientierenden Formen denkt; vgl. zu Kemmerlings weiterführenden Analysen jedoch auch unten S. 141, Anm. 120. Es ist in diesem Zusammenhang irritierend, daß auch ein so klarsichtiger Interpret von Kants einschlägigen Texten wie Carl, Ein Kommentar, diesen wie-Aspekt verfehlt, wenn er bemerkt: »Was immer über dieses Ich gesagt werden kann, besteht in der Angabe darüber, was es denkt«, S. 67, Hervorhebung R. E., während er fast im selben Atemzug bemerkt, daß »es Kant um die Form geht, in der wir Gedanken haben«, S. 676, Hervorhebung R. E., also doch wohl darum, wie wir Gedanken haben. Vgl. hierzu auch unten 9.–11. Ab. 282 Darauf, daß für die formale Berechtigung einer Transformation eines Wahrnehmungsurteils in ein Erfahrungsurteil mit Hilfe der einen oder anderen Kategorie der Rekurs auf die jeweils entsprechende kriterielle Funktion eines Schemas nötig ist, macht Kant an der Stelle IV, 305*, ausdrücklich genug aufmerksam.

Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins? Spontaneität oder Zirkularität des Selbstbewußtseins?

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einer robusten, geradezu handwerklich inspirierten Sprache akzentuiert, indem er eindringlich hervorhebt, daß Erfahrung etwas ist, was wir machen.283 Der Rekurs auf die Apperzeption bildet daher ausschließlich zusammen mit dem zu ihr gehörigen Spontaneitätsbewußtsein gleichsam den Anfang des Fadens, mit dessen Hilfe Kant das ans Hyperkomplexe grenzende TheorieGewebe erarbeitet. Am Ende von dessen Erarbeitung wird dieser Faden zusammen mit dieser Apperzeption und diesem Spontaneitätsbewußtsein auch noch gleichsam durch das Nadelöhr der Erfahrungsurteile gefädelt, weil vor allem sie es sind, die als Urteile an der ursprünglichen Spontaneität der Apperzeption wie am Ganzen der uns möglichen Erfahrung in fruchtbaren Formen teilhaben. Vernachlässigt man diese primäre und zentrale funktionale Tragweite der Apperzeption und des mit ihr verbundenen Selbst- bzw. Spontaneitäts­bewußtseins für die Struktur aller möglichen Urteile und vor allem auch der konkreten Erfahrungsurteile, dann handeln sich die an Kants Ausführungen zur zirkulären Struktur des Selbstbewußtseins orientierten Untersuchungen zumindest tendenziell das methodische Risiko ein, das Kant für ein strukturelles Schicksal unserer kognitiven Beziehungen zu den Urteilen-des-inneren-Sinns hält – das Risiko, sich in einem beständigen Zirkel um ihr scheinbar selbstgenügsames Thema herumzudrehen.284 Die nachfolgenden Untersuchungen werden daher 283 Vgl. hierzu vor allem die Nachweise im Register von XXII, 658, unter dem Stichwort Erfahrung machen. 284 Auch Konrad Cramer, Über Kants Satz: Das: Ich denke muß alle meine Vorstellungen ­begleiten können, in: Theorie der Subjektivität, S. 167–202, mahnt, Kants Beschreibung des ›Zirkels des Bewußtseins‹ nicht zugunsten von irrigen theoretischen Aufgaben zu instrumentalisieren, wenn er zu bedenken gibt, »Daß der von Kant beschriebene ›Zirkel‹ des Bewußtseins … mit dem Zirkel der sogenannten ›Reflexionstheorie‹ von Selbstbewußtsein als einer diesen Sachverhalt erklärenden Theorie gar nichts zu tun hat«, S.  20118. J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre (17941), in: Fichtes Werke, hg. v. I. H. Fichte (1845–18461), Bd. I. Zur theoretischen Philosophie I, Berlin 1971, hat zu diesem Risiko der Theorie des Selbstbewußtseins durch eine zu selten beachtete Zweideutigkeit im Gebrauch des Reflexions-Vokabulars beigetragen. In diesem Werk spricht er von der Ausübung »eine[r] Reflexion«, S. 91, vgl. auch S. 92 f., 95 ff. Er charakterisiert die Ausübung dieser Reflexion sinngemäß mit Hilfe der von Kant eingeführten Reflexionsbegriffe der Form, vgl. S. 93, Nr. 2), und der Materie, vgl. S. 103 (»Gehalt«, ebd., vgl. auch S. 95, bzw. »Substrat«, S. 97 f.). Auf diese Weise gibt er korrekt die beiden primär leitenden Aspekte an, unter denen jede analytische Untersuchung ihre Auseinandersetzung mit einem gegebenen Thema beginnt. Vor allem durch das bekannte Schema »Ich=Ich«, S. 94 f., und durch den elementaren Satz »Ich bin Ich«, ebd., werden indessen identitäre Formen exponiert, die für eine irrige Gebrauchsbedeutung der Re­f lexions-Vokabel anfällig machen. Denn da die Identität eine reflexive Relation ist, macht sie in diesem thematischen Zusammenhang wohl leicht für den Irrtum anfällig, die Reflexion sei von Hause aus gar nichts anderes als so etwas wie die Tätigkeit, durch die »Die Intelligenz, als solche, […] sich selbst zu[sieht]«, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, a. a. O., S. 435, und dadurch dem Methodenpostulat entspricht, das »die Philosophie an ihren Lehrling tut«, nämlich »Merke auf dich selbst: Kehre deinen

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Einleitung

auf Schritt und Tritt darauf achten, daß der Weg, der in Kants Theorie der Erfahrung mit dem ›höchsten Punkt‹ des Ich denke der Logik und der Transzendentalphilosophie beginnt, am ›tiefsten Punkt‹ der Erfahrungsurteile enden können sollte, wenn er ein kohärenter und nach wie vor lehrreicher Weg der Philosophie ist. Doch wenn dieser Weg nicht nur kohärent, sondern nach wie vor auch lehrreich ist, dann nicht nur deswegen, weil er in präzedenz­losen Weise der Klärung der Bedingungen sowohl der Möglichkeit wie auch der Fruchtbarkeit der Erfahrung gewidmet ist. Vielmehr ist er vor allem deswegen ein solcher Weg, weil er der bislang einzige wirklich begangene Weg zu diesem Ziel ist, der zu einer Aufklärung führt, die diesen Namen verdient. Es ist der Weg zur Aufklärung über das Geheimnis, von dem die Kraft umgeben ist, durch die auch dasjenige Urteilen möglich wird, durch das wir immer wieder von neuem an der Möglichkeit und an der Fruchtbarkeit der Erfahrung teilhaben – indem wir Elemente aus der unauslotbaren und unüberschaubaren zerstreuten Mannigfaltigkeit der uns widerfahrenden a-logischen Vorstellungen sowohl im nicht-wissenschaftlichen wie im wissenschaftlichen Alltag so zu Urteilen formen, daß wir immer wieder von neuem mit Hilfe von neuen Erfahrungsurteilen am Ganzen der uns mög­lichen Erfahrung in fruchtbarer Weise teilhaben.

Blick […] in dein Inneres«, S. 422. Alle derartigen Charakterisierungen der Reflexion stehen daher gemeinsam mit den identitären Ich-Schemata und -Sätzen bei dem Irrtum Pate, das Ich kehre durch diese Tätigkeit wie in einem Zirkel zu sich selbst gleichsam mit einem Blick auf sich selbst, mit einer ›intellektuellen Anschauung‹ seiner selbst zurück. Damit ist das methodische Potential, das in diesem speziellen Zusammenhang insbesondere die Reflexionsbegriffe der Form und der Materie für jede Suche der Reflexion nach einem jeweils geeigneten thematischen Material und nach einer der Reflexion zugänglichen Form dieses Materials bieten, unnötigerweise verspielt.

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7. Logische Einheit und alogische Vielheit: Form, Funktion und Feld der reinen und ursprünglichen Apperzeption Kants ursprüngliche Leitfrage des Jahres 1762 nach dem Geheimnis der Urteilskraft und seine später formulierte Einsicht, daß alle Erkenntnis in Urteilen bestehe, haben eine vielfältige Tragweite für seine Untersuchungen am Leitfaden der Urteile gezeitigt. Diese Tragweite überspannt schließlich mehr als drei Jahrzehnte seines kritischen Geschäfts.1 Sie führt nicht nur zu einem immer dichter werdenden Gewebe aus konkreten Analysen der Produkte der so geheimnisvollen ›Kraft, durch die das Urteilen möglich wird‹. Diese urteils­analytischen Problemstellungen sind durch die ursprüngliche Frage nach dieser geheimnisvollen kognitiven Kraft auch auf Schritt und Tritt von Fragestellungen und Unter­ suchungen begleitet, die im Sinne der erst viel später so gefaßten transzendentalen Orientierung »eine Beziehung bloß aufs Erkenntnisvermögen [haben]«,2 also, da »Alles Erkenntnis […] im Urteilen [besteht]«,3 eine unmittelbare ›Beziehung auch ›aufs Urteilsvermögen‹. Die für den Anfang von Kants ›critischem Weg‹ wichtigste urteilslogische Zäsur im Spektrum der Urteilstypen markiert 1768 die kleine Abhandlung Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume.4 Im Kontext dieser Schrift orientiert sich Kant an vier verschiedenen Urteilstypen: 1.) an »den anschauenden Urteilen der Ausdehnung, dergleichen die Meßkunst enthält«,5 also an Urteilen wie dem, daß »Wenn zwei Figuren […] einander gleich und ähnlich sind, so decken sie einander«;6

1 Vgl. vom Verf., Krise und Kritik der Urteilskraft – Kriterielle Funktionen der Urteilskraft, in: ders., Bedingungen, S. 523–624. 2 IV, 292. 3 R 4638. 4 Zu den inneren Komplikationen des ›critischen‹ Anfangs dieses ›critischen Wegs‹ vgl. Klaus Reich, Einleitung, in: Immanuel Kant, Träume eines Geistersehers, hg. v. K. Reich, Hamburg 1975, S. V–XVIII, bes. S.  XIV–XVIII; ders., Einleitung, in: Immanuel Kant, De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis. Lateinisch-Deutsch, hg. v. K. Reich (19581), Hamburg 1966, S. VII–XVI . 5 II, 378; wenn Kant von anschauenden Urteilen spricht, dann zeigt er auch hier schon unmittelbar, wie logische und transzendentale, also spezielle am ›Erkenntnisvermögen‹ orientierte Fragestellungen mit seinen Untersuchungen verflochten sind. 6 381.

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2.) an den »abgezogensten Urteilen der Metaphysik«,7 also an Urteilen wie solchen »über das erste Schöpfungsstück«8 und die auf dies Schöpfungsstück abgestimmte »Handlung der schaffenden Ursache«;9 3.) an »unsere[n] Urteile[n] von den Weltgegenden«,10 also an Urteilen wie denen über »eine bekannte Gegend, z. B. Norden«;11 und schließlich 4.) an dem »Gefühl der rechten und linken Seite,« das »zum Urteil der Gegenden von so großer Notwendigkeit«12 ist, also an Urteilen wie dem, daß »[m]an seinen Körper leichter von der Rechten gegen die Linke [bewegt]«.13 Die logischen Analysen dieser Urteilstypen und die transzendentalen Analysen des an ihnen teilweise beteiligten Anschauungsvermögens sind für die Ausarbeitung seiner späteren Transzendentalen Ästhetik des Raumes zwar durchaus richtungweisend geworden.14 Gleichwohl sieht er auch diese Theorie in dieser skeptischen Frühphase seines kritischen Weges vorläufig noch »wie in einer Dämmerung«.15 Das Zwielicht, in das diese Dämmerung diese logischen Analysen und diese transzendentalen Analysen avant la lettre taucht, hängt vor allem von dem planmäßigen Zwiespalt der methodischen Skepsis ab, mit der Kant in dieser Phase auch das Raumproblem behandelt: Er »versuchte es ganz ernstlich, Sätze zu beweisen und ihr Gegenteil«16  – vor allem einerseits den Satz, daß das erste Schöpfungsstück, das ›die schaffende Ursache‹ in Gestalt entweder einer linken oder einer rechten Menschenhand entwirft, von ihr in einen Realraum mit der von Leibniz konzipierten relationalen Struktur eingefügt wird, und andererseits das Gegenteil dieses Satzes, also daß eine solche Menschenhand von ›der schaffenden Ursache‹ nicht in einen solchen relationalen, sondern in einen leeren Realraum eingeführt wird, wie er von Newton ohne jegliche räumliche Binnenstruktur konzipiert wird.17 7 II, 378. 8 382. 9 383. 10 379. 11 Ebd. 12 380. 13 381. 14 Vor allem die schöpfungstheologische Erwägung über die »Handlung der schaffenden Ursache«, II, 382–383, die auf das erste Schöpfungsstück abgestimmt sein muß, wenn diese entweder eine rechte oder aber eine linke Hand ist, hat Kant im Rückblick mit der methodologischen Bemerkung kommentiert: »So führt der Weg von der Theologie zur ästhetischen Critik«, R 6317. 15 R 5037. 16 Ebd. 17 Vgl. II, 382–383; in einer der jüngsten Erörterungen dieses Themas behandelt Patrick Unruh, Transzendentale Ästhetik des Raumes. Zu Immanuel Kants Konzeption des Raumes, Würzburg 2007, bes. S. 59–69, Kants Überlegungen in dieser Schrift ausschließlich in der gegenwärtig modischen Form nur noch als unreife Vorform geometrischer Klappund Spiegelungsverfahren. Daß es sich bei diesen Verfahren lediglich um quasi-techni-

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Dennoch braucht die vorläufig von Kant noch nicht überwundene skeptische Zurückhaltung im Umgang mit den Wahrheitsansprüchen solcher Sätze bzw. Urteile nicht über Gebühr zu irritieren. Gerade die mit den räumlichen Strukturen verflochtenen Urteilsanalysen dieser kleinen vorkritischen Gelegenheitsschrift können so eindringlich wie kaum etwas anderes die Aufmerksamkeit für die immer konzentrierter, aber auch immer differenzierter werdende systematische Zentralorientierung Kants wecken und wachhalten – daß und wie nämlich auch die ausgereifte Transzendentale Ästhetik aus einer Klärung der speziellen kognitiven, anschaulichen Voraussetzungen hervorgegangen ist, die die solche räumlichen Strukturen beurteilende Subjektivität von Hause aus mitbringt.18 Am Anfang des § 13 der Prolegomena wendet sich Kant daher fast wie im Stil einer an sich schon überflüssig gewordenen Nachhilfe-Stunde an diejenigen Leser dieser Theorie, die immer noch nicht verstanden haben, daß diese Theorie die spezifischen kognitiven Voraussetzungen analysiert, die ein Subjekt mitbringen muß, wenn es Urteile solcher Typen zu treffen, also Erkenntnisse über zistische Hilfsmittel handelt, die systematisch voraussetzen, worauf sie zu ihrer eigenen Möglichkeit angewiesen sind – nämlich auf die Fähigkeit ›klappender‹ und ›spiegelnder‹ Subjekte, räumliche Orientierungen von ›klappenden‹ und ›spiegelnden‹ Handlungen formal-anschaulich zu unterscheiden, ohne die sie solche Handlungen mit der ›passenden‹, ›klappenden‹ bzw. ›spiegelnden‹ räumlichen Orientierung noch nicht einmal planen könnten –, bleibt allen derartigen Rekonstruktionen verborgen. (Das gilt mutatis mutandis ebenfalls mit Blick auf die Leithypothesen des Buchs von Jill V. Buroker, Space and Incongruence. The Origin of Kant’s Idealism, Dordrecht 1981.) Daß Kant in der Schrift von 1768 mit unscheinbaren grammatischen Mitteln räumliche Orientierungen von Bewegungen und vor allem von Handlungen thematisiert (»Man bewegt seinen Körper […] von der Rechten gegen die Linke«, S. 381) und zum ersten Mal formalen Strukturen unserer vor-wissenschaftlichen ›Raumanschauung‹ auf der Spur ist, bleibt solchen Ansätzen verschlossen. Ebenso bleibt ihnen verschlossen, inwiefern diese Strukturen hier in statu nascendi seiner späteren Transzendentale Ästhetik behandelt werden – insofern nämlich als eine »Handlung des Subjekts«, B 154, »als Beschreibung eines Raumes […] nicht allein zur Geometrie, sondern sogar zur Transzendentalphilosophie gehört«, B 155*; denn »Wir können […] keinen Zirkel denken, ohne ihn [als Handlung des Subjekts, R. E.] zu beschreiben, die drei Abmessungen des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkt drei Linien senkrecht aufeinander [als Handlung des Subjekts, R. E.] zu setzen«, B 154. Analog kann der Gott in Kants schöpfungstheologischem Gedankenexperiment – nicht »Schöpfungsmythos«, Unruh, S. 68109 – jede der beiden planbaren Hand-Geschöpfe nur durch eine Handlung schaffen, zu deren Gunsten dieser Gott(!) auf die charakteristische menschliche Fähigkeit angewiesen ist, die räumliche Orientierung der einen Handlung von der räumlichen Orientierung der jeweils anderen dadurch formal zu unterscheiden, daß die eine der jeweils anderen entgegengesetzt, zu ihr widersinnig ist – »demnach nur aus dem Standpunkt eines Menschen«, A 26, B 42; »so führt die Theologie auf die ­ästhetische Critik«, R 6317, Hervorhebung R. E.; vgl. hierzu auch unten S. 118, Anm. 55. 18 Vgl. hierzu vom Verf., Kants Theorie des geometrischen Gegenstandes, Berlin/New York 1978, bes. §§ 7–9, 12, 15, 20. Hier wird gezeigt, daß und inwiefern der Begriff der räumlichen Handlungsorientierung in erster Linie den Grundbegriff von Kants Raumtheorie bildet und erst in zweiter Linie den Grundbegriff seiner Geometrie-Theorie.

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diverse räumliche Strukturtypen  – geometrische, geographische, topographische, hodegetische, anatomische u. a. – zu gewinnen sucht. Die Auszeichnung der ›anschauenden Urteile‹, die Kant in der skeptischen raum-theoretischen Schrift von 1768 zum ausschließlichen Analyse-Material macht und im § 15 C) der Dissertation zum Zentrum seiner Theorie des Raumes als reiner räumlicher Anschauung a priori macht, bildet daher den ersten theoriefähigen Ertrag des Zutrauens, das Kant in die methodische Fruchtbarkeit der frühen Frage nach dem Geheimnis der Urteilskraft gehegt hat. Indessen haben ihn die Arbeitserfahrungen, die er auf den Wegen und Umwegen seiner Auseinandersetzungen mit den logischen, den urteilsförmigen Strukturen von Erkenntnissen gesammelt hat, zu einer Mehrzahl von Einsichten geführt, von denen er zum ersten Mal in der Ersten Kritik strikten Gebrauch macht. Er nutzt diese Einsichten in diesem Rahmen nicht zuletzt auch, um auf unterschiedlichen logischen Reflexions- und Analyseniveaus Korrektur- und Innovationsansprüche gegenüber der überlieferten Logik anzumelden. Vor allem die entsprechenden Innovationsansprüche sind auf einem Niveau angesiedelt, auf dem die analysierten Urteilsstrukturen schließlich sogar ihr Potential für die intendierte Theorie der Erfahrung zeigen. Auf der Linie der Korrekturansprüche gibt Kant direkt zu verstehen, wie elementar und sogar primitiv einige Defizite sind, die er der traditionellen Logik attestiert, wenn sie »die logische Form eines Urteils«19 zu bestimmen sucht. Auf dieser Linie teilt er zunächst mit: »Ich habe mich niemals durch die Erklärung, welche die Logiker von einem Urteile überhaupt geben, befriedigen können: es ist, wie sie sagen, die Vorstellung eines Verhältnisses zwischen zwei Begriffen«.20 Zwar will er in dem fraglichen Zusammenhang noch nicht einmal »über das Fehlerhafte der Erklärung, daß sie allenfalls nur auf kategorische, aber nicht hypothetische und disjunktive paßt (als welche letztere nicht ein Verhältnis von Begriffen, sondern selbst von Urteilen enthalten,) mit ihnen […] zanken«.21 Gleichwohl hat ihm dieser elementare definitorische Fehler genug zu denken gegeben, um sich fast gleichzeitig – wiewohl in einer anderen Publikation – auch selbst an »der genau bestimmten Definition eines Urteils überhaupt«22 zu versuchen. Sie umreißt ein Urteil-überhaupt als die »Handlung, durch die gegebene Vorstellungen zuerst Erkenntnisse eines Objekts werden«.23 19 A 79, B 105. 20 B 140. 21 B 141, Kants Hervorhebung. Das Defizit, das Kant hier – in der zweiten (!) Fassung der Ersten Kritik – der Arbeit der Logiker attestiert, gehört offenbar zu den Konkretisierungen des abstrakten Attests, mit dem er in den Prolegomena auf die »schon fertige, obgleich noch nicht ganz von Mängeln freie Arbeit der Logiker«, IV, 323, anspielt; zu weiteren von Kant kritisierten Defiziten dieses Typs vgl. unten S. 107–111. 22 IV, 475*, Kants Hervorhebung. 23 Ebd.

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Diese Definition vermeidet zunächst einmal den bemängelten definitorischen Fehler zu großer Enge, indem sie vom Schutz von Kants extrem weitem Vorstellungsbegriff profitiert, der sowohl Begriffe und Erkenntnisse bzw. Urteile sowie Empfindungen und Anschauungen umfaßt.24 Daher umfaßt sie auch die Fälle, in denen nicht nur zwei Vorstellungen wie im kategorischen Urteil, sondern jedenfalls und mindestens auch zwei kategorische Paare von Vorstellungen durch eine Handlung des Urteilens zuerst Erkenntnisse eines Objekts werden. Sie umfaßt damit jedenfalls und mindestens auch die hypothetischen und die disjunktiven Urteile, die in Kants Urteilstafel gemeinsam mit den kategorischen Ur­ teilen zu einer exklusiven homogenen Gruppe gehören. Doch die bei weitem wichtigere methodische Pointe dieser Definition ergibt sich aus Kants Anspruch auf ›genaue Bestimmtheit‹. Bei einem in formalen und methodischen Dingen so umsichtigen und scharfsinnigen Denker wie Kant kommt es in diesem Zusammenhang darauf an, in Rechnung zu stellen, daß er mit Bedacht auf die Genauigkeit dieser Bestimmtheit achtet und nicht etwa auf ihre Vollständigkeit. Kant war, wie die Mit- und Nachschriften seiner Logik-Kollegs zeigen, viel zu umfassend und viel zu gründlich mit den doktrinalen Inhalten der Logik seiner Zeit vertraut, um zu verkennen, daß die vielen formal heterogenen Typenunterschiede zwischen Urteilen nur schwer durch eine sowohl vollständige wie genaue wie auch deutliche Einheitsdefinition berücksichtigt werden können. Die Genauigkeit einer Definition bildet daher nicht nur lediglich eine einzelne von diesen drei Teilbedingungen einer perfekten Definition. Unter diesen Teilbedingungen fällt ihr insbesondere eine bestimmte indirekte, methodisch-pragmatische Funktion im weiteren Zusammenhang der Arbeit an einer Theorie wie der Theorie der Erfahrung zu. Denn »Genauigkeit betrifft die Richtigkeit, den zum Zweck erforderlichen Grad der Wahrheit«.25 In diesem Sinne ist »praecisio – die Abgemessenheit, d. h. die Absonderung alles übrigen, was nicht zur hinlänglichen Deutlichkeit erfordert ist«.26 Wie der unmittelbare Kontext der ›genau bestimmten‹ Definition des Urteilsbegriffs zeigt, stimmt Kant ihre Genauigkeit denn auch ganz gezielt ausschließlich auf diejenigen Eigenschaften eines Urteils ab, deren Deutlichkeit erforderlich und hinlänglich ist, wenn es um die »Auflösung der Aufgabe [geht], wie nun Erfahrung vermittelst jener Kategorien und nur allein durch dieselbe[n] möglich sei«.27 Es darf hier vorläufig offen bleiben, inwiefern Kants Zuversicht in diese Tragfähigkeit und Tragweite der vorgeschlagenen Definition bei genauerem Hin­ 24 25 26 27

Vgl. A 320, B 376–377. XXIV.1,1, 398, Hervorhebung R. E. XXIV.1,2, 756, Hervorhebungen R. E. IV, 475*, Kants Hervorhebung. Wolff, Vollständigkeit, vernachlässigt offensichtlich den wichtigen formalen Unterschied zwischen Kants (schwacher) Genauigkeitsbedingung einer Definition und der entsprechenden (starken) Vollständigkeitsbedingung, vgl. S. 712.

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sehen wirklich gut fundiert ist.28 Überdies kann man es durchaus mit respektablen Logik-historischen Gründen »nicht wohl für möglich halten«, daß »das, was hier als das Wesen des Urteils angegeben wird, etwas Originelles, erst von Kant Entdecktes«29 sei. Gleichwohl eröffnen gerade die methodisch-pragmatisch relativierten Genauigkeitsansprüche an die ›hinlängliche Deutlichkeit‹ und an den ›dem Zweck angemessenen Grad der Wahrheit‹ dieser Definition für die theoretische Arbeit Kants mehrere Optionen. Nur durch eine von diesen Optionen wird die weit ausgreifende Perspektive auf die kategorialen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung eröffnet, also auf diejenigen mit einem Urteilsakt aktualisierten Bedingungen, von deren richtigem Gebrauch vor allem abhängt, daß ›gegebene Vorstellungen zuerst Erkenntnisse eines Objekts werden‹. In dieser Perspektive wird der Urteilsakt offensichtlich durch den für ihn charakteristischen kognitiven Erfolg charakterisiert  – also durch die mit seiner – und nur mit seiner – Hilfe erzielte Erkenntnis. Dieser spezifisch kognitive Erfolg des Urteilsaktes bildet insofern den wichtigsten intentionalen Charakter des Urteilsaktes – den Charakter der in Erfüllung gegangenen Urteilsintention. Doch alleine schon der Umstand, daß die Hinlänglichkeit der Deutlichkeit und die Zweckmäßigkeit des Grades der Wahrheit der Definition durch den Verweis auf die Rolle der Kategorien erläutert wird, eröffnet eine Perspektive auf eine andere Sorte von Urteilsaktcharakteren: Außer dem charakteristischen Erfolg müssen die Transzendentalphilosophie und die von ihr in Anspruch genommene formale Logik auch die für diesen Erfolg relevanten Bedingungen analysieren. Alleine schon dadurch wird die Aufgabe ins Auge gefaßt, den Urteilsakt mit Blick auf eine Mehrzahl von Charaktertypen zu analysieren. Sein charakteristischer Erfolg  – die Erkenntnis, speziell die Erfahrungserkenntnis eines Objekts – und seine diversen kategorialen Erfolgsbedingungen bilden nur zwei Typen dieser Urteilscharaktere. Doch Methodenstandards wie die hinlängliche Deutlichkeit und die am Grad der Wahrheit orientierte Zweckangemessenheit einer Definition lassen es offenbar zu, daß diese Hinlänglichkeit und Angemessenheit in dem Maß gesteigert werden können, in dem es der formalen Urteilsanalyse in weiteren Schritten gelingt, auch noch andere Urteils­ charaktere – also vor allem auch noch andere Erfolgsbedingungen als die kategorialen – aufzuspüren. Kants Definition ist insofern eine Arbeitsdefinition im besten Sinne des Wortes. Dies arbeitsdefinitorische Format läßt es daher auch ganz offensichtlich zu, die Rolle des Kategoriengebrauchs als Bedingungen des Urteilserfolges mit in die Charakterisierung des Urteilsaktes aufzunehmen und damit die entsprechende Hinlänglichkeit und Angemessenheit der Arbeitsdefinition in einem ersten Schritt zu steigern: ›Ein Urteil ist die Handlung, durch die gegebene Vorstellungen mit Hilfe des Gebrauchs von jeweils wohlbestimmten 28 Vgl. hierzu unten S. 108 f., 111 f., 119, 127 f. 29 Vgl. Reich, Vollständigkeit, S. 42.

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Kategorien zuerst Erkenntnisse eines Objekts werden‹.30 Darüber hinaus zeigt die Arbeitsdefinition in unscheinbarer, aber dennoch außerordentlich aufschlußreicher Weise auch noch einmal an, daß und inwiefern der Urteilsakt vor allem in Gestalt des Erfahrungsurteils ein Herzstück der Untersuchungen der Ersten Kritik bildet: Die in jedem Erfahrungsurteil in Gebrauch genommenen formalen Erfolgsbedingungen eines solchen Urteils bilden das mittelbare charakteristische Analysematerial in allen Gliederungen der Ästhetik und der Analytik – und indirekt auch der Dialektik – der Ersten Kritik Ausschlaggebend im Zusammenhang mit den von Kant respektierten metho­ dologischen Anforderungen an seine Arbeitsdefinition des Urteilsbegriffs bleibt aber selbstverständlich auch deswegen seine Fernorientierung an der von ihm intendierten Theorie der Erfahrung. Denn es kann nun einmal nicht gut bezweifelt werden, daß Kant mit dem Inhalt dieser genau bestimmten – wie auch immer vorläufigen  – Arbeitsdefinition ein bis dahin unaufgespürtes theoretisches, spezifisch transzendentalphilosophisches Potential entdeckt zu haben meint – ein Potential für eine Klärung der kategorialen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung. Insofern ist mit dieser konstruktiven Kehrseite von Kants Kritik an einem höchst elementaren Fehler einer überlieferten Definition des Urteilsbegriffs ein außerordentlicher theoretischer Innovationsanspruch verbunden. Ebenso unzweifelhaft werfen die Kontexte von Kants Auseinandersetzungen mit den definitorischen Problemen des Urteilsbegriffs aber auch ein wichtiges Licht auf seine zu dieser Zeit schon zweieinhalb Jahrzehnte währende Auseinandersetzung mit dem ›Geheimnis der Kraft, wodurch das Urteilen möglich wird‹. Seine Arbeitsdefinition des Urteilsbegriffs erweist sich im Blick auf diesen ursprünglichen Ausgangspunkt seiner urteilsanalytischen Untersuchungen als das ausgereifteste Mikro-Dokument des Weges zum status quaestionis der Ersten Kritik – zur Frage, in was für einer Form von Bedingungszusammenhang das Urteilen und seine formalen Strukturen mit der dem Menschen möglichen Erfahrung verbunden sind: Die formalen Analysen der Produkte der Betätigung der so geheimnisvollen Kraft zu urteilen haben aus noch genauer zu klärenden Gründen sogar ein Potential für den wichtigsten, den kategorialanalytischen Schritt auf dem Weg zu einer Klärung der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung ans Licht gebracht.31 30 Vgl. zu weiteren arbeitsdefinitorischen Differenzierungen unten S. 111 f., 119 f., 127 f. Ob diese Differenzierungen so weit geführt werden können oder nicht, daß am Ende vielleicht sogar eine vollständige Definition gelingt, darf hier offen bleiben. Ebenfalls darf offen bleiben, ob die Arbeitsdefinition vielleicht deswegen nicht vervollständigt werden kann, weil sie vielleicht zum Typus der ›analytischen Definition‹ (vgl. A 732, B 760) gehört; vgl. hierzu auch Wolff, Vollständigkeit, S. 6–7. 31 Den thematischen Leitfaden der Urteilskraft macht auch Longueness, Capacity, in ihrer vorzüglichen und weit ausgreifenden Untersuchung für eine eindringliche Erörterung der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung fruchtbar.

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Ist man erst einmal auf die Tragweite aufmerksam geworden, die die Auseinandersetzungen mit diesen speziellen urteiltheoretischen Definitionsproblemen für die Arbeit an der Theorie der Erfahrung mit sich bringt, dann gewinnen auch die anderen zunächst so unscheinbar anmutenden Defizitatteste ein besonderes Gewicht, die Kant der erörterten überlieferten Urteils-Definition im § 19 der Ersten Kritik ausstellt. Außer der fehlerhaften Enge dieser Definition, nur die kategorischen Urteile und deren Verhältnis zwischen zwei Begriffen zu umfassen, beschäftigt ihn hier ein nicht weniger elementares, aber im eigentlichen Sinne logisches Versäumnis. Daher merkt er »nur an, daß, worin dieses Verhältnis besteht, hier nicht bestimmt ist«32. Nun ist aber das kategorische Verhältnis zwischen zwei (begrifflichen) Vorstellungen, wie Kant mit Blick auf den Zankapfel zwischen ihm und der traditionellen Logik ausdrücklich anmerkt, auch nur eine von drei in logischer Hinsicht verschiedenförmigen logischen Re­lationen, die Kant im Rahmen seiner Urteilstafel apostrophiert.33 Kants Auffassung, daß es sich bei der Kategorizität um die Eigenschaft einer logischen Relation handelt, steht darüber hinaus aus einem ganz offensichtlichen Grund in einer auflösungsbedürftigen sachlichen und methodischen Spannung zu seiner anderen Auffassung, daß es sich bei dieser Kategorizität auch nur um eine von insgesamt sogar zwölf verschiedenen logischen Formen von Urteilen handelt. Denn bei neun von diesen insgesamt zwölf logischen Formen handelt es sich auch nach Kant nicht um Formen, die zum Typus eines logischen Ver­ hältnisses gehören.34 Weder Kants Arbeitsdefinition des Urteilsbegriffs noch das Potential, das er ihrem Inhalt für die Berücksichtigung der kategorialen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zuschreibt, bleibt von diesen Zusammenhängen un­ berührt. Denn wie immer sich die Probleme traktieren lassen, die die Homogenität bzw. Heterogenität und die Vollständigkeit der von ihm ›vor Augen gestellten‹ zwölf Urteilsfunktionen betreffen  – jedenfalls können Urteilsakte vom urteilenden Subjekt stets nur unter Respektierung auch einer Vielzahl verschiedener möglicher logischer Formen bzw. Funktionen vollzogen werden. Nur deswegen muß dieser Akt auch nicht ein irgendwie geheimnisvoller, gleichsam ins Dunkel eines Geheimnisses der Urteilskraft gehüllter Akt bleiben. Er kann vielmehr – und muß nach Kants Auffassung sogar – mit Hilfe auch von formallogischen Analysen aufgehellt werden. Kants Arbeits­definition kann daher sogar schon mit Blick auf die noch gar nicht gelösten Homogenitäts-, Hetero­genitäts- und Vollständigkeitsprobleme seiner Urteilstafel noch um einen 32 B 141, Kants Hervorhebung. 33 Vgl. A 70, B 95. 34 Vor allem Lenk, Kritik, hat diese mehrfachen Heterogenitäten im äußeren Gefüge der in der Urteilstafel präsentierten Urteilsfunktionen als schwerwiegendes Indiz für mehrfache logische Inkohärenzen im Gefüge des von Kant prätendierten Systems dieser Urteilsfunktionen gedeutet, vgl. S. 21 f.; vgl. hierzu unten 10. Ab.

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weiteren Grad von ›Hinlänglichkeit‹ und ›Zweckangemessenheit‹ verschärft werden. Denn es sind nun einmal gerade die beiden im Kern pragmatischen formalen Anforderungen an die Genauigkeit einer Arbeitsdefinition, die eine solche Definition für eine Steigerung ihrer Hinlänglichkeit und Zweckangemessenheit öffnen. Um diese Offenheit fruchtbar zu machen, braucht man in ihrem Rahmen lediglich ein Faktum in Rechnung zu stellen, das in der Geschichte der Logik bis in unsere Tage von noch keinem Logiker bezweifelt worden ist – das auch von Kant in den Ausgangspunkt seiner Erfahrungstheorie gerückte Faktum der Binnenstrukturierung des Urteilsaktes durch logische Formen bzw. Funktionen.35 Stellt man dies Faktum gebührend in Rechnung, dann ergibt sich für Kants Arbeitsdefinition des Urteilsbegriffs eine erste zusätzliche Binnendifferenzierung: ›Ein Urteil ist die Handlung, durch die gegebene Vorstellungen mit Hilfe des Gebrauchs von jeweils wohlbestimmten logischen Funktionen sowie mit Hilfe des Gebrauchs von entsprechenden jeweils wohlbestimmten Kategorien zuerst Erkenntnisse eines Objekts werden‹.36 Gleichzeitig wird durch diese größere Genauigkeit auch die Binnendifferenzierung des Potentials noch besser sichtbar, das eine solche Definition für die Klärung der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung enthält. Denn an diesen Bedingungen sind in einer Schlüsselrolle gerade diejenigen Kategorien beteiligt,37 für deren Entdeckung die von Kant berücksichtigten logischen Funktionen die Leitfadenrolle spielen.38 Wenn der Leser der Ersten Kritik durch diese Form der Berücksichtigung von Kants Logik-Konzeption zunächst auch nur ein unproblematisches Minimalzugeständnis an dessen theoretischen Gesamtentwurf erbringt, so braucht selbstverständlich gleichwohl der Umstand nicht vernachlässigt zu werden, daß Kant mit dieser Konzeption nun einmal außerordentlich gewichtige Ansprüche verbindet. Er ist daher mit Blick auf diese Konzeption offensichtlich die Angabe von Gesichtspunkten, Kriterien und Argumenten schuldig, mit deren Hilfe sich drei ganz verschiedene Ansprüche plausibel machen lassen müssen, die er mehr oder weniger stillschweigend mit dieser Konzeption verbindet: 1.) der Anspruch auf exklusive Zusammengehörigkeit der von ihm berücksichtigten zwölf Urteilsformen bzw. -funktionen in einer logisch homogenen Klasse; 2.) der Anspruch auf die spezifischen logischen Differenzen zwischen den vier von ihm 35 In seiner die traditionelle Logik mit Hilfe eines neuen logischen Funktionsbegriffs revolutionierenden Begriffsschrift hält Frege gleichwohl zunächst noch am Begriff des Urteils fest, während er gleichzeitig den in der Mitte des 19. Jahrhunderts etablierten mathematischen Funktionsbegriff mit seiner Unterscheidung zwischen Funktion, Argument, Funktionswert und Werteverlauf als eines seiner revolutionierenden Mittel fruchtbar macht, vgl. Gottlob Frege, Begriffsschrift. Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens (18791), Hildesheim 1964, §§ 2 ff. bzw. §§ 9 ff. 36 Zu weiteren Binnendifferenzierungen vgl. unten S. 119 f., 127 f. 37 Vgl. A 111–112. 38 A 76, B 102 ff.

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statuierten Triaden von Urteilsformen bzw. -funktionen; und schließlich 3.) der Anspruch auf die spezifischen logischen Differenzen zwischen den jeweils drei Elementen jeder dieser vier Gruppen. Um die Frage der Einlösbarkeit dieser Ansprüche hat sich seit der zu Recht berühmt gewordenen Abhandlung von Klaus Reich bis zu der gleichnamigen Untersuchung von Michael Wolff bekanntlich eine lebhafte Kontroverse entzündet. Doch trotz der Lebhaftigkeit dieser Kontroverse wird nur allzu leicht übersehen, daß Kant ganz unabhängig von den dominierenden Inhalten dieser speziellen Kontroverse einen an sich prä-logischen Aspekt fruchtbar macht, dessen Berücksichtigung er offensichtlich gleichwohl eine Tragweite für jede Konzeption logischer Formen bzw. Funktionen zutraut. Diesen Aspekt hat er im Auge, wenn er das Gemeinsame der logischen Funktionen darin sieht, daß sie »Funktionen der Einheit in den Urteilen«39 sind. Offenkundig benutzt diese Auffassung irgendeinen prä-logischen, aber logisch relevanten Aspekt von Einheit, der den logischen Aspekten übergeordnet ist, unter denen z. B. die Kategorizität neben neun anderen Urteilsfunktionen zu einem ganz speziellen, relationalen Typ von Funktionen dieser Einheit in den Urteilen gehört. Ohne einen solchen von ihm schon ins Auge gefaßten übergeordneten Aspekt der Einheit könnte Kant die von ihm in seiner Urteilstafel berücksichtigten Urteilsfunktionen gar nicht insgesamt in sachlich nachvollziehbarer Weise als Funktionen der Einheit in den Urteilen charakterisieren, bevor er auch nur eine einzige dieser spezifisch verschiedenen Funktionen in ihrer Spezifität charakterisiert hat. Doch warum kann man diesen prä-logischen Aspekt überhaupt für logisch so relevant halten, daß er allen anderen am Entwurf der Urteilstafel beteiligten Aspekten und Kriterien sogar übergeordnet ist? Hinter dem stillschweigenden logischen Relevanzattest, das Kant im Blick auf diesen Einheitsaspekt mit dieser Überordnung verbindet, steckt ein ebenso stillschweigender Hinweis auf eine vom urteilenden Subjekt jeweils ausgeübte ausgeübte kognitive Schlüsselfunktion. Diese Schlüsselfunktion entgeht der Aufmerksamkeit des Logikers nur allzu leicht, weil sie vom urteilenden Subjekt stets nur gleichsam im Rücken seines jeweiligen konkreten ›logischen Verstandesgebrauchs überhaupt‹ (vgl. A 67, B 92 ff.) ausgeübt wird. Auch die Aufmerksamkeit von Kants Lesern für diese Schlüsselfunktion wird sogar von Kant selbst immer noch abgelenkt. Denn im Horizont seines Gedankens, daß das Urteilen ›diejenige Verstandeshandlung ist, die alle anderen in sich enthält‹, lenkt er die Aufmerksamkeit sogleich auf die Behandlung der heuristischen Vollständigkeitsprobleme, die sich aus dem Anspruch ergeben: »Die Funktionen des Verstandes können also insgesamt gefunden werden, wenn man die Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen kann«.40 Diese heuristische 39 A 69, B 94. 40 Ebd.

Logische Einheit und alogische Vielheit Logische Einheit und alogische Vielheit

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Kernaufgabe der von Kant konzipierten Formalen Logik der Funktionen der Einheit in den Urteilen wird darüber hinaus ganz im Sinne des Werkstatt­ berichts der Prolegomena mit der weiter ausgreifenden Aufgabe bedacht, als »Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe«41 zu dienen.42 Wenn es Kant im Rahmen der so konzipierten Formalen Logik um die Vollständigkeit der Darstellung der diversen Funktionen der Einheit in den Urteilen geht, dann nimmt er mit diesem, wie die Kant-Forschung gezeigt hat, sehr anspruchsvollen Ziel43 eine Aufgabe in den Blick, die insofern vor seinen Augen liegt, als er sich auf die Ziele konzentriert, die er erst im Schutz der schon gewonnenen Lösung dieses Vollständigkeits- und Homogenitätsproblems mit berechtigter Aussicht auf Erfolg anvisieren kann – also die Aufgabe zu zeigen, daß und inwiefern die von diesen Urteilsfunktionen abhängigen Kategorien die Kardinalbedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und der ihrer Gegenstände sind. Doch die kognitive Schlüsselfunktion, die immer dann gleichsam im Rücken der urteilenden Subjektivität liegt, wenn sie konkrete Urteilsakte in irgendwelchen logischen Formen vollzieht – also die Funktion der Einheit –, liegt ebenfalls gleichsam im Rücken des Logikers, wenn er – nicht nur wie Kant – Vollständigkeits- und Homogenitätsansprüche für irgendwelche Klassen von Urteilsformen bzw. -funktionen anmeldet. Daher werden die Thematisierung und die Analyse dieser Schlüsselfunktion von der Forschung in der Regel gar nicht als Aufgaben wahrgenommen, die in einem irritierenden methodischen 41 A 66, B 91, Hervorhebung R. E. Angesichts von Kants wirklichem Werstattbericht in den Prolegomena, vgl. oben S. 73–75, wäre es ein arges Mißverständnis, Kants buchtechnischen Leitfaden-Titel als eine Art von indirektem Werkstattbericht über einen Leitfaden zu verstehen, wie er ihn irgendwann schon im ›schweigenden Jahrzent‹ selbst entdeckt und zugunsten der Entdeckung ›aller reinen Verstandesbegriffe‹ mit Erfolg fruchtbar gemacht hätte. Zu viele und gewichtige Indizien sprechen dafür – vor allem der Brief von Lambert vom 13.10.1770 und Kants Hinweise auf diesen Brief in seinen beiden Briefen an Marcus Hertz vom 7.6.1771 und 21.2.1772 –, daß er sich diesen Fragenkreis in seiner Werkstattgeschichte zuerst mit Untersuchungen über die Anwendungs- bzw. Gebrauchsbedingungen der entsprechenden Begriffe der traditionellen Ontologie erschlossen hat; vgl. hierzu Carl, Kant, S. 16–55. Der buchtechnische Leitfaden-Titel ist dagegen von ausschließlich methodologisch-systematischer Bedeutung. 42 Zu der Frage, ob und gegebenenfalls welche Konsequenzen diese Schlüsselrolle der formallogischen Analyse des Urteilsakts für die methodische Rolle der Transzendentalen Ästhetik im Gefüge der Transzendentalen Elementarlehre hat, vgl. Zweiter Teil. 43 Zu diesem Problemkreis vgl. außer den Untersuchungen von Reich, Vollständigkeit, Wolff, Vollständigkeit, und Lenk, Kritik, auch die von Kurt Wuchterl, Die Theorie der formalen Logik bei Kant und in der Logistik, Diss. Heidelberg 1956, sowie vor allem die von Lorenz Krüger, Wollte Kant die Vollständigkeit seiner Urteilstafel beweisen?, in: Kant-Studien, Bd. 59 (1968), 333–356, ebenso die von Kirk Dallas Wilson, The Logical Grammar of Kant’s Twelve Forms of Judgement: A Formalized Study of Kant’s Table of Judgements, Diss., Univ. of Mass. 1972, und von Reinhard Brandt, Die Urteilstafel. Kritik der reinen Vernunft A 67–76; B 92–101, Hamburg 1991; vgl. hierzu im einzelnen unten 10. Ab.

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und sachlichen Spannungsverhältnis zu Kants Formaler Logik der einheitstiftenden Urteilsfunktionen stehen. Man neigt mehr oder weniger stillschweigend zu der Unterstellung, daß die Einheit, die Kant in diesem Zusammenhang ins Auge faßt, durch eben die zwölf Funktionen der Einheit in den Urteilen, die er im ganzen § 9 ›vor Augen stellt‹ und erörtert, unmittelbar und restlos gestiftet würde. Konsequenterweise neigt man dann ebenso zu der Unterstellung, daß diese Einheit erschöpfend analysiert und charakterisiert sei, sobald man diese Funktionen selbst erschöpfend charakterisiert hat – also z. B. so, wie es Reich im thematischen Hauptteil seiner Untersuchung vorgeführt hat, oder so, wie es zuletzt Michael Wolff in seiner gleichnamigen Untersuchung vorgeführt hat. Doch das Spannungsverhältnis, in dem die Thematisierung der Einheit in den Urteilen zu der Thematisierung der vielen verschiedenen Funktionen dieser Einheit in den Urteilen steht, läßt sich so nicht auflösen. Denn es besteht darin, daß die Primär-Analyse dieser Einheit einerseits von der wie auch immer vollständigen oder unvollständigen Darstellung dieser diversen Urteilsfunktionen gänzlich unabhängig ist, ihr deswegen aber andererseits in methodischer Hinsicht auch unmittelbar vorgeschaltet sein muß. Nur deswegen kann Kant argumentieren, daß »Diese Einheit […] a priori [also aus formalen Gründen, R. E.] vor allen Begriffen der Verbindung [also primär auch vor allen Begriffen von Funktionen der Einheit in den Urteilen, R. E.] vorhergeht«.44 Denn zunächst muß die elementare Vorfrage gestellt und beantwortet werden, die nicht nur gleichsam im Rücken jedes urteilenden Subjekts liegt, sondern ebenfalls gleichsam im Rücken des formal reflektierenden und analysierenden Logikers, wenn er einzelne Funktionen der Einheit in den Urteilen zu bestimmen und in einer vollständigen oder unvollständigen, homogenen oder inhomogenen Klasse zusammenzufassen sucht – die Frage, welcher Typ von Vielheit denn überhaupt einer kognitiven Überwindung zugunsten einer Einheit sowohl bedürftig wie fähig ist, so daß Urteilsfunktionen überhaupt als Funktionen einer solchen Einheit, also als Funktionen der Einheit in den Urteilen nicht nur konzipiert werden können, sondern sogar so und nicht anders konzipiert werden müssen. Die moderne, von Freges Forschungen auf den Weg gebrachte Logik meistert dies Problem im Rahmen ihres klassischen Musters der (zweiwertigen und zweistelligen) Junktoren-Logik mit Hilfe eines teils syntaktischen und teils semantischen Postulats: Jeder Junktor von genau sechzehn verschiedenen Junktoren drückt – mit Ausnahme des Negators – ausschließlich eine solche Funktion aus, durch die unter den vielen möglichen Trägern von Wahrheit und Falschheit jeweils zwei solche Träger so miteinander verbunden werden, daß jeweils genau Ein neuer Träger eines dieser beiden Wahrheitswerte aus einer solchen Ver­ bindung entspringt. Es sind indessen die Untersuchung und die Beantwortung

44 B 131.

Logische Einheit und alogische Vielheit Logische Einheit und alogische Vielheit

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dieser selben formalen Frage nach einer spezifischen überwindungsbedürftigen und überwindungsfähigen Vielheit und nach einer ebenso spezifischen diese Vielheit zugunsten einer Einheit überwindenden Funktion, mit denen Kant noch vor allen Einzelheiten seiner Konzeption der Urteilsfunktionen auf eine entdeckungsbedürftige prä-logische Bedingung aller formallogisch strukturierten Urteilsakte aufmerksam macht. Wohl hat Kant diese Frage nicht ausdrücklich und nach den didaktischen Regeln eines entsprechend musterhaften Lehrbuchs gestellt. Gleichwohl hat er sie in unmißverständlicher Weise beantwortet. Er signalisiert die Orientierung an dieser Frage, indem er zeigt, wie man mit ihrer Beantwortung anfangen sollte. Er macht daher darauf aufmerksam, daß man die Vielheit, die zugunsten einer Einheit überwunden werden können muß, auch nur in einem ursprüng­ lichen, nicht-logisch strukturierten Vorfeld aller möglichen Urteile finden kann. Mit Blick auf dies Vorfeld der Urteile »ist [es] klar, daß […] wir es nur mit der Mannigfaltigkeit unserer Vorstellungen zu tun haben«,45 also z. B. mit Vorstellungen wie »rot überhaupt«.46 Hätten wir es in diesem Vorfeld nicht mit einer Mannigfaltigkeit von solchen und anderen Vorstellungen zu tun, sondern immer nur mit einer und derselben Vorstellung, dann bedürfte es gar keines (kognitiven) Aktes, durch den die Einheit dieser einen und einzigen Vorstellung noch zugunsten irgendeiner andersartigen oder höheren Einheit überwunden werden müßte oder auch nur könnte. Diese einzige eine-und-selbe Vorstellung wäre dann vielmehr von Hause aus der einzigartige Repräsentant aller mög­ lichen, keiner weiteren Einheitsstiftung bedürftigen Einheit. Da wir es in diesem Vorfeld aber nun einmal ausschließlich mit einer Mannigfaltigkeit von Vorstellungen zu tun haben – musterhaft repräsentiert durch eine Vorstellung wie rot überhaupt –, »würde ich ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin«,47 wenn ich nicht fähig wäre, die vielen Vorstellungen, die ich habe, so zu einer Einheit zu verbinden, daß ich als das Subjekt dieses verbindenden Akts dasselbe Subjekt bin, das irgendeine Vorstellung, die es jeweils hat, durch eben diesen Akt mit mindestens irgendeiner anderen Vorstellung, die es ebenfalls hat, verbindet bzw. umgekehrt. Ein Wesen, das diese Fähigkeit nicht hätte, hätte offenkundig sogar so viele verschiedene Selbste, wie es Vorstellungen hat. Und mit einer solchen Mannigfal­ tigkeit hätte es ein solches Wesen offenbar auch dann schon zu tun, wenn der Grad dieser Mannigfaltigkeit lediglich durch zwei Vorstellungen bestimmt wäre. Man könnte daher unter den Vorzeichen der transzendentalen Reflexion im Blick auf solche Fälle noch nicht einmal sinnvoll im grammatischen Singular von ›Einem Wesen‹ sprechen, das nicht bloß eine einzige, sondern auch 45 A 105; vgl. auch A 190, B 235. 46 B 133*. 47 B 134.

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wenigstens noch eine andere, zweite Vorstellung hätte. Denn das einzige Einheits- bzw. Identitätskriterium, über das die transzendentale Reflexion auf dieser Stufe verfügt, ist nun einmal ein strikt bewußtseinsrelatives Kriterium: »[…] das empirische Bewußtsein, das verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts«,48 das jede einzelne dieser Vorstellungen mit Bewußtsein begleitet.49 Die verbindungslose An-sichZerstreutheit des empirischen Bewußtseins, die ja ebenso eine Zerstreuheit der für es charakteristischen Vorstellungen ist, zeigt sich auch in einer bestimmten temporalen Form: Eine Vorstellung »wäre eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande«50 auch dann, wenn sie in einem beliebig kurzfristig früheren Zustand schon einmal präsent gewesen wäre – also mit der ›alten‹ Vorstellung im vorherigen Zustand nicht das mindeste zu tun hätte. Im Licht dieses strikt Zeitbewußtseins-relativen Kriteriums hätte man es in einem solchen Fall daher noch nicht einmal einfach mit einem einzigen Wesen zu tun, das viele Selbste hätte, sondern mit ebenso vielen verschiedenen bewußtseins- und augenblicksabhängig existierenden Wesen bzw. Selbsten wie es auch verschiedene bewußtseinsund augenblicksabhängige Selbste bzw. Wesen und entsprechende Vorstellungen gibt, die von diesen Selbsten bzw. Wesen von einem Augenblick zum jeweils nächsten mit Bewußtsein begleitet werden.51 48 B 133. 49 Wolfgang Carl, Freges Unterscheidung von Gegenstand und Begriff, in: M. Schirn (Hg.), Studien zu Frege II. Logik und Sprachphilosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976, S. 33–49, hat am Leitfaden von Freges logischer – also syntaktischer und semantischer – Analyse sprachlicher Gebilde auf den linguistischen Parallelfall zum nicht-verbundenen Mannigfaltigen der Vorstellungen aufmerksam gemacht. Ein solches unverbundenes sprachliches Mannigfaltiges ist »Eine Liste von Ausdrücken, etwa ›Cäsar, zwei, MZG , der Odenwald‹«, S. 44. Im Kontext von Kants Theorie entspricht der sprachlichen Mannigfaltigkeit einer solchen Liste von hintereinander oder über- bzw. untereinander dokumentierten Ausdrücken offensichtlich die Mannigfaltigkeit einer Folge von sukzessiv aufeinander folgenden, vom temporal ›zerstreuten‹ empirischen Bewußtsein nach und nach begleiteten Vorstellungen. Man darf darüber hinaus auch vermuten, daß Freges Konzeption des subjektiven Privateigentums an dem, was in seiner Theorie den kognitiven Status von Vorstellungen hat, aus seiner Auseinandersetzung mit Kants Konzeption des an sich(!) zerstreuten, einzelne Vorstellungen begleitenden empirischen Bewußtseins hervorgegangen ist, vgl. Gottlob Frege, Gedanke (1918–19191), wieder abgedr.. in: ders., Logische Untersuchungen, hg. und eingel. v. G. Patzig, Göttingen 1966, S.  30–53, bes. S. 40 f.; Kant bezieht sich in den fraglichen Kontexten der §§ 16 ff. auf Vorstellungen regelmäßig mit Hilfe von Possessivpronomina, also besitzanzeigenden Fürwörtern. 50 A 103, Hervorhebungen R. E. Zu einer ausführlichen Analyse der Drei-Synthesen-Konzeption (A 97–103), in der dies und andere irreale Konditionale verwendet werden, vgl. unten 8. Ab. 51 Ebenso argumentiert Vleeschauwer, La déduction III, S. 106–107. Andreas Kemmerling, Ideen des Ich. Studien zu Descartes’ Philosophie, Frankfurt/M. 1996, charakterisiert den Typ eines in dieser Form (temporal) zerstreuten Bewußtseins vor allem mit Blick auf Lockes Konzeption des Bewußtseins treffend als »hüpfendes Bewußtsein«, S. 194.

Logische Einheit und alogische Vielheit Logische Einheit und alogische Vielheit

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Mit diesen Überlegungen hat Kant das ursprüngliche, von nicht-urteilsförmigen Vorstellungen durchzogene prä-logische Vorfeld der Urteile umrissen. An ihm orientiert er sich, wenn er den Typ der Vielheit ins Auge faßt, der von einem urteils- und erkenntnisbeflissenen Subjekt mit Hilfe von spontanen Verbindungsakten zugunsten einer Einheit überwunden werden können muß. Ohne die Fähigkeit zu solchen an sich noch ganz prä-logischen spontanen Verbindungsakten könnten einem solchen Subjekt Erfolge gar nicht gelingen, wie es sie mit Hilfe von Funktionen der Einheit in den Urteilen gewinnt und durch die es sogar ›aus gegebenen Vorstellungen zuerst Erkenntnisse eines Objekts‹ in der Form von Urteilen gewinnt. Wenn Kant dies Vorfeld von nicht-urteilsför­ migen kognitiven Elementen vom Typus der Vorstellungen durchzogen sieht, dann orientiert er sich gleichwohl auch in diesem prä- oder proto-logischen Zusammenhang von Anfang an ganz gezielt an der Dimension der Urteile. Er hat diese Orientierung lediglich mit Hilfe eines formalen Kunstgriffs ein wenig verschleiert. Bei diesem Kunstgriff handelt es sich um den Argumentationstyp der heute so genannten irrealen Konditionale wie z. B. ›… würde ich ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben …‹ und ›…wäre eine neue Vorstellung im jetzigen Zustand …‹. In dieser Form gibt man implizit zu verstehen, daß man das Gegenteil des irreal beschriebenen Sachverhalts für eine ausgemachte Tatsache hält. Doch wie die zitierten Stellen (vgl. oben S. 114–116) in der Folge B  131, A  105, B 133*, 134, 133, A 103 in ihrem Zusammenhang zeigen, handelt es sich bei der von Kant für ausgemacht gehaltenen Tatsache um die Tatsache, daß ein Mensch deswegen kein so vielfarbig verschiedenes Selbst hat wie er Vorstellungen hat, deren er sich nach und nach bewußt ist, weil die Menschen nur allzu offenkundig die Fähigkeit zur urteilsförmigen Verbindung von nicht-urteilsförmigen Vorstellungen nicht nur haben, sondern von ihr auch ebenso offenkundig immer wieder von neuem Gebrauch machen – jedenfalls von einer im Durchschnitt der Fälle empirisch wenigstens einigermaßen zuverlässig bestimmbaren Altersphase an und in Form von wahrheitsfähigen Urteilen. Doch die irrealen Konditionale, deren Kant sich bedient, wenn er das prälogische Vorfeld der Urteilsbildung und damit das angestammte Feld der Ausübung des Vermögens der spontanen Verbindung nicht-urteilsförmiger Vorstellungen zugunsten von Urteilen analysiert, haben auch noch eine ganz andere Tragweite als die, die den Blick gleichsam vorwärts für die Konzeption der Funktionen der Einheit in den Urteilen öffnet. Sie haben ebenso eine Tragweite, die den Blick noch einmal gleichsam rückwärts für die ursprüngliche, Rousseau-inspirierte Frage nach der geheimnisvollen Kraft öffnet, durch die das Urteilen möglich wird. Diese irrealen Konditionale bilden einen in methodischer Hinsicht vorzüglichen argumentativen Kunstgriff, um Licht sogar noch in das Innerste des Geheimnisses dieser Kraft zu werfen. Denn alle diese irrealen Konditionale machen durch ihre konditionale Form, durch ihren Irrealis und durch ihre unterschiedlich verwendeten Negationen auf die zentrale notwendige Be-

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dingung aufmerksam, ohne die – also wenn sie nicht erfüllt wäre – das Urteilen gar nicht möglich wäre. Sie machen also auf die Fähigkeit eines urteilenden Subjekts aufmerksam, zwei oder mehr als zwei nicht-urteilsförmige Vorstellungen selbst, also spontan überhaupt zugunsten einer wie auch immer geformten Einheit zu verbinden. Nur deswegen kann Kant am ›höchsten Punkt‹ seiner Theorie ebenfalls mit Hilfe eines irrealen Konditionals argumentieren: Wenn ich über diese Fähigkeit nicht verfügen würde und sie nicht ausüben könnte, »würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches ebensoviel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein«.52 Wegen dieser Schlüsselrolle, die diese Fähigkeit für das Urteilen bzw. für die Erkenntnis hat, kann sie auch als »das Radikalvermögen aller unserer Erkenntnis«53 bzw. alles unseres Urteilens und damit sogar auch »aller möglichen Erfahrung«54 charakterisiert werden. Mit der Konzeption dieser auf den Namen der reinen und ursprünglichen Apperzeption getauften Fähigkeit und ihrer Ausübung hat Kant daher den innersten Teil des Geheimnisses der Kraft gelüftet, durch die das Urteilen möglich wird: Die Kraft der Urteilskraft ist die Kraft, die An-sich-Zerstreutheit des empirischen Bewußtseins und die der in ihm sukzessiv präsenten Vorstellungen vermöge der reinen und ursprüng­ lichen Apperzeption in jedem konkreten Fall zugunsten irgendeiner urteilsförmigen Einheit von Vorstellungen zu überwinden – von der einfachsten, kategorischen Form eines Urteils hin zu stets mehr oder weniger komplexen Formen.55 52 B 131–132, Hervorhebungen R. E. Manfred Baum, Logisches und personales Ich bei Kant, in: D. H. Heidemann (Hg.), Probleme der Subjektivität in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 107–123, ordnet diese (negativen) irrealen Konditionale zu Recht dem formalen Argumentationstypus der »reductio ad absurdum«, S. 114, zu. 53 A 114. 54 Ebd. 55 Der springende Punkt in Kants These, daß das empirische Bewußtsein an sich zerstreut ist, ist daher die An-sich-Bedingung. Sie unterstellt mit Hilfe eines abstraktiven Kunstgriffs probeweise und kontrafaktisch, daß das empirische Bewußtsein eines Menschen nicht von Hause aus unter der Obhut der einheitstiftenden reinen und ursprünglichen Apperzeption steht. Kant hätte diesen springenden Punkt daher auch in der Form eines entsprechenden irrealen Konditionals präsentieren können. Indessen formuliert die These auch in ihrer indikativischen An-sich-Form den Gedanken des ›höchsten Punkts‹ als para-anthropologischen Gedanken. Implizit gibt Kant daher zu verstehen, daß auch seine Überlegung zur reinen und ursprünglichen Apperzeption Beiträge zu einer formaltranszendentalen Anthropologie bilden. Beatrice Longueness, Kant on the Human Standpoint, Cambridge 2005, betont ebenfalls diese anthropologische Orientierung Kants, beruft sich indessen auf Kants Bemerkung aus der Transzendentalen Ästhetik, daß »Wir […] nur aus dem Standpunkt eines Menschen […] vom Raum […] reden [können]«, A 26, B 42. Die Betonung dieser Einschränkung der anthropologischen Orientierung auf die Theorie der reinen räumlichen Anschauung ist indessen nur ein spätes Echo Kants auf seinen früheren Weg, der »von der Theologie auf die ästhetische Critik [führt]«, R 6317, nämlich von der Theologie des absoluten Raumes zur formal-transzendentalen Anthropologie der reinen räumlichsinnlichen Anschauung, vgl. oben S. 105, Anm. 17. Im Rah-

Logische Einheit und alogische Vielheit Logische Einheit und alogische Vielheit

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Diese Kraft des Urteilens ist, sofern man sie überhaupt mit Mitteln der formaltranszendentalen Reflexion und Analyse ermessen kann, offensichtlich umso größer, je komplexer und kohärenter die urteilsförmigen Verknüpfungen sind, die dem jeweils urteilenden Subjekt mit Blick auf andernfalls zerstreut bleibende, logisch noch unförmige und inkohärente Vorstellungen gelingen. Die einzigartig sublime Ausprägung dieser Kraft des Urteilens hat Kant indessen erst ganz am Ende des ›critischen Wegs‹ als das einzigartige Gefühl analysiert, dem sich die reinen Geschmacksurteile der sprachlich-grammatisch-logischen Oberflächenform Dies ist schön über das Schöne minimaler naturwüchsiger Entitäten verdanken. In der urteilsförmigen Aktualisierung dieses Gefühls wird das Subjekt dieser Aktualisierung seiner Identität in dem einzigen von allen affektiven und kognitiven Komponenten reinen Medium inne. Auch im Rahmen seiner Arbeitsdefinition des Urteilsbegriffs hat Kant daher jenes von einer ›zerstreuten‹ Mannigfaltigkeit von nicht-urteilsförmigen ›gegebenen Vorstellungen‹ durchzogene Vorfeld der Urteile im Auge, das das Subjekt, das diese Vorstellungen hat, jeweils durch eine urteilsförmige Verbindung solcher Vorstellungen schrittweise logisch strukturiert und insofern auch ebenso schrittweise hinter sich läßt – wenngleich es dies so strukturierte Vorfeld niemals vollständig und ein für alle Mal verläßt, wie Kant u. a. durch seine unmißverständlichen Bemerkungen über die Vorstellungen zu verstehen gibt, deren Grad an Dunkelheit unterhalb einer kritischen Grenze liegt.56 Es ist daher auch diese Aufhellung des ursprünglichen Vorfeldes allen Urteilens, was die nächste Binnendifferenzierung möglich macht, für die die Hinlänglichkeit und Zweckangemessenheit der Arbeitsdefinition des Urteilsbegriffs offen ist: ›Ein Urteil ist die Handlung, durch die eine Mannigfaltigkeit nicht-urteilsförmiger gegebener Vorstellungen mit Hilfe des Gebrauchs von jeweils wohl­bestimmten logischen Formen bzw. Funktionen und mit Hilfe des Gebrauchs von jeweils entsprechenden wohlbestimmten Kategorien zuerst Erkenntnisse eines Objekts werden‹.57 Deswegen werden auch diese propädeutischen Überlegungen Kants zum Vorfeld der Urteile wie von einem cantus firmus von dem Leitgedanken begleitet, durch den er seiner Arbeitsdefinition des Urteilsbegriffs ihre theoretische Tragweite verleiht. Denn die anspruchsvollste kognitive Leistung, die erkenntnisfähige Subjekte mit Hilfe der Überwindung ›gegebener (nichturteilsförmiger) Vorstellungen‹ durch deren urteilsförmige und kategoriale Strukturierung erzielen können – also ihr bedeutsamster Erfolg –, besteht im men der Transzendentalen Analytik bilden indessen, abgesehen von den ausdrücklich for­ mulierten anthropologischen Bemerkungen, die irrealen negativen Konditionale Kants seinen wichtigsten argumentativen Kunstgriff, den formal-transzendentalen Anthro­ pologie-Status seiner Theorie anzuzeigen; vgl. hierzu auch unten S. 214–216. 56 Vgl. B 414*. 57 Zu einer weiteren Binnendifferenzierung vgl. unten S. 127 f.

120

Dimensionen des Urteilsakts

Horizont dieses Gedankens darin, daß sie dadurch – und nur dadurch – der ihnen möglichen Erfahrung teilhaftig werden können. Kants Überlegungen zum kognitiven Vorfeld der Urteile zeigen einen bemerkenswerten und viel zu selten berücksichtigten disziplinären und metho­dischen Grundzug seiner Einführung in die Logik und in die Transzendentalphilosophie. Dieser Grundzug besteht trotz seiner Unscheinbarkeit bei genauerem Hinsehen darin, daß Kant hier im ersten Schritt zwar eine empiristische kognitionsanthropologische Elementardiagnose trifft. Doch für die Frage nach der methodischen Rolle, die dieser empiristischen Diagnose im Rahmen einer transzendental-logischen Untersuchung zufällt, ist es unerläßlich das irreal-konditional Format der Argumente zu berücksichtigen, mit denen sie verbunden ist. Das so diagnostizierte empirische kognitiv relevante Material – also die nichturteilsförmigen gegebenen Vorstellungen  – unterzieht er mit den nächsten Schritten einer elementaren Formalanalyse, so daß eine Möglichkeit eröffnet wird, unmittelbar in die Fragestellungen der Logik und der Transzendentalphilosophie einzuführen. Diese disziplinenspezifische methodische Grenze zwischen den empirischen kognitionsanthropologischen und den formalen, logischen und transzendentalphilosophischen Schritten springt indessen unmittelbar in die Augen, wenn man beachtet, daß und wie Kant diese methodische Grenze gerade in den einschlägigen Passagen des Abschnitts Vom Erkenntnisvermögen in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht behandelt. Auch hier bildet den Dreh- und Angelpunkt der Überlegungen zunächst einmal ein elementar-psychologischer kognitionsanthropologischer Befund eines Faktums. Er handelt »Von den Vorstellungen, die wir haben«.58 Solche Befunde – ebenso wie die temporalen Charakterisierungen der Zerstreutheit des diese Vorstellungen ›apprehendierenden‹ und sukzessiv begleitenden empirischen Bewußtseins – gehören in die (empirische) Kognitions-Psychologie.59 Doch der Schritt, der aus der so ansetzenden anthropologischen KognitionsPsychologie in die Logik  – und damit in das unmittelbare Vorspiel zur Transzendentalphilosophie – führt,60 beginnt in Kants Rahmen viel früher und auf ganz andere Weise als man es im methodologischen Horizont sowohl der Aristo­ telischen wie der klassischen und auch der nach-Fregeschen Logik erwarten kann. In der Ersten Kritik ist die entsprechende Grenzüberschreitung allerdings durch den schon bemerkten formalen Kunstgriff Kants ein wenig verschleiert – durch die Argumentation mit Hilfe von irrealen Konditionalen wie ›würde ich ein so vielfarbiges Selbst haben‹, ›es wäre eine neue Vorstellung‹ usw.61 Die für den Übergang in die Logik und in die Transzendentalphilosophie wichtigste ausgemachte 58 59 60 61

VII, 135, Hervorhebung R. E.

Vgl. 134*. Vgl. ebd. Zur argumentativen Schlüsselrolle solcher irrealen Konditionale vgl. im einzelnen unten S. 159–161, 165–167, 173–175, 214–216.

Logische Einheit und alogische Vielheit Logische Einheit und alogische Vielheit

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empirisch-kognitionsanthropologische Tatsache, die Kant im Rahmen solcher irrealen Konditionale in der Anthropologie unterstellt, ist insofern die Tatsache, daß ich mich tatsächlich »in den verschiedenen Zuständen [des Gemüts] als ein und dasselbe Subjekt vorstell[e]«.62 Seinen Schritt in die beiden formalen Disziplinen der Philosophie kündigt Kant daher durch eine Bemerkung über eine spezifische Erklärungsschwierigkeit an, die dies und andere tatsächliche ›Phänomene‹ aus derselben Phänomen-Klasse bereiten: »Die Erklärung dieses Phänomens möchte dem Anthropologen ziemlich schwer fallen«.63 Denn diese Erklärung »liegt […] ganz außer dem Feld der hier abzuhandelnden Wissenschaft«,64 also ganz außerhalb des Feldes der empirischen kognitionspsychologischen Anthropologie – eben im Feld der Logik und der Transzendentalphilosophie. Kant betritt das Untersuchungsfeld dieser beiden formalen Disziplinen mithin in einer doppelten methodischen Einstellung. In der einen Einstellung tut er die Schritte auf diesem Feld mit dem Ziel, eine formale Erklärung, also eine Erklärung für die Möglichkeit des empirischen Phänomens des Identitätsbewußtseins zu finden, das das menschliche Subjekt trotz der vielen Vorstellungen unterhält, deren es sich stets nur nach und nach bewußt werden kann, ohne sich in so viele Subjekte zu zerstreuen wie es Vorstellungen gibt, deren jeder einzelnen sich jedes einzelne dieser Subjekte bewußt wäre. Den ersten Schritt, der in dieses Feld führt, tut Kant daher auch mit Hilfe einer Reflexion, durch die er diese doppelte methodische Einstellung direkt demonstriert. Er wirft einerseits einen Blick zurück auf das Unzureichende eines empirischen Erklärungsversuchs und lenkt andererseits die Aufmerksamkeit auf das zentrale Element der formalen Erklärung der Möglichkeit des Bewußtseins der Identität eines Subjekts in der Vielheit der Vorstellungen, deren es sich stets nur nach und nach bewußt werden kann: Die »Beziehung auf die Identität des Subjekts […] geschieht […] dadurch noch nicht, daß ich jede Vorstellung mit Bewußtsein begleite, sondern daß ich eine zu der anderen hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewußt bin«,65 also nur dadurch, daß sich das Subjekt des ›hinzusetzenden‹ und verbindenden Aktes sowohl dieses Aktes als des Einen und selben von ihm selbst vollzogenen Aktes bewußt ist wie auch der einen Vorstellung bewußt ist, die es durch diesen Einen Akt mit einer – oder mehr als einer – anderen Vorstellung verbindet, und umgekehrt: »Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle«.66 62 VII, 134*, Kants Hervorhebung; vgl. hierzu auch unten S. 131, Anm. 95. 63 127. 64 130. Daß Kant hier den Schritt von der Anthropologie in die Logik und in die Transzendentalphilosophie ins Auge faßt, hebt zu Recht mit der angemessenen Ausführlichkeit und Subtilität auch Baum, Logisches Ich, bes. S. 110–112, hervor. 65 B 133, Kants Hervorhebung. 66 Ebd., Kants Hervorhebungen.

122

Dimensionen des Urteilsakts

Das Bewußtsein des verbindenden Subjekts von der Einheit seines verbindenden Akts  – also sein Akt- oder Handlungsbewußtsein  – ist daher konstitutiv auch für das Bewußtsein seiner (numerischen) subjektiven Einheit – und damit seiner Einerleiheit oder Identität – in der Vielheit der durch diesen Einen Akt verbundenen Vorstellungen. Denn »die Verbindung … [kann] nur vom Subjekt selbst verrichtet werden, weil sie ein Aktus seiner Selbsttätigkeit ist. Man wird hier leicht gewahr, daß sie ursprünglich einig ist«.67 Dies Gewahrwerden der ursprünglichen Einheit dieses Verbindungsakts ist deswegen so leicht, weil es aus begriffsanalytischen Gründen wahr ist, daß eine Verbindung von vielen, also von mindestens zwei Elementen zu irgendeiner Form von Einheit unter diesen Elementen stets nur durch Einen und denselben Akt einer solchen Verbindung gelingen kann und daß andererseits eine solche Verbindung auch stets die Verbindung durch Eine und nur Eine, also durch dieselbe Instanz sein kann: »Der Begriff der Verbindung führt außer dem Begriffe des Mannigfaltigen und der Synthesis noch den (Begriff, R. E.) der Einheit bei sich«68  – der multiplen Einheit nämlich, zu deren Gunsten die Vielheit der andernfalls unverbunden, zerstreut bleibenden Elemente überwunden wird, sowie der Einheit des Aktes, durch den diese Verbindung gelingt, und schließlich der Einheit des diesen Einen Akt vollziehenden Subjekts. Wer einen Akt der Verbindung von vielen Elementen mit Bewußtsein vollzieht, ist daher schon aus begriffsanalytischen Gründen an drei Formen von Einheit orientiert – an der Einheit des Akts, durch den die Verbindung gelingt, an der Einheit des Resultats, zu dessen Gunsten die temporal zerstreute Vielheit dieser Elemente mit Hilfe dieses Verbindungsakts überwunden wird, und schließlich an der Einheit des diesen Einen Akt vollziehenden Subjekts, das die Zerstreutheit seines empirischen Bewußtseins in die vielen Begleitungen von entsprechend vielen Vorstellungen zumindest schrittweise überwindet: »Verbindung [ist] Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen«69 gegebener Vorstellungen, so daß ich diese »Vorstellungen als in einer Apperzeption synthetisch verbunden, durch den allgemeinen Ausdruck Ich denke zusammenfassen kann«.70 Mit Blick auf dies so beanspruchbare ›radikale‹ Verbindungsvermögen kann Kant sogar den Existenzmodus des Menschen mit Hilfe einer ersten Minimalcharakteristik erfassen: »[…] und ich existiere als Intelligenz, die sich lediglich ihres Verbindungsvermögens bewußt ist […] in Ansehung des Mannigfaltigen«71 der mir gegebenen Vorstellungen. Auf der Linie seiner beiden methodischen Einstellungen  – der empirischpsychologischen kognitions-anthropologischen Einstellung und der formalen, logischen und transzendentalen Einstellung – gibt Kant damit zu verstehen, daß 67 68 69 70 71

B 130, Hervorhebung R. E. B 131, Hervorhebungen R. E. B 131–132, Kants Hervorhebung. B 138. B 158–159.

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nur die formal reflektierende und analysierende Philosophie zu der sachlich befriedigenden Erklärung der Möglichkeit des empirischen Phänomens des Identitätsbewußtseins des Menschen beitragen kann, weil dafür nur ihre genuin formalen Reflexions- und Analysemittel tauglich sind. In einem allerersten Schritt stößt die entsprechende Reflexion und Analyse auf die zentrale formale Bedingung: Sie ist durch den formalen, also nicht-empirischen Begriff der Verbindung konzipiert, der den Einen und selben Akt der Verbindung von Elementen einer Vielheit durch ein und dasselbe Subjekt unmittelbar auch auf ein und dasselbe Resultat bezieht, zu dessen Gunsten diese Vielheit durch diesen einen und selben Akt eines und desselben Subjekts so überwunden wird, daß die Elemente dieser Vielheit im Ganzen dieser Einheit kohärent verbunden sind. Man sollte sich unter diesen Voraussetzungen nicht durch die buchtechnische Gliederung der Ersten Kritik zu der irrigen Hypothese verleiten lassen, daß die Einheit, die Kant in dieser Form konzipiert, dadurch erschöpfend analysiert werden könnte, daß man die logischen Funktionen der Einheit in den Ur­teilen, die Kant auf den Seiten A 67, B 92 – A 69, B 94 thematisiert und erörtert, erschöpfend erörtert und analysiert – also z. B. so, wie es Klaus Reich in seiner zu Recht berühmten Abhandlung über die Vollständigkeit der kantischen Urteilstafel vorgeführt hat, oder so, wie es zuletzt Michael Wolff in seiner gleich­namigen Abhandlung vorgeführt hat. In diesem Punkt ist mehr als Vorsicht geboten. Denn Kant hat, wie die zuletzt herangezogenen Stellen B 130, 131, 131–132, 138 und 122 f. zeigen (vgl. oben S. 58–159), nicht nur die diese Einheit in vielfältigen Urteilsformen stiftenden Aktcharaktere des Urteilens erörtert. Er charakterisiert diesen Stiftungsakt als »Diejenige Handlung […], durch die das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen […] unter eine Apperzeption gebracht wird« und zwar als »die logische Funktion der Urteile«.72 Er hat darüber hinaus, wie die zitierten B 130er-Stellen zeigen, in der zweiten Auflage der Ersten Kritik in einer zentralen und viel diskutierten Paragraphen-Folge (§§ 15–18) die kognitive Funktion der reinen und ursprünglichen Apperzeption analysiert, die mit Blick auf diese Einheit in den Urteilen einen im Vergleich mit diesen logischen Urteilsfunktionen ursprünglichen und von allen speziellen urteilsfunktionalen Charakteren reinen Charakter besitzt, also gerade keinen eine bestimmte logische Einheit in den Urteilen stiftenden Charakter. Eben in diesem Sinne attestiert Kant dieser ursprünglichen am Akt des Urteilens beteiligten Funktion, daß sie »den Grund […] der Möglichkeit des Verstandes, sogar in seinem logischen Gebrauche, enthält«,73 also in demjenigen Gebrauch, der das unmittelbare Thema des Abschnitts Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt bildet, in dem Kant den Typus der diversen die Einheit in den Urteilen stiftenden logischen Aktcharaktere des Urteilens überhaupt zum allerersten Mal thematisiert. Von diesen diversen die 72 B 143. 73 B 131.

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Einheit in den Urteilen stiftenden logischen Aktcharakteren hat Kant also einen ursprünglichen, diese einheitstiftenden, logischen Aktcharaktere überhaupt erst ermöglichenden Aktcharakter unterschieden. Doch dieser Aktcharakter ist, wie der thematische Zusammenhang der §§ 15–18 zeigt, gar kein anderer als der verbindende, ›coniunctive‹ oder ›synthetische‹ Aktcharakter, durch dessen spontane Aktualisierung es dem Subjekt jeweils möglich ist, zwei oder mehr als zwei temporal zerstreute nicht-urteilsförmige gegebene Vorstellungen so zu verbinden, daß sie in dieser Verbindung für einen logischen, urteilsförmigen Gebrauch überhaupt erst disponibel sind. Kant erörtert diesen einen und selben Aktcharakter im Kontext dieser Paragraphen lediglich zum ersten Mal ausdrücklich mit Blick auf die logische Tragweite, die er für das Subjekt entsprechender Akte eröffnet. Denn er ist es, der einem solchen Subjekt die Möglichkeit eröffnet, von seinen Vorstellungen einen ›logischen Gebrauch‹ zu machen – also einen Gebrauch zugunsten der Stiftung von logischen Einheiten in Form von Urteilen. Wegen dieses schwachen, lediglich die Möglichkeit solcher spezifisch logischen Einheitsstiftungen eröffnenden Potentials dieses Aktcharakters hat Kant ihn auch in einer besonderen, gleichsam noch höheren kognitiven Dimension als in der der unmittelbar urteilstiftenden Funktionen verortet. Der Ort dieses ursprünglichen und von logischen Funktionen reinen kognitiven Aktcharakters macht es für die transzendental-logische Reflexion und Analyse daher nötig, ihn gänzlich unabhängig von den diversen Urteilsfunktionen zu thematisieren, mit deren Hilfe die entsprechende Einheit in unterschiedlichen formal-logischen Modifikationen gestiftet werden kann. Es ist also nötig, daß »wir diese Einheit (als qualitative § 12) noch höher suchen, nämlich in demjenigen, was selbst den Grund der Einheit […] in Urteilen […] enthält«.74 Des­wegen hat Kant in diesem Zusammenhang auch mehrere Winke gegeben, die ganz unmißverständlich signalisieren, daß die thematische Erörterung dieses ursprünglichen, die Einheit in Urteilen noch nicht stiftenden, sondern überhaupt erst ermöglichenden Aktcharakters bei genauerem Hinsehen einem zusätzlichen Abschnitt der Transzendentalen Elementarlehre vorbehalten ist. Dieser Abschnitt müßte aus systematischen Gründen sogar dem Abschnitt noch vorgeschaltet sein, in dem Kant die Aufgabe der vollständigen Darstellung der diversen die Einheit im Urteil stiftenden Funktionen zum ersten Mal zur Sprache bringt. Diejenigen Paragraphen der zweiten Auflage der Ersten Kritik, die den für die Möglichkeit dieser ursprünglichen Einheit erforderlichen kognitiven Aktcharakter analysieren (§§ 15–18), gehören daher der Sache nach und in methodischer Hinsicht sogar noch vor den Ersten Abschnitt Des transzendentalen Leitfadens der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe.75 Nur deswegen kann Kant von dem für 74 B 131. 75 Zu Recht verwendet Reich, Vollständigkeit, daher Elemente aus diesen Paragraphen, bevor er zur Erörterung der spezifisch logischen Urteilsformen bzw. -funktionen übergeht,

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die Möglichkeit dieser logischen Einheit erforderlichen kognitiven Aktcharakter – also vom reinen und ursprünglichen Apperzeptionscharakter76 – auch sagen, er sei »der höchste Punkt, an dem man […] selbst die ganze Logik […] heften muß«,77 und kann der Erörterung seiner ursprünglichen Funktion daher auch die angemessene quasi-disziplinäre, proto-logische Vorrangstellung einräumen. Denn »die Möglichkeit der logischen Form alles Erkenntnisses (also allen Urteilens, R. E.) beruht notwendig auf dem Verhältnis (der uns gegebenen Vorstellungen, R. E.) zu dieser Apperzeption als einem Vermögen«.78 Die Tatsache, daß das Subjekt mit Hilfe seines Verstandes von Vorstellungen »keinen anderen Gebrauchen machen [kann], als daß [es] dadurch urteilt«,79 hängt daher ursprünglich davon ab, daß es auch über das ursprünglichere Vermögen der reinen und ursprünglichen Apperzeption verfügt, zwei oder mehr als zwei Vorstellungen durch einen Akt des Verbindens überhaupt in irgendeine Form von Einheit zu fügen. Kant nutzt daher für seine empiristischen irreal-konditionalen Erörterungen des Mannigfaltigen der nicht-urteilsförmigen Vorstellungen das Format des minimal urteilsreifen Subjekts als kriterielle Orientierungshilfe. Sie gehören dadurch zwar nicht in eine strikte Para-Anthro­pologie des menschlichen Erkenntnisvermögens, fordern jedoch zu empirischen Untersuchungen heraus, die nach Indizien suchen, die auf eine vielleicht extrem frühe post-natale Phase verweisen, in der ein Mensch einem Affektsturm durch ein zerstreutes nicht-urteilsförmigen Mannigfaltigen ausgesetzt ist.80 vgl. Vollständigkeit, §§ 2–3. Wolff, Theory, bemerkt auf derselben Linie zum inneren Aufbau der Transzendentalen Analytik zwar: »Roughly speaking, what actually happens is that Kant begins with the unity of consciousness«, meint aber irrtümlich, »He then draws on […] the categories«, S. 60, weil er irrtümlich meint: »It is fruitless to consider seriously Kant’s professed reasons for adopting precisely this Table of Judgements«, S. 67. Zu der Frage, wie man die von Kant vorgesehene Folge der Schritte von den Urteilsfunktionen zur Metaphysischen Deduktion der Kategorien in nachvollziehbaren Formen rekonstruieren kann, vgl. unten 10.–11. Ab. 76 Vgl. B 132. 77 B 133*, Hervorhebung R. E. 78 A 117*, Hervorhebung R. E. 79 A 68, B 93. 80 Seebaß, Sprache, berücksichtigt bei seinen kritischen Bemerkungen zum sinnlichen Mannigfaltigen, vgl. S. 90 f., nicht den quasi-para-anthropologischen Status, den die entsprechenden Erörterungen bei Kant haben. Paul Guyer, Kant and the Claims of Knowledge, Cambridge 1987, berücksichtigt zwar die proto-logische Rolle von Kants Bemerkungen zum Mannigfaltigen der logisch unstrukturierten Vorstellungen, jedoch schreibt er der reinen und ursprünglichen Apperzeption ihre einheitstiftende Funktion ausschließlich mit Blick auf die Kategorien zu, vgl. S. 131–149, läßt sich also – wie so viele andere – durch die buchtechnische Stellung von Kants Erörterungen des ›höchsten Punkts‹ unter dem Titel »Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe« sowie durch die Charakterisierung dieser Apperzeption als das ›Vehikel‹ der Kategorien in die Irre führen.

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Diese Zusammenhänge zeigen, mit welcher Tiefenschärfe Kant auf die analy­ tischen Aufgaben aufmerksam macht, die jedem gestellt sind, der die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung in aller Strenge am Leitfaden der Urteile zu untersuchen unternimmt. Der Grad dieser Tiefenschärfe zeigt sich nicht zuletzt in dem zunächst eher äußerlich anmutenden Umstand, daß Kant zum tiefsten Analysegrad bzw. höchsten Abstraktionsgrad, der hier möglich und vonnöten ist, erst im Anlauf zur zweiten Auflage der Ersten Kritik mit dem nötigen Tiefblick durchgedrungen ist.81 Nur deswegen haben die Resultate dieser Analysen auch erst im Text dieser zweiten Auflage ihren Niederschlag gefunden. Die Schritte zu dem in systematischer und abstraktiver Hinsicht ›höchsten Punkt‹ sind gleichzeitig die Schritte zu dem für die Analyse am tiefsten liegenden Punkt. Denn dieser Punkt ist in dem dichten Geflecht der funktionalen Komponenten, die auch an jedem Erfahrungsurteil vom paradigmatischen kausalen Typus Die Sonne erwärmt diesen Stein, Die Sonne schmelzt diese Portion Wachs und Die Sonne härtet diese Portion Ton gleichsam am tiefsten verborgen. Die Analysen müssen daher tiefer dringen als bis zu den Wahrheitswerten der Urteile, tiefer als bis zu den zwei- oder mehr-als-zweistelligen Wahrheitswertfunktionen, tiefer als bis zu den Wahrheitsbedingungen der Urteile und sogar noch tiefer als bis zu den logischen Formen bzw. Funktionen der Urteile. Sie müssen, wie Kant schließlich selbst eingesehen hat, den jeweils Einen und selben Akt der Verbindung thematisieren und analysieren, durch dessen Vollzug es jedem Menschen möglich ist, die ursprüngliche temporale Zerstreutheit seines Bewußtseins in eine ursprüngliche Vielheit von temporal zerstreuten nicht-urteilsförmigen Vorstellungen vom paradigmatischen Typus der Vorstellung rot überhaupt zugunsten eines dreifachen Einheitsbewußtseins zu überwinden: 1.) zugunsten des Bewußtseins der Einheit und Identität des diverse Vorstellungen integrierenden Aktes; 2.) zugunsten des Bewußtseins der Einheit und Identität des verbindenden AktSubjekts in der Vielheit der von ihm jeweils durch den Einen und selben Akt verbundenen Vorstellungen; und 3.) zugunsten des Bewußtseins des Einen und selben Resultats, zu dessen Gunsten die ursprüngliche Vielheit von diesem Einen und selben Subjekt durch diesen Einen und selben Akt jeweils verbunden wird. Gleichwohl sind der Verbindungsakt und sein Resultat – eine Einheit in einer Vielheit von nicht-urteilsförmigen Vorstellungen – an sich gar nicht darauf festgelegt, diverse logisch differenzierbare Funktionen zu übernehmen. Für sich genommen, bilden Kants Analysen der ursprünglichen und reinen Apperzeption zunächst einmal einen genuinen Beitrag zur Beantwortung der klassischen formalen Frage der Philosophie, wie die Beziehung zwischen Einheit und Vielheit 81 Die durch R 5553 indizierte und von Adickes auf die Jahre ab 1779 datierte späte erste Formulierung des Paralogismus’ – erst kurz vor dem Beginn der Niederschrift der Ersten Kritik – ist geeignet, die arbeitsökonomisch bedingte Verzögerung dieser Einsicht Kants und ihrer Mitteilung erst in der zweiten Auflage zu erklären.

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bzw. zwischen dem Einen und dem Vielen gedacht werden kann und muß. Seine Antwort lenkt die Aufmerksamkeit auf den Gedanken, daß an dieser Beziehung vier Dimensionen beteiligt sind – 1.) die Dimension der vielen jeweils gegebenen Materialien, 2.) die Dimension des Einen und selben diese Materialien in i­ rgendeiner Form verbindenden Akts, 3.) die Dimension einer diesen Akt spontan vollziehenden Instanz und schließlich 4.) die Dimension einer durch einen solchen Akt gestifteten formalen Einheit der verbundenen Materialien, also der spezifische, wenngleich (noch) unbestimmte Erfolg des Akts der reinen und ursprünglichen Apperzeption. Einheit bzw. Eines kann insofern nur als das Resultat eines ursprünglichen und von allen sonstigen Funktionscharakteren reinen Verbindungsaktes gedacht werden, durch den ein entsprechend befähigtes ­Subjekt eine Mannigfaltigkeit gegebener nicht-urteilsförmiger Vorstellungen zugunsten eines jeweils noch näher zu bestimmenden Typs von Einheit überwinden kann. Nun ist Kant aber von Anfang an darauf konzentriert, die Bedingungen der Möglichkeit derjenigen Erfahrung zu analysieren, an der die Menschen durch unüberschaubar viele Schritte in Form von wahrnehmungsbasierten Erfahrungsurteilen Anteile erwerben können. Die durch die ursprünglichen und reinen apperzeptiven Verbindungsakte gestifteten Einheiten können daher nur dann an diesen Bedingungen beteiligt sein, wenn sie die logischen Formen von Urteilen haben. Andernfalls würde die Möglichkeit der Erfahrung von Vorstellungsverbindungen abhängen, die weder wahr noch falsch sein können. Was unter solchen irrealen Voraussetzungen mit Hilfe des Namens der Erfahrung noch umrissen werden könnte, hätte allenfalls die Struktur eines Traums oder des Wahnsinns,82 also einer rein subjektiven, aber nicht einer auch objektiven Wirklichkeit. Daher liefern Kants Analysen dieses ursprünglichen, die Möglichkeit einer urteilsförmigen Einheit eröffnenden kognitiven Aktes auch ein weiteres Material, mit dessen Hilfe die Binnendifferenzierung der ›genau bestimmten Definition‹ des Urteilsbegriffs um einen weiteren Grad so gesteigert werden kann, daß sowohl ihre theoretische ›Zulänglichkeit‹ wie ihre ›Zweckangemessenheit‹ weiter zunimmt: ›Ein Urteil ist die Handlung, durch die dessen Subjekt Elemente aus einer Mannigfaltigkeit gegebener nicht-urteilsförmiger Vorstellungen mit Hilfe des Gebrauchs von jeweils wohlbestimmten logischen Funktionen (bzw. Formen) sowie mit Hilfe des Gebrauchs von entsprechend wohlbestimmten Kategorien spontan, also selbst so zu einer Einheit verbindet, daß daraus zuerst Erkenntnissen eines Objekts möglicher Erfahrung werden‹. Eine weitere Binnendifferenzierung dieser Arbeitsdefinition ist nicht möglich. Sie kann mit dem hier erreichten Differenzierungsgrad nur noch darauf aufmerksam machen, daß die weiteren Schritte zwei komplexen Analysen vorbehalten sind: 1.) den Analysen, mit deren Hilfe Kants Konzeption der Urteils82 Vgl. B 278–279; vgl. auch IV, 293–294, 376*.

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funktionen das elementarlogische Know-how durchsichtig macht, mit dessen Hilfe das urteilende Subjekt Vorstellungen in der formalen Einheit von Urteilen verbinden kann (vgl. unten 10. Ab. vor allem 3.)), und 2.) den Analysen, mit deren Hilfe Kants Konzeption der Kategorien das Know-how durchsichtig macht, mit dessen Hilfe sich das urteilende Subjekt durch den Gebrauch von Vorstellungen in Urteilen der analysierten logischen Formen auf »etwas = X überhaupt«83 beziehen kann, »was ihnen [den Vorstellungen. R. E.] korrespondiert (der Gegenstand), weil er etwas von allen unseren Vorstellungen Unterschiedenes sein soll«84 (vgl. unten 11.–12. Ab.). Nun bildet der kognitive Akt der reinen und ursprünglichen Apperzeption aber nicht nur den viel diskutierten ›höchsten Punkt‹ der Logik und der ganzen Transzendentalphilosophie. Die sprachliche Formulierung dieses Aktes wird überdies durch den »einzigen Satz […]: Ich denke«85 dokumentiert, der deswegen auch als »der formale Satz der Apperzeption«86 charakterisiert werden kann. Mit diesem ›höchsten Punkt‹ der Transzendentalphilosophie ist indessen auch der höchste Abstraktionsgrad dieses Unternehmens erreicht. Doch Abstraktionen leben nun einmal stets auch von den Elementen, von denen mit ihrer Hilfe abstrahiert wird. Und je höher der Grad einer Abstraktion ist, umso zahlreicher sind nicht nur die Abstraktionsschritte, durch die ein Autor bis zu der These gelangt ist, die er diesen Schritten verdankt. Umso zahlreicher sind daher auch die Schritte, die man tun muß, wenn man die Abstraktionen vollständig wieder rückgängig zu machen sucht, mit deren Hilfe der Autor einer Theorie den Weg gefunden hat, auf dem er im Ausgang vom ursprünglichen konkreten Themenmaterial seines Untersuchungsfeldes zum höchsten Abstraktionsgrad dieser Theorie gelangt ist. Kant hat gerade insofern mit den Pro­ legomena sogar selbst ein Dokument einer Probe eines solchen Rückwegs in das ursprüngliche urteilsanalytische Untersuchungsfeld mit exemplarischen Materialien von mathematischen Urteilen, Wahrnehmungsurteilen, Erfahrungsurteilen und erfahrungstranszendenten Urteilen vor Augen geführt. Gleichwohl bleiben auch auf dem höchsten Abstraktionsgrad immer noch diejenigen Komponenten dieses Themenmaterials in einem Brennpunkt der Aufmerksamkeit, von denen man nicht abstrahieren kann, ohne das ursprünglich thematische Untersuchungsfeld gänzlich zu verlassen. Man kann daher gerade auch extrem abstrakte Theorien wie die Kantische auf eine ihrer wichtigsten methodischen Bewährungsproben stellen, indem man sie auch noch auf ihrer höch83 A 104. 84 105. Das soll bringt offensichtlich in der kürzest möglichen sprachlichen Form den Anspruch auf objektive Gültigkeit oder Wahrheit zum Ausdruck, der mit Urteilen des Typs verbunden werden kann, der im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit von Kants Theorie der Erfahrung steht. 85 A 342, B 400, Kants Hervorhebung. 86 A 354.

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sten Abstraktionsstufe nach dem Aspekt befragt, unter dem sie auf dieser Stufe Rechenschaft über ihren Bezug zu ihrem ursprünglichen konkreten Themenmaterial ablegen können. Wenn dies Material von den Produkten der in so geheimnisvoller Weise tätigen Urteilskraft gebildet wird, dann muß es daher auch auf dem höchsten Abstraktionsgrad einer Theorie dieser Produkte immer noch möglich sein, die Dimension der Urteile zu bestimmen, in der sich die für diese Theorie charakteristische letzte, gleichsam abstraktionsresistente Urteilskomponente findet. Wie sich gezeigt hat, hat Kant in mehreren Formulierungen ausdrücklich Rechenschaft über den Aspekt abgelegt, unter dem die ursprüngliche und reine Apperzeption bzw. der diesen kognitiven Akt formulierende formale Satz Ich denke auch auf dieser abstraktesten Stufe unmittelbar auf die Dimension der Urteile bezogen bleibt. Diese Formulierungen bilden indessen nicht sein letztes Wort zu diesem Thema. Sie eröffnen lediglich den ersten Einblick in die Tragweite, die diese Apperzeption für die formallogische Dimension der Urteile mit sich bringt. Kant ist über die in gewisser Weise proto-logischen Einblicke dieser Formulierungen mit Formulierungen hinausgegangen, die in ihrer wohlabgestimmten Folge einen kohärenten Einblick in den unmittelbaren formalen Zusammenhang zwischen dem Status des denkenden Subjekts dieses apperzeptiven Aktes und der Funktion eröffnen, die dies Subjekt durch sein Denken zugunsten des Urteilens ausübt. Die erste Formulierung klärt den formalen Status, den das Subjekt dieses Denkens in der Ausübung dieser Funktion innehat: »Ich, als denkend Wesen, bin das absolute Subjekt aller meiner mög­ lichen Urteile«.87 Denn die Absolutheit, durch die dies Subjekt in der Rolle charakterisiert ist, die es mit Blick auf alle ihm möglichen Urteile ausübt, besteht darin, daß es im funktionalen Status des Subjekts des alle seine Urteile ermöglichenden Denken als die »unbedingte«88 und rein »formale Bedingung«89 dieses Denkens fungiert – also als die diese Urteile ermöglichende und von keiner anderen Bedingung abhängige Bedingung. Diesem höchsten formalen, konditionalen Funktionsstatus dieses Subjekts und seines Denkens entspricht der Charakter der denkenden Tätigkeit, mit der es diesen Funktionsstatus in jedem konkreten Fall eines ihm möglichen Urteils ausübt: »[…] diese ist ein Aktus der Spontaneität«90, »ein Aktus seiner Selbsttätigkeit«,91 also ein Akt, wie »[…] er nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann«.92 Mit seiner nächsten Formulierung geht Kant sodann genau einen einzigen Schritt über diese 87 A 348. Diesen logischen Status und diese logische Funktion des denkenden Ich thematisiert und analysiert ebenfalls Baum, Logisches Ich, bes. S. 113–116. 88 A 398. 89 Ebd. 90 B 129. 91 B 130. 92 Ebd., vgl. auch B 157*.

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Unbedingtheits- und Sponaneitätscharakterisierungen hinaus, indem er direkt die logische Tragweite ins Auge faßt, die das von keiner Bedingung abhängige, spontane Denken des (unbedingten) Subjekts für jedes ihm mögliche Urteil mit sich bringt: »In allen Urteilen bin ich nur immer das bestimmende Subjekt desjenigen Verhältnisses, welches das Urteil ausmacht«.93 Kant kann daher den funktionalen Charakter der reinen und ursprünglichen Apperzeption auch so zusammenfassen, daß das spontane Denken einer Instanz, die durch ihr spontanes Denken in der Rolle der unbedingten Bedingung aller ihrer möglichen Urteile fungiert, »für sich genommen, […] bloß die logische Funktion«94 ist, also die für den Charakter eines Urteils als Urteil und für

93 B 407, Kants Hervorhebung. Die Absolutheit, Unbedingtheit bzw. Spontaneität mit der das denkend-urteilende Subjekt selbst ›dasjenige Verhältnis bestimmt, welches das (jeweilige) Urteil ausmacht‹, bringt eine Tragweite mit sich, die sogar das einzigartige »Gefühl des Subjekts«, V, 231, betrifft, das Kant in der Dritten Kritik als den Vollzugsmodus des reinen Geschmacksurteils charakterisiert, vgl. 228 f. Doch diese Absolutheit, Unbedingtheit bzw. Spontaneität des Urteilens des urteilenden Subjekts ist in einer bestimmten Form immer noch im Spiel, wenn es im Medium dieses Gefühls – und nur in diesem Medium – ein reines Geschmacksurteil so trifft, daß dies Gefühl »… unmittelbar mit der bloßen Beurteilung … verbunden sein soll«, 289. Kant bringt diesen Spontaneitätsanteil klar genug zum Ausdruck, wenn er mit Blick auf die spontan, also selbst gestiftete Tiefenstruktur eines solchen Urteils formuliert: »[…] die Rose, die ich anblicke, erkläre ich durch ein Geschmacksurteil für schön«, 215, Hervorhebungen R. E. Dieser Anteil besteht darin, daß es sich durch den Akt dieser reinen ästhetischen Beurteilung spontan, also selbst zu Bewußtsein bringt, daß sein so beurteilter »[…] [Zustand des Gemüts] [nicht mit den Gegenständen selbst zu tun] [hat]«, A 260, B 316. Durch die gegenwärtig konventionell gewordene, aber eher krude Wortfügung Selbstgefühl wird eher verdunkelt, daß das Subjekt des reinen Geschmacksurteils im charakteristischen emotionalen Medium dieses  – und nur dieses Mediums  – den charakteristischen und unhintergehbaren Anteil seiner urteilenden Selbst-Tätigkeit, also Spontaneität am reinen Geschmacks­urteil fühlt: Diese Zusammenhänge verkennt Manfred Frank, Selbstgefühl, Frankfurt/M. 2002, vgl. bes. 43–65, 119–120, 12910, 161–162, 226–227, weil er durchweg auf die Kontexte konzentriert bleibt, in denen Kant die Rollen erörtert, die das Ich und das Ich denke für die Erkenntnisurteile – also für die theoretischen Urteile – spielen. Er handelt sich damit den Irrtum ein, Kant die Auffassung zuzuschreiben, »Selbstbewusstsein trete nur an objektgerichtetem Bewußtsein auf«, 120. Doch reine Geschmacksurteile sind nicht objekt-­ gerichtet, sondern lediglich objekt-veranlaßt, aber subjekt-zentriert. Hinzu kommt, daß sich Frank durch Kants wiederholte Bemerkungen über »… die einfache und für sich selbst an Inhalt gänzlich leere Vorstellung Ich«, A 345, B 404, Kants Hervorhebung, verführen läßt, über der Inhaltslosigkeit dieser Vorstellung – und der des Ich denke (!), vgl. S. 16225 – die formalen und die funktionalen Eigenschaften dieser Vorstellung bzw. die formalen und die funktionalen Eigenschaften dieses eminenten Urteils-des-innerenSinns zu übersehen – also die Eigenschaften, die unabhängig von ihrer beider Inhalts­ losigkeit für sie charakteristisch sind: das Fungierende des denkend-­urteilenden Ich bzw. das Spontane des selbst bestimmten ›Verhältnisses welches das Urteil ausmacht‹. Vgl. auch unten S. 150, Anm. 136. 94 B 428.

Logische Einheit und alogische Vielheit Logische Einheit und alogische Vielheit

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dessen logische Binnenstruktur ausschlaggebende Funktion95 – also kurz und prägnant: »Also ist Denken soviel als Urtheilen«96 oder »Wir können nur durch

95 Wenn Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (19291), Frankfurt/M. 19653, dem Ergebnis von Kants transzendentalphilosophischem Entwurf die »Einsicht in den notwendigen Zusammenhang zwischen Anthropologie und Metaphysik« (186) zuschreibt, dann trifft dies in einer sehr wichtigen methodologischen Hinsicht zu. Denn mit Blick auf das von Kant selbst in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ausdrücklich formulierte Erklärungsproblem (vgl. oben S. 120–122) ist es seine Konzeption der die logische Form eines Urteils als Urteil ermöglichenden Funktion des kognitiven Aktes der reinen und ursprünglichen Apperzeption, wodurch jene (formale) Erklärung (der Möglichkeit) des Identitätsbewußtseins des Menschen geliefert wird, ›die dem Anthropologen ziemlich schwer fallen möchte‹. Die Untersuchungen der Ersten Kritik tragen daher von Anfang an – also beginnend mit der Behandlung des ›höchsten Punkts‹ – zu einer nicht-empirischen, also ›reinen‹, nämlich formalen und transzendentalen Anthropologie bei. Im Sinne von Kants methodologischem Kriterium des Metaphysischen als des reinen, also nicht-empirischen Charakters einer philosophischen Disziplin, vgl. A 841, B  869 f., ist eine solche formale und transzendentale Anthropologie daher auch gleichzeitig eine metaphysische Disziplin. Der ›notwendige Zusammenhang zwischen Anthropologie und Metaphysik‹, von dem Heidegger spricht, besteht daher darin, daß es zur (formalen) Erklärung der (Möglichkeit) von bestimmten empirisch zugänglichen kognitiven Tat­sachen oder Phänomenen des menschlichen Lebens wie z. B. des Identitätsbewußtseins aus methodologischen Gründen notwendig ist, die Hilfe einer nicht-empirischen, also reinen Disziplin der (formalen und transzendentalen) Metaphysik zu Hilfe zu nehmen. Diese Zusammenhänge verkennt zum Nachteil seiner ganzen Untersuchung Michel Foucault, Einführung in Kants Anthropologie (frz. 20081), Frankfurt/M. 2010, bes. S. 50–52; sogar da, wo Foucault einschlägige Reflexionen aus Kants opus postumum über »das Ur­theilende Subjekt (das denkende Weltwesen, der Mensch in der Welt […])«, zitiert, S. 71, Hervorhebungen R. E., fehlt ihm jeder angemessene Zugang zum sachlichen und zum methodologischen Spannungsverhältnis zwischen den Befunden der empirischprag­matischen Anthropologie und den formalen Analysen der nicht-empirischen, formal-transzendentalen Anthropologie des denkend-urteilenden Subjekts. 96 IV 304; daher gilt alles, was Kant mit Blick auf die temporale Form des Urteilsakts sagt, unmittelbar auch mit Blick auf die temporale Form der Akte des Denkens. Seebaß, Sprache, klammert in seinen vor allem empirisch orientierten Erörterungen zum Thema Kurze Dauer von Denkleistungen, vgl. S. 339–349, das von Quine, Word, so trefflich ins Spiel gebracht syntaktische Kriterium des minimal kurzen Sprech- bzw. Urteils- bzw. Denkakts, vgl. oben S. 12, Anm., 12, aus. Wenn Kant den Urteilsakt als einen Akt des Denkens auffaßt, dann bildet dies Kriterium auch einen integralen, wenngleich stillschweigenden Teil seiner Theorie. In seiner Auseinandersetzung mit Descartes’ cogitoMeditationen macht Kemmerling, Cogito, darauf aufmerksam, daß sich unter seinen Voraussetzungen »ein deutlicher begrifflicher Unterschied zwischen Denken und Urteilen (cogitare/iudicare) [ergibt]«, 1484. Wie die von ihm erörterten formalen Fallunterscheidungen zeigen – Wahres bzw. Falsches als wahr bzw. falsch beurteilen bzw. nicht beurteilen ergibt Wahres bzw. Falsches bzw. Falsches bzw. Wahres –, setzt er hier einen Urteils-Begriff voraus, der mit dem Urteils-Begriff übereinstimmt, den Descartes, Med. II, sect. 12, als recte iudicare und Frege, Gedanke, als »die Anerkennung der Wahrheit eines Gedankens – das Urteilen«, S. 35, bestimmt. Kants Urteils-Begriff ist davon grundsätzlich unterschieden: Die für das (denkende) Urteilen charakteristische Spontaneität

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Urteile denken«.97 Der Handlungscharakter des Urteils ist zwar urteilsintern auch durch seine temporale, sukzessive Form geprägt (vgl. oben S. 12 f. sowie unten S.  1315, 136226 und 8. Ab.). Doch als Handlungscharakter kommt diese temporale Form gleichwohl erst in zweiter Linie ins Spiel. Denn konstitutiv für den Handlungscharakter des Urteils ist die Spontaneität, vermöge deren die denkende Subjektivität den jeweiligen Urteilsakt sowohl als Urteil wie als Akt durch dessen logische Form prägt. Sie kann diese Spontaneität zwar nur nach und nach, also sukzessiv ausüben. Doch ohne die Spontaneität, mit der sie zwei oder mehr als zwei Vorstellungen in die logische Form eines Urteils fügt, gäbe es gar nicht die Eine Form, innerhalb von der sie Einen Akt der logisch geformten Verbindung von zwei oder mehr als zwei Vorstellungen sukzessive ausüben kann. Doch weil die Subjektivität den Akt des Denkens nur durch solche Akte des Urteilens ausüben kann, ist der vollständigen sprachlichen Repräsentation dieses die logischen Urteilsformen bestimmenden Akts des Denkens erst die (propositional ergänzte) Form Ich denke, daß-p ganz angemessen. Und da Kant selbst argumentiert, daß wir ohne Worte nicht urteilen könnten, implizieren diese beiden Charakterisierungen des Denkens durch das Urteilen auch un­ mittelbar, daß wir ohne Worte auch nicht denken könnten. Wenn Kant im Inhalt der ›genau bestimmten Definition‹ des Urteilsbegriffs ein Potential für die Klärung der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung präsentiert und wenn der spontane apperzeptive Akt des denkenden Subjekts eine unmittelbare Funktion für die logische Form der Urteilsbildung hat, prägt überhaupt erst die logischen Formen, die diesem mentalen Akt den Status eines Urteils verleihen. Zu diesen logischen Formen gehört auch die assertorische Modalität, sofern »alle Urteile […] als assertorisch […] ihrer Wahrheit nach […] mit dem Satz des z. Grundes […] in Übereinstimmung stehen«, XI, 45. Die (assertorische) ›Anerkennung der Wahrheit eines Urteils‹ gehört unter Kants Voraussetzungen nicht zum Begriff des Urteils, sondern ist – neben dem problematischen und dem apodiktischen Modus – eine von drei verschiedenen möglichen, einander ausschließenden modallogischen Formen eines Urteils. Daher kann der Form eines Urteil unter diesen Voraussetzungen auch z. B. der problematische Modus verliehen werden, ohne daß es deswegen weniger ein vollständiges Urteil wäre als wenn es assertorisch geformt würde; zu einem von Kant erörterten Beispiel eines aus epistemologischen Gründen möglichen Wechsels der Urteilsmoda­lität vgl. unten S. 247 f. 97 R 5650, S. 300, Hervorhebung R. E. Wegen dieser These und wegen der entsprechenden Überlegungen zur propositionalen, urteilbildenden Funktion des Denkens im Sinne des Schemas Ich denke, daß […] sowie zur wortsprachlichen Bindung des Urteilens ist Kants Theorie offenbar nicht anfällig für die von Wittgenstein zu Bedenken gegebenen irregeführten und irreführenden Gebrauchsformen des kognitiven Worts denken, vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (engl. 19531), Frankfurt/M. 1960, §§ 22, 25, 32, 92, 95–97, 327–332, 339, 360, 371, 376–377 bzw. S. 524, 534 f.; denn insofern als gilt: »Das Wesen ist in der Grammatik ausgesprochen« (§ 371), ist das Wesen des in Kants Theorie analysierten Denkens in der Grammatik der Phrase Ich denke, daß … ausgesprochen. Vgl. hierzu auch unten S. 130–145, bes. S. 140, Anm. 116, 118, Anm. 120, 142, Anm. 121, 143, Anm. 126.

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dann braucht es auch nicht zu verwundern, daß Kant dies Potential auch auf der abstraktesten Stufe seiner Arbeit an der Theorie der Erfahrung nicht aus den Augen verliert. Denn es ist geradezu konsequent im Sinne einer TransitivitätsRegel, wenn man argumentiert: Wenn dieser Akt eine Tragweite für die Urteile als Urteile und für ihre logischen Formen besitzt und wenn die logischen Urteilsformen eine Tragweite für die Möglichkeit der Erfahrung besitzen – nämlich in Gestalt der Erfahrungsurteile –, dann besitzt dieser Akt auch eine spezifische Tragweite für die Möglichkeit der Erfahrung. Es ist daher offenbar dieser Zusammenhang, der Kant argumentieren lassen kann, daß die spontane Ausübung der reinen und ursprünglichen Apperzeption durch das denkende Subjekt »zwar freilich keine Erfahrung ist, sondern die Form […], die jeder Erfahrung anhängt, […] als bloß subjektive Bedingung derselben«.98 Erfahrung ist also stets nur durch und für ein Subjekt möglich, das die Form dieser Erfahrung durch die von ihm spontan bestimmten logischen Formen (und kategorialen Gegenstandsbezüge) seiner Urteile bestimmt.99

98 A 354, Kants Hervorhebung; vgl. auch A 107: »Es muß eine Bedingung sein, die vor aller Erfahrung vorhergeht, und diese selbst möglich macht«, sowie B 420: »… die Einheit des Bewußtseins, die wir selbst nur dadurch erkennen, daß wir sie zur Möglichkeit der Erfahrung unentbehrlich brauchen«. Man mißversteht daher sowohl das Urteil Ich denke bzw. Ich denke, daß-p wie die von Kant so apostrophierte reine und ursprüngliche Apperzeption und das von Kant so apostrophierte Selbstbewußtsein in jeder Hinsicht gründlich, wenn man auf Kants Funktionsbestimmung fixiert ist, daß es bzw. sie »alle Kategorien als ihr Vehikel begleitet«, A 347, B 406. Klemme, Subjekt, orientiert sich im Rahmen seiner sorgfältigen Paralogismus-Analyse vorwiegend an dieser und verwandten kategorien-funktionalen Bestimmungen des ›höchsten Punkts‹, vgl. S. 298–299, 301 f., 307 f., 310 f., 317–318. Er berücksichtigt in diesem Zusammenhang zwar im Vorbeigehen auch den von Kant in den §§ 16–19. ausgearbeiteten noch radikaleren Gedanken des ›höchsten Punkts‹ als logische Funktion, vgl. S. 317–318, 320 f., vernachlässigt diesen Gedanken jedoch in den hierfür eigentlich zentralen Teilen II. Kapitel I, und Kapitel III .2 seiner Untersuchungen. Auch er scheint in der Auffassung befangen zu sein, die Kant durch die buchtechnische Integration der §§ 15 ff. in den Abschnitt provoziert, der unter dem Titel Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe steht. Die Tragweite, die Kants Gedanke des ›höchsten Punkts‹ als logische Funktion mit sich bringt, hat Klemme zumindest nicht in ihrer Tragweite gesehen. 99 Robert Brandom, Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism, Cambr., Mass./London 2000, mißversteht das Format und die Rolle, die Urteile im Licht von Kants Theorie haben, gründlich, wenn er argumentiert, »that judgements … are to be distinguished from responses of merely natural creatures by their distinctive normative status«, S. 33, B.s Hervorhebung, und daß »Judgements are fundamental, since they are the minimal unit, one can take responsibility for«, S. 160. Vielmehr sind Urteile ›fundamental‹, weil sie die minimal units sind, die unserer logischen Spontaneität entspringen und für die wir nur wegen dieser Spontaneität verantwortlich sein können. Mit einem vermeintlichen »normative status« von Urteilen hat diese Form der Verantwortlichkeit nichts zu tun, hingegen alles und nur mit der Spontaneität der ihnen eingeprägten logischen Formen.

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Diese Zusammenhänge zeigen zur Genüge, daß man die Funktion der reinen und ursprünglichen Apperzeption von Anfang an gründlich mißversteht, wenn man sie mit einem autarken kognitiven Akt identifiziert, der sich in selbstgenügsamer Form in der Struktur desjenigen erschöpfen würde, was Kant wiederholt auch als das Selbstbewußtsein apostrophiert100 und dessen sprachliche Formulierung er sogar ausdrücklich mit »dem Satze, der das Selbstbewußtsein ausdrückt: Ich denke«,101 identifiziert, also mit dem Satz, der das Bewußtsein eines Subjekts ausdrückt, ein Urteil einer beliebigen logischen Form selbst, also spontan zu prägen. Umso wichtiger ist die Klärung des Gedankens, daß dieser Akt eine unmittelbare logisch relevante Funktion für die Urteile als Urteile und ihre formale Binnenstruktur hat. Denn nur dann, wenn man diese logische Relevanz des zentralen kognitiven Aktes für die Verbindungskom­ ponente l­ogischer Funktionen nicht aus den Augen verliert, ist man auch nicht verführt, die reine und ursprüngliche Apperzeption mit einem selbstgenüg­ samen kognitiven Akt eines autarken Selbstbewußtseins zu verwechseln. Das von Kant ­apostrophierte Selbstbewußtsein ist im Licht seiner Theorie das Bewußtsein eines urteilenden Wesens, die für seine Urteile als Urteile charakteristische logische Form selbst zu stiften (vgl. oben S. 121–122). Nun kann man allerdings auch nicht einfach darüber hinwegsehen, daß das Mißverständnis einer solchen Autarkie bzw. Selbstgenügsamkeit durch einige Schlüsselstellen im Text der Ersten Kritik begünstigt wird. An prominentester Stelle kommt hier Kants suggestive Bemerkung in Frage, daß »wir uns [um] dieses Ich, oder Er oder Es […], welches denkt, […] in einem beständigen Zirkel herumdrehen […] müssen«,102 als wenn eine im strikt formalen Sinne zirkuläre Struktur für dies scheinbar autarke Selbstbewußtsein charakteristisch wäre. Doch Kant schränkt den Intentionsbereich seiner anschaulichen Rede von einem Zirkel, in dem wir uns um das denkende Ich ›herumdrehen‹ müssen, sogleich in völlig unmißverständlicher Weise auf die sehr speziellen Fälle ein, in denen »[…] wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um von ihm irgendetwas zu urteilen«.103 Bei diesen speziellen Urteilen handelt es sich daher nur um solche, bei denen sich die »Prädikate des inneren Sinnes […] auf das Subjekt [beziehen], und dieses kann nicht weiter als Prädikat ir100 Vgl. B  132 ff. 101 A 398–399. Ein Subjekt, das in der Form dieses Selbstbewußtsein die logischen Formen von Urteilen durch seine spontanen Akte (selbst) prägt, ist in der Form dieses Selbstbewußtseins auch mit den welthaltigen Dingen verbunden, die es sich in Form von wahrnehmungsgestützten und -bewährten Erfahrungsurteilen erschließt. Für diesen außerordentlichen Spannungsbogen vom ›höchsten Punkt‹ zum ›tiefsten Punkt‹ von »alle[m] Verstandesgebrauch«, B 133*, hat Bickmann, Differenz, den trefflichen Titel der »Einheitsbedingung von Selbst- und Weltbewußtsein«, S. LXIV, geprägt. 102 A 346, B 404; vgl. auch A 366. 103 Ebd., Hervorhebungen R. E.

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gend eines andern Subjekts gedacht werden«,104 also um Urteile wie »Ich bin, Ich denke, Ich handele«,105 also vor allem um das eminente Urteil-des-innerenSinns Ich denke, daß-p, aber indirekt auch um Urteile wie Ich meine, daß …, Ich bin überzeugt, daß …, Ich weiß, daß … und um alle anderen egozentrischen Urteile des Typs, dessen systematische Analyse in unseren Tagen vor allem das Interesse der Epistemischen Logik in so fruchtbarer Weise auf sich zieht. Indessen gilt zunächst einmal ganz allgemein und unabhängig von diesen speziellen Fällen, daß wir uns jederzeit ›der Vorstellung von demjenigen schon bedienen müssen, von dem wir irgendetwas zu urteilen suchen‹ – nicht nur im Falle der Urteile vom Ich, sondern in allen möglichen Fällen der Urteile von irgendetwas. So müssen wir uns beispielsweise in dem Erfahrungsurteil Die Sonne erwärmt den Stein der Vorstellung von demjenigen, wovon wir urteilen – hier also der Vorstellung von der Sonne – schon bedienen, wenn wir von ihr irgendetwas – hier also, daß sie den Stein erwärmt – urteilen. Andernfalls könnten wir gar nicht verstehen, wovon wir jeweils überhaupt irgendetwas urteilen. Kants abstrakte, begriffliche Charakterisierung dessen, was er mit Hilfe der Zirkel-Metaphorik zu veranschaulichen sucht, ist daher zunächst einmal schon deswegen nicht ohne weiteres geeignet, eine zirkuläre Struktur im strikten und generellen Sinne plausibel zu machen, weil sie gar nicht strikt auf die Urteiledes-inneren-Sinnes eingeschränkt ist. Ausschlaggebend für das angemessene Verständnis von Kants sachlichem Motiv, die Zirkel-Metaphorik im Blick auf die Fälle einzuführen, in denen wir irgendetwas ausschließlich vom Ich urteilen, ist vielmehr eine ganz bestimmte formale Komplikation, wie sie sich ausschließlich im Fall der Urteile-des-inneren-Sinns aus einer mehrfachen Rollenverteilung des von Kant apostrophierten Ich ergibt. Denn diese Zirkel-Metaphorik erweist sich bei genauerem Hinsehen als das Ergebnis eines Versuchs zu zeigen, wie man in anschaulicher Weise eine mehrfache Rollenverteilung für das von ihm apostrophierte Ich charakterisieren kann. Die eine Rollenverteilung hat Kant durch die komplementären Charakterisierungen berücksichtigt, daß man im Rahmen von Urteilen-des-inneren-Sinns – und nur von solchen Urteilen – ›irgendetwas vom Ich urteilt‹ und daß man ›sich der Vorstellung vom Ich bedient‹. Doch diese Rollenverteilung durchschaut man nur dann, wenn man zunächst die schon benutzten Reflexionen »Ich, als denkend Wesen, bin das absolute Subjekt aller meiner möglichen Urteile«106 und »In allen Urteilen bin ich nur immer das bestimmende Subjekt desjenigen Verhältnisses, welches das Urteil ausmacht«107 zu Hilfe nimmt. Denn damit stellt Kant klar, daß dies absolute Subjekt als denkendes Wesen spontan 104 IV 334; zum Begriff des Prädikats des inneren Sinns vgl. auch schon A 358 f.; zu Kants Begriff des inneren Sinns vgl. oben S. 90, Anm. 257. 105 XXVIII, 1, 266. 106 A 348. 107 B 407.

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bestimmend nicht nur in allen Wahrnehmungsurteilen, in allen Erfahrungs­ urteilen und in allen anderen theoretischen Urteilen, in allen praktischen Urteilen und in allen ästhetischen Urteilen ist, sondern auch in allen Urteilen-desinneren Sinns – bestimmend nämlich ›dasjenige Verhältnis, welches das Urteil ausmacht‹, also im Fall des Urteils-des-inneren-Sinns Ich denke bzw. Ich denke, daß-p bestimmend das kategorische Verhältnis zwischen dem logischen Subjekt Ich … und dem Prädikat-des-inneren-Sinns … denke bzw. … denke, daß-p dieses Urteils. Daher ist ›die Vorstellung vom Ich‹, deren man ›sich bedient‹, indem man ›das Denken vom Ich urteilt‹, die Vorstellung von nichts anderem als die vom ›Ich als absolutem, die jeweiligen urteilsinternen Verhältnisse bestimmenden Subjekt‹; und das ›irgendetwas‹, das man ›vom absoluten Subjekt urteilt‹, ist das Attribut des Denkens, das man von ihm ›als denkendem Wesen‹ mit Hilfe des Prädikats-des-inneren-Sinns … denke bzw. … denke, daß-p ›urteilt‹. Der springende Punkt in diesem Zusammenhang zeigt sich daher besonders klar, wenn man noch einmal auf die schon einmal zu Hilfe genommene treffliche terminologische Prägung Husserls des fungierenden Ich zurückgreift: Durch das Urteil Ich denke wird das ursprünglich denkend-fungierende Ich und seine die urteilsinternen Verhältnisse denkend-bestimmende Funktion nachträglich mit Hilfe eines Akts der reflektierenden Urteilskraft thematisiert, also in die thematische Materie eines Urteils-des-inneren-Sinns trans-formiert, während die urteilsinterne kategorische Form des Verhältnisses des logischen Subjekts Ich … und des Prädikats-des-inneren-Sinns …denke des Urteils Ich denke wiederum von eben diesem denkend-fungierenden Ich, also vom absoluten Subjekt durch dessen denkend-bestimmende Funktion bestimmt wird. Die wichtigste Rollenverteilung, die Kant mit der Zirkel-Metaphorik des Selbstbewußtseins anschaulich macht, ist daher die zwischen dem unthematisch denkend-fungierenden und dem thematisierten denkend-fungierenden Ich, dem absoluten Ich der urteilsinternen Relationenbestimmung. Erst im Licht der Rollenverteilung zwischen dem unthematisch denkendfungierenden und dem thematisierten denkend-fungierenden Ich kann auch eine Schwierigkeit überwunden werden, die die Klärung des Zirkels des Selbstbewußtseins zunehmend in dem Maß begleitet, in dem die Kontrollen schärfer geworden sind, denen Theorien des Selbstbewußtseins im Licht der methodologischen Errungenschaften der Analytischen Philosophie und speziell der sprachanalytischen Philosophie ausgesetzt sind. Die entsprechende Kontrolle von Kants Thesen zur Zirkularität des Selbstbewußtseins beginnt allerdings am besten im Licht der Überlegungen, die Kant selbst diesem Thema unter diesen Aspekten gewidmet hat: »Denken ist Reden mit sich selbst«.108 Man macht 108 VII 192. Daß das Reden-mit-sich-selbst voraussetzt, gelernt zu haben, wie man mit anderen redet und andere mit einem reden, sagt Kant zwar nicht, gibt er jedoch unmißverständlich zu verstehen wenn er sagt, daß der »positive Teil  der physischen Erziehung […]« des Menschen »vorzüglich in der Übung seiner Gemütskräfte [besteht]«, zu

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daher lediglich eine von Kant selbst erarbeitete Einsicht in die sprachliche Form des charakteristischen mentalen Akts des ›Radikalvermögens der Erkenntnis‹ fruchtbar, wenn man auch die sprachliche Form dieses mentalen Akts zum Material einer Analyse macht, die zur Klärung der These von der Zirkularität des Selbstbewußtsein beitragen soll. Zweckmäßigerweise beginnt man mit der Klarstellung, daß die sprach­liche und speziell die schriftsprachliche Gestaltung der urteilsförmigen Thematisierung des Zentralakts des denkend-fungierenden Ich vom Pronomen der ersten Person Singular Gebrauch macht und der Eindeutigkeit halber mit Hilfe des kleingeschriebenen Pronomen ich denke formuliert werden sollte. Davon verschieden ist Kants von diesem Zentralakt abstrahierende sprachliche Gestaltung der nicht-urteilsförmigen Thematisierung des Subjekts dieses Zentralaktes mit Hilfe des bestimmten Artikels und des großgeschriebenen »das/ des/-dem/das Ich«  – also jenes höchsten, nich-sprachlichen Funktors namens Ich. Kant selbst hat die entsprechenden funktionalen Differenzen zum Nachteil der auf der Oberfläche seiner Texte wünschenswerten Klarheit in der Regel nicht berücksichtigt. Trägt man diesen Differenzen indessen auch in ihrer unvermeid­lichen schriftsprachlichen Formulierung gebührend Rechnung, dann zeigt sich, daß sogar innerhalb von Kants Theorie sachlich gerechtfertigte und methodisch kontrollierbare Schritte vorgesehen sind, die einem Abder ihm in erster Linie die jeweiligen »Eltern […] Gelegenheit geben [müssen]«, IX , 466: Im Medium der Übung seiner Gemütskräfte sind es zuallererst die Eltern eines Menschen, die ihm durch ihre Kommunikation dazu verhelfen, auch zu lernen, wie man mit sich selbst redet, also denkt. Die Erwägungen von Gilbert Ryle, The Concept of Mind (1949), Chicago 1984, zu der von ihm vertretenen und zu Recht als ambivalent eingestuften These »Thinking […] is identical with saying«, S. 330, sind gerade in ihrer englischen Originalversion besonders gut geeignet, das Potential von Kants Theorie fruchtbar zu machen. Denn Ryle verwirft zu Recht die Auffassung »that saying is doing one thing and ­t hinking is doing another«, ebd. Kants Potential ergibt sich aus zwei Quellen – aus der Auffassung, daß ›Denken Reden mit sich selbst‹ ist, und aus seiner in der Ersten Kritik erarbeiteten Unterscheidung zwischen den empirischen und den intelligiblen Charakteren eines und desselben Subtrats: Leibhaftige Handlungen sind gerade mit Blick auf ihre Leibhaftigkeit Träger beobachtbarer, empirischer Charaktere und gleichzeitig mit Blick auf ihr Handlungsformat Träger intelligibler Charaktere, vor allem Träger der Spontaneität, mit der sie von ihren Urhebern selbst getätigt und mit der ihnen praktische, vor allem moralische Charaktere verliehen werden, vgl. A 548, B 576 – A 557, B 585. Reden und Denken sind zwar, wie Ryle zu verstehen gibt, dasselbe Tun, wenngleich einerseits mit empirischen, vor allem zeitlichen, aber auch hörbaren und sichtbaren (Schreiben) Vollzugschrakteren und andererseits mit intelligiblen, vor allem spontanen logischen, kategorial-referentiellen und wahrheits-konditionalen Charakteren. Das Potential von Kants Philosophie bietet daher in diesem Punkt nicht weniger als die Möglichkeit, den Irrungen und Wirrungen konstruktiv vorzubeugen, mit denen sich Ryle in musterhaft repräsentativer Form auseinandersetzt, wenn er die Auffassung kritisiert, in deren Schatten eine These wie Reden und Denken sind dasselbe Tun »will undoubtedly, and harmlessly be stigmatised as ›behaviourist‹«, S. 327.

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stieg vom Ich zum »ich«109entsprechen – dem Abstieg nämlich vom un-thematisiert denkend-fungierenden Ich, also vom un-­t hemati­sierten absoluten, die urteilsinternen (logischen) Relationen bestimmenden bzw. die urteilsinternen (logischen) Verbindungen stiftenden Subjekt zum thematisierten denkend-fungierenden, absoluten Ich des Urteils-des-inneren-Sinns ich denke.110 Denn Kant bringt durch das großgeschriebene »Ich« lediglich mit sprachlich-graphischen Mitteln den eminenten funktionalen Status zum Ausdruck, den das unthematisch denkend-urteilend fungierende Ich innehat. Seine Theorie ist daher in diesem zentralen Punkt nicht im mindesten mit irgendeiner Subjekt-ObjektSpaltung, -Trennung oder einer sonstigen ontologischen oder epistemologischen Kluft zwischen einem wie auch immer konzipierten autarken Subjekt und einem wie auch immer konzipierten autarken Objekt befaßt. Sie ist ausschließlich mit dem funktionalen Rollen- und Statusunterschied zwischen einem unthematisierten und einem thematisierten Subjekt der logischen Verknüpfung von geeigneten Elementen zur formalen Einheit eines Urteils befaßt.111 109 Vgl. zu diesem formelhaften Generalprogramm einer Überwindung aller am großgeschriebenen »Ich« orientierten Theorien des Selbstbewußtseins Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt/M. 1979, bes. S. 68 f. 110 Zur Kant-basierten Kritik an Tugendhats Abstiegs-Programm, das in Wahrheit ein Programm zur Eliminierung aller Thematisierungen eines wie auch immer konzipierten ›großgeschriebenen‹ Ich ist, vgl. auch die allerdings programmatisch gebliebenen Hinweise von Konrad Cramer, Über Kants Satz: Das: Ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können, in: Theorie der Subjektivität, S. 167–202, hier: S. 201, Anm. 18. 111 Das verkennt gerade mit Blick auf Kant Tugendhat, vgl. bes. S. 44–46, 52 f.; vgl. auch hierzu die allerdings wiederum nur programmatische Kritik von Cramer, Kants Satz, S. 20718. Wenn man diesen fungierenden Status berücksichtigt, der in Kants Theorie für das ›großgeschriebene‹ Ich reserviert ist, dann braucht man sich auch nicht durch die Einschätzung von Kitcher, Thinker, irritieren zu lassen, daß »despite Kant’s enormous efforts to limn the contours of the thinker, the resulting theory contains a large hole«, weil er anscheinend »does not work out a good theory of how cognizers are able to use the representation ›I‹«, S. 160, Hervorhebung R. E. Die erkennenden bzw. urteilenden Subjekte machen von dem fungierenden Ich der urteilstiftenden Einheitsbedingung mit jedem noch so elementaren Urteil Gebrauch, indem sie zeigen, wie sie spontan in irgendwelchen logischen oder auch kategorialen Formen urteilen. Kants Theorie hat daher nicht ein ›Loch‹, wie Kitcher es diagnostiziert und das durch eine weiter­gehende Theorie ausgefüllt werden müßte oder auch nur könnte. Denn seine Theorie erörtert in diesem Punkt das Wie einer speziellen unhintergehbaren, unbedingten Gebrauchsbedingung – die Spontaneität und das Spontaneitätsbewußtsein, mit denen jedes urteilende Subjekt Vorstellungen in den logischen und den kategorialen Wie-Formen seines jeweiligen Urteilsakts gebraucht. Wie bei jeder anderen Theorie, die Bedingungen des Wie-Gebrauchs von was-auch-immer erörtert, kann auch das vermeintliche ›Loch‹ in Kants Theorie nur durch das unmittelbare Wie der Ausübung der Spontaneität und dieses Spontaneitätsbewußtseins jedes jeweils urteilenden Subjekts ausgefüllt werden. Deswegen bildet innerhalb von Kants Theorie in erster Linie seine Konzeption der Urteilsfunktionen eine Konzeption des elementar-logischen Wissens, wie von Vorstellungen in bestimmten logischen Urteilsformen Gebrauch zu machen ist, vgl. unten 10.3 Ab.

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Hat man erst einmal diesen funktionalen Rollen- und Statusunterschied geklärt, dann ist es viel leichter, auch den anderen funktionalen, also den anderen Rollen- und Statusunterschieden gerecht zu werden, die Kant in der suggestiven Halbmetapher vom Zirkel des Selbstbewußtseins zusammenfaßt. Die dritte Rolle hat Kant in zwei prägnanten einander ergänzenden Reflexionen auf Begriffe gebracht: »Ich, das Subject, mache mich selbst zum Object«112 und »Ich bin das original aller obiecte«.113 Durch seine robuste, geradezu handwerklich geprägte Rede vom Sich-selbst-zum-Objekt-machen signalisiert Kant in unmißverständlicher Weise zweierlei: 1.) Das denkend-fungierende Ich-Subjekt macht sich überhaupt erst durch seine Bestimmung der kategorischen Form des Urteils-des-inneren-Sinns Ich denke selbst, also spontan bzw. selbsttätig zum ›Original‹, und insofern zum ursprünglichen Muster aller Objekte; 2.) ›das Original aller Objekte‹ ist nichts, was als Objekt vorgefunden werden könnte, so daß man zu ihm in seiner Eigenschaft als Objekt nur nachträglich durch einen speziellen, egozentrischen Akt der Referenz in Beziehung treten könnte. Vielmehr handelt es sich bei der Eigenschaft, das Original aller Objekte zu sein, um eine funktionale Rollen- und Statuseigenschaft, wie sie dem spontan fungierenden Subjekt des apperzeptiven Aktes des Denkens überhaupt nur durch das spontane Urteil-des-inneren-Sinns Ich denke bzw. ich denke verliehen werden kann  – das Machen-zum-Objekt ist hier ein Thematisieren als Objekt. Die vierte funktionale Eigenschaft schließlich des von Kant apostrophierten Ich, die alle anderen dominiert, wird indessen auch im Fall der Urteile-desinneren-Sinns durch Kants Gedanken berücksichtigt: »In allen Urteilen bin ich nur immer das bestimmende Subjekt desjenigen Verhältnisses, welches das Urteil ausmacht«.114 Während die ersten drei Rollen ihr Gepräge noch einigermaßen im Rahmen der referenz- und der prädikat-semantischen Analysen der Gegenwart zeigen können, gewinnt Kant mit der Berücksichtigung der vierten Rolle des von ihm apostrophierten Ich den Schlüssel, mit dessen Hilfe sich unmittelbar die logische Dimension öffnen läßt, in der den spontanen Verbindungsakten des denkend-fungierenden Ich-Subjekts durch eben dies Ich-Subjekt bestimmte Urteilsformen aufgeprägt werden  – beispielsweise die kategorische Form, die Kant den Urteilen-des-inneren-Sinns dadurch attestiert, daß er in der entsprechenden Passage der Prolegomena die »Prädikate des inneren 112 XXII, 93, Kants Hervorhebungen; vgl. auch 58, 69, 72, 77, 79, 87, 89, usw. 113 R 4674. Wegen dieser beiden Reflexionen sollte Vorsicht am Platz sein, bevor man der radikalen These von Rolf-Peter Horstmann, Kants Paralogismen, in: Kant-Studien 83 (1993), S. 408–425, zustimmt, daß »das Ich in keinem denkbaren Sinne als Objekt vorgestellt werden kann«, S. 422, Hervorhebung R. E. Angemessener ist es zu fragen, in w elchem möglicherweise aufschlußreichen und mit Kants Theorie verträglichen Sinne das Ich als Objekt ›vorgestellt‹ werden kann. Auch Klemme, Subjekt, S. 291–292, mahnt daher in diesem Punkt mit Recht zu Vorsicht. 114 B 407, Kants Hervorhebung.

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Sinns«115 als die charakteristischen logischen Funktionselemente solcher Urteile einführt.116 Doch für die Ausübung dieser vierten Rolle – also der Rolle des ›Bestimmenden desjenigen Verhältnisses, welches das Urteil ausmacht‹  – kommt es jedenfalls außerhalb der Transzendentalphilosophie gerade nicht darauf an, daß sie thematisiert und zur Sprache gebracht wird – weder mit Hilfe des Ersten Personalpronomens Ich … an der Subjekt-Stelle noch mit Hilfe des Prädikats-des-inneren-Sinns … denke. Es kommt vielmehr darauf an, daß diese Rolle vom denkenden Ich in spontaner Form und in logisch fruchtbarer Weise ausgeübt wird. Daher bleibt »dieses Ich, […] welches denkt«,117 in allen Urteilen außer in den Urteilen-des-inneren-Sinns und vor allem in dem Urteil-des-inneren-Sinns Ich denke unthematisch, ohne daß deswegen irgendetwas von seiner zentralen spontanen und logischen Funktion für den Urteilscharakter oder für die Urteilsform der Urteile zu kurz kommen würde. Es ist außer in diesen atypischen Sonderfällen nicht der thematische Bezugsgegenstand irgendeines Urteils. Es ist vielmehr – im Sinne des trefflichen Husserlschen Terminus – das ›fungierende Ich‹118 dieser Urteile, also das Ich, das im Medium seiner spontaneitätstiftenden Ingebrauchnahme durch ein urteilendes Subjekt jedem Akt der Verbindung von Vorstellungen überhaupt erst einen jeweils wohlbestimmten logischen Charakter eines urteilsförmigen Aktes aufprägt. Insofern – und nur insofern – ist das Denken des ›fungierenden‹ Ich »bloß die logische Funktion«.119 115 IV, 334; vgl. auch A 359 f. 116 Damit beendet Kant auch das frühere gelegentliche Schwanken in der ersten Auflage der Ersten Kritik, ob die Formulierung Ich denke als »Begriff, oder, wenn man lieber will, […] Urteil« (A 342, B 300) oder in logisch unbestimmter Form als »Text« (A 343, B 401) aufgefasst werden sollte; »der logische Akt Ich denke (apperceptio) ist ein Urteil (iudicium), aber noch kein Satz (propositio)«, XXII, 95. Die Bestimmung eines ent­ sprechenden Typs von Prädikaten gehört offensichtlich zur fruchtbaren Tragweite der relativ späten Entdeckung des Paralogismus, vgl. oben S. 89255 f. 117 A 346, B 404. 118 Vgl. Edmund Husserl, Erste Philosophie (1923/1924). Zweiter Teil, in: ders., Gesammelte Werke. Band VIII, Haag 1959, S.  447 f. Mehr als gelegentliche terminologische Überschneidungen verbindet Husserls transzendentale Egologie und Kants Konzeption des ›höchsten Punkts‹ nicht. Die radikale Differenz läßt sich knapp charakterisieren, wenn man Husserls Unterscheidung »zwischen herrschender und dienender Funktion«, S. 101, des ›fungierenden Ich‹ berücksichtigt. Die Akte, die das ›fungierende Ich‹ ausübt, »sind, wie schon ein flüchtiger Blick lehrt, in der Regel, ja genau besehen immer, mehr oder weniger vielfältig ineinander verflochten, verknüpft, fundiert«, S. 100. Während das ›fungierende Ich‹ diese Akte in Husserls Theorie abwechselnd in dienender oder in regierender Funktion ausüben kann – je nach dem, »worauf das Aktsubjekt und der einheitliche Akt sozusagen hinaus will«, S. 101 –, übt das denkend-›fungierende Ich‹ im Licht von Kants Theorie grundsätzlich die eine und selbe ›regierende Funktion‹ aus, die logische Funktion der ›Bestimmung desjenigen Verhältnisses, welches das Urteil ausmacht‹. 119 B 428. Wegen dieser ›bloß‹, also ausschließlich logischen Funktion des denkend-urteilenden Ich kann Kant zu Recht auch von » dem allgemeinen Satze Ich denke«, B 398, Her-

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In der Sprache der modernen Syntax-Theorie ist es insofern der höchste, allerdings nicht-sprachliche Funktor unter allen von Kant analysierten Funktionalfaktoren der spontan denkenden, urteilenden und erkennenden Subjektivität.120 Jedes individuelle denkend-urteilende Subjekt ist ein diesen Funktor in Gevorhebung R. E., sprechen. Denn er formuliert die logische Funktion, die das (unthematisch) logisch fungierende Ich für die Formungs jedes Urteils als Urteil (und damit auch für jeden Urteilenden als Urteilenden) ausübt. Der vieldiskutierte Satz »Das: Ich denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können« (B 131, Kants Hervorhebungen) gibt unter diesen Voraussetzungen durch die graphische Hervorhebung des Ich denke und des können zu verstehen, daß der das denkend-urteilend fungierende Ich mit ausdrücklichen sprachlichen Mitteln thematisierende Satz deswegen ›alle meine Vorstellungen begleiten können muß‹, weil er lediglich gleichzeitig mit Hilfe einer in Kants Theorie einzigartigen illokutionären Phrase zur Sprache bringt, was das jeweils konkrete individuelle denkend-urteilende Subjekt tut, indem es sich eine Vorstellung durch einen spontanen Akt der reinen und ursprünglichen Apperzeption in Form eines Urteils bewußt bzw. zueigen macht. 120 Zu Recht macht daher Dieter Henrich, Noch einmal in Zirkeln. Eine Kritik von Tugendhats semantischer Erklärung von Selbstbewußtsein, in: Mensch und Moderne. Helmut Fahrenbach zum 60. Geburtstag, Würzburg 1989, S. 93–132, gegen Tugendhat, Selbstbewußtsein, geltend, daß es »bei der Aufklärung von Selbstbewußtsein« darauf ankomme, »sich nach anderem als dem umzusehen, was mit dem geläufigen und tri­v ialen Begriff einer Person gegeben ist, die als solche kompetenter Sprecher ist«, S.  101. Ein »Abstieg vom Ich zum ›ich‹«, wie ihn Tugendhat S. 68–90, fordert, ist daher in Kants Kontext nicht nötig. Nötig ist indessen die sorgfältige Unterscheidung zwischen der gegenständlichen Thematisierung des denkend-fungierenden Ich(-Funktors) aller formalen Urteilsbildung durch ein sprachlich formuliertes Urteil-des-inneren-Sinns und diesem unthematisch denkend-fungierenden Ich(-Funktor). An einem ›Abstieg vom Selbst zum »selbst«‹ hat sich Tugendhat allerdings nicht versucht; vgl. oben S. 82 ff. Einen zumindest ähnlichen Status des Ich scheint Andreas Kemmerling, Die Denkbarkeit des ganz eigenen Ich, in: Archiv für Geschichte der Philosophie Bd. 75 (1993) S. 299–318, im Rahmen seiner Rekonstruktion von Descartes’ Ich-Idee im Augen zu haben, wenn er argumentiert, daß »Das Ich […] das [ist], dessen Existenz durch das Cogito bewiesen wird«, S. 318. Im Unterschied hierzu bedarf es im Rahmen von Kants Theorie zu diesem Beweis nicht des ausdrücklich und nachträglich formulierten Cogito bzw. Ich denke bzw. Ich denke, daß-p, sondern nur irgendeines wie auch immer logisch elementaren Akts des Urteilens-daß-p, das einer reflexiven Transformation in das Urteil-desinneren-Sinns Ich denke, daß-p überhaupt fähig ist. Denn jedes Urteil ist als solches ein Beweis – und zwar ein Tatbeweis – der Existenz des denkend-urteilend fungierenden Ich bzw. seines Inhabers. Die Transformation eines Urteils, daß-p, in ein Urteildes-inneren-Sinns Ich denke, daß-p, ist in Kants Theorie nicht primär ein Beweis der Existenz, sondern ein Akt der Reflexion, durch den der kognitive und temporale Radikalmodus der menschliche Existenz bestimmbar wird: »ich existiere denkend […] enthält die Bestimmbarkeit meines Daseins bloß in Ansehung meiner Vorstellungen in der Zeit«, B 420, Kants Hervorhebungen, also der Vorstellungen vom Ich und vom Akt des Denkens, von denen das denkend-urteilende Subjekt im Zuge des Urteils-des-inneren-Sinns Ich denke bzw. Ich denke, daß-p Gebrauch macht und das wie jedes Urteil ›subjektiv eine Zeitfolge enthält‹; zur kognitiven Mikrozeitlichkeit des Urteilsakts vgl. unten 8. Ab.

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brauch nehmender Repräsentant dieser In-Gebrauch-Nahme. Alle Menschen sind mit ihren denkend-urteilenden Akten gattungsspezifische Repräsentanten dieses einen und selben Funktors.121 In den von Kant mit seiner Zirkel-Metaphorik ins Auge gefaßten Fällen von Urteilen-des-inneren-Sinns handelt es sich daher bei dem von ihm apostrophierten Ich bei genauerem Hinsehen 1.) um das ›kleingeschriebene‹ personalpronominale »ich«, das im Rahmen eines solchen Urteils in der logisch-grammatischen Rolle des Subjekt dieses Urteils zur Bezeichnung des urteilenden Individuums verwendet wird; 2.) um das Ich, das mit Hilfe des Ersten Personalpronomens »ich« in dessen logisch-grammatischer Rolle des internen Subjekts des Urteils zum ›originalen Objekt aller Objekte‹, also zum originalen ReferenzObjekt, zum Referenz-Objekt-Muster aller anderen Referenz-Objekte gemacht wird; 3.) um das individuelle attributive Objekt-Ich, von dem jeweils irgendein Attribut mit Hilfe eines Prädikats-des-inneren-Sinns wie … denke, … existiere oder … handle geurteilt wird bzw. dessen Vorstellung als eines Denkenden, Existierenden bzw. Handelnden sich das urteilende bzw. prädizierende Subjekt des Urteilsakts jeweils bedient; und 4.) um das Ich, das auch mit Blick auf solche Urteile das spontan bestimmende Subjekt des Verhältnisses, speziell desjenigen kategorischen Verhältnisses des grammatisch-logischen Subjekts ich … und eines Prädikats-des-inneren-Sinns wie … denke ist, das als kategorisches Verhältnis jeweils auch ein Urteil-des-inneren-Sinns als Urteil ausmacht. 121 Etwas Ähnliches scheint Anton Friedrich Koch, Subjekt und Natur. Zur Rolle des »Ich denke« bei Descartes und Kant, Paderborn 2004, im Auge zu haben, wenn er vom »Operatorgebrauch«, S.  151 ff., des »ich« spricht. Zu Recht unterscheidet Koch diese Gebrauchsform des Ersten Personalpronomens und den von Wittgenstein thematisierten »Objekt- und den Subjektgebrauch«, ebd. Bloß ein Schein von Ähnlichkeit verbindet den von Koch thematisierten Operatorgebrauch des Ersten Personalpronomens mit der hier im Anschluß an Kant pointierten Funktor-Konzeption des Ich denke aus drei Gründen: 1.) Der Funktor namens Ich ist gerade nicht an den Gebrauch des Ersten Personalpronomens gebunden, sondern daran, gerade ohne jegliche sprachliche Artikulation oder Thematisierung das spontan fungierende Ich bzw. das ›absolute Subjekt aller meiner mir möglichen Urteile‹ zu sein, also ›nur immer das bestimmende Subjekt desjenigen Verhältnisses zu sein, welches das Urteil ausmacht‹; 2.) da auch Koch das Ich denke angesichts seiner buchtechnischen Einführung im Text der Transzendentalen Deduktion der Kategorien in der zweiten Auflage der Ersten Kritik auf dessen Rolle festlegt, ausschließlich »die Kategorien als ihr Vehikel«, S. 150, Hervorhebung R. E., zu begleiten und insofern »das transzendentale Ich denke«, ebd., zu sein, verkennt er »die logische Funktion«, B 428, die das Ich denke primär als ›Vehikel‹ auch der Urteilsfunktionen hat, vgl. auch S. 56 ff., 274 ff. 3.) Die Schlüsselrolle, die das von Kant konzipierte Ich als das in allen Urteilen denkend-fungierende Ich primär für deren logische Formen hat, wird unangemessen herabgesetzt, wenn man meint, es sei als »Pappkamerad-Subjekt qualifiziert«, S. 275. Kochs Vernachlässigung der Urteile-des-inneren-Sinns, die zur reflexiven Thematisierung des denkend-fungierenden Ich als einzige in Kants Theorie systematisch auf die sprachliche Artikulation durch das Erste Personalpronomen angewiesen sind, führt ebenfalls zu einem Manko seiner Untersuchung.

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Welche Tragweite mit der Berücksichtigung des spontan denkend-urteilendfungierenden Ich in Kants Theorie verbunden ist, läßt sich auch indirekt ermessen, wenn man die Sprache der modernen Syntax-Theorie mit der Sprache der überlieferten Metaphysik vergleicht, in der Kant diese Tragweite gelegentlich verdeutlicht. Denn in dieser Sprache ist »das denkende Ich […] die Seele«122 und »Ich, als denkend, heiße Seele«.123 Ein Wesen, das von diesem spontaneitätstiftenden denkend-fungierenden Ich zugunsten von Urteilen als Urteilen Gebrauch macht, wird daher von diesem spontan fungierenden Ich gleichsam beseelt. Stellt man diesen Rückgriff auf die Sprache der überlieferten Metaphysik der Seele gebührend in Rechnung, dann zeigt sich unter einem anderen Aspekt die Tragweite vielleicht sogar noch prägnanter, die Kant für seine Theorie der ursprünglichen und reinen Apperzeption des spontanen denkenden Urteilens ins Auge faßt, wenn er das Vermögen zu solchen Akten als »das Radikalvermögen aller unserer Erkenntnis«124 auffaßt. Denn im Licht von Kants Theorie ist die so konzipierte Seele gar nichts anderes als eben dies Radikal­vermögen. Die Spontaneität, zu der es seine Inhaber befähigt, bildet insofern den genuinen ›seelischen‹ Charakter aller Akte, durch die seine Inhaber von ihm Gebrauch machen. Im Medium der Akte des Denkens, des Urteilens und des urteilsförmigen Erkennens125 – und nur in diesem Medium – zeigt sich die so verstandene Seele.126 Kants Bemerkung, daß der spontane Akt des denkenden Ich auch 122 A 361. 123 A 342, B 400; vgl. auch IV, 334: »Dieses denkende Selbst (Seele)«. Schon überraschend früh knüpft Kant den thematischen Faden, der schließlich zur Konzeption der Sponta­ neität führt, indem er sogar so weit geht, die ›beseelende‹ Funktion des (nicht-sprach­ lichen!) Funktors Ich dadurch zu charakterisieren, daß er vom verbum activum ›ich‹ spricht: »Daß etwas ein subiect sey und kein praedicat (des Eindrucks, apparentia) von einem anderen, können wir auch durch das verbum activum ›ich‹, also durchs Bewußtsein, Erkennen«, R 573. 124 A 114. 125 Angesichts des nicht-kognitiven, emotionalen Charakters der reinen Geschmacksurteile ist es nötig, zwischen Urteilen und urteilsförmigen Erkenntnissen zu unterscheiden. 126 Dieser Sachlage kommt Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe. Zweiter Band. Sudelbücher II. Materialhefte, Bücher, München 1971, in einem gewissen Sinne sehr nahe, wenn er zu bedenken gibt: »Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt«, S. 412 [76]. Das Ich, dessen unthematisch fungierendes Denken jedem Urteilsakt seine charakteristische Spontaneität verleiht, bleibt in jedem Akt des Urteilens – außer in dem Akt des Urteilsdes-inneren-Sinns Ich denke (daß-p) – analog verborgen wie das Subjekt, das die Grammatik einiger Sprachen für den Blitz und verwandte Naturereignisse reserviert. Kant gibt ja aus guten Gründen sogar selbst zu verstehen, daß es im Licht seiner Theorie gleichgültig ist, ob man die denkend-fungierende Instanz als »Ich, oder Er, oder Es«, A 346, B 404, namhaft macht. Ausschlaggebend ist ausschließlich, daß sie durch ihr Fungieren jedem Urteilsakt eine Spontaneität verleiht, wie sie für ein kausal bedingten Naturereignis wie einen Blitz prinzipiell gerade nicht charakteristisch ist. Bloß sehr nahe kommt Lichtenbergs Aperçu der von Kant analysierten Sachlage, weil er die Kontext­bedingungen ver-

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jeder Erfahrung, also jedem Erfahrungsurteil bzw. jeder Erfahrungserkenntnis als subjektive Bedingung ›anhängt‹, gibt daher zu verstehen, daß und inwiefern auch die dem Menschen mögliche Erfahrung zu der ›seelischen‹ Tragweite der spontanen Akte des Urteilens gehört, zu denen das Radikalvermögen aller Erkenntnis seine Inhaber befähigt – insofern nämlich, als es einem Erfahrungs­ urteil wie Die Sonne erwärmt den Stein so ›anhängt‹, daß diese Form des ›Anhängens‹ durch das Urteil-des-inneren-Sinns »Ich denke, daß die Sonne den Stein erwärmt« direkt thematisiert und zur Sprache gebracht wird. Die Schlüsselrolle, die diesem spontan denkend-fungierenden Ich z­ufällt, macht auf zwei Möglichkeiten aufmerksam, Kants Zirkel-Metaphorik in einen begrifflichen Klartext zu überführen. Auf der einen Linie zeigen die vier Aspekte, unter denen Kant das Ich der Urteile-des-inneren-Sinns apostrophiert, daß diese vier Aspekte – analog wie es Klaus Reich in einem verwandten thematischen Zusammenhang erläutert hat  – gleichsam die vier Quadranten eines Kreises bilden, auf dem die vier verschiedenen Rollen des apostrophierten Ich verteilt sind.127 Auf der anderen Linie zeichnet sich für das so zentrale Urteil-des-inneren-Sinns Ich denke bzw. Ich denke, daß-p eine Analyse ab, die auf seine Sonderstellung unter allen Urteilen-des-inneren-Sinns noch einmal aus einem anderen Grund Licht fallen läßt als unmittelbar nur deswegen, weil es den spontanen Akt des denkend-fungierenden Ich thematisiert, der den ›höchsten Punkt‹ des Verstandesgebrauchs, der Logik und der Transzendentalphilosophie bildet. Denn dies spontan denkend-fungierende Ich wird von diesem einzigar­tigen Urteil nicht nur thematisiert. Die Funktion dieser formalen Instanz kommt vielmehr wie bei jedem Urteil ebenso auch bei diesem Urteil dakennt, mit Blick auf die man einschätzen muß, ob die Übersetzung von cogito durch Ich denke »schon zu viel« ist oder nicht. Im Licht von Kants Theorie ist lediglich die Ergänzung eines beliebigen Urteils, daß- p, durch das Präfix Ich denke zu dem Urteil-des-­ inneren Sinns Ich denke, daß-p nur insofern ›zu viel‹, als sie durch Thematisierung lediglich zur Sprache bringt, was unthematisch fungierend den Charakter des Urteils, daß-p, als einer vom urteilenden Subjekt spontan gestifteten logischen, wahrheitsfähigen Einheit von Vorstellungen ausmacht. Hingegen nicht ›zu viel‹ ist die Ergänzung insofern, als sie innerhalb von Kants Theorie eben diese unthematisch fungierende spontane logische Einheitsstiftung jedes urteilenden Subjekts thematisiert, indem sie sie als solche zur Sprache bringt. Es darf hier offen bleiben, welche Tragweite diese Zusammenhänge mit Blick auf Kants Praktische Philosophie mit sich bringen, die im Kern eine Theorie moralischer, rechtlicher und politischer Urteile ist; vgl. jedoch vom Verf., The Cognitive Dimension of Freedom as Autonomy, in: St. R. Palmquist (Hg.), Cultivating Personhood: Kant and Asian Philosophy (Dokumentenband der Tagung Kant in Asia an der Baptist University Hongkong vom 19.–21. Mai 2009), Berlin/New York 2010, S. 233–246, ebenso vom Verf., Spontaneität oder Zirkularität des Selbst­bewußtseins? Kant und die kognitiven Voraussetzungen der praktischen Subjektivität, in: St. Lang und L.-T. Ulrichs (Hg.), Subjektivität und Autonomie. Praktische Selbstverhältnisse in der klassischen deutschen Philosophie. Jürgen Stolzenberg zum 65. Geburtstag, Berlin 2013, S. 51–80. 127 Zu dieser Kreisquadranten-Analogie vgl. Reich, Vollständigkeit, S. 28–29.

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durch zum Zuge, daß es ›das Bestimmende des Verhältnisses‹ ist, das auch dieses Urteil-des-inneren-Sinns als Urteil ausmacht  – also das Bestimmende der kategorischen Form, von der sowohl die urteilsinternen Rollen für das erste Personalpronomen und für das singuläre Prädikat-des-inneren-Sinns wie auch die urteilsexternen Rollen des Referenz-Objekts des Ersten Personalpronomens und des attributiven Objekts der Prädikation abhängen. Der springende Punkt der Gesamtstruktur dieses einzigartigen Urteils-des-inneren-Sinns besteht daher offensichtlich darin, daß auch diese Gesamtstruktur – also das Urteil selbst in Verbindung mit dem es spontan dominierenden denkend-fungierenden Ich – wiederum im Zuge eines neuen Urteils-des-inneren-Sinns thematisiert werden kann – also in der Form »Ich denke, daß ich denke, daß-p«. Es liegt auf der Hand, daß die formalen Kriterien und Gründe, die diese iterative Stufung des einzig­artigen Urteils-des-inneren-Sinns möglich machen bzw. erlauben, es ebenso ermöglichen und erlauben, diese Form der Stufung zu iterieren. Die Gesamtstruktur des einfach gestuften Urteils kann dann genauso wie die Gesamtstruktur des ursprünglichen Urteils wiederum in der zweifach gestuften Form »Ich denke, daß ich denke, daß ich denke, daß-p« thematisiert werden.128 Man könnte angesichts dieser mehrfach gestuften Form versucht sein zu erwägen, daß mit der Struktur des Urteils Ich denke ein Weg in einen sogenannten unendlichen Regreß verbunden sei. Doch mit dieser Erwägung würde man verkennen, daß ein solcher Weg gerade mit einer Theorie des Kantischen Typs nicht zwingend verbunden ist. Denn mit seiner transzendentalen Orientierung an den Erkenntnisvermögen und – im besonderen Fall des spontanen Akts des denkend-fungierenden Ich  – mit der Orientierung am ›Radikalvermögen aller Erkenntnis‹ gibt Kant zu verstehen, daß der Inhaber dieses Vermögens es ganz selbst in der Hand hat, ob er sich damit begnügt, von diesem Vermögen im Zuge eines solchen spontan ›anhängenden‹ Aktes zugunsten z. B. eines Erfahrungsurteils wie Die Sonne erwärmt den Stein einfach in unreflektierter Form Gebrauch zu machen, oder ob er diesen spontan ›anhängenden‹ Akt der reinen und ursprünglichen Apperzeption zusammen mit dem Erfahrungsurteil, dem er spontan ›anhängt‹, durch einen ersten Reflexionsakt in das thematische Pri128 In einer lehrreichen Untersuchung hat Gregor Damschen, Epistemologische Letzt­ begründung. Eine Untersuchung zur Grundstruktur der Formen des Wissens, Diss. Halle 2013, gezeigt, daß eine einzigartige philosophische Satzform durch die Eigenschaft ausgezeichnet werden können muß, einer reflexiven Anwendung, also einer Anwendung auf sich selbst zugänglich zu sein, ohne durch diese Form der Anwendung irgendeine Form eines Widerspruchs, speziell eines performativen Widerspruchs zu provozieren; vgl. bes. S. 88–93. Den paradigmatischen Kandidaten für diese Satzform bildet im Rahmen von Kants Theorie die Urteilsform Ich denke, sofern ihre vollständige Form durch Ich denke, daß-p repräsentiert wird. Denn in dieser – und nur in dieser – Form ist eine Selbstanwendung in der Form (eines Urteils-des-inneren-Sinns zweiter Stufe)  Ich denke, daß ich denke, daß-p möglich, ohne irgendeine Form eines Widerspruchs zu provozieren.

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märmaterial des Urteils-des-inneren-Sinns »Ich denke, daß die Sonne den Stein erwärmt« oder in die eine oder andere formal noch höhere und komplexere Reflexionsstufe eines solchen Urteils wie »Ich denke, daß ich denke, daß die Sonne den Stein wärmt« transformiert.129 In dem von der Forschung viel zu sehr vernachlässigten Anhang Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe130 hat Kant sogar das vollständige Repertoire der spezifischen Mittel aufgelistet, die dem Reflexionsvermögen zugunsten der Befassung mit Elementen auf seinen spezifischen thematischen Feldern zur Verfügung stehen. Aus diesem Repertoire braucht man in einem ersten Schritt lediglich die Reflexionsbegriffe der Form und der Materie zu Hilfe zu nehmen, wenn man die formalen und die funktionalen Zusammenhänge zu analysieren sucht, in denen vor allem Erfahrungsurteile, der Akt der reinen und ursprünglichen Apperzeption und das Urteil-des-inneren Sinns Ich denke mit­einander verflochten sind. Denn einem ursprünglichen Erfahrungsurteil wie z. B. Die Sonne erwärmt den Stein, das eine angebbare logische und kategoriale Form und eine ebenso angebbare wahrnehmungsspezifische Materie hat, wird durch die Thematisierung des ›anhängenden‹ Vollzug des ursprünglichen und reinen apperzeptiven Urteilsakts Ich denke ein neuer funktionaler Status verliehen, indem es vollständig in die Materie des Urteils-des-inneren-Sinns »Ich denke, daß die Sonne den Stein erwärmt« transformiert wird. Man begeht daher im Rahmen einer Theorie wie der Kantischen schon dann einen Reflexionsfehler, wenn man hier von Iterationen spricht, als wenn es sich um eine Art von automatisierbarem formalen Verfahren zur Erzeugung von beliebig vielen stufenförmig angeordneten Schritten reiner und ursprünglicher Apperzeptionen handeln würde. Denn bei der Instanz, die jeden einzelnen dieser iterativen Schritte in ihrer Obhut hat, handelt es sich hier um die logisch und transzendental reflektierende Urteilskraft. Die Reflexionsbegriffe markieren geradezu die angestammten Aspekte, unter denen die reflektierende Urteilskraft ihr angestammtes Geschäft ausübt.131 Doch diese ist nicht so etwas wie ein Prozessor, der, wenn er erst einmal eingeschaltet ist, nicht mehr abgeschaltet werden könnte. In ihren reflexiven Funktionen ist die Urteilskraft vielmehr eine ebenso abwägende kognitive Instanz wie in ihren nicht-reflexiven, bestimmenden Funktionen. In jeder konkreten methodischen Situation obliegt es ihr, die jeweils wichtigen materialen und formalen Problemfaktoren daraufhin abzuwägen, ob im Blick auf 129 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt im Rahmen seiner Rekonstruktion von Descartes’ Konzeption des Denkens Andreas Kemmerling, Ideen des Ich, Studien zu Descartes’ Philosophie, Frankfurt/M. 1996, wenn er bemerkt: »Gedanklicher Aufstieg (und auch die Fähigkeit dazu) ist für Descartes immer trivial. Es geht ja nur um einen billigen Schritt – wie den von dem Gedanken »Es regnet« zum Denken des Gedankens »Ich denke, daß es regnet««, S. 184 40. 130 Vgl. A 260, B 316 ff. 131 Vgl. hierzu vom Verf., Bedingungen, S. 614 f.

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sie der eine oder andere iterative Schritt zur Thematisierung des Ich denke bzw. des »Ich denke, daß-p« angemessen oder sogar nötig ist – also ob es im Blick auf die logische oder die kategoriale oder eine andere Form eines Urteils, daß-p, angemessen ist oder nicht, diese Form in die thematische Materie eines Urteilsdes-inneren-Sinns »Ich denke, daß-p« zu transformieren. Denn durch seine reflexive und ausdrückliche Thematisierung des »Ich denke, daß-p« macht dies einzigartige Urteil-des-inneren-Sinns direkt auf die Spontaneität aufmerksam, durch die der reine und ursprüngliche apperzeptive Verbindungsakt des urteilenden Subjekts andernfalls im stillschweigenden Modus an der thematisierten Form des ursprünglichen Urteils, daß-p beteiligt ist. Die reflektierende Urteilskraft ist mithin vor jedem iterativen Schritt dieses reflexiven Typs zu einer quasi-methodologischen Stellungnahme nach dem Abwägungsschema Ob-es-situationsangemessen-ist-oder-nicht aufgerufen. Daher ist es auch in keiner methodischen Situation der transzendentalen Logik möglich oder notwendig, in einen unendlichen Regreß der Iteration des Ich denke bzw. des »Ich denke, daß-p« zu geraten. Denn man hat es in diesem Licht mit Subjekten zu tun, die Inhaber eines Reflexionsvermögens sind, das ihnen in jedem konkreten Fall unmittelbar die Option eröffnet, von ihm Gebrauch oder aber nicht Gebrauch zu machen, und das ihnen für den Fall, daß sie von ihm Gebrauch machen, ebenso die Option eröffnet, von ihm so oft Gebrauch zu ­machen, wie sie es im konkreten Fall für angemessen halten. Daß ein strikt formalistisch orientierter Logiker seine Aufmerksamkeit auf eine entsprechende Iterationsstruktur vorzugsweise auch um ihrer selbst willen konzentriert, ist nicht nur verständlich. Diese kompetenzspezifische Konzentration hat in der Vergangenheit denn auch schon eine Vielzahl fruchtbarer Einsichten in diverse Typen von Iterationsstrukturen zutage gefördert. Doch mit der strikten transzendentalen Orientierung seiner Analysen an kognitiven Vermögen macht Kant indirekt auch darauf aufmerksam, daß diese sachbereichsspezifisch und methodologisch bedingte Konzentration des Formalisten nicht darüber hinwegzutäuschen braucht, daß jeder einzelne Schritt eines iterativen Weges zunächst einmal davon abhängt, daß es eine Instanz gibt, die von einem für einen solchen Schritt spezifischen Vermögen auch effektiv Gebrauch macht, wiewohl es ihr in jedem konkreten Fall prinzipiell auch freisteht, von ihm keinen Gebrauch zu machen und den jeweils nächstliegenden Schritt – und sogar schon den ersten Schritt – auf einem solchen Weg zu unterlassen.132 Während die zir132 Daß die Abstraktion von einem solchen Subjekt, von seinen kognitiven Akten und seinen kognitiven Vermögen und Fähigkeiten geradezu zu den systematischen Voraussetzungen jeder strikt formalistisch orientierten Konzeption der Iterativität gehört, betont daher zu Recht gerade im thematischen Umkreis von Subjektivität und Metaphysik ­Johann Glöckl, Formalisierung und Formalismus, in: Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für Wolfgang Cramer, Frankfurt/M. 1966, S.  143–162, bes. S.  142 f., 154 f., 160 f. Ebenso zu Recht betont Glöckl, daß ein »Regressus in infinitum […] den Formalis-

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kuläre Struktur des Selbstbewußtseins in dem erläuterten Sinne eine invariante Struktur jedes Urteils-des-inneren-Sinns bildet, in deren Medium sich diese Form des Selbstbewußtseins zeigt, ist eine regressive Iteration des speziellen Urteils-des-inneren Sinns Ich denke, daß-p in unendlich vielen Schritten für das jeweils spontan denkend-urteilende Subjekt weder zwingend notwendig noch realerweise möglich, sondern jeweils lediglich in so vielen Schritten möglich und nötig, wie es ihm angesichts seiner konkreten methodischen Situation angemessen zu sein scheint. Für das Thema einer Theorie der Erfahrung sind diese Zusammenhänge von besonderer Wichtigkeit. Denn gerade in den kognitiven Situationen, in denen sich das spontan denkend-urteilende Subjekt ›auf dem fruchtbaren Bathos der Erfahrung‹ aufhält, ist bereits der allererste reflexive Schritt auf die unterste Stufe eines Urteils-des-inneren-Sinns mit der einfachen Präfix-Form »Ich denke, daß-p«, nicht mehr einer von den Schritten, die geeignet wären, diese Fruchtbarkeit zu fördern. Gefördert wird diese Fruchtbarkeit ausschließlich durch spontanekategoriale Transformationen von schon gewonnenen Wahrnehmungsurteilen in (bewährungsbedürftige und -fähige)  Erfahrungsurteile. Vor allem deswegen findet sich Kant veranlaßt, auch die Reflexion anzustellen, die der Vorbeugung eines Mißverständnisses über den Erfahrungsgehalt des Ich denke dient – es ist »freilich keine Erfahrung«.133 Denn mit der Thematisierung des spontan denkend-fungierenden Ich führt die reflektierende Urteilskraft dies Ich und sein spontan denkendes Fungieren in den Reflexionsstatus eines Materials über, das nach seiner spezifischen Form befragt werden kann. Die erfragte Form wird als ›die Form, die jeder Erfahrung anhängt als bloß subjektive Bedingung derselben‹ beurteilt und in der kategorischen Form Ich denke bzw. »Ich denke, daß-p« unter den Begriff des Urteils-des-inneren-Sinns subsumiert. Doch dieser Schritt vom unthematisierten zum thematisierten spontan denkend-fungierenden Ich gehört bereits, wie Kant durch die Reflexion 5661 unmißverständlich klarstellt, zur nachträglichen, spezifisch transzendentalen Reflexion auf die vom Menschen de facto erfüllten Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung. Er gehört aber nicht zu den Schritten, durch die diese mus zerstört«, 148. Denn der strikt konzipierte Gedanke eines solchen Regressus’ nötigt zur Berücksichtigung einer hinter dem Formalismus stehenden Instanz, die die Fähigkeit besitzt, bis in infinitum führende ›regredierende‹ Schritte zu tun. In eine ähnliche Richtung scheint Ulrich Blau, Die Logik der Unbestimmtheiten und Paradoxien, Heidelberg 2008, zu zielen, wenn er zu bedenken gibt: »Und die formal nicht ausdrückbare Wohlordnung Ω* aller Reflexionsstufen bringt das verborgene Selbst der Formalwissenschaft ans Licht: ein zeitlos-unpersönliches ich-jetzt, das im vergeblichen Versuch vollständiger Selbstobjektivierung alle Stufen erzeugt und transzendiert«, S. 17. Es bleibt allerdings unklar, in welchem Sinne ausgerechnet ein jetzt-relatives ich ›zeitlos‹ und ein ich-relatives jetzt ›unpersönlich‹ sein kann. Oder will Blau zu verstehen geben, daß gerade die Unklarheit dieses Sinns zum Problematischen dieser Wohlordnung ausmacht? 133 A 354.

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­ edingungen von dem Subjekt, das diese Bedingungen erfüllt und sich auf B dem ›fruchtbaren Bathos der Erfahrung‹ aufhält, spontan zugunsten von neuen Früchten der dem Menschen möglichen Erfahrung genutzt werden könnten. Indessen bedarf der logische Status des speziellen Urteils-des-inneren-Sinns Ich denke bzw. Ich denke, daß-p in einer wichtigen Hinsicht noch einer näheren Bestimmung. Denn als Urteilsakt ist es zumindest ein Kandidat für das Format der Wahrheitsfähigkeit. Doch die Gründe der Berechtigung für einen Anspruch auf dies Format sind nicht unmittelbar in seinem isolierten propositionalen Gehalt enthalten. Sie sind außer mit diesem Gehalt in strikter Form mit seiner Funktion verbunden, vor allem die stillschweigend fungierende notwendige Bedingung der Möglichkeit der logischen Form jedes Urteils – auch der seiner eigenen logischen Form – zu sein: »Die Möglichkeit der logischen Form alles Erkenntnisses beruht notwendig auf dem Verhältnis zu dieser Apperzeption als einem Vermögen«134 – also dem Vermögen, zeitlich zerstreute und logisch noch krude Vorstellungen in der logischen Form eines spontanen apperzeptiven Urteilsakts zu verbinden. In dieser Funktion ›hängt‹, wie Kant die Wendung A 354 prägt, der apperzeptive Urteilsakt Ich denke bzw. Ich denke, daß-p jedem Urteil-daß-p stillschweigend in der Form ›an‹, die Funktion des spontan denkend-urteilenden Subjekts im unthematischen Bewußtsein des urteilenden Subjekts wachzuhalten, so daß es sich seiner – und zwar durch die apperzeptive Spontaneität seines Urteilsakts – als ›des (spontan) Bestimmenden des Verhältnisses, das das Urteil-daß-p ausmacht‹, bewußt ist. In dieser unthematischen Anhangs-Funktion eines wachen, aber unthematischen Spontaneitätsbewußtsein erschöpft sich der spontane apperzeptive Urteilsakt. Erst durch die nachträgliche logische und transzendentale Reflexion wird er auf das sprachlich artikulierte Bewußtseins-Niveau eines Satzes gehoben, der diese spontan ›anhängende‹ »logische Funktion«135 des unthematischen, aber wachen Spontaneitäts­bewußtsein thematisiert. Doch da der unthematische apperzeptive Urteilsakt bestimmend ausschließlich für die logischen Formen von Urteilen ist, aber nicht für deren Inhalte, ist seine bestimmende Funktion unabhängig davon, ob das logisch so oder so geformte Urteil wahr oder aber falsch ausfällt – jedenfalls so lange, wie es nicht um die Alternative ›wahr auf Grund der logischen Form allein/falsch auf Grund der logischen Form allein‹ geht. Der sprachlich artikulierte oder sogar dokumentierte Satz bzw. das sprachlich formulierte oder sogar dokumentierte Urteil-des-inneren-Sinns Ich denke bzw. Ich denke, daß-p hat einen Wahrheitswert daher auch ganz unabhängig davon, ob das jeweilige Urteil, daß-p wahr oder aber falsch ausfällt. Als sprachliches Gebilde ist er bzw. es ohnehin ein im Grunde parasitäres Reflexions- und Abstraktionsprodukt, das unabhängig von dem jeweiligen Urteil, daß-p, gar keinen 134 A 118, Kants Hervorhebungen. 135 B 428.

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autonomen Status beanspruchen kann. Einen Wahrheitswert hat er bzw. es nur und immer dann, wenn das unmittelbar urteilende Subjekt mit Blick auf sein jeweils getroffenes Urteil-daß-p nachträglich und im Sinne eines authentischen Kommentars erläutert, ich denke bzw. Ich denke, daß-p.136 Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Kommentar nicht ein autonomer Satz oder ein autonomes (spezielles) Urteil der Transzendentalphilosophie sein kann. Diese Philosophie bringt nur mit Hilfe ihrer formalen Reflexions- und Analysemittel die Gründe ans Licht, aus denen jeder in welchen logischen Formen auch immer Urteilende befähigt und berechtigt ist, ein wahres kommentarisches Urteil zu treffen, wenn er mit Blick auf ein von ihm schon getroffenes Urteil, daß-p, außerdem über sich selbst urteilt ich denke, daß-p. Die Transzendentalphilosophie macht ihn nur nachträglich darauf aufmerksam, daß er durch dies kommentarische Urteil den spontanen Anteil in authentischer Form lediglich nachträglich zur Sprache bringt, in der jeder Urteilende, daß-p, die logische Form bestimmt, durch die sein Urteil, daß-p, wahrheitsfähig ganz unabhängig davon ist, ob es effektiv wahr oder aber effektiv falsch ausfällt. Das kommentarische Urteil-des-inneren-Sinns ich denke, daß-p, ist daher ein stets exklusiv wahres, ein monovalent wahres Urteil.137 136 Manfred Frank, Auswege aus dem Deutschen Idealismus, Frankfurt/M. 2007, sucht einen Ausweg auch aus Kants Transzendentalem Idealismus. Er schließt sich dem Vorwurf an die Adresse Kants an, »keine einsichtige Beschreibung der Struktur von Selbstbewusstsein geliefert zu haben«, so daß er »die Einsichtigkeit seines höchsten Prinzips vernachlässigt«, S. 186, habe. Wenn man die in den vorangegangenen sieben Abschnitten fruchtbar gemachten Elemente von Kants Beschreibung von Struktur und Funktion des Selbstbewußtseins – also des ›höchsten Punkts‹ nicht nur der Logik und der Transzendentalphilosophie, sondern auch allen Verstandesgebrauchs – vernachlässigt, dann ist es nicht im geringsten verwunderlich, wenn man nach einem Ausweg auch aus der Philosophie sucht, mit deren Hilfe man sich in der Dunkelzone dieser Vernachlässigung gleichwohl zu orientieren sucht. Daher ist es auch nicht »Die Frage …: Welchen Preis sind wir bereit, für Überzeugungen zu zahlen, mit denen wir sympathisieren?«, S.  9. Da philosophische Theorien keine mehr oder weniger sympathischen Überzeugungs-­ Waren sind, die ihren Preis hätten, ist die Frage vielmehr: Auf welchem methodischen Niveau unserer Anstrengungen gewährt uns die Arbeit an einer philosophischen Theorie – und zwar auch an einer überlieferten Theorie – Einsichten, wie sie uns keine andere Theorie auf dem ihr angemessenen methodischen Niveau vermitteln kann? 137 Auf eine analoge kommentarische Authentizität macht Eike von Savigny, Zum Begriff der Sprache. Konvention, Bedeutung, Zeichen, Stuttgart 1983, im Anschluß an Wittgenstein, Untersuchungen, aufmerksam. Wittgensteins Bemerkung »Wenn du wissen willst, wen er gemeint hat, frag ihn! […] Und seine Antwort entschiede.«, Teil  II, iii, S.  488, kommentiert von Savigny als die Auffassung vom Recht eines Sprechers, »seine eigenen Äußerungen authentisch zu interpretieren«, S. 272. Während jedoch im Licht von Wittgensteins Auffassung dies Recht der authentischen Selbstkommentierung durch einen Sprecher von den konventionalen Strukturen der sozialen Gemeinschaft abhängt, deren Mitglied dieser Sprecher ist, erörtert Kant am Leitfaden der Urteilsformdes-inneren-Sinns Ich denke, daß-p, nicht ein konventional verbürgtes Recht, sondern

Logische Einheit und alogische Vielheit Logische Einheit und alogische Vielheit

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Der ›höchste‹ reflexive und abstraktive Schritt der Transzendentalphilosophie führt zur Thematisierung des ursprünglichen, also spontanen apperzeptiven Urteilsakts des unthematisch denkend-fungierenden Ich in der Form Ich denke bzw. Ich denke, daß-p. Doch dieser Schritt ist sogar dann, wenn man sich auf das Geschäft der logischen und der transzendentalen Reflexion und Analyse so einläßt wie Kant, nicht der Anfang einer formal notwendigen oder real möglichen unendlichen Iteration dieses Schritts. Vielmehr ist es in das Gutdünken der reflektierenden Urteilskraft sowohl des so philosophierenden Subjekts wie des ursprünglich urteilenden Subjekts gestellt, wie viele Iterationen es diesem ersten reflexiven Schritt angesichts seiner konkreten Problemsituation folgen zu lassen jeweils für angemessen hält. Es fällt daher auch ein aufschlußreiches Licht auf das Urteil, zu dem Kant selbst mit Blick auf einen solchen Iterationsbedarf und mit Hilfe seiner logisch und transzendental reflektierenden Urteilskraft gelangt ist. Mit Blick auf den Reflexionsbedarf seiner Theorie hat Kant es jedenfalls nur allzu offenkundig nicht für angemessen gehalten, auch nur einen einzigen Schritt über die allererste Stufe des Ich denke bzw. des »Ich denke-daßp« hinaus zu tun. Im Licht des einfachen und ersten Reflexionsschritts auf diese Stufe hat Kant in drei Punkten ein für allemal alles über das thematisierte Ich denke bzw. »Ich denke, daß-p« zu bedenken gegeben, was im Rahmen seiner Theorie nötig und hinreichend ist: 1.) Das Vermögen zur Ausübung einer für die Formung von Urteilen-überhaupt notwendigen Verknüpfungsfunktion ist für jeden Urteilenden eine unhintergehbare Bedingung; 2.) die Spontaneität, mit der diese Funktion vom jeweils Urteilenden zugunsten von jedem Urteilüberhaupt ausgeübt werden können muß, ist eine notwendige Bedingung dafür, daß die Verbindungen von Vorstellungen nicht »[…] die bloße Wirkung der Einbildungskraft (in Träumen als im Wahnsinn) seien«,138 sondern Akte eines seiner Urteilsspontaneität bewußten Subjekts dieser Akte sind; 3.) das Bewußtsein der Spontaneität  – also das Selbst- oder besser: Selbst-tätigkeits-bewußtsein – ist das Bewußtsein eines urteilenden Subjekts, die ganze formale Struktur seines Urteilsaktes bzw. die von dessen dokumentiertem Resultat selbst gestiftet zu haben. Da mit diesen drei Punkten alles Wichtige über Form, Funktion und Feld des ursprünglichen apperzeptiven Verbindungsvermögens bzw. -akts zu bedenken gegeben ist, ist eine reflexive Iteration und Thematisierung dieses Vermögens bzw. Aktes über den ersten iterativen Schritt hinaus in zwei Hinsichten überflüssig: Für das logisch und transzendental reflektierende Subjekt ist ein über den ersten Schritt hinausführender Schritt überflüssig, weil alle wichtigen form-, funktions- und feldorientierten Reflexionen und Analysen, die im Rahmen einer Theorie der Erfahrung angemessen sind, schon anläßlich eine von jedem urteilenden Subjekt jederzeit beanspruchbare dispositionelle Fähigkeit zur authentischen Kommentierung jedes beliebigen von ihm getroffenen Urteils, daß-p. 138 B 278–279; vgl. auch IV, 293–294, 376*.

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der Thematisierung des ersten Schrittes erschöpfend angestellt werden können; und für das auf dem ›fruchtbaren Bathos der Erfahrung‹ beheimatete und hier auch unmittelbar spontan tätige Subjekt ist sogar schon der erste Schritt überflüssig, weil er als reflexiver Schritt nicht dazu beitragen kann, von den von ihm erfüllten formalen Bedingungen der Möglichkeit oder denen der Fruchtbarkeit der Erfahrung fruchtbaren Gebrauch zu machen, sondern ausschließlich dazu, diese Bedingungen in einem einzigen, allerdings dem ›höchsten‹ wichtigen Punkt reflexiv und analytisch zu klären.

8. Die kognitive Mikrozeitlichkeit des Urteils: Die Drei-Synthesen-Konzeption Die Probleme, die Kant unter der metaphorischen Kennzeichnung des ›höchsten Punkts‹ der Logik und der Transzendentalphilosophie thematisiert, er­örtert und analysiert, sind nur allzu offenkundig um ein Vielfaches komplexer als es diese Metapher andeutet und auch als es die buchtechnische Präsentation dieser Probleme und ihrer Analysen durch die Erste Kritik vor Augen führt. Der Komplexitätsgrad dieser Probleme und ihrer Analysen steht geradezu in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu der metaphorischen, der sprachlichen und der grammatischen Einfachheit der Mittel, mit deren Hilfe sie von Kant eingeführt und erörtert werden. Das geradezu klassische Indiz für diese Disproportion bietet das rührend einfache Mikro-­Urteil-des-inneren-Sinns Ich denke bzw. »Ich denke, daß-p«. Erst durch die Entwicklung der Epistemischen Logik seit ungefähr der Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat die Philosophie wieder gelernt, wie fruchtbar es sein kann, wenn sie ihre Untersuchungen auch durch die Thematisierung von kognitiven Akten, Erfolgen, Einstellungen und Dispositionen leiten läßt, die ebenfalls an so einfachen sprachlichen Repräsentationen wie »Ich erkenne, daß-p«, »Ich meine, daß-p« oder »Ich weiß, daß-p« orientiert sind. Die Arbeitserfahrungen, die auf der Linie dieser Forschungsrichtung gewonnen worden sind, haben längst gezeigt, daß die Einfachheit auch dieser sprachlichen Repräsentationen in keinem kommensurablen Verhältnis zur Komplexität dieser Untersuchungen und der mit ihnen thematisierten logischen und kognitiven Strukturen steht. Die geradezu exponentielle Entwicklung der Beiträge zur Lösung des Wissensproblems in der Tradition von Platons Dialog Theaitet – eher vordergründig in der Gettier-Tradition139 – hat am Beispiel von ungezählten Analysen von sprachlich-grammatisch simplen Wissens­attesten 139 Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit dieser Tradition vom Verf., Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht, Göttingen 2005, sowie zuletzt: Methodenprobleme und Scheinprobleme in der Gettier-Tradition der Erkenntnistheorie, in: Annuario Filosofico 27 (2011), S. 269–300.

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der Formen S weiß, daß-p bzw. ich weiß, daß-p in paradigmatischer Weise gezeigt, wie inkommensurabel komplex eine methodisch sorgfältige Auseinandersetzung mit den kognitiven und den logischen Strukturen ausfällt, die hinter solchen simplen Formen viel mehr verborgen sind als daß sie sich darin zeigen würden. Durch die Thematisierung des spontan denkend-fungierenden Ich mit Hilfe des sprachlich-grammatisch simplen Mikro-Urteils-des-inneren-Sinns Ich denke bzw. »Ich denke, daß-p« hat Kant indessen auf einen kognitiven Akt aufmerksam gemacht, der in dem Sinne radikal-elementar ist, daß er mit allen anderen kognitiven Akten als deren Radikal-Akt verwoben ist. Denn ohne den kognitiven Radikal-Akt dieses spontanen Typs könnte nicht einmal die primitivste der logisch-propositionalen Urteilsformen … daß-p gebildet werden, die der Erkenntnis-daß-p eines Erkennenden-daß-p, der Meinung-daß-p eines Meinenden-daß-p bzw. dem Wissen-daß-p eines Wissenden-daß-p ihren wahrheits­ fähigen, propositionalen Charakter vermitteln. Ohne diesen spontanen kognitiven Radikal-Akt wären sogenannte Erkenntnisse, Meinungen bzw. Wissensformen und andere kognitive Akte, Erfolge und Einstellungen subjekt- und propositionenlose, unverfügbare Widerfahrnisse, die ein anthropomorphes Medium in einem analogen ontolo­gischen Status durchströmen würden wie physiologische, physikalische und chemische Zustände, Zustandsänderungen und Prozesse. Allerdings stand auch Kant in seiner problemgeschichtlichen Situation vor einer schwierigen methodischen Aufgabe. Er mußte nicht nur einen Weg finden, auf dem es gelingt, den primär die logischen Einheitsformen und -funktionen stiftenden Akt der Apperzeption des spontan denkend-fungierenden Ich auszuarbeiten. Er mußte diesen Weg auch so ausarbeiten, daß sichtbar wird, daß an diesem Weg weder die logik-abstinenten empiristisch-psychologistischen Erkenntniskonzeptionen Lockes und Humes noch Descartes’ oder Leibniz’ ebenso logik-abstinente, aber nicht-empiristische Konzeptionen des Ich denke den geringsten Anteil haben können.140 Gewiß bereiten Kants einschlägige Texte mancherlei Schwierigkeiten, weil sich einzelne Formulierungen dem Verdacht aussetzen, durch psychologistische Oberflächenbedeutungen allzu widerspenstig gegen eine rein formale und funktionalistische Interpretation des Formulierten zu sein. Doch hier hilft die konzentrierte Aufmerksamkeit auf dasjenige Element in Kants Konzeption weiter, über dessen Eigenart Kant seine Leser zwar niemals im Unklaren läßt, das er aber nicht direkt thematisiert und problematisiert, um es in hinreichend auffälliger Weise zum Thema einer mehr oder weniger ausführlichen theoretischen Erörterung zu machen. Dies Element wird durch den Begriff berührt, ohne dessen Gebrauch Kant auf fast keiner Seite der Transzendentalen Analytik auskommt – durch den Begriff der Handlung. Von Verstandeshandlungen, von der Handlung des Urteilens, vom Akt 140 Zur Abgrenzung gegen Descartes’, Lockes, Leibniz’ und Humes Konzeptionen vgl. die markanten Klarstellungen bei Carl, Kommentar, S. 60–71.

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der Spontaneität des Verbindens von Vorstellungen, von Synthesis-Akten unterschiedlicher Typen, vom Gebrauch von Begriffen und von anderen Typen mentaler Handlungen und Aktivitäten ist auf Schritt und Tritt die Rede. Wenn Kant überdies in seiner ausgereiften Arbeitsdefinition des Urteilsbegriffs festhält, daß das Urteil eine Handlung ist,141 dann gibt er sogar direkt zu verstehen, daß der Begriff der Handlung ein Grundbegriff auch seiner Theoretischen Philo­ sophie ist. Und da Kant auch die reine und ursprüngliche Apperzeption – also den ›höchsten Punkt‹ – als einen »Aktus der Spontaneität«142 bzw. »Aktus [der, R. E.] Selbsttätigkeit«143 charakterisiert, gibt er darüber hinaus nicht weniger zu verstehen, als daß seine Handlungskonzeption sogar noch höher als der ›höchste Punkt‹ verortet ist – vorausgesetzt, er spricht nicht im metaphorischen Sinne von Handlungen und Akten, wenn er von solchen mentalen Akten spricht. Bei alledem ist es von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit sowohl in methodischer wie in sachlicher Hinsicht, daß es für Kant eine der ausdrücklichen Erwähnung nicht bedürftige Selbstverständlichkeit ist, daß der Urteilsakt ein auf den Gebrauch von Worten – also von Trägern sprachlicher Bedeutungen – angewiesener sprachlicher Akt ist.144 Die entsprechende linguistische Hintergrundthese Kants besagt daher, daß jedes Wort als Wort seine Bedeutung hat, durch die es in unabdingbarer Form zum jeweiligen Urteil seiner Verwendung beiträgt. Dem entspricht daher seine epistemologische Vordergrundthese »Alle Vorstellungen haben als Vorstellungen ihren Gegenstand«,145 die dadurch in unabdingbarer Weise zum jeweiligen Urteil ihrer Verwendung beitragen. Allerdings ist diese These unscharf formuliert. Denn sie suggeriert durch ihren Kollektiv-Quantor »Alle …« und den Singular »… Gegenstand«, als wenn alle Vorstellungen denselben Gegenstand hätten. Doch so wenig wie alle Worte dieselbe Bedeutung haben, so wenig haben alle Vorstellungen denselben Gegenstand. Unmißverständlicherweise hätte Kant daher im distributiven Sinne formulieren können, daß jede Vorstellung als Vorstellung ihren Gegenstand hat, also im Sinne der alltäglichen Gebrauchsgrammatik eine Vorstellung von etwas ist bzw. etwas vorstellt – analog wie jedes Wort als Wort eine Bedeutung hat, also etwas bedeutet. Ausschlaggebend ist indessen die strikte Korrespondenz, die Kant in seiner Urteils-Theorie mehr oder weniger stillschweigend für die Beziehung zwischen dem Bedeutungen-haben von Worten-in-Urteilen und dem Gegenstände-haben von Vorstellungen-in-Urteilen vorsieht. Diese innertheoretische Korrespondenz hat zur Konsequenz, daß buchstäblich alles, was Kant mit Blick auf die Rollen von Vorstellungen in Urteilen und mit Blick auf die urteilstiftenden Formen von Synthesen von Vorstellungen zu bedenken gibt, ebenso 141 Vgl. IV, 474* sowie oben S. 11 f., 106 f. 142 B 130, Hervorhebung R. E. 143 Ebd. 144 Vgl. oben S. 77–83, 136–138. 145 A 108, Hervorhebung R. E.

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mit Blick auf die Rollen von Worten in Urteilen wie mit Blick auf die urteilstiftenden Formen der Verknüpfungen von Worten zu bedenken gegeben werden kann. Ein Versuch, den formalen Bedingungszusammenhang zwischen Urteil und Erfahrung im Licht von Kants Theorie der Erfahrung zu klären, ist daher gut beraten, wenn er diese Korrespondenz auf Schritt und Tritt – wenngleich in der Regel nur stillschweigend – in Rechnung stellt. Unter diesen Voraussetzungen ist es bedeutsam, daß Kant tatsächlich eine Handlungskonzeption entwickelt hat, deren Tragfähigkeit und Tragweite sogar so weit reichen, daß sie sowohl mentale und sprachliche wie nicht-mentale und nicht-sprachliche Handlungen umfassen. Ihren buchtechnischen Ort bilden – entgegen dem ersten Anschein – »vier Nummern,« denen Kant lediglich die Aufgabe zuschreibt, »den Leser mehr vorzubereiten, als zu unterrichten«.146 Doch trotz dieser anscheinend nicht sonderlich anspruchsvollen, propädeutischen Aufgabe sollen diese Passagen nichts weniger bieten als »eine Leitung auf drei subjektive Erkenntnisquellen, welche selbst den Verstand und, durch diesen, alle Erfahrung, als ein empirisches Produkt des Verstandes möglich machen«.147 Die Vorbereitung, die dem Leser in den ersten drei der angekündigten vier Nummern vermittelt wird,148 bietet bei genauerem Hinsehen nicht mehr und nicht weniger als die wichtigsten Elemente einer allgemeinen Theorie der Handlung.149 Es mag zwar zunächst befremdlich klingen, daß man zu einer allgemeinen Theorie mit diesem Thema beitragen kann, wenn man die Beiträge erörtert, mit denen die »Synthesis der Apprehension in der Anschauung«,150 die »Synthesis der Reproduktion in der Einbildung«151 und die »Synthesis der Rekognition im Begriffe«152 an der Struktur der Handlung beteiligt sind. Zwar versteht es sich noch von selbst, daß mentale Akte und insbesondere urteilsförmige Akte 146 147 148 149

A 98. A 97–98; vgl. auch A XVI–XVII . Vgl. A 98–104. In diese Richtung zielt auch Carl, Kategorien, S. 18188, in Verbindung mit einer zutreffenden Kritik an der von Dieter Henrich, Die Identität des Subjekts in der transzendentalen Deduktion, in: H. Oberer und G. Seel (Hg.), Kant. Analysen-Probleme-Kritik, Würzburg 1988, S. 39–70, entwickelten Auffassung, daß für das Bewußtsein der eigenen Identität in Kants Theorie eine »cartesianischen Gewißheit«, S. 43–44, 69 f., charakteristisch sei. Auch in seiner früheren, systematisch weiter ausgreifenden Schrift geht Dieter Henrich, Identität und Objektivität. Eine Untersuchung zu Kants transzendentaler Deduktion, Heidelberg 1976, trotz der vielversprechenden Abschnitts-Überschrift »5. Identität des Selbstbewußtseins und Identität der Handlung (Analyse eines Textes)«, S. 101–107, an der konditionalen Rolle vorbei, die die Identität der apperzeptiven Handlung des Verbindens von Vorstellungen für die Identität des Subjekts dieser Handlung und für das reflexive Bewußtsein dieses Subjekts von seiner Identität im Medium dieser Handlung besitzt, vgl. hierzu oben 7. Ab. 150 A  98 ff. 151 A  100 ff. 152 A  103 ff.

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der Verbindung von Vorstellungen solcher Bewußtseinsleistungen bedürfen. Doch zunächst wird mit der Thematisierung der drei apostrophierten kognitiven Leistungen auch nicht mehr zu verstehen gegeben, als daß der Handlungscharakter einer Handlung wesentlich auch von entsprechend differenzierten Bewußtseinsleistungen des Subjekts der jeweiligen Handlung abhängt. Wenn Kant den vier Nummern die Aufgabe zuschreibt, ›eine Leitung auf drei Erkenntnisquellen zu bieten, welche selbst den Verstand möglich machen‹, dann gibt er direkt nicht mehr und nicht weniger zu verstehen, als daß die Erörterung dieser drei Erkenntnisquellen in den ersten drei Nummern eine völlig andere methodische und auch systematische Funktion hat als es ihre buchtechnische Stellung auf den Seiten A 98–104 am Anfang der ersten Fassung der Transzendentalen Deduktion der Kategorien signalisiert. Denn der Verstand, der durch diese drei Erkenntnisquellen erst möglich gemacht wird, wird durch die Analyse seines ›logischen Gebrauchs‹ im Vorspann zur Urteilstafel A 67, B 92 – A 69, B 94 als ein wirkliches und wirklich logisch brauchbares Vermögen stillschweigend bereits vorausgesetzt. In den Anfangsparagraphen der zweiten Fassung der transzendentalen Kategorien-Deduktion setzt Kant im Rahmen seiner hier konzentriert durchgearbeiteten Konzeption des apperzeptiven Verbindungsakts – wenngleich nur im Rückblick – ein sogar noch deutlicheres Signal für die methodische und die systematische Verortung der Konzeption der drei Erkenntnisquellen, die den wirklichen Verstand als ein wirklich logisch brauchbares Vermögen allererst möglich machen. Denn er charakterisiert hier die Einheit, deren Begriff »der Begriff der Verbindung [bei sich] führt«153, dadurch, daß »wir diese Einheit (als qualitative § 12) […] in demjenigen [suchen müssen], was selbst den Grund […] der Möglichkeit [Hervorhebung R. E.] des Verstandes, sogar in seinem logischen Gebrauche, enthält«.154 Diese gesuchte Einheit ist indessen gar nichts anderes als die »Einheit der Handlung«,155 »verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzutun«,156 so daß das Subjekt dieser Handlung des Zueinander-hinzutuenden-Verbindens »die logische Form eines Urteils zustande […] bringt«.157 Kant gibt also viererlei zu verstehen: 1.) Der Begriff der Handlung ist der Grundbegriff auch der Theoretischen Philosophie; 2.) die Spontaneität der kognitiven Handlung des Verbindens von verschiedenen Vorstellungen zugunsten der logischen, formalen Einheit eines Urteils bildet den elementarsten von der Theoretischen Philosophie ermittelbaren formalen Ursprungscharakter des dem Menschen möglichen Handelns; 3.) die Einheit einer solchen Handlung in der Vielheit der durch sie in der logischen Form eines Urteils verbundenen Vorstellungen bildet – unbeschadet der Spontaneität einer solchen Handlung – 153 B 131. 154 Ebd. 155 A 68, B 93, Hervorhebung R. E. 156 A 77, B 103. 157 A 79, B 105.

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den elementarsten von der Theoretischen Philosophie ermittelbaren formalen Erfolgscharakter des dem Menschen möglichen Handelns; 4.) wenn die drei ›Erkenntnisquellen‹ der Synthesis der Apprehension in der Anschauung, der Synthesis der Reproduktion in der Einbildungskraft und der Synthesis der Rekogni­ tion im Begriff den Verstand sogar in seinem logischen Gebrauch allererst möglich machen, dann bedeutet dies, daß sie es sind, die auch des Verstandes kognitive, apperzeptive Handlung des Verbindens von verschiedenen Vorstellungen zugunsten der logischen Form eines Urteils allererst möglich machen. Die Erörterung dieser drei Erkenntnisquellen gehört daher mit Blick auf diese ihre Ermöglichungsfunktion sowohl in methodischer wie in systematischer Hinsicht ebenso vor die Analyse des wirklichen ›logischen Verstandesgebrauchs überhaupt‹ wie die §§ 15–16 der zweiten Fassung der Ersten Kritik. Für diese Erörterung gilt daher dieselbe Inkongruenz zwischen ihrer buchtechnischen Stellung und ihrer methodischen und systematischen Funktion wie für diese Paragraphen. Die Inhalte der entsprechenden Passagen dieser beiden Fassungen sind daher auch gänzlich unabhängig von Kants Unterscheidung zwischen einer subjektiven und einer objektiven transzendentalen Deduktion der Kategorien, wie er sie in der Vorrede zur ersten Fassung der Ersten Kritik einführt158  – wiewohl selbstverständlich umgekehrt beide Deduktionstypen sowohl von der Drei-Erkenntnisquellen-Konzeption wie von der Konzeption der Spontaneität des apperzeptiven Verbindungsaktes abhängig bleiben.159 Es wird sich daher zeigen, daß zwischen den beiden Anfangsteilen der beiden Fassungen der Deduktion ein unmittelbarer methodischer und systematischer Zusammenhang besteht: Mit seiner Konzeption des spontanen Akts der apperzeptiven Verbindung von Vorstellungen zugunsten von Urteilen-überhaupt in der zweiten Fassung zieht Kant lediglich die begriffsanalytischen und handlungstheoretisch wichtigsten Konsequenzen aus den ›vorbereitenden‹ Erörterungen der Drei-Erkenntnisquellen-Konzeption der ersten Fassung; in der Drei-Erkenntnisquellen-Konzeption der ersten Fassung steht Kant indessen noch um einen Analyse-Schritt hinter der Konzeption der Synthesis, die er in der zweiten Fassung als den spontanen apperzeptiven Verbindungsakt des Ich denke bzw. »Ich denke, daß-p« einer begriffsanalytischen Erörterung unterzieht. Er tut in der ersten Fassung also insofern gleichsam den zweiten vor dem ersten Schritt, als er durch diesen zweiten-vor-dem-ersten-Schritt eine in der zweiten Fassung nicht mehr enthaltene temporale und bewußtseinstheoretische Differentialanalyse des apperzeptiven Synthesis-Akts liefert. Das einzige, aber fast bis zur Unerkennbarkeit verkürzte Element des temporal orientierten Teils dieser Differentialanalyse bildet in der zweiten Fassung Kants These: »[…] das empirische Bewußt158 Vgl. A XVI–XVII . 159 Zu der Frage, inwiefern und wie die beiden Deduktionstypen von diesen beiden Konzeptionen abhängen, vgl. Zweiter Teil.

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sein, welches verschiedenen Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut«.160 Denn diese An-sich-Zerstreutheit hat keine andere als die temporale Form  – also die temporale Form der Zerstreutheit –, die Kant in der ersten Fassung am Leitfaden der Analyse der drei Synthesen durchsichtig macht. Erst beide Konzeptionen zusammen bilden daher auch die vollständige Theorie des ›höchsten Punkts‹. Ohne die jeweils andere bleibt die vollständige Struktur des spontanen apperzeptiven Verbindungsaktes als eines Aktes bzw. als Eines Aktes in jeweils einer anderen Hinsicht undurchsichtig. Einen von dieser Theorie Kants relativ unabhängigen Leitaspekt für die sachliche Plausibilität der Gesamtkonzeption dieser Struktur kann man sich klarmachen, wenn man berücksichtigt, daß für Handlungen ganz allgemein die temporale, sukzessive Form charakteristisch ist: Wir können auch jede einzelne Handlung stets nur nach und nach, sukzessiv vollziehen. Umso mehr fällt gerade im Zusammenhang der Drei-Erkenntnisquellen-Konzeption der sonst eher beiläufig erscheinende Umstand ins Gewicht, daß Kant dem Urteil gelegentlich ausdrücklich eine temporale Form zuschreibt: »In jedem Urteil ist subjektiv eine Zeitfolge«.161 Damit charakterisiert Kant implizit selbstverständlich auch das Handlungsformat des Urteils, also den Akt des Urteilens, aber selbstverständlich nicht das logische Format des Urteils. Doch umso mehr kommt es darauf an zu beachten, daß Kant in seiner Theorie des Urteils sowohl die zeitliche wie die logische Form des Urteilsakts thematisiert und analysiert. Auf den kaum vier Druckseiten der drei ersten Nummern der Drei-Erkenntnisquellen-Konzeption werden solche temporalen Formen indessen rund ein Dutzend mal – teilweise mit Wiederholungen – thematisiert.162 Den anderen, aber damit unmittelbar verbundenen Leitaspekt bietet die Überlegung, daß die temporalen Handlungsformen unabdingbar an Formen des temporalen Bewußtseins gebunden sind, das das Subjekt einer Handlung im Blick sowohl auf die von ihm jeweils erst intendierte wie auf die von ihm aktuell ausgeübte und auf die von ihm schon vollzogene Handlung unterhält. Weder ohne das intentionale Bewußtsein noch ohne das Vollzugsbewußtsein von der temporalen Binnenform – also des Anfangs, des Jetzt, des Endes und der früher-später-Relationen der Teile – einer Handlung könnte ein Subjekt sich selbst eine Handlung als Eine Handlung zuschreiben, also als seine spontane und als spontan bewußte Hervorbringung. Das gilt vor allem auch im Blick auf den spontanen Radikalakt des Denkens, durch den ein solches Subjekt jeweils zwei oder mehr als zwei Vorstellungen so zugunsten einer Einheit verbinden kann, daß die wichtigste Form 160 B 133. 161 XX , 369. 162 »in der Folge […] aufeinander«, »in einem Augenblick«, »die Zeit, in der Folge […] aufeinander« (A 99), »bald […] bald« (A 99–101), »von einem Mittag zum anderen«, »nacheinander« (A 102), »einen Augenblick zuvor«, »im jetzigen Zustande«, »jetzt«, »sukzessiv«, »nach und nach« (A 103 ff.); vgl. auch unten S. 163, Anm. 181.

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dieser Einheit die des Urteils bzw. die der urteilsförmigen Erkenntnis ist. Denn »ich existiere als Intelligenz, die sich lediglich ihres Verbindungsvermögens bewußt ist, in Ansehung des Mannigfaltigen aber, das sie verbinden soll, einer einschränkenden Bedingung […] unterworfen bin, jene Verbindung nur nach Zeitverhältnissen anschaulich zu machen«.163 Doch diese Verbindung ist gar nicht anderes als der »Aktus der Spontaneität«,164 der ebenfalls nur nach Zeitverhältnissen anschaulich gemacht werden kann. Der sukzessive Gebrauch von mannigfaltigen, also von mindestens zwei Vorstellungen im Zuge einer Handlung des Urteilens und die Rollenverteilung dieser Vorstellungen in der jeweiligen logischen Einheitsform des Urteils bilden die beiden primär von der Theoretischen Philosophie zu berücksichtigenden Dimensionen des Urteilsakts. Der Gegenstandsbezug des Urteils, dessen Analyse mit der Kategorien-Konzeption eröffnet wird, bildet jene dritte Dimension, die die Transzendentalphilosophie Schritt für Schritt so weit durchleuchtet, bis sie mit den Gegenständen der dem Menschen möglichen Erfahrung die bedeutsamsten Gegenstände der dem Menschen möglichen empirischen Urteile durchsichtig macht. Auf der methodischen Linie, die zu diesen abschließenden Einsichten seiner Theorie der Erfahrung führt, könnte Kant keine noch elementareren Analyse-Schritte tun als die, die er im Rahmen der ›Vorläufigen Erinnerung‹165 tut, um dem Leser »eine Leitung«166 zu geben, die die Schritte der entsprechenden elementarsten Ana­ lysen lenkt und zu deren Ergebnissen führt. In der Transzendentalphilosophie Kants gibt es insofern kein anderes Thema als dies elementarste Auftakt-Thema, bei dem der Umstand ebenso wichtig ist, daß eine höchst einfache und leicht zu identifizierende Argumentations­ form die Schlüsselrolle spielt – die Form der negativen irrealen Konditionale. Zählt man die entsprechenden durch die und-Konjunktion verbundenen Sätze als einzelne Gebilde, dann verwendet Kant diese Argumentationsform auf den Seiten A 97 – A 103 insgesamt zehnmal. In jedem der drei Synthesis-Abschnitte A 98 – A 103 verwendet er sie mindestens zweimal. Am wichtigsten ist in diesem Zusammenhang indessen der Umstand, daß Kant in der Einleitung A 95–98, die sowohl der Vorläufigen Erinnerung A 98 f. wie den drei SynthesisAbschnitten A 98–110 vorangeht, sogar dasjenige Argument in der Form eines negativen irrealen Konditionals präsentiert, zu dessen Gunsten er die ganze Mikro-Analysen der drei Synthesis-Abschnitte überhaupt entwickelt: »Wenn 163 B 158–159. Mit den temporalen Analysen der drei mikro-kognitiven Synthesis-TeilAkte jedes Akts denkenden Urteilens werden daher die »very obscure«, Kitcher, Thinker, S. 173, temporal-analytischen Erörterungen der Reflexion 5661 zugunsten einer kohärenten Konzeption der mikro-kognitiven Zeitlichkeit des Akts denkenden Urteilens überwunden. 164 B 130. 165 Vgl. A  98 f. 166 A 97.

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eine jede Vorstellung der anderen ganz fremd, gleichsam isoliert, und von dieser getrennt wäre, so würde niemals so etwas, als Erkenntnis [also ein Urteil bzw. ein Erkenntnisurteil, R. E.] ist, entspringen, welche ein Ganzes […] verknüpfter Vorstellungen ist«.167 Die außerordentliche Wichtigkeit, die dieser Argumentationsform gerade an dieser methodischen Stelle und in diesem thematischen Zusammenhang zukommt, ergibt sich ausschließlich aus der irreal-konditionalen Verbindung zwischen den propositionalen Gehalten der beiden Teilsätze dieses Konditionals. Den einen Faktor bildet die Charakterisierung der Erkenntnis bzw. des Erkenntnisurteils als eines Ganzen verknüpfter Vorstellungen; den anderen Faktor bildet der Umstand, daß das Konditional durch den irrealen propositionalen Gehalt seines wenn-Satzes implizit zu verstehen gibt, 1.) daß die nicht-Fremdheit, nicht-Isoliertheit bzw. nicht-Getrenntheit der Vorstellungen, die wir urteilenden Menschen zu einem ›Ganzen verknüpfter Vorstellungen‹ fügen, ein von Kant implizit unterstelltes (anthropologisches) Faktum ist, 2.) daß wir daher über Vorstellungen in diversen noch zu klärenden Formen von Verknüpfungsakten wirklich verfügen; und 3.) daß unser wirklich ausgeübtes formal verknüpfendes Verfügen über Vorstellungen eine notwendige formale Bedingung der Möglichkeit jeder Erkenntnis bzw. jedes Erkenntnisurteils und damit speziell auch jedes Erfahrungsurteils ist, um die Klärung von dessen logischer, kategorialer und kognitiver Struktur es in Kants Theorie der Erfahrung vor allem geht. Durch das, was das ganze Konditional durch den logisch-semantischen Zusammenhang seiner beiden Teilsätze implizit über die funktionalen Anteile der drei Synthesen an dem urteilsförmigen ›Ganzen verknüpfter Vorstellungen‹ zu verstehen gibt, wird vor allem signalisiert, daß die drei SynthesisAbschnitte unmittelbar Beiträge zum ›höchsten Punkt‹ avant la lettre sind: Ein ›Ganzes verknüpfter Vorstellungen‹ könnte von keinem Subjekt, das als In­haber von Vorstellungen in Frage kommt, gestiftet werden, wenn es nicht auch der drei Synthesen fähig wäre, die in den ersten drei Abschnitten analysiert werden. Durch den Irrealis des ganzen Konditionals gibt Kant implizit aber nicht nur zu verstehen, daß das Gegenteil dessen faktisch der Fall ist, was er durch den propositionalen Gehalt dieses Satzes direkt zu verstehen gibt. In dieser unmittel­ baren methodischen und systematischen Umgebung des ›höchsten Punkts‹ gibt er damit sogar noch eine zentrale Orientierung über das systematische Format der Theorie zu verstehen, die diesen ›höchsten Punkt‹ hat: Die Reflexionen, Analysen, Thesen und Argumente seiner Theorie der Erfahrung fassen sogleich mit dem Ansatz beim ›höchsten Punkt‹ einen Beitrag zu einem bestimmten Typ von Anthropologie ins Auge – zu einer formalen und transzendentalen Anthropologie der notwendigen und hinreichenden formalen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis bzw. der Erfahrungsurteile des Menschen. 167 A 97, Hervorhebungen R. E.

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Der irreale negative Konditionalsatz über das ›Ganze verknüpfter Vorstellungen‹, der diesen Ansatz präsentiert, ist lediglich die auch an diesem ›höchsten Punkt‹ zentrale mikroskopische Argumentationsform dieser formal-transzendentalen Anthropologie. Er gibt durch seine logisch-semantische Form implizit dieselbe anthropologische Orientierung zu verstehen, die Kant direkt in der zweiten Auflage ausspricht, indem er zu bedenken gibt: »Verbindung […] ist allein eine Verrichtung des Verstandes, […] das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter die168 Einheit der Apperzeption zu bringen«,169 so daß diese Verrichtung damit die »oberste im ganzen der menschlichen Erkenntnis ist«.170 Wenn Kant unter diesen Vorzeichen in der zweiten Auflage der Ersten Kritik gleichwohl die terminologische Konvention einführt, diesen ebenso elementaren wie zentralen kognitiven Akt »mit der allgemeinen Benennung Synthesis [zu, R. E.] belegen«,171 dann ergibt sich offensichtlich nicht nur eine termino­ logische, sondern auch eine sachliche Spannung zur Konzeption der Ersten Auflage, in der nicht nur von Einer Synthesis, sondern – zumindest nominell – von drei Akten dieses Namens die Rede ist, hingegen vom denkend-urteilenden Akt der apperzeptiven Synthesis noch gar nicht. Es fragt sich daher, ob es drei von diesem apperzeptiven Akt der Verbindung nicht nur verschiedene, sondern auch unabhängige, aber von ihm in Dienst genommene Akte sind. Oder sind es drei unabdingbar an ihm beteiligte Teil-Akte? Oder sind es gar keine echten Akte, sondern drei Akt-Charaktere, wie sie den zentralen apperzeptiven Synthesis-Akt und daher jedenfalls auch jeden Urteilsakt prägen?172 Kant selbst gibt unmißverständlich zu verstehen, in welcher Richtung die Antwort zu finden ist: »Es sind die drey functionen der Apperception, welche bey dem Denken unseres Zustandes überhaupt angetroffen werden«,173 also bei demjenigen ›Denken unseres Zustands‹, das durch die Formel Ich denke bzw. Ich denke, daß-p sowie durch andere Urteile-des-inneren-Sinns zur Sprache gebracht werden kann. Eine sachlich befriedigende Erläuterung und Begründung der Antwort auf die gestellten Fragen kann man in der von Kant angezeigten Richtung finden, wenn man den gravierenden Unterschied zwischen den Leitaspekten in den drei Synthesis-Abschnitten der Ersten Auflage einerseits und andererseits in den §§ 15–16 der Zweiten Auflage berücksichtigt. Dieser Unterschied ergibt 168 Ich folge hier der Konjektur Hartensteins. 169 B 134–135. 170 B 135, Hervorhebung R. E. 171 B 130. 172 Vgl. zu diesen schon lange erörterten Fragen auch die Erwägungen von Alois Riehl, Der philosophische Kritizismus. Bd. I, Leipzig 1908, S. 508 f.; Martin Heidegger, Phänomenologische Interpretationen von Kants Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt/M. 1977, S. 337–340, sowie Carl, Ein Kommentar, S. 14621; Carl apostrophiert dies Kapitel zu Recht auch als »Dieses […] wegen seiner Unübersichtlichkeit berüchtigte Kapitel«, S. 162*. 173 R 4674, S. 646, Hervorhebung R. E.

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sich ausschließlich aus dem Umstand, daß man strikt zwischen der formalen Analyse und Charakterisierung mentaler Akte einerseits und andererseits der formalen Analyse und Charakterisierung ihrer Ausübung unterscheiden muß. Kant verfügt sogar über ein klares und entsprechend trennscharfes Kriterium, das der Analyse mentaler Akte in plausibler Weise ganz allgemein solche ausübungs-, anwendungs- bzw. gebrauchsorientierten Unterscheidungen nicht nur erlaubt, sondern sogar abverlangt. Er exemplifiziert dies Kriterium sogar ganz gezielt mit Blick auf den zentralen Synthesis-Akt, den der Apperzeption, indem er strikt den intellektuellen »Akt, Ich denke, […] und […] die Bedingung der Anwendung, oder des Gebrauchs des rein intellektuellen Vermögens«174 zur Ausübung dieses Akts unterscheidet. Doch es ist diese Anwendung, dieser Gebrauch, diese Ausübung des Vermögens bzw. des Akts der apperzeptiven Synthesis, was »der formalen Bedingung […] der Zeit unterworfen [ist]«.175 Denn in der Zeit müssen alle unsere Vorstellungen »insgesamt geordnet, verknüpft und in Verhältnisse gebracht werden«,176 »sie mögen entspringen, woher sie wollen«.177 Das gilt vor allem für den urteilsförmigen Gebrauch von Vorstellungen. Gerade ihn hat Kant im Auge, wenn er die temporale Form des Urteilsakts hervorhebt: »In jedem Urteil ist subjektiv eine Zeitfolge«.178 Die Analysen der apprehensiven, der reproduktiven und der rekognitiven Synthesis stehen daher nur allzu offensichtlich im Dienst einer ausübungs-, anwendungs- und gebrauchsorientierten formal-temporalen Differentialanalyse des zentralen apperzeptiven Synthesis-Akts, ohne den ein urteilsförmiges ›Ganzes verknüpfter Vorstellungen‹ auch dann nicht gestiftet werden könnte, wenn das Subjekt mit dem Vermögen dieser drei Synthesen zwar begabt wäre, aber von ihnen keinen Gebrauch machen würde. Denn unabhängig vom apperzeptiven Verbindungsakt wären Vorstellungen auch dann ›zerstreut‹ – nämlich temporal zerstreut –, wenn sie ausschließlich in der kognitiven Obhut der apprehensiven, der reproduktiven und der rekognitiven Synthesis stünden. Nichts zeigt daher den funktionalen Anteil der drei Synthesen am zeitlich geprägten apperzeptiven Verbindungsakt deutlicher als das Dutzend temporaler Wendungen (vgl. oben S. 158, Anm. 162), mit deren Hilfe Kant die Synthesen von Vorstellungen mit Blick auf deren Apprehension, Reproduktion und Rekognition charakterisiert. Denn das In-der-Folge-aufeinander, das In-einem-Augenblick, das Bald-bald, das Nacheinander, das Einen-Augenblick-zuvor, das Im-jetzigen-Zustande, das Jetzt, das Sukzessive, das Nach-und-nach sind keine materialen temporalen Anschauungen, sondern temporale Formen der Anschauung von »allem Mannigfaltigem, 174 B 423*. 175 A 99. 176 Ebd. 177 A 98. 178 XX , 369.

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dessen ich mir bewußt bin«179 und betreffen ausschließlich »das Verhältniß der Vorstellungen in der Zeit«,180 »als in welcher sie insgesamt geordnet, verknüpft und in Verhältnis zueinander gebracht werden müssen«.181 Gewiß ist es ebenso verständlich wie legitim, daß Kant im Rahmen einer wenn auch ›vorläufigen‹ (A 98), so doch unmittelbaren ›Vorbereitung‹ (vgl. ebd.) auf die Transzendentale Deduktion der Kategorien insbesondere bei den Musterbeispielen für die Ausübung der drei Synthesen die thematische ›Materie‹ dieser Ausübung gezielt im Mannigfaltigen der (sinnlichen zeitlichen) Anschauungen sucht (vgl. A 99 f., 102 f., 103 f.). Doch da diese Einführung nicht nur propädeutisch ist, sondern irritierenderweise gleichzeitig die Rolle einer ›Erinnerung‹ (vgl. A 98 f.) hat, ist es nicht weniger verständlich und legitim, daß die Formulierungen seiner Argumente fast auf Schritt und Tritt im Rückblick auch auf »die Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellungen«182 zutreffen, durch die das Subjekt dieses Akts Vorstellungen in den logischen Formen von Urteilen ›zu einem Ganzen verknüpfter Vorstellungen‹ fügt. Dieser Radikal-Akt, den Kant zwar erst in den ersten Paragraphen der B-Deduktion thematisiert und begriffsanalytisch erörtert, wird indessen schon im Abschnitt Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt unthematisiert vorausgesetzt. Denn hier führt Kant das ›Ganze verknüpfter Vorstellungen‹ auf »die Einheit der Handlung« zurück, verschiedene Vorstellungen«183 so »zueinander hinzuzutun«,184 daß sie das Ganze der formal verknüpften Vorstellungen eines Urteils bilden. Es ist daher nur konsequent, wenn Vleeschauwer mit Blick auf die Synthesis-Funktion der Apprehension ausdrücklich hervorhebt, daß es mindestens zwei Vorstellungen sein müssen,185 um deren Apprehension es je179 B 408. 180 VII, 161. 181 A 99. Zu dem wichtigen Unterschied zwischen materialen und formalen temporalen Bestimmungen vgl. auch die knappen klärenden Ausführungen durch Carl, Ein Kommentar, bes. S.  63 f., 15028–15436. Die einzige Ausnahme in dem Dutzend temporaler Charakterisierungen bildet lediglich die Bestimmung von-einem-Mittag-zum-anderen. Sie ist keine rein formale, sondern eine auch materiale, empirische Charakterisierung, weil sie von empirischen Faktoren wie dem Verlauf der (schein­baren) Sonnenbahn relativ zum Standort ihres Beobachters auf der Erde abhängt. Formale temporale Komponenten enthält sie gleichwohl insofern, als sie die Sukzessivitätsbedingung und die früher-später-Relation enthält. Eine temporale Bestimmung wie in einem Augen­blick ist durch ihre semantische Herkunft aus der leibhaftig-organischen Konstitution des Menschen zunächst selbstverständlich auch empirisch geprägt. In Kants Kontext wird ihre Augenblicks-Komponente aber offensichtlich ausschließlich in der formalen Rolle verwendet, eine unbestimmte Zeitspanne von beliebiger Kürze zu markieren; vgl. auch unten S. 173, Anm. 218. 182 A 69, B 94. 183 A 68, B 93. 184 A 77, B 103. 185 »deux perceptions au moins«, Vleeschauwer, La déduction II, S. 238.

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weils geht – also gerade mindestens so viele wie auch für die Bildung der einfachsten logischen Form eines Urteils, eines kategorischen Urteils nötig sind. Man würde daher die Tragfähigkeit und die Tragweite von Kants Drei-Synthesen-Konzeption unterschätzen, wenn man ihr nicht zutrauen würde, auch noch in die Form des apperzeptiven Verbindungsakts und damit in die Form des Urteilsakts ein Licht zu bringen, das die Klärungen der begriffsanalytischen Erörterungen des apperzeptiven Verbindungsakts in aufschlußreicher Weise ergänzt. In den drei Synthesis-Abschnitten lenkt Kant die Aufmerksamkeit jedenfalls unmittelbar weder auf den formalen Ursprungscharakter der Spontaneität noch auf den formalen Erfolgscharakter der Einheit dieses Verbindungsakts als eines Urteilsakts. Er zielt vielmehr nur allzu offensichtlich ausschließlich auf die speziellen formal-kognitiven und temporalen Ausübungsbedingungen, wie sie jedenfalls auch für den elementarsten apperzeptiven Verbindungsakt, also für den kategorischen Urteilsakt sowie für die apprehensiven, reproduktiven und rekognitiven Synthesis-Formen des Bewußtseins von diesen Ausübungsbedingungen charakteristisch sind: Hier sind es vor allem die temporalen Formbedingungen der Ausübung des (apperzeptiven) Akts der Verbindung von vielen andernfalls temporal ›zerstreuten‹ Vorstellungen und des Bewußtseins von diesen Formbedingungen, was er klärt; in den §§ 15–16 klärt er indessen mit begriffsanalytischen Mitteln vor allem die die logische, urteilsförmige Einheit in der Vielheit der zerstreuten Vorstellungen spontan stiftende Funktion des apperzeptiven Verbindungsakts. Kants formale Analysen der kognitiven und der temporalen Ausübungsbedingungen des apperzeptiven Verbindungsakts sind daher gar nichts anderes als Analysen der Bedingungen der Ausübung des Selbstbewußtseins – also des Bewußtseins, einen solchen Akt selbst zu vollziehen.186 186 Peter Rohs, Feld-Zeit-Ich. Entwurf einer feldtheoretischen Transzendentalphilosophie, Frankfurt/M. 1996, irrt daher, wenn er meint, die Zeit sei in Kants Theorie »eine ›Bedingung der Möglichkeit‹ für das Selbstbewußtsein«, S.  15, bzw. daß die »innere Anschauung a priori […] als Bedingung des Selbstbewußtseins anzuerkennen [ist]«, S. 49, bzw. daß »die reine innere Anschauung […] eine Bedingung des Selbstbewußtseins ist«, S. 53. Er verkennt damit dreierlei: 1.) das ›Ursprüngliche‹ der reinen und ursprünglichen Apperzeption bedeutet ebenso wie das ›Spontane‹ bzw. das ›Unbedingte‹(!), vgl. A 398, dieses kognitiven Akts, daß sie bzw. er keine Bedingung hat, auf die ihre bzw. seine Möglichkeit zurückgeführt werden könnte oder müßte; 2.) ursprünglich, spontan bzw. unbedingt ist dieser kognitive Akt indessen deswegen, weil er eine einzigartige »logische Funktion«, B 143, 428, Hervorhebung R. E., hat: Durch ihn ist sein Subjekt ursprünglich dazu befähigt, die unbestimmt vielen, temporal und alogisch zerstreuten sowie logisch unförmigen Vorstellungen, die ihm empirisch widerfahren können, dafür disponibel zu machen, daß es sie spontan bzw. selbst sowie im Bewußtsein der Spontaneität, also der Selbst-tätigkeit – also ohne dafür von irgendeiner anderen Bedingung abhängig zu sein, mithin un-bedingt – in logischen Verknüpfungsformen von Urteilen gebrauchen kann; 3.) die temporalen Mikroformen der Apprehension, der Reproduktion und der Re­kognition sind die temporalen Bedingungen der Ausübung dieses Selbstbewußtseins, aber nicht Bedingungen seiner Möglichkeit.

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Die sachlichen Überschneidungen zwischen den beiden Auflagen sind in diesem Punkt förmlich mit Händen zu greifen, wenn Kant im Rückblick ausdrücklich noch einmal auf die erste der drei thematisierten Synthesis-Formen zu sprechen kommt, um hervorzuheben, »daß die Synthesis der Apprehension […] der Synthesis der Apperzeption […] notwendig gemäß sein müsse«.187 Die Form dieser ›Gemäßheit‹ gibt Kant daher durch die Bemerkung zu bedenken, die unmittelbar am Hauptcharakter des apperzeptiven Verbindungsakts orientiert ist: »Es ist eine und dieselbe Spontaneität, welche […] Verbindung in das Mannigfaltige […] bringt«.188 Denn für die Synthesis der Apperzeption ist charakteristisch, daß sie »eine Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung, oder mancherlei Begriffe sein [mag]«,189 also das Mannigfaltige von Vorstellungen beliebiger Typen verbinden kann. Den Unterschied zwischen ihr und der Synthesis z. B. der Reproduktion stuft Kant wegen ihrer gemeinsamen Spontaneität daher gelegentlich sogar auf einen bloß nominellen herab, wenn er bemerkt, daß ihrer beider spontane Synthesis »dort […] unter dem Namen der Einbildungskraft, hier des Verstandes«190 ins Auge gefaßt werde. Eine der Differenzen zwischen ihren Funktionen ergibt sich indessen durch die spezifische zeitliche Form der Ausübung der Synthesis der Reproduktion. Die Reflexionen, Analysen und Argumente der drei Synthesis-Abschnitte machen daher auch darauf aufmerksam, daß und in welchen Formen die drei Synthesis-Akte der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition nicht am Synthesis-Akt der Apperzeption beteiligt sind: Sie sind keine apperzeptions-unabhängigen, gleichsam von außen assistierende mentale Hilfsakte der Apperzeption. Andernfalls könnte es so viele verschiedene Aktsubjekte geben wie man Synthesis-Akte unterscheiden kann – also das Subjekt des Apperzep­ tionsakts und die drei Subjekte der drei externen Hilfsakte. Doch Kant benennt mit ihren drei Titeln bei genauerem Hinsehen drei Zeit- und Synthesis-spezifisch verschiedene kognitive Charaktere bzw. Teilakte der temporalen Vollzugsform des Einen apperzeptiven Verbindungsakts und damit des durch ihn – und nur durch ihn – möglichen Urteilsakts.191 Daß sie sowohl das Zeit- wie das Synthesis-spezifische Gepräge des einen und selben radikalen apperzeptiven Verbindungsakts bilden, zeigen drei abstrakte Thesen Kants – zwei davon in der Form negativer irrealer Konditionale – über den formalen Zusammenhang der Synthesis der Apprehension mit der der Reproduktion sowie der Synthesis der 187 B 162*. 188 Ebd. 189 B 130, Hervorhebungen R. E. 190 B 162*. 191 »der von ihm [sc. Kant, R. E.] entwickelte Zusammenhang von Apprehension, Reproduktion und Rekognition [besagt], daß die Verbindung einer Mannigfaltigkeit gege­ bener Vorstellungen zu einem ›Ganzen‹ nur in der Form eines Urteils vollzogen werden kann«, Carl, Ein Kommentar, S. 165–16657, Hervorhebung R. E.

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Rekognition mit der der Reproduktion: »Die Synthesis der Apprehension ist mit der Synthesis der Reproduktion unzertrennlich verbunden«192 und »ohne Bewußtsein, daß das, was wir denken, eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten [also ohne Rekognition des Reproduzierten, R. E.], würde alle Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen vergeblich sein«,193 weil die reproduzierte Vorstellung ohne ihre Rekognition »[…] eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande [wäre]«,194 also eigentlich auch gar keine re-produzierte Vorstellung. Doch dies Argument ist gar nichts anderes als die negative irreal-konditionale Variante der abstrakten These, daß die Synthesis der Reproduktion mit der der Rekognition unzertrennlich verbunden ist. Aus den beiden abstrakten Thesen folgt daher nach der Regel der Transitivität, daß die Synthesis der Apprehension auch mit der der Rekognition unzertrennlich verbunden ist.195 Der Charakter ihrer Anteile am kognitiven, apperzeptiven Zentralakt der denkend-urteilenden Verbindung mannigfaltiger Vorstellungen hängt insofern und abgesehen von ihren unterschiedlichen Synthesis-spezifischen Geprägen von den formalen temporalen Ausübungs-, Gebrauchs- bzw. Anwendungsbedingungen dieses Akts ab.196 Das zeigt sich schon in einem ersten Schritt, wenn Kant im ersten Synthesis-Abschnitt eine zeittheoretisch orientierte Prämisse zu bedenken gibt, in deren Licht ›niemals ein Ganzes verknüpfter Vorstellungen entspringen könnte: »[…] als in einem Augenblick enthalten, kann jede Vorstellung niemals etwas anderes als absolute Einheit sein«.197 Behält man die Vielzahl der irreal-konditionalen Argumente in den drei Synthesis-Abschnitten im Auge, dann ist dies Ar192 A 102. 193 A 103. 194 Ebd. 195 Zur Mikroanalyse der zeit- und bewußtseinstheoretischen Argumentationen, die in den drei Synthesis-Abschnitten zugunsten der abstrakten Thesen entwickelt werden, vgl. unten S. 168–182. 196 Es fällt auf, daß Carl, Ein Kommentar, den formalen temporalen Ausübungsbedingungen, die mit den Synthesen der Apprehension, der Reproduktion und Rekognition verbunden sind, gar keine besondere Aufmerksamkeit um ihrer selbst willen schenkt. Vielleicht läßt er sich durch den Umstand ablenken, daß Kant die Apprehension als eine empirische Synthesis charakterisiert, vgl. B 162*, sowie Carl, S. 15028. Doch die Tat­sache, daß die apprehensive, die reproduktive und die rekognitive Synthesis stets und nur unter jeweils ganz bestimmten empirischen Umständen ausgeübt wird, hat nichts damit zu tun, daß jede Ausübung dieser dreifachen Synthesis dieselben formalen temporalen Bedingungen erfüllt und insofern durch dieselben drei formalen a priori-Charakterisierungen sogar vollständig beschrieben werden kann. Man hat es hier mit ganz analogen Zusammenhängen zu tun wie bei den Kategorien: Sie sind zwar von ausschließlich empirischem Gebrauch, doch die charakteristischen formalen Bedingungen ihres Gebrauchs – ihre Schemata – können rein formal, also apriori und zwar durch temporale Charakterisierungen erfaßt werden. 197 A 99, Kants Hervorhebung.

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gument offenkundig lediglich ein verkapptes irreal-konditionales Argument der folgenden Form: ›Wäre jede Vorstellung ihrem Begriff nach [d. h. als, R. E.] in einem Augenblick enthalten, könnte sie niemals etwas anderes als absolute Einheit sein und müßte daher jeder anderen Vorstellung ganz fremd, gleichsam isoliert und von dieser getrennt sein‹. Doch es gehört nicht zum Begriff der Vorstellung, in einem Augenblick enthalten zu sein. Vielmehr kann das der apperzeptiven Verbindung von Vorstellungen fähige Subjekt solche apperzeptiven Verbindungsakte nur in der nicht-begrifflichen, anschaulichen Form der Zeit, nämlich sukzessiv, also nach und nach ausüben. Deswegen gibt Kant in der BDeduktion im Rückblick auf den Fall des apprehensiven Synthesis-Bewußtseins von zwei Vorstellungen zu verstehen: »Das Bewußtsein der einen [Vorstellung, R. E.] ist, sofern vom Mannigfaltigen [der Vorstellungen, R. E.] die Rede ist, vom Bewußtsein der anderen doch immer zu unterscheiden«198 – zu unterscheiden nämlich mit Blick auf den temporalen Unterschied zwischen dem früheren bzw. späteren Augenblick der Ausübung der Apprehensionen der beiden mit Hilfe des apperzeptiven urteilsförmigen Verbindungsakts verwendeten Vorstellungen. Das ›Bewußtsein der einen Vorstellung‹ und das ›Bewußtsein der anderen‹, von denen Kant hier spricht, sind also die apprehensiven Formen des Bewußtseins, das ein (menschliches) Subjekt zu zwei verschiedenen Vorstellungen unterhält, sofern es sie durch den denkend-urteilenden Akt der Apperzeption zur Form Eines Urteils verbindet. Doch gerade wegen dieser elementaren funktionalen Verflechtung der Ausübung des apperzeptiven Verbindungsakts – und damit jedes Urteilsakts – mit mindestens (im Fall der kategorischen Urteilsfunktion) zwei-plus-vier sukzessiven Apprehensions-, Reproduktions- und Rekognitionsakten, bedürfen die temporalen und die Synthesis-spezifischen Formen der Ausübung dieses Zentralakts einer genauso sorgfältigen formalen Analyse wie die einheitstiftende spontane Verbindungsform dieses Zentralakts selbst. Es zeigt sich, daß Kant die Reflexionen, Analysen und Argumente der drei Synthesis-Abschnitte im Rückgriff auf eine ganz bestimmte Einsicht verwendet: Der Akt der apperzeptiven Synthesis von Vorstellungen aller Typen – also weder nur von Begriffe noch nur von Anschauungen – gehört auch mit Blick auf die temporalen Formen des urteilsförmigen Gebrauchs von Vorstellungen in die Regie der Synthesis der Apprehension199 und damit auch in die Regie der Synthesis der Reproduktion und der der Rekognition, die beide ›unzertrennlich‹ mit der der Apprehension verbunden sind. Unter diesen Voraussetzungen liegt es auf der Hand, daß Kants temporaler Charakterisierung des Urteilsakts  – »In jedem Urteil ist subjektiv eine Zeitfolge«200  – aus zwei Gründen eine Schlüsselrolle gerade auch im Zusam198 B 131*. 199 Ebenso urteilt Vleeschauwer, La déduction II, S. 238 ff. 200 XX , 369.

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menhang der Analysen der drei Synthesis-Abschnitte zufällt: Zum einen wird damit der Handlungscharakter des Urteils unter dem Aspekt betrachtet, daß das Subjekt des Urteilsakts stets nur nach und nach, sukzessiv von den im Urteil verwendeten Vorstellungen Gebrauch machen kann; zum anderen wird dieser Handlungscharakter damit durch den Kontrast betont, in dem die Vielheit  – also mindestens die Zweiheit  – der temporal ›zerstreuten‹ Vorstellungen bzw. Vorstellungsapprehensionen, -reproduktionen und -rekognitionen zur logischen Einheit der Handlung des Urteils steht, in der diese temporal ›zerstreute‹ Vielheit aufgehoben ist – und zwar aufgehoben in dem trefflichen dreifachen Sinne, den Hegel in die philosophische Bewußtseinstheorie eingeführt hat: Diese Vielheit ist aufgegeben zugunsten dieser Einheit; sie ist bewahrt in der Vielheit – also mindestens in der Zweiheit – der logischen Rollenträger, als die die vielen Vorstellungen im Urteil gebraucht werden; und sie ist durch die logische Form der Einheit des Urteilsakts in der Vielheit seiner internen logischen Gebrauchsrollen-für-Vorstellungen von der Stufe der Wahrheitsindifferenz der elementaren Vorstellungen auf die Stufe ihrer formalen Beiträge zur Wahrheitsfähigkeit des Urteils gehoben. Wenn man die Auseinandersetzung mit den drei Synthesis-Abschnitten gezielt an Kants einleitendem Vorgriff auf das ›Ganze verknüpfter Vorstellungen‹ (A 97) orientiert, dann zeigt sich leicht die Tragweite von Kants Analysen und Argumente in diesen Abschnitten. Sie schließen unmittelbar nicht nur die temporale Form der Handlung des Urteilens und die diversen beteiligten Synthesis-Formen des betreffenden Handlungsbewußtseins ein, die für das Subjekt einer solchen urteilsförmigen Handlung eine notwendige formale Erfolgsbedingung abgeben.201 Vor allem zeigt sich nur mit dieser Orientierung, daß Kant bei diesen Analysen und Argumenten 1.) den Begriff der Handlung als einen un­ definierten Grundbegriff voraussetzt und 2.) in Form eines irrealen negativen Konditionals argumentiert, daß dem urteilenden, also dem Akte des Urteilens vollziehenden Subjekt Urteile gar nicht gelingen könnten, wenn es von den im Urteilsakt gebrauchten Vorstellungen nicht mit apprehensivem, reproduktivem und rekognitivem Bewußtsein Gebrauch machen würde. Ohne die Synthesis der Apprehension in der Anschauung, ohne die Synthesis der Reproduktion in 201 Der ganze folgende Teil  dieses Paragraphen ist aus einer gründlichen Revision meiner Abhandlung: Kants Protologik. Wege aus der Sterilität von falschen Konkurrenzen divergierender Logik-Konzeptionen, in: A. Lorenz (Hg.), Transzendentalphilosophie heute. Breslauer Kant-Symposium 2004 Würzburg 2007, S.  185–210, hervorgegangen. In der ursprünglichen Fassung hatte ich vernachlässigt, welche bedeutsame Tragweite es für Kants Konzeption des Urteilsakts mit sich bringt, daß er selbst die temporale Form des Urteilsakts als dessen wichtigste formale Vollzugsbedingung konzipiert. Diese Tragweite suche ich in der jetzt revidierten Fassung zu klären. Außerdem streiche ich deswegen jetzt klarer heraus, daß die drei Synthesen drei Zeit- und Synthesis-spezifisch verschiedene kognitive Teilakte bzw. Teilcharaktere des zentralen apperzeptiven Verbindungsaktes und damit jedes Urteilsakts sind.

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der Einbildungskraft und ohne die Synthesis der Rekognition im Begriff könnte der Akt der formal-logischen Verknüpfung von Vorstellungen zugunsten eines Urteils gar nicht gelingen.202 Kant trägt den Komplikationen durchaus Rechnung, die es mit sich bringen würde, falls man die teils logische und teils temporale Struktur des Urteilsakts Schritt für Schritt auf einer Stufenleiter der zunehmenden logischen Komplexität von z. B. hypothetischen, disjunktiven und anderen, z. B. syllogistisch gebrauchten Urteilsformen erörtern wollte. Denn er darf sich darauf verlassen, daß die Grundform der Verflechtung zwischen den temporalen und den logischen Formkomponenten des Urteilsakts invariant gegenüber diesen Komplikationen ist, und faßt daher den elementarsten Fall von ausschließlich zwei Vorstellungen ins Auge, wie sie nur im kategorischen Urteils verwendet werden. Es ist kein Zufall, daß Kant diesen elementarsten Fall erst im Text der B-Deduktion ins Auge faßt, in dem er konsequent von den temporalen Formkomponenten abstrahiert und sich nur auf das Abstraktionsprodukt der ›An-sich-Zerstreutheit‹ der Vorstellungen im ›empirischen Bewußtsein‹ konzentriert, dafür aber strikt der Orientierung an der logischen Tragweite folgt, die der apperzeptive Synthesis-Akt für die Verbindung von Vorstellungen zu einer urteilsförmigen Einheit mit sich bringt. Am klarsten und fast wie in der Form einer nachgetragenen Prämisse formuliert Kant hier die Rücksicht auf den elementarsten Fall durch die Bemerkung: »Das Bewußtsein der einen [Vorstellung, R. E.] ist, sofern vom Mannigfaltigen [der Vorstellungen, R. E.] die Rede ist, vom Bewußtsein der anderen doch immer zu unterscheiden«.203 Im Licht des ersten Syn­thesisAbschnitts handelt es sich bei diesem Bewußtseinsunterschied um nichts anderes als um den Unterschied zwischen der Apprehension der einen Vorstellung in einem Augenblick und der Apprehension der anderen Vorstellung in einem anderen Augenblick. Indessen ist die Apprehension mit Blick auf den spontanen apperzeptiven Verbindungsakt des Bewußtseins gar nichts anderes als einer seiner echten, Synthesis-spezifischen Teil-Bewußtseinsakte bzw. Teil-Bewußtseinscharaktere. Im Fall einer urteilsform-dienlichen Verbindung von Vorstellungen, auf die es in den §§ 15–16 nun einmal zentral ankommt, sind für die Bildung der kategorischen Urteilsform aber nicht nur zwei apprehensive Synthesen vonnöten, die als zwei echte Teilakte des die formale Urteils­bildung regierenden apperzeptiven Verbindungsaktes fungieren. Zwischen der Augenblicks-Zeitspanne der ersten Apprehension und der Augenblicks-Zeitspanne der zweiten Apprehension darf überdies keine wie auch immer kurze gänzlich bewußtseinslose Augenblicks-Zeitspanne verstreichen, wenn der kategorische Verbindungs202 Heidegger, Interpretationen, charakterisiert die drei Synthesen daher gerade in dem § 25.c)  Die Zeitbezogenheit der drei Synthesen und ihre Zugehörigkeit zum Selbst aufgrund der Zeitbeziehung zu Recht »als die ursprünglich einige Gliederung der Urhandlung des Ich als Ich-denke – das Kant auch als ›Ich-verbinde‹ nennt«, S. 390. 203 B 131*.

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akt der beiden apprehendierten Vorstellungen gelingen können soll. Mit Blick auf jede in einem Urteil verwendete Vorstellung gilt daher, daß in ihr »das Bewußtsein zum Bewußtsein des Unterschiedes derselben von andern zureicht«.204 Andernfalls würde die zuerst apprehendierte Vorstellung ein für allemal, also unwiderruflich der Vergangenheit angehören, weil der »Grad des Bewußtseins […] zur Erinnerung nicht ausreicht«.205 Doch diese Unwiderruflichkeit wäre selbstverständlich ein unüberwindliches Hindernis nicht nur für die Reproduktion von Vorstellungen, wie sie im zweiten Synthesis-­Abschnitt analysiert wird (vgl. unten S. 172–173), sondern ebenso auch für die Rekognition von Vorstellungen, wie sie im dritten Synthesis-Abschnitt analysiert wird (vgl. unten S. 173–176). Kant nutzt daher sogar direkt das metaphorische Potential der Rede vom ›Herüberrufen‹ einer Vorstellung aus der Vergangenheit eines minimal früheren Augenblicks, um die Reproduzierbarkeitsbedingung für Vorstellungen im Bewußtsein des Urteilenden zu betonen.206 Deswegen erinnert Kant mit dem ersten temporal orientierten Argument der drei Synthesis-Abschnitte implizit daran, daß keine Vorstellung ihrem Begriff nach in einem Augenblick enthalten ist. Vielmehr ist es in erster Linie der jeweilige apprehensive Akt, durch den ein Subjekt während einer Augenblicks-Zeitspanne eine Vorstellung mit Bewußtsein verbindet.207 Der apperzeptive Akt der urteilsförmigen Synthesis von Vorstellungen kann dem Subjekt daher auch nur dann gelingen, wenn es diesen logischen Verbindungsakt während jedes noch so kurzen Augenblicks seiner Dauer mit dem reproduktiven und dem rekognitiven Bewußtsein jeder – und vor allem auch der allerersten – von ihm schon apprehendierten und im Urteilsakt verwendeten Vorstellung vollzieht. Im Stil einer nachträglichen Klarstellung verdeutlicht Kant auch mit be­ sonderen sprachlichen und terminologischen Mitteln den Synthesis-Charakter des apprehensiven Teilakts, durch den das Subjekt des Urteilsakts auch nur eine einzige von ihm verwendete Vorstellung mit seinem (urteilenden) Bewußtsein verbinden können muß. Im Text der B-Deduktion verdeutlicht er diesen Charakter des apprehensiven Teilakts, indem er dessen sprachliche Formulierung durch das Muster »ich [denke] mir rot überhaupt […]«208 exemplifiziert. Nichts kann die formale Rolle besser verdeutlichen, die der apprehensive Synthesis-Akt als echter Teilakt des apperzeptiven, auch die logischen Urteilsfunktionen regierenden Zentralakts ausübt, als die Verwendung der kognitiven Schlüsselphrase ich denke in diesem Kontext der B-Deduktion. Nur dieser Kontext ist es, der mit 204 B 414*-415*, Kants Hervorhebungen. 205 B 414*. 206 Vgl. A 121 sowie unten S. 173 f. 207 Zu Kants wichtiger Grammatik der Synthesis-einer Vorstellung-mit-einem-Subjekt vgl.: »eine Synthesis des Gedankens mit einem Subjekt«, A 397. 208 B 133*.

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Hilfe dieser terminologischen Phrase den thematischen Analysen des ›höchsten Punkts‹ der Logik und der Transzendentalphilosophie, also des die Urteilsfunktionen regierenden apperzeptiven Verbindungsakts des Ich denke gewidmet ist. Ohne den quasi-besitzergreifenden apprehensiven Teilakt dieses Zentralakts würde die Vorstellung »wenigstens für mich nichts sein«.209 Den quasi-besitzergreifenden Charakter dieses vorstellungsbindenden, apprehensiven Bewußtseinsakts akzentuiert Kant sogar ausdrücklich, indem er ihn mehrmals durch die kursivierten Possessivpronomina mein und unser charakterisiert.210 Allerdings sind diese possessiv-pronominalen Wendungen offensichtlich nur sprachlich verkürzte Fassungen der eigentlichen, reflexiven Charakterisierungen wie der, daß »ich mir des Mannigfaltigen […] bewußt sein könne«211: ›Meine Vorstellung zu sein‹ bedeutet daher gar nichts anderes als ›eine Vorstellung zu sein, deren ich mir bewußt bin‹. Gleichzeitig verweisen die possessiv-pronominalen Wendungen vor allem in den Plural-Formen wir/unser wiederum auf die anthropologische Relevanz der hier analysierten elementarsten Formen protologischer kognitiver Akte und Leistungen. Man schreibt Kants gelegentlicher possessiv-pronominaler Sprechweise in diesem thematischen Kontext daher ein gänzlich unangemessenes theoretisches Format zu, wenn man sie als Beiträge zur Klärung oder Lösung eines speziellen Problems der »ownership of mental states«212 auffaßt. Selbstzuschreibungen von Vorstellungen, die diesen Namen verdienen, haben die Form von ich-Sätzen, mit denen sich Sprecher reflexive Akte zuschreiben, durch die sie sich (!) selbst (!), also spontan exemplarische Vorstellungen bewußt machen. Kants eigene Formulierung »ich denke mir rot-überhaupt« ist indessen nicht ein Beispiel dafür, wie ein urteilendes Subjekt die Vorstellung rot-überhaupt in 209 B 131. 210 Vgl. B 132 f., 134, 135, 138. Es ist daher auch kein Zufall, daß Kant das Lateinische apprehensio in seiner Praktischen Philosophie (des Rechts) in Übereinstimmung mit der juridischen Terminologie seiner Zeit als Terminus für ein Moment des rechtlichen Akts der ursprünglichen Erwerbs eines Gegenstandes in Raum und Zeit verwendet, vgl. VI, 258 ff. Im Kontext seiner Theoretischen Philosophie wird der Terminus entsprechend zur Charakterisierung des kognitiven Akts des ursprünglichen Erwerbs einer Vorstellung in der Zeit verwendet, z. B. in Form der »Quaestio facti […], auf welche Art man sich zuerst in den Besitz eines Begriffs gesetzt habe«, R 5636, S. 267, und der Antwort mit dem Hinweis auf die entsprechende Funktion »der apprehension«, S. 268. Freges Thesen zum subjektiv-individuellen Privateigentumscharakter von Vorstellungen (vgl. Frege, Gedanke, S.  40–42) können daher durchaus ein spätes Echo eines Mißverständnisses sein, das er sich schon früh eingehandelt hat, als er u. a. durch Auseinander­setzung Kants entsprechenden Texten seine eigene Logik-Konzeption entwickelt hat und sich in diesem Zusammenhang einen konzeptionellen ›Reim‹ auf Kants gelegentlichen Gebrauch von Possessivpronomina in einem teils logischen und teils epistemologischen Kontext zu machen gesucht hat. 211 B 139, Hervorhebungen R. E. 212 Jonathan Bennett, Kant’s Analytic, Cambridge 1966, S. 104.

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einem authentischen Urteilsakt wie Der schwere Zinnober ist rot213 apprehendiert. Sie ist vielmehr ein nachträgliches Reflexions- und Abstraktionsprodukt des Logikers und Transzendentalphilosophen, wenn er sich fragt, wie er diese Apprehension gerade unabhängig vom authentischen Urteilsakt mit Hilfe einer sprachlichen Formulierung thematisieren kann. Auch die possessiv-pronominalen Formulierungen Kants gehören zu dieser Art von nachträglichen Reflexions- und Abstraktionsprodukten. Es geht daher nicht um ownership an und noch nicht einmal hauptsächlich um Selbstzuschreibung von Vorstellungen. Es geht vielmehr darum, daß niemand, also kein Mensch auch nur eine einzige Vorstellung in einem Augenblicks-Akt der urteilsförmigen Verbindung von zwei oder mehr als zwei Vorstellung gebrauchen könnte, ohne mit dieser Einen Vorstellung ein synthesis-spezifisches, den Augenblicks-Vollzug des Urteilsakts überhaupt erst ermöglichendes und in einem Teil-Augenblick des Urteilsakts anfangendes apprehensives Akt-Bewußtsein zu verbinden. In welchen temporalen Formen die Apprehensionen der Vorstellungen, die in einem Urteilsakt verwendet werden, an diesem Urteilsakt nach dem früher-später-Schema beteiligt sind, hängt offenbar von der formal-logischen Rollenverteilung ab, die für ihre Beteiligung am jeweiligen Urteilsakt durch die kategorische oder eine komplexere Urteilsfunktion bestimmt wird. Die Analysen und Erörterungen der A- und der B-Deduktion, die einander auch in diesem Punkt ergänzen, geben daher in ihrem Zusammenhang zu verstehen, daß der temporale Augenblicks-Charakter des apprehensiven Syn­thesisTeilakts erst in einer Formulierung nach dem Muster ich denke (mir) jetzt rotüberhaupt angemessen thematisiert wird. Präsentiert man diesen Ausdruck überdies mit dem Abstraktionsgrad, der dem Abstraktionsgrad dieser Analysen und Erörterungen angemessen ist, indem man vom Inhalt der apprehendierten Vorstellung abstrahiert und in inhaltlich unbestimmter Form eine Vorstellung vn thematisiert, dann erhält man ich denke (mir) jetzt vn. Das Argument in der Form eines irrealen negativen Konditionals, das den formalen Anteil der Synthesis der Apprehension an jedem urteilsförmigen Akt der Verbindung von Vorstellungen, vor allem also von mindestens zwei Vorstellungen v1 und v2 betrifft, besagt daher: Einem urteilsbeflissenen Subjekt könnte noch nicht einmal der einfachste, der kategorisch geformte Urteilsakt gelingen, wenn es nicht in irgendeinem Augenblick anfangen könnte, wenigstens eine der beiden Vorstellungen durch eine apprehensive Synthesis mit Bewußtsein zu verbinden. Der Mikroskopierungsgrad, mit dem Kants Analysen Licht auch in die formale, speziell in die temporale Binnenstruktur sogar des elementarsten Urteilsakts und des entsprechenden Urteilsbewußtseins werfen, zeigt das zentrale Argument des zweiten Synthesis-Abschnitts: »Die Synthesis der Apprehen-

213 Vgl. A 101.

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sion ist mit der Synthesis der Reproduktion unzertrennlich verbunden«.214 Damit macht Kant zunächst einmal – wenngleich implizit – darauf aufmerksam, daß innerhalb der Augenblicks-Zeitspanne, in der ein gelingender urteilsförmiger Akt der kategorischen Synthesis einer Vorstellung v1 und einer Vorstellung v2 mit der Synthesis der Apprehension der Vorstellung v1 anfängt, zu keiner beliebig minimalen Teil-Augenblicks-Zeitspanne eine Synthesis der Reproduktion der Vorstellung v1 fehlgeschlagen sein kann. Mit seinem Unzertrennlichkeits-Argument gibt er also zu verstehen, daß das Subjekt auch des einfachsten urteilsförmigen Synthesis-Akts sogar schon während der TeilAugen­blicks-Zeitspanne dieser Apprehension zu keiner wie auch immer noch kleineren Teil-Augenblicks-Zeitspanne dieses Augenblicks der Ausübung der Synthesis der Reproduktion der Vorstellung v1 unfähig sein kann, wenn ihm diese Vorstellung nicht schon nach der kürzest denkbaren Teil-Zeitspanne dieses Apprehension »eine neue Vorstellung«215 sein soll. Das Subjekt muß also in jeder beliebig kurzen Teil-Augenblicks-Zeitspanne der Apprehension von seiner Fähigkeit Gebrauch machen können, die einmal apprehendierte Vorstellung gleichsam »herüberzurufen«216 bzw. die einmal angefangene Apprehension dieser Vorstellung sowohl durch einen Akt der Reproduktion wie durch einen Akt der Rekognition fortzusetzen in dem »Bewußtsein, daß das, was wir denken [z. B. die Vorstellung rot überhaupt, R. E.] eben dasselbe sei, was wir einen Augenblick zuvor dachten«.217 Wenn ›es‹ nicht ›dasselbe‹ wäre, dann wäre diejenige Apprehension dieser Vorstellung, die wir eine beliebig kleine Teil-Augenblicks-Zeitspanne nach ihrer anfänglichen Apprehension ausüben, gar nicht eine Re-Produktion ›desselben‹, sondern auch eine neue Apprehension einer neuen Vorstellung. Doch es liegt auf der Hand, daß dies irreal-konditionale Argument geradezu a fortiori restlos auch mit Blick auf die Struktur des ganzen Urteilsakts gilt, also des Akts, durch den das urteilende Subjekt im formal einfachsten Fall den Teilakt der Apprehension einer Vorstellung v1 im Augenblick t1 mit Hilfe eines Akts der Reproduktion und eines Akts der Rekognition zugunsten der kategorischen Verbindung dieser Vorstellung mit der anderen Vorstellung v2 im späteren Augenblick t2 fortsetzt.218 Denn auch mit Blick auf diesen urteils­förmigen 214 A 102. 215 A 103. 216 A 121. 217 A 103. 218 Die hier verwendeten abkürzenden Symbole für die Augenblicke, von denen Kant spricht, sollten keinesfalls im Sinne der entsprechenden in der Physik gebräuchlichen Symbole als Terme für mathematisch konzipierte Zeit-Punkte mißverstanden werden. Die spontanen urteilsförmigen Verknüpfungsakte, an denen im Licht von Kants Theorie die drei Synthesen beteiligt sind, sind als Akte, also aus begrifflichen Gründen auf wie auch immer minimale, aber prinzipiell unmeßbare Zeit-Spannen ihres Vollzugs angewiesen. Als Längen von Teil-Zeitspannen spontaner urteilsförmiger Akte des

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Akt gilt selbstverständlich, daß er dem urteilsbeflissenen Subjekt in der Fortsetzung seines Teilakts der Apprehension der Vorstellung v1 gar nicht gelingen könnte »ohne Bewußtsein, daß das, was wir [auch im späteren Augenblick t2, R. E.] denken [nämlich die Vorstellung v1, R. E.], eben dasselbe ist, was wir einen Augenblick zuvor [nämlich im früheren Augenblick t1, R. E.] dachten«.219 Andernfalls »[wäre] es [nämlich die Vorstellung v1, R. E.] […] eine neue Vorstellung im jetzigen Zustande [also im Augenblick t2 , R. E.]«.220 Auch die apperzeptive, urteilsförmige Verbindung einer in einem Augenblick t1 apprehendierten Vorstellung v1 mit einer im Augenblick t2 apprehendierten Vorstellung v2 zugunsten eines elementaren zweistelligen Urteils221 ist dem urteilsbeflissenen Subjekt daher nur deswegen möglich, weil »Die Synthesis der Apprehension […] mit der Synthesis der Reproduktion unzertrennlich verbunden [ist]«.222 Andernfalls »würde niemals so etwas, als Erkenntnis [bzw. Erkenntnisurteil, R. E.] ist, entspringen, welche[s] ein Ganzes […] verknüpfter Vorstellungen ist«,223 im einfachsten Fall also ein Ganzes aus kategorisch verknüpften Vorstellungen v1 und v2 . Kants Bemerkung über die rekognitive Bedingung der ›Nicht-Vergeblichkeit aller Reproduktion in der Reihe der Vorstellungen‹ enthält den wichtigsten Fingerzeig in Richtung auf den formalen Zusammenhang zwischen allen drei von ihm analysierten Synthesis-Formen. Durch diesen Fingerzeig gibt er zunächst zu verstehen, daß er im dritten Synthesis-Abschnitt lediglich versäumt hat, hier die einschlägige abstrakte Hauptthese zu formulieren, die der Hauptthese des zweiten Abschnitts entspricht: ›Die Synthesis der Reproduktion ist mit der Synthesis der Rekognition unzertrennlich verbunden‹. Denn die reproduktive Synthesis der in der früheren Augenblicks-Teilzeitspanne t1 apprehendierten Vorstellung v1 in der späteren Augenblicks-Teilzeitspanne t2 als dieselbe Vorstellung, die in der früheren Augenblicks-Teilzeitspanne t1 zuerst apprehen­ Bewußtseins können sowohl die Urteilsakte wie ihre apprehensiven Teilakte auch dann nicht gemessen werden, falls sie mit irgendwelchen empirisch nachweisbaren physiologischen Prozessen korreliert werden können, deren Zeitspannen gemessen werden können. Die Längen von urteilsförmigen Bewußtseinsakten und ihren kognitiven Teilakten können ausschließlich qualitativ und komparativ geschätzt werden, indem ihr logischer Komplexitätsgrad als Maß verwendet wird: Kategorische Urteilsakte und deren kognitive Teilakte dauern weniger lange als die einfachsten hypothetischen bzw. disjunktiven Urteilsakte und deren kognitive Teilakte, diese dauern weniger lange als die einfachsten syllogistisch geformten Urteilsakte (mit zwei Prämissen) und deren kognitive Teilakte usw.; vgl. hierzu auch unten S. 176, Anm. 226. 219 A 103, Hervorhebungen R. E. 220 A 103, Hervorhebungen R. E. 221 »Die Stelle in einem Urteil ist eine logische Function«, R 3468, z. B. »die Funktion des Subjekts« oder »die des Prädikats«, B 129; zu Kants funktionalistischem Begriff der Stelle in einem Urteil vgl. die Klarstellungen schon bei Reich, Vollständigkeit, S. 69 ff. 222 A 102. 223 A 97, Hervorhebungen R. E.

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diert worden ist, ist gar nichts anderes als die die (nicht-meßbare) AugenblicksZeitspanne Δt 2 ,t1 gleichsam überbrückende rekognitive Synthesis von v1 in der Augenblicks-Teilzeitspanne t2 . Wenn daher die Synthesis der Apprehension gemäß der Schlußregel der Transitivität ebenfalls unzertrennlich auch mit der der Rekognition verbunden ist, dann bedeutet diese Form der Unzertrennlichkeit, daß ein und derselbe Teilakt des ganzen apperzeptiven, urteilsförmigen Aktes der Verbindung von wenigstens zwei Vorstellungen alleine schon wegen der einen von wenigstens zwei verwendeten Vorstellungen durch die drei kognitiven Teilakte der Apprehension, der Reproduktion und der Rekognition geprägt ist. Kant betont diese formale, aber an eine Augenblicks-Zeitspanne gebundene Einheit dieses Teilakts, wenn er abschließend noch einmal die Form des irrealen Konditionals verwendet und den (irrealen) Fall ins Auge faßt, daß mit der Reproduktion in der späteren Augenblicks-Teilzeitspanne t2 der in der früheren Augenblicks-Teilzeitspanne t1 apperzipierten Vorstellung v1 die Rekognition von v1 nicht unzertrennlich verbunden wäre: » […] es wäre eine neue Vorstellung im jetzigen [t2, R. E.] Zustande, die zu dem Aktus, wodurch sie nach und nach hat erzeugt werden sollen, gar nicht gehörte«.224 Das nach und nach der Erzeugung einer im Zuge eines Urteilsakts verwendeten Vorstellung ist daher gar nichts anderes als derjenige in einer Augenblicks-Teilzeitspanne vollzogene Teilakt dieses Urteilsakts, durch den das urteilende Subjekt nach und nach ein apprehensives, ein reproduktives und ein rekognitives Bewußtsein mit dieser Vorstellung verbindet  – andernfalls würde diese Vorstellung »wenigstens für mich nichts sein«.225 Mit Blick auf jeden Urteilsakt lassen sich daher so viele apprehensiv, reproduktiv und rekognitiv geprägte Teilakte und ebenso viele entsprechende Augenblicks-Teilzeitspannen unterscheiden, wie das urteilende Subjekt Vorstellungen v1, …, vn in Abhängigkeit vom logischen Komplexitätsgrad der Urteilsform verwendet. Mit der terminologischen Apostrophierung der dritten Synthesis-Form als einer rekognitiven ruft Kant eine sach­liche Frage wach, die man nicht ohne Revision dieser Terminologie beantworten kann. Denn wenn es sich bei dieser Synthesis entsprechend ihrer von Kant apostrophierten Eigenschaft um eine im üblichen Sinne des Wortes erkennende Form der Synthesis handeln würde, dann müßte das Subjekt dieser Synthesis auch über ein Kriterium verfügen, das ihm in jedem Fall einer reproduzierten Vorstellung zu beurteilen erlaubte, ob die jeweils reproduzierte Vorstellung dieselbe wie eine früher apprehendierte Vorstellung ist oder nicht. Doch das kann deswegen nicht der Fall sein, weil eine solche Beurteilung voraussetzt, daß das Subjekt einer reproduktiven Synthesis über eine Methode und ein Kriterium verfügt, die es ihm generell erlauben, eine früher apprehendierte Vorstellung mit einer später apprehendierten Vor224 A 103, Hervorhebungen R. E. 225 B 131.

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stellung zu vergleichen. Doch das würde voraussetzen, daß diese Methode ihm erlaubt, eine früher apprehendierte Vorstellung in einem späteren Augenblick als die früher apprehendierte ›herüberzurufen‹, um sie mit einer in einem späteren Augenblick apprehendierten Vorstellung als der später apprehendierten zu vergleichen und durch einen solchen Vergleich zu dem Urteil zu gelangen, daß sie entweder verschieden oder aber nicht verschieden sind. Doch eine solche Kriterien- und Methoden-Konzeption enthält nur allzu offensichtlich eine ­petitio principii. Denn eine früher apprehendierte Vorstellung in einem späteren Augen­blick zu einem Identitäts- und Diversitätsvergleich mit einer später apprehendierten Vorstellung ›herüberzurufen‹, setzt voraus, sie als die früher apprehendierte ›herüberzurufen‹, um sie mit der später apprehendierten Vorstellung zu vergleichen, und setzt daher als eine ausgemachte Tatsache voraus, was durch den Vergleich erst ans Licht gebracht werden können soll – daß nämlich die früher apprehendierte Vorstellung im späteren Augenblick ihres ›Herübergerufen‹werdens und des Vergleichs sowie im Gegensatz zu der später apprehendierten Vorstellung bereits als die früher apprehendierte Vorstellung identifiziert ist, also als dieselbe Vorstellung bereits wiedererkannt, ›rekognisziert‹ ist und daher des Identitäts- und Diversitätsvergleichs, zu dessen Durchführung sie ›herübergerufen‹ worden ist, gar nicht mehr bedarf. Unterzieht man Kants Drei-Synthesen-Konzeption aus dem Blickwinkel ihrer dritten terminologischen Prägung dieser einfachen methodologischen und sachlichen Revision, dann zeigt sich, daß bereits die zweite terminologische Prägung einer Synthesis der Re-produktion einer früher apprehendierten Vorstellung eine stillschweigende Identifikations-Unterstellung enthält. Bei genauerem Hinsehen ist es daher eben diese stillschweigende Identifikations-Unterstellung, die durch den ersten Satz des Dritten Abschnitts (A 103) lediglich explizit gemacht wird. Kants spezielle These über die unzertrennliche Verbundenheit speziell der Synthesis der Apprehension mit der der Reproduktion (A 102) kann daher zu einer formalen These erweitert werden: Jede Apprehension einer Vorstellung in einer Augenblicks-Zeitspanne bildet nicht nur einen Teil-Akt eines logisch beliebig einfachen bzw. komplexen Urteilsakts; ein solcher apprehensiver Teilakt schließt in der Form einer reproduktiven und einer rekognitiven Synthesis auch die die Zeitspanne des ganzen Urteilsakt über­ brückende Iden­tifikation der apprehendierten Vorstellung ein.226 226 Zur Tragweite von Kants Konzeption der temporalen kognitiven Strukturierung jedes beliebig einfachen bzw. komplexen Urteils(-akts) für die Transzendentale Deduktion der Kategorien vgl. Zweiter Teil, 13. Ab. Unter den an der Sprechakttheorie und an der Philosophie des Geistes arbeitenden Autoren wird gelegentlich wenigstens der empirisch-psychologische Parallelbefund als Argument verwendet, so wenn z. B. Searle, The Rediscovery, bemerkt: »For example, when I speak or think a sentence, even a long one, my awareness of the beginning of what I said or thought continues even when that part is no longer thought or spoken«, 130. Allerdings verkennt Searle den von Quine, Word and

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Nicht weniger wichtig als diese formale Klärung ist die sachliche Klärung, die sich aus dieser Revision ergibt: Die zeitüberbrückende Identifikation einer Vorstellung, die mit der Apprehension dieser Vorstellung im Zuge eines Urteilsakts verbunden ist, wird vom Subjekt dieses Urteilsakts ohne jegliche Zuhilfenahme eines Identitätskriterium vollzogen. Die zunächst paradox oder sogar widersprüchlich scheinende Konzeption einer Identifikation-ohne-Identitätskriterium geht in Kants Theorie allerdings auf eine Einsicht zurück, von der die kriteriologischen Standard-Theorien der Identität bzw. der Identifikation keinen Gebrauch machen müssen. Diese Theorien sind von Anfang an mit der Frage nach der Identität bzw. Identifikation von Referenz-Objekten befaßt, aber nicht mit der Frage nach der Identität bzw. Identifikation von objekt-referentiellen Mitteln, wie sie im Rahmen von Kants Theorie von Vorstellungen gebildet werden, sofern sie von urteilenden Subjekten in den logischen Rollen ihrer Urteile verwendet werden. Zwar fallen diesen Vorstellungen, wie Kant in seinen beiden Kategorien-Deduktionen – also der metaphysischen und der transzendentalen Deduktion – zu zeigen unternimmt, in Übereinstimmung mit ihren nicht-referentiellen logisch-syntaktischen Rollen auch spezifische objekt-referentielle Rollen zu. Frühestens im Rahmen der beiden Deduktionen können daher auch Fragen nach Identitäts- bzw. Identifikationskriterien für entsprechende Referenz-Objekte von Vorstellungen mit bestimmten logischen Rollen in Urteilen thematisch werden. Mit Blick auf die Untersuchungen von Logik und Transzendentalphilosophie setzt Kant sogar ganz allgemein voraus: »Alle Vorstellungen haben, als Vorstellungen, ihren Gegenstand«.227 In den beiden Deduktionen wird er sich in erster Linie sogar erst einmal der Frage widmen, ob und gegebenenfalls aus welchen Gründen wir überhaupt berechtigt sind, mit der unterstellten Objekt-Referenz unserer Vorstellungen den starken Anspruch auf objektive Gültigkeit von Urteilen zu verbinden, in deren Rahmen wir sie verwenden. Es könnte ja immerhin sein, daß es sich bei der Unterstellung, wonach ›alle Vorstellungen, als Vorstellungen, einen Gegenstand haben‹, im Sinne Wittgensteins um eine ›grammatische Bemerkung‹ handelt – also um den grammatischen Kommentar, daß in der deutschen Sprache das Wort Vorstellung konventionellerweise so gebraucht wird, daß es eine Vorstellung von etwas zwar bedeutet, wiewohl durch diese konventionale Gebrauchsbedeutung228 des Object, berücksichtigten wichtigen formalen Zusammenhang (vgl. oben S. 12, Anm. 12) zwischen den mehr oder weniger komplexen logischen Formen sprachlicher Äußerungen und ihren entsprechenden mehr oder weniger kurzen Zeitspannen. Weil Searle diese logische Komponente verkennt, kann er auch irrtümlich meinen, Kants termi­ nologischer Titel »the transcendental unity of apperception«, ebd., sei nur eine andere Bezeichnung des »binding problem«, ebd., der Neurophysiologie. 227 A 108. 228 So der treffliche terminus technicus in der vorzüglich gearbeiteten Sprachtheorie von von Savigny, Sprache.

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Wortes Vorstellung noch nicht einmal die Möglichkeit garantiert ist, daß Urteile, in denen Vorstellungen in dieser objekt-referentiellen Bedeutung des Wortes gebraucht werden, mit Blick auf die Objekte, die sie thematisieren, objektiv gültig oder wahr ausfallen. Doch im Rahmen der Synthesis-Analysen des ›höchsten Punkts‹ und der apprehensiven, reproduktiven und rekognitiven Vollzugsbedingungen des Urteilsakts abstrahiert Kant planmäßig von aller ObjektReferenz von Vorstellungen. Daher können in diesem Rahmen und mit Blick auf die Frage der Identität bzw. Identifikation von urteilsförmig gebrauchten Vorstellungen objekt-referentiellen Kriterien auch keinerlei Rolle spielen. Die Paradoxie einer kriterienlosen Identifikation von Vorstellungen wird im Zusammenhang mit Kants verzweigter Synthesis-Konzeption indessen durch seine umfassendere Theorie der kognitiven Vermögen aufgelöst. Bei diesen Vermögen handelt es sich um den Typus der gegenwärtig so trefflich apostrophierten dispositionellen Fähigkeiten. Denn das Dispositionelle dieser Fähigkeiten besteht darin, daß die mit diesen Fähigkeiten begabten Wesen dafür dis­poniert sind, von ihnen Gebrauch zu machen  – und zwar in den dafür spezifischen Formen  –, wenn sich ihnen 1.) die für die Übung und Bewährung dieser Fähigkeiten günstigen Gelegenheit bieten; wenn sich solche für die Übung und Bewährung dieser Fähigkeiten günstigen Gelegenheiten 2.) regelmäßig auf zunehmenden Komplexitätsniveaus bieten, und wenn sich solche günstigen Gelegenheiten 2.1.) so lange auf zunehmenden Komplexitätsniveaus bieten, bis sie in der Lage sind, sogar selbst die Gelegenheiten herbeizuführen, die günstig dafür sind, daß sie die Übung und Bewährung dieser Fähigkeiten jeweils bis zu dem Komplexitätsniveau fördern, das den kognitiven Ansprüchen ihrer jeweiligen Lebenssituation angemessen ist. Für Kant ist die mit diesen Übungs- und Bewährungsformen verbundene Kultivierung der »positive Teil der physischen Erziehung […]« des Menschen und »[…] besteht vorzüglich in der Übung seiner Gemütskräfte«, zu der ihm in erster Linie die jeweiligen »Eltern […] Gelegenheit geben [müssen]«.229 Diese nicht nur pädagogische, sondern ebenso lerntheoretische Konzeption der okkasionellen, situationsabhängigen und komplexitätssteigernden Übung und Bewährung der dispositionellen Fähigkeiten hat innerhalb von Kants Theorie der Erfahrung ihre prominenteste Ausprägung in der berühmten S­ entenz gefunden: »[…] so zeigt sich, daß […] Urteilskraft […] ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will«.230 Es ist in vieler Hinsicht nur allzu bedeutsam, daß Kant die Formulierung dieser Sentenz jenem abschließenden Abschnitt des Textes seiner Theorie der Erfahrung vorbehalten hat, der insgesamt Der transzendentalen Doktrin der Urteilskraft gewidmet ist. Damit signalisiert Kant nicht nur, daß die Früchte der dem Menschen 229 IX 466. 230 A 133, B 172.

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möglichen Erfahrung – also seine Erfahrungsurteile – ausschließlich davon abhängen, daß seine Urteilskraft immer wieder von neuem mit Erfolg auf zunehmend gesteigerten Komplexitätsniveaus geübt wird. Nicht weniger gibt er damit aber auch zu verstehen, daß an der Ausschließlichkeit, mit der die Kultivierung, also die Komplexitätssteigerung und das Differenzierungs­niveau der Urteilskraft von ihrer Übungsbedürftigkeit und -fähigkeit abhängen, auch noch näher zu bestimmende funktionale (kognitive) Komponenten der Urteilskraft beteiligt sind. Es kann indessen nicht gut bezweifelt werden, daß die diversen von Kant analysierten Synthesis-Vermögen zu diesen Komponenten gehören. Denn würden wir diese Synthesis-Vermögen nicht ausüben können, »so würde niemals so etwas, als Erkenntnis ist, entspringen, welche ein Ganzes verglichener und verknüpfter Vorstellungen ist«,231 das wiederum ein Ganzes von mit Hilfe von Urteilsfunktionen- bzw. -formen verknüpftes Ganzes, also ein durch ein objektiv gültiges Urteil gewonnenes Ganzes ist. Der ausschlaggebende Charakter dieser Vermögen, durch den sie die charakteristische exklusive Übungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Urteilskraft teilen, bildet indessen die Spontaneität, mit der das zentrale Synthesis-Vermögen der Apperzeption und ebenso die an seiner Ausübung beteiligten apprehensiven, reproduktiven und rekognitiven Synthesis-Vermögen ausgeübt werden; denn »Es ist eine und dieselbe Spontaneität, […] dort [im Zuge der drei Synthesis-Formen, R. E.], unter dem Namen der Einbildungskraft, hier [im Zuge der urteilenden Verknüpfung von diversen Vorstellungen, R. E.] des Verstandes«.232 Doch Spontaneität kann niemand gelehrt werden – weder die Spontaneität, mit der ›unter dem Namen des Verstandes‹ Vorstellungen bzw. die sie ausdrückenden Worte in logischen Formen zu Urteilen verknüpft werden, noch die Spontaneität, mit der ›unter dem Namen der Einbildungskraft‹ jede urteilsförmig verwendete Vorstellung während eines mehr oder weniger kurzen Augenblicks durch einen apprehensiven, reproduktiven und rekognitiven Akt als dieselbe bewußt gemacht wird. Es ist diese Spontaneität von Urteilsakten sowie der Apprehension, Re­ produktion und Rekognition jeder einzelnen in einem Urteilsakt verwendeten Vorstellung, was niemand durch abstrakte Unterrichtungen und Belehrungen über sie beigebracht werden kann. Wohl aber kann man nachträglich – und zwar nur nachträglich  – mit Mitteln der transzendentalen und der logischen Reflexion und Analyse über sie belehrt werden, z. B. durch Analysen, wie sie Kant angestellt und mitgeteilt hat. Allerdings können sie für den Adressaten solcher Belehrungen und Unterrichtungen auch nur und erst dann verständlich werden, wenn er die Spontaneität in diesen Formen bereits hinreichend oft sowie über einen hinreichend langen Zeitraum und auf wachsenden 231 A 97. 232 B 162*.

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Komplexitäts­niveaus logischer Formen von Urteilen mit Erfolg geübt hat. Andernfalls könnte er gar nicht verstehen, worüber er auf diese reflexive und analytische Weise belehrt werden soll – im Grunde nämlich über sich selbst und über das ›Radikalvermögen der Erkenntnis‹ von allem und jedem, was er sich durch Akte des Urteilens sonst noch zugänglich zu machen vermag. Die Urteilskraft kann eben deswegen nur geübt werden – und zwar im Licht von Kants Theorie auf steigenden Niveaus von zunehmend komplexeren Urteilsformen233 und von ebenso zunehmend komplexer werdenden kategorialen Gegenstandsbezügen von Urteilen mit unterschiedlichen logischen Formen. Die Tatsache, daß die Urteilskraft nicht belehrt, sondern nur geübt werden kann – nämlich darin, für Individuelles das Generelle zu suchen und zu finden, unter das es subsumiert werden kann (reflektierende Urteilskraft), sowie darin, für Generelles das Individuelle zu suchen und zu finden, das unter es subsumiert werden kann (bestimmende Urteilskraft)  –, ist nur das wichtigste Erbteil der Spontaneität, mit der jede Urteilsbildung durch die urteilsformenträchtige apperzeptive Synthesis von Vorstellungen beginnt. Die eigentümlich exklusive Übungsbedürftigkeit und -fähigkeit der Urteilskraft – und zwar sowohl der bestimmenden wie der reflektierenden – ist daher gar nichts anderes als die wichtigste charakteristische Ausprägung der Spontaneität, mit der diese Formen der Synthesis nirgendwo sonst so strikt ausgeübt werden können und müssen wie in der Betätigung der Urteilskraft.234 Unter diesen Voraussetzungen kann auch niemand durch irgendjemand anders mit Hilfe von belehrenden Informationen über logische Urteilsformen bzw. -funktionen lernen, wie er Vorstellungen so zu urteilsförmigen Verbindungen fügen kann, daß er eine einmal apprehendierte und irgendeiner logischen Rollenverwendung zugeführte Vorstellung vor ihrer Nicht-Reproduzierbarkeit oder Nicht-Rekogniszierbarkeit bewahren kann. Man kann in dieser belehrenden oder unterrichtenden Form noch nicht einmal lernen, wie man Vorstellungen apprehendieren und darüber hinaus auch noch anfangen kann, sie in irgendeiner Urteilsform zu verwenden. Denn alleine schon die Apprehension einer einzigen urteilsförmig verwendeten Vorstellung in einem Augenblick ist, wie Kant zu be233 In einer in diesem Punkt an Kant anklingenden Bemerkung zum spontanen Charakter des Gebrauchs der von der modernen formalen Logik thematisierten logischen Funktionen streicht dies auch Günther Patzig, Gottlob Frege, in: O. Höffe (Hg.), Klassiker der Philosophie: Zweiter Band: Von Immanuel Kant bis Jean-Paul Sartre, München 1981, S. 251–273, heraus, wenn er betont, daß »wir den Bereich der Urteilsformen ›denkend in unserer Gewalt‹ [haben]«, S. 255. Kant verwendet die Phrase in seiner Gewalt haben gelegentlich sogar selbst, um die Spontaneität zu charakterisieren, mit der wir Vorstellungen gebrauchen können, vgl. VIII, 131. 234 Mit guten Gründen wählt Longueness, Capacity, den Terminus capacity, um den gerade mit Blick auf Kants Philosophie außerordentlich wichtigen Unterschied zwischen diesem dispositionellen Vermögen und seinen Aktualisierungen durch den konkreten Vollzug von Akten des Urteilens trennscharf unterscheiden zu können, vgl. S. 7–8, bes. 712.

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denken gibt, ohne stetige Reproduktion dieser Vorstellung als derselben während dieses Augenblicks – also ohne ihre stetige sowohl reproduktive wie rekognitive Synthesis – gar nicht möglich. Die Kriterienlosigkeit, mit der eine in einem Augen­blick apprehendierte Vorstellung stetig als dieselbe reproduziert wird, hängt daher davon ab, »daß die Synthesis der Apprehension […] der Synthesis der Apperzeption […] notwendig gemäß sein müsse«,235 sowie davon, daß »Es […] eine und dieselbe Spontaneität [ist], welche […] Verbindung in das Mannigfaltige […] bringt«236 – und zwar in das temporal zerstreute Mannigfaltige von atomaren, logisch unförmigen Vorstellungen, in die ebenso viele Pseudo-Subjekte zerstreut wären, wenn es nicht paradigmatische Subjekte wie die Menschen geben würde, die einzelne Vorstellungen wirklich in beliebig kurzen AugenblicksZeitspannen spontan apprehendieren und stetig als dieselben reproduzieren können, indem sie solche Vorstellungen wirklich spontan urteilsförmig verbinden. Logik und Zeit werden durch diese Überlegungen Kants im Rahmen einer kohärenten, wenngleich buchtechnisch zerstreuten Theorie237 als zwei elementare miteinander verflochtene Dimensionen verständlich gemacht, die jeden Urteilsakt durchdringen. Die Überlegungen, mit deren Hilfe Kant die Beteiligung dieser beiden Dimensionen am Urteilsakt klärt, werden von ihm mit Bedacht im Rahmen einer Vorläufigen Erinnerung entwickelt.238 Denn sie gehören offensichtlich in eine Propädeutik, die auf seine Formale Logik vor allem des­ wegen vorbereiten soll, weil sich diese Logik mit der temporalen Dimension des Urteilsakts einer Strukturkomponente des Urteilsakts annimmt, die wegen ihres a-logischen Charakters von Logikern in der Regel vernachlässigt wird. Doch wie sich gezeigt hat, ist die Berücksichtigung der temporalen Strukturkom­ ponente des Urteilsakts alles andere als unabhängig von der Behandlung der logischen Form dieses Akts. Vielmehr können die in diesem Akt gebrauchten Vorstellungen gerade in den logischen Rollen, in denen sie vom urteilenden Subjekt gebraucht werden, nur in sukzessiver Form gebraucht werden. Kant läßt im Rahmen dieser Propädeutik offen, wie Vorstellungen in Urteilen gebraucht werden, wenn sie in diversen logischen Rollen gebraucht werden. Die Antwort auf diese wie-Frage ist seiner Formalen Logik mit ihrem Kernstück der in der sog. Urteilstafel ›vor Augen gestellten‹ Urteilsformen bzw. -funktionen vorbehalten. Doch eine Art von Proto-Antwort auf diese wie-Frage hat Kant noch in der Propädeutik dieser Formalen Logik gegeben: Sowohl die diversen formalen Rollen für den logischen Gebrauch von Vorstellungen wie deren urteilsförmige Einheit in ihrer temporal zerstreuten Vielheit – also mindestens in ihrer Zweiheit – sind der Spontaneität zuzuschreiben, mit der ein des Urteilens-überhaupt 235 B 162*. 236 Ebd. 237 Zu der auch in der philosophischen Arbeit unvermeidlichen »Erkenntnis in Zerstreuung« vgl. mit Blick auf diesen speziellen Fall noch einmal Henrich, Werden, bes. S. 132–168. 238 Vgl. A  98 ff.

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fähiges Subjekt diese Urteilsform stiftet und durch sie die temporale Zerstreutheit überwindet, in der sich diese Vorstellungen ohne den Rekurs auf diese logische Spontaneität verlieren müßten. Borgt man sich aus den gegenwärtigen Erörterungen einen disziplinären Titel für die Überlegungen, mit deren Hilfe Konzeptionen spezieller logischer Systeme gerechtfertigt werden, dann enthält diese logische Propädeutik Kants seine Protologik239  – also seine Rechtfertigung des Unternehmens, die Formale Logik als eine Theorie der logischen Formen temporal strukturierter Urteilsakte auszuarbeiten.

9. Eine kleine Protologik von Gegenstandsbegriffen Kants Protologik ist indessen nicht nur die propädeutische Disziplin einer speziellen Formalen Logik, also der Disziplin, die die spezifisch logischen Eigenschaften der Verknüpfungsfunktionen sucht und untersucht, mit deren Hilfe temporal zerstreute, logisch unförmige Vorstellungen in diversen logischen Rollen zur Einheit eines Urteilsakts gefügt werden. Sie ist darüber hinaus sogar auch noch die propädeutische Disziplin der Transzendentalen Logik. Indessen wird die Tragweite, die diese propädeutische Disziplin auch noch für die Transzendentale Logik enthält, nicht selten vernachlässigt. Das hängt ebenso wie im Fall der Drei-Synthesen-Analyse und der Konzeption des ›höchsten Punkts‹ vor allem damit zusammen, daß Kant die einschlägigen Überlegungen in buchtechnischer Hinsicht nun einmal unter dem Titel einer Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe vorträgt. Da diese propädeutischen Überlegungen indessen mit der Einführung nicht nur eines einzigen Gegenstandsbegriffs, sondern sogar von (mindestens) zwei wohlunterschiedenen Gegenstandsbegriffen beschäftigt sind, mag die Entscheidung Kants, sie in diesen thematischen Textteil zu integrieren, verständlich erscheinen. Die Schwierigkeiten waren einfach zu außerordentlich, die enorme Menge der überaus komplexen WerkstattReflexionen des ganzen ›stummen Jahrzehnts‹ innerhalb eines einzigen Jahres sowohl in eine buchtechnisch übersichtliche Komposition wie in eine systematisch und methodisch ausbalancierte Kohärenz zu bringen und im Laufe von sechs weiteren Jahren – neben der umfangreichen Lehre sowie weit ausgreifenden und tiefgehenden neuen Untersuchungen und Publikationen – durch tiefgreifende Teileingriffe zu verbessern. Alles dies konnte nur um den Preis von mehr oder weniger kleinen Inkohärenzen gelingen. Gleichwohl hat die Einführung von (mindestens) zwei verschiedenen Gegenstandsbegriffen in eine komplexe Theorie ein deutlich andersartiges thema­ 239 Vgl. zu diesem disziplinären Terminus und seiner disziplinären Bedeutung Paul Lorenzen, Protologik. Ein Beitrag zum Begründungsproblem der Logik (1955–19561), wieder abgedr. in: ders., Methodisches Denken, Frankfurt/M. 1968, S 81–93.

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tisches und methodisches Format als eine (transzendentale) Rechtfertigung des (empirischen) Gebrauchs des dritten, des kategorialen Typs von Gegenstands­ begriff. Die mangelhafte methodische und systematische Kohärenz einer solchen vielfältigen Einführung mit einer solchen Rechtfertigung muß früher oder später irritieren. Hinzu kommt, daß diese Einführung die transzendentale Reichweite dieser Propädeutik auf ein Minimum beschränkt. Immerhin ist dies Minimum aber doch auch wieder so groß, daß es plausibel machen kann, daß und warum alle Fragen, die die Beziehungen von Vorstellungen zu Gegenständen ebenso betreffen wie die numerischen und die kategorialen Identitäten und Diversitäten zwischen Gegenständen, nicht erst gleichsam erfunden werden müssen, wenn mit dem Entwurf der Urteilstafel und den Argumenten zugunsten ihrer Vollständigkeit das Geschäft der Formalen Logik beendet ist. Kants Protologik ist insofern eine Propädeutik sowohl der Formalen wie der Transzendentalen Logik. Das Minimum, durch das Kants Protologik solche Fragen der Transzendentalen Logik vorbereiten kann, wird in einem ersten Schritt durch den ersten proto-transzendentalen Hauptsatz dieser propädeutischen Disziplin bereit gestellt: »Alle Vorstellungen haben als Vorstellungen ihren Gegenstand«240. Man kann die methodische Rolle dieser Formulierung gar nicht sorgfältig genug erwägen. Denn man würde gänzlich in die Irre geführt werden, wenn man sie mit einer Formulierung verwechseln würde, mit deren Inhalt sich bei Kant unmittelbar irgendein auch noch so minimaler theoretischer Anspruch verbinden ließe. Man wird ihrem logischen Status und ihrer methodischen Rolle vermutlich nicht besser gerecht werden können als dadurch, daß man ein DiagnoseMuster fruchtbar macht, wie es zu Recht durch Wittgenstein berühmt geworden ist: Bei Kants Formulierung handelt es sich jedenfalls in erster Linie um eine ›grammatische Bemerkung‹. Kant erinnert durch sie daran, daß das Wort »Vorstellung« in der vortheoretischen deutschen  – und in jeder entsprechend verwandten Sprache  – üblicherweise dann korrekt verwendet wird, wenn es im Sinne einer Vorstellung von etwas, also von einem ›Gegenstand-überhaupt‹ verwendet wird, auf das bzw. auf den sich seine Benutzer beziehen. Die gänzliche theoretische Anspruchslosigkeit dieser Formulierung ist indessen nur die Kehrseite des außerordentlich anspruchsvollen theoretischen Programms, dessen Einlösung sich Kant angesichts dieser grammatischen Konvention vorgenommen hat. Denn es ist nichts anderes als das spezifisch transzendentale Programm zu zeigen, daß und inwiefern wir berechtigt sind und durch spezifisch transzendentale Argumente auch gerechtfertigt werden können, mit dem Gebrauch von Vorstellungen im Rahmen von Urteilen bestimmter logischer und kategorialer Formen Ansprüche auf eine Erkenntnis von Gegenständen zu verbinden, die auch unabhängig von dieser Erkenntnis so existieren, wie wir sie 240 A 108, Hervorhebung R. E.

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beurteilen und erkennen. Nur deswegen ist es »notwendig, sich darüber zu verständigen, was man denn unter dem Ausdruck eines Gegenstandes der Vorstellungen meine«,241 aber auch darüber, »Was [man] [denn] versteht, wenn man von einem der Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen, Gegenstand redet«.242 Die Transzendentale Logik beginnt bei Kant daher mit einer simplen grammatischen Bemerkung über die Rechtfertigungsbedürftigkei eines alltäglichen vor­theoretischen Sprachgebrauchs und mit offenkundig skeptischen Fragen nicht nur nach Sinn und Bedeutung, sondern auch nach der sachlichen Berechtigung von alltäglichen Redeweisen über die Erkenntnis von Gegenständen. Diese Bemerkung und diese Fragen sind zwar von so unüberhörbar vortheoretischem, unscheinbar sprachkritischem Gehalt, daß sie gar keine andere als eine propädeutische Rolle spielen können. Doch gleichwohl zeigen sie durch diesen Gehalt und durch ihre Integration in den transzenden­ talen Kontext, daß sie ganz gezielt im spezifisch propädeutischen Dienst der Transzendentalen Logik stehen (vgl. hierzu unten 11.–12. Ab.). Durch eine nicht weniger unscheinbare Erläuterung tut Kant indessen den Schritt, der aus dem vortheoretischen Raum sprachkritischer Bemerkungen und Fragen in den theoretischen, aber immer noch propädeutischen Raum einer Protologik der Transzendentalen Logik führt: Jede Vorstellung ist als Vorstellung und als Träger einer logischen Rolle im jeweiligen Urteilsakt eine »Vorstellung von einem noch243 unbestimmten Gegenstande«.244 Um eine theoretische, wenngleich immer noch protologische Bemerkung handelt es sich bei dieser Erläuterung deswegen, weil sie den allgemeinen Abstraktionsregeln logischer Untersuchungen Rechnung trägt. Denn eine logische Untersuchung »abstrahiert […] von allem Inhalt der Verstandeserkenntnis, und der Verschiedenheit ihrer Gegenstände, und hat mit nichts als der bloßen Form des Denkens zu tun«.245 Sogar mit den methodischen Mitteln der Transzendentalen ­Logik »wird […] kein Objekt bestimmt, sondern nur das Denken eines Objekts überhaupt«,246 sofern sie überhaupt eine logische Untersuchung ist.247 241 A 104, Hervorhebungen R. E. 242 Ebd., Hervorhebungen R. E.; Kants unverkennbar bedeutungsanalytischer Gebrauch der Wendungen »was man denn unter dem Ausdruck […] meine« und » Was [man] [denn] versteht, wenn man […] redet« macht unmißverständlich klar, daß er seine Bemerkung über die ›Vorstellungen von Gegenständen‹ auch selbst als ›grammatische Bemerkung‹ ernst nimmt; zur Rolle dieser bedeutungsanalytischen Bemerkungen für die Metaphysische Deduktion der Kategorien vgl. unten 11. Ab. 243 Kants Hervorhebung. 244 A 69, B 94, Hervorhebung R. E. 245 A 54, B 78, 246 A 247, B 304. 247 Wolff, Vollständigkeit, hat durch eine sorgfältige Exegese und umsichtige Analyse geklärt, daß diese Form der Gegenstandsindifferenz im Rahmen von Kants Theorie zum allgemeinen, elementaren und reinen Charakter der Formalen Logik gehört, vgl. S. 197–242.

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Von Kants Einführung des allgemeinen Begriffs eines vorstellungsrelativen Gegenstandes ist die Einführung eines ganz anderen, speziellen Begriffs eines Gegenstandes so sorgfältig zu unterscheiden wie Kant selbst sie unterscheidet, wenn er unter offenkundiger Berufung auf eine vortheoretische Selbstverständlichkeit zu bedenken gibt, daß »Es […] aber klar [ist], daß wir es nur mit dem Mannigfaltigen unserer Vorstellungen zu tun haben, und jenes X, was ihnen korrespondiert (der Gegenstand), […] etwas von allen unseren Vorstellungen Verschiedenes sein soll«.248 Es ist dieser in unserer vortheoretischen Verständigung beheimatete Gegenstandsbegriff, an dem wir uns orientieren, wenn »[wir] [sagen]: wir erkennen den Gegenstand«.249 Indessen ist es diese vortheoretische Auffassung von der Erkenntnis eines Gegenstandes, die Kant mit den Mitteln seiner Theorie als die »formale Einheit des Bewußtseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen«250 analysiert. Diese formale Einheit des Bewußtseins besteht in dem Bewußtsein des Einen Subjekts von dem Einen Akt, durch den es die vielen – also die zwei oder mehr als zwei – von ihm in wohlbestimmten logischen Rollen spontan verwendeten Vorstellungen in die Einheit Eines Urteils fügt und dies Urteil mit einem Anspruch auf objektive Gültigkeit, also auf Erkenntnis jeweils Eines Gegenstandes X verbindet.251 An diesem Punkt wird es nicht nur zweckmäßig, sondern wohl auch nötig, für eine bessere Durchsichtigkeit der von Kant hier entwickelten Überlegungen zu sorgen als es mit den verbalen Mitteln seiner Texte möglich ist. Kant hat ge­legentlich selbst die Sorge zum Ausdruck gebracht, daß es der Darstellung seiner Theorie zumindest an bestimmten Knotenpunkten an symbolischen Hilfsmitteln fehlt, wie sie sich in bestimmten Zweigen der ihm vertrauten Mathematik schon längst als nützlich erwiesen haben: »Es ist von der großten Wichtigkeit, eine Wissenschaft der Vernunft technisch zu machen. Die Logici haben es mit ihrer syllogistik als einer fabrik umsonst versucht. Nur in Ansehung der Größen ist es denen Erfindern des algorithmus gelungen. Sollte es nicht in 248 A 105. Auch das normative »soll« signalisiert, daß es sich um einen in unserem kognitiven Alltag verankerten Anspruch auf Erkenntnis eines Gegenstandes handelt, der von allen Vorstellungen verschieden ist. 249 Ebd. Zu Recht spricht daher auch Martin Heidegger, Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen (Ein Vorlesungstext vom WS 1935–36), Tübingen 1962, davon, daß Kant »den Titel Gegenstand in einem engen und eigent­ lichen und in weitem und uneigentlichen Sinne [gebraucht]«, S. 110; zu der Konsequenz, die Heidegger aus diesem Unterschied zieht, vgl. unten S. 189, Anm. 258. In der Übersicht von Paton, Experience. I, wird »the word ›object‹ […]used by Kant in at least four senses«, 50–51. Kant selbst notiert sogar: »Man kann zwar alles, und sogar jede Vorstellung, sofern man sich ihrer bewußt ist, Objekt nennen«, A 189, B 234. 250 Ebd. 251 Vgl. zur Vieldeutigkeit von Kants Rede vom Gegenstand auch die hiermit übereinstimmenden, mikroskopischen text-kommentarischen Erörterungen bei Wolff, Vollständigkeit, bes. S. 96–110.

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der Critik der reinen Vernunft auch so seyn, nicht zur Erweiterung, sondern zur Läuterung der Erkenntnisse? Durch die technische methode kann man bey der Bezeichnung iedem Begriff seine Function geben oder vielmehr die functiones selber an sich selbst und gegeneinander ausdrüken. (Die algebra drükt sie nur gegeneinander aus, vielleicht auch so im transzendentalen algorithmus. Die Versehen können dadurch allein verhütet werden und das Uebersehen.)«.252 Die ›großte Wichtigkeit‹, Überlegungen Kants ›technisch zu machen‹, fängt indessen schon mit der Propädeutik der Formalen und der Transzendentalen Logik an. Bereits die Unterscheidung zwischen dem Gegenstand bzw. dem Etwas, von dem eine Vorstellung eine Vorstellung ist, und dem Gegenstand, der einer urteilsförmigen Erkenntnis korrespondiert, bedarf einer ›Läuterung‹ durch die ›technische Methode‹, wenn die dafür nötige Trennschärfe nicht einem ›Versehen‹ und ›Übersehen‹ zum Opfer fallen soll. In seiner Werkstattarbeit behilft sich Kant daher auch nicht selten mit Anleihen bei den Funktionssymbolen der Arithmetik bzw. Algebra.253 Nachdem die Logik durch die ursprünglichen Impulse Freges sowie Russells und Whiteheads inzwischen auch ein unerschöpfliches Potential für logikspezifische Symboliken entwickelt hat, ist es ein Leichtes, einige wenige bescheidene Hilfsmittel dieses Typs für eine erste ›Läuterung‹ von Kants Bemerkungen zu den beiden eingeführten Gegenstandsbegriffen fruchtbar zu machen.254 Die proto-logischen Formeln, die im Folgenden eingeführt werden, bilden selbstverständlich nicht Teile irgendeines wohlgeordneten Kalküls. Sie dienen ausschließlich im Sinne von Kants Bemerkungen der 252 R 4937, Hervorhebungen R. E.; vgl. speziell mit Blick auf eine solche technische Behandlung der als Funktionen aufgefaßten Kategorien auch R 4911. Das technische Desiderat, das Kant durch R 4937 mit Blick auf ›eine Wissenschaft von der Vernunft‹ formuliert, entspricht mit seiner Analogie zur Mathematik nur allzu offensichtlich genau dem Desiderat, dessen Erfüllung Frege, Begriffsschrift, mit dem Untertitel seiner Pionierschrift für die Formale Logik in Aussicht stellt, wenn er Eine der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens ankündigt. D. J. Allen, Die Philosophie des Aristoteles (engl. 1952), Hamburg 1955, macht auf dassselbe formale Reflexions- und Abstrak­ tionsdefizit in der Aristotelischen Syllogistik aufmerksam, wenn er bemerkt, daß Aristoteles »[…] als erster abstrakte Symbole zur Bezeichnung der Begriffe [verwendete], die in Sätzen auftreten, aber es kam ihm nicht in den Sinn, die Beziehungen zwischen den Begriffen zu symbolisieren, die er weiterhin in der Umgangssprache bezeichnete«, S. 126. Kant hat mit seiner Einsicht, daß die Urteilsfunktionen und die Kategorien das methodische Desiderat einer der Algebra analogen ›technischen Methode‹ provozieren, auf die nächsthöhere Reflexions- und Abstraktionsstufe gefunden. 253 Vgl. z. B. R 4675, S. 650 f.; R. 4676, S. 655 f., 657 f.; R 4679, S. 663 f. 254 In seiner terminologischen Verbalsprache hat Kant den Unterschied gelegentlich durch die Unterscheidung zwischen Objekt und Sache markiert: »Nicht ein jedes obiect ist eine sache. Dasjenige an der vorstellung wodurch sie ihre eigenthümliche function hat, stellet das Obiect vor (reale function); ihre function im Urtheile ist die respective function, wodurch sie eine vielgültigkeit in ansehung anderer Vorstellungen hat. Die erste function geht auf das, was in der Vorstellung liegt; die zweyte, was dadurch [also durch ›ihre Funktion im Urteil‹, R. E.] erkannt werden kann«, R 4635, Hervorhebungen R. E.

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›Läuterung‹, also Reinigung der wortsprachlichen Charakterisierungen von allen Elementen, die den Blick auf die logischen ›Funktionen selber an sich selbst und gegeneinander‹ ablenken können, und sollen so dem ›Versehen‹ und ›Übersehen‹ vorbeugen. Ob sie darüber hinaus auch Prototypen von Elementen eines solchen Kalküls abgeben können, darf in diesem Rahmen offen bleiben. Man beginnt hier zweckmäßigerweise mit Kants Rede von dem Mannigfaltigen der Vorstellungen. Es geht dabei nicht um eine Aufzählung von endlich vielen oder unbestimmt vielen Vorstellungen nach dem Schema v1, v2 , v3, … vn. Es geht vielmehr um die Menge der unbestimmt, aber endlich vielen Vorstellungen, deren ein auch in kognitiver Hinsicht endliches Wesen fähig ist: {v1, v2 , v3, … vn}. In dem Teil der Propädeutik, der in buchtechnisch zerstreuter Form sowohl die Konzeption des ›höchsten Punkts‹ wie die Drei-Synthesen-Konzeption enthält, geht es darüber hinaus um die Struktur des apperzeptiven Verknüpfungsakts, durch den das denkend-urteilende Subjekt zwei oder mehr als zwei Vorstellungen innerhalb einer Augenblickszeitspanne in die Einheit eines Urteils fügt. Da die spezifisch logischen Formen der möglichen Verknüpfungen in der Protologik noch offen bleiben müssen, kann die einfachste Form der Verknüpfung von Vorstellungen durch die Formel vm * vn vor Augen gestellt werden. Berücksichtigt man den an eine Augenblickszeitspanne gebundenen Akt des denkenden Subjekts, diese Verknüpfung zu stiften, dann kann man die Formel erweitern: Ich denke jetzt vm * vn. Berücksichtigt man überdies die temporale Binnenstruktur des Urteilsakts, die Kant im Rahmen der Drei-Synthesen-Konzeption analysiert, dann kann man die Formel vervollständigen, indem man nicht nur die unterschiedlichen apprehensiven Augenblickszeitspannen indiziert, an die die beiden verknüpften Vorstellungen gebunden sind, sondern mit Hilfe einer typographisch anderen Indizierung auch die davon verschiedene Augenblickszeitspanne des apperzeptiven Verknüpfungsakts, dann kann man die Formel vervollständigen: Ich denke jetztα vm,jetztm * vn,jetztn Mit Blick auf die Komplizierungen, die sich für diese Form der Darstellung aus der Berücksichtigung der beiden Gegenstandsbeziehungen ergeben, ist es

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zweckmäßig, noch drei Fallunterscheidungen darzustellen, die sich ergeben, wenn man zwischen vier Vorstellungen v1, v2, v3 und v4 unterscheidet. Unterscheidet man die beiden entsprechenden Verknüpfungsfälle v1 * v2 und v3 * v4 , dann läßt sich im Rückgriff auf sie offensichtlich die komplexere Verknüpfungsform (v1 * v2) * (v3 * v4) gewinnen. Offensichtlich ist die Syntax dieser Verknüpfungsform isomorph mit den Verknüpfungsformen der von Kant konzipierten hypothetischen und der disjunktiven Urteilsform – wenn man vorläufig davon absieht, daß die hypothetische Verknüpfungsform asymmetrisch ist und die disjunktive symmetrisch. Doch innerhalb der Propädeutik der Formalen Logik sind die spezifisch logischen Eigenschaften solcher Verknüpfungsformen noch nicht bestimmt, so daß auch Verknüpfungsformen entworfen werden können, die noch nicht durch solche logischen Eigenschaften auf solche syntaktischen Isomorphien ein­geschränkt sind, z. B. ((v1 * v2) * (v3 * v4) * (v5 * v6)). Immerhin hat man mit diesen symbolischen Hilfsmitteln die wichtigsten Schritte getan, um ein zureichendes Licht in die proto-transzendentallogischen Reflexionen zu werfen, die Kant durch seine vortheoretischen, sprachkritischen Bemerkungen und Fragen vorbereitet. Denn daß die Rede von einer Vorstellung stets die Rede von einer Vorstellung von etwas bzw. von einem Gegenstand dieser Vorstellung bedeutet und daß ein solches vorstellungsrelatives Etwas bzw. ein solcher vorstellungsrelativer Gegenstand im Rahmen der Abstraktionsregeln logischer Untersuchungen als ein unbestimmtes Etwas bzw. als ein unbestimmter Gegenstand behandelt werden muß, macht zunächst einmal eine entsprechende Revision und Modifikation der Behandlung des Formats der Vorstellungen nötig: {v1x, v2x, v3x, …, vn x}. Die einfachste Verknüpfung von ausdrücklich auf ihre Gegenstände relativierten Vorstellungen hat dann die Form

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vm x * vn x. Kants zentraler proto-transzendental-logischer Gedanke, daß der Gegenstand X einer Erkenntnis von jedem vorstellungsrelativen Gegenstand vn x verschieden ist, aber als Gegenstand der Erkenntnis einem Urteil korrespondiert, durch das Vorstellungen von solchen Gegenständen verknüpft werden, kann durch die Formel ((vm x * vn x)X) repräsentiert werden. In dem unüberhörbar propädeutischen § 19 erläutert Kant diese Struktur sogar selbst mit Hilfe eines konkreten Beispiels des formal einfachsten, des kategorischen Urteils »er, der Körper, ist schwer«,255 indem er daran erinnert, daß im Rahmen eines solchen Urteils »diese beiden Vorstellungen […] im Objekte […] verbunden [sind]«256 – also die Vorstellung v1 von ›Körper überhaupt‹ (x) und die Vorstellung v2 von ›Schwer überhaupt‹ (x). Das Objekt X der Erkenntnis, die durch das Urteil ›er, der Körper, ist schwer‹ gelingt, gehört also im Vergleich mit den beiden vorstellungsrelativen Gegenständen v1x und v2x zu jenem anderen Typ von Gegenstand X, in dem die in einem objektiv gültigen Urteil verknüpften Vorstellungen  – zusammen mit ihren Gegenständen  – in objektiv gültiger Form verbunden sind. Die Form des Erkenntnisakts, der mit einem entsprechenden Urteilsakt des jeweiligen Subjekts verbunden ist, läßt sich dann unter Berücksichtigung des stets zentralen Apperzeptionsakts257 durch die epistemische Formel Ich denke-und-erkenne, daß-((vm x * vn x)X) repräsentieren.258 255 B 142. 256 Ebd. 257 Ebd. 258 Diese Formel, deren Syntax die noch unbestimmte(!) logische Form eines objektiv gültigen kategorischen Urteils darstellt, stimmt in einem wichtigen Punkt mit dem Diagramm überein, das Heidegger, Die Frage nach dem Ding, S. 123, unten links, benutzt, um die Form der objektiven Gültigkeit des kategorischen Urteils zu veranschaulichen: Heidegger markiert ebenfalls durch zwei kleine »x« die beiden Gegenstände, die zu den beiden Vorstellungen gehören, die in den Rollen des Subjekts S und des Prädikats P eines kategorischen Urteils verbunden sind, und symbolisiert mit Hilfe von zwei entsprechenden Verbindungslinien den Gedanken, daß diese beiden vorstellungsrelativen Gegenstände im Gegenstand X des objektiv gültigen Urteils bzw. der Erkenntnis verbunden sind; vgl. hierzu im einzelnen unten 11.–12. Ab.

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Faßt man wiederum zwei verschiedene einfachste Fälle der so geformten Urteile ins Auge, dann erhält man die beiden Formeln: ((v1x * v2x) X) ((v3x * v4 x) X). Die Form ihrer Verknüpfung zu einem Urteil der nächst höheren Komplexitätsstufe fällt dann offenbar so aus: (((v1x * v2x) X * ((v3x * v4 x)X)X). Die Berücksichtigung der einfachsten und der nächsthöheren Komplexitätsstufe der Urteilsformen ist sowohl in der Protologik der Formalen Logik wie in der der Transzendentalen Logik zweckmäßig, weil sie die methodischen Möglichkeiten andeutet, die unter diesen propädeutischen Vorzeichen offenstehen. Die Syntax der oben zuletzt präsentierten Verknüpfungsform ist unübersehbar wiederum konform mit der Syntax sowohl der hypothetischen wie der disjunktiven Urteilsform. Doch da nicht nur von solchen einschränkenden logischen Eigenschaften, sondern ebenso von den ebenfalls einschränkenden kategorialen Eigenschaften der für die Urteilsbildung relevanten Verknüpfungsfunktionen in diesem propädeutischen Teil noch abstrahiert werden muß, können auch Verknüpfungsformen entworfen werden, deren Syntax mit der Syntax der spezifischen kategorialen Eigenschaften der von Kant konzipierten gegenstandsorientierten Verknüpfungsfunktionen nicht isomorph sind, z. B. die Verknüpfungsform. [((v1x * v2x) X) * ((v3x * v4 x)X) * ((v5x * v6x)X))X]. Es kam in diesem propädeutischen Exkurs darauf an, mit Hilfe einiger technischer Symbole vor allem zwei von Kant eingeführte Gegenstandsbegriffe im Blick auf die formalen Status- und Rollenunterschiede der konzipierten Gegenstände möglichst klar und trennscharf vor Augen zu stellen. Es sollte so deutlich wie möglich werden, daß und inwiefern Kant im Ausgang von einigen wenigen sprachkritischen Bemerkungen und Fragen zu unserem alltäglichen Gegenstandsverständnis theoretische, aber immer noch propädeutische Überlegungen entwickelt, die nicht nur in die Protologik der Formalen, sondern auch in die der Transzendentalen Logik gehören. Den vorläufigen Charakter dieser Überlegungen kann man kaum besser verdeutlichen als dadurch, daß man berücksichtigt, daß sich im Ausgang von ihnen nur in Form von Fragen eine Brücke schlagen läßt, die zur Formalen und weiter zur Transzendentalen Logik

Das elementarlogische Know-how Das elementarlogische Know-how

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führt. Denn das Asteriks-Symbol vertritt in vorläufiger Form die in logischer Hinsicht noch gänzlich unbestimmten Verknüpfungsfunktionen, durch die das denkend-urteilende Subjekt Vorstellungen so gebraucht, daß sie zur formalen Einheit eines Urteils gefügt werden. Durch diese symbolisch markierte Unbestimmtheit läßt sich die Frage vorbereiten, wie das Subjekt die von ihm gebrauchten Vorstellungen in spezifisch logischen Formen zur Einheit eines Urteils fügen kann. Diese Wie-Frage bildet insofern die Leitfrage von Kants Formaler Logik. Analog vertreten die unterschiedlichen Buchstabensymbole für die beiden Gegenstandstypen ebenfalls in vorläufigen Formen die noch gänzlich unbestimmten Formen, in denen einerseits Vorstellungen auf ihre spezifischen Gegenstände und andererseits objektiv gültige Erkenntnisurteile auf ihre spezifischen Gegenstände bezogen sind. Durch diese beiden Formen von Unbestimmtheit bereiten sie zwei Fragen vor: 1.) Wie kann sich das vorstellende Subjekt auf die Gegenstände seiner Vorstellungen beziehen (z. B. empfindend oder anschaulich oder geschmacklich oder praktisch)? 2.) Wie kann das denkendurteilende Subjekt die von ihm gebrauchten Vorstellungen so gebrauchen, daß dieser Gebrauch ein objektiv gültiges Erkenntnisurteil bildet und in Formen wie z. B. Der Körper ist schwer oder Die Sonne erwärmt den Stein auf einen von den gebrauchten Vorstellungen unabhängig existierenden, aber dem jeweiligen Urteil korrespondierenden Gegenstand bezogen ist  – nämlich auf den objektiv bestehenden Sachverhalt, daß der Körper schwer ist bzw. daß die Sonne den Stein erwärmt?

10. Das elementarlogische Know-how: Die Urteilsfunktionen 10.1 Stand der Forschung – Kritik und Fortsetzung Der Gebrauchsaspekt, der auf die Wie-Fragen verweist, die mit Kants logischen Untersuchungen verbunden sind, ist in Kants Texten durchweg präsent. Kant präsentiert ihn zwar in einer Form, in der er auf eine andere Reflexionsstufe gleichsam verschoben ist. Denn in seiner Standardform spricht Kant vom logischen Verstandesgebrauch259 und nicht von den logischen Formen des Gebrauchs von Vorstellungen. Gleichsam bloß um eine Verschiebung auf eine andere Reflexionsstufe handelt es sich bei diesen Standardformulierungen Kants deswegen, weil es geradezu trivial ist, daß das Subjekt, das Vorstellungen in logischen, die logische Form eines Urteils prägenden Formen gebraucht, von dem Vermögen, von der (dispositionellen) Fähigkeit Gebrauch macht, die sich in den 259 Vgl. z. B. A 52, B 76 f.; A 53, B 77; A 54, B 78–79; A56, B 80; A63, B 88; A 67, B 92 – A 76, B 101.

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so geformten Urteilsakten zeigt. Auf der darunter liegenden Reflexionsstufe spricht Kant indessen regelmäßig, wenn er vom Gebrauch, speziell vom empirischen Gebrauch der Kategorien spricht.260 Die nicht-triviale Seite dieser Zusammenhänge hängt indessen von dem viel und kontrovers diskutierten Vollständigkeitsanspruch ab, den Kant mit den von ihm eingeführten logischen Urteilsformen bzw. -funktionen verbindet. Denn Kant kann sinnvoll überhaupt nur dann in der definitiven Form, in der er es tut, von dem logischen Gebrauch des Verstandes sprechen, wenn er die Frage, worin genau das spezifische so apostrophierte Vermögen, die so apostrophierte (dispositionelle) Fähigkeit besteht, durch die vollständige Charakterisierung dessen bestimmen kann, was zu tun sie ihren Inhaber befähigt – eben logisch geformte Akte des Urteilens in wohlbestimmten Formen zu vollziehen. Wenn Kant von ›dem logischen Verstandesgebrauch‹ spricht, dann bedeutet dies daher gar nichts anderes als, daß der Inhaber eines solchen Verstandes nur vermöge dieses Verstandes des urteilenden Gebrauchs von Vorstellungen in genau den logischen Formen fähig ist, die Kant durch Aufzählung ihrer traditionellen Namen in seine Urteilstafel aufgenommen hat.261 Selbstverständlich tragen solche elementaren Bedeutungs- und Sinnan­a lysen von terminologischen Sprechweisen Kants nicht im mindesten zu einer Begründung der von ihm mit ihrer Hilfe formulierten Behauptungen bei. Wohl 260 Vgl. zuerst beiläufig A 88, B 120 sowie regelmäßig B 146 ff. 261 Diesen Zusammenhang verkennt trotz aller von ihm gezeigten hermeneutischen Abwägungskunst Lorenz Krüger, Wollte Kant die Vollständigkeit seiner Urteilstafel beweisen?, in: Kant-Studien, Bd. 59 (1968), 333–356. Zugunsten seiner These, »daß Kant zur Absicht seines kritischen Unternehmens einen Vollständigkeitsbeweis bezüglich der Verstandesfunktionen für unerläßlich und doch zugleich unmöglich erklärt«, S. 337, beruft er sich zentral auf Kants Bemerkung B 145–146: »Von der Eigentümlichkeit unseres Verstandes aber, nur vermittelst der Kategorien und nur gerade durch diese Art und Zahl derselben Einheit der Apperzeption a priori zu Stande zu bringen, läßt sich ebenso wenig ferner ein Grund angeben, als warum wir gerade diese und keine anderen Funktionen zu urteilen haben«, S. 336–337, vgl. auch S. 341–342. Die negative Pointe dieser Bemerkung Kants besteht indessen darin, daß es sich bei dem von ihm apostrophierten Verstand nicht etwa um ein Objekt handelt, das mit Hilfe von irgendwelchen Methoden direkt auf irgendwelche logisch oder kategorial relevanten ›Eigentümlichkeiten‹ hin untersucht werden könnte. Ihre positive Pointe besteht vielmehr darin, daß sie indirekt darauf verweist, daß der Begriff des Verstandes mit Hilfe einer impliziten Definition als der Begriff der dispositionellen Fähigkeit eingeführt wird, die ihren Inhaber zu Urteilen in genau den Formen befähigt, die durch die gesammelten Urteilsfunktionen vollständig bestimmt sind. Gerade deswegen ist die einzige wichtige theoretische Frage die, ob sich die Vollständigkeit der Urteilstafel beweisen läßt oder sogar beweisen lassen können muß, und nicht Krügers Frage, ob Kant sie beweisen wollte, die im übrigen gar keine theoretische Frage ist, sondern die Frage nach Textindizien dafür, daß Kant persönliche Beweis-Intentionen gehegt hat. Obwohl z. B. Frege noch nicht einmal die Intention gehegt hat, die Frage nach einem vollständigen System der zweistelligen zweiwertigen Satzverknüpfungsfunktionen auch nur zu stellen, bilden die wenigen Funktionen

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aber können sie die systematischen Knotenpunkte genauer zu bestimmen helfen, an denen die diversen Begründungspflichten zu lokalisieren sind, die Kant im Rahmen seiner Formalen Logik eingeht: 1.) die Pflicht zu begründen, daß die berücksichtigten Urteilsformen spezifisch für den urteilenden Gebrauch von Vorstellungen bzw. von vorstellungs-expressiven Worten durch das urteilende Subjekt sind; 2.) die Pflicht zu begründen, daß die Urteilstafel vollständig ist; und schließlich 3.) die Pflicht zu begründen, daß und warum die Vollständigkeit der Urteilstafel, falls sie bewiesen werden kann, auf ein homogenes und vollständiges Vermögen seines Inhabers verweist, in genau den Formen zu urteilen, die die Urteilstafel wenigstens programmatisch ›vor Augen stellt‹. Auf ein weiteres äußerst wichtiges, aber häufig vernachlässigtes Indiz für die Schlüsselrolle, die die Orientierung am Gebrauchsaspekt für Kants Konzeption der Formalen Logik mit sich bringt, hat Klaus Reich durch seine Analyse von Kants Funktionsbegriff aufmerksam gemacht.262 Denn Kant wechselt je nach dem thematischen Bedarf, aber ohne nähere Erläuterung zwischen der Orientierung an Komponenten des auch heute noch gebräuchlichen physiologischen Funktionsbegriffs und der Orientierung an Komponenten des mathematischen, vor allem durch Euler geprägten Funktionsbegriffs seiner Zeit.263 Ausschlagdieses Typs, die er tatsächlich als erster mit hinreichender Striktheit konzipiert und behandelt hat, gerade wegen des leitenden Prinzips der Zweistelligkeit und der Zweiwertigkeit dieser Funktionen das unverzichtbare Potential für den Entwurf eines solchen Systems und für den rein kombinatorisch möglichen Beweis von dessen Vollständigkeit. Gerade deswegen bedeutet der später erbrachte Nachweis der Vollständigkeit der zweistelligen zweiwertigen Satzverknüpfungsfunktionen, daß jeder, der bivalente Sätze mit ihrer Hilfe verknüpfen kann, über genau den logischen Verstand verfügt, der ihn dazu befähigt. Da kein Mensch jemals alle diese Funktionen in direkt gebrauchten Formen aktuell fruchtbar macht, ist der schon früh erbrachte Nachweis so wichtig, daß solche alltäglich gebrauchten Funktionen wie z. B. die Konjunktion und die Negation geeignet sind, mit ihrer Hilfe alle anderen Funktionen dieses Systems zu repräsentieren. Es gibt daher auch nicht den geringsten methodologischen oder sachlichen Grund, der dagegen sprechen würde, mit Hilfe einer impliziten Definition den wichtigen Begriff eines anderen, wahrheitswertfunktionalistischen Verstandes einzuführen, der seine Inhaber befähigt, in genau den Formen zu urteilen, die durch die sechzehn Wahrheitswertfunktionen festgelegt sind. In einer der sachlichen Verständigung allerdings äußerst abträglichen Weise ist dieser Punkt von Unkundigen in den abfälligen Polemiken früherer Jahrzehnte mit Hilfe von Stichworten wie ›logistischer Verstand‹ zwar berührt, aber in seiner sachlichen Relevanz von ihnen selbst durchaus nicht begriffen worden. Vgl. zu dieser Polemik auch die trefflichen Bemerkungen von Günther Patzig, Nachwort, in: Rudolf Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie. Das Fremdpsychische und der ­Realismusstreit, hg. v. Günther Patzig, Frankfurt/M. 1966, S. 83–135, bes. S. 129–135. 262 Vgl. Reich, Vollständigkeit, S. 30–31. 263 Zu einem ersten publizierten Ansatz, diese begrifflichen Differenzierungen fruchtbar zu machen, vgl. meine Abhandlung: Logische Funktionen und logische Fähigkeiten in der kantischen Theorie der Urteilsfunktionen und in der Junktorenlogik, in: KantStudien 2 (1986), S. 224–240. Peter Schulthess, Relation und Funktion. Eine systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zur theoretischen Philosophie

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gebend ist indessen, daß Kant seine primäre Orientierung am physiologischen Funktionsbegriff mit Bedacht im Einleitungsabschnitt seiner Formalen Logik Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt  – einem wesentlichen Teil seiner eigentlichen Protologik – zu erkennen gibt, wenn er formuliert: »Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinsamen zu ordnen«.264 Allerdings ist es nötig, davon abzusehen, daß Kant seinen Funktionsbegriff hier mit einem Zugeständnis an das traditionelle begriffs-logische Vorverständnis seiner Leser erläutert, das am Begriffstypus der conceptus communes orientiert ist. Dem entspricht Kant, indem er die Subordination von verschiedenen (begrifflichen) Vorstellungen unter eine gemeinsame (begriffliche)  Vorstellung als eine spezielle Funktion dieses einheitstiftenden Typs charakterisiert. Mit Blick auf die in der Urteilstafel nominell aufgelisteten Urteilsfunktionen ist vielmehr ausschlaggebend, daß Kant im Licht seiner Funktionscharakteristik jede der von ihm aufgelisteten Urteilsfunktionen darauf festlegt, zur ›Einheit der Handlung‹ des Urteils beizutragen.265 Der hermeneutischen Fruchtbarkeit dieser wichtigen begrifflichen Differenzierung schließt sich auch Michael Wolff an.266 Der einzige, wenngleich un­ wesentliche Unterschied zwischen Wolffs und der hier entwickelten Aufnahme dieser Differenzierung liegt darin: Wolff trägt dem Handlungsaspekt von Kants Urteilskonzeption dadurch Rechnung, daß er von der Ausübung einer UrteilsKants, in: Kant-Studien. Ergänzungshefte 113, Berlin/New York 1981, hat das Buch von Reich zur Kenntnis genommen, präsentiert auch einschlägige Belege für die historische Herkunft von Kants doppeltem Funktionsbegriff, vgl. S 219–225, und hat eine Vielzahl aufschlußreicher logik- und philosophiehistorischer Informationen sowie scharfsinniger hermeneutisch-analytischer Aufschlüsse erarbeitet. Er führt den Begriff der Relation am Leitfaden von Kants Entwicklung auf den Funktionsbegriff zurück, vgl. S.  259–322. Gleichwohl sucht er nach Tiefsinn an der falschen Stelle, wenn er meint, daß die Frage nach dem Relationsbegriff »[…] auf eine der tiefsten Fragen der Philosophie [zielt]«, S. V, Hervorhebung R. E. Die erste bedeutsame sowohl begriffsanalytische wie logische Erörterung von Relationen findet sich bei Platon, Phd., 100c5 ff.; vgl. dazu Erhard Scheibe, Über Relativbegriffe in der Philosophie Platons, in: Phronesis, 12 (1) (1967), S. 28–49. Unbestreitbar bleibt indessen, daß Schulthess’ Untersuchungen ein Standardwerk zur Klärung der verwickelten werkstattgeschichtlichen und der nicht weniger verwickelten konzeptionellen Beziehungen zwischen Relations- und Funktions­ begriff in Kants Werk bilden; zu diesem Thema von Schulthess’ Untersuchungen vgl. auch unten S. 200, Anm. 275, 211, Anm. 320, 221, Anm. 359. 264 A 68, B 93. 265 Ein traditionalistisches Zugeständnis ist dies deswegen, weil es für die logische Form eines Urteils auf die Beziehungen zwischen den Umfängen und Inhalten der im Urteil gebrauchten Begriffe gar nicht ankommt. Es wird noch zu zeigen sein, daß vielmehr umgekehrt von der Brauchbarkeit von Vorstellungen in den logischen Rollen des katego­ rischen Urteils abhängt, daß es sich bei diesen Vorstellungen um noch näher  – z. B. durch Umfangs- und Inhaltsverhältnisse – zu spezifizierende Begriffe handelt. 266 Vgl. Wolff, Vollständigkeit, S 19–32.

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funktion durch das urteilende Subjekt spricht,267 während im jetzigen Rahmen vom Gebrauch von Vorstellungen durch das urteilende Subjekt in den logischen Formen von Urteilsakten die Rede ist – die Urteilsfunktion legt also die Form dieses Gebrauchs und damit auch die Form der sprachlichen Gestaltung dieses Gebrauchs fest. Der begriffliche Zusammenhang zwischen beiden Sprechweisen besteht offenbar darin, daß man nach Kant eine Urteilsfunktion dadurch ausübt, daß man von Vorstellungen in jeweils ganz bestimmten logischen Formen Gebrauch macht – auch der Akt des Urteilens, nicht erst das Resultat dieses Akts hat daher eine logische Form. Die charakteristische Komponente des mathematischen Funktionsbegriffs bringt Kant zugunsten seines logischen Funktionsbegriffs ins Spiel, wenn er berichtet, wie er sich »[…] nach einer Verstandeshandlung um[sah], die alle übrigen enthält und sich nur durch die verschiedenen […] Momente unterscheidet, das Mannigfaltige der Vorstellungen unter die Einheit des Denkens zu bringen, und da fand ich, diese Verstandeshandlung bestehe im Urteilen«.268 Die zwölf verschiedenen Urteilsfunktionen sind insofern – aber auch nur insofern – zwölf verschiedene Momente von möglichen formallogischen Beiträgen zur Einheit der Handlung des Urteilens.269 Inwiefern es gelingen kann, jede einzelne dieser Urteilsfunktionen so zu konzipieren, läßt sich natürlich erst zeigen, wenn man es konkret mit der Einführung jeder einzelnen dieser Funktionen zu tun hat. Doch Kants unübersehbare Auffassung vom Urteil als einer Handlung bereitet diese gebrauchsorientierte Auffassung ohnehin schon vor. Denn die Formen dieser Handlung sind gar nichts anderes als urteilbildende Formen des Gebrauchs von Vorstellungen. Und diese urteilbildenden Gebrauchsformen sind wiederum in erster Linie Formen bzw. formale Modifikationen des Verbindens, Verknüpfens oder Verflechtens von Vorstellungen. Im abstrakten Vorgriff auf die Einführung der einzelnen Urteilsfunktionen liegt es daher auf der Hand, daß man jedenfalls und mindestens schon nach den Formen fragen kann, die diesem Gebrauchs­aspekt angemessen sind: 1.) Wie – also in welchen Formen des Verbindens, Verknüpfens oder Verflechtens – muß man Vorstellungen gebrauchen, wenn man sie z. B. kategorisch gebraucht, und analog für die beiden anderen Urteilsfunktionen des Relationen-Typs; 2.) wie muß man z. B. kategorisch verbundene Vorstellungen gebrauchen, wenn man sie z. B. assertorisch gebraucht, und analog für die beiden anderen Modalitäten; 3.) wie muß man z. B. hypothetisch verbundene Vor267 Vgl. Wolff, Vollständigkeit, S. 20–32. 268 IV, 323. Hervorhebung R. E. 269 Zur Begründung der Auffassung, daß innerhalb der konkreten Einführung der Urteilsfunktionen ausschließlich die logischen Qualitäten, Quantitäten und Modalitäten im strengen Sinne Momente sind, die an den im strengen Sinne zentralen kategorisch, hypothetisch bzw. disjunktiv verbindenden Urteilsfunktionen modifizierend beteiligt sind, vgl. unten S. 207, Anm. 301, sowie vor allem 10.3. Ab.

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stellungen gebrauchen, wenn man sie z.B universalisierend gebraucht, und analog für die beiden anderen Quantitäten; und schließlich: 4.) Wie muß man z. B. disjunktiv verbundene Vorstellungen gebrauchen, wenn man sie z. B negierend gebraucht, und analog für die beiden anderen Qualitäten.270 Im Rahmen eines 270 Reich, Vollständigkeit, macht in seinem im übrigen richtungweisenden »Entwurf der Systematik der logischen Grundfunktionen« (S.  44–54) auf Schritt und Tritt von der in methodischer Hinsicht überflüssigen, seine Überlegungen unnötig überfrachtenden transzendental-logischen Voraussetzung Gebrauch, daß die spezifisch for­mal­logische Charakterisierung jeder einzelnen Urteilsfunktion davon abhängig sei, daß ihr spezifischer Beitrag »zur Erkenntnis von Objekten« (S. 46) unmittelbar auch an dieser Charakterisierung beteiligt sein müsse. Es ist gerade deswegen durchaus verständlich, daß sich nicht erst Lewis White Beck durch diesen irritierenden Zug von Reichs Unter­ suchung zu dem Mißverständnis verführt sieht: »Reich’s book should be read as a commentary on the Metaphysical Deduction of the Categories«, Klaus Reich, The Complete­ ness of Kant’s Table of Judgements (edited by Michael Losonsky and translated with J. E. Kneller), Stanford 1992, Preface, S.  XII; vgl. hierzu auch unten S. 198, Anm. 272. Sogar Paton, Experience I, empfiehlt Reichs Untersuchung mit der Begründung, daß sie »the best discussion of the topics in this chapter«, S. 3021, sei, wobei es sich bei diesen topics um »The Metaphysical Deduction of the Categories«, vgl. S.  243–302, handelt. Doch Reich vernachlässigt im Ganzen seiner Untersuchung den wich­tigen Unterschied zwischen den vorstellungsrelativen Gegenständen v1x, v2 x, v3x , …, vn x, die nur strikt urteils-intern in Formen wie v1x * v2 x oder ((v1x * v2 x) * (v3 x * v4 x )) fungieren können, und dem »Gegenstand als etwas überhaupt =X«, A 104, der zwar nur durch Urteile in Formen wie ((v1x * v2 x)X), ((v3x * v4 x)X) oder [((v1x * v2 x)X) * ((v3x * v4 x)X)X] erkannt werden kann, aber als einen ihnen »korrespondierenden, mithin davon auch verschiedenen«, A 104, auch erkannt werden können muß; vgl. hierzu unten 11. Ab. Die eigentliche Fruchtbarkeit von Reichs Untersuchung zeigt sich, wie sich noch weisen wird, erst dann, wenn man die innerhalb der Formalen Logik überflüssige Rolle der urteils-förmigen ›Erkenntnis eines Objekts‹ streicht. Denn erst dann zeigt sich, wie man gerade und nur mit dem von dieser Streichung unberührt bleibenden ›Rest‹ der nicht-urteilsförmigen ›Vorstellung eines Objekts‹ die Urteilsfunktionen charakterisieren kann. Der erste methodische Schritt, mit dem es unabweisbar wird, die (schon gelungene)  Charakterisierung der Urteilsfunktionen mit der urteilsförmigen ›Erkenntnis des Objekts‹ ausdrücklich zu verbinden, ergibt sich erst dann, wenn es darauf ankommt, die Urteilsfunktionen in der Rolle »Des transzendentalen Leitfadens der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe« (A 67, B 92 – A 83, B 109) fruchtbar zu machen. Dieser Schritt wird durch die Leitfaden-Frage eingeleitet, ob und gegebenenfalls wie die in den charakterisierten Urteilsformen verbundenen Vorstellungen v1x * v2 x, ((v1x * v2 x) * (v3 x * v4 x)), … so auf einen ›Gegenstand als etwas = X‹ bezogen werden können, daß die entsprechend geformten Urteile der objektiven Wahrheit über ein solches Objekt überhaupt fähig sind. Diese Frage hat Kant in der verklausulierten Form gestellt, »was man denn unter dem Ausdrucke eines Gegenstandes der Vorstellungen meine, […] wenn man von einem der Erkenntnis korrespondierenden, mit hin auch davon unterschiedenen, Gegenstand redet«, also von »etwas überhaupt = X«, A 104; vgl. hierzu unten 11. Ab. Diese Frage ist offensichtlich schon als Frage die ausgereifte Version von Kants frühester einschlägiger Frage »Wie […] eine Vorstellung die sich auf einen Gegenstand bezieht ohne von ihm auf einige Weise afficirt zu seyn möglich [ist]«, XI, 131, Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772.

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solchen abstrakten Vorgriffs können zwar selbstverständlich auch nur entsprechende vorläufige Fragen formuliert werden. Doch das formale Minimum, das man mit solchen Fragen im Rahmen einer protologischen Propädeutik berücksichtigen muß, genügt immerhin auch schon, um mit Hilfe des Gebrauchsaspekts auch die Formen der Antworten zu umreißen, die gegeben werden können müssen, wenn der Gebrauchsaspekt in eine fruchtbare Richtung weist. Denn die vier Typen von wie-Fragen machen unter dem von Kant stets bedachten Gebrauchsaspekt darauf aufmerksam, daß seine Konzeption der Urteilsfunktionen die Konzeption eines bestimmten formal-logischen Know-how ist, über den das entsprechend urteilende Subjekt verfügt. Der konkrete logische Gehalt der Antworten auf die entsprechenden wie-Fragen kann selbstverständlich erst mit der detaillierten Einführung jeder einzelnen Urteilsfunktion beigebracht werden (vgl. unten S. 224–250). Es ist indessen unübersehbar, daß Kant in der persönlichen Bedrängnis durch seine außerordentlichen Belastungen in der Lehre, in seinen akademischen Amtstätigkeiten, durch sein vorgerücktes Alter und durch seine unablässigen Sorgen um seine Gesundheit die Kraft nicht immer aufzubringen vermocht hat, für die in zehnjähriger schweigender Werkstattarbeit gewonnenen extrem komplexen Resultate seiner formallogischen und seiner transzendentallogischen Überlegungen auch eine Sprache zu finden, die es ihm erlaubt hätte, diese Resultate in jedem Punkt auch so zu formulieren, daß seine publizierten Formulierungen diesem leitenden Handlungs-, Gebrauchs- und Verbindungsaspekt durchweg angemessen wären. Die punktuellen Mängel an entsprechender Angemessenheit zeigen sich in zunächst unscheinbarer, aber gleichwohl gravierender Form auch in der direkten Präsentation der Urteilsfunktionen. So unterläuft z. B. der von ihm gewählte traditionelle Titel für den Typ der ­kategorischen, der hypothetischen und der disjunktiven Urteilsfunktion diesen Handlungs-, Gebrauchs- und Verbindungsaspekt in so irreführendem Maß, daß sogar der methodische Primat, der dieser Trias von Urteilsfunktionen in der systematischen Einführung aller Urteilsfunktionen zukommt, gänzlich verdunkelt wird. Denn der Titel Relation für diese Trias ist nur allzu offensichtlich an den formalen Eigenschaften der Resultate von drei formal verschiedenen Akten logischer Verbindungen, Verknüpfungen oder Verflechtungen von Vorstellungen orientiert, aber gerade nicht an den drei verschiedenen logischen Formen von Akten dieser Verbindungen, Verknüpfungen oder Verflechtungen. Um eine gravierende Irreführung handelt es sich bei dieser Titelei deswegen, weil die Urteilsfunktionen dieser Trias nur allzu offensichtlich die einzigen unter den vier Triaden sind, die den Anforderungen an logische Formen von Akten des Verbindens, Verknüpfens oder Verflechtens von Vorstellungen geradezu perfekt entsprechen. Im selben Atemzug verdunkelt Kant durch diese irreführende Titelei ohne sachliche und methodische Not den unmittelbaren sachlichen Zusammenhang dieser drei Urteilsfunktionen mit seinem Argument: »[…] die

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Möglichkeit der logischen Form alles Erkenntnisses (also alles Urteilens, R. E.) beruht notwendig auf dem Verhältnis (der uns gegebenen, empirisch zerstreuten Vorstellungen, R. E.) zu dieser Apperzeption als einem Vermögen«,271 also dem ursprünglichen Vermögen der Akte des Verbindens von Vorstellungen in der logischen Form eines Urteils. Es sind diese Zusammenhänge, die es in methodischer Hinsicht nicht nur rechtfertigen, sondern sogar nötig machen, die Einführung der Urteilsfunktionen mit der Trias der kategorischen, der hypothetischen und der disjunktiven Verbindung, Verknüpfung und Verflechtung von Vorstellungen anzufangen und strikt den Handlungs- und Gebrauchs­ aspekt zu berücksichtigen.272 271 A 117*, Hervorhebung R. E. 272 Reich beginnt seine Rekonstruktion des inneren Zusammenhangs der vier Triaden und ihrer jeweiligen Elemente mit der Modalität und diese mit der assertorischen Moda­lität, vgl. Reich, Vollständigkeit, S.  45 f. Selbstverständlich kann ganz unbestritten bleiben, daß Kant bei der Niederschrift seiner Formalen und seiner Transzendentalen Logik auf Schritt und Tritt an dem Gedanken orientiert ist, daß der assertorischen Urteilsmoda­ lität sowohl in unserem nicht-wissenschaftlichen wie in unserem wissenschaftlichen Alltag eine Schlüsselrolle zufällt: Die Berechtigung, »logische[…] Wirklichkeit oder Wahrheit«, A 75, B 101, mit Hilfe der assertorischen Modalität für ein Urteil in Anspruch nehmen zu können, ist gewiß das wichtigste Ziel aller Bemühungen um theoretische Erkenntnisurteile. Innerhalb der methodischen Schrittfolge auf Kants Weg von der Formalen Logik zur Transzendentalen Logik kommt für die Berücksichtigung der mit diesem Anspruch verbundenen assertorischen Modalität indessen kein anderer Schritt in angemessenerer Form in Frage als der Schritt, durch den die logische Urteilsfunktion eingeführt wird, die die Frage provoziert, »was man denn unter dem Ausdruck eines Gegenstandes der Vorstellungen meine«, A 104, nämlich unter »einem der Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstand … = X«, ebd., Hervorhebung R. E. Doch diese Frage, die den Anfang der Metaphysischen Deduktion der Kategorien markiert (vgl. hierzu unten 11. Ab), bildet in methodischer Hinsicht die unmittelbare Fortsetzung der Einführung der (modalen) Urteilsfunktion, die als einzige durch die formale Eigenschaft charakterisiert ist, daß sie innerhalb der Formalen Logik den Anspruch der Urteile auf Gültigkeit für ›einen der Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstand […] = X‹ thematisiert. Die assertorische Modalität bildet daher in methodischer Hinsicht nicht wie bei Reich die erste, sondern die letzte der Einführung fähige und bedürftige Urteilsfunktion. Gleichzeitig bildet diese Einführung das unmittelbare Vorspiel zur Metaphysischen Deduktion der Kategorien. Daß Reich in seiner Rekonstruktion des Systems der Urteilsfunktionen die äußere Gestalt der Urteilstafel ›auf den Kopf stellt‹ und der Modalität den Vorrang einräumt, ist umso verwunderlicher als er selbst R 3040 zitiert: »Forma iudicii in logicis consideratur […] In illa est qualitas, quantitas, relatio, modalitas«, und selbst ergänzt: »Darüber setzt Kant die Ziffern 2, 3, 1, 4, so daß er stattdessen gelesen wissen will: »relatio, qualitas, quantitas, modalitas«, S. 62. Auf den folgenden zwei Seiten stellt Reich überdies noch einmal ausführlich und unter ausdrücklicher Berufung auf die so zentrale Konzeption des Verbindungsakts von KrV, § 15, klar, daß es vor allem darauf ankommt, »die Brücke zum Begriff des Verhältnisses zu schlagen«, S. 63, Reichs Hervorhebung. Reichs methodologischer Primat für die Modalität, speziell für den assertorischen Modus – den modus formalis des Urteils, vgl. S. 58 f. – ist ausschließlich darauf zurückzuführen, daß es ihm nicht gelungen ist, die methodologische Grenze zu berücksichtigen, durch die die

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Die Hauptschwierigkeit für jeden Versuch, eine Kohärenz innerhalb jeder der vier Triaden und zwischen den vier Triaden von Urteilsfunktionen einzusehen und in beiden Hinsichten die Vollständigkeit zu erkennen, ist seit der Publikation der ersten Auflage der Ersten Kritik bekannt: Sie besteht darin, daß Kant im Zusammenhang der Präsentation und unmittelbaren Erläuterung dieser Urteilsfunktionen hierfür keinerlei spezifisch analytische Hilfen bietet. Die wohl wichtigste Konsequenz, die diese Schwierigkeit für die Beurteilung von Kants Konzeption der Urteilsfunktionen selbst, aber auch für deren transzendentale Tragfähigkeit und Tragweite mit sich bringt, zeigt sich in zwei Hinsichten. Denn ohne solche Hilfen bleibt zum einen völlig unerfindlich, warum Kant aus der großen Menge der Urteilsfunktionen, die in der überlieferten und in der zeitgenössischen Logik behandelt werden, gerade die von ihm exponierten ausgewählt und so zu Gruppen zusammengefaßt hat, wie er sie faktisch präsentiert und kommentiert. Zum anderen bleibt ebenso unerfindlich, inwiefern die eingeführten Urteilsfunktionen tauglich sein können, als Leitfaden für eine wie auch immer zuwege zu bringende ›Entdeckung‹ der Kategorien zu dienen. Wenn die logische Form z. B. des kategorischen Urteils dadurch charakterisiert ist, daß in ihm zwei Begriffe als Träger von irgendwelchen Umfangs- und Inhaltsverhältnissen fungieren  – wie kann die logische Form des Verhältnisses zwischen Umfängen und Inhalten von Begriffen im kategorischen Urteil als Leitfaden dienen, um beispielsweise die gänzlich nicht-logische, nicht-begriffsumfangs-spezifische und nicht-begriffsinhalts-spezifische Form des Verhältnisses zwischen einer gegenständlichen Substanz und einem gegenständlichen Akzidenz einer Substanz zu ›entdecken‹?273 In seiner methodisch vorbildlichen immanenten Interpretation von Kants Präsentation seiner Konzeption der Urteilsfunktionen (A 67, B 92 – A 76, B 101) hat Michael Wolff angesichts solcher Dunkelheiten die Konsequenz gezogen, daß diese Konzeption sich darin erschöpfe, »einen Beitrag zur Systematisierung und damit zum Abschluß der ›allgemeinen Logik‹ geleistet zu haben«274. Mit dieser Konsequenz gibt man indessen – ganz unbeschadet des unüberhörbaren Respekts Schritte innerhalb des Entwurfs des formallogischen Systems der Urteilsfunktionen von den Schritten innerhalb des Entwurfs des transzendentallogischen Systems der Kategorien am Leitfaden des Systems dieser Urteilsfunktionen getrennt bleiben müssen. Die hier 10.3. Ab. – teilweise mit und teilweise gegen Reich – vorgeschlagene Rekonstruktion wird aus sachlichen Gründen der von Kant R 3040 durch Selbstkorrektur entworfenen Reihenfolge relatio, qualitas, quantitas, modalitas entsprechen. 273 Longueness, Capacity, kritisiert daher zu Recht die entsprechende von Reich benutzte Voraussetzung (in deren amerikanischer Übersetzung): »The material given to us before any judgement is concepts alone«, S. 12964; vgl. in der deutschen Fassung von Reich, Vollständigkeit, S. 39 ff., 46 ff. Doch trotz ihrer Kritik an dieser Voraussetzung Reichs ist auch für Longueness, Standpoint, »the canonical form of judgement […] a subordination of concepts«, S. 96. 274 Vgl. Wolff, Vollständigkeit, S. 241.

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auch für das eingeschränkte Format der so apostrophierte Konzeption – endgültig den Gedanken auf, daß die Urteilsfunktionen darüber hinaus und mit Blick auf die Kategorien auch noch für eine Leitfadenfunktion tauglich seien. Doch zu den Voraussetzungen, aus denen Wolff diese Konsequenz zieht, gehört nun einmal auch die Voraussetzung, daß es sich bei den Elementen, die für die Ausübung der kategorischen Funktion im Urteilsakt in Frage kommen, nur um Begriffe handeln könne, die durch Umfangs- und Inhaltsverhältnisse bestimmt sind. Nicht nur Reich und alle anderen Autoren, die sich an diesen Erörterungen beteiligen, machen von dieser Voraussetzung Gebrauch.275 Sogar Kant selbst macht von dieser Voraussetzung im Rahmen der Präsentation seiner Konzeption auf Schritt und Tritt Gebrauch. Doch es ist der Frage wert, ob Kant mit dieser Voraussetzung vielleicht ein didaktisches Zugeständnis an das logische Vorverständnis macht, das jedenfalls seine zeitgenössischen Leser aus ihrer Vertrautheit mit der traditionellen und der zeitgenössischen Logik mitbringen. Angesichts der Unwegsamkeiten, die sich unter dieser Voraussetzung für die kategorienspezifische Leitfadenkonzeption der Urteilsfunktionen ergeben, ist es überdies der Frage wert, ob der Preis nicht viel zu hoch ist, den man in Gestalt eines solchen Zugeständnisses – falls es eines ist – zu zahlen hat. Dieser Preis scheint sogar in einer elementaren Inkohärenz nicht nur entsprechender Interpretationen, sondern so275 Vgl. Reich, Vollständigkeit, S. 46 ff.; Ulrich Nortmann, Kants Urteilstafel, und die Vollständigkeitsfrage, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, (1998), S.  406–421; Rainer Stuhlmann-Laeisz, Die Urteilstafel, in: Archiv für Geschichte der Philosophie (1999), S. 71–77, bes. S. 74 f.; Brandt, Urteilstafel, S. 5 f. Stuhlmann-Laisz gelangt durch seine Orientierung an den unterstellten Umfangs- und Inhaltsverhältnissen zwischen den Begriffen als Rollenträgern in Urteilen sogar zu der Überzeugung, »daß für die Vollständigkeitsproblematik keineswegs nur Fragen der Urteilsform, sondern auch solche des Urteilsinhalts einschlägig sind«, S. 74, St.-L.’s Hervorhebungen, und von hier aus konsequenterweise zu dem Ergebnis, daß »die Behauptung der Vollständigkeit der Urteilstafel […] somit eine semantische These«, S. 76, sei. Wenn Kants faktische Berücksichtigungen des logischen Status und der logischen Rollen von conceptus communes dazu führen, daß dem Urteilsinhalt auch nur irgendeine Rolle für die Vollständigkeitsproblematik der Urteilstafel beigemessen wird, dann zeigt sich damit bloß sehr spät, daß alles dies – und zwar sowohl bei Kants selbst wie bei den entsprechenden Interpreten – mit Kants eigenen mehrfachen Klarstellungen unverträglich ist, daß »Die allgemeine Logik […] von allem Inhalt der Erkenntnis [abstrahiert] und […] nur die logische Form [betrachtet] […], d. i. die Form des Denkens überhaupt«, A 55, B 79; vgl. auch A 54, B 78; A 76, B 102. Stuhlmann-Laeisz’ Versuch, die Klärung der Vollständigkeitsproblematik durch einen semantic ascent (Quine) zu fördern, geht konsequenterweise mit der Überzeugung Hand in Hand, daß »eine rein syntaktische […] Problemstellung«, S. 74, unzureichend sei. Die damit verbundene systematische Voraussetzung bringt Schulthess, Relation, auf den Punkt, wenn er Die extensionale Logik Kants thematisiert und untersucht, vgl. S. 11–121, und ergänzt: »Extension ist aber die Menge aller Gegenstände und Begriffe, die unter dem logischen Begriff enthalten sind«, S. 270; vgl. zur syntakti­ schen Dimension der Urteilsfunktionen in Kants Theorie jedoch unten S. 202, Anm. 285.

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gar von Kants eigener Darstellung seiner Konzeption der Urteilsfunktionen zu bestehen. Denn Kants wichtigster Beitrag zum Status der conceptus communes und zu ihrer Rolle im Rahmen dieser Konzeption betrifft bekanntlich »Die analytische Einheit des Bewußtseins«, die »[…] allen gemeinsamen Begriffen, als solchen, an[hängt]«.276 Reich widmet diesem Thema – im Zusammenhang seines Ansatzes durchaus konsequent  – sogar einen ganzen Abschnitt.277 Doch sieht man einmal von der buchtechnischen Randständigkeit ab, mit der Kant selbst die Wichtigkeit dieses Thema durch die Behandlung in einer Fußnote abstempelt, so könnte kaum etwas anderes die sachliche und die methodologische Randständigkeit dieses Themas schlagender beleuchten als Kants Bemerkung: »d. i. die analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgendeiner synthetischen möglich«.278 Denn Kant formuliert diese Bemerkung als eine theoretische »d. i.«-Konsequenz seiner Auffassung: »Also nur dadurch, daß ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewußtsein verbinden kann, ist es möglich, daß ich mir die Identität des Bewußtseins in diesen Vorstellungen selbst vorstelle«.279 Kant könnte mit den von ihm hier benutzten Mitteln gar nicht klarer zu verstehen geben, daß die traditionellen und die zeitgenössischen Logiker noch nicht einmal das Problembewußtsein dafür entwickelt haben, daß die mit dem Gebrauch von conceptus communes in Urteilen verbürgte analytische Einheit der Apperzeption ›nur unter der Voraussetzung irgendeiner synthetischen möglich ist‹ – also einer Einheit, die nur dadurch möglich ist, »daß ich eine [Vorstellung, R. E.] zu der andern hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewußt bin«.280 Mit Blick auf die logische Struktur der Urteile verkennen die traditionelle und die zeitgenössische Logik im Licht dieser Einschätzung den ›höchsten Punkt‹ bzw. – je nach methodischer Perspektive – den tiefsten Punkt, an den diese Struktur gebunden ist: an den »Aktus der Spontaneität« des »Ich denke«,281 »das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter die Einheit der Apperzeption zu bringen«.282 Denn dieser Aktus des Denkens »[ist], für sich genommen, […] bloß die logische Funktion, mithin lauter Spontaneität der Verbindung des Mannigfaltigen«283 der Vorstellungen, »nämlich die logische Einheit des Gedankens«284 durch diese Spontaneität der Verbindung des Mannigfaltigen der Vorstellungen zu stiften. Die (subjektiven) Entitäten, die Kant in seiner terminologischen Sprache auch als Gedanken apostrophiert, sind 276 B 133*. 277 Vgl. Reich, Vollständigkeit, S. 32–39. 278 B 133. 279 Ebd. 280 Ebd., Kants Hervorhebung. 281 B 132, Kants Hervorhebungen. 282 B 135. 283 B 428, Hervorhebung R. E. 284 A 398.

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indessen nichts anderes als Resultate des (urteilenden) Denkens, also Resultate des die urteilsförmige Einheit von Vorstellungen stiftenden Denkens.285 Unter diesen Umständen fällt auf, daß Reich der einzige ist, der mit Hilfe indirekter und verstreuter Belege eine Möglichkeit fruchtbar gemacht hat, allen Anforderungen gerecht zu werden, die nicht nur den strikt funktionalen und formal-logischen Charakter der Urteilsfunktionen betreffen, sondern auch die von Kant behauptete strikt funktionalistische Identität der Urteilsfunktionen und der Kategorien. Dabei gehört es allerdings zur Ironie des Schicksals von Reichs Untersuchung, daß gerade diese Möglichkeit es auch erlaubt, auf die von ihm selbst in Anspruch genommene Voraussetzung zu verzichten, daß es sich bei den Vorstellungen, die in den von Kants berücksichtigten logischen Formen des Urteilens gebraucht werden, schon von Hause aus um Begriffe handelt, für die irgendwelche Umfangs- und Inhaltsverhältnisse charakteristisch sind. 285 Vgl. bes. B 130–131. Zu Recht betont Reich, dieser ›höchste Punkt‹ »war Aristoteles und ist der heutigen sog. mathematischen Logik verborgen«, Reich, Vollständigkeit, S.  43. Gleichwohl hat diese Logik seit der ersten Publikation von Reichs Untersuchung in Gestalt der Logischen Syntax eine Spezialdisziplin ausgebildet, durch die auf hohem methodischen Niveau und in mannigfaltigen thematischen Richtungen Fragen bearbeitet werden, deren Antworten unmittelbar durch die Leitfrage ›kritisch hinterfragt‹ werden, die Kant mit diesem ›höchsten Punkt‹ beantwortet: Jede ›logische Syntax‹ irgendeines urteils­förmigen (und wahrheitsfähigen) Gebildes verdankt diese Syntax der Fähigkeit des dies Gebilde stiftenden Subjekts, die für die logische Syntax dieses Gebildes relevanten Elemente so zu verknüpfen, daß seine Urteilsförmigkeit (und Wahrheits­fähigkeit) durch die Form dieser Verknüpfung ursprünglich gestiftet wird, also deren elementarste formale Bedingung bildet. Auch die von der Junktoren- oder Aussagenlogik analysierten wahrheitsfunktionalen Verknüpfungen sind auf solche spontanen ›syntaktischen‹ Akte eines entsprechend befähigten Subjekts angewiesen. Hinter dem von Kant angestrebten Analyseniveau bleibt diese Logik indessen alleine schon deswegen zurück, weil die Syntax der atomaren Satzelemente der wahrheitsfunktional verbundenen Sätze systematisch im Dunkeln bleibt. In dies Dunkel sucht Kant dadurch Licht zu bringen, daß er auf die a-logische Mannigfaltigkeit logisch unförmiger und unverbundener Vorstellungen aufmerksam macht, für deren Überwindung zugunsten von logisch, urteilsförmig verbundenen Gebilden das erkenntnisbeflissene Subjekt durch zwei Vermögen disponibel ist: 1.) durch das apperzeptive Vermögen, sich ursprünglich an einer durch Verbindungsakte stiftbaren urteilsförmigen Einheit von vielen – also von mindestens zwei – logisch noch unförmigen Vorstellungen zu orientieren, vgl. oben 7. Ab., und 2.) durch das Vermögen, solche urteilsförmigen Einheiten durch genau drei elementare ­urteilsförmige Verbindungsakte und durch genau neun elementare urteilsförmige Momente dieser Verbindungsakte zu stiften; vgl. unten 10.3. Ab. Gottlob Frege, Über Begriff und Gegenstand (18921), in: ders., Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische ­Studien, hg. u. eingel. v. Günther Patzig, Göttingen 1966, S. 66–80, trägt dem von Kant systematisch analysierten Gedanken der urteilsförmigen Verbindung von logisch unförmigen Vorstellungen im Rahmen seiner logischen Sprachanalyse gelegentlich Rechnung, indem er sogar die von ihm als Wahrheitswertfunktionen konzipierten Begriffe als »Bindemittel«, S. 80, charakterisiert, durch die Namen von Gegenständen zu wahrheitsfähigen Gedanken bzw. Sätzen gefügt werden.

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Nun ist Reichs Interpretationsmethode der Berücksichtigung möglichst aller kohärent integrierbaren Kantischen Texte vor allem von Michael Wolff dafür kritisiert worden, daß er »ein Arrangement aus verstreuten Bemerkungen und Notizen Kants, die unterschiedlichen und nicht immer genau bestimmbaren Lebensphasen und Kontexten zuzuordnen und hauptsächlich den Nachlaßbänden 16 bis 18 der Akademieausgabe entnommen sind«286 benutze und deswegen »gescheitert«287 sei. Wolff sieht in seiner immanenten Interpretation denn auch nicht etwa, wie seine Reich-Kritik exemplarisch zeigt, bloß eine Erprobung einer unter mehreren methodischen Möglichkeiten, sondern die Erfüllung eines konkurrenzlosen Kriteriums zur Beurteilung des Reifegrades einer philosophischen Theorie: Die Reife einer philosophischen Theorie manifestiert sich in der philologischen Einheit eines sie kohärent repräsentierenden Textes. Man braucht zwar durchaus nicht zu bestreiten, daß Wolff mit seiner immanenten Interpretationsmethode die bislang kohärenteste Interpretation des Textstücks  – eben A 67, B 92 – A 76, B 101  – gelungen ist, in dem Kant seiner Konzeption der Urteilsfunktionen die kohärenteste publizierte Fassung gegeben hat. Doch das einzige publizierte kohärente Textstücks zu einem Thema einer philosophischen Theorie muß nicht auch der beste Repräsentant der Theorie sein, an der der Autor dieses Textstücks arbeitet. Indessen gehört die Philosophie, an der Kant auch im thematischen Rahmen seiner Theorie der Erfahrung arbeitet, alleine schon nach dem Zeugnis der verschlungenen Wege von der ersten zur zweiten Auflage der Ersten Kritik – im Sinne von Husserls trefflichem Wort  – geradezu in musterhafter Weise zum Prototyp der Arbeitsphilosophie. Doch gerade deswegen gehört es zweifellos zu den unverfänglichsten methodischen Kunstgriffen der ebenfalls arbeitenden Auseinandersetzung mit einer solchen Philosophie, wenn man auch ›ein Arrangement aus verstreuten Bemerkungen und Notizen Kants, die unterschiedlichen und nicht immer genau bestimmbaren Lebensphasen und Kontexten zuzuordnen und hauptsächlich den Nachlaßbänden 16 bis 18 der Akademieausgabe entnommen sind‹, benutzt, um zu demonstrieren, inwiefern es Kant auf diesen Wegen gelungen ist, an einer immer kohärenter werdenden Theorie zu arbeiten. Wenn man die Elemente, die Kohärenz und die Vollständigkeit des Systems der von Kant präsentierten Urteilsfunktionen unter diesen arbeits- bzw. werkstattgeschichtlichen Voraussetzungen verständlich, plausibel und durchsichtig zu machen sucht, dann ist es angesichts der dominierenden Formen der Auseinandersetzung der Kant-Forschung mit diesem Themenkomplex nützlich, auf die wichtigste Fehleinschätzung aufmerksam zu machen, die dieser Forschung nach wie vor einen unbefangenen Zugang zu diesem Themenkomplex verwehrt. 286 Wolff, Vollständigkeit, S. 7. 287 S. 6. 

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Diese Fehleinschätzung führt gleichsam wie an einer Weggabelung in zwei Richtungen in die Irre. Beide Richtungsirrtümer ergeben sich aus der irrigen Auffassung, daß die Urteilsfunktionen in irgendeinem, in der Kant-Forschung allerdings niemals näher bestimmten Sinn aus der ›reinen und ursprünglichen Einheit der Apperzeption‹ abgeleitet seien bzw. abgeleitet werden können oder sogar abgeleitet werden können müssen.288 In der einen Richtung führt dieser Irrtum deswegen in die Irre, weil er einerseits von dem Irrtum über den Status dieses ›höchsten Punkts‹ ausgeht, als handle es sich bei dem Urteil-des-inneren-Sinns(!) (vgl. oben S. 89–91, 134–150) Ich denke um ein Urteil, aus dem auch nur irgendetwas nach irgendwelchen logischen Regeln in schlüssiger Form abgeleitet werden könnte. In der anderen Richtung führt dieser Irrtum deswegen in die Irre, weil er andererseits von dem Irrtum ausgeht, als handle es sich bei den Urteilsfunktionen bzw. bei Kants Aussagen über die Urteilsfunktionen um Gebilde, die nach irgendeiner logischen Regel aus irgendeinem Urteil ab­ geleitet werden könnten. Der Verdacht liegt nur allzu nahe, daß solche ableitungsrhetorischen Suggestionen eines ableitungslogischen Wegs in die Urteilstafel durch eine Befangenheit in irgendwelchen irreführenden Vorstellungen von ›Systematik‹ oder ›Gliederbau-Architektonik‹ von Kants Philosophie nahegelegt werden. Doch Kants unbezweifelbare eigene Redeweisen von System, Gliederbau und Architektonik folgen durchweg Regeln, die an die Perspektive dessen gebunden sind, der über ein System mit architektonisch charakterisierbarem Gliederbau schon verfügt. Indessen wird die mehr oder weniger stillschweigende Leitfrage aller Auseinandersetzungen mit Kants Urteilstafel völlig zu Recht aus der heuristischen Perspektive dessen behandelt, der nach einem Weg noch sucht, auf dem es möglich ist, die von Kant ausgezeichneten Urteilsfunktionen so zu finden, daß sie in ein kohärentes System von homogenen Urteilsfunktionen passen und von allen anderen Urteilsfunktionen unterschieden werden können.289 In diesem 288 Vgl. z. B. – trotz aller hermeneutischen und sachlichen Umsicht – sogar Reich, Vollständigkeit, S. 7, 45 ff., und ebenso Krüger, Vollständigkeit, S. 338 f., außerdem Lenk, Konstanten, S.  5 f.; zu Recht kritisiert daher Longueness, Capacity, diese deduktivistische Auffassung als »a major shortcoming of Reich’s otherwise pioneering [study, R. E.]«, S. 779; vgl. jedoch vor allem zu Krüger unten S. 205, Anm. 295, 211, Anm. 320. 289 Ein geradezu klassisches Muster für die methodologisch-didaktische Aufmerksamkeit auf diesen Unterschied bilden die Schriften von Johann Gottlieb Fichte, Erste und zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (17971), in: Fichtes Werke, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Band I. Zur theoretischen Philosophie I, Berlin 1971, S. 417–518. Fichte erläutert die methodische Funktion der Zweiten Einleitung durch den Untertitel: »Für Leser, die schon ein philosophisches System haben«, S. 451, vgl. auch S. 453, während er die methodische Funktion der Ersten Einleitung durch die Bemerkung erläutert, daß sie »vollkommen hinlänglich ist für unbefangene Leser«, S. 453. Ungeachtet aller sonstigen tiefgehenden Unterschiede entspricht Kants »synthetische[…] Lehrart«, IV, 263, Kants Hervorhebung, in der Ersten Kritik der methodischen Einstellung Fichtes in der Zwei-

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Sinne spricht Reich zu Recht davon, daß es darum gehe, »die Funktionen des Verstandes überhaupt mit Zuverlässigkeit vollständig290 zu finden (Hervorhebung R. E.)«.291 Noch treffender – und zwar vor allem auch mit Blick auf Kants Werkstattarbeit während des ›stummen Jahrzehnts‹ – formuliert Krüger, wenn er fragt, ob »[gerade die von Kant ausgezeichneten] aus den möglichen Urteilsformen […] herausgelesen werden können«.292 Zwar zieht Krüger im Anschluß an diese Frage zu Recht die von Giorgio Tonelli erarbeitete, so verdienstvolle Bestandsaufnahme der Kant vorliegenden Logik-Lehrbücher und damit der faktisch schon thematisierten logischen Formen heran.293 Doch gerade deswegen ist es sogar noch angemessener zu fragen – und zwar angemessener auch wieder vor allem mit Blick auf Kants stummes Werkstatt-Dezennium –, ob und wie und warum gerade die von Kant ausgezeichneten Urteilsformen aus den faktisch bekannten Urteilsformen ›herausgelesen‹ werden können.294 Trotz der begrifflichen Nuancen, durch die sich Reichs und Krügers heuristische Charakterisierungen des methodischen Wegs zur Urteilstafel unterscheiden, geben doch beide einen gemeinsamen methodischen Wink – daß es vor allem auf irgendeine Art von Leitfaden oder Kriterium ankommt, mit dessen Hilfe sich der Logiker im Labyrinth der bekannten – oder der möglichen – Urteilsformen zurechtfinden können muß, wenn er solche Urteilsformen zu ›finden‹ (Reich) oder ›herauszulesen‹ (Krüger) sucht, die im Blick auf eine kohärente, homogene, in vier Triaden gegliederte und vollständige Urteilstafel zumindest in Frage kommen.295 Gemeinsam ist beiden Autoren – wie auch allen anderen mit dem Thema befaßten Autoren – die Orientierung an dem Gedanten Einleitung, und Kants »analytische[…] Methode«, IV, ebd., Kants Hervorhebung, in den Prolegomena der methodischer Einstellung Fichtes in der Ersten Einleitung. 290 Reichs Hervorhebung. 291 Reich, Vollständigkeit, S. 12. 292 Krüger, Vollständigkeit, S. 344. 293 Vgl. S. 344 ff. Vgl. allerdings auch schon die instruktive logik-historische Übersicht bei Vleeschauwer, La Déduction I, S. 246–248. 294 In diesem Sinne hält Reich daher auch zu Recht von Anfang an fest, daß » […] das Dutzend [Grundfunktionen des Denkens im Urteil] doch materiell nicht mehr [enthält], als was Aristoteles und seine unmittelbaren Schüler als logische Hauptmomente in der Urteils- und Schlußlehre angesehen haben«, Reich, Vollständigkeit, S. 5. 295 In diesem Sinne bemerkt Krüger mit aller nur wünschenswerten methodologischen Klarheit, daß »[d]er höchste Punkt, an den auch die ganze Logik zu heften ist, […] vielmehr die Rolle eines Entscheidungskriteriums für die Frage [spielt], welche Formen des Denkens für das Denken als solches charakteristisch und überdies irreduzibel sind«, Krüger, Vollständigkeit, S.  342; vgl. hierzu jedoch unten S.  211, Anm.  320; ebenso Brandt, Urteilstafel, S. 10 f. Zu der Tradition des Kriteriums-Begriffs, die vor allem mit Blick auf das 18.  Jahrhundert in Kants Horizont lag, vgl. die Nachweise bei Giorgio ­Tonelli, Kant’s Critique of Pure Reason within the tradition of modern logic, hg. v. David H. Chandler, Hildesheim 1994, S. 203–209, besonders Johann Heinrich Lamberts Charakterisierung, S. 208 f., die durch ihre Allgemeinheit von der auf Epikur zurückgehenden nominellen Auffassung eines Kriteriums speziell als Wahrheitskriterium abweicht.

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ken, daß »Verbindung […] allein eine Verrichtung des Verstandes [ist], der selbst nichts weiter ist, als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter die296 Einheit der Apperzeption zu bringen«,297 also unter »die synthetische Einheit der Apperzeption«.298 Gleichwohl unterscheidet sich Reichs Untersuchung von buchstäblich allen anderen mit dem Thema der Urteilstafel befaßten Untersuchungen in geradezu inkommensurabler Form durch seine in dieser Hinsicht entscheidende Konzeption der katego­ rischen, der hypothetischen und der disjunktiven Urteilsfunktionen. Im Rahmen des ›Arrangements aus verstreuten Bemerkungen und Notizen Kants‹ zum Thema seiner Konzeption der Urteilsfunktionen hat Reich auch Bemerkungen und Notizen fruchtbar gemacht, die primär die kategorische, die ­hypothetische und die disjunktive Urteilsform bzw. die entsprechenden Formen des Gebrauchs von Vorstellungen in kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Urteilsakten betreffen. Die Schlüsselrolle, mit deren Hilfe es ihm gelingt, die funktionale Eigenart sowohl des Kategorischen wie des Hypothe­ tischen und des Disjunktiven einer logischen Urteilsform in einheitlicher Form durchsichtig zu machen, hat Kant selbst in einem zusammenfassenden Rückblick auf den Punkt gebracht: »Die Verhältnisbegriffe … sind nichts anderes als die Einheit des Bedingten und seiner Bedingung«.299 Diese so elementare formale und funktionale Konzeption der einheitstiftenden Verbindung von Vorstellungen in den logischen Rollen von Bedingung und Bedingtem (im Urteil) macht Reich zugunsten der Rekonstruktion des Systems der Urteilsfunktionen fruchtbar.300 Die methodische Rolle, die diese Konzeption auf der Reflexionsstufe von Kants Theorie der Urteilsfunktionen spielt, muß allerdings sorgfältig von der formal-pragmatischen Rolle unterschieden werden, die der Rollenunterschied von Bedingung und Bedingtem auf der vorreflexiven Stufe des logischen Ge296 Ich schließe mich der Konjektur Hartensteins an. 297 B 134–135. 298 B 134; vgl. Reich, Vollständigkeit, S. 23–32; Krüger, Vollständigkeit, S. 342 f.; zumindest indirekt Wolff, Vollständigkeit, S. 181 f.; sarkastische Versuche, »den allgemeinen Glauben an den famosen höchsten Punkt der transzendentalen Apperzeption als dem Einheitsfokus und Systemursprung der Urteile«, Brandt, Urteilstafel, S. 32, Hervorhebung R. E., als (Teil-)Kriterium für die Auswahl der Urteilsfunktionen, in Mißkredit zu bringen, scheitern schon an Kants eigener Überlegung, daß »wir diese Einheit (als qualitative § 12) noch höher suchen [müssen], nämlich in demjenigen, was selbst den Grund der Einheit […] in Urteilen, mithin der Möglichkeit des Verstandes, sogar in seinem logischen Gebrauche, enthält«, B 131. 299 R 5553, S. 222. 300 Vgl. Reich, Vollständigkeit, S. 47 ff. In einer der gegenwärtig vorbildlichen Gestalten der Kant-Forschung hebt ausschließlich Longueness, Capacity, die Fruchtbarkeit der Konzeption »of the relation of condition to conditioned«, S. 10353, hervor; vgl. hierzu unten S. 223, Anm. 362.

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brauch von Vorstellungen durch das denkend-urteilende Subjekt spielt. Gleichzeitig muß beachtet werden, daß die Unterscheidung zwischen diesen beiden Stufen nicht bedeutet, daß zwischen ihnen so etwas ein Blickkontakt gar nicht möglich wäre. Es ist vielmehr die Reflexionsstufe der Theorie, von der aus ein Blick erprobt wird, mit dessen Hilfe die logischen Formen des vorreflexiven kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Gebrauchs von Vorstellungen bis auf die logische Tiefenschicht hin durchsichtig gemacht werden sollen, auf der der logische Rollenunterschied von Bedingung und Bedingtem als das zentrale Element eines logischen Verknüpfungsmusters sichtbar wird, das auch noch die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung in Gestalt der Kategorien prägt.301 Von dieser Reflexionsstufe der Theorie aus wird das denkend-urteilende Subjekt daher darüber belehrt, daß es sich beim kategorischen, hypothetischen und disjunktiven Gebrauch von Vorstellungen im Grunde und mit Blick auf die Tragweite für die ihm mögliche Erfahrung spontan, wenngleich unreflektiert an dem Rollenunterschied von Bedingung und Bedingtem orientiert. Auf der Reflexionsstufe der Theorie hat diese Rollenunterscheidung daher die methodische Funktion des Kriteriums, mit dessen Hilfe der Logiker die konditionale Tiefenstruktur dieser logischen Urteilsformen sichtbar macht. In dieser kriteriellen Funktion konkretisiert es direkt ein übergeordnetes Kriterium. Durch dies übergeordnete Kriterium bringt der Logiker ebenfalls auf der Reflexionsstufe der Theorie die reine und ursprüngliche Apperzeption auf Begriffe und erprobt sie in der Rolle desjenigen formalen Akts des denkenden Subjekts, durch den es ursprünglich jeden Fall von multipler Zerstreuung des empirischen Bewußtseins zugunsten einer von ihm selbst, spontan gestifteten, aber (noch) unbestimmten Einheit überwinden kann (vgl. oben 7. Ab.). Erst mit Hilfe von beiden Kriterien gemeinsam kann geklärt werden, welchen beiden Orientierungen das denkendurteilende Subjekt das elementarlogische Know-how verdankt, das ihm zum einheitstiftenden Gebrauch von Vorstellungen in logischen Formen von Urteilen verhilft (vgl. hierzu unten 10.3). Kant hat die logische Wichtigkeit des konditionalen Verhältnisses indirekt auch durch zwei aufschlußreiche Bemerkungen über dessen Rolle im Vernunftgebrauch erläutert: »[…] und die Vernunft steigert dieses Verhältnis nur bis zur Bedingung, die selbst unbedingt ist«;302 diese Steigerung »mag eine bloße Petition oder ein Postulat seyn (welches wir noch nicht entscheiden wollen)«303. Im einschlägigen Kontext der Dialektik der Ersten Kritik hat Kant diese Frage indessen so entschieden, daß diese Steigerung »[…] ein logisches Postulat der Ver301 Daß dies konditionale Element das zentrale Element dieses Verknüpfungsmusters bildet, bedeutet auch, daß alle anderen, nicht-kategorischen, nicht-hypothetischen und nicht-disjunktiven Elemente in Kants Urteilstafel Momente dieses zentralen, konditionalen Elements bilden; vgl. hierzu unten S. 235–250. 302 R 5553, S. 222. 303 S. 222–223.

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nunft [ist]«.304 Doch ganz unabhängig davon, ob es sich nun um eine Petition oder um ein Postulat handelt, hat man es in jedem Fall mit einem speziellen »Principium des Gebrauchs des Verstandes«305 zu tun – dem Prinzip nämlich »zum Bedingten das Unbedingte zu finden«306 –, aber jedenfalls nicht mit dem Prinzip, das charakteristischerweise mit »dem logischen Gebrauche des Verstandes überhaupt«307 verflochten ist, also mit »der logischen Funktion des Verstandes in Urteilen«.308 Denn dies spezifisch logische Prinzip reguliert gerade nicht wie das Vernunftprinzip die Suche nach einer unbedingten Bedingung. Es reguliert vielmehr, um es gleich einmal (im Anschluß an Reich) für den Fall der kategorischen Urteilsfunktion zu demonstrieren, den Gebrauch einer Vorstellung v1x als Bedingung des Gebrauchs einer anderen Vorstellung v2x bzw. den Gebrauch einer Vorstellung v2x als bedingt durch den Gebrauch einer anderen Vorstellung v1x (vgl. auch dazu im einzelnen unten 10.3). Doch gerade weil Reich von den von Kant als so singulär ausgezeichneten konditionalistischen Verhältnisbegriffen planmäßig Gebrauch macht, irritiert es umso mehr, daß er – wenngleich in Übereinstimmung mit Kant – durchweg auch mit der irrigen Unterstellung arbeitet, daß es die kategorische Urteilsfunktion selbst sei, die man nur dann angemessen charakterisieren könne, wenn man die Umfangs- und die Inhaltseigenschaften von kategorisch brauchbaren Begriffen berücksichtigt. Bei Kant mag dies noch einem Zugeständnis an das traditionelle Vorverständnis der Logiker geschuldet sein. Reich selbst hat offensichtlich einen nicht nur wichtigen, sondern von ihm selbst verdienstvollerweise erstmals herausgearbeiteten Unterschied nicht streng genug berücksichtigt. Es geht hier einerseits um die internen formalen Eigenschaften der (kategorischen) Urteilsfunktion bzw. der mit ihr verbundenen logischen Rollen, die »unter Abstraktion von den Bedingungen der Ausübung der ›Handlung‹«309 des Urteilens charakterisiert werden können müssen, und andererseits um die formalen Eigenschaften, die den möglichen Trägern dieser Rollen abverlangt werden, sobald diese Handlung des Urteilens »unter Bedingungen stehen mag, unter denen sie allein ausgeübt werden kann«,310 um »gegebene Vorstellungen zuerst

304 A 498, B 526, vgl. auch A 500, B 528. 305 R 5553, S. 222. 306 Ebd., Hervorhebung R. E. 307 A 67, B 92. 308 A 70, B 95, Hervorhebung R. E. Einen der wichtigen Fälle einer unbedingten Bedingung, die nicht in den Horizont des heuristischen ›Principiums des Gebrauchs der reinen Vernunft‹ gehört, charakterisiert Kant so: »Weil ferner die einzige Bedingung, die alles Denken begleitet, das Ich, in dem allgemeinen Satze Ich denke, ist, so hat die Vernunft es mit dieser Bedingung, sofern sie selbst unbedingt ist, zu tun. Sie ist aber nur die formale Bedingung, nämlich die logische Einheit eines jeden Gedankens«, A 398. 309 Reich, Vollständigkeit, S. 30, Hervorhebung R. E. 310 Ebd., Reichs Hervorhebung.

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Erkenntnisse eines Objekts werden«311 zu lassen. Unter den konkreten empirischen Alltagsbedingungen, unter denen diese Handlung von uns ›allein ausgeübt werden kann‹, haben die Vorstellungen, die als Träger der logischen Rollen im (kategorischen) Urteil in Frage kommen, zwar in der Tat regelmäßig den Status von conceptus communes. Doch auf dem Weg zu dieser speziellen Einsicht eines speziellen Zweigs der Angewandten Logik hat die von Kant in der Ersten Kritik intendierte Transzendentale Logik zunächst einmal eine ganz andere Aufgabe als die, diese empirischen Ausübungsbedingungen in Form von conceptus communes zu klären. Sie hat vielmehr die Aufgabe, den Weg zu finden, auf dem ausschließlich ›am Leitfaden‹ der Charakterisierung der internen Eigenschaften der Urteilsfunktionen Begriffe von möglichen Gegenständen der Urteile, also Kategorien bestimmt werden können, »die a priori auf Gegenstände gehen«312. Denn es ist »Dieselbe (Hervorhebung R. E.) Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die […] auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit [gibt], welche, allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt«.313 Durch keine logische oder quasi- oder pseudo-transzendentale Interpretationskunst läßt sich indessen die Kluft überspringen, durch die die formalen Charaktere der Urteilsfunktionen und der durch sie festgelegten Rollen in Urteilen von den Bedingungen ihrer Ausübung z. B. in Form von conceptus communes getrennt bleiben. Doch trotz dieser sachlichen und methodischen Mißhelligkeiten verwendet Reich den »Begriff der Einheit der Bedingung und des Bedingten in Beziehung auf den Gebrauch von Begriffen«314 (im Urteil) zum Zweck einer systematischen Rekonstruktion der Urteilsfunktionen in einer Form, die eine ganz andere Möglichkeit eröffnet, dem internen formallogischen Anspruch gerecht zu werden, den Kant mit seiner Konzeption der Urteilsfunktionen verbindet. Denn mit Blick auf die kategorische Urteilsfunktion fungiert » ein […] Begriff […] als Bedingung des Gebrauchs eines (anderen, R. E.) Begriffs. Der, der zur Bedingung dient, hat, so sagen wir, die Funktion des Subjekts, der andere (der also als das Bedingte dient, R. E.) die des Prädikats«.315 Doch dieser Ansatz ist nur allzu offensichtlich gar nicht an die Voraussetzung gebunden, daß die in den Rollen von Bedingung (Subjekt) bzw. Bedingtem (Prädikat) kategorisch verwendeten Vorstellungen die Umfangs- bzw. Inhaltseigenschaften von Be311 312 313 314 315

IV, 475*; vgl. Reich, S. 40.

A 79, B 105. A 79, B 104–105, Kants Hervorhebungen. Reich, S. 47. S. 46–47. Reichs vielsagende Wendung »so sagen wir » gibt mit wenigen Worten zu verstehen, daß die traditionellen Termini Subjekt und Prädikat im Rahmen einer strikt konditionalistischen Rekonstruktion von Kants Formaler Logik nur noch einer sachlich belanglosen façon de parler angehören.

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griffen vom Typus der conceptus communes haben. Schon für die Charakterisierung der beiden anderen Urteilsfunktionen dieser Gruppe wird diese Voraussetzung so offensichtlich nicht nur überflüssig, sondern sogar widersinnig, daß die von Kant ja implizit unterstellte Homogenität der drei Urteilsfunktionen gestört wäre, wenn für die beiden konditionalen Rollen, die durch die kategorische Urteilsfunktion festgelegt sind, außerdem noch irgendwelche begriffs-logischen Eigenschaften der Träger dieser Rollen charakteristisch sein müßten. Die hypothetische Urteilsfunktion legt eines der beiden Teil-Urteile denn auch ohne irgendeine entsprechende zusätzliche Voraussetzung darauf fest, daß es »als Bedingung dient« und »so sagen wir, die Funktion des antecedens [hat],« und das »andere die des consequens«,316 also in der Rolle des Bedingten dient.317 Schließlich legt die disjunktive Urteilsfunktion die Urteile, die die disjunktiven Rollen spielen, darauf fest, daß »das Bedingte […] die das Ganze (des Urteils, R. E.) bestimmenden Glieder [sind], die Bedingung […] das Ganze [ist], das durch die Glieder bestimmt ist«.318 Die konditionalen Rollenträger der kategorischen Urteilsfunktion einerseits und andererseits die konditionalen Rollenträger der hypothetischen und der disjunktiven Urteilsfunktion unterscheiden sich daher ausschließlich dadurch, daß es sich bei den kategorischen Rollenträgern um nicht-urteilsförmige Vorstellungen und bei den hypothetischen und den disjunktiven Rollenträgern um urteilsförmige Vorstellungen handelt. Während die Textlage keinerlei Zweifel daran zuläßt, daß Reich die Orientierung am ›Begriff der Einheit der Bedingung und des Bedingten in Beziehung auf den Gebrauch von Begriffen‹ für die Rekonstruktion dieser drei Urteilsfunktionen verwendet, läßt sich gleichwohl zeigen, daß er das volle Potential, das sich aus dieser Orientierung ergibt, nicht gesehen hat. Den Blick für dies Potential hat er sich durch Voraussetzungen verstellt, von denen die eine, wie eben erörtert, auch auf das Konto der Zugeständnisse geht, die Kant an das begriffs-logische Vorverständnis seiner zeitgenössischen Leser macht. Die davon verschiedene hinderliche Voraussetzung Reichs besteht in seinem schon betonten (vgl. oben S. 196, Anm. 270) sowohl in methodischer wie in systematischer Hinsicht überflüssigen transzendental-logischen Vorgriff auf die Rolle der Urteilsfunktionen, ›zur Erkenntnis eines Objekts‹ beizutragen.319 Denn der unmittelbare Beitrag, den die Urteilsfunktionen zu irgendetwas leisten, besteht 316 Reich, S. 49. Auch hier gibt Reichs vielsagende Wendung »so sagen wir« wieder mit wenigen Worten zu verstehen, daß die traditionellen Termini antecedens und consequens im Rahmen einer strikt konditionalistischen Rekonstruktion von Kants Formaler Logik nur noch einer sachlich belanglosen façon de parler angehören. 317 Kant spricht gelegentlich selbst direkt sowohl von der »conditio consequentiae« wie von der »condition der inharentz«. 318 Reich, S. 51. 319 S. 47 f., 49 f., 51 f.

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in ihrem Beitrag zur Gewinnung jener diversen formallogischen Einheiten der Vorstellungen, die traditionell den Namen des Urteils tragen. Doch gerade diese spezifisch formallogischen Einheiten sind gar nichts anderes als die Resultate der kategorischen, der hypothetischen und der disjunktiven Formen des Gebrauchs von Vorstellungen bzw. von Urteilen in den von Reich thematisierten Rollen von Bedingung und Bedingtem.320 Macht man das ganze theoretische Potential dieses konditionalistischen Konzepts fruchtbar, dann zeigt sich seine Tragweite speziell für die kategorische Urteilsfunktion gerade darin, daß man mit seiner Hilfe zwei ganz ver­ schiedenartige begriffs-logische Optionen plausibel machen kann. Nur die eine dieser beiden Optionen eröffnet die Möglichkeit, plausibel zu machen, daß unter den Vorstellungen, die für beiden kategorischen Rollen von Bedingung (Subjekt) und Bedingtem (Prädikat) jedenfalls auch die Vorstellungen in Frage kommen, die zum Typus der Begriffe mit Umfängen und Inhalten  – also der conceptus communes  – gehören. Die Brauchbarkeit von Vorstellungen in den kategorischen Rollen von Bedingung und Bedingtem bildet mit Blick auf diesen Typus offenkundig ein Kriterium für ihren Charakter als Begriffe mit Um­ fängen und Inhalten. Ebenso offenkundig ist dieser spezielle begriffs-logische Charakter aber nicht charakteristisch für die kategorische Urteilsfunktion ›selber an sich selbst‹321 und für die mit ihr ›selber an sich selbst‹ verbundene Rollenverteilung von Vorstellungen im Urteil.322 Man sollte sich daher durch Kants gelegentliche konditionalistisch orientierte Formulierungen nicht irreführen lassen, z. B.: »[…] ich suche einen Begriff, der die Bedingung enthält, unter welcher das Prädikat […] dieses Urteils gegeben wird«.323 Diese Formulierung ist nur allzu offensichtlich nicht nur an Begriffen vom Typus der conceptus communes orientiert. Sie ist vielmehr ebenso offenkundig darüber hinaus an der Suche nach Begriffen orientiert, mit deren Hilfe sich ein analytisches kategorisches Urteil gewinnen läßt. Sie konzipiert also mit Blick auf das kategori-

320 Wegen dieser Schlüsselrolle der konditionalen Verhältnisbegriffe für die spezifisch logische Auszeichnung der kategorischen, der hypothetischen und der disjunktiven Urteilsfunktion kann der ›höchste Punkt‹ jedoch nicht, wie Krüger argumentiert, vgl. oben S. 205, Anm. 295, das alleinige Entscheidungskriterium für die Auszeichnung der Urteilsfunktionen sein, die sich kohärent in das von Kant entworfene System fügen; das scheint auch Schulthess, Relation, so einzuschätzen, vgl. S. 279–280. 321 R 4937; vgl. oben S. 186 f. 322 Damit wird es auch überflüssig, wie Reich »Die analytische Einheit des Bewußtseins«, vgl. Reich, Vollständigkeit, S. 32–39, für die Rekonstruktion der Systematik der Urteilsfunktionen in Anspruch zu nehmen. Denn diese Form der Einheit ist, wie Reich allerdings selbst vorbildlich herausarbeitet, gar nichts anderes als die, die, wie Reich Kant zitiert, »allen gemeinsamen Begriffen als solchen an[hängt]«, S.  34 bzw. B 134, Kants Hervorhebung. 323 A 322, B 378; vgl. Reich, S. 63.

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sche U ­ rteil ein spezielles Kriterium der Analytizität, indem sie die konditionale Grundform des kategorischen Urteils aber schon voraussetzt.324 Will man daher das ganze theoretische Potential fruchtbar machen, das mit dem konditionalistischen Konzept für die Urteilsfunktionen entworfen wird, dann muß man zunächst von beiden Voraussetzungen abstrahieren – also sowohl von der Voraussetzung, daß es sich bei den gesuchten Begriffen um solche vom Typus der conceptus communes handelt, wie von der Voraussetzung, daß sie Rollenträger in einem analytischen Urteil sind.325 Im Schutz dieser Abstraktion kann und muß Kants Formulierung mit Blick auf den konditionalen Charakter der kategorischen Urteilsfunktion ›selber an sich selbst‹ zugunsten der Formulierung modifiziert werden: ›Ich suche geeignete Träger für die Rollen der Bedingung und des Bedingten der kategorischen Urteilsfunktion‹.326 Erst im Schutz dieser Abstraktion hat man eine Charakterisierung der kategorischen Urteilsfunktion ›selber an sich selbst‹ zur Verfügung, die erlaubt, die ­Suche nach geeigneten Trägern der beiden durch sie festgelegten Rollen in beiden Richtungen offenzuhalten – nicht nur in Richtung auf die Träger, die ihre Eignung durch ihren Charakter als conceptus communes erweisen können, sondern vor allem in Richtung auf die Träger, die (im Rahmen einer Metaphysischen Deduktion) ihre Eignung durch ihren Charakter als Kategorien erweisen können. Denn die Träger, nach denen man auf dem Weg einer Metaphysischen Deduktion sucht, müssen ihre Eignung für die Trägerschaft dieser beiden an 324 Den analogen Fall eines analytischen hypothetischen Urteils faßt Kant im Logik-Kolleg des Sommersemesters 1792 so ins Auge: »Der autor handelt hier noch von der Bedingung der Urtheile. […] Bei hypothetischen Urtheilen […] [gilt] [e]in Urtheil […] unter der Bedingung des andern«, XXIV.1.2, 932, Hervorhebung R. E. Da es aber um eine Geltungsbedingung geht, kann es nicht um eine formale Eigenschaft der hypothetischen Urteilsfunktion ›selber an sich selbst‹ gehen. 325 Wenn Kant in der Urteilstafel die logischen Quantitäten an die Spitze stellt vgl. A 70, B  95 f., sowie IV, 302 f., so ist dies eine der Konsequenzen aus seiner Orientierung an den conceptus communes als den charakteristischen Rollenträgern der kategorischen Urteilsfunktion. Denn die Umfangs- und Inhaltsverhältnisse zwischen Begriffen dieses Typs legen von sich aus logische Quantitäten von Urteilen fest, in denen sie gebraucht werden. In diesem Sinne ist es jedenfalls konsequent, wenn auch Brandt, Urteilstafel, argumentiert: »Daher die Notwendigkeit der Quantität als erstem Titel«, S. 5. Verwirft man die begriffslogische Orientierung, dann ändert sich auch die äußere Ordnung der Urteilstafel; vgl. hierzu unten S. 220 f., 222–223, 224–250. 326 Den entsprechenden konditionalen Charakter der kategorischen Urteilsfunktion ›selber an sich selbst‹ hat Kant gelegentlich sogar selbst in der angemessen abstrakten Form im Auge, wenn er im Logik-Kolleg vom Sommersemester 1792 so wiedergegeben wird: »In jedem Urteil muß doch im Subjekt was sein, welches macht, daß ihm das Prädikat beigelegt wird und dieses nennt man die Bedingung«, XXIV.1.2, 764. Was das ›im Subjekt‹ konkret ist, muß die Formale Logik jedoch offen lassen; sie kann sich nur an den konditionalen Gebrauchsrollen von Bedingung und Bedingtem orientieren; vgl. auch: »Das Urteil, wo ein Begriff unter dem andern als Bedingtes unter der Bedingung […]«, 763.

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sich logischen Rollen dadurch erweisen, daß es mit Blick auf sie nicht »unbestimmt« bleibt, »welchem327 von beiden […] die Funktion des Subjekts, und welchem die des Prädikats man geben wolle«.328 Vielmehr ist der gesuchte Träger der Rolle des Subjekts »Etwas […], welches bloß als Subjekt [also bloß als Bedingung, R. E.] (ohne wovon ein Prädikat zu sein [also ohne wovon das Bedingte zu sein, R. E.]) stattfinden kann«,329 ohne daß man alleine mit Mitteln der formalen Logik begründen könnte, »unter welchen [Bedingungen] denn dieser logische Vorzug irgendeinem Dinge eigen sein werde«.330 Mit Blick auf die Grenzen, die einer Begründung eines solchen Vorzugs durch eine Orientierung ausschließlich an der Formalen Logik der Urteilsfunktionen gezogen sind, gilt daher: »Was das nun aber für Dinge sind, in Ansehung derer man sich dieser Funktion vielmehr, als einer anderen bedienen müsse, bleibt hierbei ganz unbestimmt«.331 Doch ein Kriterium zur Beurteilung, ob ein Kandidat für diese Rolle das Format eines conceptus communis hat und dadurch für die Rolle der Bedingung bzw. des Bedingten in einem kategorischen Urteil taugt oder nicht, benötigt man frühestens dann, wenn es gelungen ist zu zeigen, daß und in­ wiefern die urteilsinternen formalen Rollen erschöpfend mit Hilfe der konditionalistischen Konzeption charakterisiert werden können.332 327 Konjektur Grillo. 328 B 128–129. Es ist in diesem wichtigen Passus zwar unübersehbar, daß Kant die Kommutativität der beiden logischen Rollenträger Subjekt und Prädikat von der syllogistischen Konversions-Regel abhängig sein läßt, die den logisch gültigen Schritt von einem positiven allgemeinen zu einem positiven partikularen Urteil nur unter Vertauschung dieser beiden Rollen erlaubt. Ausschlaggebend ist jedoch seine generelle formal-logische Reflexion: »[Wir] können […] nach Belieben logische functionen brauchen«, R 4672, wobei dieser Gebrauch von allen logischen Schlußregeln unabhängig ist; vgl. hierzu vor allem unten 10.3. Ab. 329 A 242, B 300 – A 243, B 301. Es liegt auf der Hand, daß Kant mit der Rede von einem »Etwas, welches bloß als Subjekt […] stattfinden kann,« an dem von ihm so apostrophierten realen Subjekt und nicht an dem logischen Subjekt orientiert ist, also an dem realen Subjekt-etwas, auf das man sich mit Hilfe einer Vorstellung bzw. eines Begriffs nur in der (kategorial) bestimmten Rolle eines logischen Subjekts beziehen kann, wenn man mit einem entsprechenden Urteil einen Anspruch auf objektiv gültige Erkenntnis dieses realen Subjekt-etwas erhebt. 330 A 243, B 301. 331 A 246. 332 Reich gibt selbst einen Wink, der geeignet ist, die Notwendigkeit der begriffslogischen Voraussetzung von conceptus communes für die Charakterisierung der Urteilsfunktionen in Frage zu stellen. Wenn er im Anschluß an B 193 daran erinnert, daß »die bloße allgemeine Logik […] doch für sich weder den Namen der synthetischen noch der analytischen Urteile [kennt]«, S. 19, dann ist es jedenfalls nur noch ein einziger Schritt zumindest bis zu der Frage, ob es für die Charakterisierung der Urteilsfunktionen denn überhaupt nötig ist, für die Träger der logischen Rollen im kategorischen Urteil Vorstellungen vorauszusetzen, die das Format von conceptus communes haben. Die Alternative analytisch-synthetisch wird innerhalb seiner Theorie zwar vielfach unter Rück-

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Exkurs über formale und transzendentale Anthropologie der Erfahrung Mit Hilfe der Verwendung des grammatischen Irrealis bietet Kant seinen Lesern in ausgezeichneten thematischen Zusammenhängen Winke, die darauf aufmerksam machen, daß die entsprechenden argumentations-grammatischen Formen – irreale bzw. kontrafaktische negative Konditionale – einer bestimmten methodischen Einstellung geschuldet sind, in der er seine Theorie der Erfahrung erarbeitet  – in der Einstellung einer formal-transzendentalen Anthropologie (vgl. oben S. 120–123). Diese Einstellung zeigt sich in ihrer ganzen disziplinären Trennschärfe, wenn er ausgerechnet im zweiten Absatz der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in dem er Vom Bewußtsein seiner selbst handelt, 1.) den entwicklungspsychologischen Fall erörtert, in dem »das Kind […] allererst anfängt, durch Ich zu reden«, diesen Fall 2.) entwicklungspsychologisch kommentiert: »Vorher fühlte es bloß sich selbst, jetzt denkt es sich selbst«, sodann 3.) der empirischen Anthropologie ihre methodologische Grenze zur formal-­transzendentalen Anthropologie aufzeigt: »Die Erklärung dieses Phänomens möchte dem Anthropologen ziemlich schwer fallen«333, und schließlich 4.) indirekt darauf verweist, daß »in der Logik«334 diese Erklärung so zu finden sei, wie er sie in den §§ 15 ff. der zweiten Auflage der Ersten Kritik ausgearbeitet hat, um die Drei-Synthesen-Analyse (A 97–103) mit seiner Konzeption der logischen Funktion des Ich denke zu verflechten (vgl. oben 8. Ab.). In dieser methodischen Einstellung der formal-transzendentalen Anthropologie argumentiert Kant nach dem Schema, daß mir – also mir als Mensch – bzw. uns – also uns als Menschen – ganz bestimmte kognitive Leistungen, die uns tagaus-tagein mit Selbstverständlichkeit faktisch gelingen, dann gar nicht gelingen könnten, wenn ich bzw. wir nicht bestimmte, von Kant analysierte elementare formale Bedingungen der Möglichkeit solcher kognitiven Leistungen griff auf exemplarische Urteile mit Begriffen eben dieses Formats erläutert. Doch die Erörterung der Form und der Rolle analytischer Urteile wird mit Blick auf die Binnenprobleme der Transzendentalphilosophie in eine völlig falsche Richtung gelenkt, wenn man vernachlässigt, daß vor allem sie es ist, die »lauter […] analytische Sätze enthält«. Denn diese »haben […] nirgends anders einen beträchtlichen Nutzen als […] in Absicht auf die synthetischen Sätze, die aus jenen […] sollen erzeugt werden«, IV, 273– 274. Beispielsweise »Das Ich denke, ist […] ein empirischer Satz, und enthält den Satz, Ich existiere, in sich«, B 422*, so daß der Satz Ich existiere relativ zu dem Satz Ich denke ein analytischer Satz ist. Dies analytische Enthalten-sein bringt Kant in einer trefflichen Verschmelzungs-Grammatik durch den Satz »ich existiere denkend«, B 420, Kants Hervorhebung, zum Ausdruck, vgl. auch B 429. Doch um conceptus communes handelt es sich bei den in diesen Sätzen gebrauchten Begriffen weder nach Kants Kriterien noch nach den in den gegenwärtigen Diskussionen um analytische Sätze verwendeten Kriterien. 333 VIII, 127. 334 B 134*.

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ebenso faktisch erfüllen würde bzw. würden. Diese formal-transzendentale anthropologischen Argumentationsformen hat Kant nicht auf die Erörterungen der Tragweite beschränkt, die der apperzeptive Akt des Ich denke für unsere tagaus-tagein mit Selbstverständlichkeit faktisch und mit Erfolg ausgeübte Fähigkeit mit sich bringt, Urteile der diversesten Formen zu bilden. Es fällt ­a llerdings auf, daß Kant von dieser Argumentationsform an zwei Brennpunkten der Transzendentalen Deduktion in der zweiten Auflage der Ersten Kritik Gebrauch macht  – also gerade im Rückblick auf das vergleichsweise makroskopische Bild, mit dessen Hilfe er in den Prolegomena nicht nur seinen Lesern, sondern auch sich selbst alle systematischen Teile der Theorie noch einmal in ihrem inneren Zusammenhang durchsichtig macht, die er nach zehnjähriger schweigender Werkstattarbeit in der ersten Auflage der Ersten Kritik zunächst in einer nahezu hyperkomplexen Gestalt präsentiert. Die Prolegomena sollen in dieser Hinsicht offensichtlich einen Mangel auszugleichen helfen, den Kant schon in der Vorrede zur ersten Auflage der Ersten Kritik mit mild-spöttischer Selbstkritik getadelt hatte: »[…] manches Buch wäre viel deut­licher geworden, wenn es nicht so gar deutlich hätte werden sollen. Denn die Hülfsmittel der Deutlichkeit helfen335 zwar in Teilen, zerstreuen aber öfters im Ganzen, indem sie den Leser nicht schnell genug zur Überschauung des Ganzen gelangen lassen und durch alle ihre hellen Farben gleichwohl die Artikulation, oder den Gliederbau des Systems verkleben und unkenntlich machen, auf den es doch, um über die Einheit und Tüchtigkeit desselben urteilen zu können, am meisten ankommt«.336 Mit Hilfe der ›helleren Farben‹ lassen zunächst die Prolegomena selbst ›die Artikulation und den Gliederbau des Systems‹ deutlicher werden. Im Anschluß an die so bedeutsame erstmalige Exposition und Analyse der beiden Typen der Wahrnehmungsurteile und der Erfahrungsurteile337 (vgl. oben 2. Ab.) sieht sich Kant zum ersten Mal in der Lage, mit Hilfe eines irrealen negativen Konditionals einen urteils-logischen Bedingungszusammenhang in knappster Form sichtbar zu machen, der in der Quasi-Hyperkomplexität der ersten Auflage noch einer ›Zerstreuung im Ganzen‹ anheim fällt: »Zergliedert man alle seine synthetischen Urteile, sofern sie objektiv gelten [also alle seine Erfahrungsurteile, R. E.], so findet man, […], daß sie unmöglich sein würden, wäre nicht über die von der Anschauung abgezogenen Begriffe [also z. B. … ist süß, … ist warm, R. E.] noch ein reiner Verstandesbegriff hinzugekommen, unter dem jene Begriffe subsumiert [z. B. in der Form a erwärmt b, R. E.] und so allererst in einem objektiv gültigen Urteil verbunden worden«.338 Gibt man diesem irre335 Rosenkranz’ Konjektur. 336 A XIX , Kants Hervorhebungen. 337 Vgl. IV, 298–301. 338 Vgl. IV, 301; vgl. auch 304.

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alen negativen Konditional die in den §§ 15–16 der zweiten Auflage konventionell gewordene anthropologisch relevante Form, dann fällt es offenbar so aus: ›Wenn ich/wir alle meine/unsere synthetischen Urteile, sofern sie objektiv gelten, zerglieder/n, so finde/n ich/wir, daß ich/wir sie dann ganz und gar nicht bilden könnte/n, wenn ich/wir nicht über die von den Anschauungen abgezogenen Begriffe hinaus auch Verstandesbegriffe gebrauchen könnte/n, unter die jene Begriffe subsumiert und so allererst in einem objektiv gültigen Urteil verbunden werden‹. Ebenso argumentiert Kant, daß »in jenem Fall [des Wahrnehmungsurteils, R. E.] würde das Urteil nur Wahrnehmungen verknüpfen«.339 Dies Argument ist angesichts seines Irrealis offensichtlich ein elliptisches irreales negatives Konditional, dessen Vollform besagt: ›Wenn wir (als Menschen) nicht über Kategorien verfügen würden, deren empirischer Gebrauch uns tagaus-tagein faktisch zu Erfahrungsurteilen verhilft, dann könnten wir auch im günstigsten Fall lediglich zu Wahrnehmungsurteilen gelangen‹. Diese Wahrnehmungsurteile charakterisiert Kant in der zweiten Auflage der Ersten Kritik durch ihre »bloß subjektive Gültigkeit«340 und formuliert wiederum im Irrealis, aber elliptisch: »Nach diesen [den Wahrnehmungsurteilen, R. E.] würde ich nur sagen können: Wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der Schwere, aber nicht: er, der Körper, ist schwer«.341 Das »nur« in dieser Formulierung bedeutet offensichtlich so viel wie »lediglich« bzw. »nicht mehr als« und signalisiert das kognitive Defizit, mit dem wir uns als ›Menschen‹ abfinden müßten – falls ›wir‹ dann noch die wären, die wir faktisch sind. In seiner Vollform besagt das dazugehörige negative irreale Konditional daher: ›Falls wir nicht Kategorien zur Bildung objektiv gültiger Erfahrungsurteile wie Der Körper ist schwer gebrauchen könnten, dann könnten wir über die Bildung von subjektiv gültigen Wahrnehmungsurteilen nicht hinauskommen‹. Im Medium irrealer, vor allem negativer Konditionale hat Kant eine argumentative Mit­ teilungsform gefunden, die ihm erlaubt, auch seine Theorie der Erfahrung indirekt als eine formal-transzendentale Anthropologie zu präsentieren.

10.2 Mit Reich gegen Reich Angesichts der Entwicklungen, die die Methoden und die Zielsetzungen logischer Untersuchungen seit Kants Zeit durchgemacht haben, erweist sich indessen ein Punkt von nicht zu unterschätzender Bedeutsamkeit, der für Kant noch so gut wie ganz außerhalb seiner Aufmerksamkeit gelegen hat. Es geht dabei vordergründig um die sprachlichen Formen der Präsentation solcher 339 IV, 304. 340 B 142. 341 Ebd., Kants Hervorhebung.

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Unter­suchungen und ihrer Ergebnisse. Diese Bedeutsamkeit läßt sich in exemplarischer Weise direkt an zwei Formen dieser Präsentation durch Kant selbst erläutern. Denn Kant präsentiert die von ihm thematisierten Urteilsfunktionen einerseits  – im Rahmen der Urteilstafel342  – unter den terminologischen Namen, die die Logiker der teilweise lateinisch und teilweise deutsch sprechenden Vergangenheit geprägt haben, um sich in fachinternen stenogrammatischen Formen über die jeweils thematisierten logischen Funktionen zu verständigen. Kant präsentiert diese logischen Funktionen jedoch gleichzeitig auch, indem er auf exemplarische Beispiele für den unmittelbaren Gebrauch zurückgreift, den wir im wissenschaftlichen und im nicht-wissenschaftlichen Alltag – also noch vor aller planmäßigen logischen Reflexion und Analyse – von ihnen machen. Die der prae-logischen Gebrauchssprache dieses Alltags angehörenden Worte und Phrasen wie z. B. wenn …, so … und ent­weder … oder …343 können von den der logischen Reflexionssprache angehörigen Termini wie z. B. hypothetisch bzw. disjunktiv – aber auch z. B. Urteilsfunktion – klar genug unterschieden werden. Innerhalb dieser logischen Reflexionssprache erlauben solche terminologischen Elemente dem Logiker, (indirekte) Mitteilungen über die jeweils von ihm thematisierten spezifisch logischen Funktionen und Funktions­ elemente zu machen, ohne sie unmittelbar zu gebrauen. Nicht nur möglich, sondern sogar wichtig ist es indessen, diesen Unterschied zwischen der logischen Gebrauchssprache des prae-logischen Alltags und der mitteilenden Reflexions­ sprache des Logikers zu berücksichtigen. Denn innerhalb dieser Reflexionssprache können und müssen zwei verschiedene Funktionen unterschieden werden, sobald man dazu übergeht, ›zur Läuterung der Erkenntnisse durch die technische methode die functiones selber an sich selbst und gegeneinander auszudrüken‹.344 So werden z. B. durch die beiden Formeln v1 * v2 und (v1 * v2) * (v3 * v4) zwei unbestimmte Funktionen für die Verknüpfung von zwei atomaren bzw. von zwei nicht-atomaren Vorstellungen ›gegeneinander ausgedrükt‹. Solche ebenfalls der logischen Reflexionssprache angehörigen Formeln haben indessen im Unterschied zu der (indirekten) mitteilenden Funktion der terminologischen Elemente dieser Reflexionssprache eine darstellende Funktion  – sie stellen die (syntaktischen) Formen der Gebilde direkt dar, die von den Subjekten der Urteilsakte durch den Gebrauch logischer Funktionen gestiftet werden.345 342 Vgl. A 70, B 95-B 96, sowie IV, 303. 343 A 73, B 98 bzw. A73, B 99. 344 Vgl. oben S. 185–186. 345 Die aussagekräftige Unterscheidung zwischen der darstellenden und der mitteilenden Funktion von Sprachformen innerhalb der Reflexionssprache der Logik findet sich bei David Hilbert/Wilhelm Ackermann, Grundzüge der theoretischen Logik (19291), Berlin 1948, Drittes Kapitel, § 4; in späteren Auflagen ist sie zugunsten der durch ­A lfred Tarski prominent gewordenen Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache aufgegeben worden.

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Wenn man dies alles unter den bisher gesammelten Voraussetzungen und ohne die von Reich erprobten begriffslogischen und transzendentallogischen Vorgriffe durchsichtig zu machen sucht, dann ergeben sich von Anfang an spezifische Möglichkeiten der methodischen Entlastung und der argumentativen Vereinfachung. Diese ergeben sich ausschließlich dadurch, daß man drei einander ergänzende Teilkriterien der Zugehörigkeit zum System der Urteilsfunktionen fruchtbar macht – sowohl die »Apperzeption als ein […] Vermögen«346 der »Verknüpfung der Vorstellungen«347 wie auch den ›tiefen‹ »Grund […] der Möglichkeit des Verstandes, sogar in seinem logischen Gebrauche«348 wie auch die spezifisch logische Verknüpfungsfunktion der Einheit der Bedingung und des Bedingten. Kant selbst ist von der Zuversicht getragen, daß es »sich ganz wohl bewerkstelligen lasse«349 zu zeigen, wie die »Funktionen des Verstandes […] insgesamt gefunden werden [können]«.350 Er hegt bekanntlich sogar die Zuversicht, daß sich dies »vor Augen stellen«351 lasse. Damit verwendet er offensichtlich in direkter metaphorischer Sprache ein in dem traditionellen lateinischen Terminus verschlüsseltes Evidenz-Argument. Doch Evidenzen sind nun einmal – wie alle Meinungszentrierten kognitiven Einstellungen und Akte – prinzipiell irrtumsanfällig. Einen zureichenden Schutz vor dieser Irrtumsanfälligkeit bietet ausschließlich eine einzige Methode: Man muß zeigen, daß und wie sich das Evidente, hier also das ›VorAugen-gestellte‹ in eine wohlbegründete Auffassungen überführen läßt. Die Umstände haben es gefügt, daß in der Geschichte der Logik schon einmal in einem klassischen Zusammenhang eine Evidenz-Behauptung eine zentrale Rolle gespielt hat. Denn Aristoteles hat bekanntlich die Schlüsse der Ersten Figur seiner assertorischen Syllogistik nicht nur als vollkommen (τέλειον352) qualifiziert. Er hat auch behauptet, daß diese Vollkommenheit bei diesen Syllogismen dadurch ausgezeichnet sei, daß die Notwendigkeit, mit der die Konklusionen aus den Prämissen dieser Syllogismen folgen, evident sei (τὸ φανῆναι τὸ ἀναγκαἰον353). Von zentraler Wichtigkeit sind beide Thesen deswegen, weil von ihrer Richtigkeit die logische Möglichkeit abhängt, die Syllogismen aller anderen drei Figuren in schlüssiger Form auf den einen oder anderen Syllogismus der ersten Figur zurückzuführen und diese Syllogistik damit als ein quasi-axiomatisches System zu etablieren.354 Den springenden Punkt mit Blick 346 A 117*, Kants Hervorhebung. 347 A 116. 348 B 131. 349 A 69, B 94. 350 Ebd. 351 Ebd. 352 Aristoteles, An. Pr. 24b 22. 353 24b 24. 354 Vgl. hierzu die richtungweisenden Untersuchungen von Günther Patzig, Die Aristotelische Syllogistik. Eine logisch-philologische Untersuchung (11959), 2., verbesserte Auflage, Göttingen 1963.

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auf die Vergleichbarkeit der Evidenzbehauptung Kants und der des Aristoteles ist ein methodologischer. Denn erst mit den Mitteln der modernen Relationen-Logik ist es Patzig zum ersten Mal gelungen zu zeigen, daß und wie die Aristote­lische Evidenzbehauptung in eine wohlbegründete Auffassung überführt werden kann – indem unter Rückgriff auf die formalen Eigenschaften der Transitivitätsrelation gezeigt werden kann, daß es die Transitivitätsrelation zwischen den Termen der Prämissen und der Konklusionen der Syllogismen der ersten Figur ist, was für jeden entsprechend logisch Kundigen evident ist. Zu Recht ist daher in der Auseinandersetzung mit Patzigs Untersuchung und insbesondere mit Blick auf seine Behandlung der vollkommenen Syllogismen betont worden, »daß ein Text gerade dann am besten verstanden und ausgelegt wird, wenn es dem Interpreten nicht nur um diesen Text als solchen, sondern zugleich auch um die dort verhandelte Sache geht«.355 Patzigs Behandlung der Aristotelischen These von der Evidenz der Vollkommenheit der Syllogismen der ersten Figur bietet geradezu ein Musterbeispiel für die Fruchtbarkeit dieser methodischen Doppelorientierung. Mit den methodischen Möglichkeiten einer Begründung von Kants Evidenzbehauptung über die Vollständigkeit der von ihm gesammelten Urteilsfunktionen ist es indessen in beiden Hinsichten anders bestellt. Denn die Menge des Textmaterials, das einer sachlichen Begründung der Aristotelischen EvidenzBehauptung über die Vollkommenheit der Sylllogismen der ersten Figur mit Mitteln der modernen Relationen-Logik zur Verfügung steht, ist in allen wichtigen Punkten ausreichend. Eine entsprechende sachliche Begründung von Kants Evidenz-Behauptung über die Vollständigkeit der von ihm gesammelten Urteils­f unktionen hat es unter den bisher hier in Anspruch genommenen Voraussetzungen mit zwei widerspenstigen Faktoren zu tun: 1.) Das von Kant in der einzigen kohärenten Passage (A 67, B 92 – A 76, B 101) publizierte Textmaterial ist – unbeschadet der vorzüglichen hermeneutischen Leistung Wolffs – im Vergleich mit dem Aristotelischen Textmaterial an der Grenze zum Änigmatischen dürftig; 2.) Kants eigene begriffslogische Charakterisierungen der Eigenschaften der Träger der logischen Rollen, die durch eine kategorische Urteilsfunktion festgelegt sind, sind weder den internen Eigenschaften dieser Urteilsfunktion angemessen (vgl. unten 10.3 Ab.) noch ihrer externen Brauchbarkeit für eine kohärente Charakterisierung der ihr korrespondierenden Kategorie, also für deren Metaphysische Deduktion.356 355 Wolfgang Wieland, Zur Deutung der Aristotelischen Logik. Rezension von Patzig, Syllogistik, in: Philosophische Rundschau Heft 1, 14. Jg. (1966), S. 1–27, hier: S. 1, vgl. auch S. 13–15. 356 Gleichsam eine ihrer wichtigsten Nagelproben macht die These von der begriffslogischen Indifferenz der Urteilsfunktionen im Rahmen von Kants Theorie der reinen Geschmacksurteile durch. Denn sie sind, obwohl sie keine an irgendwelche Begriffe gebundenen Erkenntnisurteile sind, immer noch vom logischen Typ des Urteils, weil mit

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Unter diesen Voraussetzungen stammen die Bewährungsproben für die hier erprobte Rekonstruktion von Kants System der Urteilsfunktionen nicht hauptsächlich aus einer weitgehend philosophisch-hermeneutischen Übereinstimmung mit Kants publizierten Texten, sondern hauptsächlich aus zwei anderen Quellen: 1.) aus der vollständigen Übereinstimmung der konditionalistisch konzipierten Urteilsfunktionen mit den von Kant katalogisierten; und 2.) aus ihrer vorzüglichen Tauglichkeit, die Metaphysische Deduktion der Kategorien in hermeneutischer Übereinstimmung mit Kants relevanten Texten zu gewinnen, überdies wenigstens teilweise in Übereinstimmung mit Texten, die bislang weit über Gebühr vernachlässigt worden sind – und zwar sträflich vernachlässigt in dem Sinne, daß ihre Vernachlässigung die Strafe zur Folge hat, diese Deduktion als ein unlösbares Rätsel erscheinen zu lassen. Nimmt man den von Kant selbst beklagten Mangel ernst, daß »die technische methode«, die »die functiones selber an sich selbst und gegeneinander ausdrük[t]«,357 noch ein unerfülltes Desiderat der Transzendentalphilosophie »von der großten Wichtigkeit« ist, dann kann man leicht sehen, daß und inwiefern Kant diesem Mangel sogar selbst eine der wichtigsten Aufgaben seiner Konzeption der Urteilsfunktionen geopfert hat – eben die Aufgabe, die Urteilsfunktionen ›selber an sich selbst und gegeneinander auszudrücken‹. Denn nirgendwo thematisiert und erörtert Kant diese Urteilsfunktionen ›selber an sich selbst‹ und im formalen Vergleich direkt ›gegeneinander‹. Es wird in der KantForschung – von der singulären Ausnahme von Reichs Untersuchung abgesehen  – regelmäßig übersehen, daß Kant die Urteilsfunktionen ausschließlich ihnen ein  – wenn auch außerordentlicher  – Geltungsanspruch verbunden ist. Sie gehen jedoch »über den Begriff und selbst die Anschauung des Objekts hinaus[…]«, »weil sie […] etwas, das gar nicht einmal Erkenntnis ist, nämlich Gefühl der Lust […] als Prädikat hinzutun«, V 288. Kant würde sich mit seiner Theorie der Urteilsfunktionen nicht nur in eine tiefe Inkohärenz und sogar Inkonsistenz verstricken, sondern sich sogar den analytischen Zugang zur Erfahrung des Naturschönen versperren, wenn diese Theorie ihn darauf festlegen würde, als Prädikate von Urteilen ausschließlich conceptus communes und nicht auch dies eigenartige Gefühl fungieren zu lassen; vgl. hierzu Wieland, Urteil, bes. §§ 10–18. Eine aufschlußreiche Analogie zur Struktur des reinen Geschmacksurteils bildet das ebenso spezielle wie eminente Urteil-des-inneren-Sinns Ich denke bzw. Ich denke, daß-p. Denn Kant stuft dies Urteil bekanntlich als »empirisch«, B 420, 422*, ein, obwohl »das Ich in diesem Satze […] rein intellektuell [ist]« und »zum Denken überhaupt gehört«, B 423*, Kants Hervorhebung. Die Analogie besteht darin: Das reine Geschmacksurteil ist, obwohl es rein ist und auf Gründen a priori beruht, insofern empirisch, als es stets nur bei Gelegenheit der Wahrnehmung einer sinnenfälligen Entität in Zeit und Raum getroffen werden kann, während »ohne irgendeine empirische Vorstellung, die den Stoff zum Denken abgibt, […] der Aktus, Ich denke, doch nicht stattfinden [würde]«, 423*. Bei der fraglichen ›empirischen Vorstellung‹ handelt es sich aber offensichtlich um den in der jeweiligen Situation apprehendierten empirischen Stoff des vom denkenden Subjekt sukzessiv (vgl. oben 8. Ab.) vollzogenen Akts des Urteils, daß-p. 357 R 4937; vgl. oben S. 185–186.

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unter ihren abstrakten traditionellen Namen und in ihrer Konkretion – also in ihrer ›Verwachsung‹ – mit exemplarischen Urteilen erörtert.358 Nichts kann die Nachteile, die diese Behandlungsform der Urteilsfunktionen für seine Theorie nach sich zieht, deutlicher ans Licht bringen, als Kants ausdrücklich notiertes Bewußtsein eines unerfüllten Desiderats einer ›technischen Methode‹ zur Behandlung dieses Themas. Kant hat sich den wichtigsten Aspekt sogar selbst klar gemacht, unter dem er den tiefgehenden Mangel hätte überwinden können, den das bloße ›Vor-Augen-stellen‹ der Urteilsfunktionen unter ihren traditionellen Namen ›in einer Tafel‹ für eine Theorie mit sich bringt, die zum Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe dienen können soll. Denn sobald er auch nur versucht hätte, diese Funktionen ›selber an sich selbst‹ darzustellen – also analog, wie es ›den Erfindern des algorithmus gelungen‹ ist –, hätte er die Fehlerträchtigkeit bemerken können, die das von ihm selbst formulierte Kriterium der geeigneten Kandidaten für die Träger der beiden logischen Rollen im kategorischen Urteil mit sich bringt – ›Begriff, der die Bedingung enthält, unter welcher das Prädikat dieses Urteils gegeben wird‹ (vgl. oben S. 211 f.). Denn dies spezielle begriffslogische Kriterium der Analytizität eines kategorischen Urteils ist nun einmal auf den spezifischen Unterschied zwischen der Analytizität und der Synthetizität eines solchen Urteils zugeschnitten: Synthetische kategorische Urteile sind solche, in denen der Subjektbegriff ›die Bedingung nicht enthält, unter welcher das Prädikat dieses Urteils gegeben wird‹. Doch mit Blick auf die kategorische Urteilsfunktion ›selber an sich selbst‹ kommt es gerade auf ein gegenüber allen begriffslogischen Unterschieden zwischen den Trägern der Rollen im kategorischen Urteil neutrales Kriterium an.359 358 Zu Recht betont daher Wolff, Vollständigkeit, die sachliche Bescheidenheit und Vorläufigkeit gerade der nominellen Aufzählung von Urteilsfunktionen bzw. -formen in einer Tafel, vgl. S. 40 f. 359 Im Licht der hermeneutischen und der analytischen Subtilität ihrer Untersuchungen ist es irritierend, daß Longueness, Capacity, Reich zwar zu Recht dafür kritisiert, daß er die Begriffe vom Typ der conceptus communes als ein für die Urteilsfunktionen schon vorgegebenes Material voraussetzt, vgl. oben S. 199, Anm. 73. Gleichwohl stellt sie selbst die kategorische und die hypothetische Urteilsfunktion in Verbindung mit solchen Begriffen in formaler Präsentation dar, vgl. S. 10353, ohne zu erörtern, auf welchem Weg der Theorie der Urteilsfunktionen solche Begriffe zur Verfügung gestellt werden können. Wolff, Theory, macht zu Recht auf eine »confusion«, S. 60, aufmerksam, die sich daraus ergibt, daß Kant die Rollenträger im kategorischen Urteil als conceptus communes behandelt: Eine Konsequenz sei sein »treating the categories as class concepts in the manner of traditional logic«, und zwar trotz »Kant’s own description of the categories as ›functions of synthesis‹«, ebd. Den Vorwurf dieses Fehlers hat zwar schon Paton, Experience, I, zu relativieren gesucht, indem er argumentiert, daß »[e]very concept is in a sense a generic concept – in the sense, namely, that it applies to a number of individual instances«, S. 307. So sei jeder einzelne Fall des empirischen Gebrauchs z. B. der Kausalkategorie »a particular instance of cause and effect«, S. 307. Er zielt offenbar auf einen Vergleich wie den, daß auch jedes Exemplar einer Rose eine particular instance einer

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Wie stark Kant an spezifischen begriffslogischen Eigenschaften orientiert ist, zeigt sich gerade dann am deutlichsten, wenn er bei der anscheinend einzigen Gelegenheit einmal eine Anleihe bei der ›technischen Methode‹ macht – und dies sogar bei der der Algebra: »Alles x, welchem der Begrif des Korpers (a+b) zukommt, dem kommt auch die Ausdehnung (b) zu«.360 Dies ist geradezu ein Paradigma dafür, daß Kant sogar mit Anleihen bei dieser Methode über die Behandlung der Analytizität von Urteilen nicht hinauskommt. Er bleibt auch hier in der Orientierung an dem begriffs-logischen Kriterium für ein (universelles) kategorisches analytisches Urteil befangen  – ›ein Begriff (a+b), der die Bedingung (b) enthält, unter welcher das Prädikat (b) eines solchen Urteils gegeben wird‹.361 Der Umstand, daß Kant die Urteilsfunktionen darüber hinaus auch ausschließlich im Medium konkreter exemplarischer Urteile erörtert, ist daher das stärkste Indiz dafür, daß er sich nicht nur in methodischer, sondern sogar in konzeptioneller Hinsicht in einer Verlegenheit findet – nicht in formaler Strenge bestimmen zu können, wie die Urteilsfunktionen ›selbst an sich selber und gegeneinander‹ sowohl in homogener wie in vollständiger Form charakterisiert werden können und müssen, wenn sie für eine Metaphysische Deduktion der Kategorien tauglich sind. Gesucht ist im Rahmen der Konzeption der Urteilsfunktionen und ins­ besondere der kategorischen Urteilsfunktion daher gerade ein Kriterium, das drei Anforderungen berücksichtigt: 1.) Die Urteilsfunktionen müssen speziell für das kategorische Urteil als kategorisches und ganz unabhängig von den forRose ist. Doch das ist eine irreführende Analogie. Zwar ist die diese Analogie stiftende Gemeinsamkeit darauf zurückzuführen, daß die Identifizierung solcher particular instances eine Angelegenheit der bestimmenden Urteilskraft ganz unabhängig davon ist, ob es sich bei dem jeweils benutzten Begriff um einen conceptus communis oder um eine Kategorie handelt. Ausschlaggebend im Rahmen der Metaphysischen Deduktion der Kategorien – und nur um sie geht es bei Paton in diesem Abschnitt – ist jedoch, daß die Kategorien zum Typus der Funktionalbegriffe gehören, weil für sie als Begriffe »dieselbe Funktion«, A 79, B 104, charakteristisch ist, »welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt«, ebd. In welchem Sinne man auch conceptus communes als spezielle Funktionen  – nämlich als spezielle Wahrheitswertfunktionen  – auffassen kann, hat zwar Frege in überzeugender Form gezeigt. Doch davon bleiben Kants Konzeptionen sowohl der conceptus communes wie der Kategorien gänzlich unberührt. Richtig bleibt lediglich, daß Kant noch nicht über einen eigenen terminologischen Namen für den Begriffs-Typus des Funktionalbegriffs verfügt, um den es sich bei den Kategorien handelt. Doch dieser terminologische Mangel wird mehr als wettgemacht durch seine Einsicht in die Synthesis-Funktion der Kategorien und in deren Konformität mit den Urteils-Funktionen; vgl. hierzu unten 11. Ab. 360 R 3127; zur graphischen Darstellung der Form des analytischen kategorischen Urteils vgl. R 3036, 3063, 3096, 3216, zu der des synthetischen kategorischen Urteils im Kontrast zu der des analytischen kategorischen Urteils vgl. R 3216. 361 Eine ähnliche, quasi-logische symbolische Hilfsmittel nutzende Version erprobt Kant, wenn er formuliert: »x, was unter b enthalten ist, ist auch unter a«, R 3096, S. 658.

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malen, speziell begriffs-logischen Eigenschaften der in ihm verwendeten Rollenträger (Vorstellungen) charakteristisch sein; 2.) sie müssen geeignet sein, alle in Frage kommenden Urteilsfunktionen so zu einer homogenen und vollständigen Gruppe zusammenfassen zu lassen, daß diese wiederum 2.1) geeignet sind, auch die (kategorialen) Formen der Bezugnahme auf Gegenstände vollständig ›deduzieren‹ zu lassen, wie sie mit Hilfe dieser Urteilsfunktionen ausgeübt werden können. Doch damit verändert sich in radikaler Form auch das Problem, das mit Kants Anspruch auf Vollständigkeit der von ihm berücksichtigten Urteilsfunktionen verbunden ist. Denn da die konditionale Urteilsfunktion unter diesen Urteilsfunktionen die einzige ist, die in genuiner Form eine durch Verbindung gestiftete Einheit von Vorstellungen in Aussicht stellt, hängt die beanspruchte Vollständigkeit von zwei Schrittfolgen beim ›Herauslesen und Sammeln‹ (Krüger) aller von Kant berücksichtigten Urteilsfunktionen ab: In der ersten Schrittfolge muß gezeigt werden können, daß und inwiefern es sich sowohl bei der kategorischen wie bei der hypothetischen und bei der disjunktiven Urteilsfunktion um eine konditionale Urteilsfunktion handelt; in der zweiten Schrittfolge muß gezeigt werden können, 1.) daß und inwiefern alle anderen Urteilsfunktionen Momente dieser drei konditionalen Urteilsfunktionen sind und 2.) daß und inwiefern die jeweils drei Urteilsfunktionen in den drei Gruppen der logischen Qualitäten, Quantitäten bzw. Modalitäten die Urteilsfunktionen erschöpfen, die innerhalb dieser drei Gruppen aus formalen Gründen unterschieden werden können. Alles dies kann gelingen, wie hier gezeigt werden soll, wenn man den in der Kant-Forschung zuerst von Reich ins Auge gefaßten konditionalistischen Leitaspekt so strikt wie möglich fruchtbar macht.362

362 Obwohl Longueness, Capacity, 10153, die Fruchtbarkeit dieser konditionalistischen Konzeption hervorhebt, vgl. oben S.  206, Anm.  300, unternimmt sie keinen Versuch, die von Kant aufgelisteten Urteilsfunktionen ›selber an sich selbst‹ als konditionale Funktionen bzw. als charakteristische Momente solcher konditionalen Urteilsfunktionen zu rekonstruieren. Stattdessen scheint sie Kant zwei heuristische Motive für die Auszeichnung vor allem der kategorischen, der hypothetischen und der disjunktiven Urteilsfunktion zu unterstellen: zum einen seine Orientierung an deren Rolle in der überlieferten Schlußlehre, vgl. Longueness, Standpoint, S. 97–100, zum anderen seine ihm von ihr unterstellten eigenen werkstattgeschichtlichen, »painstaking reflections«, so daß »the search for a systematic list of the categories and a justification of their relation to objects determined the establishment of the table of logical forms of judgement just as much as the latter served as a leading thread for the former«, S. 100, Hervorhebung R. E. Das as much as gibt indessen mehr methodologische Rätsel auf, als daß es irgendeines lösen könnte.

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Dimensionen des Urteilsakts

10.3 Das System der Urteilsfunktionen Charakterisiert man die Form des kategorischen Urteils unter den bisher gesammelten Voraussetzungen in der logischen Mitteilungssprache, dann wird die kategorische Urteilsfunktion im Licht dieser konditionalistischen Konzeption darauf festgelegt, daß sie die konditionale Form des Akts ist, durch den das urteilende Subjekt eine (formallogisch nicht weiter zerlegbare) Vorstellung v1x als (notwendige)  Bedingung des Gebrauchs einer anderen (formallogisch nicht weiter zerlegbaren) Vorstellung v2x gebrauchen kann, also v2x als durch den Gebrauch von v1x bedingt gebrauchen kann.363 Verwendet man in der logischen Darstellungssprache, die die Funktionen ›selber an sich selbst und gegeneinander ausdrükt‹ – also im Rückgriff auf eine ›technische Methode‹ – für die Symbolisierung dieses kategorischen Gebrauchscharakters der konditionalen einheitstiftenden Funktion des Urteils den Regel-Pfeil ⇒, dann kann die kategorische Urteilsfunktion so dargestellt werden: (1.1) v1x ⇒ v2x.364 363 Um eine bloß notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung muß es sich handeln, weil durch den hinreichenden Charakter schon die syntaktische Grundform des konditional-kategorischen Urteils festlegen würde, daß es sich bei konkreten Urteilen dieser Form mit konkreten Begriffen ausschließlich um analytische Urteile handeln könnte. Auf diese Konsequenz hat indirekt Georg Henrik von Wright, On the Logic and Epistemology of the Causal Relation, in: Ernest Sosa (Hg.), Causation and Conditionals, Oxford 1975, S. 95–113, durch eine elementare, aber aufschlußreiche und äußerst nützliche formale Überlegung aufmerksam gemacht. Sie betrifft die formale Eigenschaft der Beziehung, in der eine hinreichende Bedingung zu dem durch sie Bedingten steht: »That p is a sufficient condition of q would then mean something like this: it is necessary that q obtains, if p obtains«, S.  96. Doch ein konditional-kategorisches Urteil, in dem ein ›Subjekt‹-conceptus communis A die Rolle einer hinreichenden Bedingung für den Gebrauch des ›Prädikat‹-conceptus communis B spielt, macht diesen Gebrauch durch diesen hinreichenden Charakter notwendig, so daß ein solches Urteil alleine schon deswegen kein anderes als ein analytisches Urteil sein könnte. Wenn A jedoch die Rolle einer lediglich notwendigen Bedingung spielt, hängt es offensichtlich – und zwar ganz sachgemäß  – von zusätzlichen, charakteristischen Eigenschaften von A und B und deren Interrelationen ab, ob das Urteil analytisch ist oder nicht-analytisch, also synthetisch; vgl. hierzu auch unten S. 225, Anm. 367, 242, Anm. 410. 364 Einer Asymmetrie der kategorischen Urteilsfunktion, wie sie sich in der konditionalen Form zeigt, scheint auch schon Aristoteles, wenngleich unter anderen Aspekten, auf der Spur gewesen zu sein, wenn er im Rahmen seiner Syllogistik die in dieser relationenlogischen Hinsicht ganz indifferente Kopula mitsamt dem ganzen kategorischen Urteil der Grundform A ist B durch dessen Umkehrung und vor allem durch das asymmetrische … kommt … zu ersetzt, so daß er B kommt A zu erhält; vgl. Aristoteles, An. Pr. A 4, 26b 3, 26 a 25 ff. Zur Wiederentdeckung der logischen Tragweite dieser Operation vgl. Patzig, Syllogistik, S. 19–23.

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Auch die in diesem Abschnitt eingeführten Formeln bzw. Halb-Formeln (1.1)(4.3.3) bilden  – ebenso wie die proto-logischen Formeln bzw. Halb-Formeln (vgl. oben S. 187–190) – nicht etwa Teile eines wohlgeordneten Kalküls. Sie dienen ebenfalls ausschließlich im Sinne von Kants thematischen Reflexionen (vgl. R 4937, 4911) der ›Läuterung‹, also Reinigung der wortsprachlichen Charakterisierungen von allen Elementen, die den Blick auf die logischen ›Funktionen selber an sich selbst und gegeneinander‹ ablenken können, und sollen so dem ›Versehen‹ und ›Übersehen‹ vorbeugen. Ob sie darüber hinaus auch Prototypen von Elementen eines solchen Kalküls abgeben können, darf in diesem Rahmen offen bleiben. Indessen macht Kant an einer Nahtstelle zum transzendentalen Hauptstück seiner Untersuchungen mit Bedacht auf eine besondere formale Eigenschaft der kategorischen Urteilsfunktion aufmerksam: »Allein in Ansehung des bloß logischen Gebrauchs des Verstandes blieb es unbestimmt, welchem365 von beiden Begriffen die Funktion des Subjekts, und welchem die des Prädikats man geben wolle«.366 Bei der Eigenschaft, die Kant damit im Auge hat, handelt es sich allerdings trotz einer vielleicht naheliegenden Vermutung nicht um eine (syntaktische) Kommutativität der kategorischen Urteilsfunktion ›selber an sich selbst‹. Denn die Konditionalität ist offensichtlich ein asymmetrischer Charakter dieser Funktion. Deswegen konzipiert Kant die Verteilung der Rollen der Träger dieser Urteilsfunktion nur allzu offensichtlich im Licht des Gedankens, daß es jedenfalls nicht die Eigenschaften dieser Funktion ›selber an sich selbst‹ sind, die auch nur im mindesten irgendein Licht auf die Eigenschaften werfen könnten, durch die mögliche Träger v1x und v2x dieser Rollen für eine bestimmte Rollenträgerschaft tauglich sind. Die Rollen-Kommutativität dieser Träger entspricht in Kants Theorie der disziplinären Unzuständigkeit der Formalen Logik für die Klärung der spezifischen Kriterien, die Aufschluß über die spezifischen Gründe zugunsten einer definitiven Rollen-Bestimmtheit, also Rollen-nicht-Kommutativität dieser Träger bieten können. Die rein formal-logische Kommutativität der Rollenverteilung im kategorischen Urteil kann daher in Ergänzung von (1.1) nur mit Hilfe von (1.1.1) v2x ⇒ v1x in gänzlicher formaler Angemessenheit dargestellt werden.367 365 Ich schließe mich der Konjektur von Grillo an. 366 B 128–129, Hervorhebungen R. E.; vgl. auch R 5931. 367 Die ›kategorische‹ Gebrauchsbedingung des ›Subjekts‹ v1x in (1.1) bzw. des Subjekts v2 x in (1.1.2) muß aus den oben S. 224, Anm. 363 erläuterten Gründen eine bloß notwendige Bedingung sein. Wäre sie ein hinreichende Bedingung, dann wäre jedes konkrete Urteil dieser Form wegen der in diesen beiden konditionalen Rollen fungierenden Begriffen darauf festgelegt, ein analytisches Urteil zu sein. Doch dieser analytische Charakter wird genauso erst durch die in den Begriffs-Umfängen und -Inhalten der konkreten gebrauchten Begriffe liegenden Gründe festgelegt wie sein synthetischer Charakter durch die außerhalb dieser Begriffe liegenden Gründe festgelegt wird; zur Rolle dieser Gründe vgl. unten 11. Ab.

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Dimensionen des Urteilsakts

Daß es innerhalb von Kants Theorie der Urteilsfunktionen wegen dieser Form der Rollen-Kommutativität unter rein logischen Aspekten andererseits gänzlich »unbestimmt« bleibt, aus welchen Gründen die logischen Rollen im kategorischen Urteil in bestimmter Form auf die Träger dieser Rollen verteilt werden können, ist ein Gedanke, der mit Blick auf die Verflechtung des Systems der Urteilsfunktionen mit der Metaphysischen Deduktion der Kategorien von zentraler Wichtigkeit ist. Denn es ist dieser Gedanke, an den die Metaphysische Deduktion der Kategorien unmittelbar mit dem Ziel anknüpft, nach möglichen apriori-Gründen zu suchen, aus denen sich eine bestimmte Verteilung der Träger der logischen Rollen rechtfertigen läßt, die die kategorische Urteilsfunktion charakterisieren. Denn unter Aspekten der Formalen Logik allein »[weiß] ich gar keine Bedingungen […], unter denen dieser logische Vorzug [daß ich mir Etwas vorstelle, welches bloß als Subjekt (ohne von etwas ein Prädikat zu sein) stattfinden kann368] irgendeinem Dinge eigen sein werde«.369 Diese apriori-Gründe tauft Kant auf den terminologischen Namen der Kategorien: Sie sind die Begriffe der Gründe, aus denen der ›logische Vorzug‹ »in Ansehung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird«370 (vgl. hierzu unten 11. Ab.). Mit Blick auf eine kohärente Aufnahme der hypothetischen Urteilsfunktion in das Gefüge der Urteilsfunktionen, an deren Spitze die kategorische Urteilsfunktion rangiert, spielt nun in der Tat, wie Krüger es treffend zu bedenken gegeben hat, die Orientierung an der Einheit der reinen und ursprünglichen Apperzeption zwar die vorbereitende Schlüsselrolle eines Auswahlkriteriums. Doch erst in Verbindung mit der kriteriellen Rolle des konditionalistischen Leitaspekts kann wenigstens der Schritt gelingen, durch den die elementarste konditionale Urteilsfunktion unter den traditionellen und nominellen Urteilsfunktionen ›herausgelesen‹ (Krüger) werden kann  – die konditional-kategorische. Dennoch haben beide Auswahlkriterien auch gemeinsam noch längst nicht alle Bewährungsproben bestanden, die Kants ›vor Augen gestelltes‹ Gefüge der Urteilsfunktionen ihnen abverlangt. Denn sie müssen sich zunächst einmal als tauglich erweisen, unter den nominellen Urteilsfunktionen der traditionellen Logik auch andere als nur die kategorische so ›herauszulesen‹, daß sie eine konditionale Tiefenform zeigen. Wenn dies mit Hilfe dieser beiden Kriterien nicht gelänge, dann »hätten wir nur kategorische Urteile«371 als konditional 368 A 242, B 300 – A 243, B 301. 369 A 343, B 301, Hervorhebung R. E. 370 B 128, Kants Hervorhebungen; vgl. auch R 4638: »Die bestimmte logische Funktion ist der reine Verstandesbegriff«, Kants Hervorhebung, vgl. zu dieser generellen Charakterisierung der Kategorien vor allem unten S. 256–272. 371 Reich, Vollständigkeit, S. 48. Ich verkenne nicht, daß Reich die Orientierung an der Einheit der reinen und ursprünglichen Apperzeption nicht für ausreichend hält, vgl. ebd. Das ist unter der von ihm zugrunde gelegten Orientierung an der »durchgängige[n]

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geprägte erwiesen. Indessen hat Kant zu bedenken gegeben, daß »die mannigfaltigen Vorstellungen, […] insgesamt372 meine Vorstellungen sein«373 können müssen, und zwar durch »eine Synthesis der Vorstellungen«,374 indem »ich eine zu der anderen hinzusetze und und mir der Synthesis derselben bewußt bin«,375 indem »ich […] sie in einem Selbstbewußtsein [vereinige]«,376 also in einem Bewußtsein, selbst bzw. spontan ihre Vereinigung zu ›verrichte‹. Denn diese Ver­ einigung »[kann] nur vom Subjekt selbst verrichtet werden«.377 Es ist daher auch nur diese Orientierung, die den Blick für die Suche auch nach einer Urteilsfunktion öffnen kann, die im Sinne dieses Kriteriums geeignet ist, zu einer Einheit in der ›zerstreuten‹ Vielheit der (konditional-)kategorischen Urteile beizutragen. Denn diese vielen Urteile blieben andernfalls einander ›ganz fremd, gleichsam isoliert und voneinander getrennt‹. Man hat es an diesem Punkt der Ausarbeitung des Gefüges der Urteilsfunktionen daher mit einer methodischen Situation zu tun, die Kant in die von ihm formulierten Untersuchungsintentionen zwar nicht direkt eingeschlossen hat. Gleichwohl bildet diese methodische Situation einen atypischen, aber aufschlußreichen Sonderfall innerhalb der para-anthropologischen Struktur, die Kant charakterisiert, wenn er davon spricht, daß »das empirische Bewußtsein … […] an sich zerstreut [ist]«.378 Denn der springende Punkt dieser Bemerkung liegt in dem An-sich dieser Zerstreuung. Kant gibt damit zu verstehen, daß er das empirische Bewußtsein hier mit Blick auf den irrealen bzw. kontrafaktischen, eben para-anthropologischen Fall charakterisiert, daß es nicht durchgängig unter der Obhut der reinen und ursprünglichen Apperzeption stünde, die »den Grund der Einheit verschiedener Begriffe in Urteilen, mit hin die Möglichkeit des Verstandes, sogar in seinem logischen Gebrauch, enthält«.379 Die Suche nach einer zweiten, von der kategorischen Urteilsfunktion verschiedenen Urteilsfunktion zielt daher darauf, eine Urteilsfunktion zu finden, die geeignet ist, die Form der Zerstreutheit in viele einander ›ganz fremde, gleichsam isolierte und voneinander getrennte‹ kategorische Urteile zugunsten einer objektive[n] Einheit der Apperzeption im Bewußtsein meiner Vorstellungen«, ebd., Reichs Hervorhebungen, zwar konsequent. Da dies ein innerhalb der Formalen Logik nicht nur unnötiger, sondern, wie besonders die Aufnahme durch L. W. Beck zeigt, vgl. S. 196, Anm. 270, auch irreführender transzendentaler Vorgriff ist, reicht unter den möglichen Einheits-Orientierungen die an der reinen und ursprünglichen Einheit der Apperzeption aus. 372 Hervorhebung R. E. 373 B 132, Kants Hervorhebung. 374 B 133. 375 Ebd., Kants Hervorhebung. 376 B 134. 377 B 130, Hervorhebung R. E. 378 B 133. 379 B 131.

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Dimensionen des Urteilsakts

neuen, nicht-kategorischen Form ihrer logischen Einheit zu überwinden. Ohne über eine solche Urteilsfunktion zu verfügen, wäre das empirische Bewußtsein eines (menschlichen) Subjekts durch den Gebrauch der kategorischen Urteilsfunktion zwar schon partiell, aber eben auch noch nicht ›durchgängig‹ logisch strukturiert. Man kann dieselbe methodische Situation aber auch mit Hilfe der beiden Paare von Reflexionsbegriffen Materie-Form und ÄußeresInneres charakterisieren.380 Denn die Suche nach der neuen Urteilsfunktion zielt darauf, für die andernfalls in ihrer äußeren Zerstreuung zueinander verbleibenden kategorischen Urteile mit Hilfe der gesuchten Urteilsfunktion so in die Materien einer neuen Urteilsfunktion zu transformieren, daß sie in einer neuen Form in einem inneren, logischen Verhältnis miteinander verbunden werden können. Damit wird noch einmal in zugespitzter Weise deutlich, wie gut die metho­ dische Einstellung getroffen ist, die Kant in seinen logischen Untersuchungen übt, wenn Krüger von dem Sammeln spricht, dem Kant mit Blick auf die im vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Alltag gebrauchten und von der traditionellen Logik thematisierten Urteilsfunktionen nachgeht. Gleichzeitig bewährt sich Krügers Gedanke, daß zu diesem Sammeln Kriterien, speziell Auswahlkriterien für die Urteilsfunktionen gehören, die ein homogenes und kohärentes System solcher Funktionen bilden können. Bei dem einen von diesen Kriterien handelt es sich um die Orientierung an der Einheit der reinen und ursprünglichen Apperzeption. Denn nur sie ist es, die auch noch mit Blick auf die vielen im empirischen Bewußtsein zerstreuten kategorischen Urteilen über eine Einheit in einer neuen noch zu findenden Form von Urteilen orientieren kann. Bei dem anderen für diese Suche nötigen Kriterium handelt es sich wiederum um das erstmals von Reich erprobte Kriterium, das unter den in Frage kommenden Urteilsfunktionen diejenigen auszuwählen erlaubt, mit deren Hilfe sich der Gebrauch der Elemente eines Urteils auf den Gebrauch in den logischen Rollen von Bedingung und Bedingtem zurückführen läßt. Unter den im vorwissenschaftlichen und im wissenschaftlichen Alltag vorgeprägten und von der traditionellen Logik thematisierten Urteilsfunktionen bietet das wenn …, dann … der hypothetischen Urteile den stärksten Anhalt dafür, daß es eine Urteilsfunktion zur Sprache bringt, die sich nicht nur strikt konditionalistisch charakterisieren läßt. Darüber hinaus zeigt der funktionale Charakter dieses logischen Verknüpfungsvokabular ebenso, daß es nur gleichsam darauf wartet, daß das urteilende 380 Auf die Möglichkeit, diese Begriffe zu Hilfe zu nehmen, und zwar insbesondere mit Blick auf den Beweis der Vollständigkeit der Urteilstafel, hat zuerst Reich, Vollständigkeit, aufmerksam gemacht, vgl. S. 88–91. Longueness, Capacity, macht die Reflexionsbegriffe zum ersten Mal seit Reichs Untersuchungen wieder systematisch fruchtbar, hat dabei allerdings nicht die internen Charaktere der Urteilsfunktionen um ihrer selbst willen im Blick, sondern »the operations of comparison/reflection/abstraction whereby empirical concepts are generated«, S. 128.

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Subjekt mit seiner Hilfe kategorische Urteile (mit deren konditionaler Form) als logisch ebenbürtige Elemente verknüpfet. Die Form des hypothetischen Urteils wird unter diesen Voraussetzungen durch die hypothetische Urteilsfunktion darauf festgelegt, daß sie die konditionale Form des Akts ist, durch den das urteilende Subjekt den (›kategorischkonditionalen‹) Gebrauch einer Vorstellung v1x als Bedingung des Gebrauchs einer anderen Vorstellung v2x ihrerseits als Bedingung des (›kategorischen‹) Gebrauchs einer Vorstellung v3x als Bedingung des Gebrauchs einer anderen Vorstellung v4 x gebrauchen kann. In der Darstellungssprache hat das die Form: (1.2) (v1x ⇒ v2x) ⇒ (v3x ⇒ v4 x). Was Kant unter Aspekten der Formalen Logik speziell mit Blick auf die kategorische Urteilsfunktion zu bedenken gegeben hat, hat er – und zwar bei Gelegenheit seiner Auseinandersetzung mit der Aufgabe einer Metaphysischen Deduktion der Kategorien – sogar verallgemeinert: »[wir] können […] nach Belieben logische functionen brauchen«.381 Es liegt auf der Hand, daß diese logische Beliebigkeit speziell mit Blick auf die hypothetische Urteilsfunktion ebenso wie im Fall der kategorischen Urteilsfunktion die Rollen-Kommutativität bedeutet: Das urteilende Subjekt kann für die Träger der logischen Rollen im hypo­ thetischen Urteil diese Rollen nach Belieben vertauschen, ohne die hypothe­ tische Form des Urteils zu stören: (1.2.1) (v3x ⇒ v4 x) ⇒( v1x ⇒ v2x).382

381 R 4672. Auch Kitcher, Thinker, berücksichtigt diese wichtige Reflexion, vgl. S.  2214, sucht sie jedoch nicht für das sachliche Verständnis der Urteilsfunktionen fruchtbar zu machen; vgl. zur Rolle dieser Reflexion für das sachliche Verständnis der Meta­ physischen Deduktion der Kategorien unten S. 256–272. 382 Es liegt auf der Hand, daß die schon hervorgehobenen Rollen-Kommutativität der kategorischen Urteilsfunktion alleine schon aus kombinatorischen Gründen erlaubt, die Darstellung der hypothetische Urteilsfunktionen mit Hilfe der Kommutativität der an ihren Teilen beteiligten zwei kategorischen Rollenpaaren entsprechend zu vervielfältigen. Kombiniert man außerdem diese kombinatorisch möglichen Varianten wiederum mit den Varianten, die sich in Verbindung mit den beiden formal möglichen Varianten der hypothetischen Urteilsform ergeben, dann ergibt sich eine noch zahlreichere Vervielfältigung. Der aus der modernen Junktoren-Logik vielleicht naheliegende Gedanke, gerade im Rahmen einer konditionalistischen Konzeption auch ein Bi-Konditional zu berücksichtigen, läuft offensichtlich ins Leere. Denn ein solches Bi-Konditional wäre unter den rein syntaktischen Aspekten der Konditionalität nichts anderes als eine bi-konditional modifizierte Darstellung der Rollen-Kommutativität im hypothetischen Urteil. Das Bi-Konditional der Junktoren-Logik beruht überdies in seiner Eigenart ganz auf seiner wahrheitswert-semantischen Konzeption, die im Kantischen System der Urteilsfunktionen nicht den geringsten Anhalt hat.

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Dimensionen des Urteilsakts

Der Blick der Formalen Logik auf das durch die kategorische Urteilsfunktion logisch nur partiell strukturierte empirische Bewußtsein hat sich als maß­ geblich für die Frage erwiesen, ob ein solches nicht ›durchgängig‹ logisch strukturiertes, also partiell zerstreutes empirisches Bewußtsein durch eine neue, aber mit der kategorischen Urteilsfunktion homogene und kohärente Urteilsfunktion in einem höheren Grad strukturiert werden kann. Die analoge methodische Situation stellt sich offensichtlich ebenso im Rückblick auf die im Licht dieser Frage gewonnene hypothetische Urteilsfunktion. Denn in diesem Licht zeigt sich, daß auch die hypothetischen Urteile einander genauso ›ganz fremd, gleichsam isoliert und voneinander getrennt‹ wären wie ohne ihren Gebrauch die kategorischen Urteile, wenn nicht auch sie mit Hilfe einer wiederum komplexeren Urteilsfunktion so verknüpft werden könnten, daß das empirische Bewußtsein seiner durchgängigen logischen Strukturierung auf einer entsprechend höheren Komplexitätsstufe näher gebracht werden könnte. Der wichtigste Schritt zur Überwindung dieser neuen, wenngleich schon zweimal reduzierten Form von ›Zerstreutheit‹ des empirischen Bewußtseins gelingt wiederum durch einen gezielten Blick auf die formalen Eigenschaften sowohl der kategorischen wie auch der hypothetischen Urteilsfunktion. Allerdings sind es nicht die formalen Eigenschaften dieser Funktionen ›selber an sich selbst‹. Ausschlaggebend für das Gelingen dieses Schritts ist vielmehr die formale Eigenschaft der Rollenkommutativität der Elemente, die mit Hilfe dieser Funktionen in Urteilen gebraucht werden können. Die Bedeutsamkeit, die diese Rollenkommutativität für diesen Schritt mit sich bringt, zeigt sich wiederum im Licht der von Kant eingeführten Reflexionsbegriffe. Denn zwei kategorische bzw. hypothetische Urteile, die sich nur durch die vertauschten Träger ihrer konditionalen Rollen unterscheiden (vgl. (1.1) und (1.1.1) bzw. (1.2) und (1.2.1)), stehen in einem äußeren Verhältnis zueinander und warten gleichsam darauf, daß sie die Materien abgeben können, die mit Hilfe einer neuen, komplexeren konditionalen Funktion so in eine Form transformiert werden können, daß sie in einem inneren, formal-logischen Verhältnis zueinander stehen. Einer solchen Transformation kommt der Rückblick auf das logische Vorverständnis des prae-logischen Gebrauchs von Urteilsfunktionen zu Hilfe, unter denen sich eine ganz bestimmte ›herauslesen‹ (Krüger) läßt, die an diesem Schritt beteiligt werden kann. Dieser Schritt gelingt, wenn man berücksichtigt, daß 1.) das urteilende Subjekt entweder, wenn es v1x im kategorischen Urteil als Bedingung des Gebrauchs von v2x gebraucht, es dann v2x nicht als Bedingung des Gebrauchs von v1x gebraucht (vgl. (1.1), oben S. 224), oder, wenn es v2x als Bedingung des Gebrauchs von v1x gebraucht, es dann v1x nicht als Bedingung des Gebrauchs von v2x gebraucht (vgl. (1.1.1), oben S. 225), und daß 2.) das urteilende Subjekt entweder, wenn es (v1x ⇒ v2x) im hypothetischen Urteil als Bedingung des Gebrauchs von (v3x ⇒ v4 x) gebraucht, es dann (v3x ⇒ v4 x) nicht als Bedingung des Gebrauchs von (v1x ⇒ v2x) gebraucht (vgl. (1.2), oben S. 229), oder,

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wenn es (v3x ⇒ v4 x) als Bedingung des Gebrauchs von (v1x ⇒ v2x) gebraucht, es dann (v1x ⇒ v2x) nicht als Bedingung des Gebrauchs von (v3x ⇒ v4 x) gebraucht (vgl. (1.2.1), oben S. 229). Bei dem, was hier teilweise in der prae-logischen Gebrauchssprache und teilweise in der Mitteilungssprache bzw. in der Darstellungssprache der Reflexionssprache der Logik formuliert ist, handelt es sich offensichtlich um die Charakterisierung von zugleich drei in Kants Urteilstafel berücksichtigten Urteilsfunktionen bzw. -momenten: um die durch das entweder …, oder … ausgedrückte Disjunktion, um das durch das nicht … ausgedrückte negative Moment von Urteilsformen und um das durch den sprachlichen Kontrast zum nicht … zwar nicht ausgedrückte, aber durch indirekte Mitteilung angedeutete positive Moment von Urteilen. Ebenso zeigt sich, daß die disjunktive Urteilsfunktion nicht ›selber an sich selbst‹ konditional geprägt ist. Sie ist vielmehr an eine konditionale Komponente gebunden, durch die das urteilende Subjekt zwei rollenkommutativ verschiedene Urteile der kategorisch-konditionalen Form zu Materien einer neuen konditionalen Verknüpfungsform umprägen kann: (1.3) Entweder [(v1x v2x)].383

v2x)

nicht(v2x

v1x)] oder [(v2x

v1x)

nicht(v1x

Da das negative Moment die konditionale Form direkt modifiziert, sollte es aus der logischen Mitteilungssprache auch in die logische Darstellungssprache überführt werden, so daß (1.3) mit Hilfe des Negationssymbols ~ die entsprechend modifizierte Form (1.3.1) Entweder [(v1x

v2x)

~(v2x

v1x)] oder [(v2x

v1x)

~(v1x

v2x))]

annimmt. Eine analoge konditionale Umprägung erfahren die rollen-kommutativen Urteile der hypothetischen Form, weil das urteilende Subjekt auch sie mit Hilfe der konditionalen Komponente der disjunktiven Urteilsfunktion in Materien einer neuen konditionalen Form umprägen kann. Führt man das Negationssymbol der logischen Darstellungssprache sofort ein, erhält man den Ausdruck

383 Ganz unbeschadet der Vorbehalte gegen Reichs transzendental-logische Vorgriffe, trifft seine in der 2. Auflage ergänzte Fußnote, wenn man sie entsprechend modifiziert, auch unter diesen Voraussetzungen den ›Sinn der Disjunktion‹, daß, ›ohne daß eine bestimmte der beiden Urteilsformen … gebraucht wird, eine von ihnen … brauchbar ist und die jeweils andere nicht‹, vgl. S. 5127a; zu den mit der Disjunktion verbundenen Modalitäten vgl. unten S. 249 f.

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Dimensionen des Urteilsakts

(1.3.2) Entweder{[(v1x v2x) (v3x v4 x)] ~[(v3x oder{[v3x v4 x) (v1x v2x)] ~[(v1x v2x)

v4 x) (v3x

(v1x v2x)]} v4 x)]}.384

Gleichzeitig zeigt sich in beiden Fällen, daß die Disjunktion insofern zu einer komplexeren konditionalen Urteilsform führt, als ihr Gebrauch mit negativ modifizierten konditionalen Verknüpfungen verbunden ist. Damit zeigt sich, daß die Form des disjunktiven Urteils durch die disjunktive Urteilsfunktion ausdrücklich in einer minimal anderen Weise festgelegt werden muß als die beiden anderen Formen. Hier kommt die schon berücksichtigte Wichtigkeit der Methodik zum Tragen, für eine sorgfältige Unterscheidung zwischen den logischen Formen des Gebrauchs von Vorstellungen und der Reflexion auf die Formen dieses Gebrauchs Sorge zu tragen. Kant hat die damit verbundene methodische Sorgfalt – vermutlich unter dem immensen Druck der Arbeitsökonomie seines hyperkomplexen ›critischen‹ Werks und seiner Lehr­ tätigkeit  – in nicht wenigen wichtigen Fällen nicht selbst aufzubringen vermocht. Umso bedeutsamer ist es, daß er mit Blick auf den Fall, daß »es […] auf die logische Reflexion ankommt«385 in Gestalt der vier Paare von Reflexions­ begriffen386 die genuinen Mittel bereitgestellt hat, mit deren Hilfe man diese re384 Julius Ebbinghaus, Kant und das 20. Jahrhundert, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, Darmstadt 1968, hat die Auffassung entwickelt, daß in »der ersten und dritten [Analogie] […] ein Fehler stecken muß«, S. 108. Da die dritte Analogie – also die der Wechselwirkung – ebenso wie die Kategorie und das Schema der Wechselwirkung der disjunktiven Urteilsfunktion korrespondieren, sei im unmittelbaren Zusammenhang mit der konditionalistischen Rekonstruktion dieser Urteilsfunktion schon einmal im Vorgriff ein Aspekt benannt, unter dem sich ein Selbstmißverständnis Kants abzeichnet, wenn er in allen drei Fällen von Wechselwirkung spricht. Dieser Aspekt fällt ins Auge, wenn man beachtet, daß die konditional verknüpften positiven und negativen Urteilsformen, die in (1.3.1) bzw. (1.3.2) ihrerseits durch das Entweder … oder … verknüpft sind, offensichtlich in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen: Gemeinsam erschöpfen sie jeweils – und zwar durch wechselseitige Exklusion – alle formal möglichen Fälle von elementaren kategorischen bzw. hypothetischen Urteilen. Doch die Wechsel-seitigkeit dieser elementaren Exklusion durch logische Komplementarität liefert nicht den geringsten Berechtigungsgrund, mit Blick auf die wie auch immer kategorial zu konzipierenden Objekte von Urteilen dieser logischen Formen so etwas wie Wechsel-wirkung ins Auge zu fassen. Kant scheint diese logische Form von wechselseitiger Komplementarität als Folie einer objektiven Wechselwirkung mißdeutet zu haben. Im Rekurs der Transzendentalen Dialektik auf die disjunktive Urteilsform  – und auf die konditionalen Rollen von Bedingung und Bedingtem! – charakterisiert er die Relation ihrer Glieder denn auch als »Konkurrenz«, A 336, B 393, also als eine Form, in der sie mit einander zwar ausschließenden, ›konkurrierenden‹ formal-logischen Mitteln gleichwohl komplementär zur Wahrheit des sie verknüpfenden disjunktiven Urteils beitragen können. Ob an dem von Ebbinghaus diagnostizierten Fehler noch andere Faktoren beteiligt sind, darf hier vorläufig offen bleiben. 385 A 262, B 318. 386 Vgl. A 262, B 317–318.

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flexive Sorgfalt nachträglich üben kann. Zunächst einmal handelt es sich um die beiden Reflexionsbegriffe der Form und der Materie. Sie dienen nicht nur dazu, die logischen Formen des Gebrauchs von Vorstellungen ihrerseits als die Materie aufzufassen, auf die Formen von deren Gebrauch logische Untersuchungen reflektieren. Vor allem – und das wird im Rahmen des Systems der Urteilsfunktionen bei der Reflexion auf die logische Form des disjunktiven Urteils zum ersten Mal wichtig  – kommt der Unterschied zwischen logischen Gebrauchsformen und der Reflexion auf diese Formen auch innerhalb der logischen Untersuchungen auf der hier eingenommenen Reflexionsstufe in der entsprechend gestuften Form zum Zuge. Denn im Unterschied zur kategorischen und zur hypothetischen Urteilsform läßt sich die disjunktive Urteilsform nicht ausschließlich unter dem konditionalistischen Aspekt der Einheit der Bedingung und des Bedingten charakterisieren. Man muß vielmehr bei der Reflexion auf die charakteristische konditionale Komponente der disjunktiven Urteilsfunktion von den an sich nicht-konditionalen negativen und positiven Momenten der an ihr beteiligten (konditionalen) kategorischen bzw. hypothetischen Urteilsfunktion Gebrauch machen (vgl. (1.3) und (1.3.1) bzw. (1.3.2). Durch diese Momente wird die konditionale Form ihrerseits zur Materie der Verneinung bzw. der Bejahung gemacht.387 Gleichzeitig läßt dieser in der Mitteilungssprache auftauchende Kontrast nachträglich darauf aufmerksam werden, daß die Grundcharakterisierungen der kategorischen und der hypothetischen Urteilsfunktion positive Formen haben. Die Unterscheidung zwischen der logischen Gebrauchssprache des prae-logischen Alltags einerseits und andererseits einer speziellen Mitteilungssprache sowie einer anderen speziellen, rein formalen Darstellungssprache innerhalb der logischen Reflexionssprache ist mit Blick auf die Behandlung von Kants Konzeption der Urteilsfunktionen aus einem für diese Konzeption charakteristischen methodologischen Grund von unerläßlicher Wichtigkeit. Denn einige der von Kant ausgezeichneten Urteilsfunktionen können ihre methodisch angemessene Berücksichtigung durch den formal reflektierenden und analysierenden Logiker nicht anders als dadurch finden, daß dieser im Rahmen einer Formel für die (direkte) Darstellung einer wohlbestimmten Urteilsfunktion in einer noch nicht logisch reflektierten Weise auch selbst von einer der Urteilsfunktionen Gebrauch macht, die auch schon im prae-logischen Alltag gebraucht werden. Diese Form der Verflechtung zwischen einem logisch noch unreflek387 Mit Blick auf die sonst so verschiedenartigen Logik-Konzeptionen Kants und Hegels ist es bemerkenswert, daß es Wolfgang Wieland, Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik, in: H. Fahrenbach (Hg.), Wirklichkeit und Reflexion. Festschrift für Walter Schulz Pfullingen 1973, S. 395–414, gerade mit Hilfe der Unterscheidung von Form und (intentionaler) Materie gelungen ist, die ersten Schritte Hegels in der Lehre vom Sein der Wissenschaft der Logik vom Sein zum Nichts und zum Werden als Schritte einer reflexiven und stufenweise Anwendung dieser Begriffe fruchtbar zu machen.

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tierten, ›empraktischen‹ (K. Bühler) Gebrauch von Urteilsfunktionen und einer logisch reflektierten Darstellung von bzw. Mitteilung über Urteilsfunktionen zeigt sich in der hier durchgeführten Rekonstruktion zum ersten Mal bei Ge­ legenheit der Disjunktion. In (1.3)-(1.3.2) ist die logische Darstellungssprache durch das entweder … oder … nur allzu offensichtlich mit der quasi-logischen Gebrauchssprache des prae-logischen Alltags verflochten. Bei dieser Verflechtung handelt es sich um ein in mancher Hinsicht bedeutsames Indiz von Untersuchungen innerhalb des Systems der von Kant ›herausgelesenen‹ (Krüger) Urteilsfunktionen. Sie macht darauf aufmerksam, daß der Logiker im Rahmen dieser Untersuchungen in einem solchen Fall von einer logischen Funktion Gebrauch machen muß, die nicht ›selber an sich selbst‹ ein Elemente dieses Systems ist, weil es sich bei ihr weder um eine genuin konditionale Urteilsfunktion noch um ein charakteristisches Moment einer konditionalen Urteilsfunktion handelt  – wiewohl sie mit einer charakteristischen und komplexen, komplementären konditionalen Komponente verbunden ist (vgl. oben S. 232, Anm. 384). Dennoch weist diese Verflechtung über die Grenzen einer linguistischer Eigentümlichkeit hinaus auf ein strukturelles, anthropologisches Charakteristikum des logischen Vermögens urteilender Subjekte: Der Logiker bleibt in der Ausübung seiner reflexiven Untersuchungen und in der Formulierung seiner Ergebnisse auf den Gebrauch einer logischen Funktion angewiesen, die im prae-logischen Alltag des Urteilens und des Argumentierens schon längst ihre Unverzichtbarkeit gezeigt und ihre ›empraktischen‹ Bewährungsproben bestanden hat. Doch falls eine Urteilsfunktion wie die Disjunktion nur in Verbindung mit Mitteln der logischen Gebrauchssprache des prae-logischen Alltags charakterisiert werden kann, dann verweist diese partielle pragmatische Form der Angewiesenheit des Logikers auf eine solche Urteilsfunktion auf einen noch bedeutsameren anthropologischen Umstand. Der Logiker erweist sich dadurch auch noch innerhalb der methodischen Grenzen seiner planmäßigen logischen Reflexion auf Urteilsfunktionen eines bestimmten system-internen Typs als ein unmittelbarer Angehöriger derselben kognitiven Gemeinschaft urteilsbeflissener, aber prae-logischer Benutzer der Disjunktion, zu der er gemeinsam mit allen anderen Menschen gehört. Ungeachtet dieses partiellen Unterschieds der Disjunktion zu den beiden anderen Urteilsfunktionen dieses konditionalen Verknüpfungstyps kommt es umso mehr auf eine übergeordnete Bedeutsamkeit an, die in diesem Zusammenhang der konditionalistischen Homogenität der kategorischen, der hypothetischen und der disjunktiven Urteilsfunktion zukommt. Denn im System der Urteilsfunktionen sind sie die einzigen, die gerade durch ihren spezifischen formallogischen Charakter außerdem unmittelbar im Dienst der ›reinen und ursprünglichen Apperzeption‹ stehen, ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen nicht nur in Einem Bewußtsein-überhaupt zu verbinden, sondern sie so zu verbinden, daß die spezifisch logische Form der Einheit eines Urteils ge-

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stiftet wird. Denn nur durch die Einzigartigkeit ihres konditionalistischen Beitrags kann die Unbestimmtheit überwunden werden, die Kant mit Bedacht ins Auge faßt, wenn er zu bedenken gibt, daß »die analytische Einheit der Apperzeption […] nur unter der Voraussetzung irgendeiner (Hervorhebung R. E.) synthetischen möglich [ist]«.388 Denn die reine und ursprüngliche Apperzeption, durch die die ursprüngliche synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Vorstellungen möglich ist, ist deswegen nur ›irgendeiner‹ synthetischen Einheit fähig, weil ihr als solcher das spezifisch logische Vermögen fehlt, das erst mit Hilfe desjenigen ›logischen Verstandesgebrauchs überhaupt‹ aktiviert wird, der die spezifisch logische, urteilsförmige Einheit dieses Mannigfaltigen als das spezifische Resultat des konditionalen Gebrauchs von nicht-urteilsförmigen und von urteilsförmigen Vorstellungen stiftet. Durch diese Einzigartigkeit der konditionalen Urteilsfunktionen innerhalb des Systems der Urteilsfunktionen ist jedoch von vornherein ebenfalls festgelegt, daß alle anderen Urteilsfunktionen dieses Systems nur dadurch konzipiert werden können, daß plausibel gemacht wird, daß und inwiefern sie – ähnlich wie es sich bei der Negation und der Bejahung schon gezeigt hat – Momente oder Modifikationen der mehr oder weniger komplexen konditionalen Einheit von Urteilen bilden. Daß schließt weder aus, daß logische Quantitäten, Qualitäten und Modalitäten auch unabhängig von den konditionalen Urteilsfunktionen dieses Systems gebraucht werden können  – wie dies die prae-logische alltägliche Urteilspraxis zur Genüge zeigt  –, noch schließt dies aus, daß logische Urteilsfunktionen auch ohne Rücksicht auf die konditionalen Komponenten der kategorischen, der hypothetischen und der disjunk­tiven Urteilsfunktionen konzipiert werden können – wie dies die nachFregesche Logik mit Hilfe einer bivalenten Semantik für die von ihr konzipierten Systeme mit äußerster Fruchtbarkeit gezeigt hat. Doch keines dieser Systeme wird eben auch nur im geringsten von dem Leitgedanken getragen, daß auch nur eine einzige der in ihm präsentierten Urteilsfunktionen nicht nur »den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt«, sondern »auch der bloßen Synthesis verschiedener Vorstellungen in einer Anschauung Einheit«,389 so daß »Auf solche Weise […] gerade so viel reine Verstandesbegriffe [entspringen], welche a priori auf Gegenstände der Anschauung überhaupt gehen, als es in der vorigen Tafel logische Functionen in allen möglichen Urtheilen gab«.390 Wie die Erörterung der disjuntiven Verknüpfungsfunktion zeigen kann, fällt ihr außer der Verknüpfungsfunktion, durch die sie mit der (konditional-)kategorischen und der hypothetischen Verknüpfungsfunktion in die von Kant vorgesehene homogene Gruppe von Urteilsfunktionen gehört, noch eine andere, eminente Verknüpfungsfunktion zu. Denn wie die Formeln (1.3.1) und (1.3.2) 388 B 133. 389 A 79, B 104–105, Kants Hervorhebungen. 390 A 79, B 105.

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(vgl. oben S.  331–332) zeigen können, hat sie zunächst mit Blick auf die beiden anderen hier erörterten elementaren Verknüpfungsfunktionen eine eminente ›conjunctive‹ Eigenschaft: Sie stellt für alle diese anderen Verknüpfungsfunktionen, die dem Gebrauch durch das denkend-urteilende Subjekt in diesem Rahmen zur Verfügung stehen, eine Verknüpfungsfunktion zur Verfügung, durch deren Gebrauch dies denkend-urteilende Subjekt alle diese anderen Verknüpfungsfunktionen – unter Zuhilfenahme von Bejahung und Verneinung – in einer neuen logischen Form verknüpfen kann. Erst und nur damit ist dem denkend-urteilenden Subjekt im Rahmen der von Kant berücksichtigten Urteilsfunktionen auch die formal-logische Möglichkeit gegeben, »jene durchgängige391 Identität des Selbstbewußtseins […] durch Verbindung in einem Bewußtsein«392 auf einem neuen, höheren Komplexitätsniveau zu stiften – also die Identität, die in dem Bewußtsein besteht, selbst die logische Verbindung aller ihm möglichen logischen Verbindungsfunktionen in einem einzigen formal-logisch strukturierten Akt des Urteilens zu stiften. Das denkend-urteilende Subjekt vermag sich durch den Gebrauch von Verknüpfungsfunktionen, wie sie durch (1.3.1) und (1.3.2) in paradigmatischer Form präsentiert werden, selbst, also in spontaner Form in disjunktiven Formen Rechenschaft darüber abzulegen, wie es in kommutativ wechselnden Fällen von den ihm zur Ver­f ügung stehenden Urteilsfunktionen Gebrauch machen kann und wie nicht. Es vermag daher gemäß den Mustern dieser beiden elementaren disjunktiven Verknüpfungsformen auch mit Blick auf alle anderen ihm zur Verfügung stehenden Urteilsfunktionen (Quantitäten, Modalitäten) in solchen disjunktiven Formen Rechenschaft abzulegen und damit immer komplexere Formen eines durch­gängig logisch strukturierten Identitätsbewußtseins zu stiften (vgl. unten S. 243–244). Es ist diese eminente Verknüpfungsfunktion, die der Gebrauch der Disjunktion für alle anderen Verknüpfungsfunktionen mit sich bringt, wodurch sie auch die Vollständigkeit der Gruppe der drei Verknüpfungsfunktionen garantiert, der sie selbst als dritte angehört. Hat sich der logischen Reflexion erst einmal der (formale) Anteil gezeigt, den die Negation und die Bejahung an der konditionalen Binnenform der disjunktiven Urteilsfunktion haben, dann eröffnet sich am Leitfaden dieses Musterbeispiels sogleich das weitere methodische Potential, das dies Musterbeispiel der logischen Reflexion eröffnet, wenn sie sich der genuinen Hilfen ihrer Reflexionsbegriffe zu bedienen weiß. Denn das Beispiel bewährt sich, wie sich unmittelbar zeigt, als Muster für die Schritte, durch die sich unter den Aspekten der von Kant exponierten Reflexionsbegriffe auch alle anderen Urteilsfunktionen aus Kants System gewinnen lassen. So ist es geradezu trivial, daß alle diejenigen Träger von logischen Rollen, die durch die drei basalen Urteilsfunktionen 391 Hervorhebung R. E. 392 B 135, Kants Hervorhebung.

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festgelegt werden, aber nicht durch das negative Moment bestimmt sind, positiv bestimmt sind – also so, wie es in den obigen Standard-Darstellungen der drei Urteilsfunktionen für alle Rollenträger charakteristisch ist, die nicht unmittelbar mit dem Negationspräfix ~ verbunden sind. Negation und Bejahung sind im Licht der Aspekte, an denen die Reflexionsbegriffe orientiert sind, zwar nicht von einerlei, sondern von verschiedener logischer Form, gehören aber, weil sie einander widerstreitende logische Momente anderer, ihrem logischen Typus nach ihnen äußerer Urteilsfunktionen sind, eben deswegen zum inneren Bestand von einerlei logischem Typus von Urteilsfunktionen – von der traditionellen Logik unter dem Terminus der logischen Qualität erörtert. Präsentiert man die Negation mit Hilfe der Darstellungssprache in ihrer elementarsten Funktion – also unabhängig von iher Funktion innerhalb der komplexen Formen des disjunk­tiven Urteils (1.3)-(1.3.2) – dann orientiert man sich daran, daß »die negation die copula afficirt«,393 und erhält offensichtlich die Form (2.1) ~(v1x

v2x).

Da es innerhalb der Formalen Logik auch mit Blick auf die Verneinung und die Bejahung unbestimmt bleiben muß, ob ein Urteil der kategorisch-konditionalen bzw. der hypothetischen bzw. der disjunktiven Form negativ oder positiv ist, haben auch diese beiden logischen Urteilsqualitäten an einer Form der Rollenkommutativität teil – wenngleich in anderer Form als die drei Verknüpfungsfunktionen. Denn sie sind kommutativ brauchbare formale Momente der Urteilsformen, die als ihr bestimmbares Träger-Material fungieren. Das von Krüger apostrophierte Herauslesen der in Kants System aufgenom­ menen Urteilsfunktionen aus der Menge der im prae-logischen Alltag gebrauchten bzw. den Logikern bekannten Urteilsfunktionen ist trotz der Unscheinbarkeit seiner Apostrophierung vorzüglich geeignet, den Weg zur inneren Gestaltung dieses Systems vor systematisch überspannten methodologischen Anforderungen zu bewahren. Vor allem der anscheinend unüberwindbaren irreführenden Neigung, diesen Weg mit irgendeiner Form von Ableitung dieser Urteilsfunktionen aus irgendeinem Prinzip zu identifizieren, wird durch diese unscheinbare Apostrophierung ein für alle Mal vorgebeugt. Sie macht, wie Krüger selbst beont hat, im Gegenzug darauf aufmerksam, daß es eines oder mehr als eines Kriteriums oder Aspekts bedarf, mit dessen Hilfe man sich darüber orientieren kann, wie man in der Menge der vertrauten Urteilsfunktionen so suchen kann, daß man die Urteilsfunktionen auch finden, also ›herauslesen‹ kann, die sich zu einem kohärenten System fügen und zum »Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe«394 dienen. Auf diesem Weg stellen so393 XXIV.1,2, 930. 394 A 66, B 91–A 83, B 116.

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Dimensionen des Urteilsakts

wohl der prae-logische Alltag wie die traditionelle Logik eine Urteilsfunktion zur Verfügung, die gleichsam einen Zwitter zwischen den logischen QualitätsFunktionen der Negation und der Bejahung bildet – die Negation, »die […] nur das praedicat afficirt«.395 Diese rein syntaktische Charakterisierung dieser speziellen negativen Urteilsfunktion wird von Kant daher auch u.a durch das Urteil »die Seele ist nichtsterblich«396 exemplifiziert. Kant betont zweimal, daß dies Moment »in einer transzendentalen Logik«397 bzw. »in der transzendentalen Tafel aller Momente des Denkens in den Urteilen nicht übergangen werden«398 dürfe. Er tut dies offenkundig mit Hilfe der Unterstellung, daß diese Tafel andernfalls nicht als ›Leitfaden der Entdeckung aller reinen Verstandesbegriffe‹ dienen könnte: »Diese Sache scheint in der Logic eine subtilitaet zu seyn. Aber in der Metaphysic wird es von Wichtigkeit, sie hier [also in der Logik, R. E.] nicht übergangen zu haben«.399 Zwar stempelt diese Prädikat-Negation die Urteile, in denen sie gebraucht wird, unter den von Kant beanspruchten begriffslogischen Voraussetzungen zu ›unendlichen‹ Urteilen »in Ansehung des logischen Umfanges«, aber gleichwohl auch zu Urteilen, die »wirklich bloß beschränkend in Ansehung des Inhalts der Erkenntnis überhaupt«400 sind. Doch diese in der logischen Mitteilungssprache formulierten Reflexionen Kants ändern gleichwohl nichts daran, daß die Syntax der Prädikat-Negation einerseits auch in der prae-logischen Gebrauchssprache schon unmittelbar präsent ist.401 Sie ändern aber auch nichts daran, daß dies ›Moment 395 XXIV.1,2, 930. 396 A 72, B 97; ich schließe mich der Konjektur Erdmanns an, die die Syntax der unmittelbaren Verbindung der Negation mit dem Prädikat herausstreicht und erst auf diese Weise die logische Form unmittelbar ›vor Augen stellt‹. In der A-Auflage verwendet Kant das substantivierte unmittelbar negative Prädikat denn auch in der syntaktischen Form »Das Nichtsterbende«, A 72. 397 A 71, B 97. 398 A 73, B 98. 399 XXIV.1,2, 930. 400 Ebd., Hervorhebungen R. E.; der Umstand, daß Kant die Prädikat-Negation mit Blick auf die Umfangs- und die Inhaltseigenschaften der Prädikat-Begriffe aus den eigentlichen formal-logischen Erörterungen der Urteilsfunktionen herausgehalten wissen will, ist ein wichtiges indirektes Indiz dafür, daß analog die Analytizität und die Synthetizität kategorischer Urteile, die ja auf den Umfangs- und den Inhaltsverhältnissen zwischen Begriffen beruhen bzw. nicht beruhen, ebenfalls aus den Erörterungen der kategorischen Urteilsfunktion herausgehalten werden müssen. Die Frage ist indessen nicht überflüssig, ob Erörterungen, die die Umfangs- und Inhaltseigenschaften von conceptus communes schon voraussetzen, überhaupt in spezifischer Weise in die Transzendentale Logik gehören und nicht vielmehr in die Angewandte Logik von Urteilen mit jeweils ganz spezifischen Inhalten. 401 In der modernen Logik hat ihr vor allem Ulrich Blau, Die dreiwertige Logik der Sprache, Berlin/New York 1978, unter dem terminologisch-syntaktischen Namen der »lokalen Negation« als einem Spezialfall der »natürlichen Negation« eine aufschlußreiche Untersuchung gewidmet, vgl. S. 80–82.

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des Denkens in den Urteilen‹ anderseits seinen wohlbestimmten Platz unter den von Kant in seiner Urteilstafel katalogisierten qualitativen Urteilsfunktionen hat. Daher hat es in der strikt formal-logischen Mitteilungssprache einer konditionalistisch konzipierten Rekonstruktion ebenfalls einen Anspruch auf Charakterisierung innerhalb dieses Teilsystems der Urteilsfunktionen: Im Fall der einfachen kategorischen Urteilsfunktion reguliert die Prädikat-Negation den Fall, daß der v1-relative Gebrauch von x als Bedingung gebraucht wird, x nicht v2-relativ zu gebrauchen. In der hier verwendeten Darstellungssprache nimmt die Prädikat-Negation für diesen Fall offensichtlich die Form (2.1.1) v1x

~v2x

an. Es ist indessen – ebenso wie im Rahmen von Kants eigenen Erläuterungen der Qualitätsmomente – auch in diesem Rahmen offenkundig, daß ein Urteil dieser Form als Urteil und trotz seines negativen intern-kategorischen Rollenträgers ein positives Urteil ist. Der Anhang zur Transzendentalen Analytik, in dem Kant Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe handelt, bietet am Anfang (A 260, B 316 – A 263, B 319) einen Einblick in die methodische Einstellung, in der der Logiker innerhalb der Transzendenalphilosophie logische Überlegungen anstellt. Diesem Einblick kann man entnehmen, wie auch die logischen Qualitätsfunktionen der Negation und der Bejahung unter den im prae-logischen Alltag gebrauchten Urteilsfunktionen ›herausgelesen‹ (Krüger) werden können. Denn hier ›schickt sich‹ die Reflexion des Logikers ›zuerst dazu an, um die Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen von diesen Funktionen gelangen können‹.402 Da »die logische Reflexion eine bloße Komparation«403 ist, haben sich die Begriffe der logischen Qualitätsfunktionen der Negation und der Bejahung anläßlich der Charakterisierung der Disjunktion durch formale ›Komparation‹ mit Hilfe des Reflexionsbegriffs der Form ergeben. Der Logiker vergleicht hier die Formen, in denen er im Zuge seiner formalen Reflexion selbst von diesen Funktionen Gebrauch macht, indem er die konditionalistische Konzeption der Urteilsfunktionen mit der Charakterisierung der kategorischen Urteilsfunktion beginnt: Anläßlich der Charakterisierung der Disjunktion ›schickt er sich‹ mit Hilfe der logischen Reflexion ›zuerst dazu an‹, die Form, in der die Negation zur Charakterisierung der Disjunktion ›effektiv‹ gebraucht wird, mit allen Formen zu vergleichen, in denen er sie zur Charakterisierung der kategorischen und der hypothetischen Urteilsfunktion – aber auch von logischen Teilen der Disjunktion! – ›effektiv‹ nicht gebraucht. Die Form dieses effektiven Nicht-Gebrauchs ist die positive, die Form ihres effektiven Gebrauchs 402 Vgl. A 261, B 316, erster Satz. 403 A 262, B 318.

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die negative Form. Auf diese Weise gewinnt der Logiker wiederum eine anthropologische Einsicht in eine pragmatische Form der Angewiesenheit auf den Gebrauch logischer Urteilsfunktionen: Auch im Rahmen der logischen Reflexion bleibt er auf den Gebrauch derselben logischen Qualitäts-Funktionen angewiesen, auf den alle Menschen auch im prae-logischen Alltag angewiesen sind. In derselben methodischen Einstellung kann der Logiker indessen die Formen, in denen er die Negation zur Charakterisierung von Urteilsfunktionen entweder effektiv verwenden muß oder aber effektiv nicht verwenden muß, wiederum zum Anlaß nehmen, um sich ›zuerst dazu anzuschicken‹, auch andere ursprünglich prae-logisch gebrauchte Urteilsfunktionen innerhalb der Formen des Gebrauchs ›ausfindig zu machen‹, den er selbst im Zuge seiner logischen Charakterisierungen von ihnen machen muß.404 Zu den Einsichten in seine innerlogische Angewiesenheit auf solche Gebrauchsformen gehört in dieser reflexiven Einstellung einerseits die positive Einsicht, daß er nur in einigen wohlbestimmten Fällen konditionaler Urteilsfunktionen von der Negation effektiv Gebrauch machen muß, und andererseits die negative Einsicht, daß er von ihr in allen anderen wohlbestimmten Fällen solcher Urteilsfunktionen von ihr effektiv nicht Gebrauch machen muß. Damit hat er wiederum innerhalb des ­Mediums der logischen Reflexion sowie mit Hilfe der logischen Reflexion und der drei ihr schon zur Verfügung stehenden Qualitätsfunktionen eine weitere formal-anthropologische Einsicht in die pragmatische Angewiesenheit des Logikers auf den Gebrauch nicht nur derselben logischen Qualitäts-Funktionen der Bejahung, der Urteils-Negation und der Prädikat-Negation ausfindig gemacht, auf deren Gebrauch wir auch im prae-logischen Alltag angewiesen sind. Er hat auch eingesehen, daß er die formalen Rollen, die die Negation und die Bejahung in den drei zentralen Urteilsfunktionen spielen, nur dann reflexiv vergleichen kann, wenn er selbst auch dieselben logischen Quantitätsfunktionen des Allgemeinen und des Besonderen405 gebraucht, die auch schon im praelogischen Alltag gebraucht werden. Bevor diese beiden Quantitätsfunktionen in der Mitteilungs- und in der Darstellungssprache der logischen Reflexionssprache charakterisiert werden können, ist es indessen wichtig, auf eine Besonderheit der grammatischen Syntax 404 Wenn man in der modernen Logik beim Aufbau z. B. der Junktorenlogik nach der Einführung von Grundfunktionen wie z. B. der Konjunktion und der Negation dazu übergehen kann, das Konditional und alle anderen Funktionen unter Rückgriff ausschließlich auf diese beiden zu konzipieren, dann tut man in methodischer Hinsicht etwas genau Analoges. Wenn Frege, Begriffsschrift, den Entwurf der Urteilsfunktionen andererseits mit dem Konditional (unter dem Namen Bedingtheit) beginnt (§ 5), danach die Verneinung einführt (§ 7) und erst mit beider Hilfe die Konjunktion einführt, dann tut er, wenngleich in der systematisch umgekehrten Richtung, wiederum in metho­discher Hinsicht das Analoge zu dem, was hier in der Rekonstruktion der Urteilsfunktionen des Kantischen Systems partiell ebenfalls getan wird. 405 Vgl. A 70, B 95.

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zu achten, die Kant mit den beiden eminenten Logikern der Tradition – Aristoteles und Leibniz – verbindet, wenn es darum geht, von der umgangssprachlichen Formulierung allgemeiner Urteile bzw. Sätze zu Formulierungen überzugehen, die in einer ersten formalen Stilisierung Momente der logischen Tiefenstruktur solcher Urteile bzw. Sätze sichtbar machen können. Aristoteles stilisiert mit Hilfe der oben (vgl. oben S. 224, Anm. 364) skizzierten asymmetrischen Rekonstruktion allgemeine kategorische Sätze mit Hilfe einer Relativsatz-Form besonders deutlich so: ›Allem, dem das B zukommt, dem allem kommt auch das A zu‹.406 Ganz analog stilisiert Leibniz solche Sätze, wenn er – in Verbindung mit einer Identitätsbedingung für die Gegenstände in den Umfängen der beiden beteiligten conceptus communes A und B  – formuliert: »Cum dico: Omne A est B, intelligo quemlibet eorum qui dicuntur A, eundem esse cum aliquo eorum qui dicuntur B. Et haec pro­positio appellatur Universalis affirmativa«.407 Ganz entsprechend macht Kant eine solche formale Stilisierung mit Hilfe der Syntax des Relativ-Satzes – und sogar mit Hilfe einer Gegenstandsvariable – fruchtbar, wenn er beispielsweise folgendermaßen formuliert: »Kein x, welcher Gelehrter ist, ist ohne Wissenschaft«,408 bzw. ohne Quantor »x, was unter b enthalten ist, ist auch unter b«.409 Diese außerordentlich stabile Tradition einer einheitlichen Primär-Stilisierung der logischen Form genereller umgangssprachlicher Urteile mit Hilfe der Syntax des Relativ-Satzes macht auf eine logische Leitorientierung aufmerksam, die es jedenfalls im Rahmen der hier vorgeschlagenen Rekonstruktion der von Kant berücksichtigten Urteilsfunktionen nötig macht, auch auf eine logische Besonderheit zu achten. Ganz unbeschadet des Umstandes, daß Kants Beispiele für solche Stilisierungen direkt nicht die logische Syntax von Urteilsformen erläutern, sondern Urteile mit konkreten conceptus communes, geben sie dennoch einen nützlichen Wink in Richtung auf die logische Syntax der Urteilsquantitäten. Denn sie machen darauf aufmerksam, daß diesen konkreten Urteilen eine logische Syntax zugrunde liegt, die den Gebrauch von v1x als Bedingung des Gebrauchs von v2x seinerseits an die Bedingung bindet, daß alle x v1-relativ gebraucht werden. Bevor diese Charakterisierung jedoch zu dem vorschnellen Verdacht führt, daß damit im Rahmen der formalen Syntax solcher Urteile auch schon die Struktur analytischer Urteile fixiert werde, ist es wichtig, die Rollenkommutativität der konditional-kategorischen Urteilsform zu berücksichtigen. Denn sie sorgt dafür, daß die logische Form des allgemeinen kategorischen Ur406 ᾧ παντὶ τὸ B ὑπάρχει, καὶ τὸ A παντὶ ὑπάρχει, An. Pr. 49b 15–16. 407 G. W. Leibniz, Opuscules et fragments inédits de Leibniz, Extraits des manuscrits de la Bibliothéque de Hannover par Louis Couturat, Hildesheim 1966, S. 193, Hervorhebungen R. E. 408 R 4676, S. 654. 409 R 3096, S. 658; da diese Reflexion ihrem Inhalt nach in die Erörterung der Urteilsquantitäten gehört, athetiert Adickes zu Recht ein »alle« vor dem »x«. vgl. auch oben S. 222, R 3127.

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teils gerade nicht darauf festgelegt ist, daß der Gebrauch von v1x als Bedingung des Gebrauchs von v2x seinerseits an die Bedingung gebunden ist, daß alle x v1relativ gebraucht werden. Sie schließt vielmehr gerade wegen dieser Rollenkommutativität ebenso den rein formal-logisch möglichen Fall ein, daß umgekehrt der Gebrauch von v2x als Bedingung des Gebrauchs von v1x an die Bedingung gebunden ist, daß alle x v2-relativ gebraucht werden. Es bleibt innerhalb der methodischen Grenzen der Formalen Logik eben auch mit Blick auf das allgemeine (konditional-)kategorische Urteil, wie Kant an der so wichtigen Stelle B 128–129 zu bedenken gibt, ›unbestimmt‹, aus welchen Gründen das spontan denkend-urteilende Subjekt welcher von zwei Vorstellungen mit Hilfe der kategorisch-konditionalen Urteilsfunktion welche der beiden konditionalen Rollen ›vorzugsweise‹ verleihen kann.410 Sucht sich der Logiker in der Mitteilungssprache über den logischen Status Rechenschaft abzulegen, der den beiden logischen Quantitätsfunktionen im Rahmen von Kants System der Urteilsfunktionen zukommt, wenn man sie unter dem konditionalistischen Aspekt rekonstruiert, dann kann er sich auf das Paradigma der elementarsten konditionalen Urteilsfunktion beschränken. In der Mitteilungssprache kann er daher sowohl die Allgemeinheits-Funktion wie die Besonderheits-Funktion charakterisieren, indem er sich auf die Formen beschränkt, in denen x in der von ihm thematisierten Form des kategorischen Urteils relativ zu Vorstellungen v1 und v2 gebraucht wird: Alle x, die v1-relativ gebraucht werden, werden als Bedingungen ihres v2 -relativen Gebrauchs gebraucht bzw. – wegen der Rollenkommutativität – Alle x, die v2 -relativ gebraucht werden, werden als Bedingungen ihres v1-relativen Gebrauchs gebraucht bzw. Einige x, die v1-relativ gebraucht werden, werden als Bedingungen ihres v2 -relativen Ge410 Gleichwohl zeigt sich bei der Erörterung der Form der allgemeinen konditional-kategorischen Urteile am deutlichsten der formale Aspekt, unter dem Kant, wenn es um die Analyse von Urteilen mit konkreten conceptus communes geht, die analytischen von den synthetischen Urteilen unterscheiden kann: Konditional-kategorische Urteile sind analytisch (wahr) dann und nur dann dann, wenn die beiden konditionalen Rollen, in denen das urteilende Subjekt conceptus communes gebraucht, ausschließlich wegen der formalen Beziehungen zwischen den Umfängen bzw. Inhalten dieser Begriffe eindeutig erfüllt werden. Der analytische Charakter eines konditional-kategorischen Urteils hängt daher zwar auch von der konditionalen Grundform solcher Urteile ab, aber in ausschlaggebenden Form von den formalen Beziehungen zwischen den Umfängen bzw. Inhalten der gebrauchten Begriffe: Z. B. Alle x, die v1-relativ als Bedingungen ihres v2 -relativen Gebrauchs gebraucht werden, werden deswegen so gebraucht, weil der Umfang bzw. der Inhalt von v1 im Umfang bzw. Inhalts von v2 enthalten ist – bzw. umgekehrt wegen der Kommutativität der kategorisch-konditionalen Rollenverteilung. Dies Umfangs- bzw. Inhaltsverhältnis ist der (hinreichende)  Grund des jeweils bestimmten konditional-kategorischen Gebrauchs von v1x und von v2 x und der Grund der analytischen Wahrheit des in dieser Gebrauchsform bestehenden Urteils. Der synthetische Charakter eines Urteils und dessen Wahrheit bzw. Falschheit hängen dagegen von einem (hinreichenden) Grund ab, der den verwendeten Begriffen extern ist.

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brauchs gebraucht bzw. – wiederum wegen der Rollenkommutativität – Einige x, die v2 -relativ gebraucht werden, werden als Bedingungen ihres v1-relativen Gebrauchs gebraucht. In der Darstellungssprache können diese Urteilsformen im Licht ihrer Interpretationen in der Mitteilungssprache folgendermaßen präsentiert werden: (3.1) Alle x. v1x

v2x

bzw. (3.1.1) Alle x. v2x

v1x.

und (3.2) Einige x. v1x

v2x

bzw. (3.2.1) Einige x. v2x

v1x.411

Wie bei den logischen Urteilsqualitäten kann die Formale Logik mit den ihr zur Verfügung stehenden formalen reflexions- und Analysemitteln auch bei diesen beiden Urteilsquantitäten nicht bestimmen, welche von ihnen mit welcher Urteilsform verbunden werden. Auch diese beiden Urteilsquantitäten unterliegen daher in formallogischer Hinsicht der Rollenkommutativität, daß sie austauschbare Momente von Urteilsformen sind. Auch mit Blick auf diese beiden Urteilsquantitäten zeigt sich die eminente Verknüpfungsfunktion der Disjunktion (vgl. oben S.  235–236). Denn die von 411 Die hier konzipierte Form der allgemeinen und der besonderen konditional-kategorischen Urteile macht indessen auch eine Überlegung zur Verteilung der traditionellen syntaktischen Subjekt-Prädikat-Rollen nötig. Patzig, Syllogistik, hat bereits darauf aufmerksam gemacht, daß diese Rollenverteilung beim Vergleich von Allsätzen in der Quantorenlogik und allgemeinen Sätzen in der Aristotelischen Syllogistik zu syntaktischen Inkommensurabilitäten führt, vgl. S. 46–49. Wenn die Konzeption richtig ist, die hier für die allgemeinen und die besonderen konditional-kategorischen Urteile in Kants System der Urteilsfunktionen im Anschluß an die Relativsatz-Syntax entwickelt wird, die Aristoteles, Leibniz und Kant benutzen, wenn sie zu formalen Stilisierungen mit Hilfe von verkappten bzw. offenen Gegenstandsvariablen übergehen, dann fungieren Alle x. v1x … und Einige x. v1x … als deren Subjekte und … v2 x als deren Prädikate. In diesem Sinne spricht sogar Brandt, Urteilstafel, irritierenderweise von »einem quantifizierten Subjekt«, S. 5 – irritierenderweise deswegen, weil er diese Auffassung nicht näher begründet und auch nicht zu den grundsätzlichen Spannungsverhältnissen zwischen den diversen logischen Syntaxen von Subjekten in quantifizierten Urteilen Stellung nimmt.

244

Dimensionen des Urteilsakts

Kant betonte beliebige Brauchbarkeit logischer Funktionen, die sich als formallogische Kommutativität der Träger der logischen Rollen im Urteil erweist, zeigt sich genauso mit Blick auf die Momente, durch die die Verknüpfungsfunktionen bestimmt werden. Für das positive und das negative Moment hat sich das schon im Rahmen der Analyse und der Präsentation der Disjunktion gezeigt (vgl. oben S. (1.3.1) und (1.3.2), S. 231 f.). Doch auch mit Blick auf die beiden logischen Quantitäten muß die Formale Logik offen lassen, aus welchen Gründen denn nun welche Vernüpfung durch welches Quantitätsmoment bestimmt wird. Denn auch mit Blick auf diese unbestimmt bleibende Struktur ist es immer noch die Disjunktion, die dem denkend-urteilenden Subjekt die eminente Verknüpfungsfunktion zur Verfügung stellt, mit deren Hilfe es sich darüber Rechenschaft ablegen kann, wie – also in welchen logischen Formen – es auch diese beiden Urteilsmomente (wieder unter Zuhilfenahme von Bejahung und Verneinung) in einer sie integrierenden logischen Form verknüpfen kann. Zwei paradigmatische diskunktive Verknüpfungen von positiv bzw. negativ bestimmten konditionalen Verknüpfungen quantifizierter Urteilsformen mögen diese integrierenden Formen ›vor Augen stellen‹: (3.3.1) Entweder [(Alle x. v1x v2x) v1x) ~(Alle x. v1x v2x)]

~(Alle x. v2x

v1x)] oder [(Alle x. v2x

bzw. (3.3.2) Entweder [(Alle x. v1x v2x) ~(Einige x. v1x x. v1x v2x) ~(Alle x. v1x v2x)].

v2x)] oder [(Einige

Mit Blick auf die beiden logischen Quantitäten ist dem denkend-urteilenden Subjekt daher durch die ihm zur Verfügung stehende Disjunktion die formallogische Möglichkeit gegeben, auf einem noch komplexeren formalen Niveau als nur mit Blick auf die beiden andere elementaren Verknüpfungsfunktionen »jene durchgängige Identität des Selbstbewußtseins … durch Verbindung in einem Bewußtsein«412 zu stiften – also die Identität, die auch auf diesem Niveau wieder in dem Bewußtsein besteht, selbst, also spontan die logische Verbindung aller ihm möglichen logischen Verbindungsformen in einem einzigen formal-logisch strukturierten Akt des Urteilens zu stiften. Es vermag durch Verknüpfungsformen, wie sie durch (3.3.1) und (3.3.2) in musterhafter Form präsentiert werden, sich selbst in disjunktiven Formen Rechenschaft darüber abzulegen, wie es in kommutativ wechselnden Fällen von den ihm zur Verfügung stehenden Urteilsquantitäten Gebrauch machen kann und wie nicht.

412 B 135, Kants Hervorhebung.

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245

Die logische Quantität des »judicium singulare«,413 die an sich – wie die Prädikat-Negation – nur »in einer transzendentalen Logik … noch unterschieden werden«414 muß, kann gleichwohl und im Gegensatz zur Prädikat-Negation (vgl. (2.1)) nicht mehr mit Mitteln der konditionalistischen Syntax charakterisiert werden, und zwar auch nicht als Moment einer konditionalen Verknüpfung. Denn im Gegensatz zur Prädikat-Negation erschöpft sie sich nicht in einer syntaktischen Stelle, auf der sie innerhalb einer konditionalen Urteilsverbindung fungieren könnte. Sie ist vielmehr an einen conceptus infimus415 gebunden, »dessen man sich bei einem individuo bedient z. E. der Philosoph Wolf«. Man bedient sich seiner also mit Blick auf einen begriffsexternen individuellen Gegenstand, indem er unmittelbar so »[…] auf das individuum Wolf angewandt [ist]« wie wir alle conceptus infimi »unmittelbar auf die individua anwenden«,416 also »unmittelbar in Relation auf die individua«,417 aber nicht unmittelbar »in relation auf einen superior [Begriff]«.418 Damit sind offensichtlich alle logischen Qualitäten und damit  – jedenfalls zusammen mit der ›propositionalen‹ Ver­ neinung und Bejahung – auch alle qualitativen Momente der drei konditionalen Verknüpfungen gewonnen. Damit sind aber auch – bis auf die Modalitäten – alle von Kant berücksichtigten nicht-›coniuctiven‹ Urteilsfunktionen als Elemente eines kohärenten Gefüges aus konditionalistisch konzipierbaren formalen Urteilsmomenten gewonnen. Verliert man indessen Kants Fernziel nicht aus den Augen, die Struktur objektiv gültiger (Erfahrungs-)Urteile und den Grad der Abhängigkeit dieser Struktur von den Bedingungen durchsichtig zu machen, die das denkend-urteilende Subjekt solcher Urteile erfüllt, dann wird auch verständlich, warum die Modalitäten ihre systematische Stelle nur am methodischen Ende des Wegs durch dies Gefüge der Urteilsfunktionen finden können. Denn »jenes X, was ihnen [unseren Vorstellungen R. E.] korrespondiert (der Gegenstand)«, ist etwas, 413 A 71, B 96. 414 A 71, B 97 – A 72. 415 Vgl. zuerst XXIV.1,1, 454, sowie XXIV.1, 2, 569 f.; doch »wenn wir auch einen solchen Begriff haben, den wir unmittelbar auf die individua anwenden, so können doch noch Unterschiede seyn, die wir nicht bemerken, oder die wir negligieren. […] Im Gebrauch gibts conceptus infimos die gleichsam conventionell infimi geworden sind, wo man übereingekommen ist, nicht tiefer zu gehen«, ebd., Hervorhebung R. E. 416 XXIV.2,1, 569. 417 Ebd. 418 S. 568–69. So scharfsinnig die formalen Analogien auch sein mögen, mit deren Hilfe Kant die judicia singularia mit den allgemeinen Urteilen unter begriffs-logischen Aspekten vergleicht, so können sie doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Formale Logik mit ihren Reflexions- und Analysemitteln kein Kriterium entwickeln kann, das erlauben würde, einen conceptus infimus in seiner Eigenart positiv und formal zu charakterisieren. Das ist nur unter Zuhilfenahme der Raum-Zeittheorie möglich und bildet deswegen eine Aufgabe, die erst innerhalb der Transzendentalen Logik behandelt werden kann.

246

Dimensionen des Urteilsakts

was ein »von allen unseren Vorstellungen Unterschiedenes sein soll«.419 Er kann daher, wie das soll unmißverständlich andeutet, vom urteilenden Subjekt auch stets nur unter dem Vorzeichen eines Anspruchs auf objektive Gültigkeit bzw. Wahrheit erkannt werden kann, den es durch die assertorische Modalität mit seinem Urteil verbindet und zum Ausdruck bringt. Da »Es […] aber klar [ist], daß wir es nur mit dem Mannigfaltigen unserer Vorstellungen zu tun haben«,420 sind die Menschen geradezu aus anthropologischen Gründen – aber eben auch aus Gründen, wie sie nur mit Mitteln einer formal-transzendentalen Theorie durchschaut werden können,  – auf den Gebrauch der assertorischen Modalität angewiesen, wenn sie mit ihren Urteilen Ansprüche auf objektive Gültigkeit bzw. Wahrheit verbinden. Dennoch kann dieser Vorgriff auf die Dimension der objektiven Gültigkeit von Urteilen im Rahmen der Behandlung der Urteilsfunktionen lediglich die methodische Funktion haben, plausibel zu machen, daß und warum man mit der Behandlung der assertorischen Modalität im Rahmen der Behandlung aller drei Modalitäten den Anfang machen muß. Denn nur sie ist es, mit deren Hilfe plausibel gemacht werden kann, daß und warum der Schritt methodisch zwingend ist, am Ende des Entwurfs des Gefüges dieser Urteilsfunktionen zu einer Metaphysischen Deduktion von Kategorien überzugehen. Denn der erste Schritt auf dem Weg in diese Art von Untersuchung besteht darin, auch nur die Frage zu stellen, die diese Untersuchungen leitet. Denn durch die Form dieser Frage wird unmittelbar die Form der Antwort festgelegt, zu der eine gelungene Untersuchung dieser Leitfrage führt – zu der Antwort, daß »Durch eine reine Kategorie nun […] nur das Denken eines Objekts überhaupt, nach verschiedenen modis ausgedrückt [wird]«.421 Denn bei diesen modis handelt es sich um »Dieselbe[n] Funktion[en], welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit«422 geben. Die assertorische Modalität hat daher ihren aus methodologischen Gründen angestammten Platz – zusammen mit den beiden anderen Modalitäten – gleichsam an der Grenze zu der diese Antwort herbeiführenden Untersuchung, aber eben auch auf derjenigen Seite dieser Grenze, auf die sie gemeinsam mit allen anderen Urteilsfunktionen gehört. Kant hat die Zuweisung dieses Platzes unmißverständlich dadurch gerechtfertigt, daß er jede der drei Modalitäten durch zwei syntaktische Funktion charakterisiert. Die leitende syntaktische Charakterisierung liegt in der Bemerkung, daß die Modalität »nur den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht«.423 Außerordentlich bemerkenswert an Kants formalen Reflexionen zu den drei Modalitäten ist in diesem 419 A 105, Hervorhebung R. E. 420 Ebd., Hervorhebung R. E. 421 A 247, B 304. 422 A 79, B 104. 423 A 74, B 100.

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247

Zusammenhang der Umstand, daß er den Begriff der Kopula offensichtlich, obwohl es zumeist übersehen wird, stillschweigend als Oberbegriff aller drei Verknüpfungsfunktionen – also sowohl der kategorischen wie der hypothetischen und der disjunktiven – verwendet und nicht mehr im Sinne der Logik-Tradition als Terminus ausschließlich für die Verknüpfungsfunktion, die die logische Form des kategorischen Urteils prägt.424 Die andere syntaktische Funktion ergibt sich aus dem Umstand, daß er jede dieser drei Modalitäten durch die Funktion erläutert, »das Bejahen oder Verneinen«425 zu modifizieren.426 Durch den Wechsel vom Gebrauch der einen Modalität zum Gebrauch einer anderen wird der Grad der Stärke der Bejahung bzw. Verneinung modifiziert, den das denkend-urteilende Subjekt der ›Copula‹ seines Urteils beimißt.427 Kant deutet sogar ein Beispiel dafür an, daß und wie der Wechsel im Gebrauch von Modalitäten vom Wechsel der epistemischen Situation des denkend-urteilenden Subjekts abhängt. Denn Urteile können, »problematisch genommen, Bedingungen der Erkenntnis der Wahrheit sein«428 in dem Sinne, daß jemand ein Urteil »nur auf einen Augenblick [problematisch, R. E.] annehmen möge, und dient doch, (wie die Verzeichnung des falschen Weges, unter der Zahl all derer, die man nehmen kann), [das] wahre[…] zu finden«,429 so daß es nach diesem Augenblick assertorisch, also in Verbindung mit dem Anspruch auf objektive Wahrheit gebraucht werden kann. Selbstverständlich bilden diese drei Grade  – jedenfalls unter Aspekten der Formalen Logik  – nicht Zäsuren auf einem Kontinuum, sondern auf einer diskreten dreiteiligen Skala, auf der man der problematischen Modalität den numerischen Wert 0 entsprechen lassen kann, der assertorischen Modalität den Wert 1 und der apodiktischen Moda­ lität den Wert 2.430 424 Vgl. hierzu R 3061, wo Kant zu Meiers Behandlung der copula (§ 293) alle drei Verknüpfungsfunktionen notiert, sowie XXIV. 1,2 766: »Modalität (Bestimmung des Verbindungsbegriffs). Die 3 Bestimmungen der Copula […] (vorzüglich für kategorische Urteile)«, Hervor­hebung R. E. – ›vorzüglich‹, aber eben nicht ausschließlich. 425 A 74, B 100. 426 Vgl. A 74, B 100 – A 76, B 101. Kant hätte daher in seinem formallogischen Rahmen statt von (logischen) Modalitäten genauso sachgemäß von (logischen) Modifikatoren sprechen können. 427 Wolff, Vollständigkeit, hat den Vorschlag gemacht, im Zusammenhang mit den (logischen) Modalitäten von einer Gradeinteilung Gebrauch zu machen, die die »Intensität« betrifft, mit der eine Modalität den ›Wert der Kopula‹ betrifft vgl. S. 127–128. Diese Grade gehören selbstverständlich auf eine diskrete dreiteilige Intensitäten-Skala und bilden nicht gleichsam drei repräsentative Schnitte in einem Intensitäten-Kontinuum. 428 A 75, B 100. 429 A 75, B 101. 430 Das schließt nicht aus, daß jenseits der Formalen Logik, wenn es z. B. in konkreten epistemischen Situationen um die Stärke der Gründe geht, über die ein Subjekt zugunsten seiner Bejahung bzw. Verneinung eines Urteils verfügt, eine viel differenziertere GradSkala nötig und möglich ist.

248

Dimensionen des Urteilsakts

Auch bei den (logischen) Modalitäten handelt es sich also nicht etwa – wie bei den Urteilsfunktionen, die die Formen der kategorischen, der hypothetischen und der disjunktiven Urteile prägen  – um einheitstiftende konditionale Verknüpfungsfunktionen, sondern um Momente, durch die – diesmal sogar in gestufter Form  – andere Urteilsfunktionen geprägt werden. Denn sie sind (modifizierende) Momente der Bejahung bzw. Verneinung, die ihrerseits (modifizierende) Momente der ursprünglichen drei (konditionalen) Verknüpfungsfunktionen sind. Es ist daher auch kein Zufall, daß eine konditionalistische Rekonstruktion von Kants System der Urteilsfunktionen ausgerechnet im Zusammenhang mit der Erörterung der drei (logischen) Modalitäten zum ersten Mal direkt den Text von Kants eigenen Erörterungen zu Hilfe nehmen kann. Denn gerade weil die logischen Qualitäten der Verneinung und der Bejahung und die drei logischen Modalitäten durch ihre gestuften, rein syntaktischen Funktionen direkt auf die drei ursprünglichen Verknüpfungsfunktionen – auf die copulae in der zweifach erweiterten Bedeutung des Wortes – bezogen sind, sind sie insofern auch unabhängig von allen begriffslogischen Eigenschaften der Träger der durch die drei Verknüpfungsfunktionen reservierten Rollen.431 Es liegt auf der Hand, daß die Formale Logik den Gebrauch der assertorischen Modalität, wenn man das inzwischen konventionell gewordene Symbol  für ihre Darstellung verwendet, unmittelbar am besten am Beispiel des formal einfachsten Falls demonstrieren kann, am Beispiel des positiven konditionalkategorischen Urteils in der Form: (4.1)

v1x

v2x.432

Die Gebrauchsform der problematischen Modalität ergibt sich, wie Kant bemerkt, durch eine einfache formale Reflexion auf die Gebrauchsformen, die mit dem antecedens- und dem consequens-Element der hypothetischen Urteilsform verbunden sind, die »insgesamt nur problematisch [sind]«.433 Da aber die hypothetische Verknüpfung selbst durchaus assertorisch gebraucht werden kann, kann die Form des assertorischen positiven Gebrauchs der hypothetischen Urteilsfunktion mit entsprechend gemischten Modalitäten dargestellt werden: (4.2)

[( (v1x

v2x)

(v3x

v4 x)].

431 Unter diesen Voraussetzungen sind diese logischen Modalitäten weder Modalitäten de re noch de dicto, sondern de usu (formale). 432 Die trivialen Varianten, die sich auch hier aus der Rollenkommutativität und aus den behauptenden Formen der negativen Formen ergeben, übergehe ich hier und auch in den nachfolgend dargestellten problematischen und apodiktischen Modalitäten. 433 A 75, B 100.

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An der Einführung der Disjunktion ist die mehr oder weniger stillschweigende Voraussetzung beteiligt, daß die für eine konditionale Verknüpfung zur Verfügung stehenden elementarsten Urteilsformen durch die beiden konditionalkategorischen Urteilsformen v1x ⇒ v2x und v2x ⇒ v1x erschöpft sind, die sich aus der Kommutativität ergeben, die die entsprechende Urteilsfunktion für die beiden Träger der beiden konditionalen Rollen festlegt.434 Die spezifisch modallogische Reflexion auf den methodischen Charakter dieser Einführung führt daher zu dem Gedanken, daß von den beiden zur Verfügung stehenden elementarsten Urteilformen notwendigerweise entweder v1x als Bedingung des Gebrauchs von v2x gebraucht wird oder umgekehrt. Verwendet man zur Darstellung der apodiktischen Funktion das Symbol  , dann erhält man offensichtlich: (4.3)

[(Entweder (v1x

v2x) oder (v2x

v1x)].

Da es auch hier nicht die disjunkten Glieder sind, die im Fall der Behauptung eines disjunktiven Urteils behauptet werden, vielmehr werden auch sie »ins­ gesamt nur problematisch«435 gebraucht, nimmt die erste Stufung des Modalitätengebrauchs in diesem elementaren Fall die zweifach modalisierte Form (4.3.1)

[(Entweder (v1x

v2x) oder (v2x

v1x)]

an. Da jedoch das disjunktive Urteil als disjunktives und als Ganzes ebenfalls behauptet werden kann, nimmt es im Fall seiner Behauptung die zweifach modal gestufte, also dreifach modalisierte Form (4.3.2) { [(Entweder (v1x

v2x) oder (v2x

v1x)]}

an. Verknüpft man den disjunktiven Kern dieser Form mit der konditional differenzierter Variante (1.3.1), dann erhält man offensichtlich die Form (4.3.3) { [(Entweder ( (v1x ~(v1x v2x))]}.

v2x)

~(v2x

v1x)) oder

( (v2x

v1x)

Die generelle Rollen-Kommutativität logischer Funktionen, die Kant mit der Reflexion »[wir] können […] nach Belieben logische functionen brauchen«436 434 Diese Erschöpfungsbedingung entspricht im Rahmen der konditionalistischen Rekonstruktion der Erschöpfungsbedingung, die im Rahmen der begriffslogisch orientierten Rekonstruktion das Verhältnis der Umfänge und Inhalte der im kategorischen Urteil gebrauchten Begriffe im Verhältnis zu ihrem gemeinsam Oberbegriff betrifft, vgl. Reich Vollständigkeit, S. 53–54, und Wolff, Vollständigkeit, S. 151 f. 435 A 75, B 100. 436 R 4672.

250

Dimensionen des Urteilsakts

thematisiert, gilt auch mit Blick auf die modalen Urteilsfunktionen, weil sie unter Aspekten der Formalen Logik – analog wie die anderen logischen Rollen und Momente – beliebig kommutierend als Momente der drei Verknüpfungsfunktionen gebraucht werden können. Damit ist der Nachweis der Vollständigkeit der von Kant berücksichtigten Urteilsfunktionen einerseits unter drei Aspekten erbracht und andererseits unter einem vierten Aspekt vorbereitet: 1.) Alle diese Urteilsfunktionen können mit Hilfe des konditionalistischen Auswahlkriteriums und unter Rückgriff auf Formen der alltäglichen formalen Urteilsbildung gesammelt (Krüger) und als konditionale Urteilsfunktionen bzw. als deren Momente interpretiert und beurteilt werden; 2.) die drei konditionalen Urteilsfunktionen erschöpfen als konditionale die mit ihrer Hilfe möglichen formalen Verknüpfungen von Vorstellungen zugunsten von Urteilsformen, wobei der disjunktiven Urteilsfunktion schon innerhalb dieser Gruppe eine eminente Verknüpfungsfunktion zufällt – mit ihrer Hilfe und unter Zuhilfenahme der innerlogischen Reflexion auf die stillschweigende Form des Gebrauchs von Bejahung und Verneinung zur Charakterisierung der Rollenkommutativität in der (konditional-)kategorischen und in der hypothetischen Urteilsform können diese beiden Urteilsformen verbunden werden; 3.) alle anderen Urteilsfunktionen (logische Qualitäten, Quantitäten und Modalitäten) können als Momente dieser drei Verknüpfungsfunktionen interpretiert und beurteilt werden und schrittweise wiederum mit Hilfe der disjunktiven Urteilsfunktion in integrierenden logischen Formen verflochten werden; 4.) diese Form des Nachweises der Vollständigkeit bereitet eine externe Verstärkung dieses Nachweises vor, indem sie mit dem Anspruch verbunden wird, daß sie – und zwar nur sie – für die Metaphysische Deduktion der Kategorien tauglich ist.

Dimensionen des Urteilsgegenstandes I 

11. Die urteilsfunktionalen Kategorien: Die metaphysische Deduktion der Kategorien Zu den selbstverständlichsten Voraussetzungen von Kants philosophischer Arbeit in der kritischen Epoche seines Denkens gehört, daß der Philosophierende die Aufmerksamkeit seiner Reflexionen und Analysen mit dem größten Gewinn auf diejenigen Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung richten kann, von denen für ihn selbst wie für jeden anderen Menschen auch die Fruchtbarkeit des ›fruchtbaren Bathos der Erfahrung‹ abhängt. Indessen könnte sich die Möglichkeit dieser Erfahrung genauso wenig wie ihre Fruchtbarkeit jemals auch nur im mindesten zeigen, geschweige denn bewähren, wenn die Menschen sich an Urteilen nicht wenigstens versuchen könnten und würden, die sie mit einem Anspruch auf objektive Gültigkeit oder Wahrheit verbinden. Kants Paradigmen für solche Urteile gehören deswegen auch der ›gemeinsten Erfahrung‹ an und können daher von jedem Menschen in Formen wie Die Sonne erwärmt den Stein getroffen, erprobt und bewährt werden. Am Ende der Präsentation der von ihm konzipierten Urteilsfunktionen bzw. logischen Urteilsformen ist Kant in methodischer Hinsicht noch weit davon entfernt, die volle Struktur solcher Erfahrungsurteile durchsichtig machen zu können. Umso konsequenter ist gerade in methodischer Hinsicht die Aufgabe, die Kant ins Auge faßt, um der Einsicht in diese Struktur wenigstens durch den am nächsten liegenden Schritt näher zu kommen. Dieser Aufgabe hat er den Titel einer »metaphysischen Deduktion«1 gegeben. Sie besteht im Rahmen von Kants Beschreibung darin, daß »der Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens dargetan«2 wird. Zweifellos informiert Kant 1 B 159, Kants Hervorhebungen. Vor allem Rolf Peter Horstmann, Die metaphysische Deduktion in Kants »Kants Kritik der reinen Vernunft«, in: B. Tuschling (Hg.), Probleme der »Kritik der reinen Vernunft«. Kant-Tagung Marburg 1981, S. 15–33, hat im Gegenzug zu vielen anders orientierten Auffassungen – z. B. denen von Jonathan Bennett, Peter F. Strawson, Robert P. Wolff, vgl. S. 15–20 – zu Recht daran erinnert, daß »Im Rahmen des Kantischen Deduktionsprogramms der Kategorien […] die metaphysische Deduktion eine unerläßliche Voraussetzung für die Möglichkeit der transzendentalen Deduktion [ist]«, S. 33, und durch eine Mehrzahl trefflicher Hinweise selbst die Möglichkeit zu eröffnen gesucht, dies Kantische Programm wieder so ernst zu nehmen, wie es dies verdient; vgl. hierzu unten S. 257, Anm. 20. 2 Ebd.

252

Dimensionen des Urteilsgegenstandes I

damit noch einmal in unmißverständlicher Weise darüber, daß er sich mit Blick auf die Seiten A 76, B 102–113 den Nachweis der strikten Korrespondenz zwischen den Urteilsfunktionen und den Kategorien zuschreibt – und damit jedenfalls und mindestens den Nachweis, daß es sich bei den Kategorien im strikten Sinne um Funktionalbegriffe handelt. Neu ist sowohl mit Blick auf Kants Werkstattgeschichte wie mit Blick auf die buchtechnische Gestaltung der Ersten Kritik zunächst lediglich der nachgetragene methodologische Titel dieses Typs von Nachweis als dem einer metaphysischen Deduktion. Umso mehr fällt auf, daß Kant sich in dem für die Bearbeitung dieser Aufgabe reservierten Abschnitt »Von den reinen Verstandesbegriffen oder Kategorien« damit begnügt, ausschließlich die Korrespondenz zwischen den Urteilsfunktionen und den Kategorien sowie ihre unterschiedlichen, wenngleich analogen einheitstiftenden Funktionen in abstrakter Form und durch terminologische Festlegungen zu skizzieren. Eine sorgfältige und methodisch durchdachte Schrittfolge, die einen nachvollziehbaren Weg von der Konzeption der Urteilsfunktionen zur Konzeption der Kategorien aufzeigen würde  – also eine Metaphysische Deduktion, die diesen Namen wirklich verdienen würde –, sucht man hier vergeblich. Den sowohl in sachlicher wie in methodischer Hinsicht wichtigsten Punkt übergeht er hier mit völligem Stillschweigen: Er gibt hier nicht den geringsten Wink, der darüber orientieren könnte, aus welcher konkreten und von der Behandlung der Urteilsfunktionen zu Recht als unerledigt hinterlassenen Aufgabe sich auch nur eine einzige gezielte Frage in plausibel zwingender Form ergeben könnte, auf die mit Hilfe der Konzeption von so etwas wie einer – oder mehr als einer – Kategorie geantwortet werden könnte. Umso bemerkenswerter ist es, daß Kant sogar in den immerhin fünf §§ 10–14, die in der zweiten Auflage der Ersten Kritik insgesamt auf die Transzendentale Deduktion der Kategorien vorbereiten, lediglich auf einem einzigen Drittel einer einzigen Seite der zweiten Auflage – und dies auch noch im Stil eines gerade noch rechtzeitig bedachten Nachtrags – den ›springenden Punkt‹ wenigstens berührt. Um diese von Kant nicht im strikten Zusammenhang gegebene, geradezu flüchtige Orientierungshilfe gleichwohl systematisch zugunsten der Metaphysischen Deduktion der Kategorien nutzen zu können, ist es zunächst nötig, sich daran zu erinnern, daß die »allgemeine Logik […] von aller Beziehung [der Erkenntnis] auf das Objekt [abstrahiert], und […] nur die logische Form […] des Denkens überhaupt [betrachtet]«.3 Im Schutz dieser Abstraktion gelingt es der allgemeinen Logik mit Hilfe der für sie charakteristischen »logische[n] 3 A 55, B 79. Es ist wegen der für die vor-kantische Tradition und für Kants Zeitgenossen selbstverständliche Konzentration der Logik auf die ›logische Form des Denkens überhaupt‹ völlig unverständlich, wie Brandt, Urteilstafel, behaupten kann, daß »Quantität, Qualität und Relation den Inhalt eines Urteils ausmachen, zu dem dann aus bestimmten Gründen noch die Modalität hinzutritt«, S. 5, Hervorhebungen R. E.

Die urteilsfunktionalen Kategorien Die urteilsfunktionalen Kategorien

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Reflexion«4 nicht nur, »die logische Form eines Urteils«5 zu klären, sondern darüber hinaus sogar, die solche logischen Formen prägenden »Funktionen der Einheit in den Urteilen vollständig«6 darzustellen. Doch an diesem Punkt seiner Untersuchungen rekurriert Kant auf die gänzlich vor-theoretische und vor-philosophische Selbstverständlichkeit, daß wir Menschen sowohl in unserem nicht-wissenschaftlichen wie in unserem wissenschaftlichen Alltag Urteile nicht nur intendieren, sondern auch von alters her immer wieder gewinnen, deren empirische Bewährungsgrade so hoch sind, daß wir sie mit einem entsprechenden Grad von Berechtigung auch mit einem Anspruch auf objektive Gültigkeit bzw. objektive Wahrheit verbinden – also auf Gültigkeit für bzw. auf Wahrheit über Gegenstände, die so, wie wir sie beurteilen, auch unabhängig davon existieren, ob wir sie überhaupt beurteilen oder nicht. Doch die Radikalität, mit der Kant die Gründe der Berechtigung solcher Ansprüche seinen Fragen aussetzt, zeigt sich an diesem Punkt gerade in ihrem Kontrast zu der Selbstverständlichkeit, mit der wir diese Berechtigung alltäglicherweise stillschweigend in Anspruch nehmen: »Was versteht man denn, wenn man von einem der Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstand redet?«.7 Die Radikalität dieser Frage zeigt sich nicht zuletzt in dem rhetorischen Ton der Skepsis, mit dem sich Kant hier von der Selbstverständlichkeit distanziert, mit der wir alltäglicherweise unterstellen, daß ›man‹ wenigstens sich selbst ›verstehe‹, wenn man von einem ›Gegenstand einer ›objektiv‹ gültigen Erkenntnis oder einem ›objektiv‹ wahren Urteil ›redet‹. Doch der thematische Kontext kann andererseits auch nicht den leisesten Zweifel daran aufkommen lassen, daß es Kant hier nicht im mindesten darum geht, eine um ihrer selbst willen gestellte skeptische Frage nach dem Sinn solcher Redeweisen zu behandeln. Mit der skeptischen Radikalität seiner Frageform signalisiert er lediglich, daß er mit der von ihm programmatisch in Aussicht gestellten Rechtfertigung, also Deduktion(!) der Begriffe, »die a priori auf Objekte gehen«,8 gleichsam bei Null anfangen muß. Denn trotz der Vorarbeit seiner Allgemeinen Logik der Urteilsfunktionen steht er mit dem Programm einer solchen Rechtfertigung ebenso wie das um solche Rechtfertigungen noch ganz unbekümmerte Selbstverständnis unseres Alltags am Nullpunkt. Es handelt sich bei einer solchen Deduktion nun einmal um ein Unternehmen, »welches die allgemeine Logik nicht leisten kann«.9 Wie unscheinbar geringfügig  – und damit auch: wie außerordentlich vorsichtig – die Schritte sind, die Kant im Ausgang von diesem Nullpunkt tut, um 4 A 262, B 319. 5 A 79, B 105. 6 A 69, B 94. 7 A 104. 8 A 79, B 105. 9 Ebd.

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Dimensionen des Urteilsgegenstandes I

seine ›Deduktion‹ auch bloß vorzubereiten, zeigt der Umstand, daß er mit einer etymologischen Erwägung beginnt: »[…] dieser Gegenstand … etwas überhaupt = X … [wird] als dasjenige angesehen […], was dawider ist, daß unsere Erkenntnisse nicht aufs Geratewohl, oder beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt seien«.10 An dieser etymologischen Zurückführung der NominalGrammatik von Gegen-Stand auf die Präpositional-Grammatik des Dawider [-stehens] sind zwei Momente von Wichtigkeit. Zum einen ist sie in Verbindung mit der Wendung vom ›Geratewohl‹ und vom ›Beliebigen‹ der Erkenntnis nur dann überhaupt widerspruchsfrei, verständlich und sachlich begründbar, wenn man von Anfang an berücksichtigt, daß für Kant ›alle Erkenntnis in Urteilen besteht‹. Denn selbstverständlich versteht es sich auch für Kant von selbst, daß jede Erkenntnis alleine schon ihrem Begriff nach wohlbestimmt ist und nicht einem ›Geratewohl‹ oder ›Belieben‹ ausgesetzt. Erst eine genaue Berücksichtigung der formalen Struktur der Urteile kann, wie sich zeigen wird (vgl. unten S.  256–272), gerade unabhängig vom typischen Erfolgscharakter der Erkenntnisse den Blick für die den logischen Formen der Urteilen immanente Bedingung öffnen, die sie an sich für ein ›Geratewohl‹ bzw. ›Belieben‹ anfällig macht, wie sie nur durch das apostrophierte ›Dawider‹ des Gegenstands der Erkenntnis verhindert werden kann. Doch gerade damit hängt es zum anderen wiederum unmittelbar zusammen, daß Kants präpositionale Dawider-Etymologie der Rede vom Gegenstand (der Erkenntnis) der Vorbereitung auf eine Überlegung dient, die ihrerseits ein vorläufiges innertheoretisches Defizit überwinden soll. Dies vorläufige Defizit muß und kann Kant in seiner Theorie sogar nur allzu offensichtlich angesichts von Schritten in Kauf nehmen, wie sie ausschließlich durch die methodische Einstellung der Allgemeinen Logik erzwungen werden können  – durch deren planmäßige, ihrer methodischen Unzuständigkeit geschuldeten Abstraktion vom Gegenstand der Erkenntnis bzw. der Urteile bzw. der Erkenntnisurteile. Es ist dies methodisch bedingte Defizit, das Kant indirekt thematisiert, wenn er die Aufmerksamkeit auf ein Geratewohl bzw. auf eine Beliebigkeit lenkt, denen er die Erkenntnis mit ihrer charakteristischen Intention auf einen ›korrespondierenden‹ und von ihr ›unterschiedenen‹ Gegenstand im Rahmen seiner Theorie aussetzen würde, wenn er nicht in angemessener Weise die Bedingung berücksichtigen würde, die als das Dawider dieses Geratewohl bzw. dieser Beliebigkeit in Frage kommt. Doch an welchem wohlbestimmten Punkt seiner Theorie eröffnet sich die methodisch unausweichliche Aussicht auf ein Defizit der Allgemeinen Logik, das nur dadurch überwunden werden kann, daß man eine Bedingung findet, die in der Rolle eines spezifischen Dawider dazu beiträgt, daß die Erkenntnis mit ihrem charakteristischen 10 A 104; vgl. auch A 197, B 242: »Wenn wir untersuchen, was denn die Beziehung auf einen Gegenstand unseren Vorstellungen für eine neue Beschaffenheit gebe, und welches die Dignität sei, die sie dadurch erhalten«, Kants Hervorhebungen.

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Anteil an der ›Wahrheit über einen Gegenstand‹ nicht einem Geratewohl bzw. einer Beliebigkeit ausgesetzt ist? Es gehört zu den werkstattgeschichtlichen Geschicken von Kants Arbeit an der Metaphysischen Deduktion der Kategorien, daß es ihm erst im zweiten Arbeitsgang gelungen ist, den Punkt im Gefüge seiner Theorie so genau wie möglich zu markieren, an dem sich die Aussicht auf das Defizit eröffnet, das nur durch eine Deduktion dieses Typs überwunden werden kann. Dennoch ist es nur konsequent, daß Kant auf diesen Wendepunkt seiner Arbeit durch seinen Rückblick auf eine ganz bestimmte vorläufige Verlegenheit aufmerksam geworden ist: »Der Definition dieser Kategorien überhebe ich mich in dieser Abhandlung geflissentlich, ob ich gleich im Besitze derselben sein möchte«.11 Er gibt sogar zu bedenken: »[…] selbst können sie also nicht definiert werden«.12 Doch erst seine Begründung dieser Undefinierbarkeitsthese macht auf den Grund seiner vorläufigen Verlegenheit aufmerksam: »Ich verstehe hier die Realdefinition, welche nicht bloß dem Namen einer Sache andere und verständlichere Wörter unterlegt, sondern die, so ein klares Merkmal, daran der Gegenstand (definitum) jederzeit sicher erkannt werden kann und den erklärten Begriff zur Anwendung brauchbar macht, in sich enthält. Die Realerklärung würde also diejenige sein, welche nicht bloß einen Begriff, sondern zugleich die objektive Realität desselben deutlich macht«.13 Es muß hier nicht von einem heutigen Reflexions- und Analyseniveau der Definitionslehre aus14 beurteilt werden, ob sich Kant mit den hier formulierten formalen Anforderungen an eine von ihm so apostrophierte Realdefinition unnötigerweise in die von ihm selbst diagnostizierte Verlegenheit gebracht hat. Es darf auch offen bleiben, ob es sich bei der von ihm hier anvisierten Realdefinition nicht eigentlich um ein Kriterium handelt. Viel wichtiger ist der Umstand, daß Kant durch seine Arbeit an der zweiten Auflage der Ersten Kritik selbst den Gesichtspunkt erfaßt hat, unter dem man einsehen kann, welche genaue Form gleichsam der Janus-Kopf hat, mit dem man als Autor einer transzendentalen Theorie der Erfahrung einerseits gleichsam rückwärts auf das von der Allgemeinen Logik der Urteilsfunktionen unvermeidlicherweise hinterlassene Defizit blickt und mit dem man andererseits gleichsam vorwärts auf die Möglichkeit blickt, dies Defizit durch eine metaphysische Deduktion von Kategorien zu überwinden. Es geht bei dem unverkennbaren werkstattgeschichtlichen Fortschritt, der Kant in diesem Punkt gelungen ist, nicht einfach um den definitorischen Schritt, den er in der zweiten Auflage der ersten Kritik demonstriert. Denn erst hier ge11 12 13 14

A 82, B 108; vgl. A 241–242. A 245. A 241*. Vgl. hierzu die Basisinformationen bei Eike von Savigny, Grundkurs im wissenschaftlichen Definieren, München 1970, sowie Wilhelm K. Essler, Wissenschaftstheorie I. Definition und Reduktion, Freiburg Br. 1970.

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lingt es ihm, die Kategorien in einer förmlichen »Erklärung der Kate­gorien« als »Begriffe von einem Gegenstandüberhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen als bestimmt angesehen wird«,15 zu charakterisieren. Es geht vielmehr darum, zunächst Kants Charakterisierung des ausschlaggebenden Defizits gebührend zu beachten und im Licht dieser Charakterisierung den Leitgedanken ebenso gebührend herauszustreichen, mit dessen Hilfe dies Defizit im Rahmen der intendierten Metaphysischen Deduktion überwunden werden kann. Kant lenkt die Aufmerksamkeit auf dies spezifische Defizit, indem er am Leitfaden des Musterbeispiels der kategorischen Urteilsfunktion eine formale Eigenschaft der beiden logischen Rollen in Erinnerung ruft, die durch die kategorische Funktion festgelegt werden: »So war die Funktion des kategorischen Urteils die des Verhältnisses des Subjekt zum Prädikat, z. B. alle Körper sind teilbar. Allein in Ansehung des bloß logischen Gebrauchs blieb es unbestimmt, welchem von beiden Begriffen die Funktion des Subjekts, und welchem die des Prädikates man geben wolle«.16 Dieser Bemerkung zur innerlogischen Unbestimmtheit, also zum ›Geratwohl‹ bzw. zur Beliebigkeit der Rollenverteilung im kategorischen Urteil entspricht die Reflexion: »Logisch kann ein Begriff Subjekt oder Prädikat sein«.17 Den hier leitenden Gedanken hat Kant indessen in unmißverständ­ licher Weise verallgemeinert. Denn unter Aspekten der Allgemeinen Logik der Urteilsfunktionen »können wir nach Belieben logische functionen brauchen«.18 Da die Urteilsfunktionen als solche sowie ihre Eigenschaften ausschließlich unterschiedliche urteils-interne Formen des Gebrauchs von Vorstellungen stiften, findet man in dieser urteils­internen Struktur trivialerweise auch keinen Grund, der in der Rolle eines ›korrespondierenden‹ und vorstellungs-externen

15 B 128, Kants Hervorhebung; vgl. auch § 20. 16 B 128–129. Es ist zwar unübersehbar, daß Kant die Kommutativität der beiden logischen Rollen hier mit dem Rekurs auf die Gültigkeit der syllogistischen Konversionsregel verbindet, die eine solche Kommutation nur für den Schritt von einem positiven allgemeinen zu einem positiven partikularen Urteil erlaubt. Doch nach dem Kriterium des beliebigen Gebrauchs logischer Funktionen ist diese Kommutation von der Gültigkeit dieser Regel nicht abhängig. Auch hier formuliert Kant aus didaktischen Gründen im vertrauten Horizont des logisch gebildeten Publikums seiner Zeit. 17 R 5931. 18 R 4672. Auch Kitcher, Thinker, berücksichtigt diese Reflexion, vgl. 2214, macht von ihr aber keinen Gebrauch, um zu klären, in welchen Formen die Kategorien ganz unabhängig von ihrer möglichen Anwendung auf »sensory data«, S. 220–222, zur bestimmten (determined) Verteilung der logischen Rollen im Urteil beitragen. Die Metaphysische Deduktion der Kategorien ist daher für sie auch gar kein prominentes Thema, obwohl die von ihr im ganzen Zusammenhang zitierte Passage B 128–129, vgl. S. 236, innerhalb der zweiten Auflage der Ersten Kritik geradezu das paradigmatische Beispielmaterial für eine solche Deduktion der Substanz-Kategorie bietet.

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›Gegenstandes der Erkenntnis‹ dafür in Frage käme, ›dawider‹ zu sein, daß die im Urteil in unterschiedlichen logischen Rollen gebrauchten Vorstellungen nicht ›aufs Geratewohl oder beliebig‹, also in beliebig wechselnden logischen Rollen gebraucht werden können. Kant gibt also im Licht der Konzeption der Urteilsfunktionen zu verstehen, daß eine Logik durch einen wohlbestimmten ersten Schritt über die Analyse der logischen Gebrauchsrollen von Vorstellungen in Urteilen hinausgehen können muß, wenn sie planmäßig transzendentale Intentionen verfolgt. Durch diesen Schritt muß sie zu klären suchen, ob und gegebenenfalls inwiefern diese Urteilsfunktionen zur Möglichkeit objektiv gültiger bzw. objektiv wahrer Erkenntnisurteile beitragen können, obwohl die formallogische, urteilsinterne ›Beliebigkeit ihres Gebrauchs‹ durch das ›Dawider‹ solcher Gegenstände dieser Urteile bzw. der mit ihnen verbundenen Erkenntnisansprüche ausgeschlossen ist. Diese Klärung ist Kant durch die Überlegung gelungen, daß das ›Dawider‹ nichts anderes als der formale Grund dafür ist, daß das »obiect […] überhaupt […] in Ansehung einer logischen Function der Urtheile a priori an sich bestimmt ist«.19 Sofern der Autor eines Urteils mit diesem Urteil einen Anspruch auf objektive Gültigkeit bzw. Wahrheit verbindet, gibt er in logischer Hinsicht zu verstehen, daß er über einen noch zu konkretisierenden hinreichenden Grund verfügt, die von ihm gebrauchte Urteilsfunktion nicht ›aufs Geratewohl‹ bzw. nach Belieben, sondern in wohlbestimmter Form zu gebrauchen, beispielsweise: »Ich werde […] nicht, was ich will, als Subjekt ansehen, oder wie ich will, entweder als subiekt oder praedicat, sondern es ist bestimmt als subiect«.20 Der Gegenstand, mit Blick auf den ein Urteilender einen solchen Anspruch erhebt, fungiert nicht nur als hinreichender Bestimmungsgrund ›dawider‹, daß eine Urteilsfunktion ›aufs Geratewohl‹ bzw. nach Belieben gebraucht wird. Im selben Atemzug fungiert er ebenso als hinreichender Bestimmungsgrund dafür, daß sie in wohlbestimmter Form gebraucht wird. Kategorien sind also insofern Be-

19 R 5932, S. 392, Kants Hervorhebungen. 20 R 4672. Horstmann, Deduktion, mahnt zu Recht an »Zu klären […], in welchem Sinne die Kategorien den Urteilsformen entsprechen, wie also genau die Beziehung zwischen Kategorien und Urteilsformen aufgefaßt werden muß«, S.  3314, Hervorhebungen R. E. In dem aus diesem Aufsatz und einer amerikanischen Über­setzung hervorgegangenen Aufsatz: Die Funktion der metaphysischen Deduktion in Kants Kritik der reinen Vernunft, in: ders. Bausteine kritischer Philosophie. Arbeiten zu Kant, Bodenheim 1997, S. 55–78, hat Horstmann leider nicht versucht, die von ihm selbst zu Recht gestellten In-welchem-Sinne- und Wie-Fragen zu beantworten, also auch nicht genau; er beschränkt sich darauf zu signalisieren, daß er sich den hermeneutischen und sachlichen Aporien von Wolff, Activity, Strawson, Bounds, und Bennett, Analytic, anschließt, vgl. S.  58–61, und seine schon 1984 formulierten Programm-Fragen zu wiederholen, vgl. S.  75 f. Zu einem Versuch, diese Fragen zu beantworten vgl. unten S. 260–269.

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griffe von Gegenständen in den Rollen von hinreichenden Gründen des wohlbestimmten Gebrauchs von Urteilsfunktionen.21 Damit kommt unter einem neuen Aspekt die exklusive Schlüsselrolle noch einmal zum Zuge, die die assertorische Modalität für die Möglichkeit spielt, mit Mitteln der formal-logischen Reflexion gleichsam den richtungweisenden Blick über die Grenze zu werfen, jenseits von der die transzendental-logische Re­flexion beginnt. Denn sie ist es, die von Hause aus nach den Formen fragt, in denen Urteile in den vom Gebrauch der Urteilsfunktionen geprägten Formen auf einen ›Gegenstand = X‹ bezogen werden können. Sie ist es daher auch, die zuständig für die Frage nach dem hinreichenden Grund ist, dessen Rolle dieser ›Gegenstand = X‹ sowohl in negativer wie in positiver Hinsicht spielt: in negativer Hinsicht insofern, als er der hinreichende Grund ›dawider‹ ist, logische Funktionen ›aufs Geratewohl‹ bzw. nach Belieben zu gebrauchen, also ›dawider‹, daß die Verteilung der logischen Rollenträger im Urteil nicht bestimmt ist; in positiver Hinsicht also insofern, als er der hinreichende Grund zugunsten der bestimmten logischen Rollenverteilung ist. Es ist daher nur konsequent, daß Kant die assertorische Modalität eines Urteils zum thematischen Brennpunkt seiner Überlegungen zur Rolle des Satzes vom zureichenden Grund macht.22 21 Diese logische Status- und Rolleneigenschaft der Kategorien, schon von Hause aus als (hinreichende)  Gründe zu fungieren, macht Kant selbst fruchtbar, wenn er in einem schon weiter fortgeschrittenen Teil der Transzendentalen Deduktion auf diese formalfunktionale Eigenschaft zurückgreift und davon spricht, daß »die Kategorien […] die Gründe der Möglichkeit der Erfahrung enthalten«, B 167, Hervorhebung R. E. und damit auf die Grund-Sätze verweist, »die sich auf die Kategorien beziehen«, A 149, B 188; vgl. hierzu Zweiter Teil, 14. Ab. Diese Zusammenhänge verkennt Brandt, Urteils­tafel, wenn er Erwägungen über die »ratio essendi« und die »ratio cognoscendi« der Kategorien sowie über die bedingte Überflüssigkeit der Urteilstafel und über einen »Umweg«, S. 47, zu ihr anstellt. Wenn man die hier (vgl. oben S. 251–257) erörterte Form des Schritts von den Urteilsfunktionen zu den Kategorien so genau wie möglich, nötig und angemessen ernst nimmt, dann wird man die folgende Zusammenfassung minutiös korrigieren müssen, die Paton, Experience I, vom Zusammenhang der Urteilsfunktionen bzw. -formen und den Kategorien gibt: »We should now be able to understand why Kant believed that his various forms of judgement not only play the part in thinking assigned to them by Formal Logic, but also have at least a prima facie claim to determine the character of the objects judged«, I, 296, 2. Hervorhebung R. E. Doch, genau genommen, wird (durch die ›metaphysisch deduzierte‹) Kategorie nicht der Charakter des beurteilten Objekts bestimmt, sondern lediglich sein funktionaler Charakter  – sein Charakter, ›dawider‹ zu sein, daß die Träger von logischen Rollen im Urteil ›aufs Geratwohl‹ oder nach Belieben gebraucht werden. Deswegen kann Kant mit Blick auf den ein solches Objekt fungibel machenden Akt des denkend-urteilenden Subjekts auch argumentieren, daß »Durch eine reine Kategorie […], […] also kein Objekt bestimmt [wird], sondern nur das Denken eines Objekts überhaupt, nach verschiedenen modis, aus­gedrückt«, A 247, B 304, Hervorhebungen R. E. Bei den verschiedenen modis handelt es sich um die Urteilsfunktionen. 22 Vgl. hierzu auch – ungeachtet aller sonstigen Differenzen – die trefflich ausgewählten Kant-Belege bei Reich, Vollständigkeit, S. 73–76.

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Den Anfang macht eine Klärung des Begriffs des Grundes, die den springenden Punkt betrifft, der genau auf der Grenze zwischen der Formalen Logik der Urteilsfunktionen und der Transzendentalen Logik der urteilsfunktionalen Kategorien liegt: »Grund ist (im allgemeinen) das, wodurch etwas anderes (Verschiedenes) bestimmt gesetzt wird«.23 Damit ist klar, daß die ›bestimmt gesetzte‹ logische Rollenverteilung im Urteil auf einen (zureichenden) Grund verweist, der den Status eines ›Gegenstandes = X‹ der Urteile hat, sofern das denkend-urteilende Subjekt in Form der assertorischen Modalität einen Anspruch auf objektive Gültigkeit bzw. Wahrheit mit ihm verbindet. Mit Hilfe der Klärung des Begriffs des Grundes läßt sich daher mit Blick auf die assertorische Modalität des Urteils plausibel argumentieren, daß »Ein jeder Satz [assertorisches Urteil, R. E., VIII, 193*] […] einen Grund haben [muß], ist das (formale) Prinzip der Erkenntnis«,24 also »ein formaler und und logischer […] Grundsatz der Erkenntnis […], der schon in der Logik […] seinen Platz hat«.25 Jedenfalls und mindestens auf diese fast trivialen formalen Reflexionen Kants ist man angewiesen, wenn man die Grenzerörterung zu vervollständigen sucht, die den Schritt von der Formalen Logik der Urteilsfunktionen zur Transzendentalen Logik der Kategorien plausibel machen können: Die (relative) syntaktische Beliebigkeit des kommutativen Gebrauchs der Urteilsfunktionen26 (1) wird durch den Bezug auf den ›Gegenstand = X‹, mit Blick auf den das denkend-urteilenden Subjekt mit Hilfe des assertorischen Modus für sein Urteil einen Anspruch auf objektive Gültigkeit bzw. Wahrheit erhebt, aufgehoben (2), indem das Subjekt den ›Gegenstand = X‹ in der Rolle des hinreichend Grundes ›dawider‹ fungibel macht, die von ihm gebrauchten Urteilsfunktionen in unbestimmten Formen zu gebrauchen, bzw. dafür fungibel gemacht, sie in bestimmten Formen zu gebrauchen (3). Dieser Status eines ›Gegenstandes = X‹ eines solchen Urteils und diese Rolle dieses Gegenstandes, als ein solcher hinreichender Grund zu fungieren, werden von Kant unter dem Funktionalbegriff der (reinen) (urteilsfunktionalen) Kategorie zusammengefaßt. Dennoch ist diese Grenzerörterung – jedenfalls gemessen an den von Kant im Text präsentierten Elementen seiner Reflexionen und Analysen – noch nicht ganz vollständig, solange sie nicht um ein noch weiteres von Kant präsentiertes Element ergänzt wird. Denn Kant argumentiert bekanntlich, »daß unser Gedanke von der Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand etwas von Not-

23 XI, 35, Hervorhebung R. E. 24 VIII, 193. 25 194. 26 Diese Beliebigkeit gilt selbstverständlich nur innerhalb der syntaktischen Grenzen, die wiederum mit den von Kant berücksichtigten Urteilsfunktionen verbunden sind. Außerhalb dieser Grenzen können selbstverständlich auch in diesem Rahmen not-well-formed formulas entworfen werden.

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wendigkeit bei sich führe«.27 Indessen wird die auffällige formale Unbestimmtheit, mit der Kant hier ›etwas von Notwendigkeit‹ zu bedenken gibt, von ihm mit der zunächst nicht viel weniger rätselhaften etymologisierenden Rede von der Rolle des dawider erläutert, in der der Gegenstand der Erkenntnis – also der ›Gegenstand = X‹ – dazu beiträgt, daß unsere Erkenntnisse nicht ›aufs Geratewohl oder beliebig‹ bestimmt sind. Hat man jedoch erst einmal geklärt, daß es sich bei diesem dawider nur um die verkappte positive Rolle des hinreichenden Grundes handelt, in der der ›Gegenstand = X‹ zu dieser Bestimmtheit – nämlich zur Bestimmtheit der logischen Rollenverteilung im Urteil – beiträgt, dann ist auch der Weg eröffnet, auf dem es möglich ist, dem formal unbestimmten ›­ etwas von Notwendigkeit‹ sachgemäß gerecht zu werden. Das Licht, durch das sich dieser Weg zeigt, ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus Texten Kants, sondern durch eine an sich äußerst elementare formale Analyse des Begriffs der hinreichenden Bedingung, die Georg Henrik von Wright präsentiert hat: »That p is a sufficient condition of q would […] mean something like this: it is necessary that q obtains, if p obtains«.28 Löst man den formalen Kern dieser treff­lichen Analyse aus ihrem unmittelbaren propositionalistischen Kontext, dann bewahrt man gleichwohl die mit Blick auf Kants Gedankengang zwar elementare, aber immer noch äußerst aufschlußreiche begriffsanalytische Bestimmung, daß etwas Hinreichendes dasjenige, wofür es hinreichend ist, zu etwas Notwendigem macht. Unter der Voraussetzung, daß es die dawider-Rolle ist, die der ›Gegenstand = X‹ mit Blick auf logische Rollenverteilung im Urteil innehat, was ›etwas von Notwendigkeit bei sich führt‹, führt sie diese Notwendigkeit in der Rolle des hinreichenden Grundes mit sich, durch die sie jeweils eine bestimmte Form dieser Rollenverteilung im (Erkenntnis-)Urteil not­wendig macht. Die Durchführung einer metaphysischen Deduktion der Kategorien ist selbstverständlich etwas gänzlich anderes als eine noch so differenzierte begriffliche Charakterisierung der Funktion einer noch zu deduzierenden oder schon deduzierten Kategorie. Doch diese Durchführung hat Kant nirgends präsentiert. Überdies präsentiert Kant seine Charakterisierungen dieser Funktion in der abstrakten Mitteilungssprache der Logik, unternimmt jedoch ebenso wenig wie bei den Urteilsfunktionen einen Versuch, die Kategorien Schritt für Schritt mit Hilfe der ›technischen Methode selber an sich selbst und gegeneinander auszudrücken‹. Doch gerade weil eine solche Durchführung fehlt, gehört es zu den irritierenden Momenten von Kants Präsentation der Metaphysischen Deduktion der Kategorien in der abstrakten Mitteilungssprache der Logik, daß Kant die Kategorien hier ganz ohne reflektierende, analysierende und argumen27 A 107; vgl. auch A 106. 28 Von Wright, Causal Relation, S. 96; den konditionalen Suffizienzcharakter der Ursache charakterisiert ebenso, aber analysiert unter anderen Aspekten, schon C. D. Ducasse, On the Nature and the Observability of the Causal Relation (19261), in: dass., S. 114–125, bes. S. 119 f.

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tierende Schritte unter den durch die vor-›critische‹ Ontologie präformierten und sogar vorbelasteten Namen präsentiert. Am suggestivsten springt die irritierende Inkaufnahme dieser nominellen ontologischen Vorbelastung selbstverständlich bei der Übernahme der Kategorien-Termini substantia et accidens, Ursache und Wirkung und Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und dem Leidenden29 in die Augen.30 Umso beachtenswerter ist es, daß die urteilsfunktionale Revision des Begriffs der Kategorie, streng genommen, schon von sich aus geeignet ist, solchen ontologischen Irritationen vorzubeugen. Das einfachste prophylaktische Mittel, solche Irritationen zu vermeiden, besteht selbst­ verständlich darin, auf solche ontologisch vorbelasteten Namengebungen der Kategorien zu verzichten. Kant hat denn auch gelegentlich durchaus selbst die Möglichkeit genutzt, die gerade eine solche urteilsfunktionale Revision des Kategorienbegriffs eröffnet. So hat er bei einer solchen Gelegenheit beispielsweise nicht in ontologisierender Form von der Substanz gesprochen, sondern in rein urteilsfunktionaler Form von dem »Etwas […], das als Subjekt (ohne ein Prädikat von etwas andrem zu sein) gedacht werden kann«.31 Gelegentlich verschärft Kant diese Bestimmung durch einen unscheinbaren, aber äußerst wichtigen formalen Zusatz, indem er die reine Substanz-Kategorie als das Etwas thematisiert, »das bloß als Subjekt (ohne wovon ein Prädikat zu sein)«32 gedacht werden kann. Dem urteilsfunktionalen Kern des revidierten ontologischen KategorienBegriffs wäre es zwar offensichtlich um noch einen weiteren Grad angemessener, wenn man den Stufenunterschied zwischen dem logischen Subjekt des kategorischen Urteils und dem nicht-logischen Etwas, auf das man sich durch den 29 Vgl. A 80, B 106 f. 30 Paton, Experience, hat angesichts dieser Suggestionen auf eine nicht-ontologische Irritation dieser Namengebung aufmerksam gemacht: »Kant, by anticipation, gives to them [to the categories, R. E.] names which belong properly to the schematised categories«, I, S. 298, Hervorhebung R. E. Heidegger, Metaphysik, bringt die für die Schematisierung der Kategorien so wichtige Rolle der Einbildungskraft zwar durch eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem ›Dawider‹, vgl. S. 72–74., ins Spiel, vgl. S. 80–85. Er verkennt jedoch den rein funktionalen Charakter, der diesem ›Dawider‹ der Gegenstände von Urteilen mit Blick auf das rein logische ›aufs Geratewohl‹ und Belieben des Gebrauchs von Vorstellungen in formalen Rollen in Urteilen zukommt. Lediglich Vleeschauwer, La Déduction, stellt frühzeitig klar, daß »en soi, les catégories sont indépendantes de la forme spécifique de l’intuition«, III, S. 472. 31 A 147, B 186; vgl. auch B 149: »etwas, das als Subjekt, niemals aber als bloßes Prädikat existieren kann«. Peter F. Strawson, The Bounds of Sense. An Essay on Kant’s Critique of Pure Reason, London 1966, sieht angesichts seiner Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen Urteilsfunktionen und Kategorien, vgl. S.  74–83, keine andere Möglichkeit, Kants Konzeption der Substanz-Kategorie fruchtbar zu machen als in Form »of Kant’s schematized category of substance«, S. 83, »corresponding to the logical distinction of individual »name« (definite referring expression) and predicate-expression«, S. 82; die A 147, B 186 strikt urteilsfunktional konzipierte reine Kategorie der Substanz berücksichtigt er nicht; vgl. hierzu auch unten S. 273, Anm. 65. 32 A 242, B 300, Hervorhebung R. E.

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Gebrauch einer Vorstellung in dieser logischen Rolle bezieht, berücksichtigt. Man kann dann von einem Etwas sprechen, das bloß als Gegenstand des (logischen) Subjekts eines Urteils gedacht werden kann, ohne Gegenstand des (logischen) Prädikats eines Urteils zu sein.33 Doch zunächst kann durch einige relativ einfache Paraphrasierungsschritte gezeigt werden, inwiefern das unscheinbare ›bloß als Subjekt gedacht werden können‹ lediglich eine Paraphrase von ›notwendigerweise als Subjekt gedacht werden‹ bzw. von ›als Subjekt gedacht werden müssen‹ bildet. Der erste Schritt besteht in der Erinnerung daran, daß das ›bloß‹ in diesem Zusammenhang nichts anderes bedeutet als ›nur‹ im Sinne von ›ausschließlich‹. Doch ›nur als Subjekt gedacht werden können‹ bedeutet dann nichts anderes als ›nicht anders denn als Subjekt gedacht werden können‹. Und das ist offensichtlich gleichbedeutend mit ›als Subjekt gedacht werden müssen‹ bzw. ›notwendigerweise als Subjekt gedacht werden‹. Unter diesen Voraussetzungen gibt Kant (A 104) durch die formal teils unbestimmte und teils etymologisierende Charakterisierung der ›dawider‹-Rolle des ›Gegenstandes X =‹ der Erkenntnis bzw. der Erkenntnisurteile zu verstehen, daß dieser Gegenstand in der Rolle des hinreichenden Grundes für die wohlbestimmte logische Rollenverteilung im Urteil insbesondere die Rolle innehat, diese Rollenverteilung notwendig zu machen. Bei der reinen Substanz-Kategorie handelt es sich unter diesen Voraussetzungen um die Kategorie des Etwas, das notwendigerweise als Gegenstand des (logischen) Subjekts eines Urteils gedacht wird, ohne Gegenstand des (logischen) Prädikats eines Urteils sein zu können. Ausschlaggebend für eine Schritt-für-Schritt-Durchführung der Metaphysischen Deduktion der Kategorien ist daher der Umstand, daß Kant gelegentlich direkt zeigt, daß und wie er selbst auf dem Weg ist, eine von allen vor-›critischen‹ ontologischen Präformierungen freie, rein urteilsfunktionale Charakterisie33 Eine solche urteilsfunktionale Gegenstandscharakterisierung ist offensichtlich um keinen Deut weniger legitim als eine ontologische Charakterisierung im Sinne von Qui­ nes so prominent gewordenem Ontologie-Kriterium »To be assumed as an entity is […] to be reckoned as the value of a [bound, R. E.] variable«, Willard V. Orman Quine, On what there is (19481), wieder abgedr. in: ders., From a Logical Point of View (19531), Cambridge, Mass. and London 1980, S. 1–19, hier: S. 13. In der Sprache der Referenz-Theorie also To be assumed as an entity is to be reckoned as the object of reference of a bound variable. Formuliert man die Substanz-Kategorie in der Sprache Quines, aber mit der Konzeption, die Kant ihr an der zitierten Stelle gibt, dann erhält man: To be assumed as a substance is to be reckoned as something, which can be reckoned only as the object of reference of the (logical) subject of a (conditional-)categorical judgement and of no other logical role-bearer of a judgement. Doch ganz unbeschadet der Legitimität solcher Charakterisierungen bleibt selbstverständlich entscheidend, ob und vor allem wie ihr jeweiliger Autor sie im Rahmen seiner Theorie rechtfertigt (›deduziert‹) und fruchtbar macht. Kants zweiter Rechtfertigungsschritt seiner urteilsfunktionalen Revision der Kategorien erfolgt im Rahmen ihrer Transzendentalen Deduktion, sein dritter Schritt im Rahmen ihrer Schematisierung.

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rung der Kategorien zu gewinnen. Unter diesen Vorzeichen ist die vorliegende Untersuchung durch ihre Rekonstruktion der Urteilsfunktionen die Verpflichtung eingegangen zu zeigen, wie eine solche Schritt-für-Schritt-Charakterisierung unter Rückgriff auf die schon rekonstruierten Urteilsfunktionen gelingen kann. Dabei ist der erste Schritt auf diesem Weg durch den letzten Schritt der Rekonstruktion der Urteilsfunktionen indirekt schon vorbereitet. Denn durch Kants Frage, ›was man denn versteht, wenn man von einem der Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstand = X redet‹, wird die Erinnerung an das Fernziel der Transzendentalen Logik innerhalb der Transzendentalen Analytik zu Hilfe genommen. Diese Erinnerung soll helfen, plausibel zu machen, daß das urteilsinterne formale Verhältnis der Vorstellungen z. B. in einem kategorischen Urteil34 strikt unterschieden werden müsse von dem Urteils-»Verhältnis, das objektiv gültig ist«.35 Die Formale Logik in Gestalt der Konzeption der Urteilsfunktionen hat von Hause aus nicht die Möglichkeit, dies ›objektiv gültige‹ Verhältnis auch nur zu thematisieren. Als eine Ausnahme innerhalb ihrer methodischen Möglichkeiten findet sich lediglich eine einzige »Modalität«36, weil die »assertorische […] von logischer Wirklichkeit oder Wahrheit [sagt]«,37 mithin von objektiver Gültigkeit. Einen Fehler begeht die Formale Logik mit der Konzeption der Modalitäten und insbesondere der assertorischen Modalität des Urteils gleichwohl deswegen nicht, weil »sie nichts zum Inhalt des Urteils beiträgt, […] sondern nur den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht«.38 Der erste Schritt in die Metaphysische Deduktion der Kategorien stimmt also insofern mit dem letzten Schritt in der Methodik des Gefüges der Urteilsfunktionen überein, als dieser letzte Schritt noch innerhalb dieses Gefüges berücksichtigt, daß die Konzeption der Urteilsfunktionen von Anfang an in den Dienst an der Aufgabe gestellt ist, die formalen Bedingungen der objektiven Gültigkeit von Erkenntnis34 35 36 37 38

Vgl. B 140–141. B 142. A 74, B 99. A 75, B 101. A 75, B 100. Wegen dieser inhaltlichen Indifferenz der Modalität erinnert Reich, Vollständigkeit, zu Recht an den von Meier gebrauchten Terminus modus formalis, vgl. S. 58 bzw. 5834. Im übrigen ist es gerade in diesem Zusammenhang förmlich mit Händen zu greifen, wie Kant zumindest der Darstellung seiner Theorie immer dann geradezu Fesseln anlegt, wenn er sich aus der Konzentration auf das logische Paradigma der kategorischen Urteilsform nicht lösen kann. Denn z. B. an der Form des hypothetischen Urteils ist keine Copula im traditionellen Sinn des »Verhältniswörtchen[s] ist«, B 141, beteiligt, ohne daß hypothetische Urteile deswegen nicht assertorisch gebraucht werden könnten. Der assertorische Modus, in dem hypothetische Urteile gebraucht werden, ›modalisiert‹ stattdessen das Verhältnis zwischen zwei Urteilen, das durch die ›Verhältniswörtchen‹ wenn …, dann … ausgedrückt wird. Das Entsprechende gilt offensichtlich mit Blick auf das disjunktive Verhältnis zwischen zwei Urteilen.

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bzw. Erfahrungsurteilen zu analysieren. Der assertorische Modus gehört, wie es sich für eine Formale Logik gehört, zwar nicht zu diesen Bedingungen. Wohl aber ist er der formale Urteilsmodus, der gleichsam das Medium bildet, in dem der Urteilende seinen Anspruch jeweils geltend machen kann, daß sein Urteil die noch zu analysierenden Bedingungen der objektiven Gültigkeit, der logischen Wirklichkeit bzw. der Wahrheit erfüllt. Kants Frage, ›was man denn versteht, wenn man von einem der Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstand = X redet‹, thematisiert daher den möglichen Gegenstandsbezug von Urteilen konsequenterweise in der elementarsten Form. Denn sie thematisiert ihn ohne Rücksicht auf die an sich schon gewonnene Vielfalt der möglichen urteilsfunktionalen Differenzen. Es trifft sich daher günstig, daß Kant gerade in dem § 19 der zweiten Auflage der Transzendentalen Deduktion der Kategorien, der vor allem Fragen auf der Grenze zwischen Formaler und Transzendentaler Logik gewidmetet ist,39 durch eine exemplarische Analyse ein wenig mehr Licht auf diese elementare Form der Thematisierung des möglichen Gegenstandsbezug von Urteilen wirft. Denn hier spricht er gerade im Rückblick auf die kategorische Form des (mit Anspruch auf objektive Gültigkeit verbundenen) Urteils »der Körper […] ist schwer« davon, daß »diese beiden Vorstellungen […] im Objekt verbunden [sind]«.40 Obwohl Kant hier die kategorische Urteilsform berücksichtigt, verzichtet er auch hier darauf, die durch die urteilsfunktionalen Kategorien eröffnete Möglichkeit zu Hilfe zu nehmen. Denn mit ihrer Hilfe könnte er die ›Verbundenheit‹ von Körper und schwer ›im Objekt‹ leicht auch mit Hilfe der entsprechenden kategorialen Differenzierung behandeln: ›Im Gegenstand X des (Erkenntnis- bzw. Erfahrungs-)Urteils Der Körper ist schwer ist der Gegenstand der Vorstellung Körper (der v1-relative Gegenstand x) mit dem Gegenstand der Vorstellung schwer (dem v2-relativen Gegenstand x) so verbunden, daß 1. der Gegenstand der Vorstellung Körper (der v1-relative Gegenstand x) (notwendigerweise) als das Etwas fungiert, das als Gegenstand des Subjekts Der Körper ist … gedacht wird, ohne als Gegenstand des Prädikats … ist schwer fungieren zu können, und daß 2. der Gegenstand der Vorstellung schwer (der v2-relative Gegenstand x) (notwendigerweise) als das Etwas fungiert, das als Gegenstand des Prädikats … ist schwer gedacht wird, ohne als Gegenstand des Subjekts fungieren zu können‹.41 In der 39 Vgl. B 140–142. 40 B 142, Hervorhebung R. E. 41 Vleeschauwers, Déduction, Bemerkung, daß »La déduction métaphysique vient à la surface dans le § 19«, III, S.  231, Hervorhebung R. E., ist zwar zutreffend. Doch schon B 128–129 kommt ein paradigmatischer Schritt der Metaphysischen Deduktion zum ersten Mal an die Oberfläche. Klemme, Subjekt, sieht zwar das paradigmatische Material dieses Schritts, vgl. 203 f., verkennt aber nicht nur, daß es von Kant in methodischer Hinsicht im Zuge eines Schritts der Metaphysischen Deduktion der Kategorien verwendet wird. Vor allem spielt im Rahmen seiner Thematisierung von »Kants Programm einer

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entsprechenden Darstellungssprache der logischen Reflexionssprache kann die hier zunächst in der entsprechenden Mitteilungssprache präsentierte Kategorie von »substantia et accidens«42 dann vergleichsweise einfach so präsentiert werden (da Kategorien einen besonderen Typ von Begriffen und nicht von Urteilen bilden, obwohl sie als Funktional-Begriffe strikt den Urteils-Funktionen korrespondieren, ist für ihre Darstellung als Begriffe der Rückgriff auf die logischen Modalitäten überflüssig, da diese nur den Wert der Kopula im Urteil betreffen, also in Urteilen, die von Kategorien empirischen Gebrauch machen): (Ksubstanz/Akzidenz/I) [(v1x ⇒ v2x)X]. Unter den Vorzeichen der strikt konditionalistisch konzipierten Rekonstruktion der Urteilsfunktionen kann die so präsentierte kategoriale Struktur wegen ihres, der konditionalen Urteilsfunktion korrespondierenden Kerns in der entsprechenden Mitteilungssprache so charakterisiert werden: (KSubstanz/Akzidenz) im Gegenstand X des (Erkenntnis- bzw. Erfahrungs-)Urteils Der Körper ist schwer in der Form (v1x ⇒ v2x)X ist der Gegenstand der Vorstellung Körper (der v1-relative Gegenstand x) mit dem Gegenstand der Vorstellung schwer (dem v2-relativen Gegenstand x) so verbunden, daß 1. der Gegenstand der Vorstellung Körper (der v1-relative Gegenstand x) (notwendigerweise)  als das Etwas fungiert, das als Gegenstand der logischen Gebrauchsbedingung Der Körper ist … bzw. v1x ⇒ … in der kategorialen Rolle einer ›substantiellen‹ Bedingung gedacht wird, ohne als Gegenstand des bedingten logischen Gebrauchs von …ist schwer bzw. … ⇒ v2x in der kategorialen Rolle eines ›akzidentell‹ Bedingten gedacht werden zu können, und daß 2. der Gegenstand der Vorstellung schwer (der v2-relative Gegenstand x) (notwendigerweise) als das Etwas fungiert, das als Gegenstand des bedingten Gebrauchs von …ist schwer bzw. … ⇒ v2x in der kategorialen Rolle eines ›akzidentell‹ Bedingten gedacht wird, ohne als Gegenstand der logischen Gebrauchsbedingung Der Körper ist … bzw. v1x ⇒ … in der kategorialen Rolle einer ›substantiellen‹ Bedingung eines ›akzidentell‹ Bedingten gedacht werden zu können. Da es sich bei beiden vorangegangenen Charakterisierungen von Urteilen der Form ├[(v1x ⇒ v2x)X] bzw. Der Körper ist schwer um (urteilsfunktionale) Charakterisierungen einer reinen, ›metaphysisch deduzierten‹ Kategorie handelt, wird in einem solchen Fall »eine[r] reine[n] Kategorie […] von aller Bedingung der sinnlichen Anschauung […] abstrahiert«.43 Der Körper, der im ›Gegenstand Deduktion der reinen Verstandesbegriffe«, S. 140–180, die Metaphysische Deduktion gar keine Rolle mehr. Hier hat Horstmann, Die metaphysische Deduktion, S. 33, vorzüglich klar gesehen und geurteilt, vgl. oben S. 251, Anm. 1. 42 A 80, B 106, Kants Hervorhebung. 43 A 247, B 304.

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= X‹ des Urteils Der Körper ist schwer mit Schwere verbunden ist, bildet insofern »das substratum der Erscheinung, dem alles in der Erscheinung bey­gelegt wird«44 – dem zwar im Rahmen von Kants exemplarischem Urteil Schwere als accidens comparativum beigelegt wird, aber dem im Rahmen anderer exemplarischer Urteile auch Leichtigkeit, Kälte, Wärme und alles andere ›in der Erscheinung‹ als accidens comparativum beigelegt werden könnte. Indessen liegt es in methodischer Hinsicht auf der Hand, daß Kants Beispiel eines Erfahrungsurteils am Ende von § 19 lediglich – aber immerhin – der Exposition der metaphysisch ›deduzierten‹ Kategorie von substantia et accidens dient. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß Kant in diesem Zusammenhang ein exemplarisches Urteil zu Hilfe nimmt, dessen Inhalt ein spontan denkendurteilendes Subjekt nur unter vielfältigen Rückgriffen auf die Bedingungen der sinnlichen Anschauung gewinnen kann. Denn es versteht sich von selbst – und zwar vor allem für Kant –, daß einer metaphysischen Deduktion der Kategorien mit den für sie alleine verfügbaren formalen Reflexions- und Analyse-Mitteln ein unmttelbarer Zugang zu irgendwelchen Erscheinungen wie Körpern und deren Schwere nicht offen steht. Aus dem Fundus dieser Mittel kann ihr aber genauso selbstverständlich nicht so etwas wie ein entsprechend konkreter hinreichender Grund zur Verfügung stehen, der ihr erlauben würde, direkt zu behaupten, daß die Rollenverteilung in dem Urteil Der Körper ist schwer mit der (konditional-)kategorischen der Form (v1x⇒v2x)X so und nicht anders, also notwendigerweise in der so bestimmten Form ausfalle. Und schließlich kann sie mit Hilfe dieser Mittel auch nichts direkt und definitiv über die kategorialen konditionalen Rolleneigenschaften eines Körpers und seiner Schwere ausfindig machen und behaupten. Das Argument der Metaphysischen Deduktion kann auf diesem formalen Reflexionsniveau lediglich besagen, daß das ­›etwas überhaupt = X‹ eines Urteils dieser Form als hinreichender Grund für diese bestimmte logische und diese bestimmte kategoriale Rollenverteilung fungiert bzw. vom denkend-urteilenden Subjekt (assertorisch) in Anspruch genommen wird. Deswegen kann auf diesem Reflexions- und Abstraktions­niveau ebenso ein Urteil mit kommutierten (konditional-)kategorischen Rollen der Form (KSubstanz/Akzidenz/II) [(v2x ⇒ v1x)X] bzw. ein konkretes exemplarisches Urteil der Form Der/die/das Schwere ist ein Körper präsentiert werden, um ausschließlich die Rolle eines hinreichenden Grundes zu charakterisieren, die dem ›etwas überhaupt = X‹ eines Urteils dieser Form ganz invariant gegenüber den urteils-internen Rollenverteilungen zufällt. Daß Kant die hier thematisierte kategoriale Struktur gerade mit Hilfe des exemplarischen Urteils Der Körper ist schwer thematisiert, ist offensichtlich – ebenso 44 R 5312.

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wie im Rahmen der vorangegegangenen Fallerörterungen von exemplarischen Wahrnehmungs- und exemplarischen Erfahrungsurteilen in den Prologomena – von einem methodischen Motiv bestimmt: Der Punkt soll in exemplarischer Form exponiert werden, an dem sich die Ergebnisse der abstrakten Metaphysischen Deduktion der Kategorien so mit den kategorialen Tiefenstrukturen alltäglicher Urteile berühren, daß sie zugunsten einer exemplarischen Analyse eben dieser Tiefenstruktur fruchtbar gemacht werden können. Wiederum ist die Personalunion des formal reflektierenden und analysierenden Transzendentalphilosophen mit einem Mitglied der species humana denkend-urteilender Subjekte von Urteilen wie Der Körper ist schwer eines der nicht wenigen, aber wichtigen methodologischen Indizien dafür, daß Kant die Transzendentalphilosophie planmäßig als eine formal-transzendentale Anthroplogie konzipiert – also als eine formal-transzendentale Anthropologie des Erkenntnisvermögens. Es ist unübersehbar, daß auch schon die allerersten konzentrierten Schritte einer Metaphysischen Deduktion der Kategorien  – zumal, wenn es lediglich die Schritte einer solchen Deduktion zugunsten einer einzigen Kategorie, der reinen Substanz- und Akzidenz-Kategorie (KSubstanz/Akzidenz) (vgl. oben S. 264–267) sind – erheblich über die in Kants Texten eindeutig nachvollzieh­ baren Schritte hinausgehen. Gleichwohl bildet die hier sich abzeichnende Disproportion nicht etwa ein Symptom für ein gravierendes Defizit in diesem Teil der Kantischen Theorie. Die größere Feinmaschigkeit der hier erprobten Re­ konstruktion der Metaphysischen Deduktion der Kategorie (KSubstanz/Akzidenz) und nicht zuletzt die beiden Formeln (KSubstanz/Akzidenz/I) und (KSubstanz/Akzidenz/II) erlauben vielmehr einen geschärften Blick auf die sachlichen Gründe, die Kants vergleichsweise sparsame Behandlung dieses Themas zumindest besser verständlich machen können. Denn der springende Punkt, durch den sich die urteilsfunktionalen, ›metaphysisch deduzierten‹ Kategorien von den Urteilsfunktionen unterscheiden, taucht in Kants Text lediglich an einigen wenigen, gänzlich disparaten Stellen eher wie ein flüchtiges Blinklicht auf. Kants Orientierung an der Frage nach der Struktur objektiv gültiger Erfahrungsurteile läßt dies Quasi-Blinklicht vor allem in Gestalt einer kruden Halbsymbolisierung wie »etwas überhaupt = X« bzw. »Gegenstand = X«, eines rätselhaft etymologisierenden »dawider« und eines teilweise formal unbestimmten ›etwas von Notwendigkeit‹ auftauchen (vgl. oben S. 259–262). Die einzigen klar identifizierbaren einschlägigen Elemente dieser Deduktion tauchen mehr oder weniger weit entfernt von ihrem angestammten Kontext auf: 1.) in Gestalt der exemplarischen Hinweise B 128–129, 142, daß Körpern im Licht der Kategorie der Substanz der »logische[…] Vorzug eigen«45 sei, nur als gegenständliche, urteilsfunktionale Korrelate von logischen Subjekten bestimmt zu sein und nicht von logischen Prädikaten bestimmt sein zu können; und 2.) in der immer 45 A 243, B 301.

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noch äußerst sparsamen, aber abstrakten kategorialen Phrase Etwas, welches bloß als Subjekt (ohne wovon ein Prädikat zu sein) stattfinden kann.46 Doch kategoriale Hilfsformeln wie [(v1x ⇒ v2x)X] sollen diesen extrem sparsamen Präsentationsformen direkt Rechnung tragen. Sie symbolisieren die dawider-Rolle des ›etwas überhaupt = X‹ bzw. des ›Gegenstandes = X‹ einerseits so sparsam wie möglich. Gleichzeitig symbolisieren sie aber ebenso sparsam die durch das dawider lediglich verkappte, aber ausschlaggebende Rolle eines hinreichenden Grundes. In dieser Rolle nimmt das denkend-urteilende Subjekt den dawider-›Gegenstand = X‹, den es intendiert, für die Berechtigung in Anspruch, einem Urteil die Form zu verleihen, in der es die so bestimmte logische Rollenverteilung der von ihm gebrauchten Vorstellungen verbindet mit der so bestimmten externen, kategorialen Rollenverteilung der urteilsfunktionalen Etwasse und nicht mit den umgekehrten Rollenverteilungen. Der die Grenze zum Verschwinden markierende springende Punkt der Metaphysischen Deduktion der Kategorien wird durch die syntaktische Stellung des ›etwas überhaupt = X‹ innerhalb der Hilfsformel [(v1x ⇒ v2x)X] so prägnant wie möglich zum Ausdruck gebracht. Diese Prägnanz kann sogar noch gesteigert werden, wenn man die Kategorie »(Ursache und Wirkung)«47 in der entspre­chenden Form präsentiert: (KUrsache/Wirkung) {[[(v1x

v2x)X]

[(v2x

v1x)X]]X}.

Die hier sich abzeichnende quasi-schematische Fortsetzung der KategorienPräsentation mit dem syntaktisch ›angehängten‹ Gegenstandssymbol ist jedoch kein Indiz für eine Banalisierung der Metaphysischen Deduktion der Kategorien. Sie entspricht vielmehr sogar der Anweisung Kants »… und so in allen übrigen Kategorien«,48 mit der er seine metaphysische Deduktion der Substanz-Kategorie B 128–129 abschließt, um nur allzu offensichtlich zu verstehen geben, daß die metaphysischen Deduktionen aller anderen Kategorien auch in seinem Sinne eine Angelegenheit einer quasi-schematischen Fortsetzung seiner eigenen exemplarischen Deduktion bilden. Die drei oben (vgl. S. 254–255) apostrophierten Blinklichter des etymologisierenden dawider, der kruden QuasiSymbolisierungen ›etwas überhaupt = X‹ bzw. ›Gegenstand = X‹ und die Kategorien-Phrase Etwas, welches bloß als Subjekt (ohne wovon ein Prädikat zu sein) stattfinden kann werfen zusammen tatsächlich die drei wichtigsten richtungweisenden Lichter sowohl auf die Konzeption der Kategorien wie auf das Ziel und den Weg ihrer ganzen Metaphysischen Deduktion: Sie sind konzipiert als Begriffe von Gegenständen, die vom denkend-urteilenden Subjekt als hin­ reichende Gründe der Berechtigung in Anspruch genommen werden können, 46 Vgl. A 242, B 300 – A 243, B 301. 47 A 80, B 105. 48 B 120.

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die logischen und die kategorialen Rollenverteilungen im Urteil und unter den urteilsfunktionalen Gegenständen eines Urteils mit Notwendigkeit zu bestimmen; sie werden mit dem Ziel ›deduziert‹ – also urteils-funktional konzipiert –, für jede Urteilsfunktion in spezifischer Form zu zeigen, inwiefern sie tauglich ist, einen solchen Gegenstand in der Rolle eines solchen hinreichenden Grundes konzipieren zu lassen; und sie werden auf dem Weg gewonnen, auf dem nach einem und demselben Schema der ›Gegenstand = X‹ mit Blick auf jede Urteilsfunktion als das ›etwas überhaupt = X‹ konzipiert wird, das vom denkend-urteilenden Subjekt in der jeweils urteils-funktional spezifischen Form in dieser Rolle in Anspruch genommen werden kann. Diese metaphysischen Deduktionen fallen so quasi-schematisch wegen der Invarianz aus, mit der der ›Gegenstand = X‹ immer wieder von neuem in derselben kategorialen Rolle dieses hinreichenden Grundes fungiert. Die einzigen Differenzierungen ergeben sich daraus, daß die gegenständlichen x-Korrelate der urteilsintern gebrauchten Vorstellungen v1x, …, vn x entsprechend den jeweils assertorisch beanspruchten Urteilsfunktionen in unterschiedlich bestimmten Formen im ›Gegenstand = X‹ verbunden sind – also z. B. in der Rolle eines Etwas, das notwendigerweise als Subjekt/Bedingung (ohne wovon ein Prädikat/Bedingtes zu sein) gedacht wird (bzw. umgekehrt!) oder in der Rolle eines Etwas, das notwendigerweise als Antecedens-Bedingung (ohne wovon ein Consequens-Bedingtes zu sein) gedacht wird (bzw. umgekehrt) oder in der Rolle von allen Etwassen zu fungieren, die notwendigerweise als Subjekte/Bedingungen (ohne wovon die Prädikate/Bedingten zu sein) gedacht werden (bzw. umgekehrt) oder in der Rolle von einigen Etwassen zu fungieren, die notwendigerweise als Subjekte/Bedingungen (ohne wovon die Prädikate/Bedingten zu sein) gedacht werden – ›und so in allen übrigen Kategorien‹. Angesichts der methodischen Probleme, die dem Kant-Leser die Zusammenhänge zwischen der Konzeption der Urteilsfunktionen und der Metaphysischen Deduktion der Kategorien fast auf Schritt und Tritt bereiten, mag es zum Zweck der besseren Trennschärfe nützlich sein, ausnahmsweise einmal einen systematischen Vorgriff zu Hilfe zu nehmen. Es geht darum, dem irrigen Eindruck vorzubeugen, als wenn die hier vorgeführten Charakterisierungen metaphysisch deduzierter Kategorien bereits zum Feld ihrer transzendentalen Deduktionen gehören würden. Es lohnt sich daher, am Leitfaden des Beispiels der Substanz-Kategorie zu berücksichtigen, wie sich die hier exemplifizierte metaphysische von der transzendentalen Deduktion dieser exemplarischen Kategorie unterscheidet.49 49 Wie groß die methodischen Schwierigkeiten sind, die Kant seinen Interpreten durch seine stiefmütterliche Behandlung der Metaphysischen Deduktion der Kategorien hinterlassen hat, kann das Beispiel eines so überaus kompetenten Interpreten wie Paton, Experience, I, S. 280–302, zeigen, der mit Blick auf diese Deduktion nie wirklich aus der Grauzone zwischen Urteilsfunktionen und schematisierten Kategorien herausfindet, bes. S. 297–300.

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Kant selbst hat den Übergang vom metaphysischen zu diesem transzendentalen Deduktionstyp mit aller wünschenswerten Deutlichkeit ins Auge gefaßt. Er wird durch die Frage nach den »Bedingungen irgendeines Gebrauchs [der Kategorien, R. E.] in Urteilen«50 eröffnet. Am instruktivsten gerade mit Blick auf den paradigmatischen Fall der nur noch nominellen, also nicht-ontologischen Substanz-Kategorie ist hier die Überlegung, durch die Kant verdeutlicht, wie sich diese Kategorie mit Blick auf diese Gebrauchsbedingungen – also im Licht ihrer transzendentalen Deduktion – von dieser Kategorie unter Abstraktion von diesen Gebrauchsbedingungen – also im Licht ihrer metaphysischen Deduktion  – unterscheidet: Ein »Objekt des Gebrauchs dieses Begriffs [wird] bestimmt«,51 wenn mit diesem Objekt »ein Dasein zu aller Zeit«52 verbunden ist, während es sich bei einem »Etwas […], welches bloß als Subjekt (ohne wovon ein Prädikat zu sein) stattfinden kann«,53 um das Objekt dieser Kategorie unter Abstraktion von diesen Gebrauchsbedingungen – den »Bedingungen der sinnlichen Anschauung«54  – handelt. Charakterisiert man den Gebrauch der Kategorie der nominellen Substanz wiederum im Licht ihrer strikt konditionalistischen urteilsfunktionalen Revision, dann bezieht man sich mit der logischen und der sinnlich anschaulichen Gebrauchsbedingung eines kategorischen Urteils (seinem logischen Subjekt) auf ein Etwas, das die zu aller Zeit erfüllte Bedingung von allem und jedem dadurch bedingten Etwas ist, das zu irgendeiner Zeit und vorübergehend als Objekt des im kategorischen Urteil bedingt Gebrauchten (seinem Prädikat) fungiert  – ›und so in allen anderen Kategorien‹, also unter strikter Berücksichtigung der ›Bedingungen der sinnlichen Anschauung‹ als der einzigen, die für den Gebrauch der Kategorien relevant sind, für ihre reine, also urteilsfunktionale Charakterisierung jedoch irrelevant. Diese knappe Abgrenzung des Resultats, das die Metaphysische Deduktion der Kategorien mit ihren Mitteln im günstigsten Fall zuwege bringen kann, gegen die Aufgabe, die zu absolvieren einer Transzendentalen Deduktion der Kategorien überlassen bleiben muß, ist aus zwei Gründen wichtig. Denn zum einen bleibt am Ende der Metaphysischen Deduktion der ›Gegenstand = X‹ mit Blick auf seinen Eigencharakter ein gänzlich unbestimmtes ›etwas überhaupt = X‹ auch dann, wenn sein funktionaler Charakter als hinreichender Grund der (notwendigerweise) bestimmten logischen Rollenverteilung im Urteil vergleichsweise komplex ist. Zum anderen wird auch durch eine noch so gelungene Transzendentale Deduktion nicht eine Einsicht gewonnen, die einen Einblick in so etwas wie einen von allen subjektiv-kognitiven Voraussetzungen 50 51 52 53 54

A 248, B 305, Hervorhebung R. E. A 243, B 301. A 242, B 300. A 242, B 300 – A 243, B 301. A 246.

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unabhängigen Eigencharakter eines solchen Gegenstandes gewähren würde. Den methodisch ausschlaggebenden Schritt von der Metaphysischen zur Transzendentalen Deduktion gibt Kant durch eine Reflexion zu bedenken, die den Rückblick auf das Resultat der Metaphysichen mit einem Ausblick auf die Aufgabe der Transzendentalen Deduktion verbindet: »Sich einen Gegenstand denken, und einen Gegenstand erkennen, ist … nicht einerlei. Zum Erkenntnisse gehören nämlich zwei Stücke: erstlich der Begriff, dadurch überhaupt irgendein Gegenstand gedacht wird (die Kategorie), und zweitens die Anschauung, dadurch er gegeben wird«.55 Für das Verständnis gerade dieser Reflexion und Argumentation und ihrer sachlichen Beurteilung ist es indessen ausschlaggebend, darauf zu achten, daß Kant nicht nur »entre l’intuition sensible et l’intuition intellectuelle«56 unterscheidet. Er unterscheidet vielmehr auch  – und gerade darauf kommt es bei dieser Reflexion und Argumentation entscheidend an  – zwischen diesen beiden bestimmten Formen der Anschauung57 und einer gänzlich unbestimmten Form der Anschauung. Sie ist es, auf die er vorläufig ausschließlich deswegen rekurriert, weil er zu verstehen zu geben sucht, daß man ohne irgendeinen dafür tauglichen kognitiven Modus auch am Ende der am besten gelungenen Metaphysischen Deduktion eingestehen muß: »Die Kategorien des Verstandes […] stellen uns gar nicht die Bedingungen vor, unter denen Gegenstände in der Anschauung gegeben werden«,58 so daß »ich gar nicht weiß, ob es irgendein Ding geben könne, daß dieser Gedankenbestimmung [z.B dem Begriff einer Substanz] korrespondierte«.59 Es ist dies dasselbe Nicht-wissen – wenngleich mit einem anderen in seinen Umfang fallenden Inhalt –, das man aus methodologischen Gründen am Ende der Metaphysischen Deduktion mit dem Eingeständnis bekunden muß: »Was das nun aber für Dinge [Gegenstände, R. E.] sind, in An­sehung derer man sich dieser Funktion [z. B. der des Subjekts, R. E.] vielmehr, als einer anderen [z. B. der des Prädikats, R. E.] bedienen müsse, bleibt hierbei [also im Rahmen der Metaphysischen Deduktion, R. E.] ganz unbestimmt«.60 Das Wort »Anschauung« bedeutet in dieser methodischen Grenzsituation zwischen Metaphysischer und Transzendentaler Deduktion daher gar nichts anderes als der noch unbestimmte kognitive Modus des Gegebenseins von Gegenständen, die unter die Kategorien fallen. Kant könnte diese Synonymie daher unmittelbar fruchtbar machen, indem er in seiner Standard55 B 146. 56 Vleeschauwer, III, S. 167. 57 Vgl. B 148–149. 58 A 89, B 122. 59 B 149, Hervorhebungen R. E. 60 A 246, Hervorhebungen R. E. Baum, Deduktion und Beweis, betont zu Recht, daß Kant die konkrete Bestimmung des Typs der Anschauung, der für uns als Menschen den formalen Modus des Gegebenseins von kategorienkonformem Mannigfaltigem abgibt, sogar bis zum Anfang der Folge der §§ 22–26 unbestimmt läßt.

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formulierung Dinge, in Ansehung derer man sich einer Urteilsfunktion vielmehr als einer anderen bedienen müsse die Wendung »in Ansehung derer« durch die Wendung in Anschauung derer ersetzt. Das Ende auch der gelungensten Metaphysischen Deduktion ist daher strikt mit dem methodologisch bedingten Defizit ver­bunden, das mit dem Anfang der Transzendentalen Deduktion unmittelbar durch die Formulierung der Aufgabe verbunden ist, nach Möglichkeit eine bestimmte Form der Anschauung zu berücksichtigen, durch deren Berücksichtigung dies Defizit überwunden werden kann.

12. Abschluß und Übergang: Von den urteilsfunktionalen Kategorien zu den Gebrauchsbedingungen der Kategorien Wie unscheinbar – und damit auch wie klein und vorsichtig – der Schritt ist, den Kant mit der Metaphysischen Deduktion der Kategorien über die Konzeption der Urteilsfunktionen hinaus tut, läßt sich daher unter einem anderen Aspekt ermessen, wenn man beachtet, wie sorgfältig er ebenso die Schritte bedenkt, die einer transzendentalen Logik vorbehalten sind. Denn es sind diese noch nicht getanen Schritte, mit Blick auf die er unmißverständlich zu verstehen gibt, welche Fragen man Ende einer metaphysischen Deduktion noch offen bleiben müssen. Die verschiedenen Inhalte des Nicht-Wissens, das Kant sich hier attestiert, betreffen ausschließlich dasjenige Nicht-Wissen, mit dem man auch aus einer noch so gelungenen metaphsischen Deduktion der Kategorien hervorgeht. Doch auch an dieser Grenze zwischen den beiden Deduktions­ typen meldet sich in Form von vorläufig noch nicht beantwortbaren Fragen die Grenze, an der Kant die vor-›critische‹ Ontologie hinter sich gelassen hat. Z. B. die Dinge, um deren konkrete Charakterisierung es im Rahmen dieses NichtWissens geht, sind im Licht der Metaphysischen Deduktion zwar ausschließlich durch ihren formalen und funktionalen Charakter geprägt, hinreichende Gründe für den notwendigerweise wohlbestimmten Gebrauch der Urteilsfunktionen abzugeben. Doch Kant stellt die Frage, ›was das nun aber für Dinge sind‹, gleichwohl immer noch in der Form, in der die traditionelle Ontologie durch ihre Antwort einen direkten kognitiven Zugang zu Einsichten in die intrin­ sischen Eigenschaften der Dinge bzw. des Seienden (determinationes intrinsicae rerum sive entis61) in Anspruch nimmt. Ebenso verwendet Kant das Wort Kategorie gerade in diesem Kontext mit Hilfe eines formalen Kunstgriffs gelegentlich so, daß zumindest der semantische Faden nicht ganz abreißt, den 61 Vgl. Christian Wolff, Prima philosophia, sive Ontologia, methodo scientifica pertractata, qua omnis cognitionis humanae principia continentur. Editio nova, Frankfurt und Leipzig 1736, §§ 452 ff.

Abschluß und Übergang Abschluß und Übergang

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die traditionelle Ontologie mit ihm unter dem Namen notiones ontologicae62 verbindet. Denn wenn Kant betont, daß durch »eine reine Kategorie […] kein Objekt bestimmt [wird]«,63 »kein bestimmter Gegenstand erkannt wird«,64 dann gibt er gerade durch die negative Form dieser Erläuterung des von ihm konzipierten Kategorienbegriffs zu verstehen, daß er diesen Begriff scharf gegen den Kategorienbegriff der traditionellen Ontologie abgrenzt. Denn diese meint mit Hilfe ihrer notiones ontologicae Objekte direkt bestimmen zu können, also ohne zu berücksichtigen, daß »wir […] [den Gegenstand] [erkennen], indem wir über ihn urtheilen«,65 und daß aus eben diesem Grund zu jedem Begriff eines Gegenstandes gehört, daß sein ›obiect überhaupt in Ansehung einer logischen Funktion der Urteile a priori an sich bestimmt ist‹. Das gilt, was zumeist übersehen wird, sogar für die Begriffe vom Typus der conceptus communes. Denn bei der Sub- bzw. Superordination dieser Begriffe handelt es sich ja stets nur um ein nachträgliches, diairetisches Ordnungssystem, in dem zwei beliebige Elemente den ihnen angemessenen Ort nur dann finden können, wenn zunächst schon mit Hilfe von kategorischen Urteilen bestimmter logischer Quantitäten und Qualitäten bestimmt ist, welcher von ihnen als Subjekt/Bedingung und welcher als Prädikat/Bedingtes so fungieren kann, daß das Urteil wahrheitsfähig ausfällt. Aus diesen Gründen braucht Kant auch nicht einfach bei dem Vorwurf stehen zu bleiben, daß »der stolze Name der Ontologie« eine Disziplin apostrophiere, die sich »anmaßt, synthetische Erkenntnisse a priori von Dingen überhaupt in einer systematischen Doktrin zu geben«.66 Denn vor jeder wie auch immer noch möglichen  – vielleicht regionalen  – Ontologie kann gerade ein Rückblick auf das Resultat der Metaphysischen Deduktion der Kategorien lehren, worin zunächst ihre prophylaktische Fruchtbarkeit besteht: Sie bewahrt 62 63 64 65

Vgl. Wolff, Ontologia, §§ 20, 125. A 247, B 304. B 150. R 5923, S.  386, Hervorhebungen R. E. Peter F. Strawson, Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London 1957, konzipiert »material bodies«, S.  39, als »category of particulars which must be basic from the point of view of particular-identification«, S. 38. Es liegt auf der Hand, daß diese Kategorie wegen ihrer Bindung an das kognitive Desiderat, »that identification rests ultimately on location in  a unitary spatio-temporal framework of four dimensions«, ebd., die größte Verandtschaft mit der von Strawson, Bounds, S. 83 f., exklusiv bevorzugten schematisierten Substanz-Kategorie in Kants Theorie zeigt, vgl. oben S. 261, Anm. 31. Doch der gewichtigste sachliche Unterschied besteht darin, daß Strawson das unitary spatio-temporal framework of four dimensions – ähnlich wie Newton – für ein objektiv vorfindliches System hält und Kants Auffassung von den subjektiven Formen apriori der anschaulichen räumlichen und zeitlichen Orientierung allenfalls als Thema von mehr oder weniger scharfsinnigen und problemorientierten hermeneutischen Analysen ernst nimmt, vgl. Bounds, S. 47–71. 66 A 247, B 303.

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Dimensionen des Urteilsgegenstandes I

Kant im Schutz der urteilsfunktional revidierten Kategorien vor einem Rückfall in den nicht-›critischen‹ Anspruch der traditionellen Ontologie, die die allgemeinen Seinscharaktere der Dinge gleichsam in einem unmittelbaren kategorialen Zugang meint erfassen zu können. Diese ontologie-prophylaktische Form der Fruchtbarkeit der Metaphysischen Deduktion der Kategorien ist indessen nur die eine von zwei prophylaktischen Formen ihrer Fruchtbarkeit. Die zweite dieser beiden prophylaktischen Formen ist wiederum nur die Kehrseite des scheinbaren Defizits dieser Deduktion. Dies scheinbare Defizit besteht – wenngleich auf einer fortgeschritteneren Reflexionsstufe als bei der Konzeption der Urteilsfunktionen – darin, daß auch sie immer noch hinter der von der Transzendentalen Logik eigentlich intendierten Einsicht in die Möglichkeitsbedingungen der Gegenstandserkenntnis um einige Schritte zurückbleibt. Denn man muß im Rückblick auf ihr Resultat nun einmal eingestehen, daß durch ›eine reine Kategorie kein Objekt bestimmt wird‹. Dennoch ist dies scheinbare Defizit nur die Kehrseite seiner prophylaktischen Fruchtbarkeit. Diese prophylaktische Form zeigt sich darin, daß durch »eine reine Kategorie […] nur das Denken eines Objekts überhaupt, nach verschiedenen modis, ausgedrückt«67 wird. Da es sich bei diesen ›verschiedenen modis‹ aber um nichts anderes als um die Urteilsfunktionen handelt, macht Kant nunmehr sich selbst in prophylaktischer Form darauf aufmerksam, daß das Denken eines Objekts-überhaupt noch nicht einmal dadurch gelingen kann, daß man sich an einer direkten Antwort auf die Frage versucht, ›was das denn nun für Dinge bzw. Gegenstände sind, in Ansehung derer man sich einer Funktion zu urteilen vielmehr als einer anderen bedienen müsse‹. Also noch nicht einmal im Schutz und im Licht des urteilsfunktional revidierten Kategorienbegriffs kann diese Antwort direkt gelingen. Zwar ist das ›Denken eines Objekts-überhaupt nach den verschiedenen Modis‹ der Urteilsfunktionen ein für alle Mal von allen vor-›critischen‹ ontologischen Orientierungen unabhängig. Dennoch kann die Antwort auf die Frage nach einem geeigneten Kandidaten, dem »dieser logische Vorzug … eigen sein«68 muß, nämlich ein Kandidat dafür, ›etwas überhaupt = X‹ zu sein, ›in dessen Ansehung man sich einer Funktion zu urteilen eher bedienen müsse als einer anderen‹, offensichtlich nur mit Hilfe eines weiteren Zwischenschritts gelingen  – nur dann nämlich, wenn es zunächst gelingt, den Aspekt ins Auge zu fassen, der sich im Einklang mit der urteilsfunktionalen Revision der Kategorien zugunsten dieser Antwort fruchtbar machen läßt. Nach diesem Aspekt braucht Kant nicht etwa weitläufig zu suchen. Denn dabei handelt es sich um den ›Sich-Bedienungs‹-Aspekt, den er ins Auge faßt, wenn er den ›logischen Vorzug‹ des gesuchten Kandidaten umgekehrt ebenso als die Präferenz für die Funktion zu urteilen auffassen kann, sich ihrer eher 67 A 247, B 303, Hervorhebungen R. E. 68 A 243, B 301.

Abschluß und Übergang Abschluß und Übergang

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als einer anderen zu bedienen. Mit diesem ›Sich-Bedienungs‹-Aspekt berücksichtigt Kant lediglich in einer sprachlich-grammatisch modifizierten Form den Gebrauchs-Aspekt, unter dem er im Abschnitt Von dem logischen Verstandesgebrauche überhaupt die Urteilsfunktionen einführt. Der Charakter der Urteilsfunktionen, die Formen der Handlungen zu sein, durch die Vorstellungen ›aufs Geratewohl‹ bzw. ›beliebig‹ in irgendwelchen logischen Rollen von Urteilen gebraucht werden können, eröffnet Kant im Licht des urteilsfunktional revidierten Kategorienbegriffs nicht nur die Möglichkeit, auch die Kategorien als Vorstellungen aufzufassen, die eines Gebrauchs in Urteilen fähig und bedürftig sind. Vor allem nötigt ihn dieser Zusammenhang zu dem ›critischen‹ Zwischenschritt, »Bedingungen irgendeines Gebrauchs [der Kategorien, R. E.] in Urteilen«69 zu berücksichtigen. Damit erst ist in der eigentlich fruchtbaren Form das Eingeständnis überholt, zu dem man angesichts der entsprechend eingeschränkten methodischen Möglichkeit der Metaphysischen Deduktion der Kategorien konsequenterweise genötigt ist  – das Eingeständnis, daß man alleine durch sie ›gar keine Bedingungen weiß, unter welchen denn dieser logische Vorzug irgendeinem Dinge eigen sein werde, in dessen Ansehung man sich der einen Funktion zu urteilen eher bedienen müsse als einer anderen‹. Erst mit der Frage nach den ›Bedingungen irgendeines Gebrauchs der Kategorien in Urteilen‹ eröffnet Kant den Weg in die Transzendentale Deduktion mit dem Differenzierungsgrad, der nicht nur nötig ist, sondern dem durch seine bis dahin ausgearbeitete Theorie auch entsprechend vorgearbeitet ist. Im übrigen ist die Frage nach den Gebrauchsbedingungen Kategorien nur das unmittelbar ergänzende Gegenstück zu der Frage nach den noch unbestimmten kognitiven, also anschaulichen Gegebenheits­bedingungen der Dinge bzw. Gegenstände, die unter die Kategorien subsumiert werden können. Die Umstände von Kants Werkstattgeschichte haben es bekanntlich gefügt, daß die Fragen nach den Gebrauchsbedingungen der Kategorien bzw. nach den anschaulichen Gegegebenheitsbedingungen für kategorienkonforme Gegenstände in der konkreten methodischen Situation, in der sie unmittelbar akut wird, für ihn keine ganz offene Frage mehr ist. Er braucht in dieser Situation nicht mehr auf unbestimmte Zeit mit der Suche nach diesen Gebrauchsbedingungen zuzubringen. Denn die einzige Bedingung, die für eine Antwort auf diese Frage zumindest in Frage komm, ist »Unsere sinnliche und empirische Anschauung«, die »ihnen [den Kategorien, R. E.] allein Sinn und Bedeutung ver69 A 248, B 305, Hervorhebung R. E. Diese Bedingungen sind es, die im Licht der Transzendentalen Deduktion der Kategorien die Form festlegen, »wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können«, B 117; zu Recht erinnert daher Horstmann, Deduktion, daran, daß diese Deduktion die Aufgabe hat darzulegen, »wie bestimmte (apriorische) Begriffe etwas zur Möglichkeit von Erfahrungserkenntnis beitragen«, S. 24, Hervorhebung R. E. Zuvor muß die Metaphysische Deduktion allerdings darlegen, daß sich Begriffe a priori auf Gegenstände-überhaupt beziehen können; vgl. hierzu oben 11. Ab.

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schaffen [kann]«,70 also »Raum und Zeit […] als Bedingungen der Möglichkeit, wie uns Gegenstände gegeben werden können«. Hingegen kann »der Begriff, durch den ein Gegenstand gedacht wird (Kategorie)«71, gerade ohne Berücksichtigung dieser Bedingungen konzipiert werden. Erst wenn man diese Bedingungen als Bedingungen des Gebrauchs der Kategorien berücksichtigt, läßt sich mit Blick auf das Fernziel von Kants Theorie zeigen, daß und inwiefern »die Kategorien […] die Gründe der Möglichkeit der Erfahrung enthalten«.72 Nur diese Bedingungen kommen in dieser methodischen Situation unmittelbar als Gebrauchsbedingungen der Kategorien in Frage, weil sie wegen ihrer Formalität eine Antwort in Aussicht stellen, die nicht-empirisch, also apriori begründet werden kann, und dadurch, falls sie sich auf diesem Weg bewähren, der ganzen von Kant intendierten Theorie der Erfahrung auch weiterhin den Status einer nicht-empirischen Theorie garantieren können. Indessen fügt die von Kant auf dem Weg von der ersten zur zweiten Auflage der Ersten Kritik ausgearbeitete Transzendentale Deduktion dieser an Paradoxien reichen Theorie eine weitere hinzu. Denn obgleich diese Deduktion unter ausschließlichem Rückgriff auf die Urteilsfunktionen, auf die urteils-funktional revidierten Kategorien sowie auf die reinen zeitlichen und die reinen räumlichen Anschauungsformen eine nicht-empirische Rechtfertigung des Kategoriengebrauchs ausarbeitet, begründet sie zugleich die Auffassung, daß die Kategorien »von bloß empirischem […] Gebrauche sind«.73 Es ist daher vielleicht nicht das schlechteste Ende des ersten von zwei geplanten Teilen einer Untersuchung von Kants Theorie der Erfahrung, wenn die Auflösung dieser Paradoxie für den Anfang des Zweiten Teils in Aussicht gestellt wird.

70 71 72 73

B 149, Kants Hervorhebung. B 148, Hervorhebung R. E. B 167. A 139, B 178.

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Stellenregister Die römischen Ziffern beziehen sich auf die Bände in Kant’s gesammelte Schriften (sog. Akademie-Ausgabe), A-Seitenzahlen auf exklusive Texte der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, eingerückte B-Seitenzahlen auf exklusive Texte der zweiten Auflage, A-, B-Seitenzahlen auf übereinstimmende Texte beider Auflagen.

II

50 71207 54 70206 55 71208 57 95 60  10, 70205 368 34 378  103, 104 379  104 f. 380 104 381  103, 104, 10417 382 104 383 104 382–383 10417

III/IV

A XVI 77231 A XVI–XVII 155147, 157158 A XIX 215 B XIIf.  30 B XIII  30 f. B XVIII * 3685 B XXI * 3685 B XXXVI 13 B XLIII 10 A 3  3480 A 5  3480 A 6  96271 B 19  22 A 26, B 42  10417, 11855 A 36, B 53  66 A 52, B 76 f.  191259 A 53, B 77  191259 A 54, B 78  184, 200275 A 54, B 78–79  191259 A 55, B 79  200275, 252 A 56, B 80  191259 A 63, B 88  191259 A 66, B 91  73220, 96271, 113

A 66, B 91 ff.  96271 A 66, B 91-A 83, B 91  237 A 67, B 92  53, 208 A 67, B 92-A 76, B 101 191259, 203, 219 A 67, B 92 ff.  112 A 67, B 92-A 69, B 94  36, 123, 156 A 67, B 92-A 83, B 109 196270 A 68, B 93  125, 156, 163, 194 A 69, B 94  73220, 184, 112 f., 163, 218 f., 253 A 70, B 95  11033, 208, 240 A 70, B 95 f.  212325 A 70, B 95–96  217 A 71, B 96  245 A 71, B 97  238 A 71, B 97-A 72  245 A 72  238396 A 72, B 97  238 A 73, B 98  217, 238 A 73, B 99  217 A 74, B 99  263 A 74, B 100  247 A 74, B 100-A 76, B 101  247424 A 75, B 100  247, 248, 249, 263 A 75, B 101  198272, 247, 263 A 76, B 102  200275 A 76, B 102 ff.  111 A 76, B 102–113  252 A 77, B 102  98 A 77, B 103  156, 163 A 78, B 103  47 A 78, B 104  43 A 79, B 104  221359, 246 A 79, B 104–105  209, 235 A 79, B 105  106, 156, 209, 235, 253 f. A 80, B 105  268 A 80, B 106  265 A 80, B 106 f.  261 A 82, B 108  255

286

Stellenregister

A 84, B 116 f.  45 B 117  27569 A 88, B 120  192260 B 120  268 A 89, B 122  77231, 271 A 94, B 126  46113 B 128  226, 256 B 128–129  213, 225, 242 f., 242 f., 256, 25618, 264 41, 267, 268 A 95–98  159 A 97  93, 159, 160, 174, 179 A 97–98  155 A 97–103  11650, 158 A 97–104  2337 A 98  155, 162 A 98 f.  159165, 163 A 98 ff.  155, 181 A 98–104  90257, 155148, 155 A 98–110  159 A 99  158162, 162 f., 166 A 99 f.  163, A 99–101  158162 A 100 ff.  155 A 101  172213 A 102  158162, 166, 173, 174 A 102 f.  163 A 103  116, 117, 166 f., 174 f., 173 f., 175 A 103 f.  163 A 103 ff.  155, 158162 A 104  128, 184 f., 196270, 198272, 253 f., 254 A 105  89255, 115, 117, 185 f., 246 f. A 105 ff.  89255 A 106  89255, 26027 A 107  13398, 260 A 108  154, 177, 183 A 110  48, 48125 A 111 f.  54146 A 111–112  11137 A 112  66 A 114  66, 118 f., 143 B 129  96274, 129, 174221 B 129–136  2337, 89255 B 130  38, 86, 121., 122, 129 f., 140119, 154 f., 159, 161, 165, 227 B 130 ff.  87 B 130–131  202285 B 131  114, 117, 122, 123, 156 f., 171, 175, 206298, 227 B 131 f.  38 f. B 131*  36, 167, 169 B 131–132  86248, 118, 122 111

B 132  86 f., 98 , 125 , 201, 227 B 132 f.  87254, 171210 B 133  2235, 77231, 116, 121 f., 158 , 201 f., 227 f., 235 B 133*  115, 117, 125, 134101, 170, 201 B 133 f.  39100 B 134  115, 117, 171210, 211322, 227 B 134*  86, 117, 120 f., 214 B 134–35  161, 206 B 135  161, 171210, 201, 236, 244 B 138  122, 171210 B 139  86246, 171 B 140  106 B 140–141  26334 B 140–142  264 B 141  106, 110, 2338 B 141–142  49, 66 B 142  3376, 47122, 55147, 189 f., 216 f., 263, 264 B 142 f.  50134 B 143  121, 164186 B 145–146  192261 B 146  271 B 146 ff.  192260 B 147  46, 50 B 147–148  54146 B 148  276 B 148–149  27157 B 149  26131, 271, 276 B 150  202285, 273 B 152  66 B 154  10417 B 155*  10417 B 157*  98274, 12792 B 158–159  12271, 159 B 159  251 f. B 159–165  45112 B 161  46, 50, 54146 B 161 f.  74222 A 116  218 A 116 f.  3687 A 117*  93, 125, 198 A 118  149 A 119  77231 A 119 f.  3687, 77231 A 121  2235, 170206, 173 A 126  66 A 127  66 f. A 128 f.  46113, 50130 B 162*  165 f., 166196, 181 f. B 162–163  47122, 50134, 55147, 66 274

76

287

Stellenregister B 165–169  47 B 167  50, 25821, 276 B 167 f.  46113, 74222 A 133, B 172  178 A 139, B 178  46, 50, 276 A 147, B 186  26131 A 148, B 188  64 A 149, B 188  25821 B 193  213332 A 158, B 197  23, 54, 56152–153, 63 A 158, B 197-A235, B 287  3171 A 162, B 202-A 235, B 287 58162 A 176, B 218  61, 63 A 182, B 224  62173 A 189  57 A 189, B 234  185249 A 190, B 235  11545 A 191, B 236  75 A 195, B 240  57155 A 197, B 242  25410 A 200, B 254  57155 A 201, B 246–247  57155 A 202, B 247–48  59163 A 203, B 248  69 A 205, B 250  1418, 69 f. A 225, B 273  32 B 278–279  12782, 151 A 241*  255 A 241–242  25511 A 242, B 300  270, 261 A 242, B 300-A 243, B 301  213, 226, 26846, 270 A 243, B 301  213, 267, 270, 274 A 245  255 A 246  213, 270, 271 A 247, B 303  273, 274 A 247, B 304  184, 246, 25821, 265, 273 A 248, B 305  270, 275 A 260, B 316-A 263, B 319  239 A 260, B 316  13093 A 260, B 316 ff.  146130 A 261, B 316  52, 75, 13195, 237402 A 261, B 316–317  76228 A 261, B 317 f.  1625, 52 A 262, B 317–318  232 A 262, B 318  24, 52, 76, 232, 239 A 262, B 318–319  76 B 319  3067 A 262, B 319  52, 253 A 263, B 319  24 A 278–279  151 121

A 290, B 346  61 A 296, B 352  60 A 320-B 376–377  10724 A 322, B 378  211 A 336, B 393  232384 A 342, B 399-B 430  89255 A 342, B 400  128, 140116, 143 A 342, B 400- A 347, B 406  89255 A 343, B 401  140116, 226 A 345, B 404  13093 A 346, B 404  86, 99, 134 f., 140, 143126 A 347, B 406  13398 A 348  99, 129, 135 A 348, B 406–430  89255 B 407  130, 135, 140 B 408  163 A 354  36, 38, 91, 96, 128, 133, 148 B 414*  80, 80237, 11956, 170 B 414*-415*  170 B 420  13398, 141120, 213332, 219356 B 421–422  23 B 422*  92263, 213332, 219356 B 423*  162, 219356 f. A 358  135104 A 359 f.  87255, 136115 A 361  143 A 366  86251, 134102 A 371  91 A 397  170207 A 398  129 f., 140119, 164186, 201, 208308 A 398–399  86, 134 B 428  98274, 99, 130, 140, 142121, 149, 164186, 201 B 429  213332 B 430 f.  98274 A 421, B 448  60 A 424, B 451  60 A 426, B 454- A 461, B 489  60168 A 498, B 526  208 A 500, B 528  208304 A 548, B 576-A 557, B 585  136108 A 732, B 760  10930 A 765, B 793-A 766, B 794  2753, 3273, 55148 A 841, B 869  62174 A 841, B 869 f.  13195 A 845, B 873  61172 A 856, B 884  11, 20 172

IV

206 68197

288

Stellenregister

255 84 258 ff.  171210 260 50154 263  36, 204289 265 f.  84242 273–274 213332 275 35 275 f.  2233 292  10, 52, 81, 103 293 f.  98273 293–294 12782, 151138 296 57 298  38, 40103, 42 298–301 2753, 3275, 46116, 47120, 55147, 71212,  81239, 215337 301 215338 301*  27, 42, 46117 302 75224, 212325 302 f.  212325 302–303 36 303 217342 304 3789, 38, 99, 131, 215338, 216 304–305 3891 305 36 305* 3172, 65, 67 f., 100282 312  37, 55149 323  56, 73, 10621, 195 327 50 328  33, 92 334  89, 135, 140, 143123 334–337 89255 337 42 367 106 373*  34, 45 374–375 3480 375 f.  98273 376* 12782, 151138 389–90 71213 474* 154 475*  11, 48, 106 f., 107, 209

238 f.  14 288 219356 289 13195

V

XI

146 26 160  26 f. 187  27 f. 209 104, 71211 211 f.  3273 215 92, 68197, 13195 221 91 228 f.  13195 231 13195

19

VI

214 71214 236–237 71215 258 ff.  171210

VII

92 78233 127 121 130 121 134* 12059–60 135 120 161 163 163  28, 29 f. 192 78233, 136 209 f.  1622 238 25

VIII

127 13093, 214 131 180233 133 2235 134* 214 140 67196 193 259 194 259 381–386 1623, 71216

IX

113 3376, 3898, 68197 466 136108, 178

X

269 62174

35 259 45 13196 131 196270 193 259 194 259

XV

R 573  143123

289

Stellenregister

XVI

XXII

XVII

XXIV.1,1

R 1680  90257 R 1820a  15 R 2844  29 R 3036  222360 R 3040  198272 R 3061  247424 R 3063  222360 R 3096  222360–361, 241 R 3127  222, 241409 R 3145  3376, 38, 68197, 90 f. R 3146  68197 R 3216  222360 R 3444  78

R 3468  174221 R 4635  186254 R 4937  211 R 4638  10, 103, 226370 R 4672  213328, 229, 249, 256, 257 R 4674  139, 161 R 4675  186253 R 4676  186253, 241 R 4679  186253 R 4638  226370

XVIII

R 4911  186252, 225 R 4937  186, 211, 220, 225 R 5037  104 f. R 5107  3999 R 5312  266 R 5553  89255, 12681, 206, 207, 208 f. R 5636  171210 R 5645  28 R 5650  99, 132 R 5654  2029 R 5661  95, 159163 R 5663  48125 R 5931  225366, 256 R 5932  257, 273 R 6317  10417, 11855

XX

369  12, 158, 162, 167

XXI

95 50128

58 139112 69 139112 72 139112 77 139112 79 139112 87 139112 89 139112 92*  65 f., 67 93 139 95 90256, 140116 514 48125 515 48125 658 69198, 101283

398 107 454 245415 588 78

XXIV, 1.2

568–569 245 569  245 f. 569 f.  245415 756 107 763 212326 764 212326 766 247424 783–784 22 784 22 930  237, 238 932 212324

XXVIII.1

266 61172, 90, 135 390 f.  61172 470 61172

XXVIII.2.1

576–577 40101 622 61172 679 61172

XXIX,1

804 3999

Sachregister

Ableitung, ableiten, abgeleitet  204 f., 237 f. Abstraktion, Grade/Stufen/Wege der  35 f., 128–129 adverbial, krypto-adverbial  87254, (s. selbst/ von selbst) Affektsturm 100 analytisch, Analytizität  201 f., 221–222, 225367, 235 f., 240 f., 241 f. Angewandte Logik  209 f. Anschauung  103–106, 11855, 162–163, ­270–272, 275–276 Anthropologie, empirische/ formaltranszendentale/pragmatische 120–123, 13195, 160–161, 214–216, 240 f., 246 f., 267 f., (s. Para-Anthropologie) anthropologisch, -es Faktum  160 f., 234 f., 240 f., 246 f., (s. para-anthropologisch) anthropomorph  100 f., 153 f. Apperzeption, apperzeptiv  91 f., 93 f., ­161–171, 179–181 Apriorität, apriori  9 f. Arbeit (s. Spiel) 26 f. Arbeitsphilosophie, arbeitsphilosophisch  20 f., 97 f., 203 f. Argumente, transzendentale  183–184, (s. transcendental arguments) Aufklärung  102 f. Augenblick  166–167, 173218 authentisch/Authentizität  16., 29 f., 92 f., 150 f. Bathos/Boden, fruchtbares/r – der Erfahrung  34–37, 43–45, 54–55, 94–97, 149 f., 151–152, 251 f. Bedingung, hinreichende  224363, 225367, 258–259 Bedingung/Bedingtes  206–213, 224–272, (s. unbedingt, Unbedingtes) Besitz, Privateigentum  116 49, 171210 (s. Possesivpronomina) Bewährung/Bestätigung, bewährungsbedürftig, Bewährungsbedürftigkeit, -grade, -probe(n) 27–28, 49–50, 58 f., 64 f., 67196 buchstabieren 37–43

conceptus communis, -es  201 f., 209–213, 219356, 221359, 224363, 238400, 241 f., 273 f. conceptus infimus  245 f. context of discovery  74 f. copula/Kopula  237 f., 246–248, 263 f. Darstellungssprache der Logik  217 f., 224 f., 229 f., 229 f., 231 f., 233–234, 239 f., 240 f., 243 f., 249 f., 265 f., (s. Gebrauchs-/Mitteilungs-/Reflexionssprache der Logik) dawider-Rolle des etwas = X 254–260, 268 f., (s. Gegenstand = X) Deduktion, metaphysische, der Kategorien  19 f., 177., 220 f., 226 f., 246 f. –– transzendentale  17 f., 43 f., 45–50 f., 66 f., 163 f., 177 f., 269–272 –– von unten/von oben  36 f., 48 f. 77231 Definition/Erklärung des Urteils  11 f., ­106–111, 119 f., 127 f., 132–133 –– der Kategorien  255–256 denken/Denker  38 f., 98–101, 130–145, 201–202, (s. Gedanke, Seele, Sprache, sprechen, urteilen) Detranszendentalisierung 3480, (s. auch Realismus, Neuer) diagnostisch 41104 Eines-Vieles/Einheit-Vielheit 126–127 emphatic reflexive 87254 empraktisch  234 f. endlich  187 f. Entdeckung(en) 27–30 –– der Form nach  96271 Epistemische Logik  91 f., 135 f., 152 f. epistemische Situation  247 f. Erfahrung –– alltägliche/›gemeinste‹  27–29, 251 f. –– Faktum der  51 f. –– Fruchtbarkeit der  33–44, 49–51, 145–146 –– machen  69–70, 78234, 101 f. –– wissenschaftliche Erfahrung(en), Eine/viele  48–51, (s. Wahrnehmung(en))

291

Sachregister Erfahrungsurteil(e) 25 f., 27–28, 33–34, ­36–51, 63–69, 77231, 85 f., 91–95, 101–102, 109 f., 126 f., 128 f., 133 f., 135 f., 144 f., 145–146, 148 f., 179 f., 215–216, 264 f., 267 f., (s. Wahrnehmungsurteile) Erfolg(e)/Mißerfolg(e) 13–15, 27 f., 79 f., 82 f., 84 f., 108 f., 117 f., 119–120, 127 f., 153 f., 164 f., 179 f., 254 f. Erkenntnis  10 f., 254 f., (s. urteilen) Erkenntniskräfte, -vermögen  10–15, 81 f., 84 f., (vgl. auch Urteilskraft, -vermögen) Erkenntnisurteil(e) 9–10, 14–16, 25–26, 71 f., 84 f. Etwas/etwas überhaupt = X/Gegenstand = X 128 f., 185 f., 189 f., 196270, 198272, 245– 246, 254 f., 258–260, 262 f., 265–270, 274 f., (s. dawider-Rolle des etwas überhaupt = X) Evidenz, evident  218–219 Existenz, Tatbeweis der  141120 Experiment(e), experimentell  29–31, 70 f. Expressibilitätspostulat, linguistisches  83 f. Fliegenglas-Gefangenschaft 93–97 Formalismus/Formalist/formalistisch  147 f. Funktion, Begriff der  193–195 Funktionalbegriff(e) 221359, 252 f., 259 f., 265 f. Funktor (s. Seele) 137 f., 141–142, 143123 Gebrauchsaspekt  191–198, 208–210, ­232–234, 270 f., 275 f. Gebrauchssprache, logische bzw. prae-logische  217 f., 231 f., 233–234, 238 f., (s. Darstellungs-/Mitteilungs-/ Reflexionssprache der Logik) Gedanke  201–202 f. Gegenstand, vorstellungsrelativer  185 f. Geratewohl (der Erkenntnis) 254–258, 26130, 275 f. Geschmacksurteile, reine  9–10, 14–15, 20 f., 25–26, 43 f., 85 f., 97 f., 13093, 219356 Grammatik, grammatisch  9 f., 40101, 46118, 48125, 55–56, 13297, 154 f., 170207, 177–178, 183–184, 213332, 214–216, ­240–241, 254  f. Grund, hinreichender  242410, 257–262, 266 f., 268–270, (s. Satz vom zureichenden Grund)

Handlung(s-), Aktcharakter  63 f., 104 , 153–164 –– des Urteilens  11–14, 106 f., 108–109, 123–124, 132 f. 153–180, 194–198, 208–209 17

Ich

–– Abstieg vom – zum »ich«  138 f. –– das (spontan) fungierende  99 f., ­136–145 –– groß- bzw. kleingeschriebenes  138109–111, 142 f. Identität des Selbst-/Bewußtseins  121–123, 201–202, 121 f., 201–202, 236 f., 244 f. –– Subjekts  38–40, 115–116, 121–122 Interpretation, immanente  18–20, 203 f. –– transzendente 19–20 Iteration/Regreß (unendliche/r) 145–148

Kalkül  186 f., 225 f. Kategorie (s. Ontologie, ontologisch)  67 f., 74 f., 252 f., 259 f., 268–269 konditional/konditionalistisch/ Konditio­nalität  207–208, 220  f., ­223–250, 265  f. Konditionale, irreale  95270, 120–121, 125 f., 159–161, 165–167, 173–175, 214–216 know-how/Wissen-wie 138111, 197 f. Konversionsregel 25616 Korrespondenz (Urteilsfunktionen/ Kategorien)  252 f. Kriterium  80 f., 116 f., 145, 162 f., 175–178, 205–207, 211–213, 221–223, 226 f., 228 f., 237 f., 245418, 255 f. Lernen 66–69 Logik(er), traditionelle/überlieferte  75 f., 11135, 106–110, 199–201, 217 f., 238 f. –– Defizite/Fehler der traditionellen/ überlieferten 106–110 Metaphysik, metaphysisch  62174, 13195 Methode, skeptische  60 f. –– technische  185–186, 217 f., 217 f., 220–222, 260–261 Mitteilungssprache, logische/- der Logik  217 f., 224 f., 231 f., 233 f., 238 f., 240 f., 242–243, 260 f., 265 f. (s. Darstellungs-/, Gebrauchs-/ Reflexionssprache der Logik)

292

Sachregister

Modalität(en) de dicto/de re/de usu 62 , 248431 –– gemischte  248 f. –– gestufte  249 f. Modell, explanatorisches  78234 Moment (logisches) 195 f., 207301, 223 f., ­231–235, 237–239, 244 f., 248–250 174

Nagelprobe 219356 Neuer Realismus  3480 (s. auch Detranszendentalisierung) notwendig/-erweise, Notwendigkeit  260 f., 262 f., 267 f., 269 f. Ontologie, ontologisch/nicht-ontologisch (s. Kategorie) 3069, 60–62, 11341, ­260–261, 26233, 270 f., 272–274 Para-Anthropologie/-anthropologisch  125 f., 227 f. Possessivpronomina 116 49, 171–172, (s. Besitz, Privateigentum) Prädikate des inneren Sinns  88–89, ­134–135, (s. Urteile des inneren Sinns) principle of charity  2130 Pronomen der Ersten Person Singular  137–138, 140–142, 145 f. proto-transzendental(-logisch) 20 f., 25 f., 35 f., 188 f. psychologistisch  73 f., 153 f. Radikalvermögen der Erkenntnis  118 f., 137 f., 142–145, 180 f. Raum, räumliche Anschauung  10417, 11855 Realismus, Neuer  3480 Reflexion(en), logische  21 f., 51–52, 76 f., 81 f., 97 f., 124 f., 149–151, 228 f., 232–233, 234 f., 236 f., 239–240, ­252–253, 258f –– transzendentale  16 f., 21 f., 24 f., 35 f., 47 f., 52 f., 76 f., 81 f., 97 f., 115 f., 124 f., 148–151, 258 f. Reflexionsbegriffe  146 f., 228 f., 230 f., 232–233, 236–237, 239–240 –– -lust  15 f., 25–31 Reflexionsfehler  146 f. Reflexionssprache der Logik  217 f., 231 f., 240 f., 265 f., (s. Darstellungs-/ Mitteilungs-/Gebrauchssprache der Logik/praelogische) Relation (logische) 197–198

Relativsatz-Form 241f Rolle(n)/Rollenträger, logische/ kategoriale/konditionale  142 f., 154 f., 168 f., 181 f., 177 f., 206 f., 208–213, 221 f., 230 f., ­256–257, 262 f., 265 f., 268 f. Rollenbestimmtheit, kategoriale  213329, 257–269 Rollenkommutativität, logische  213328, 225–226, 229–231, 237 f., 241–243, 248432, 249–250, 25616 Rollenverteilung, formale/logische/ kategoriale  135–136, 159 f., 172 f., 225–226, 256 f., 258 f., 266 f., 268–269 Satz vom zureichenden Grund  13196, 258 f., (s. Grund, hinreichender) Seele (s. denken, Funktor, urteilen) 143–144 selbst/von selbst  39 f., 87 f., 98 f., 118 f., 121 f., 127 f., 129 f., 134 f., 136108, 139 f., 151 f., 164 f., 227 f., 236 f., 244 f., (s. adverbial, emphatic reflexive, krypto-adverbial, spontan, Sponta­ neität, Spontaneitäts- Authentizitätsindikator) Selbstbewußtsein  86–91, 98 f., 134 f., ­136–137, 141120, 227 f. –– Ausspruch, Satz, Zeugnis des -s  86 f., 91–92, 134 –– Zirkel/Zirkularität des -s  86–98, 101 f., 134–144, 147–148, (s. Urteiledes-inneren-Sinns) Selbstgefühl 13093 Sinn, innerer  89 f., (s. Prädikate-/Urteiledes-inneren-Sinns) Spiel (s. Arbeit) 14–15, 20 f., 26 f. spontan, Spontaneität/Selbsttätigkeit  38 f., 86 f., 90 f., 93 f., 98–101, 122 f., 129–133, 135–136, 139–141, 148–150, 151 f., 164 f., 164–165, 167 f., 179–181, 201–202, 207 f., 227 f., (s. unbedingt) Spontaneitäts-, Authentizitätsindikator  87254, (s. selbst) Sprache, sprechen, reden  77–83, 136–138, 153 f., (s. denken, urteilen) sprachkritisch 87253, 184 f., 188 f. Subjekt-Objekt-Spaltung  138 f. Subjektivität, -sphilosophie  84 f. Sub-/Superordination von Begriffen  273 f. Synthesis, synthetisch  42 f., 121–122, ­153–176, 178–179, 227 f.

293

Sachregister Theologie 105 , 118 transzendental  10–11, 52 f., 81 f. Traum  126 f., 151 f., (vgl. Wahnsinn) 17

55

unbedingt, Unbedingtes  128–132, 207–208, (s. Bedingung/Bedingtes, spontan) Ursache  27 f., (s. Bedingung, hinreichende)  Ursachenforschung, experimentelle  29–31 Urteile/urteilen  9–10, 1213, 130–145 Urteil(e) des inneren Sinns  89–91, 134–150, 150 f., 219356, (s. Prädikat(e) des inneren Sinns/Selbstbewußtseins, Zeugnis des) Urteilskraft, -vermögen  11 f., 14 f., 178–180 (vgl. auch Erkenntniskräfte, -vermögen) –– reflektierende  26 f., 136 f., 146–148, 151–152, 180 f. –– Geheimnis der ~ 10–11, 38 f., 51 f., 70–71, 73–74, 97 f., 98 f., 102 f., 109 f., 109, 117–119, 129 f. Urteilstypen/-Typologie  66 f., 103–105 urteilsreif  80–81, 125 f. Vorstellung(en) 177–178, 183–184 vortheoretisch  183–185, 253 f. Vorzug, logischer  213, 226 f., 267 f., 274 f.

Wahnsinn  127 f., 151 f., (s. Traum) wahr, monovalent  40103, 150 f. Wahrheit, Grund/Bedingung(en) der  52 f., 75–76, 126 f. Wahrnehmung(en)  32, 36–40, 48 f., 94 f. (s. Erfahrung(en)) wahrnehmungsinvariant, -unabhängig  39 f. Wahrnehmungsurteil(e) 31–33, 37–44, ­47–51, 63–64, 65–68, 67 f., 77231, 85 f., 94 f., 97 f., 98 f., 128 f., 136 f., 148 f., ­215–216, 267 f., (s. Erfahrungsurteil(e)) Wechselwirkung 232384 Wie-Frage(n) 23 f., 181 f., 191 f., 195–197, 25720, 27569 Widerfahrnisse (psycho-neuro-physiolo­ gische u. a.) 40 f., 153 f. Wissenschaft Zeitlichkeit des Urteils  12 f., 91 f., 152–182 Zerstreuung, temporale bzw. logische/ zerstreut, temporal bzw. logisch  23–24, 2235, 39100, 93 f., 116 49, 119 f., 122 f., 124 f., 149 f., 158 f., 162 f., 164 f., 168 f., 169 f., 181–182, 198 f., 207 f., 227–228, 230 f.

Namensregister

Ackermann, W.  217345 Adickes, E.  1624, 89255, 12681, 241409 Allen, D. J.  186252 Aristoteles 186252, 202285, 218–219, 224364, 241 f., 27160

Fichte, J. G.  91261, 101284, 204289 Foucault, M.  13093 Frank, M.  13093, 150136 Frege, G.  11135, 114–115, 116 49, 13196, 171210, 186252, 192261 202285, 221359, 240404

Bacon, F.  29–30 Bartuschat, W.  96271 Baum, M.  3789, 61172, 69199, 11852, 12164, 12987, 27160 Beck, L. W.  196270, 226371 Bennett, J.  90257, 171212, 2511, 25720 Bickmann, C.  61172, 134101 Bittner, R.  1418 Blau, U.  148132, 238401 Bohr, N.  58159 Brandom, R.  13399 Brandt, R.  1826, 24 46, 11343, 200275, 205295, 206298, 212325, 243411, 2523, 25821 Bühler, K.  234 f. Buroker, J.  10417

Geach, P.  1315, 90257 Gerhardt, V.  1418 Glöckl, J.  147132 Guyer, P.  12580

Carl, W.  49126, 74221, 77230–231, 92263, 100281, 11341, 116 49, 153140, 155149, 161172, 163181, 165191, 166196 Carnap, R.  52 f. Cassirer, E.  3789 Cohen, H.  3789, 65182 Cramer, K.  62173, 101284, 138110–111 Damschen, G.  145128 Descartes, R.  1212, 89 255, 13196, 141120, 146129, 153 f. Detel, W.  62174 Ducasse, C. D.  26028 Ebbinghaus, J.  232 Enskat, R.  107, 2856, 2960–61, 3069, 60170, 69199, 70204, 71210, 83241, 98272, 1031, 10518, 143126, 146131, 152139, 168201, 193263 Erdmann, B.  18 f., 3067, 238396 Essler, W. K.  25514 Euler, L.  193 f. 384

Hegel, G. W. F.  168 f., 233387 Heidegger, M.  46118, 13195, 161172, 169202, 185249, 189258, 26130 Henrich, D.  2235, 39100, 141120, 155149, 181237 Herder, J. G.  79235 Hertz, M.  11341 Hilbert, D.  217345 Hintikka, J.  78234 Hogrebe, W.  85244 Horstmann, R.-P.  139113, 2511, 25720, 264 41, 27569 Hume, D.  71–73, 153 f. Husserl, E.  20 f., 140118, 153 f. Kambartel, F.  3789, 49126 Kapp, E.  1826, 24 46 Kemmerling, A.  87254, 100281, 11651, 13196, 141120, 146129 Kitcher, P.  95270, 138111, 159163, 229381, 25618 Klemme, H. F.  3789, 13398, 139113, 264 41 Koch, A. F.  142121 Krüger, L.  11343, 192261, 204288, 205 f., 206298, 211320, 223 f., 226 f., 228 f., 234 f., 237 f. Lambert, J. H.  11341, 205295 Leibniz, G. W.  71–72, 104 f., 153 f., 241 f., 243411 Lenk, H.  11034, 11343, 204288 Lichtenberg, G. Chr. 143126 Locke, J.  71–72, 11651, 153 f. Longueness, B.  1212, 52139, 67196, 68197, 10931, 11855, 180234, 199273, 204288, 206300, 221359, 223362, 228380

295

Namensregister Lorenzen, P.  59 , 182 164

239

Mendelssohn, M.  98273 Mittelstaedt, P.  62173 Newton, I.  27365 Nortmann, U.  200275 Paton, H. J.  66183, 185249, 221359, 224364 25821, 26130, 26949 Patzig, G.  60169, 180233, 192261, 218354, 219 f., 224364, 243411 Planck, M.  58160–161 Platon  152–153, 193263 Pollock, K.  68197 Prauss, G.  3789, 39100, 48124, 51135, 68197 Quine, W. V. O.  1212–13, 1315, 78234, 13196, 176226, 200275, 26233 Reich, K.  50134, 92263, 1034, 10829, 11343, 12475, 144127, 174221, 193–194, 196270, 198272, 199273, 200275, 201–203, 204288, 205–206, 208–211, 213332, 216–224, 226371, 228380, 232383, 249434, 25822, 26338 Riehl, A.  161172 Ringleben, J.  3479 Rohs, P.  43109, 164186 Rosefeldt, T.  3797 Rousseau, J.-J.  2856 Russell, B.  63177 Ryle, G.  41104, 87253, 137108 Savigny, E. v. 150137, 177228, 25514 Scheffel, D.  89255 Scheibe, E.  193263

Schelling, F. W. J.  94–97 Scholz, H.  60170 Schulthess, P.  193263, 200275, 211320 Searle, J.  1212, 83240, 87254, 176226 Seebaß, G.  1212, 769235, 12580, 13196 Stegmüller, W.  3170, 60170 Strawson, P. F.  2511, 25720, 26131, 27365 Stuhlmann-Laeisz, R.  200275 Tarski, A.  217345 Tonelli, G.  205 f., 205295 Toulmin, St. 41104 Tugendhat, E.  138109–111, 141120 Unruh, P.  10417 Vleeschauwer, H. J. De  40101, 50134, 74222, 11651, 163185, 167199, 205293, 26130, 264 41, 27156 Watkins, E.  62173 Weizsäcker, C. F. v. 62173 Weldon, T. D.  90257 Weyl, H.  58158, 70203 Wieland, W.  93, 1213, 96271, 219355–356, 233387 Wilson, K. D.  11343 Wittgenstein, L.  87253, 93–97, 99280, 13297, 142121, 150137, 177–178, 183 f. Wolff, Chr. 1315–17, 52139, 87254, 89255, 272–273 Wolff, M.  1212, 50134, 67196, 10727, 10930, 11343, 184247, 185251, 194–195, 199–200, 203 f., 206298, 219 f., 221358, 247427, 249434 Wolff, R. P.  58157, 73220, 77230, 90257, 12475, 221359, 2511, 25720 Wright, G. H. v. 224363, 26028 Wuchterl, K.  11343