Ästhetische Autonomie als Abnormität: Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik [Reprint 2011 ed.] 9783110813593, 3110152290, 9783110152296

„Barbara Neymeyr hat damit eine neue Interpretation des Verhältnisses von Willen und Intellekt entwickelt, die dem duali

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Ästhetische Autonomie als Abnormität: Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik [Reprint 2011 ed.]
 9783110813593, 3110152290, 9783110152296

Table of contents :
Vorwort
A. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik
§ 1. Negativität als Charakteristikum spezifisch ästhetischer ,Willensfreiheit‘
§ 2. Der Stellenwert ,objektiven Interesses’ im Hinblick auf das Postulat ästhetischer Interesselosigkeit
§ 3. Metavoluntative Komponenten des ästhetischen Intellekts
§ 4. Die Problematik von Spontaneität und Rezeptivität in ästhetischer Einstellung
§ 5. Die autonom-heteronome Doppelnatur des Intellekts als Ursprung seiner expandierenden Abnormität
§ 6. Selbstbewußtsein und Selbstverleugnung als Faktoren eines ästhetikinternen Konflikts
B. Schopenhauers Ästhetik der Willenlosigkeit im Verhältnis zu seiner Philosophie des Willens
§ 7. Die Positivität der Willenstheorie als Fundament ästhetischer Negativität
§ 8. Erfolg als Mißerfolg: Zu ambivalenten Strukturen in Schopenhauers Willenstheorie
§ 9. Sirenengesang zwischen Skylla und Charybdis: Die Plazierung ästhetischen Glücks zwischen Sorge und Langeweile
§ 10. Ästhetische Ataraxie als Therapeutikum für den Willen?
§ 11. Problematische Aspekte der Subjekt-Objekt-Korrelation in ästhetischer und voluntativer Einstellung
§ 12. Metavoluntarismus des Ästhetischen – Metaästhetizismus des Voluntativen?
C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik
§ 13. Schopenhauers Ästhetik im Verhältnis zu Nietzsche, Kant und Platon
§ 14. Das Genie als Hermaphrodit? – Zur Problematik ästhetischer Fertilitätsmetaphorik
§ 15. Die Funktion der Phantasie als Spontaneitätsfaktor
§ 16. Die Differenz zwischen Kunstschönem und Naturschönem
§ 17. Die Architektonik von Schopenhauers Hierarchien ästhetischer Objekte
§ 18. Der Sonderstatus der Musikästhetik
§ 19. Die Inferiorität der Lyrik in Schopenhauers Dichtungstheorie
§ 20. Die Problematik der Relation zwischen Schönem und Erhabenem
§ 21. Der ungeklärte Status des Trauerspiels als Kunst oder Erhabenes
§ 22. Das Verhältnis der Ästhetik zur Ethik
Literaturverzeichnis
Personenregister

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Barbara Neymeyr Ästhetische Autonomie als Abnormität

W G DE

Quellen und Studien zur Philosophie herausgegeben von Jürgen Mittelstraß, Günther Patzig, Wolfgang Wieland

Band 42

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1996

• ·

Ästhetische Autonomie als Abnormität Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik von Barbara Neymeyr

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1996

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Neymeyr, Barbara: Ästhetische Autonomie als Abnormität: kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik / von Barbara Neymeyr. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (Quellen und Studien zur Philosophie ; Bd. 42) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1992/1993 ISBN 3-11-015229-0 NE: GT

D 25 © Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin

Vorwort Bis heute ist eine umfassende kritische Analyse von Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik Desiderat geblieben. Im Unterschied zu den zahlreichen Publikationen, die sich auf eine bloße Deskription bestimmter Argumentationsstränge oder auf die Eruierung philosophiehistorischer Zusammenhänge beschränken, bietet die vorliegende Abhandlung eine problemorientierte, systematisch angelegte Auseinandersetzung, in der Schopenhauers Konzeptionen zur Ästhetik im Hinblick auf ihre Konsistenz und Stringenz untersucht und auf der Folie seines Voluntarismus analysiert werden. Die Willenstheorie wirkt via negationis in die Ästhetik hinein, weil die spezifisch ästhetische ,Willensfreiheit' als eine Freiheit des Intellekts vom Willen zugleich auf die Willenssphäre als ihr Fundament zurückverweist. Auf diese Perspektive lassen sich die Beziehungen aber keineswegs reduzieren. Vielmehr erhalten auch die kritischen Analysen etwa zur autonom-heteronomen Doppelnatur des Intellekts, zum Stellenwert ästhetisch-objektiver Interessen und Zwecke sowie eines spezifischen Selbstbewußtseins in ästhetischer Kontemplation als Faktoren, die Schopenhauer trotz der postulierten Interesse-, Willen- und Selbst-losigkeit in Anspruch nimmt, erst im willensmetaphysischen Horizont ihre eigentliche Bedeutung. Vor einer hinreichenden Entfaltung der zentralen voluntativen Dimensionen lassen sich die komplexen Probleme in Schopenhauers Ästhetik allenfalls rudimentär und ohne endgültige Interpretationsergebnisse aufklären. Insbesondere die zunächst in engerem Rahmen durchgeführten und partiell in vorläufige Aporien mündenden Analysen von Kapitel A. erfahren demgemäß erst in § 12 ihre eigentliche Zuspitzung, so daß ihre Resultate auf der Folie von Schopenhauers Willensphilosophie in entscheidender Hinsicht modifiziert, ja teilweise sogar revidiert werden müssen. Umfangreiche Passagen der Kapitel A. und B. widmen sich von unterschiedlichen Perspektiven aus der zentralen Fragestellung, ob es sich bei der von Schopenhauer postulierten Freiheit des Intellekts um eine genuine Autonomie handelt. Nur durch eingehende Analysen zur komplexen Beziehung zwischen Willen und Intellekt läßt sich diese Frage beantworten.

VI

Vorwort

Laut Schopenhauer besteht die .naturgemäße' Funktion des Intellekts im Willensdienst; erst durch eine ,abnorme' Emanzipation vom Willen wird der Intellekt zu autonomer Tätigkeit fähig, die eine ästhetische Kontemplation ermöglicht. Sofern Schopenhauer jedoch das Spezifikum des Intellekts mitunter gerade in willensunabhängiger Aktivität nach .eigenen Gesetzen' erblickt, gerät die ,Natur' des Intellekts in eine Ambivalenz, die auch die Implikationen von .Abnormität' bestimmt. Aus einer differenzierten Auseinandersetzung mit diesen Ansätzen ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Bewertung der Relation zwischen Autonomie und Heteronomie. Die Analysen setzen zwar zunächst im engeren Bereich der Ästhetik an, beziehen dann jedoch den willensmetaphysischen Horizont von Schopenhauers Philosophie mit ein und stoßen schließlich bis zu einer neuen Interpretation des Verhältnisses zwischen Willen und Intellekt vor. Nicht nur für die Autonomie-Problematik, sondern auch für die Einschätzung der Relation zwischen Gegenstandsbewußtsein, Selbstbewußtsein und Selbstverleugnung in ästhetischer Kontemplation bietet Schopenhauers Willenstheorie Perspektiven, die zu einer abschließenden Beurteilung der divergenten Ansätze Wesentliches beitragen. Einer umfassenden Analyse wird außerdem das komplexe Verhältnis zwischen dem ideenbezogenen Erkenntnisanspruch und der vom voluntativen Leidensdruck entlastenden Eudämonie in ästhetischer Einstellung unterzogen. Aufgrund von Schopenhauers pessimistischen Prämissen erscheint es als eine Synthese von Inkompatiblem. Die spannungsreiche Beziehung zwischen Illusionsbildung und Desillusionierung in Schopenhauers Ästhetik ermöglicht einen Ausblick auf die durch Verneinung des Willens zum Leben entstehende Ataraxie, die auf dessen Selbsterkenntnis beruht und den Kulminationspunkt von Schopenhauers Ethik darstellt. Mehrere Paragraphen von Kapitel C. zeigen durch Analysen zur Relation zwischen Natur- und Kunstschönem, zur Differenzierung zwischen Schönem und Erhabenem, zur Funktion der Phantasie sowie zu den unterschiedlichen Hierarchien ästhetischer Objekte bei Schopenhauer, daß nur ästhetikinterne Spezifikationen dem komplexen Verhältnis zwischen Spontaneität und Rezeptivität, zwischen Aktivität und Passivität des ästhetischen Subjekts in seiner Konzeption gerecht werden können. Daß ein Versuch, diese für die ästhetische Subjekt-Objekt-Korrelation konstitutive Beziehung global zu bestimmen, nicht aussichtsreich ist, erhellt bereits aus den im Verlauf von § 4 mehrfach wechselnden Perspektiven, die durch ein Changieren zwischen spontan-energischer Aktivität und lethargisch-rezeptiver Passivität des Subjekts bei Schopenhauer bedingt sind.

Vorwort

VII

Nur auf den ersten Blick erweckt Schopenhauers Ästhetik den Eindruck, es handle sich um eine durch luzide Hauptthesen und klare Grundstrukturen geprägte Konzeption. Bei zusätzlichen Lektüredurchgängen jedoch wird ein vielschichtiges Gewebe sichtbar, das nicht nur aus komplementären Argumentationssträngen besteht, sondern auch widersprüchliche Komponenten enthält. Schopenhauers Postulat einer ästhetischen Autonomie des Intellekts basiert auf einem dualistischen Ansatz, der aber durch den fundamentalen Willensmonismus in Frage gestellt wird. Diese Problematik erweist sich als besonders folgenreich. Sofern sich Schopenhauers Ästhetik im Spannungsfeld zwischen Platonischen und Kantischen Theorien befindet, ist sie zudem von unterschiedlichen Traditionsmustern beeinflußt, die ihre Komplexität noch verstärken. Gerade die Heterogenität von Schopenhauers Ansätzen verlangt differenzierte Analysen. Die vorliegende Abhandlung wurde im Wintersemester 1992/93 von den Philosophischen Fakultäten der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg als Dissertation angenommen. Herrn Prof. Dr. Gerold Prauss danke ich für die Anregung zu dieser Arbeit, der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Graduiertenförderung des Landes Baden-Württemberg für die mir gewährten Stipendien. Freiburg i. Br., im Dezember 1995

Β. N .

Inhalt Vorwort

V

Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik .

1

§ 1. Negativität als Charakteristikum spezifisch ästhetischer ,Willensfreiheit' § 2. Der Stellenwert ,objektiven Interesses' im Hinblick auf das Postulat ästhetischer Interesselosigkeit § 3. Metavoluntative Komponenten des ästhetischen Intellekts . . § 4. Die Problematik von Spontaneität und Rezeptivität in ästhetischer Einstellung § 5. Die autonom-heteronome Doppelnatur des Intellekts als Ursprung seiner expandierenden Abnormität § 6. Selbstbewußtsein und Selbstverleugnung als Faktoren eines ästhetikinternen Konflikts

3 19 33 45 67 87

B. Schopenhauers Ästhetik der Willenlosigkeit im Verhältnis zu seiner Philosophie des Willens 105 § 7. Die Positivität der Willenstheorie als Fundament ästhetischer Negativität § 8. Erfolg als Mißerfolg: Zu ambivalenten Strukturen in Schopenhauers Willenstheorie § 9. Sirenengesang zwischen Skylla und Charybdis: Die Plazierung ästhetischen Glücks zwischen Sorge und Langeweile § 10. Ästhetische Ataraxie als Therapeutikum für den Willen? . . . § 11. Problematische Aspekte der Subjekt-Objekt-Korrelation in ästhetischer und voluntativer Einstellung § 12. Metavoluntarismus des Ästhetischen — Metaästhetizismus des Voluntativen?

107 129 139 149 167 177

χ

Inhalt

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik 213 § 13. Schopenhauers Ästhetik im Verhältnis zu Nietzsche, Kant und Piaton § 14. Das Genie als Hermaphrodit? - Zur Problematik ästhetischer Fertilitätsmetaphorik § 15. Die Funktion der Phantasie als Spontaneitätsfaktor § 16. Die Differenz zwischen Kunstschönem und Naturschönem § 17. Die Architektonik von Schopenhauers Hierarchien ästhetischer Objekte § 18. Der Sonderstatus der Musikästhetik § 19. Die Inferiorität der Lyrik in Schopenhauers Dichtungstheorie § 20. Die Problematik der Relation zwischen Schönem und Erhabenem § 21. Der ungeklärte Status des Trauerspiels als Kunst oder Erhabenes § 22. Das Verhältnis der Ästhetik zur Ethik

215 265 287 295 315 335 351 365 387 409

Literaturverzeichnis

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Personenregister

429

Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

§ 1. Negativität als Charakteristikum spezifisch ästhetischer ,Willensfreiheit' I.

Ein spezifischer Begriff von Freiheit ist für Schopenhauers Theorie der ästhetischen Einstellung konstitutiv. Aufschluß über seine besondere Bedeutung in diesem Kontext geben solche Textstellen, in denen Schopenhauer das Adjektiv ,frei' mit dem Substantiv ,Willen' verknüpft und dadurch zugleich seinen ästhetischen Freiheitsbegriff expliziert. Im dritten Buch seiner „Welt als Wille und Vorstellung", das ganz der Ästhetik gewidmet ist, setzt Schopenhauer beispielsweise eine „spontane Anspannung [...] zur willensfreien Auffassung der Ideen" 1 voraus. „Die willensfreie Aktivität des Intellekts" betrachtet er als „Bedingung der reinen Objektivität" 2 , mithin als charakteristisch für die ästhetische Betrachtungsweise des „willensfreien Subjekts". 3 Formulierungen dieser Art könnten zunächst bei einem mit der Schopenhauerschen Philosophie nicht vertrauten Leser den Eindruck nahelegen, solche ,Willensfreiheit' könne man durchaus im Sinne etwa der Kantischen Freiheit des Willens interpretieren. Eine derartige Einschätzung erweist sich allerdings bei angemessener Mitberücksichtigung der spezifischen Kontexte sogleich als Irrtum. Bereits das ι w w v I S. 270. Zugrundegelegt wird in dieser Abhandlung folgende Ediüon der Werke Arthur Schopenhauers: Sämtliche Werke, hrsg. v o n Wolfgang Frhr. v o n Löhneysen. Darmstadt 1 9 7 6 - 1 9 8 2 . Folgende Abkürzungen finden Verwendung: W W V I und W W V II für „Die Welt als Wille und Vorstellung" (I/II), Kl. Sehr, für „Kleinere Schriften", PP I und PP II für „Parerga und Paralipomena" (I/II). Außerdem wird herangezogen: Schopenhauer, Arthur: Der handschriftliche Nachlaß. Hrsg. von Arthur Hübscher. 5 Bände. Frankfurt a.M. 1966 — 1 9 7 5 (Abkürzung: HN mit nachgestellter Bandangabe in römischen Ziffern). Ferner wird zitiert nach: Schopenhauer, Arthur: Metaphysik des Schönen. Philosophische Vorlesungen Teil III. Aus dem handschrifdichen Nachlaß. Hrsg. und eingeleitet v o n Volker Spierling. München 1 9 8 5 (Abkürzung: MS). Ich übernehme die Orthographie der jeweiligen Edition. 2

3

PP I S. 218. Vgl. auch W W V I S. 283: „Nun wirkt die objektive Anschauung in der Erinnerung ebenso, wie die gegenwärtige wirken würde, wenn wir es über uns vermöchten, uns willensfrei ihr hinzugeben". W W V I S. 306.

4

Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Postulat willensfreier Intellektaktivität läßt eindeutig erkennen, daß Schopenhauer — entgegen jener verfehlten Hypothese — nicht etwa dem Willen solche spezifisch ästhetische .Willensfreiheit' zuordnet, sondern ausgerechnet seinem Antagonisten4: dem Intellekt. Wollte man dennoch als syntagmatische Basis des Kompositums .Willensfreiheit' den zunächst naheliegenden Genitivus subjectivus .Freiheit des Willens' voraussetzen, so geriete man mit dieser Annahme unversehens in die Schwierigkeit, daß Freiheit dann gleicherweise Freiheit des Willens wie Freiheit des Intellekts sein müßte, — eine von vornherein unplausible Unterstellung, deren Problematik sich in Anbetracht des von Schopenhauer vorausgesetzten Antagonismus zwischen Willen und Intellekt noch verschärft. Durch unmißverständliche Aussagen von größerem Informationsgehalt jedoch lassen sich anfängliche Verständnisschwierigkeiten mühelos beseitigen: „Nur Objektivität befähigt zum Künstler: sie ist aber allein dadurch möglich, daß der Intellekt, von seiner Wurzel, dem Willen, abgelöst, frei schwebend"5 auftritt. Offensichtlich handelt es sich also bei ästhetischer Freiheit nach Schopenhauer um eine Freiheit des Intellekts, die sich gerade durch dessen Distanzierung vom Willen konstituiert. Nicht um eine Freiheit des Willens geht es Schopenhauer in seiner Ästhetik, vielmehr ist hier die Freiheit vom Willen thematisch, mithin eine Art von Willensindependenz, deren Implikationen im folgenden zu beleuchten sind. Der Begriff einer ,Willensfreiheit' des Intellekts erweist sich als Synonym zu dem von Schopenhauer im Rahmen seiner Ästhetik weitaus häufiger verwendeten Begriff der .Willenlosigkeit'.6 Eine zusätzliche Bestätigung für diese Identität bietet die Tatsache, daß Schopenhauer Objektivität bald mit willens freier, bald mit willenloser Anschauung verbunden sieht.7

II. Als Freiheit vom Willen ist ästhetische Freiheit bei Schopenhauer zunächst allerdings nur negativ bestimmt. Aus dieser Konstellation ergibt sich für den weiteren Verlauf von § 1 ein doppeltes Erfordernis: 4

5 6 7

Vgl. W W V II S. 475: „Denn überall ist der Wille als das Prinzip der Subjektivität der Gegensatz, ja Antagonist der Erkenntnis". W W V II S. 482. Vgl. ζ. B. W W V I S. 282; W W V II S. 475, 477; PP II S. 494. Willensfreiheit als Objektivität: vgl. W W V I S. 281, 283; PP I S. 218; Willenlosigkeit als Objektivität: vgl. W W V I S. 2 8 0 - 2 8 2 ; W W V II S. 475, 4 7 7 - 4 7 9 , 4 8 1 - 4 8 3 , 491; PP II S. 494.

§ 1. Die Negativität ästhetischer .Willensfreiheit'

5

Erstens verweist die Negativität spezifisch ästhetischer ,Willensfreiheit' als einer Freiheit vom Willen auf die Positivität von Schopenhauers Willenstheorie, von der seine Konzeption des Ästhetischen einerseits zwar via negationis abgegrenzt ist, an die sie jedoch andererseits gerade deshalb gebunden bleibt. 8 Insofern hat die Mitberücksichtigung von Schopenhauers Charakterisierung nicht-ästhetischer Einstellung von Subjekten als konstitutive Voraussetzung für das Verständnis der grundlegend veränderten Konstellation zu gelten, die sich infolge der von Schopenhauer postulierten „Elimination alles Wollens" 9 in ästhetischer Kontemplation ergibt. Die Aufhebung der Instrumentalität des willensdependenten Intellekts beim Ubertritt in ästhetische Einstellung hat wichtige Implikationen für die Erkenntnisweise des Subjekts, die im folgenden zu entfalten sind. 10 Zweitens führt die Negativität ästhetischer .Willensfreiheit' möglicherweise zu einer Problematik, die sich in folgende Frage kleiden läßt: Vermag Schopenhauer sein ästhetisches Freiheitspostulat letztlich in der Weise zu fundieren, daß er die zunächst nur besonders auffällige Negativität bloßen Befreitseins vom Willen durch die positive Gesetzlichkeit einer Freiheit als Autonomie transzendiert? Oder bleibt der spezifisch ästhetische Freiheitsbegriff Schopenhauers in reiner Negativität befangen und damit leer? Die bisherige Tendenz zu bloßer Negativität soll ebenso wie deren potentielle Uberschreitung durch eine Positivität der Charakterisierung des Ästhetischen im Hinblick auf die jeweiligen Konsequenzen reflektiert werden, allerdings ohne daß im gegenwärtigen Anfangsstadium der Untersuchung bereits Aussicht auf eine fundierte Lösung des Problems bestehen kann. 11

III. Im folgenden wird zunächst Schopenhauers Grundkonzeption voluntativer Einstellung skizziert und mit dem Gegenentwurf einer ästhetischen Einstellung konfrontiert. Damit diese knappe Darstellung größtmögliche Au-

8

9 10

11

Daß diese Konstellation weitreichende Konsequenzen auch für die Ästhetik selbst hat, wird unter verschiedenen Perspektiven im Verlauf der vorliegenden Abhandlung deudich werden. Hingewiesen sei insbesondere auf § 3, § 6, § 7, § 12. W W V II S. 473. Mehr als wohl jeder andere Paragraph dieser Abhandlung (ausgenommen allenfalls § 7) hat § 1 daher einführenden Charakter. Aufschluß zur Problematik ästhetischer Freiheit werden die weiteren Ausführungen in dieser Abhandlung bieten, vor allem § 5 und — als Fokus der Analysen — § 12.

6

Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

thentizität erreicht, besteht sie — ausnahmsweise — aus einer Komposition prägnanter Schopenhauer-Zitate. Vorangestellt sei eine konzis formulierte und für Schopenhauers Willenskonzeption repräsentative Passage größeren Umfangs: „Alles Wollen entspringt aus Bedürfnis, also aus Mangel, also aus Leiden. Diesem macht die Erfüllung ein Ende; jedoch gegen einen Wunsch, der erfüllt wird, bleiben wenigstens zehn versagt: ferner, das Begehren dauert lange, die Forderungen gehn ins unendliche; die Erfüllung ist kurz und kärglich bemessen. Sogar aber ist die endliche Befriedigung selbst nur scheinbar: der erfüllte Wunsch macht gleich einem neuen Platz; jener ist ein erkannter, dieser ein noch unerkannter Irrtum. Dauernde, nicht mehr weichende Befriedigung kann kein erlangtes Objekt des Wollens geben: sondern es gleicht immer nur dem Almosen, das, dem Bettier zugeworfen, sein Leben heute fristet, um seine Qual auf Morgen zu verlängern. — Darum nun, solange unser Bewußtsein von unserm Willen erfüllt ist, solange wir dem Drange der Wünsche mit seinem steten Hoffen und Fürchten hingegeben sind, solange wir Subjekt des Wollens sind, wird uns nimmermehr dauerndes Glück noch Ruhe [...]: die Sorge für den stets fordernden Willen [...] bewegt fortdauernd das Bewußtsein; ohne Ruhe aber ist durchaus kein wahres Wohlsein möglich. So liegt das Subjekt des Wollens beständig auf dem drehenden Rade des Ixion, schöpft immer im Siebe der Danaiden, ist der ewig schmachtende Tantalus". 12 Dem so charakterisierten Willen ist laut Schopenhauer die Erkenntnis „ihrem Wesen nach [...] dienstbar". 13 In seiner Funktion als „Medium der Motive" 14 erkennt der Intellekt an den Objekten lediglich ihre „durch den Satz vom Grunde gesetzten [...] mannigfaltigen Beziehungen in Raum, Zeit und Kausalität", weil nur durch diese Relationen das jeweilige Objekt „dem Individuo interessant" ist, mithin in einem Verhältnis zu seinem Willen steht. 15 In verschiedenerlei Hinsicht vertritt Schopenhauer eine pejorative Einschätzung dieser Konstellation, die durch Dominanz des Willens und Instrumentalität des Intellekts bestimmt wird. Bereits die oben zitierte längere Passage läßt erkennen, daß Schopenhauer das Wollen als einen aus fundamentaler Bedürftigkeit entspringenden progressus ad infinitum versteht, als ein Streben ohne letztes Ziel, das, mit „einem unlöschbaren Durst" vergleich-

12 w w v I S. 2 7 9 - 2 8 0 . Analog S. 430. 13 W W V I S. 254. Vgl. auch W W V I S. 255, 256, 258, 280, 282; W W V II S. 469, 470, 486; PP II S. 84, 85, 88, 492, 495, 682. 14 W W V II S. 485. is W W V I S. 255. Vgl. auch W W V II S. 485.

§ 1. Die Negativität ästhetischer ,Willensfreiheit'

7

bar 16 , fortwährendes Leiden mit sich bringt.17 In etlichen Passagen seines Werks veranschaulicht und exemplifiziert Schopenhauer seine pessimistische Uberzeugung, das Menschenleben sei „schon der ganzen Anlage nach keiner wahren Glückseligkeit fähig, sondern wesentlich ein vielgestaltetes Leiden und ein durchweg unseliger Zustand". 18 Seine These, daß „alles Leben Leiden"19 und folglich „jede Lebensgeschichte eine Leidensgeschichte"20 ist, konkretisiert Schopenhauer vielfach durch plastisch-drastische Darstellungen von erstaunlicher Suggestivkraft. Immer wieder verweisen sie auf die dem Leben immanente Bewegungsdynamik, die sich in einem Oszillieren zwischen Wollen und Erreichen zeigt.21 Daß diese düstere Grundkonstellation menschlichen Lebens oftmals geradezu aporetische Züge annimmt, kann man bereits an den metaphorisch eingesetzten Mythologemen erkennen, in denen vom ewig schmachtenden Tantalus, vom Sieb der Danaiden und vom Rade des Ixion die Rede ist. 22 Sogar „a priori" glaubt Schopenhauer den Nachweis „des im Wesen des Lebens begründeten unumgänglichen Leidens" 23 führen zu können. Und wenn er behauptet, daß einer so elenden Existenz „gänzliches Nichtsein [...] entschieden vorzuziehn wäre" 24 , dann erhellt die Radikalität, mit der Schopenhauer seine pejorative Einschätzung des dauerhaften Leidenszustands innerhalb der lebensweltlich-alltäglichen Willenssphäre vertritt. Aber nicht der Wille allein ist Gegenstand negativer Perspektiven. Eine ähnliche — wenngleich anders begründete — Bewertung erfährt auch der als Werkzeug im Dienste des Willens stehende Intellekt.25 Denn gerade dadurch, daß die in ungebrochener Instrumentalität aufgehende Erkenntnis stets an den Interessen und Bedürfnissen des Willens orientiert bleibt, wird sie „verunreinigt"26 und „verfälscht".27 Nach Schopenhauers Auffassung nämlich 1Λ WWV I S. 427. Vgl. auch S. 448, 494, 432. 17

is 19

20 21 22

23

24 25 26

27

Vgl. WWV I S. 425, 4 2 7 - 4 2 8 , 430, 432, 448, 4 9 4 - 4 9 5 , 240, 241. Dazu vgl. auch § 8 dieser Dissertation. w w v I S. 443. WWV I S. 426. Vgl. ferner S. 436, 437. WWV I S. 444. Vgl. ζ. B. W W V I S. 430. Vgl. WWV I S. 280, 437. Dem Tantalus könnte man — gleichsam als ,Bruder' in conditione humana — Sisyphos beigesellen. Vgl. § 9 der vorliegenden Abhandlung und die dort (im Anschluß an § 8) behandelte Problematik doppelter Bedürftigkeit, die den aporetischen Charakter des Daseins in entscheidender Hinsicht noch verschärft. WWV I S. 444. WWV I S. 445. Vgl. WWV II S. 514. WWV II S. 476. Vgl. außerdem PP II S. 80. WWV II S. 481, 491 - 4 9 2 . Vgl. ferner PP II S. 81.

8

Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

trübt „jede Neigung oder Abneigung nicht etwan bloß das Urteil", sondern verzerrt und entstellt „schon die ursprüngliche Anschauung der Dinge".28 Daher — so lautet Schopenhauers positive Folgerung — ist „eine rein objektive und daher richtige Auffassung der Dinge nur dann möglich [...], wann wir dieselben ohne allen persönlichen Anteil, also unter völligem Schweigen des Willens betrachten".29 Der inferiore Status des willensabhängigen Erkennens im Vergleich zur willenlos-ästhetischen Betrachtungsweise ist durch seine Individualität und Relationalität bedingt. Eine solche durch Interessen des Willens verfälschte und „ganz oberflächliche Betrachtung der Dinge" 30 läßt dem als Individuum erkennenden Menschen die Objekte jeweils nur „als einzelne" zugänglich werden31, berücksichtigt allein die Relationen der Dinge zueinander und vor allem zum Willen des Individuums32 — „mit möglichster Blindheit gegen alles übrige".33 Dabei rekurriert sie in symptomatischer Einseitigkeit nur auf das Hier und Jetzt der Dinge sowie auf die jeweiligen Kausalzusammenhänge, in die sie eingebunden sind.34 Eine „objektive und vollständige Auffassung des Wesens der Dinge" 35 ist im Rahmen des willensdependenten Erkennens prinzipiell ausgeschlossen. Sie wird erst dann möglich, wenn „das Objekt aus aller Relation zu etwas außer ihm, das Subjekt aus aller Relation zum Willen getreten ist: dann ist, was also erkannt wird, nicht mehr das einzelne Ding als solches; sondern es ist die Idee, die ewige Form".36 Voraussetzung für diese spezifisch ästhetische Einstellung ist ein „Akt der Selbstverleugnung"37, bei dem „die Erkenntnis sich vom Dienste des Willens losreißt" und das Subjekt seinen vorherigen Status als „bloß individuelles", willensabhängiges zu transzendieren vermag.38 Dann wird es zum reinen willenlosen, schmerz- und zeitlosen Subjekt der Erkenntnis.39 Der Intellekt, der sich von der bloß an Relationen orientierten Erkenntnisweise entfernt hat, „schwebt alsdann frei, keinem Willen mehr w w v II s . 481. 29 W W V II S. 481. 28

30

PP II S. 88.

31 W W ι s. 255. Vgl. PP II S. 88 und W W V II S. 469. PP II S. 88. 3 4 Vgl. W W V I S. 255, 258. 3 5 PP II S. 88. 36 W W V I S. 257. Vgl. auch S. 284 und PP II S. 491. 37 W W V II S. 473. 3 8 Vgl. W W V I S. 256. 39 Vgl. W W V I S. 257, 284; PP II S. 491. 32

33

§ 1. D i e Negativität ästhetischer .Willensfreiheit'

9

angehörig: im einzelnen Dinge erkennt er bloß das Wesentliche [...]; also die beharrenden, unwandelbaren, von der zeitlichen Existenz der Einzelwesen unabhängigen" Ideen. 40 In diesem Zustand ästhetisch-willenloser Kontemplation werden „die Dinge so betrachtet, als ob sie den Willen nie etwas angehn könnten. Denn hiedurch allein wird die Erkenntnis zum reinen Spiegel des objektiven Wesens der Dinge". 4 1 Weil „die Erkenntnis dem Sklavendienste des Willens" entrissen ist, entfällt in ästhetischer Einstellung der Zustand des ,ewig schmachtenden Tantalus'. 42 Die im Bereich des Wollens „immer entfliehende Ruhe" tritt in objektiver, interesseloser Betrachtung plötzlich von selbst ein und vermittelt ein besonderes Wohlgefühl, das in der voluntativen Sphäre vergeblich seinesgleichen sucht. 43 In den vorangegangenen Darlegungen wurde Schopenhauers Konzeption willensdependenten Erkennens seiner Theorie ästhetischer Betrachtungsweise anhand etlicher Textbelege gegenübergestellt, und zwar vor allem im Hinblick auf wesentliche Differenzen. Im folgenden sollen die Implikationen von Schopenhauers Konzeption der „Befreiung des Erkennens vom Dienste des Willens" 44 selbst im Vordergrund stehen.

IV. Zurückzukommen ist dabei auf die eingangs bereits angedeutete Problematik einer ästhetischen Freiheit, die sich in bloßer Willensindependenz erschöpft, die mithin die Negativität bloßen Befreitseins nicht durch positive Charakteristika transzendiert. Für die Beurteilung der Plausibilität von Schopenhauers Ästhetik hat ein Aufweis der konstitutiven Merkmale ästhetischer Freiheit erhebliche Bedeutung. Einleitend sei kurz die Schwierigkeit skizziert, die grundsätzlich mit einer auf bloße Negativität beschränkten Freiheit einhergeht, der die positive Gesetzlichkeit einer Autonomie fehlt. Auf dieser Basis wird anschließend zu W W V II S. 470. Vgl. auch W W V I S. 258: D a n n „tritt die Welt als Vorstellung gänzlich und rein hervor und geschieht die vollkommene Objektivation des Willens, da allein die Idee seine adäquate Objektität ist". 41 W W V II S. 473. Vgl. auch W W V I S. 257. 42 w w v I S. 280. 40

Vgl. W W V I S. 280 — 283, w o Schopenhauer sogar B e g r i f f e wie ,Traum', ,Zauber', .Seligkeit' und .Paradies' verwendet, u m die beglückende Besonderheit eines Z u s t a n d s zu beschreiben, in dem „der D r a n g des Wunsches und der Furcht und alle Q u a l des Wollens [...] auf eine wundervolle Art beschwichtigt" sind (S. 281—282). 44 W W V I S. 283. Vgl. auch S. 282. 43

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

untersuchen sein, ob diese Problematik auch in Schopenhauers Theorie der ästhetischen Einstellung auftritt, beziehungsweise wie es Schopenhauer in seiner Konzeption gelingt, einer Schwierigkeit dieser Art vorzubeugen. Vermag Schopenhauer sein ästhetisches Freiheitspostulat letztlich doch in der Weise zu fundieren, daß er die zunächst nur besonders auffällige Negativität eines Befreitseins vom Willen durch positive Bestimmungen überschreitet, die eine genuine Eigengesetzlichkeit solcher Freiheit gewährleisten? Eine lediglich negativ als Befreitsein von etwas charakterisierbare Freiheit wird als potentieller Ursprung einer aus ihr hervorgehenden Bewegung fragwürdig. Durch das Fehlen der spezifischen Gesetzlichkeit einer Freiheit als Autonomie entsteht für fremde Gesetzlichkeit, für die Heteronomie von Natur, die Möglichkeit, dieses Vakuum von Anomie zu okkupieren und die Negativität der Gesetzlosigkeit durch die Positivität einer Kausalgesetzlichkeit zu ersetzen. Nur eine positiv durch die spezifische Gesetzlichkeit einer Autonomie bestimmte Freiheit kann die Gefahr externer Ubergriffe durch determinierende Natur abwehren und ihrer heteronomen Gesetzlichkeit Widerstand leisten. 45 Springt hier Natur ein, weil Freiheit sich aufgrund bloßer Negativität nicht in zureichendem Maße nach außen hin, also gegenüber dem Opponenten Natur, abzugrenzen und damit abzusichern vermag, dann wird gerade die Negativität von Freiheit zum Ursprung eines Naturalismus. Freiheit als Negativität schlägt dabei in die Positivität einer Naturkausalität um. Aus dieser Problemkonstellation erhellt, daß ein defizitärer Status von Freiheit im Sinne einer bloß negativen Freiheit von Gesetzlichkeit zur Gefahr für solche Freiheit wird: indem er die Voraussetzungen für deren Aufhebung durch einen heteronomen Ubergriff schafft. Was haben diese grundsätzlichen Überlegungen nun aber mit Schopenhauers Ästhetik zu tun? Lassen sich diese abstrakt-theoretischen ,Trockenübungen' tatsächlich konkret und kritisch auf Schopenhauers Konzeption anwenden? — Das scheint durchaus der Fall zu sein. Denn mehrere Textbelege in Schopenhauers Ästhetik erwecken tatsächlich den Eindruck, daß seine Konzeption ästhetischer Freiheit die bloße Negativität eines Befreitseins vom Willen nicht durch die positive Gesetzlichkeit einer Freiheit als Autonomie transzendiert. Nachweislich beschränkt sich Schopenhauer in edichen Formulierungen darauf, lediglich die Distanz des ästhetischen Intellekts gegen-

45

Zu internen Strukturen dieser Relation zwischen Freiheit und Natur, zwischen Autonomie und Heteronomie vgl. Prauss, Gerold: K a n t über Freiheit als Autonomie. Frankfurt a.M. 1 9 8 3 (Philosophische Abhandlungen Bd. 51), insbesondere § 1 und § 4 , mithin S. 1 9 - 2 8 , 52-61.

§ 1. Die Negativität ästhetischer ,Willensfreiheit'

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über dem Willen zu betonen: „Er schwebt alsdann frei, keinem Willen mehr angehörig". 46 Das Auseinandertreten von Willen und Intellekt erreicht „im Genie seinen höchsten Grad, als wo es bis zur völligen Ablösung des Intellekts von seiner Wurzel, dem Willen, geht, so daß der Intellekt hier völlig frei wird", 47 Dennoch scheint sich Schopenhauer durchaus im klaren darüber zu sein, daß bloße Negativität von Freiheit ein beträchtliches Defizit mit sich bringt. Dieser Eindruck jedenfalls liegt nahe, wenn er in seiner „Preisschrift über die Freiheit des Willens" folgendes ausführt: „Soll die Waage sich nach einer Seite senken; so muß ein fremder Körper ihr aufgelegt werden, der dann die Quelle der Bewegung ist. Ebenso muß die menschliche Handlung durch etwas hervorgebracht werden, welches positiv wirkt und etwas mehr ist als eine bloß negative Freiheit". 48 Sollte es Schopenhauer etwa trotz einer, wie es scheint, so weitreichenden Einsicht letztlich doch nicht gelungen sein, sie für seine eigene Konzeption auch fruchtbar zu machen? Das folgende Zitat scheint diesen skeptischen Gedanken zu widerlegen: „Nur wann der Wille mit seinen Interessen das Bewußtsein geräumt hat und der Intellekt frei seinen eigenen Gesetzen folgt und als reines Subjekt die objektive Welt abspiegelt, dabei aber doch, obwohl von keinem Wollen angespornt, aus eigenem Triebe in höchster Spannung und Tätigkeit ist, treten Farbe und Gestalt der Dinge in ihrer wahren und vollen Bedeutung hervor: aus einer solchen Auffassung allein also können echte Kunstwerke hervorgehn". 49 Dieses Zitat legt die Annahme nahe, daß Schopenhauer seine Konzeption der ästhetischen Einstellung tatsächlich durch eine Freiheit als Autonomie fundiert, daß er also — entgegen dem ersten Anschein — die defizitäre Negativität bloßen Befreitseins vom Willen in entscheidender Hinsicht überschreitet. Denn wie sonst sollte man eine Freiheit nach „eigenen Gesetzen" verstehen, wenn nicht eo ipso als Positivität einer Autonomie? — Diese Hypothese scheint sich zu bestätigen, wenn Schopenhauer davon ausgeht, daß der Intellekt sich vom Willensdienst „losmacht, um seinen eigenen Zwecken nachzugehn" 5 0 , wobei er „die Sorge für den Willen oder die eigene Person [...]

W W V II S. 470. 47 W W V II S. 493. 4 8 Kl. Sehr. S. 596. Weiterführende Überlegungen zu dieser Textstelle und der durch sie zunächst nahegelegten, jedoch in entscheidender Hinsicht revisionsbedürftigen prima-vistaArgumentation finden sich in § 1 an späterer Stelle. 49 W W V II S. 482. 5 0 W W V II S. 501. Vgl. dazu auch § 2 und vor allem § 5 der vorliegenden Abhandlung. 46

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

fahrenläßt, dennoch aber nicht aufhört, energisch tätig zu sein und das Anschauliche mit voller Anspannung deutlich aufzufassen". 51 Und die Gefahr eines fehlenden Bewegungsimpulses aufgrund bloßer Negativität von Freiheit scheint vollends gebannt zu sein, wenn Schopenhauer betont, daß der Intellekt, „seines Dienstes unter dem Willen einstweilen enthoben, jetzt nicht in Untätigkeit oder Abspannung versinkt, sondern auf eine kurze Weile ganz allein aus freien Stücken tätig ist" 52 , „aus eigener Kraft und Elastizität". 53 Beim Postulat bloßer Befreiung des Intellekts vom Willensdienst bleibt Schopenhauer in seiner Ästhetik demnach offenbar nicht stehen. Vielmehr scheint die Loslösung des Intellekts von seiner Instrumentalisierung lediglich die notwendige Voraussetzung für eine spezifisch ästhetische Aktivität des Intellekts aus eigenen Impulsen darzustellen. — Bleibt Schopenhauers Ästhetik also von problematischen Auswirkungen einer auf Negativität beschränkten Willensfreiheit' als bloßer Freiheit vom Willen verschont, indem diese ergänzt und überboten wird durch autonome Aktivität des ästhetischen Intellekts? Mag eine positive Antwort auf diese Frage auch noch so berechtigt erscheinen: es finden sich gleichwohl mehrere Anhaltspunkte, die eine gewisse Skepsis 54 nahelegen. Zurückzukehren ist nun zu der oben zitierten Aussage aus Schopenhauers „Preisschrift über die Freiheit des Willens". Ist die dort von Schopenhauer formulierte Einsicht in die Notwendigkeit einer Überschreitung bloß negativer Freiheit tatsächlich so förderlich für den vorliegenden Argumentationszusammenhang, wie es zunächst den Anschein hatte? Im vorangegangenen war zunächst der Eindruck entstanden, Schopenhauer vertrete die Auffassung, bloße Negativität der Freiheit müsse transzendiert und substituiert werden durch positive Gesetzlichkeit solcher Freiheit — eben Eigengesetzlichkeit, Autonomie. Diese Hypothese hält aber bei näherem Zusehen einer kritischen Uberprüfung nicht stand. Der bislang nicht zitierte Kontext nämlich zwingt zu einer Revision dieser Einschätzung: Wenn Schopenhauer als Ursprung menschlicher Handlung solches postuliert, „welches positiv wirkt und etwas mehr ist als eine bloß negative Freiheit" 55 , dann besteht die grundlegende PP II S. 492. Vgl. auch Schopenhauers Aussage in W W V II S. 482, „daß der Intellekt, von seiner Wurzel, dem Willen, abgelöst, frei schwebend und doch höchst energisch tätig sei". 52 W W V II S. 490. Vgl. auch S. 492, 495. 53 W W V II S. 500. 5 4 Unter verschiedenen Aspekten sollen § 2, § 3, § 4 und vor allem § 5 der vorliegenden Arbeit die überaus komplexe Problemkonstellation erhellen, die sich im Zusammenhang mit zentralen Postulaten der Schopenhauerschen Ästhetik ergibt. 5 5 Kl. Sehr. S. 596. 51

§ 1. Die Negativität ästhetischer .Willensfreiheit'

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Opposition, obwohl die von Schopenhauer selbst im Text angebrachten Hervorhebungen dies nahezulegen schienen, nicht etwa zwischen Positivem und Negativem, wobei diese Gegensätze gleicherweise auf die Freiheit bezogen wären. Vielmehr baut Schopenhauer den eigentlichen Kontrast zwischen Positivem und Freiheit als solcher auf, und das bedeutet: Entgegen der bisher entfalteten apologetischen Argumentation betrachtet Schopenhauer Freiheit hier eo ipso als negative! Der weitere Textzusammenhang zeigt eindeutig, daß es Schopenhauer keineswegs darum geht, eine für naturale Heteronomie anfällige Negativität von Freiheit durch die Positivität einer Autonomie zu ersetzen. Stattdessen verfolgt er die — weitaus radikalere — Absicht, durch die Annahme von Negativität als Charakteristikum der Freiheit schlechthin von einer Freiheit des Willens prinzipiell Abschied zu nehmen. Denn Freiheit als „bloß negative Eigenschaft" besagt nur, „daß nichts den Menschen nötigt oder hindert, so oder so zu handeln. Dadurch aber wird nimmermehr klar, woraus denn zuletzt die Handlung entspringt". 56 Und im Anschluß an eine Gegenüberstellung von Notwendigkeit und Freiheit äußert sich Schopenhauer anderenorts folgendermaßen: „Der Begriff der Freiheit ist also eigentlich ein negativer, indem sein Inhalt bloß die Verneinung der Notwendigkeit, d. h. des dem Satz vom Grund gemäßen Verhältnisses der Folge zu ihrem Grunde ist". 57 Diese Einschätzung mündet schließlich in die folgende These: „Unter Voraussetzung der Willensfreiheit wäre jede menschliche Handlung ein unerklärliches Wunder — eine Wirkung ohne Ursache". 58 Um diese offensichtliche Absurdität zu vermeiden, sieht Schopenhauer keine andere Möglich56 57

58

Kl. Sehr. S. 596. WWV I S. 395. (In die Löhneysen-Edition hat sich ein Druckfehler eingeschlichen; statt „Verneinung" steht dort irrtümlicherweise „Verneigung".) Kl. Sehr. S. 565. Analog S. 576-577. Vgl. auch S. 6 0 3 - 6 0 4 . Auf S. 579 (Kl. Sehr.) bezeichnet Schopenhauer die Willensfreiheit als den Widerspruch einer „existentia ohne essentia". Demgegenüber hat laut Schopenhauer vom Willen zu gelten, „daß er der Nötigung durch Motive unterworfen sei" (Kl. Sehr. S. 625). Das Gesetz der Motivation nimmt Schopenhauer als Gesetz des menschlichen Willens in Anspruch; als „eine Form des Kausalitätsgesetzes, nämlich die durch das Erkennen vermittelte Kausalität" führt es „Notwendigkeit mit sich" (Kl. Sehr. S. 646). Die Deliberationsfähigkeit, die den Menschen gegenüber dem Tier auszeichnet, ist keine Freiheit des Willens, sondern nur „die Möglichkeit eines ganz durchgekämpften Konflikts zwischen mehreren Motiven, davon das stärkere ihn dann mit Notwendigkeit bestimmt" (WWV I S. 409; vgl. auch S. 401, 410). Infolgedessen gilt: „die Person [...] ist nie frei" (WWV I S. 398). Uber die Implikationen ist sich Schopenhauer vollauf im klaren, wenn er unverblümt äußert: „der Determinismus steht fest: an ihm zu rütteln haben nun schon anderthalb Jahrtausende vergeblich sich bemüht" (WWV II S. 415). Diese Thesen Schopenhauers können hier lediglich referiert werden; eine angemessene Behandlung der Determinismus-Problematik würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

keit, als eine „Freiheit des einzelnen Wollens, d. h. Unabhängigkeit vom Gesetze der Kausalität" 59 , zu negieren und stattdessen Notwendigkeit vorauszusetzen. Beide Formulierungen geben deutlich zu erkennen, daß in diesem Kontext Willensfreiheit im Sinne einer Freiheit des Willens themadsch ist, nicht jedoch die im vorliegenden § 1 eigentlich zur Diskussion stehende Problematik ästhetischer Freiheit vom Willen. So liegt zunächst die Annahme nahe, Schopenhauers Reflexionen zur Willensfreiheit seien aus den Analysen zu seiner Ästhetik von vornherein als irrelevant herauszukatapultieren, weil sich Spekulationen über Freiheit oder Unfreiheit des Willens angesichts von Schopenhauers Postulat ästhetischer Willenlosigkeit erübrigen. Obwohl diese Einschätzung überzeugend wirkt, bedarf sie einer Korrektur: Trotz der zweifellos gravierenden Differenz zwischen der Willensfreiheit als einer Freiheit des Willens einerseits und ästhetischer Willensfreiheit als einem Befreitsein des Intellekts vom Willen besteht zwischen beiden Modi von Freiheit eine aufschlußreiche Strukturanalogie. Denn müßte Schopenhauer nicht eine nach „eigenen Gesetzen" 60 erfolgende Tätigkeit des ästhetischwillensindependenten Intellekts konsequenterweise mit ähnlicher Skepsis betrachten wie die tradierte Auffassung vom Willen als einem Sich-selbst-Bestimmenden, die er als die Absurdität einer „Wirkung ohne Ursache" 61 glaubt dekuvrieren zu können? Schopenhauers Aussagen über Freiheit und deren angeblich prinzipielle Negativität geben Anlaß zu der kritischen Überlegung, daß die vermeintlich durch die Positivität einer Tätigkeit nach „eigenen Gesetzen" als Autonomie etablierte ästhetische Freiheit des Intellekts sich vielleicht doch in bloßer Negativität eines Befreitseins vom Willen erschöpfen könnte, so daß die Formulierungen Schopenhauers, die solches Negative zu transzendieren scheinen, sich möglicherweise letztlich als bloße Verbalismen erweisen, als Leerformeln, deren Oberflächenstruktur nur notdürftig kaschiert, daß ihnen eine inhaltsreiche, sinntragende Tiefendimension fehlt.

59 WWV I S. 414. «o WWV II S. 482. 61 Kl. Sehr. S. 565. Vgl. außerdem S. 6 0 3 - 6 0 4 : „Der Ausdruck, daß der Wille ein Sich-selbstBestimmendes sei, gibt gar keinen Begriff oder vielmehr: enthält eine Absurdität, nämlich diese, daß eine Bestimmung, welche eine Wirkung ist, eintritt ohne irgendeine Ursache". Anschließend präsentiert Schopenhauer auf S. 604 folgende Scheinalternative: „Kurzum, es liegt hier keine andere Wahl vor als die zwischen der Lehre von der Notwendigkeit oder absolutem Unsinn".

§ 1. Die Negativität ästhetischer ,Willensfreiheit'

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Eine abschließende Lösung für diese überaus komplexe Problematik kann im vorliegenden § 1 noch nicht entfaltet werden, wohl aber lassen sich zusätzliche Überlegungen anstellen, die den Problemhorizont weiter erhellen und dadurch indirekt eine Lösung vorzubereiten helfen.

V. Zurückzugreifen ist in diesem Zusammenhang auf Schopenhauers konsekutiv formulierte Aussage, im Genie schreite das Auseinandertreten von Willen und Intellekt bis zur gänzlichen „Ablösung des Intellekts von seiner Wurzel, dem Willen", fort, „so daß der Intellekt hier völlig frei wird". 0 2 Diese Textstelle bringt Schopenhauers Auffassung zum Ausdruck, daß die ästhetische Freiheit des Intellekts dessen Willensindependenz voraussetzt. Nur wenige Seiten von dieser These entfernt, findet sich eine andere Textstelle, die sich von der zitierten insofern unterscheidet, als in ihr an die Stelle der Positivaussage deren negatives Pendant tritt und der Zusammenhang nicht konsekutiv, sondern kausal formuliert ist: In Abgrenzung von der Erkenntnisweise des Genies stellt Schopenhauer fest: „Hingegen ist bei allem absichtlichen Nachdenken der Intellekt nicht frei, da ja der Wille ihn leitet und sein Thema ihm vorschreibt". 63 Prägnanter läßt sich die Trennung, ja Opposition von Willen und Freiheit wohl schwerlich darstellen. Daß Schopenhauer gerade die Aufhebung der Absichtlichkeit als konstitutiv für ästhetische Einstellung betrachtet, läßt sich auch durch sein Postulat belegen, die Erkenntnis müsse „absichtslos tätig, folglich willenslos sein". 64 In dieselbe Richtung weist Schopenhauers These, bei dem ästhetischen Subjekt handle es sich um „eine reine Intelligenz ohne 62

W W V II S. 493. Heinz Paetzold stellt den Grundcharakter des Ästhetischen bei Schopenhauer folgendermaßen dar: „Indem im Genie dieser für szientifische Rationalität konstitutive Zusammenhang — von Intellekt und Wille — zerbricht, wird es frei für ,reine Erkenntnis'." (Vgl. Paetzold, Heinz: Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer. Wiesbaden 1983. S. 4 1 9 —420.) Mit dieser Formulierung suggeriert Paetzold zu Unrecht, das zunächst nur Negative einer Befreiung des Intellekts vom Willensdienst erscheine gleichsam Hand in Hand mit der Positivität einer ,Befreiung für'. Entsprechende Signale für eine positiv als Autonomie bestimmte Freiheit in Schopenhauers Ästhetik, deren Geltungsanspruch — falls überhaupt möglich — systemimmanent allererst legitimiert werden müßte, scheint Paetzold voreilig bereits als fundiert zu betrachten. Dadurch versäumt er die Gelegenheit, die komplexe Problematik ästhetischer Freiheit bei Schopenhauer tatsächlich kritisch zu reflektieren.

« W W V π S. 490. 64

PP II S. 494.

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Absichten und Zwecke". 6 5 Von diesen Zitaten allerdings unterscheidet sich die zuvor zitierte Aussage Schopenhauers insofern, als in ihr die explizite Opposition von Absichtlichkeit und Freiheit im Zentrum steht. Sie gibt Anlaß zu folgender Frage: Wie hat man sich eine Freiheit als Autonomie vorzustellen, von der jedwede Ausprägung von Absichtlichkeit oder Intentionalität geradezu abgespalten sein soll? Welche Funktion könnte unter solchen Umständen selbst der Positivität einer Freiheit als Autonomie noch zukommen, wenn sich schlechterdings nichts mehr böte, das geeignet wäre, von solcher Autonomie als spezifischer Gesetzlichkeit bestimmt zu werden? Ja, wird nicht die mögliche Funktion einer ästhetischen Freiheit von vornherein fragwürdig, wenn durch die Elimination der Absichtlichkeit aus ästhetischer Einstellung zugleich auch das Wirkungsfeld verschwindet, in dem eine Freiheit als Autonomie allererst zur Entfaltung gelangen könnte? Trotz der für die zitierten Aussagen konstitutiven Opposition zwischen Freiheit und Absichtlichkeit scheint also die Ausschaltung von Intentionalität als Absichtlichkeit die ästhetische Freiheit in Mitleidenschaft zu ziehen. Offenbar erweist sich Freiheit als Autonomie ohne Intentionalität als leer, weil die Positivität von Eigengesetzlichkeit, die grundsätzlich einer Wirkungsmöglichkeit bedarf, ohne diese offenbar in einen problematischen Engpaß gerät. Kann man die Freiheit des ästhetischen Intellekts letztlich doch nicht als Autonomie betrachten, — und zwar obwohl Schopenhauer eine willensindependente Tätigkeit nach „eigenen Gesetzen" postuliert? Und spricht für die Annahme eines reduzierten Freiheitsbegriffs im Sinne der Negativität bloßen Befreitseins — im Anschluß an das vorhergehende Argument — nicht auch noch die Folgerung, die Schopenhauer explizit aus der Willensindependenz der Erkenntnisweise des Genies zieht: nämlich „daß die Werke desselben nicht aus Absicht oder Willkür hervorgehn, sondern es dabei geleitet ist von einer instinktartigen Notwendigkeit"? 66 Behauptet nun Schopenhauer im Zusammenhang mit einem „Instinkt ganz eigner Art", aus dem seines Erachtens die genialen Werke entstehen, solche Werkschöpfung geschehe „aus derselben Notwendigkeit, mit welcher der Baum seine Früchte trägt" 6 7 , dann scheinen hier unversehens naturalistische Momente Eingang in seine Genie-Asthetik zu finden. Läßt sich in diesem Rahmen die Zurechnungsfähigkeit des im Prozeß genialer Werkproduktion befindlichen ästhetischen Subjekts noch

P P II S. 491. 66 w w v π s. 490. Vgl. auch PP II S. 494, wo Schopenhauer das Unabsichtliche genialer Werke explizit nicht nur mit Unbewußtem, sondern auch mit Instinktivem verknüpft. 6 7 P P II S. 104. Z u m Instinkt vgl. hinsichtlich des Genies auch WWV I S. 330, P P II S. 105. 65

§ 1. Die Negativität ästhetischer ,Willensfreiheit'

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gewährleisten? Bestätigt sich hier möglicherweise bereits die Prognose, die weiter oben im Entwurf eines generellen (vom speziellen Bezug auf Schopenhauers Konzeption noch unabhängigen) Problemhorizonts gegeben wurde: die spezifische Schwierigkeit einer bloß negativen Freiheit bestehe darin, daß sie in Ermangelung eigener Gesetzlichkeit prinzipiell offen ist für die Übernahme fremder Kausalität infolge einer Okkupation durch Naturheteronomie? 68 Und wie hat man in diesem Rahmen jenes eigentümliche Phänomen zu beurteilen, daß Schopenhauer implizit eine Quantifizierung ästhetischer Freiheit zu vertreten scheint? Betrachtet man beispielsweise seine Aussage, „das Erkennen ist um so reiner und folglich um so objektiver und richtiger, je mehr es sich vom Willen losgemacht hat" 69 , so fällt auf, daß lediglich das Partizip ,losgemacht' durch sein Synonym ,befreit' ersetzt werden muß, damit diese implizite Stufenfolge von Freiheits-,Quanten' auch explizit hervortritt. Entsprechend verhält es sich, wenn Schopenhauer die „in unendlichen Abstufungen" sich steigernde „Deutlichkeit des Bewußtseins" darauf zurückführt, „daß der Intellekt durch sein Ubergewicht sich vom Willen, dem er ursprünglich dienstbar ist, zuzeiten losmacht". 70 Eine quantitative Differenzierung zwischen verschiedenen Graden von Befreiung korrespondiert offenbar mit den „Abstufungen" der „Deutlichkeit des Bewußtseins", die im Genie als höchstem Grad von Erkenntnis-Objektivität ihr Maximum erreicht. 71 Läßt sich nicht gerade im Hinblick auf das Quantitativ-Graduelle solcher ,Losmachung' dafür argumentieren, daß sich die ästhetische Freiheit des Intellekts in Schopenhauers Konzeption tatsächlich in der bloßen Negativität eines Befreitseins vom Willensdienst erschöpft und den positiven Status einer qualitativ bestimmten Freiheit als Autonomie nicht erreicht? Die oszillierenden Interpretationsansätze von § 1 mit ihrem Hin und Her zwischen unvereinbaren Hypothesen könnten den Eindruck erwecken, solche Gegensätzlichkeit lasse sich argumentativ schwerlich bewältigen, so daß letztlich nichts anderes übrigbleibe als das resignative Eingeständnis einer Aporie. Diese Einschätzung aber bedarf im weiteren Verlauf der vorliegenden Abhandlung einer Revision. Die auffällige Disproportionalität zwischen der Fülle von Fragen und dem Mangel an Antworten soll im folgenden Schritt für Schritt beseitigt werden. 68 69 70

71

Vgl. zu dieser Thematik § 4 der vorliegenden Abhandlung. Kl. Sehr. S. 399. Vgl. auch S. 400. W W V II S. 493. Zum Zusammenhang dieser Quantifizierungstendenzen mit Schopenhauers Platon-Rezeption vgl. § 13. Vgl. ζ. B. W W V II S. 3 7 7 - 3 7 8 , 493; Kl. Sehr. S. 3 9 9 - 4 0 0 ; HN III S. 586.

§ 2. Der Stellenwert ,objektiven Interesses' im Hinblick auf das Postulat ästhetischer Interesselosigkeit I.

Auch für Schopenhauers Ästhetik ist der bereits in Kants „Kritik der Urteilskraft" 1 bedeutsame Begriff der Interesselosigkeit konstitutiv. Schopenhauer entwickelt seine Ästhetik größtenteils via negationis, durch die Aufhebung dessen, was die willensdependente, nichtästhetische Betrachtungsweise kennzeichnet. Das erhellt bereits aus der in § 1 behandelten Negativität ästhetischer .Willensfreiheit' als einer Freiheit vom Willen. In den Epitheta interesselos', .uninteressiert', .absichtslos', ,willenlos' allerdings, mit denen Schopenhauer das ästhetische Subjekt und seinen Zustand charakterisiert, kommt die morphologisch durch Präfix oder Suffix ausgewiesene Negativität ästhetischer Einstellung noch deutlicher zum Ausdruck. Exemplarisch seien hier folgende Belege angeführt: In „einer in jedem Sinn völlig uninteressierten Betrachtung" erblickt Schopenhauer „die eigentliche Beschaulichkeit" 2 ; die Schönheit von Gegenständen beruht seines Erachtens „gerade auf der reinen Objektivität, d. i. Interessenlosigkeit ihrer Anschauung". 3 Der „Ubergang von der gemeinen Erkenntnis einzelner Dinge zur Erkenntnis der Idee geschieht plötzlich, indem die Erkenntnis sich vom Dienste des Willens losreißt" 4 , das Bewußtsein „zum reinen, willenlosen, zeitlosen, von allen Relatio-

1

2 3 4

Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft. Akademie-Textausgabe Bd. V.Berlin 1968. S. 2 0 4 - 2 1 1 (= § 2 - § 5), vor allem S. 205, 2 1 0 , 2 1 1 . Unter dem Titel „Schopenhauers .objektives Interesse'. Kritische Überlegungen zu voluntativen Reminiszenzen in seiner Ästhetik der Willenlosigkeit" ist eine ausführlichere Fassung v o n § 2 bereits veröffendicht worden: vgl. Schopenhauer-Jahrbuch 71 (1990), S. 1 3 6 — 147. Dieser Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den ich am 7.5.1988 im Rahmen des Internationalen Schopenhauer-Jubiläumskongresses der Schopenhauer-Gesellschaft in Frankfurt gehalten habe (Abstract im Schopenhauer-Jahrbuch 70 (1989), S. 1 1 9 - 1 2 0 ) . W W V I S. 268. W W V II S. 483. W W V I S. 256.

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

nen unabhängigen Subjekt des Erkennens" 5 erhöht wird, zu einer reinen „Intelligenz ohne Absichten und Zwecke". 6 Die Radikalität dieses Postulats der Willenlosigkeit kommt erst dann vollends zu Bewußtsein, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Schopenhauer den Willen als „das Wirkliche und das Wesentliche" 7 , als „das Innere und Eigene" 8 , als „Kern des Menschen" 9 , sein „selbst-eigenes Wesen" 10 oder auch schlechthin als „das Prinzip der Subjektivität" 11 bezeichnet, ihn mit dem „Bewußtsein des eigenen Selbst" 12 identifiziert und schließlich Willen geradezu durch „die eigene Person" 13 expliziert. So weit reichen die Einbußen, die Schopenhauer mit diesem Postulat der Willenlosigkeit in Kauf zu nehmen bereit ist, daß er dem ästhetischen Subjekt Interesse, Zwecke, Individualität, Subjektivität, Person und Selbst ausdrücklich abspricht. 14 Daß die zu ästhetischer Einstellung „erforderte Veränderung im Subjekte [...], eben weil sie in der Elimination alles Wollens besteht, nicht vom Willen ausgehn" 15 kann, erscheint in diesem Rahmen konsequent. Im Felde der Ästhetik muß das Agens offenbar außerhalb des eigentlichen Selbst des Subjekts angesiedelt sein.

II. Ästhetische Willenlosigkeit ist nach Schopenhauer also keineswegs der intentionalen menschlichen Subjektivität zu prädizieren. Denn gerade ihre Ausschaltung ist seines Erachtens die Voraussetzung für ästhetische Einstellung. Als Adressat von Willen- und Interesselosigkeit scheint dann allein der ästhetische Intellekt noch zur Verfügung zu stehen. Und tatsächlich sagt 5 6

7 8 9

ω 11 12 13 14

is

W W V I S. 284. Vgl. auch W W V I S. 257, 306. PP II S. 491. Vgl. auch PP II S. 494: „die Erkenntnis muß absichtslos tätig, folglich willenslos sein". W W V II S. 297. W W V II S. 298. W W V II S. 297. Vgl. auch PP II S. 494: „der Wille" ist „der eigentliche Mensch". w w V II S. 272. W W V II S. 475. W W V II S. 475. Analog: W W V II S. 474; Kl. Sehr. S. 529. PP II S. 492. Vgl. z.B. W W V I S. 254, 260, 266, 280, 2 8 3 - 2 8 4 , 287; W W V II S. 479; PP II S. 490 - 4 9 1 , 4 9 4 . W W V II S. 473. Vgl. allerdings den in § 12 thematisierten willensmetaphysischen Horizont von Schopenhauers Ästhetik, in dem auch die besagte Radikalität des Willenlosigkeitspostulats erheblich relativiert wird.

§ 2. ,Objektives Interesse' und ästhetische Interesselosigkeit

21

Schopenhauer über diesen Intellekt aus: er ist „vom Willen, also von der Person abgelöst" 16 , „schwebt alsdann frei, keinem Willen mehr angehörig". 17 Wenn Schopenhauer dem ästhetischen Subjekt gleichermaßen Willen, Interesse, Subjektivität abspricht 18 , dann deutet sich hier bereits an, was dort, wo er den Willen sogar durch den Klammerzusatz „(das Interesse)" expliziert 19 , offenbar zum Faktum wird: eine Gleichsetzung von Willen mit Interesse und folglich auch von Willenlosigkeit mit Interesselosigkeit. Dem Syntagma „Interesse des Willens" 20 scheint mithin die Bedeutung eines Genitivus identitatis zuzukommen. Angesichts der beschriebenen Konstellation wird man einer Modifikation zunächst wohl keine besondere Aufmerksamkeit schenken, die beispielsweise dort auftritt, wo Schopenhauer „das Wollen" um den identifizierend-erläuternden Klammerinhalt „(das persönliche Interesse der Zwecke)" 21 ergänzt. Und ebensowenig wird man sich wundem, wenn Schopenhauer sich in seinen „Parerga und Paralipomena" folgendermaßen äußert: Ein „auf das rein Objektive gerichteter Gebrauch des Intellekts" liegt „allen künsderischen, poetischen, philosophischen" sowie „den rein wissenschaftlichen Leistungen zum Grunde", ferner dem „freien, d. h. nicht das persönliche Interesse irgend betreffenden Nachdenken über irgendeinen Gegenstand". 22 Der Ausdruck persönliches Interesse' scheint in beiden Textbelegen nichts anderes zu bezeichnen als der einfache Begriff,Interesse'. Damit liegt die Auffassung nahe, das Epitheton persönlich' stelle lediglich eine nichtssagende, mithin eigentlich überflüssige Ergänzung zum Begriff ,Interesse' dar und bilde, mit ihm zum Syntagma persönliches Interesse' vereinigt, nur eine tautologische Formulierungsvariante. In dieser Uberzeugung könnte man sich durchaus bestärkt sehen, wenn Schopenhauer im Anschluß an das letztgenannte Zitat auf derselben Seite seiner „Parerga und Paralipomena" für den Ausdruck „rein objektiv" die erklärende Umschreibung wählt „d. h. in keinerlei Beziehung zum Interesse, folglich dem Willen". 23

is W W II S. 492. Vgl. ζ. B. auch WWV II S. 495, 498. WWV II S. 470. 1 8 Vgl. ζ. B. WWV I S. 280, 266. 19 WWV II S. 491. Vgl. ferner Kl. Sehr. S. 6 9 4 - 6 9 5 , wo Schopenhauer im Rahmen kritischer Auseinandersetzung mit Kant dessen .Reich der Zwecke' bevölkert sieht von Vernunftwesen, die „beständig wollen, ohne irgend etwas zu wollen (d.i. ohne Interesse)". 2 0 Vgl. WWV I S. 289, 290; WWV II S. 491, 556. 21 WWV I S. 349. 22 PP II S. 85. 23 PP II S. 85. 17

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

III. Hinfällig wird allerdings die Annahme einer belanglosen Redundanz, sobald dem persönlichen oder subjektiven Interesse „ein objektives Interesse" gegenübertritt. Und das geschieht, so wird man verwundert registrieren, in den „Parerga und Paralipomena" bereits auf der folgenden Seite. Ausdrücklich und dabei offenkundig um Kontrastierung bemüht, differenziert Schopenhauer dort zwischen objektivem und subjektivem Interesse: Nach seiner Auffassung versinkt der Intellekt der meisten Menschen „in Untätigkeit, sobald der Wille ihn nicht antreibt. Sie nehmen an gar nichts ein objektives Interesse. Ihre Aufmerksamkeit, geschweige [ihr] Nachdenken, schenken sie keiner Sache, die nicht eine, wenigstens mögliche, Beziehung zu ihrer Person hat: außerdem gewinnt keine ihnen ein Interesse ab [...]: alles nur, weil sie bloß eines subjektiven Interesses fähig sind". 24 Angesichts dieser Abgrenzung entsteht der Eindruck, bei der vermeintlichen Analytizität im Verhältnis zwischen persönlich' und .Interesse' handele es sich faktisch doch um Synthetizität, also liege hier statt einer trivialen, nichtssagenden Beziehung wider Erwarten ein durchaus informatives Verhältnis vor. Dieser Eindruck verdichtet sich, wenn man feststellt, daß der Beleg für eine Differenzierung zwischen subjektivem und objektivem Interesse bei Schopenhauer nicht singulär ist: Während das Genie, so Schopenhauer, „in die Welt hineinschaut als in ein Fremdes, ein Schauspiel, daher mit rein objektivem Interesse", sehen die „Gewöhnlichen [...], keines andern als des subjektiven Interesses fähig, in den Dingen immer bloß Motive für ihr Tun". 25 Und die skizzierte Auffassung scheint zusätzliche Bestätigung dadurch zu erfahren, daß Schopenhauer den Intellekt in ästhetisch-willenloser Einstellung keineswegs ausschließlich mit Interesselosigkeit in Verbindung bringt, sondern explizit auch Interesse für ihn in Anspruch nimmt: Allein das „Streben [...], das wahre Wesen der Dinge, des Lebens, des Daseins zu erfassen", hat seines Erachtens „Interesse für den Intellekt als solchen, d. h. für das von den Zwecken des Willens frei gewordene, also reine Subjekt des Erkennens; wie für das als bloßes Individuum erkennende Subjekt die Zwecke des Willens allein Interesse haben". 26 PP II S. 86. 25 w w v II S. 510. Von .objektivem Interesse' ist auch in PP II S. 99 die Rede. 2f. w w v II S. 521. Vgl. auch PP I S. 33, wo Schopenhauer über den vom Dienste des Willens freigewordenen Intellekt aussagt, daß er „gar kein anderes Interesse auch nur kennt und versteht als das der Wahrheit". Diese beiden Textstellen hat Karl Helmer offensichdich nicht mitberücksichtigt, wenn er in seinem Aufsatz „Das Interesse und das Interessante bei Schopenhauer" (Schopenhauer-Jahrbuch 61 (1980), S. 21—29) zwei allzu dezidierte Behaup24

§ 2. ,Objektives Interesse' und ästhetische Interesselosigkeit

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Im Hinblick auf Schopenhauers Gegenüberstellung von subjektivem und objektivem Interesse wirkt die Annahme von Interesse auch für den ästhetischen Intellekt zunächst durchaus konsequent. Denn wo sonst sollte man angesichts der Zuordnung des subjektiven Interesses zum Willen einen Adressaten für das objektive Interesse finden, wenn nicht im Intellekt als dem Antagonisten 27 des Willens?

IV. Geht man nun der Frage nach, welche Leistung eine solche Unterscheidung für die Plausibilität von Schopenhauers Ästhetik erbringen könnte, so fällt eine Antwort darauf zunächst nicht schwer: Bietet nicht die Differenzierung zwischen subjektivem Interesse der Willenstätigkeit einerseits und objektivem Interesse der Intellekttätigkeit andererseits eine willkommene Möglichkeit, die Grenzen bloß negativer Charakterisierung ästhetischer Einstellung zu überschreiten und die (in § 1 problematisierte) ästhetische Freiheit des Subjekts tatsächlich als Autonomie zu fundieren? Und könnte man nicht eine derartige Hypothese mühelos damit begründen, daß aufgrund einer spezifischen Interessiertheit auch des Intellekts, die am grundsätzlich voluntativen Charakter von Interesse partizipiert, die Aktivität des Intellekts in ästhetischer Einstellung als eine selbstbestimmte Tätigkeit in Anspruch zu nehmen wäre? Träfe diese Überlegung zu, so wären ,subjektives Interesse' und .objektives Interesse' als Artbegriffe unter einen ihnen übergeordneten Gattungsbegriff ,Interesse' zu subsumieren. Bei der für den ästhetischen Zustand charakteristischen Interesselosigkeit würde es sich dann lediglich um das Spezifische einer Negation subjektiven Interesses handeln, mithin nicht um absolute, sondern bloß um relative (da in ihrem Geltungsbereich eingeschränkte) Interesselosigkeit; objektives Interesse hingegen bliebe auf diese Weise als Positivum gewahrt. Geradezu als Bestätigung für die dargelegte apologetische Überlegung, mithin für die Konsolidierung der Autonomie ästhetischer Betrachtungsweise, könnte man dann Schopenhauers Auffassung deuten, daß der Intellekt

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tungen formuliert: „Nur vom Willen, nicht vom Intellekt, dem Erkenntnisvermögen, kann man, so Schopenhauer, sagen, er habe Interesse" (S. 21); „Erkenntnis ist für sich ohne Interesse" (S. 21). Vgl. W W V II S. 475.

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

sich „vom eigenen Willen gänzlich abwendet" 2 8 „und als reines Subjekt die objektive Welt abspiegelt" 29 , wobei er, „obwohl von keinem Wollen angespornt" 3 0 , „nicht in Untätigkeit oder Abspannung versinkt" 31 , sondern „aus eigener Kraft und Elastizität" 32 , „aus eigenem Triebe in höchster Spannung und Tätigkeit ist". 3 3 Die zitierten Belege lassen sich um eine Mehrzahl analoger Formulierungen ergänzen, die ebenfalls von einem „ganz allein aus freien Stücken" 3 4 tätigen Intellekt ausgehen, der nach seiner Emanzipation vom Willensdienst 35 „frei seinen eigenen Gesetzen" 3 6 folgt. Die außerästhetische Willenstätigkeit scheint im ästhetischen Zustand also durch eine nicht minder ausgeprägte Intellektaktivität ersetzt zu werden. Wie aber kann man angesichts eines so ausgeprägten ,Eigenlebens' des Intellekts, das sich in „eigenen Gesetzen" 3 7 , „eigenen Zwecken" 3 8 , in freier energischer Tätigkeit mit objektivem Interesse manifestiert, die Autonomie des ästhetischen Intellekts überhaupt noch sinnvollerweise in Frage stellen? Gewährleistet nicht die eigengesetzliche Tätigkeit des ästhetischen Subjekts eine positiv als Autonomie verstandene Freiheit, so daß die in § 1 hypothetisch erwogene Skepsis gegenüber Schopenhauers Konzeption zugunsten einer entschiedenen Befürwortung seiner Theorie zurückgenommen werden müßte? Diese Fragen mögen suggestiv erscheinen; dennoch ist von allzu bereitwilliger Zustimmung bereits beim gegenwärtigen Reflexionsstand abzuraten.

V. Eine deutliche Analogie zu den Begriffen ,Interesse' und .Interesselosigkeit' tritt in den Begriffen ,Zweck' und ,Zwecklosigkeit' zutage, kennzeichnet doch Schopenhauer die ästhetische Einstellung nicht allein als willen- und wwv II s. 473. 29 WWV II S. 482. 28

WWV II S. 482. Vgl. auch PP II S. 492. 31 WWV II S. 490. 32 WWV II S. 500. Vgl. auch WWV II S. 486. 33 WWV II S. 482. Auf derselben Seite setzt Schopenhauer für die zum Künstler befähigende Objektivität voraus, daß der Intellekt vom Willen „abgelöst, frei schwebend und doch höchst energisch tätig sei". Analoge Aussagen finden sich in WWV II S. 492; PP II S. 492. In PP I S. 32 macht Schopenhauer „zur ersten Bedingung" für Philosophie und Kunst, „daß der Intellekt bloß aus eigenem Antriebe tätig sei". 34 w w v II S. 490. Vgl. auch WWV II S. 495, 498. 3 5 Vgl. WWV II S. 498. 36 WWV II S. 482. Zur Autonomie-Problematik vgl. § 5 der vorliegenden Abhandlung. 37 WWV II S. 482. 38 WWV II S. 501. 3(1

§ 2. ,Objektives Interesse' und ästhetische Interesselosigkeit

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interesselose, sondern auch als zwecklose Auffassung der Welt: Seines Erachtens sind im Zustand ästhetischer Kontemplation „dem Menschen sein Wille und dessen Zwecke [...] ganz entrückt"39; als conditio sine qua non für diese Betrachtungsweise gilt ihm „eine reine Intelligenz ohne Absichten und Zwecke"40; die Anlage zum Genie ist durch einen solchen Uberschuß der Vorstellungskraft gekennzeichnet, „daß ein reines, deutliches, objektives Bild der Außenwelt sich zwecklos darstellt, als welches für die Absichten des Willens unnütz, in den höheren Graden sogar störend ist". 41 Aber nicht bloß in der begrifflichen Negativität der Epitheta .interesselos' und ,zwecklos' kommt die besagte Ubereinstimmung zum Vorschein. Darüber hinaus wiederholt sich für den Begriff ,Zweck' die im Zusammenhang mit ,Interesse' beschriebene Konstellation, und zwar folgendermaßen: Wenn Schopenhauer bald von ,Zwecken', bald von .persönlichen Zwecken' spricht und sowohl erstere als auch letztere ausdrücklich an den Willen bindet42, dann scheint das Syntagma .persönlicher Zweck' in vergleichbarer Weise einen Pleonasmus darzustellen, wie es im vorangegangenen für persönliches Interesse' oder .subjektives Interesse' zunächst in Betracht gezogen wurde. Hier wie dort also vermittelt die Erweiterung gegenüber den einfachen Begriffen .Interesse' und .Zweck' jeweils den Eindruck reiner Tautologie. Diesen Anschein indessen könnte man nachträglich für eine Täuschung halten, für bloßen leeren Schein, wenn dem persönlichen oder subjektiven Faktor jeweils ein objektives Pendant gegenübertritt. Und das geschieht im Hinblick auf den Begriff .Zweck' ebenso, wie es bereits im Zusammenhang mit dem Begriff .Interesse' beschrieben wurde. Die Größe des Genies besteht nach Schopenhauer darin, daß es „allein einen objektiven Zweck verfolgt", während „alles auf persönliche Zwecke gerichtete Treiben"43 klein ist. Der 39 40 41

42

43

PP II S. 494. Analog: W W V I S. 266. PP II S. 491. W W V II S. 486. Dem Normalmenschen hingegen fehlt die Energie, die erforderlich ist, „um aus eigener Elastizität und zwecklos die Welt rein objektiv aufzufassen" (WWV II S. 486). In PP II S. 83 thematisiert Schopenhauer „das freie, d. h. das zwecklose Erkennen". In PP II S. 490, 493 bringt Schopenhauer sowohl Zweck als auch persönlichen Zweck mit Willen in Verbindung. Vgl. auch PP II S. 490: Das Schöne erregt „unser Wohlgefallen, unsere Freude, ohne daß es irgendeine Beziehung auf unsere persönlichen Zwecke, also unsern Willen hätte". W W V II S. 495: „Alle Pfuscher" sind „keiner andern als persönlicher Zwecke fähig", weil „ihr Intellekt, dem Willen noch zu fest verbunden, nur unter dessen Anspornung in Tätigkeit gerät". Vom Willen und seinen Zwecken spricht Schopenhauer in W W V II 490, 491; PP II S. 494. Für das Syntagma ,Zwecke des Willens' finden sich Belege in W W V II S. 521; PP II S. 89, 493, 495. WWV II S. 496. Zwischen persönlichen und objektiven Zwecken differenziert Schopenhauer auch in seiner MS S. 112. Im Rahmen seiner Ausführungen zur Funktion der Allegorie in der Poesie bezeichnet Schopenhauer den „Don Quijote" als Allegorie für „das Leben jedes Menschen, der nicht wie die andern bloß sein persönliches Wohl besorgen will, sondern

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

objektive Faktor scheint die vermeintliche Identität von Zweck und persönlichem Zweck, von Interesse und subjektivem Interesse jeweils aufzuheben und zu einer Gattungs-Art-Relation umzugestalten. Die dargelegte Ubereinstimmung wirkt zunächst um so überzeugender, als sie sich im Rahmen der Spezifikation auf den Bedeutungshorizont der involvierten Begriffe mit erstreckt. Analog zu der Formulierung von einem „Interesse für den Intellekt" 44 spricht Schopenhauer (wie bereits erwähnt) auch von „eigenen Zwekken" 45 des Intellekts, denen dieser nach seiner Befreiung vom Willensdienst folgt. Wie sonst könnte man solche ,eigenen Zwecke' verstehen, wenn nicht als objektive Zwecke? Aufgrund der beschriebenen Konstellation liegt die Annahme nahe, mit der weiter oben erwogenen Relativierung ästhetischer Interesselosigkeit zur Absenz des subjektiven Interesses allein korrespondiere eine entsprechende Beschränkung ästhetischer Zwecklosigkeit auf das Fehlen nur der persönlichen Zwecke. Willenlose Einstellung wäre demnach durch objektives Interesse, durch objektive Zwecke der kontemplierenden Subjekte spezifisch ausgewiesen und positiv bestimmt.

VI. Wird also durch das Auftreten objektiver Zwecke als eines Analogiefalls zu objektivem Interesse die apologetische Deutung noch konsolidiert? — Die Antwort lautet: Nein! Denn gerade dieses Analogon wirft ein Problem auf, das im Einzelfall des vermeintlichen Gattungs-Art-Konstrukts von .Interesse' durchaus noch unauffällig bleiben kann, das jedoch durch die dargestellten Ubereinstimmungen zwischen Interesse und Zweck zusehends eklatant wird. Angesichts der bei Schopenhauer leicht belegbaren Verbindung von Zwecken mit dem Willen könnte man gegenüber der apologetischen Deueinen objektiven, idealen Zweck verfolgt" ( W W V I S. 338). Im Unterschied zu Schopenhauer lehnt Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft" objektiven Zweck ebenso wie subjektiven Zweck als potentielle Basis des Geschmacksurteils mit Entschiedenheit ab. Vgl. § 11 (Akademie-Textausgabe Bd. V, S. 221): „Aller Zweck, wenn er als G r u n d des Wohlgefallens angesehen wird, führt immer ein Interesse, als Bestimmungsgrund des Urtheils über den Gegenstand der Lust, bei sich. Also kann dem Geschmacksurtheil kein subjectiver Zweck zum G r u n d e liegen. Aber auch keine Vorstellung eines objectiven Zwecks, d.i. der Möglichkeit des Gegenstandes selbst nach Principien der Zweckverbindung, mithin kein Begriff des Guten kann das Geschmacksurtheil bestimmen: weil es ein ästhetisches und kein Erkenntnißurtheil ist [...]". 44 W W V π S. 521. 45 W W V II S. 501. Vgl. auch PP II S. 84.

§ 2. ,Objektives Interesse' und ästhetische Interesselosigkeit

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tung objektiver Zwecke bereits ein gewisses Unbehagen verspüren und ihm in der folgenden Frage Ausdruck verleihen: Wie läßt sich unter eine Gattung ,Zweck', für die — qua Willensbezug — ihre Opposition zur Objektivität des Ästhetischen doch charakteristisch ist 46 , als Art ein sogenannter ,objektiver Zweck' subsumieren, der mit solcher Objektivität zweifellos koinzidiert? Mit welcher Berechtigung man diese kritische Frage stellen kann, erhellt angesichts einer Definition von ,Zweck', die Schopenhauer in seiner „Preisschrift über die Grundlage der Moral" gibt: „Zweck sein bedeutet: gewollt werden. Jeder Zweck ist es nur in Beziehung auf einen Willen, dessen Zweck, d. h. [...] dessen direktes Motiv er ist. Nur in dieser Relation hat der Begriff Zweck einen Sinn und verliert diesen, sobald er aus ihr herausgerissen wird". 47 Die Ausschließlichkeit, mit der Schopenhauer hier „Zweck" eo ipso „auf einen Willen" bezieht, hat für sein Syntagma ,objektiver Zweck' zur Folge, daß der ihm immanente Zweckbegriff von genau dem Sinnverlust betroffen ist, den Schopenhauer für den Fall inadäquater Begriffsverwendung selbst prognostiziert. In der Konsequenz der zitierten Definition kann das Auftreten sogenannter ,objektiver Zwecke' des Intellekts in ästhetisch-willenloser Einstellung also nicht plausibel erscheinen. Mit der gleichen Zielrichtung ist auch Schopenhauers Begriff eines objektiven Interesses' kritisch zu hinterfragen, für dessen Problematisierung ebenfalls die „Preisschrift über die Grundlage der Moral" Anhaltspunkte bietet. In ihr führt Schopenhauer ,Interesse' etymologisch auf „quod mea interest" zurück und übersetzt diese lateinische Phrase mit der Formulierung „woran mir gelegen ist". 48 „Und ist dies nicht überhaupt alles, was meinen Willen anregt und bewegt?", fährt Schopenhauer fort, „Was ist folglich ein Interesse anderes als die Einwirkung eines Motivs auf den Willen?" 49 Zweckdienliche Textbelege für den vorliegenden Argumentationszusammenhang finden sich auch außerhalb seiner ethischen Schriften, beispielsweise dort in seiner Ästhetik, wo er die Ansicht vertritt, „daß wir das rein objektive Wesen 46

47

48 49

Vgl. W W V II S. 486, w o Schopenhauer (sogar zweimal) Objektivität mit Zwecklosigkeit ästhetischer Auffassung verknüpft. Vgl. außerdem PP II S. 494: „nur im Zustande des reinen Erkennens, wo dem Menschen sein Wille und dessen Zwecke [...] ganz entrückt sind, kann diejenige rein objektive Anschauung entstehn, in welcher die (Platonischen) Ideen der Dinge aufgefaßt werden". Kl. Sehr. S. 690. Ganz im Sinne dieser in ethischem Kontext formulierten Definition verfährt Schopenhauer dort in seiner Ästhetik, w o er für die Ausführung des Werkes", dessen Zweck die „Mitteilung und Darstellung" des kontemplativ Erkannten ist, postuliert, der Wille müsse „wieder tätig sein", „eben weil ein Zweck vorhanden ist" (PP II S. 494). KI. Sehr. S. 694. Kl. Sehr. S. 694.

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

der Dinge, die in ihnen hervortretenden Ideen, nur dann auffassen können, wann wir kein Interesse an ihnen selbst haben, indem sie in keiner Beziehung zu unserm Willen stehn".50 Und vom Genie grenzt Schopenhauer den Normalmenschen ab, für den „nur das Einzelne als solches [...] der Wirklichkeit angehört, welche allein für ihn Interesse, d. h. Beziehungen zu seinem Willen hat".51 Zurückzugreifen ist in diesem Kontext ferner auf zwei Aussagen, die eingangs bereits zitiert wurden: Die Schönheit der Dinge beruht laut Schopenhauer „gerade auf der reinen Objektivität, d.i. Interessenlosigkeit ihrer Anschauung"52; und „die eigentliche Beschaulichkeit" erblickt er in „einer in jedem Sinn völlig uninteressierten Betrachtung".53 50 VTOV II S. 4 7 6 - 4 7 7 . Vgl. außerdem WWV I S. 280: Die Dinge werden „frei von ihrer Beziehung auf den Willen" aufgefaßt, „also ohne Interesse, ohne Subjektivität, rein objektiv". si WWV II S. 489. 52 WWV II S. 483. Vgl. hierzu auch WWV I S. 266, wo Schopenhauer Genialität definiert „als die vollkommenste Objektivität, d. h. objektive Richtung des Geistes, entgegengesetzt der subjektiven, auf die eigene Person, d.i. den Willen gehenden". 53 WWV I S. 268. Vgl. auch Schopenhauers MS S. 38: Das Wohlgefallen am Schönen ist nicht „mit unserm persönlichen Interesse verknüpft": „also die Freude über das Schöne ist völlig uninteressirt". Die Entschiedenheit, mit der Schopenhauer in diesen Thesen die Interesselosigkeit ästhetischer Einstellung postuliert, läßt die harmonisierende Tendenz Helmers, der dem Phänomen des Interesses und des Interessanten einen ganzen Aufsatz widmet, in folgender Behauptung problematisch und inadäquat erscheinen: „Das die Idee und damit das Schöne fassende Erkennen steht nicht im Dienste des Willens, es ist interesselos. Man kann es lediglich ,rein objektiv interessiert' nennen". (Vgl. Helmer, Karl: Das Interesse und das Interessante bei Schopenhauer. In: Schopenhauer-Jahrbuch 61 (1980) S. 21 —29, darin S. 25.) Über bloße Reproduktion und Paraphrase der einschlägigen Thesen Schopenhauers zum Interesse und zum Interessanten gelangt Helmer selbst dort nicht hinaus, wo sein expliziter Rekurs auf Schopenhauers „objektives Interesse" der Ideenerkenntnis Anlaß dazu böte, dessen problematische Beziehung zur fundamentalen Einheit von Objektivität und Interesselosigkeit in Schopenhauers Ästhetik zu analysieren. Der oben zitierten problematischen Identifikation von Interesselosigkeit mit objektivem Interesse (S. 25) geht auf S. 24 ein lediglich deskriptiver Nachvollzug der Schopenhauerschen Differenzierung zwischen subjektivem und objektivem Interesse voraus. — Im Unterschied zu Karl Helmer bietet Urs Heftrich in einem anregenden Aufsatz auch kritische Reflexion: Unter Rekurs auf solches .objektive' Interesse als „Interesse für den Intellekt als solchen" (WWV II S. 521) spricht er von „einer terminologischen Inkonsequenz, die Schopenhauer mehrfach unterläuft". (Vgl. Heftrich, Urs: Nietzsches Auseinandersetzung mit der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft". In: Nietzsche-Studien 20 (1991) S. 238 — 266, darin S. 247.) Die Tatsache allerdings, daß Schopenhauer „dem Zustand, der per definitionem der interesselose schlechthin sein soll", wiederholt .Interesse' prädiziert, wie Urs Heftrich (S. 247) zutreffend hervorhebt, wird von ihm offenbar nicht als Problem erkannt. Denn Heftrich interpretiert diese terminologische Inkonsequenz' als symptomatisch dafür, daß ästhetische Betrachtungsweise bei Schopenhauer keineswegs „einem apathischen Blinzeln gleicht" (S. 247), daß sie — weit entfernt von lethargischer Passivität — vielmehr durch lebhafte Aktivität, durch konzentrierte Anteilnahme an ihrem Objekt gekennzeichnet ist. Auf dieser Basis konstatiert Heftrich unter völliger Außerachtlassung der Vielzahl gegenläufiger Aussagen bei Schopenhauer (vgl. dazu § 4 dieser Arbeit) sogar, wesentliche Unterschiede zwischen Kantischer und Schopenhauerscher Interesselosigkeit

§ 2. ,Objektives Interesse' und ästhetische Interesselosigkeit

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Was aber kann ein objektives Interesse des ästhetischen Intellekts im Rahmen grundsätzlicher Einheit von Willen und Interesse, von Objektivität und Interesselosigkeit noch bedeuten, wenn nicht die kuriose Absurdität eines willenlosen und damit zugleich interesselosen Interesses? Aus dem fehlenden Willensbezug der jeweils als ,objektiv' bezeichneten Art von ,Interesse' respektive ,Zweck' ergibt sich für das hypothetische Gattungs-Art-Konstrukt der Zusammenbruch seiner Subsumtionsstruktur. Zu groß nämlich sind die immanenten Spannungen zwischen ,Interesse', ,Zweck' und ihrem ästhetischen Attribut ,objektiv'. Der radikale Gegensatz zwischen ,Objektivität' einerseits und ,Interesse', .Zweck' andererseits läßt einen Versuch, diese Opponenten zu ,objektivem Interesse' und ,objektivem Zweck' als vermeintlichen Artbegriffen zu synthetisieren, an der Absurdität einer contradictio in adjecto scheitern. Entgegen der im vorangegangenen angestellten apologetischen Überlegung handelt es sich bei den Formulierungen persönlicher Zweck' und subjektives Interesse' tatsächlich um tautologische Syntagmen; das Epitheton persönlich' oder ,subjektiv' führt deshalb keineswegs zu einer artkonstituierenden Spezifikation einer vermeintlichen Gattung ,Zweck' oder ,Interesse'. Persönlicher Zweck koinzidiert mit Zweck, subjektives Interesse ist identisch mit Interesse, so daß die irreführende, da fälschlich eine Spezifikation nahelegende Redeweise von persönlichem Zweck', von ,subjektivem Interesse' lediglich einen Pleonasmus darstellt. 54

54

seien „ i n s o w e i t nicht festzustellen" (S. 248), stattdessen bestünden Übereinstimmungen (vgl. S. 248, 249). Durch diese Fehleinschätzung (- zur Fundierung dieser Kritik an Heftrich vgl. § 4 -) wird die von Heftrich zunächst zutreffend exponierte Problematik derartig überlagert, daß er schließlich die Schopenhauersche Interesselosigkeit „als ein Umschwenken" von subjektivem zu objektivem Interesse, ja als „höchste Interessiertheit in einer Sphäre jenseits des gewöhnlichen Interessengebietes" (S. 248) glaubt interpretieren zu können, und zwar in vermeintlicher Analogie zu Kant. Diese These ist schwerlich kompatibel mit W W V II S. 638 — 639, wo Schopenhauer behauptet, „das Subjekt des Erkennens für sich und als solches" könne „an nichts Anteil oder Interesse nehmen", vielmehr sei „ihm das Sein oder Nichtsein jedes Dinges, ja sogar seiner selbst gleichgültig". (Eine gründliche Auseinandersetzung mit diesem Aufsatz von Urs Heftrich erfolgt in § 13, wo u. a. die fundamentalen Differenzen zwischen den Ästhetiken Kants und Schopenhauers entfaltet werden. Darauf kann hier lediglich verwiesen werden.) Wie komplex sich die im vorliegenden § 2 analysierte Problematik gestaltet, kann man auch daran erkennen, daß nicht allein eine Alternative zwischen zwei gegensätzlichen Interpretationsansätzen besteht, die eine Entscheidung zwischen artkonstituierender Spezifikation einerseits und Tautologie respektive contradictio in adjecto andererseits erforderlich macht. Im Rahmen dieser — nunmehr zugunsten der letztgenannten Deutung entschiedenen — Alternative wurde nämlich im Verlauf von § 2 durchgängig ,objektives Interesse' als Synonym zu .objektivem Zweck' betrachtet; subjektives Interesse' oder .persönliches Interesse' galt als Analogon zu .subjektivem Zweck' oder persönlichem Zweck'. Daß allerdings selbst diese doppelte Parallelisierung bei Schopenhauer nicht ungebrochen bleibt, läßt sich an drei Text-

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Für den sogenannten ,objektiven Zweck', das ,objektive Interesse' des ästhetischen Intellekts bleibt hier kein Platz. Ihr systematischer Ort kann, da ihr Artstatus nunmehr als lediglich scheinbarer durchschaut ist, nicht innerhalb von Zweck respektive Interesse liegen. Nur außerhalb von Interesse und stellen zeigen. In seinen „Parerga und Paralipomena" behauptet Schopenhauer von Subjekten, denen die willensfreie, objektive Einstellung fremd bleibt: „Für sie haben nur Zwecke Interesse, nur Zwecke Realität: denn in ihnen bleibt das Wollen vorwaltend" (PP I S. 218). Die hier bereits angelegte Differenz zwischen Zweck und Interesse tritt noch deudicher dort zutage, wo Schopenhauer das Wollen parenthetisch durch „das persönliche Interesse der Zwecke" ( W W V I S. 349) expliziert. Im Hinblick auf die offensichtliche systematische Ungleichbehandlung von ,Zweck' und .Interesse' stimmen beide Formulierungen überein: Nicht allein scheint das Wollen mit dem persönlichen Interesse der Zwecke identisch zu sein; darüber hinaus liegt auch innerhalb des Syntagmas „das persönliche Interesse der Zwecke" eine Gleichsetzung vor. Wider Erwarten läßt jedoch der Genitivus identitatis, der dieses Syntagma bestimmt, nicht etwa Interesse mit Zweck koinzidieren, vielmehr besteht eine Identität von persönlichem Interesse als Spezies mit einem nicht-spezifizierten, also generellen Zweck. So erhält man den Eindruck, Zweck trete hier geradezu als Spezialfall von Interesse auf. Zur Veranschaulichung dieser Konstellation kann man versuchsweise das folgende Subsumtionsschema konstruieren: Interesse

objektives Interesse

objektiver Zweck

persönliches Interesse (i. e. subjektives Interesse) = Zweck

persönlicher Zweck (i. e. subjektiver Zweck)

Ein Kuriosum fürwahr! Denn im Rahmen einer solchen hypothetischen Anordnung erweist sich die Objektivität der vermeindich .objektiven' Spezies von Zweck als auffällig getrübte, weil der sogenannte ,objektive Zweck' als Art der Gattung .Zweck' an deren grundsätzlich subjektivem Charakter partizipiert. Paradoxerweise ist der .objektive Zweck' (aufgrund der Identität von Zweck schlechthin mit subjektivem Interesse als einer Spezies von Interesse) sogar vorwiegend subjektiv. Der Kontrast zu Schopenhauers Postulat einer reinen Objektivität ästhetischer Einstellung wirkt geradezu eklatant. (Vgl. dazu: W W V I S. 266, 268, 281, 297, 298; W W V II S. 469, 4 7 4 - 4 7 7 , 4 8 1 - 4 8 3 , 485, 491, 521; PP II S. 491.) Die oben skizzierte Subsumtion ist dadurch im Horizont von Schopenhauers Ästhetik disqualifiziert. Dasselbe gilt auch für eine dritte (weiter oben bereits zitierte) Textstelle, in der Schopenhauer ebenfalls „Interesse" auf einer höheren systematischen Ebene piaziert als „die Zwecke des Willens": D e m Streben nach willensindependenter Erkenntnis von Leben und Welt, das „Interesse für den Intellekt als solchen" hat, stellt Schopenhauer das bloß individuelle Erkennen gegenüber, bei dem „die Zwecke des Willens allein Interesse haben" (WWV II S. 521). Das Problematische eines vorgeblich ästhetischen Interesses des willensbefreiten Intellekts trat durch die Analysen in § 2 so deutlich zutage, daß diese Textstelle letztlich nicht mehr dokumentiert als eine Inkonsistenz der Schopenhauerschen Begrifflichkeit. Das skizzierte

§ 2. ,Objektives Interesse' und ästhetische Interesselosigkeit

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Zweck könnte von ihnen noch die Rede sein, allerdings — aufgrund der attributiven Struktur der Syntagmen und wegen der durch sie bedingten Täuschung — nicht in sinnvoller Weise. Denn bei dem vermeintlich objektiven Interesse des Intellekts handelt es sich, anders als zunächst zu vermuten war, keineswegs um eine Spezifikation von Interesse, sondern qua Interesselosigkeit um dessen Negation. 55 Das gleiche gilt für den objektiven Zweck. Anders als es im Verlauf der Argumentation vorübergehend in Betracht gezogen wurde, erweist sich im Hinblick auf persönlichen Zweck' und .subjektives Interesse' der Anschein reiner Tautologie durch das Auftreten objektiven Zwecks' und ,objektiven Interesses' nachträglich keineswegs als bloßer leerer Schein. Vielmehr bleibt der besagte Anschein gewahrt und erfährt sogar eine Konsolidierung, wenn die Skepsis ihm gegenüber als unberechtigt endarvt ist. Hinfällig wird damit auch der apologetische Versuch, ästhetische Interesselosigkeit einschränkend lediglich als Aufhebung subjektiven Interesses zu verstehen und den vermeintlich mit objektivem Interesse ausgestatteten Intellekt in ästhetischer Einstellung zum Alternativ-Agens, zur Surrogat-Intentionalität aufzubauen. Selbst unter Zuhilfenahme eines angeblich spezifischen Interesses vermag dieser Intellekt den aus der Ästhetik verstoßenen Willen als Agens nicht zu ersetzen. Denn die vermeintliche Positivität seines objektiven Interesses erweist sich als irreführend, als reiner Verbalismus, der die Negativität der Interesselosigkeit nur verdeckt. Der apologetische Ansatz muß also scheitern, da der für ihn vorauszusetzende voluntative Charakter des objektiven Interesses wie des objektiven Zwecks im Zusammenhang mit dem ästhetischen Intellekt über die sprachliche Oberflächendimension nicht hinausreicht. Bloße voluntative Reminiszenzen dieser Art indessen lassen die Basis für eine apologetische Argumentation vermissen. Ob andere ursprünglich der Willenssphäre zugehörige Komponenten des ästhetischen Intellekts unter der behandelten Perspektive 56 ein solides Fundament aufzubauen und zu sichern helfen, — dieser Frage wird nun in § 3 nachzugehen sein.

55

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Subsumtionsschema ist diesbezüglich erkenntnisfördernd, bleibt jedoch in systematischer Hinsicht bedeutungslos. Vorausgreifend sei angemerkt, daß solches ,objektive' Interesse in der vorliegenden Abhandlung an späterer Stelle eine Umdeutung erfahren und einen neuen Stellenwert erhalten wird. Vgl. dazu § 12, in dem wichtige Argumentationsstränge v o n Kapitel A. und B. dieser Arbeit zusammenlaufen und die Basis für eine neue Gesamteinschätzung der Schopenhauerschen Ästhetik auf der Folie seiner Willenstheorie schaffen. Demzufolge kann man den Problemhorizont von § 2 eigentlich erst nach der Lektüre von § 12 adäquat beurteilen. In § 12 der vorliegenden Abhandlung erfolgt eine Horizonterweiterung, die auf dieser Untersuchungsperspektive basiert.

§ 3. Metavoluntative Komponenten des ästhetischen Intellekts I. Als .metavoluntative Komponenten' sollen im folgenden die Momente in Schopenhauers Theorie ästhetischer Einstellung bezeichnet werden, in denen — überraschenderweise - ausgerechnet dasjenige bewahrt zu sein scheint, was aufgrund der Implikationen von Schopenhauers Postulat ästhetischer Willenlosigkeit eigentlich als eliminiert gelten müßte. Zwei dieser aus dem Rahmen seiner Konzeption fallenden Komponenten des ästhetischen Intellekts wurden bereits in § 2 behandelt: objektives Interesse und objektiver Zweck. Auf der Folie der grundsätzlichen Einheit von Willen, Interesse, Zweck bei Schopenhauer erwies sich in beiden Fällen die vermeintliche artkonstituierende Spezifikation letztlich als bloße contradictio in adjecto. In § 3 sollen nun weitere Komponenten des ästhetischen Intellekts zur Sprache kommen, deren Erscheinen in ästhetischem Kontext genauso erstaunlich wirkt.

II. Im Rahmen seiner Musikästhetik sagt Schopenhauer über den Komponisten, er verleihe „der unmittelbaren Erkenntnis des Wesens der Welt" musikalischen Ausdruck, und zwar nicht aufgrund von „bewußter Absichtlichkeit", sondern „unbewußt". 1 Naheliegend erscheint zunächst die Annahme, bei „bewußter Absichtlichkeit" handle es sich um nichts anderes als einen Pleonasmus, in dem durch das Epitheton ,bewußt' lediglich noch einmal formuliert ist, was der Begriff der ,Absichtlichkeit' für sich selbst genommen bereits beinhaltet.

1

W W V I S. 367. Vgl. auch W W V I S. 363: das Wirken des musikalischen Genius liegt „augenscheinlicher als irgendwo fern v o n aller Reflexion und bewußter Absichtlichkeit".

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Die folgende Passage allerdings, die in anderem Zusammenhang bereits in § 2 thematisch war, legt eine skeptische Haltung gegenüber dieser Auffassung nahe: „in jedem Geiste, der sich einmal der rein objektiven Betrachtung der Welt hingibt, ist, wie versteckt und unbewußt es auch sein mag, ein Streben rege geworden, das wahre Wesen der Dinge, des Lebens, des Daseins zu erfassen. Denn dieses allein hat Interesse für den Intellekt als solchen, d. h. für das von den Zwecken des Willens frei gewordene, also reine Subjekt des Erkennens; wie für das als bloßes Individuum erkennende Subjekt die Zwecke des Willens allein Interesse haben". 2 Die Möglichkeit eines unbewußten Strebens, die Schopenhauer hier für ästhetische Kontemplation in Anspruch nimmt, läßt (unter der Voraussetzung einer Synonymie von ,Streben' und rAbsichtlichkeit 67

W W V I S. 306. Vgl. auch PP II S. 503. W W V I S. 2 8 6 - 2 8 7 . Vgl. W W V I S. 298. - Unlängst hat Rudolf Malter eine verdienstvolle Abhandlung vorgelegt, die sich durch klare und differenzierte Darstellung des gesamten philosophischen Systems von Schopenhauer auszeichnet. Den (zweifellos wichtigen) Transzendentalismus Schopenhauers scheint Malter jedoch zu überschätzen, wenn er auch ästhetische Einstellung bei Schopenhauer ganz auf „eine Aktivität des Subjekts" zurückführt und nachdrücklich behauptet: „Nicht die Idee nötigt sich dem Subjekt auf und bringt es zur Reinheit seiner Existenz als bloßes (willensreines) Subjekt". Die Brüchigkeit der Synthese von Piatonismus und Kantianismus, die gerade in Schopenhauers Ästhetik auffällig wird (vgl. dazu § 13 der vorliegenden Arbeit), hat Malter offenbar verkannt. (Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1 9 9 1 . S. 307.)

68 wwv ι s. 256.

69 W W V I S. 281. Auch in W W V I S. 254, 258, 283 spricht Schopenhauer davon, das Subjekt erhebe sich zu ästhetischer Ideenerkenntnis. Vgl. ferner MS S. 9 2 — 93, wo hinsichdich des Subjekts Aktivitäts- und Passivitätssignale abwechseln: wir erheben uns — sind herausgehoben (S. 92), Schönheit versetzt uns (S. 93) — Erkenntnis „hat sich los gemacht" (S. 92). Nicht uninteressant ist übrigens der Kontext des Zitats aus W W V I S. 281: wenn nämlich „das angeschaute einzelne Ding zur Idee seiner Gattung, das erkennende Individuum zum reinen

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Die Reflexivität der verwendeten Verben verweist auf einen Status des Subjekts in ästhetischer Einstellung, der jene oben kritisierte Haltung passiver Rezeptivität offenbar weit überbietet. Aus eigenem Impuls scheint das Subjekt in ästhetische Betrachtungsweise einzutreten, und zwar aufgrund einer Aktivität, die — jedenfalls einzelnen Formulierungen Schopenhauers zufolge — derjenigen des ästhetischen Objekts kaum nachsteht. Auffällig wirkt der Kontrast zu Schopenhauers These, daß es der Macht der Naturschönheit „fast immer gelingt, uns loszureißen von der Beschäftigung mit unserm leidigen Selbst und dessen Zwecken, uns der Subjektivität zu entreißen, vom Sklavendienst des Willens zu befreien und uns in den Zustand des reinen Erkennens zu versetzen". 70 Daß ,erfolgreiche' Objekte dieser Art durch ihre pseudo-intentionale Aktivität geradezu anthropomorphistische Züge annehmen, wurde im vorangegangenen mit Bezug auf die Korrelation zwischen Intention einerseits und Erfolg oder Mißerfolg andererseits bereits begründet. Auch für das künstlerisch produktive Subjekt selbst nimmt Schopenhauer jedoch ein ,Gelingen' in Anspruch: Es ist „nur das größte Genie dem das Kunstwerk gelingt dessen Gegenstand der Mensch ist". 71 Die Eigenaktivität des Subjekts, die dort verloren zu gehen droht, wo der ästhetische Betrachter tendenziell zum Erfolg quasi-intendierender Objekte reduziert wird, kommt hier erneut zum Vorschein. Erfolg wird damit — plausiblerweise — dem einzigen Wesen zugesprochen, das uns als intentionales bekannt ist: dem Anthropos selbst. Noch weitere Ubereinstimmungen zwischen Schopenhauers Aussagen über ästhetische Subjekte und Objekte lassen sich feststellen: Wie bereits erwähnt, bemißt Schopenhauer den Grad der Schönheit eines Objekts danach, inwieweit es „jene rein objektive Betrachtung erleichtert, ihr entgegen-

Subjekt des willenlosen Erkennens sich erhebt" (WWV I S. 280 — 281), dann ist diese Aktivität des Sich-Erhebens keineswegs Prärogativ des Subjekts, sondern scheint — fast unterschiedslos — auch dem Objekt zugesprochen und dadurch in ihrer Bedeutung für den vorliegenden Argumentationskontext entwertet zu werden. — Wolfhart Henckmann versucht, Aktivität und Passivität des Subjekts in sein Konzept ästhetischer Erfahrung zu integrieren: „In einem bestimmten Stadium kann das Subjekt seine Aufmerksamkeit absichdich und zielgerichtet auf das Objekt richten, in einem anderen zieht das Objekt die Aufmerksamkeit auf sich oder leitet die erfahrungsaufbauenden Tätigkeiten des Subjekts so sehr, daß man ihm geradezu die Kraft zusprechen muß, die ästhetischen Aktivitäten des Subjekts zu leiten." (Henckmann, Wolfhart: Aspekte der ästhetischen Erfahrung. In: Anodos. Festschrift für Helmut Kuhn. Weinheim 1989. S. 5 5 - 7 5 , darin S. 63. Vgl. ergänzend auch S. 6 4 - 6 5 . ) 70 71

MS S. 94. Parallelstellen in W W V I S. 281, PP II S. 503. MS S. 74. Diese These sowie Schopenhauers Argumente für sie werden in § 17 und § 21 zur Sprache kommen.

§ 4. Spontaneität und Rezeptivität in ästhetischer Einstellung

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kommt, ja gleichsam dazu zwingt, wo wir es dann sehr schön nennen".72 Auch die besondere Dynamik eines Zwingens nimmt Schopenhauer anderenorts für das Subjekt in Anspruch: Wer die ästhetisch-objektive Einstellung „erzwingen will, muß im Stande seyn die Dinge unter der Illusion zu betrachten, daß sie ganz allein da wären, er, der Beschauer, aber gar nicht gegenwärtig".73 Das Expressiv-Dynamische einer solchen ästhetischen Zwangshandlung' (sit venia verbo) läßt keinen Zweifel daran, daß Schopenhauer dem Subjekt hier offenbar sogar eine höchst potenzierte Aktivität zutraut. Der Kontrast zu dessen passiv-rezeptiver Haltung aufgrund des Entgegenkommens besonders schöner Objekte ist auffällig. Entsprechend verhält es sich mit einem ambivalenten Status ästhetischer Freiheit. War oben bereits von der Schönheit der Natur die Rede, der es angeblich „fast immer gelingt, uns [...] vom Sklavendienst des Willens zu befreien"74, so behauptet Schopenhauer nur zwei Seiten von dieser Stelle entfernt: „durch innre Stimmung befreit sich [!] die Erkenntniß vom Dienste des Willens".75 In das Feld der bisherigen Korrespondenzen zwischen Subjekt- und Objekt-Charakterisierung fügt sich auch dieser Gegensatz von Befreitwerden und Selbstbefreiung des ästhetischen Subjekts ein. Die erstaunliche Gleichbehandlung von Subjekt und Objekt als Agens ästhetischer Befreiung verweist letztlich auf deren ontologische Indifferenz76 — als Wille! Aufschlußreich für Schopenhauers ästhetische Subjekt-Objekt-Relation ist auch der Kontext der zuletzt zitierten Aussage, die zu einer Disjunktion 72

73

74 75

76

WWV I S. 298. Ästhetische Einstellung erscheint demnach fast als eine .Zwangsmaßnahme' von selten schöner Objekte. (Diese Stelle hat Schopenhauer wörtlich in seine Vorlesungen zur Ästhetik übernommen: vgl. MS S. 118; analog auch: ΗΝ I S. 250 — 251.) Weniger offensiv: WWV I S. 281. Dort ist von der Erleichterung ästhetischer Einstellung „durch entgegenkommende Objekte, durch die zu ihrem Anschauen einladende, ja sich aufdringende Fülle der schönen Natur" die Rede. MS S. 97. Ein kaum minder aufschlußreiches Analogon bietet WWV I S. 283: „Wir können [...] uns allem Leiden entziehn, sobald wir uns zur rein objektiven Betrachtung derselben [sc. der Objekte] erheben und so die Illusion hervorzubringen vermögen, daß allein jene Objekte, nicht wir selbst gegenwärtig wären". MS S. 94. MS S. 92. — Malters These, „daß die Initiation des Kontemplationsvorgangs beim Erkenntnissubjekt bleibt und von ihm die Befreiung ausgeht", läßt sich durch diese Formulierung Schopenhauers zwar belegen, steht jedoch in einem auffälligen Kontrast zu der oben zitierten Behauptung Schopenhauers in MS S. 94. Leider geht Malter auf derartige Inkonsistenzen in Schopenhauers Ästhetik nicht ein. Die Differenziertheit der Darlegungen in seiner verdienstvollen Abhandlung läßt also — in dieser Hinsicht — zu wünschen übrig. (Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991. S. 311.) Vgl. dazu beispielsweise die im vorangegangenen zitierte Textstelle aus WWV I S. 259 - 260.

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

gehört: „Entweder ist es ein Objekt, welches durch die Macht seiner Schönheit, d. h. durch seine bedeutsame Gestalt, unsre Erkenntniß endlich ganz abzieht von dem eignen Willen und seinen Zwecken; oder durch innre Stimmung befreit sich die Erkenntniß vom Dienste des Willens". 77 Die zunächst eher vagen Konnotationen, die sich hier mit dem Begriff der ,Stimmung' verbinden, gewinnen dort an Klarheit, wo Schopenhauer „die rein objektive Anschauung" des Gegenstandes „aus der innern Kraft des künsderischen Gemüths" hervorgehen sieht. 78 Dieser subjektbezogene Kraftbegriff ist im Rahmen seiner Ästhetik durchaus nicht singular. Behauptet er doch, das Individuum werde zum reinen, willenlosen Subjekt der Erkenntnis, wenn es „durch die Kraft des Geistes gehoben, die gewöhnliche Betrachtungsart der Dinge fahrenläßt" und — statt deren Relationen untereinander und „zum eigenen Willen" nachzugehen — „die ganze Macht seines Geistes der Anschauung hingibt". 79 Dieser These von der Geistesmacht des Subjekts steht eine Textstelle gegenüber, in der Schopenhauer hinsichtlich des Objekts von der „Macht seiner Schönheit" spricht. 80 Das Krafterfordernis für die Subjektseite kommt implizit auch dort zum Ausdruck, wo Schopenhauer mit der rhetorischen Frage: „aber wer hat die Kraft, sich lange darauf zu erhalten?" 81 den ephemeren Charakter und die Labilität ästhetischer Einstellung betont. Und wenn Schopenhauer mit der Behauptung „meistens fehlt uns die Kraft des Geistes" 82 ein Defizit feststellt, dann tritt — wenngleich hier nur postulativ — erneut die Bedeutung solcher Kraft des ästhetischen Subjekts hervor. Postulate dieser Art befinden sich in einem auffälligen Kontrast zu Schopenhauers Ansicht, der Eintritt in die ästhetische Betrachtungsweise stehe „gar nicht in unserer Gewalt" 83 , sei „unserm Belieben" entzogen, mithin „kein Akt der Willkür". 84 77 78

79 »ft ei 82 83

84

MS S. 92. Vgl. dazu die ausführlicheren Darlegungen in § 17 der vorliegenden Abhandlung. MS S. 93. Eine interessante Variante, in der Schopenhauer die Aktivität des Subjekts stärker hervorhebt, findet sich in W W V I S. 281: Dort sieht er die ästhetische Wirkung von Landschaftsgemälden „ganz allein" durch „die innere Kraft eines künsderischen Gemütes" bedingt. Daß „jene rein objektive Gemütsstimmung durch entgegenkommende Objekte" „erleichtert und von außen befördert wird": diese Aussage schafft zum Postulat innerer Kraft zwar einen gewissen Gegensatz, stellt aber hier deren Dominanz nicht in Frage. WWV I S. 257. Vgl. auch W W V II S. 500, PP II S. 505 und ΗΝ I S. 159, wo Schopenhauer ebenfalls die Bedeutung der eigenen Kraft exponiert. MS S. 92. W W V I S. 282. Tritt nämlich „irgendeine Beziehung" der „rein angeschauten Objekte zu unserm Willen [...] wieder ins Bewußtsein", so „hat der Zauber ein Ende" (a. a. O.). MS S. 95. PP II S. 94. WWV II S. 4 7 3 - 4 7 4 .

§ 4. Spontaneität und Rezeptivität in ästhetischer Einstellung

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Angesichts der vielfältigen Korrespondenzen, die für Subjekt und Objekt mitunter ganz ähnliche, ja bisweilen gar wörtlich identische Charakterisierungen zulassen, drängt sich die folgende Frage auf: Verstrickt sich Schopenhauer in all den Textpassagen, in denen er analoge Aussagen über Subjekt und Objekt macht, nicht fortwährend in Widersprüche, die durch die Heterogenität seiner ästhetischen Subjekt-Objekt-Konzeption bedingt sind? Bislang fehlen wichtige Differenzierungsansätze. Wie dieser Mangel — wenigstens teilweise und vorläufig — beseitigt werden kann, soll abschließend gezeigt werden.

VI. Das Kriterium, das in der oben zitierten Disjunktion eine Entscheidung zwischen den beiden Komponenten ermöglicht, ist bisher allenfalls angedeutet. Erst dort, wo Schopenhauer „die Macht" der Schönheit des Objekts 85 dem anderen Faktor gegenüberstellt, tritt das hinter dieser Alternative stehende Konzept klar hervor. Hinsichtlich der in Stilleben oder Landschaftsgemälden dargestellten Gegenstände meint Schopenhauer: „Hier wo der Gegenstand an sich wenig bedeutend ist, geht die rein objektive Anschauung desselben aus der innern Kraft des künstlerischen Gemüths hervor, wodurch dann sogleich auch das Unbedeutende in der Darstellung ästhetisch wirkt". 86 Hingegen wird „jene reine objektive Gemüthsstimmung von Außen befördert und sehr erleichtert, wenn die Objekte selbst, durch ihre bedeutsame Gestalt, ihr entgegenkommen, zur reinen Anschauung von selbst einladen: dies thut besonders die schöne Natur". 87 Die Voraussetzung, unter der die besagte ,innere Kraft' ihre spezifische Funktion erhält und ihre eigentliche Wirkung erst entfalten kann, hat Schopenhauer in dieser Aussage klar formuliert. Offensichtlich zieht er einer statischen Relation zwischen ästhetischem Subjekt und Objekt ein dynamisches Konzept vor, das unterschiedliche Dominanzverhältnisse zuläßt: Dabei wachsen die Anforderungen an ,innere Kraft' und aktives Engagement des ästhetischen Subjekts um so mehr, je schwächer jeweils die Wirkkraft des ästhetischen Objekts ist, je weniger es also — gemäß Schopenhauers Formulierun85 86 87

MS S. 92. MS S. 93. MS S. 9 3 - 9 4 .

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

gen — dem Subjekt entgegenzukommen, es einzuladen oder gar zu zwingen vermag. Vice versa: Verfügt das Objekt über ausgeprägte ,Aktivität', so verringert sich proportional der Anspruch an die engagierte Eigeninitiative des Subjekts. Diese wiederum läßt sich offenbar um so leichter gewährleisten, je geringer das ästhetische Potential des Objekts ist. Diese Dynamik der ästhetischen Subjekt-Objekt-Korrelation mit ihrem variablen Verhältnis von Stärke und Schwäche trägt dem Faktum Rechnung, daß die ästhetische Qualität des Natur- oder Kunstobjekts entscheidenden (wenngleich natürlich keinen determinierenden) Einfluß darauf haben kann, wie sich die Beziehung des wahrnehmenden Subjekts zu ihm gestaltet. Schopenhauers Prinzip einer ästhetischen Dynamik wirkt mithin durchaus plausibel. Problematisch erscheint also keineswegs die Dynamik der ästhetischen Subjekt-Objekt-Korrelation als solche, sondern nur deren Grenzbereich auf der einen Seite, in dem Aktivität offenbar dem Subjekt entzogen und dem Objekt in einem problematischen Übermaß zugesprochen wird. Ein wichtiger Aspekt, den Schopenhauer selbst im Hinblick auf den „Zustand des reinen Erkennens" betont, darf dabei nicht außer acht gelassen werden: „innere Stimmung, Uebergewicht des Erkennens über das Wollen im Individuum, kann jedem Objekt gegenüber, unter jeder Umgebung das Gemüth in diesen Zustand versetzen". 88 Anforderungen an ein bestimmtes ästhetisches Potential des Objekts als Minimalvoraussetzung für ästhetische Einstellung, die nicht unterschritten werden dürfte, formuliert Schopenhauer damit also gerade nicht. Vielmehr hält er sein Konzept hier in einer plausiblen Weise offen und hütet sich vor einer voreiligen Einengung des Bereichs potentieller Gegenstände der ästhetischen Wahrnehmung. Auch ein phänomenologischer Seitenblick auf den lebensweltlichen Erfahrungskontext ästhetischer Einstellung scheint diesen Ansatz zu bestätigen und gibt Anlaß dazu, ein solches dynamisch-offenes Konzept, wie Schopenhauer es hier vorschlägt, zu befürworten. Allerdings vertritt Schopenhauer in dem Satz, der dem obigen Zitat vorangeht, die Auffassung „Es ist meistens die Schönheit d. h. die bedeutsame [...] Gestalt des Objekts welche uns in diesen Zustand des reinen Erkennens versetzt" 89 und betont damit erneut eine Rezeptivität des ästhetischen Subjekts. Stilleben und Landschaftsmalerei als Darstellung .unbedeutender' Gegenstände, auf die Schopenhauer anschließend eingeht, erscheinen eher ex88 89

MS S. 93. MS S. 93.

§ 4. Spontaneität und Rezeptivität in ästhetischer Einstellung

65

zeptionell in ihrem Anspruch auf besonderes Engagement des ästhetischen Subjekts. Die Disjunktion des Entweder-Oder, nach der ästhetische Kontemplation entweder durch die Macht schöner Objekte oder durch die Selbstbefreiung des Subjekts zustande kommt 90 , suggeriert also eine Gleichrangigkeit der Faktoren, die — dieser Aussage zufolge — gerade nicht besteht. Eindeutig dominiert hier das ästhetische Potential schöner Objekte. Im vorangegangenen zeigte sich, inwiefern die Bedeutsamkeit oder relative Bedeutungslosigkeit des jeweiligen ästhetischen Objekts die interne Struktur der Subjekt-Objekt-Relation entscheidend mitbestimmt. Und das heißt zugleich: Differenzierungen dieser Art haben wesentlichen Einfluß darauf, ob (beziehungsweise in welchem Maße) das Subjekt zu engagierter Aktivität imstande ist oder weitgehend auf eine Haltung passiver Rezeptivität beschränkt bleibt. Diese Konstellation läßt mithin deutlich werden, daß ein Versuch, den Stellenwert von Aktivität und Passivität in Schopenhauers Konzeption des ästhetischen Subjekts global zu bestimmen, nicht aussichtsreich sein kann. Die im Verlauf von § 4 mehrfach wechselnden Perspektiven, das Changieren zwischen spontan-energischer Aktivität und lethargisch-rezeptiver Passivität des Subjekts sowie zwischen ,normalen' und anthropomorphistisch übersteigerten Objektimpulsen zeigten dies bereits indirekt. Die Schwierigkeit liegt auf der Hand: Zu tiefreichend sind die im Verlauf von § 4 entfalteten Ambivalenzen, zu ausgeprägt ist die Opazität des gesamten Feldes aufgrund heterogener Ansätze, als daß eine Aussicht darauf bestünde, den Stellenwert von Spontaneität und Rezeptivität in Schopenhauers Ästhetik generell zu ermitteln. Allein die eingehende Mitberücksichtigung wichtiger interner Differenzierungen und Spezifikationen ermöglicht eine angemessene Beurteilung der Schopenhauerschen Ästhetik. Das Kapitel C. dieser Arbeit, das sich vornehmlich mit Spezialthemen in Schopenhauers Ästhetik befassen soll, wird auch in dieser Hinsicht weiteren Aufschluß geben. In ihm finden nicht nur die Relation zwischen Natur- und Kunstschönem (§ 16) sowie die notwendige Differenzierung zwischen Schönem und Erhabenem (§ 20) ihren Platz; außerdem sollen in Kapitel C. auch die unterschiedlichen Hierarchien ästhetischer Objekte (§17) behandelt werden. Dem Erfordernis einer fundierteren Beurteilung der überaus komplexen Relation zwischen Spontaneität und Rezeptivität, zwischen Aktivität und Passivität kann allein unter Einbeziehung ästhetikinterner Spezifikationen und Differenzierungen Rechnung getragen werden. 90

Vgl. die im vorangegangenen zitierte Textstelle aus MS S. 92.

§ 5. Die autonom-heteronome Doppelnatur des Intellekts als Ursprung seiner expandierenden Abnormität I. Im Anschluß an die in § 4 entfaltete These von einer dynamischen Variabilität der ästhetischen Subjekt-Objekt-Relation bei Schopenhauer soll in § 5 ausführlicher als bisher der besondere Stellenwert zur Sprache kommen, den der Intellekt in Schopenhauers Theorie ästhetischer Einstellung erhält. Bereits einige im Schlußteil von § 4 zitierte Textbelege erweckten den Eindruck, zwar dominiere in Schopenhauers Ästhetik die problematische Rezeptivität des ästhetischen Subjekts, jedoch werde sie bisweilen durch Aussagen relativiert, die Anhaltspunkte für Spontaneitätsmomente erkennen lassen. Nahegelegt wird diese Einschätzung durch Formulierungen Schopenhauers, denen zufolge der Intellekt selbst sich vom Willensdienst losreißt, seine lediglich instrumenteile Funktion gewissermaßen abstreift und dadurch fähig wird, sich zum reinen, willenlosen Subjekt zu erheben. Diese Aussagen überbietet Schopenhauer noch durch andere Thesen: Seines Erachtens erfolgt der Ubertritt des Subjekts in ästhetische Kontemplation dadurch, daß der Intellekt sich vom Willensdienst „emanzipiert, um auf eigene Hand tätig zu sein" 1 , „ganz allein aus freien Stücken" 2 , weil er über ein ausreichendes Maß an Energie, an „eigener Kraft" 3 verfügt, um ohne Willensantrieb „aus eigener Elastizität und zwecklos die Welt rein objektiv aufzufassen". 4 Trotz der in § 1 behandelten Problematik einer möglicherweise auf bloße Negativität reduzierten ästhetischen Freiheit als Willenlosigkeit finden sich Textstellen, in denen Schopenhauer eine bloße Willensindependenz des Intellekts zu transzendieren scheint: Die zum Künstler befähigende Objektivität ist „allein dadurch möglich, daß der Intellekt, von seiner

1 2 3

4

W W V II S. 498. W W V II S. 490. W W V II S. 500. Vgl. auch W W V II S. 470 und W W V I S. 257 („Kraft des Geistes") sowie PP II S. 505 und ΗΝ IV,1 S. 11. W W V II S. 486. Vgl. auch W W V II S. 500.

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Wurzel, dem Willen, abgelöst, frei schwebend und doch höchst energisch tätig" 5 ist. Indem Schopenhauer hier ästhetische Freiheit in einen unmittelbaren Zusammenhang mit energischer Tätigkeit bringt, erweckt er den Eindruck, zumindest in diesen Textpassagen sei eine solide Basis für die Positivität ästhetischer Autonomie des Intellekts gelegt. Das von Schopenhauer wiederholt hervorgehobene .Eigene' dieses ästhetisch-willensindependenten Intellekts kann, so mag man vermuten, für die Beurteilung der Problematik einer potentiellen Negativität ästhetischer Freiheit und der Rezeptivität des kontemplierenden Subjekts nicht folgenlos bleiben. Und diese Einschätzung scheint um so berechtigter zu sein, als Schopenhauer nicht allein von „eigener Kraft" 6 und „eigener Elastizität" 7 einer Tätigkeit spricht, bei deren Vollzug der Intellekt „auf eigene Hand" 8 , „aus eigenem Antrieb" 9 „seinen eigenen Zwecken" 10 folgt, sondern für den ästhetischen Intellekt sogar expressis verbis eine an „seinen eigenen Gesetzen" 11 orientierte Aktivität postuliert. Diese bedeutsame Textstelle sei — eingebettet in ihren Kontext — ausführlich zitiert: „Nur wann der Wille mit seinen Interessen das Bewußtsein geräumt hat und der Intellekt frei seinen eigenen Gesetzen folgt und als reines Subjekt die objektive Welt abspiegelt, dabei aber doch, obwohl von keinem Wollen angespornt, aus eigenem Triebe in höchster Spannung und Tätigkeit ist, treten Farbe und Gestalt der Dinge in ihrer wahren und vollen Bedeutung hervor: aus einer solchen Auffassung allein also können echte Kunstwerke hervorgehn". 12 Diese Textpassage verstärkt den Eindruck, durch Schopenhauers Postulat eigengesetzlicher Aktivität des ästhetischen Intellekts sei dessen Freiheit der Problematik bloßer Negativität eo ipso enthoben, stattdessen sei sie als Autonomie überzeugend ausgewiesen und mithin in spezifischer Weise positiv bestimmt.

W W V II S. 482. Eine Parallelstelle findet sich in W W V II S. 492: „In ihrer wahren Farbe und Gestalt [...] kann die Welt erst dann hervortreten, wann der Intellekt, des Wollens ledig, frei über den Objekten schwebt und, ohne vom Willen angetrieben zu sein, dennoch energisch tätig ist". 6 W W V II S. 500. Vgl. auch PP II S. 505. 7 W W V II S. 486. Vgl. außerdem S. 500. Ferner HN IV,1 S. 11. 8 W W V II S. 498. 9 PP II S. 84. Vgl. auch PP I S. 32: „aus eigenem Antriebe tätig", „aus eigenem Triebe tätig" sowie W W V II S. 482: „aus eigenem Triebe". in W W V II S. 501. Von „eigenen Zwecken" ist auch in PP II S. 84 die Rede. Zur Problematik derartiger vermeintlich ästhetisch-objektiver Zwecke vgl. § 2 dieser Arbeit. Einen neuen Deutungshorizont entwirft § 12. 11 W W V II S. 482. 12 W W V II S. 482. Von „eigenen Gesetzen" des Intellekts ist auch in W W V II S. 280 die Rede. 5

§ 5. Die autonom-heteronome Natur des Intellekts und seine Abnormität

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II. Obwohl die im vorangegangenen zitierten Textbelege einen solchen Interpretationsansatz zu legitimieren scheinen, zeigen sich unerwartet erhebliche Schwierigkeiten, sobald man Schopenhauers Konzeption von Wesen und Funktion des Intellekts eingehend analysiert. Im Verlauf einer solchen Untersuchung werden mehrere Aspekte ins Blickfeld treten, die angesichts des Bisherigen erstaunlich wirken und wohl fast zwangsläufig Irritationen beim Interpreten auslösen. Zuvor aber gilt es, den Boden für derartige Analysen durch hinleitende Darstellung vorzubereiten. „Der Intellekt ist seiner Bestimmung nach bloß das Medium der Motive" 13 und wird laut Schopenhauer vom bloß praktischen Menschen auch stets zu dem Zweck gebraucht, „wozu ihn die Natur bestimmte, nämlich zum Auffassen der Beziehungen der Dinge teils zueinander, teils zum Willen des erkennenden Individuums". 14 In einem Kontext von nur wenigen Seiten finden sich weitere Belege, die in dieselbe Richtung weisen: Den „Dienst des Willens" bezeichnet Schopenhauer als die „eigentliche Bestimmung" 15 des Intellekts; „seiner natürlichen Bestimmung" 16 entspricht es, daß er stets „eine praktische Richtung behält, auf die Wahl der allerbesten Zwecke und Mittel bedacht ist". 17 Dabei ist der Intellekt laut Schopenhauer also „recht eigentlich naturgemäß beschäftigt". 18 Die „Parerga und Paralipomena" bieten — beispielsweise in folgender Aussage — ergänzendes Belegmaterial: Weil der Intellekt „ursprünglich zum Dienste des Willens bestimmt ist, so ist seine ihm natürliche Tätigkeit" diejenige, in der „er jener natürlichen Form seiner Erkenntnisse, welche der Satz vom Grunde ausdrückt, getreu bleibt und vom Willen, dem Ursprünglichen im Menschen, in Tätigkeit gesetzt und darin erhalten wird". 19

W W V II S. 485. η W W V II S. 501. Vgl. analog auch PP II S. 84: die „natürliche Bestimmung" des Intellekts besteht im „Dienst des Willens", folglich in der „Auffassung der bloßen Relationen der Dinge". Vgl. auch PP II S. 89. Eine ähnliche Charakterisierung der „natürlichen Funktion" des Intellekts gibt Schopenhauer in W W V II S. 469. is w w v II S. 498.

13

W W V II S. 499. Vgl. auch PP II S. 84. 17 W W V II S. 498. is W W V II S. 4 9 8 - 4 9 9 . 1 9 PP II S. 495. 16

70

Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

III. Welche Auswirkungen eine derartige Charakterisierung der ,Natur' des Intellekts via negationis auf Schopenhauers Konzeption eines willensindependenten ästhetischen Intellekts haben muß, ist nicht schwer zu erschließen. Und Schopenhauer schreckt keineswegs davor zurück, diese Konsequenzen auch expressis verbis zu formulieren. Die Tatsache, daß er sie mehrfach hervorhebt, erweckt sogar den Eindruck, er nehme sie durchaus nicht bloß widerstrebend in Kauf, vielmehr seien sie ihm geradezu willkommen — als aussagekräftiges Indiz für den Ausnahmecharakter ästhetischer Kontemplation als eines ephemeren Zustands generell und für den besonderen Status des schöpferischen Genies mit seiner exzeptionellen Begabung speziell. Gemeint ist — die Abnormität willensindependenter Intellektaktivität. Eher zurückhaltend äußert sich Schopenhauer dort, wo er feststellt, eine vom Willen unabhängige Tätigkeit sei „der Natur und Bestimmung des Intellekts entgegen, also gewissermaßen widernatürlich, daher eben überaus selten: aber gerade hierin liegt das Wesen des Genies, als bei welchem allein jener Zustand in hohem Grade und anhaltend stattfindet, während er bei den übrigen nur annäherungs- und ausnahmsweise eintritt". 20 Einige Seiten später formuliert er seine Auffassung sichtlich radikaler: Dort charakterisiert er das Genie explizit als „naturwidrig", und zwar insofern, als dessen Erkenntnisvermögen sich vom Willensdienst „emanzipiert" und dadurch als „ein seiner Bestimmung untreu gewordener Intellekt" erwiesen habe. 21 Weil das Genie sein schöpferisches Potential dem „völlig abnormen, wirklichen Ubermaß von Intellekt" 22 und der dadurch erst ermöglichten „naturwidrigen Sonderung des Intellekts vom Willen" 23 verdankt, zählt Schopenhauer es zu „den monstris per excessum". 24 Solch eine „abnorm starke und übermächtige Entwikkelung des Intellekts und das daraus entstehende ganz unverhältnismäßige Überwiegen desselben über den Willen" 25 exponiert Schopenhauer als „das 20 v ^ v Π S. 492. Vgl. auch WWV II S. 497, w o Schopenhauer über das Wesen der Genialität aussagt, es sei „der menschlichen Natur entgegen". 21 W W V II S. 498. Vgl. auch H N III S. 422. Zu den physisch-physiologischen Voraussetzungen für die Abnormität des Genies vgl. W W V II S. 474, 481, 502, 5 0 5 - 5 0 8 . Im Nachlaß vgl. H N III S. 140, 422, 610; Η Ν IV,1 S. 42. 22 W W V II S. 500. Analog: WWV II S. 486. 23 W W V II S. 500. 24 W W V II S. 486, v o m Hrsg. Wolfgang Frhr. von Löhneysen in Parenthese übersetzt durch das Syntagma „Mißbildungen aus Ubermaß". Als „monstrum per excessum" bezeichnet Schopenhauer das Genie auch in PP II S. 682. 25 PP II S. 682. Vgl. auch WWV II S. 527: Das Genie ist „eine Art Überfluß [...], nämlich der der Erkenntniskraft über das zum Dienste des Willens erforderliche Maß".

§ 5. Die autonom-heteronome Natur des Intellekts und seine Abnormität

71

Wesentliche des eigentlichen Genies". 26 Allerdings geht er, wie sich oben bereits andeutete, natürlich nicht so weit, eine solche „abnorm erhöhte Erkenntniskraft" 27 ausschließlich für das Genie in Anspruch zu nehmen; vielmehr hat nach Schopenhauer „jede Steigerung des Intellekts über das gewöhnliche Maß hinaus" 28 als Abnormität zu gelten. In diesem Sinne betrachtet er einen „abnormen Gebrauch des Intellekts" 29 als conditio sine qua non für die in ästhetischer Einstellung erfolgende Ideenerkenntnis schlechthin. Am alltäglichen Sprachgebrauch orientiert, könnte man angesichts der zahlreichen Formulierungen, in denen Schopenhauer von abnormem Übergewicht des Intellekts ausgeht und das ästhetisch-willensindependente Erkennen als „unnatürliche abusive Tätigkeit" 30 eines zweckentfremdeten Werkzeugs 31 bezeichnet, zu der Annahme neigen, Aussagen dieser Art seien pejorativ. Eine solche Einschätzung jedoch trifft nicht zu. Denn aus etlichen Textbelegen erhellt eine überaus positive Bewertung dieser ästhetisch-abnormen Betrachtungsweise, vor allem der genialen Erkenntnis: Der Intellekt „wird abusive gebraucht in allen freien Künsten und Wissenschaften: und in diesen Gebrauch setzt man die Fortschritte und die Ehre des Menschengeschlechts". 32 Genies betrachtet Schopenhauer deshalb als „im Makrokosmos" 33 lebende „Weiterleuchter und Förderer des Menschengeschlechts" 34 , als „die eigentliche Noblesse der Welt" 35 , deren Größe darin besteht, daß ihr „wahrer Ernst nicht im Persönlichen und Praktischen, sondern im Objektiven und Theoretischen" 36 liegt. Setzt man den Makrokosmos als die Lebenssphäre des Genies während seiner „lucida intervalla" 37 in eine Beziehung zur Charakterisierung des Genies als „monstrum per excessum" 38 und zieht ergänzend eine Textstelle mit heran, in der Schopenhauer dem Genie eine „monstrose Vergrößerung" 39 PP II S. 682. 27 W W V II S. 501. Von abnormem Überwiegen des Intellekts ist auch in W W V II S. 539, 540 die Rede. 28 W W V I S. 274. 2 9 PP II S. 87. 3 0 PP II S. 495. 31 Vgl. W W V II S. 501. 3 2 PP II S. 495. 33 W W V II S. 497. 34 PP II S. 578. 3 5 PP II S. 84. 36 W W V II S. 496. Dadurch sind sie befähigt, „das Wesentliche der Dinge und der Welt, also die höchsten Wahrheiten aufzufassen und [...] wiederzugeben" (a. a. O.). 3 7 PP II S. 63. 3 8 PP II S. 682. Vgl. auch W W V II S. 486. 39 W W V II S. 502. 26

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

seiner Erkenntnisgegenstände attestiert, so gewinnt man eine plastische Vorstellung von einem wichtigen Spezifikum genialer Erkenntnisweise: von ihrer eigentümlichen, den Rahmen von Normalität sprengenden Uberdimensioniertheit. Obwohl Schopenhauer bei deren Beschreibung mitunter eine eminente Wertschätzung zum Ausdruck bringt, sind andererseits mit dem Sonderstatus des Genies Risiken sui generis verbunden. Das abnorm-abusive Erkennen des Genies weist also eine Ambivalenz auf. Die „große und gewaltsame Konzentration" 40 , die potenzierte Erkenntniskraft, durch die das geniale Subjekt „in den Dingen mehr das Allgemeine als das Einzelne" 41 sieht, zählt nicht allein „zu den Privilegien des Genies" 42 , sondern birgt außerdem bestimmte Gefahren in sich. Sie entstehen nach Schopenhauers Auffassung durch eine allzu lebhafte Erkenntnisweise, bei der sich alles „in zu grellen Farben, zu hellem Lichte und ins Ungeheure vergrößert" 43 darstellt, insgesamt also in einer Tendenz zu Extremperspektiven. Konzentration und Expansion scheint Schopenhauer demnach folgendermaßen zusammenzudenken: Das Genie visiert bei verengtem Wahrnehmungshorizont ein individuelles Erkenntnisobjekt so an, daß dieses gleichsam zum Fokus wird und sich sodann verabsolutieren läßt zu einer hyperdimensionalen, alles andere verdrängenden Totalität. Der realitätsfremden Monstrosität der genialen Erkenntnisweise entspricht auf der Objektseite also die besagte „monstrose Vergrößerung". Nicht nur „Exzentrizitäten, persönliche Fehltritte, ja Torheiten" 44 sind Folgen der genial-abnormen Erkenntnisweise, die für angemessenen Umgang mit der Alltagsrealität ein gravierendes Hindernis darstellt 45 , darüber hinaus fühlt sich Schopenhauer durch die aus abnormem Übergewicht des Intellekts „entspringenden Phänomene bisweilen an den Wahnsinn" 46 erinnert, ja er 40

41 42 43 44 45 46

W W V II S. 502. Anschaulich bringt Schopenhauer das Gemeinte durch das Gleichnis des Hohlspiegels zum Ausdruck; ihn glaubt Schopenhauer mit dem Genie vergleichen zu können, „sofern auch dieses seine Kraft auf eine Stelle konzentriert, um wie er ein täuschendes, aber verschönertes Bild der Dinge nach außen zu werfen oder überhaupt Licht und W ä r m e zu erstaunlichen Wirkungen anzuhäufen" (PP II S. 758). w w v II S. 501. W W V υ § 502. W W V II S. 502. Vgl. auch W W V I S. 277. W W V II S. 499. Vgl. auch ΗΝ IV,1 S. 12. Vgl. PP II S. 88. PP II S. 495. Vgl. auch die These in W W V I S. 272, nach der „Genialität und Wahnsinn eine Seite haben, w o sie aneinander grenzen, ja ineinander Übergehn" sowie W W V I S. 274: es scheint, „daß jede Steigerung des Intellekts über das gewöhnliche Maß hinaus als eine Abnormität schon zum Wahnsinn disponiert".

§ 5. Die autonom-heteronome Natur des Intellekts und seine Abnormität

73

glaubt sogar eine „Verwandtschaft des Genies mit dem Wahnsinn" 47 konstatieren zu können. Als Tertium comparationis betrachtet er die Abkehr von der Relationalität und Kausalitätsbindung der Erkenntnisweise nach dem Satze vom Grunde. Seine Beschreibung der mit der abnorm-abusiven Erkenntnisweise in ästhetischer Einstellung einhergehenden Gefährdungen des Genies treibt Schopenhauer in dieser Wahnsinnsanalogie auf eine eindrucksvolle Spitze. In welcher Weise sich hier riskante Naturwidrigkeit und qualifizierende Ubernatürlichkeit zur Einheit eines doppelten Extremismus verbinden, geht aus der folgenden These hervor: Die Ausrichtung auf das Objektiv-Theoretische statt auf das Persönlich-Praktische „ist etwas der menschlichen Natur Fremdes, etwas Unnatürliches, eigentlich Ubernatürliches" und zugleich Voraussetzung für menschliche Größe. 4 8 Weil das Negationspräfix ^Ab-' offenbar beide Möglichkeiten zuläßt, kann der Begriff ,Abnormität' der besonderen Gefährdung des Genies durch seine Tendenz zum Exorbitant-Exzentrischen ebenso Rechnung tragen wie seinem einzigartigen Erkenntnisvermögen und der hervorragenden Qualität seiner Werke. Aus dem doppelten Extrem von riskanter Unnatur und exklusiver Ubernatürlichkeit des Genies folgt dessen 47 w w v II S. 500. Vgl. auch HN III S. 586. Zu dieser Thematik vgl. vor allem WWV I S. 272 — 277. Zusammenhänge dieser Art sollen hier nicht eigens reproduziert werden. Erwähnt sei, daß Schopenhauer seine These von der Affinität zwischen Genialität und Wahnsinn durch Berufung auf die Tradition abzustützen versucht; nicht nur bei Horaz, Wieland, Seneca, Aristoteles findet Schopenhauer entsprechende Aussagen, sondern auch bei Piaton, Cicero, Pope, Goethe (— Nennung der Namen in der Reihenfolge ihres Erscheinens in WWV I S. 2 7 2 - 2 7 3 ) . Eine komprimierte Darstellung der bereits im 19. Jahrhundert etablierten Auffassungen zum Verhältnis zwischen Genie und Dekadenz bzw. Degeneration bietet Jochen Schmidt im Kapitel „Thomas Mann: Dekadenz und Genie" seiner „Geschichte des Genie-Gedankens". Die von Schmidt skizzierte Entwicklungslinie reicht von Benedict Augustin Morel, Jacques-Joseph Moreau (genannt ,de Tours') und Cesare Lombroso über Wilhelm Lange-Eichbaum bis zu Max Nordau. (Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. 2 Bände. Darmstadt 1985. Bd. 2: S. 2 5 3 - 2 5 6 , 261 - 2 6 2 . ) - Otto Pöggeler stellt die Thematik ,Genie und Wahnsinn' ins Zentrum eines mit dem etwas irreführenden Titel „Schopenhauer und das Wesen der Kunst" versehenen Aufsatzes. Dabei geht er von der — anfechtbaren — Prämisse aus, Schopenhauer habe „die Formel ,Genie und Wahnsinn' in die Mitte seiner Kunstphilosophie gestellt" (S. 389), durch ihn sei sie schließlich „zum Leitwort des Kunstverständnisses" schlechthin avanciert (S. 361). Im Verlauf seines Aufsatzes arbeitet Pöggeler einige Aspekte der historischen Entwicklung der Genievorstellung heraus, versucht den geschichtlichen Ort von Schopenhauers Konzeption aufzuweisen und setzt sich kritisch mit pseudowissenschaftlichen Tendenzen in der Anfangsphase der Pathographie auseinander. (Pöggeler, Otto: Schopenhauer und das Wesen der Kunst. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 14 (1960) S. 3 5 3 - 3 8 9 . ) 48 WWV II S. 496. Als Parallelstelle vgl. ΗΝ IV,1 S. 79: Bei den Genies „sind die Zwecke der Natur gewissermaaßen vereitelt und überflügelt".

74

Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Seltenheit 49 . Auf der Folie der ,normalen' Beziehung zwischen Willen und Intellekt außerhalb ästhetischer Einstellung erscheint Schopenhauers Pointierung ästhetisch-genialer Abnormität durchaus nachvollziehbar.

IV. Die eigentliche Schwierigkeit aber, die Schopenhauers Intellekt-Konzeption aufwirft, ist im vorliegenden Paragraphen bisher noch nicht exponiert worden; sie bedarf im folgenden der Entfaltung. Angesichts der bereits zitierten Aussagen, in denen Schopenhauer vom Willensdienst als der „natürlichen Bestimmung" 50 oder der „natürlichen Funktion" 51 des Intellekts ausgeht und solche Instrumentalität als „seine ihm natürliche Tätigkeit" 52 oder „eigentliche Bestimmung" 53 bezeichnet, wirken Thesen, in denen Schopenhauer genau das Gegenteil zur ,Natur' des Intellekts erklärt, außerordentlich überraschend. Die einschlägigen Textstellen seien daher ausführlich zitiert: Der Intellekt muß, wenn er das vom Willen Gewünschte nicht herbeizuschaffen vermag, dieses zumindest vormalen und dabei „seiner eigenen Natur [!], die auf Wahrheit gerichtet ist, Gewalt antun [...], indem er sich zwingt, Dinge, die weder wahr noch wahrscheinlich, oft kaum möglich sind, seinen eigenen Gesetzen zuwider [!] für wahr zu halten, um nur den unruhigen und unbändigen Willen auf eine Weile zu beschwichtigen, zu beruhigen und einzuschläfern". 54 Und im Kontext dieser Aussage vertritt Schopenhauer die Auffassung, infolge grundlegender Verschiedenheit 55 von Willen und Intellekt werde mit affektiver „Aufregung und Steigerung des Willens" keineswegs „auch der Intellekt mit gesteigert", sondern — ganz im Gegenteil — sogar nachhaltig behindert. 56 Folglich kann er „seine Funktion nur so lange ganz rein und richtig vollziehn [...], als der Wille Vgl. dazu W W V II S. 496: „allein die höchst seltenen abnormen Menschen" sind „imstande, das Wesendiche der Dinge und der Welt, also die höchsten Wahrheiten aufzufassen und [...] wiederzugeben". Außerdem PP II S. 495: Die ästhetische Erkenntnisweise als eine dem Intellekt „unnatürliche abusive Tätigkeit" ist „bedingt durch ein entschieden abnormes, daher eben sehr seltenes Ubergewicht des Intellekts [...]". so W W V II S. 499. Vgl. auch PP II S. 84 und ferner W W V II S. 501: „wozu ihn die Natur bestimmte". si W W V II S. 469. 52 PP II S. 495. 53 W W V II S. 498. 54 W W V II S. 2 7 9 - 2 8 0 . 5 5 Vgl. W W V II S. 278. Vgl. auch W W V II S. 475: der Wille als „Antagonist der Erkenntnis". 5f> W W V II S. 279.

49

§ 5. Die autonom-heteronome Natur des Intellekts und seine Abnormität

75

schweigt und pausiert", während „durch jede merkliche Erregung desselben die Funktion des Intellekts gestört und durch seine Einmischung ihr Resultat verfälscht wird". 57 Zweierlei Bestimmungen der ,Natur' des Intellekts stehen einander also diametral gegenüber. Mit jeweils konträren Implikationen ausgestattet, können ,eigene Natur' einerseits, ,natürliche' Bestimmung oder Funktion andererseits nicht koinzidieren. Schopenhauers Konzeption von Wesen und Funktion des Intellekts ist also durch eine fundamentale Ambivalenz bestimmt. Seine Aussagen oszillieren zwischen antagonistischen Bestimmungen und erhalten dadurch einen opaken Charakter. Die oben ausführlich zitierte Textpassage, die Aufschluß über ,eigene Natur' und ,eigene Gesetze' des Intellekts gibt, läßt sich durch die (anfangs bereits thematisierte) Aussage ergänzen, daß der willensunabhängige ästhetische „Intellekt frei seinen eigenen Gesetzen folgt und als reines Subjekt die objektive Welt abspiegelt, [...] aus eigenem Triebe in höchster Spannung und Tätigkeit ist". 58 Offensichtlich gerät die eigene ,Natur' des Intellekts dadurch in eine problematische Ambivalenz, daß Schopenhauer sie zumeist in einer willensbezogenen Instrumentalität erblickt, sie bisweilen jedoch mit einem Wahrheitsstreben identifiziert, das der Interessenlage des Willens diametral gegenübersteht. 59 Denn gemäß der zweiten ,Natur'-Version kann der Intellekt seiner Funktion, objektive Wesenserkenntnis zu gewinnen, nur beim Schweigen des Willens, also unter der Voraussetzung vorübergehend eliminierter Instrumentalität gerecht werden.

V. Diese ambivalente Bestimmung der ,Natur' des Intellekts hat weitreichende Konsequenzen. Denn die Positivität von ,Natur' steht keineswegs etwa isoliert für sich, vielmehr hängen von ihrem Gehalt die jeweiligen ImpliW W V II S. 277 — 278. Von Verfälschung und Verunreinigung der Erkenntnis des Intellekts durch den Willen ist auch in PP II S. 8 0 - 8 1 die Rede, ss W W V II S. 482. 5 9 Nur nebenbei sei zu dieser Behauptung die kritische Frage gestellt, ob der Intellekt durch eine Tätigkeit, die ihn zur Verleugnung seiner wesensmäßigen Philaleth-Position zwingt, dem Willen tatsächlich so nützlich sein kann. Wird dem Willen mit derartiger Substitution v o n Wahrheit durch Schimärenhaft-Illusionäres nicht eher geschadet als gedient? Denn die Möglichkeit faktisch-kontingenter Befriedigung von Bedürfnissen setzt realitätsadäquate Perspektiven des Intellekts doch notwendigerweise voraus. Ein Konkurrenzverhältnis zwischen Willensdienst und Wahrheitssuche als vermeintlich inkompatiblen Bestimmungen des Intellekts kann in dieser Hinsicht schwerlich überzeugen. Vgl. jedoch eine wichtige Modifikation 57

76

Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

kationen des Begriffs der ,Abnormität' als der Negation solcher Positivität ab. Natur und Unnatur sind also via negationis in der Weise aufeinander bezogen, daß die Ambivalenz des einen Faktors unweigerlich eine entsprechende Zweideutigkeit des anderen nach sich zieht. Betrachtet Schopenhauer den Willensdienst uneingeschränkt als die eigentliche Bestimmung oder natürliche Funktion des Intellekts, so hat dessen ästhetisch-willensindependente Aktivität als eine abnorm-abusive Tätigkeit zu gelten. Unter der Voraussetzung prinzipieller Instrumentalität des Intellekts besteht seine eigentliche ,Natur' in willensabhängiger Heteronomie, so daß seine von Schopenhauer postulierte ästhetische Freiheit nach „eigenen Gesetzen" folgerichtig als Abnormität 60 zu betrachten ist. Allerdings beschränkt sich die inverse Korrelation nicht auf diesen Fall. Entsprechende Interdependenzen sind vielmehr auch für die gegenläufigen Aussagen Schopenhauers anzunehmen. Soll demnach ein willensunabhängiges Wahrheitsstreben als eigentliche ,Natur' des Intellekts gelten, so pervertiert ausgerechnet der von Schopenhauer ansonsten als ,natürliche Bestimmung' des Intellekts aufgefaßte Willensdienst zu einer Naturwidrigkeit. Im Unterschied zu Schopenhauers Aussagen über die Abnormität ästhetischer Autonomie des Intellekts läßt sich diese außerästhetische Abnormität zwar nicht durch entsprechende Formulierungen Schopenhauers belegen, wohl aber ergibt sie sich implizit — als zwingende Konsequenz aus seiner zweiten Version der Intellekt-,Natur'. Im Verhältnis jener beiden ,Naturen' zueinander vollzieht sich also ein Oszillieren gegensätzlicher Bestimmungen. Das Ambivalente der ,Natur' des Intellekts besteht darin, daß sie zwischen Willensdependenz und -independenz schwankt. Die Entwicklung solchen Changierens hängt davon ab, welchen Faktor man als dominant betrachtet: Gibt man dem autonomen Wahrheitsstreben des Intellekts als einer seiner beiden ,Naturen' den Vorrang, so schlägt die willensdependente Heteronomie des Intellekts als dessen oftmals von Schopenhauer postulierte ,Natur' hier gleichzeitig in Abnormität um. Der umgekehrte Prozeß vollzieht sich, wenn man der heteronomen Grundstruktur eines lediglich als Instrument des Willens aufgefaßten Intel-

60

dieser (nur vorläufigen!) Einschätzung durch die Horizonterweiterung in § 12 der vorliegenden Abhandlung. Deutlich tritt diese Einheit in einer Aussage hervor, in der Schopenhauer einen „solchen freien und daher [!] abnormen Gebrauch des Intellekts" (PP II S. 87) zur Voraussetzung ästhetischer Betrachtungsweise erklärt. In PP II S. 495 bringt Schopenhauer den abusiven Intellektgebrauch in einen Zusammenhang mit den ,.freien Künsten und Wissenschaften".

§ 5. Die autonom-heteronome Natur des Intellekts und seine Abnormität

77

lekts den Primat als eigentliche ,Natur' zuspricht. Dann nämlich erhält die zuvor als dessen ,Natur' in Anspruch genommene Autonomie des ästhetischwillensindependenten Intellekts erneut den Status einer Abnormität.

VI. Nicht in jedem Fall lassen sich freilich die Implikationen der jeweiligen ,Natur' des Intellekts wie bisher eindeutig schon der betreffenden Aussage selbst entnehmen. Das folgende Zitat etwa bleibt, solange man es ohne Mitberücksichtigung seines Kontextes zu interpretieren versucht, durch eine — für die vorliegende Problematik symptomatische — Zweideutigkeit bestimmt: „der Intellekt hat seine Natur aufgegeben, dem Willen zu gefallen". 61 Die syntaktische Struktur dieser These läßt zwei gegensätzliche Deutungsmöglichkeiten zu: Entweder liest man den erweiterten Infinitivsatz als explikative Bezugnahme auf „Natur". In diesem Fall besteht der Gehalt dieser Aussage in einer Identifikation: „der Intellekt hat seine Natur aufgegeben", die darin besteht, „dem Willen zu gefallen". Im Zuge dieser Interpretation also hat heteronome Willensdependenz als eigentliches Wesen, als natürliche Bestimmung des Intellekts zu gelten. Oder man faßt den Infinitivsatz als verkürzten Finalsatz auf, so daß eine Orientierung des Intellekts an der Interessenlage des Willens gerade nicht seine ,Natur' zu erkennen gibt, sondern — ganz im Gegenteil — dem Intellekt vielmehr einen Akt der Selbstverleugnung 62 abverlangt, bei dem er seine ,Natur' aufgeben muß, um „dem Willen zu gefallen". Bei diesem Interpretationsversuch besteht im Unterschied zur ersten Deutungsmöglichkeit offenkundig eine Opposition zwischen Intellekt-,Natur' einerseits und Willensbedürfnissen andererseits. Insgesamt gestaltet sich die Konstellation folgendermaßen: Erstens stehen die beiden Interpretationsvarianten einander diametral gegenüber; sie sind grundsätzlich inkompatibel. Zweitens fehlt beim Vergleich der Deutungsvarianten ein brauchbares Beurteilungskriterium, das zu einer vertretbaren Entscheidung zwischen beiden Interpretationsmöglichkeiten verhelfen könnte. Dies gilt allerdings nur so lange, wie der Kontext des Zitats unberücksichtigt bleibt. 61 W W V II S. 516. 62

Bezeichnenderweise verwendet Schopenhauer diesen Begriff selbst auch im Kontext seiner Ästhetik: vgl. ζ. B. W W V II S. 473. A u f Bedeutung und Problematik ästhetischer Selbstverleugnung wird in § 6 dieser Arbeit einzugehen sein.

78

Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Bezieht man den Textzusammenhang jedoch in die Überlegungen mit ein, so findet man rasch den erhofften Aufschluß über die Implikationen der besagten „Natur" des Intellekts: Die zitierte Aussage Schopenhauers befindet sich im Kapitel 32 des dritten — der Ästhetik gewidmeten — Buches der „Welt als Wille und Vorstellung II", in dem sich Schopenhauer „Über den Wahnsinn" äußert. „In jenem Widerstreben des Willens, das ihm Widrige in die Beleuchtung des Intellekts kommen zu lassen", erblickt Schopenhauer „die Stelle, an welcher der Wahnsinn auf den Geist einbrechen kann". 63 Denn das „Sträuben des Willens wider die Aufnahme einer Erkenntnis" kann einen solchen Grad erreichen, daß deren Integration in das „System der sich auf unsern Willen und sein Interesse beziehenden Wahrheiten" durch den Intellekt mißlingt oder von ihm jedenfalls „nicht rein durchgeführt wird". 64 Die „dadurch entstandene Lücke" im Erfahrungskontext wird dann — so Schopenhauers Deutungsvorschlag — „beliebig ausgefüllt". 65 Aufgrund derartiger Substitution von Wahrem durch Falsches kommt Wahnsinn zustande — als „das letzte Hülfsmittel der geängstigten Natur, d.i. des Willens". 66 „Denn der Intellekt hat seine Natur aufgegeben, [um] dem Willen zu gefallen: der Mensch bildet sich jetzt ein, was nicht ist". 67 Zweifellos ist also allein die zweite der beiden Interpretationsvarianten berechtigt. Unter der „Natur" des Intellekts versteht Schopenhauer hier genau dasselbe, was er bereits im zweiten Buch seiner „Welt als Wille und Vorstellung II" exponiert hatte: eine Ausrichtung auf Wahrheit, die mit den mannigfaltigen Bedürfnissen und Strebungen des Willens leicht in Konflikt gerät und sich daher störungsfrei allein dann realisieren läßt, wenn „der Wille schweigt und pausiert" 68 , also vorübergehend einmal keine Ansprüche anmeldet. Unter dieser Voraussetzung kommt es am ehesten zu jenem Zustand, in dem der Intellekt „gar kein anderes Interesse auch nur kennt und versteht als das der Wahrheit". 69 In diesem Zusammenhang läßt sich auch die folgende, in § 2 und § 3 bereits behandelte Aussage Schopenhauers anführen: „das wahre Wesen der Dinge, des Lebens, des Daseins [...] allein hat Interesse für den Intellekt als 63 w w v π S. 516. 64 65

66 67 68 r>9

W W V II S. 516. W W V II S. 516. W W V II S. 516. W W V II S. 516. W W V II S. 277. Zum Einfluß des Willens auf die Tätigkeit des Intellekts vgl. auch den Kontext dieses Zitats: W W V II S. 2 7 7 - 2 9 0 . PP I S. 33.

§ 5. Die autonom-heteronome Natur des Intellekts und seine Abnormität

79

solchen, d. h. für das von den Zwecken des Willens frei gewordene, also reine Subjekt des Erkennens". 7 0 Im Gegensatz zu etlichen anderen Aussagen Schopenhauers, jedoch in Ubereinstimmung mit den oben zitierten scheint auch hier die ,Natur' des Intellekts gerade nicht in heteronomer Instrumentalität, sondern in autonomer Wahrheitssuche zu bestehen. Denn wie sonst könnte man „den Intellekt als solchen" auffassen, wenn nicht im Sinne genuiner Bestimmung oder eigentlicher ,Natur?

VII. Die teilweise bereits zitierten Textstellen, die eine Störanfälligkeit der Intellekttätigkeit belegen, erweisen sich übrigens nicht nur in einer Hinsicht als aufschlußreich. Schopenhauer vertritt — wie gesagt — die Auffassung, der Intellekt könne nur beim Schweigen des Willens „seine Funktion [...] ganz rein und richtig vollziehn", während sie durch die Einmischung des erregten Willens gestört werde, so daß ein verfälschtes Resultat entstehe. 71 Diese Behauptung wurde im vorangegangenen als zusätzliches Indiz für die Duplizität der sogenannten ,eigenen Natur' des Intellekts bewertet, mithin als ein Gegengewicht zu dessen (vermeintlich eindeutiger) Festlegung auf willensdependente Instrumentalität. Ergänzend könnte man auch die Parallelstellen mit heranziehen, in denen Schopenhauer betont, „wie sehr jeder Affekt [...] die Erkenntnis trübt und verfälscht", und zwar nicht nur das Urteil verzerrt, sondern bereits „die ursprüngliche Anschauung der Dinge entstellt". 72 Allerdings findet sich in Formulierungen dieser Art eine aufschlußreiche Akzentverschiebung. Daß „auch jede nur geringe Erregung des Willens" eine „analoge Verfälschung der Erkenntnis" hervorruft 73 : diese Konstellation läßt erkennen, daß der Intellekt mit einer geradezu seismographischen Empfindlichkeit auf externe Störfaktoren reagiert. Darin kommt ein zentraler Aspekt zum Ausdruck: die von Schopenhauer vorausgesetzte grundlegende Abhängigkeit des Intellekts, der nicht nur als ein „bloß Instrumentales" 74 im Dienste des Willens steht, sondern sich außerdem als „ein Sekundäres, Hinzugekommenes" 7 5 vor allem dadurch erweist, daß er ursprünglich „aus dem Wil70 OTV II S. 521. 71

72 73 74 75

WWV wwv WWV WWV WWV

II π II II II

S. S. S. S. S.

277-278. 481. Vgl. auch PP II S. 8 0 - 8 1 . 491-492. 277. 277.

80

Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

len entsprossen ist und in der Erscheinung desselben, dem Organismus wurzelt". 76 In diesem Sinne zeigt die Möglichkeit einer Verunreinigung der Erkenntnis durch den Willen 77 zweierlei: Erstens eine grundlegende Differenz von Willen und Intellekt, die Schopenhauer auch als ,Antagonismus' etikettiert.78 Auf dieser Basis läßt sich für eine in autonomer Wahrheitssuche bestehende eigene ,Natur' des Intellekts argumentieren, der in heteronomer Willensdependenz gerade nicht aufgeht. Zweitens spiegelt die Störanfälligkeit des Intellekts bei seiner Tätigkeit allerdings seine fundamentale Abhängigkeit vom Willen, so daß sich der besagte Antagonismus nicht als paritätisches Verhältnis erweist. Auch den Zusammenhang zwischen Willenserregung und Störung der Intellektfunktion nimmt Schopenhauer als Argument dafür in Anspruch, daß „der Wille das Reale und Essentiale im Menschen, der Intellekt aber nur das Sekundäre, Bedingte, Hervorgebrachte sei". 79 Denn der Intellekt kann den Willen nach Schopenhauers Auffassung nicht in vergleichbarer Weise behindern. 80 Wie allerdings trotz einer so fundamentalen Willensdependenz des Intellekts, die sich bis in seine Genese hinein erstreckt, dennoch von genuiner Funktion, von einer willensunabhängigen „eigenen Natur" und von „eigenen Gesetzen" des Intellekts 81 widerspruchsfrei die Rede sein soll, ist und bleibt auf dieser Basis enigmatisch! Und erscheint nicht die Annahme autonomer Intellekttätigkeit um so fragwürdiger, als diese sich doch systemimmanent offenbar in einer Opposition zur Interessenlage des Willens befindet und sich entsprechend vehement gegen dessen Vereinnahmungsversuche einerseits und die ihnen (qua Partial,Natur') entgegenkommende Bereitschaft des Intellekts zu heteronomer Instrumentaütät andererseits behaupten muß? Ein solches Selbstbehauptungsvermögen der autonomen Komponenten des Intellekts muß dabei sogar die 76 w w v π 77 78 79 80

81

s. 476.

Vgl. PP II S. 80 und W W V II S. 476. Vgl. W W V II S. 474, 475. W W V II S. 277. Vgl. W W V II S. 278. Auch zu dieser Regel aber findet sich eine Ausnahme; die in Schopenhauers Konzeption auffälligen Ambivalenzen werden also keineswegs beseitigt, sondern stattdessen um eine weitere ergänzt, selbst wenn diese erklärtermaßen aus einer exzeptionellen Konstellation entspringt; vgl. W W V II S. 284: „Die einzige entschiedene, unmittelbare Hemmung und Störung, die der Wille v o m Intellekt als solchem erleiden kann, möchte wohl die ganz exzeptionelle sein, welche die Folge einer abnorm überwiegenden Entwickelung des Intellekts, also derjenigen hohen Begabung ist, die man als Genie bezeichnet. Eine solche nämlich ist der Energie des Charakters und folglich der Tatkraft entschieden hinderlich". Vgl. W W V II S. 2 7 9 - 2 8 0 , 482.

§ 5. Die autonom-heteronome Natur des Intellekts und seine Abnormität

81

Intensität noch überbieten, mit der sich der Wille „jeder auf irgend etwas anderes als seine Zwecke gerichteten Tätigkeit desselben" laut Schopenhauer „widersetzt". 82 Das von Schopenhauer für den Intellekt in Anspruch genommene Autonomie-Potential, durch dessen Einsatz er in ästhetischer Einstellung angeblich „aus eigener Kraft und Elastizität frei tätig" 83 sein kann, verursacht also einen systemimmanenten Konflikt zwischen konträren Voraussetzungen, den man als Opposition zwischen essentieller Dependenz und funktionaler Independenz des Intellekts bezeichnen könnte. In der bereits beschriebenen Weise löst der Antagonismus zwischen den gegensätzlichen Bestimmungen von Wesen und Funktion des Intellekts ein Spannungsverhältnis zwischen seinen beiden inkompatiblen ,Naturen' aus, das sich auch dynamisch, nämlich als eine oszillatorische Bewegung betrachten läßt. Entsprechendes gilt — via negationis — für den Bedeutungsgehalt von ,Abnormität'.

VIII. Wenn man jedoch versuchsweise die Dynamik changierender Perspektiven gleichsam ,einfriert', also nicht mehr entweder die heteronome ,Natur' oder die ihr diametral gegenüberstehende autonome ,Natur' des Intellekts, sondern beide zugleich in den Blick faßt, so tritt die folgende statische Konstellation eines Sowohl-als-auch an die Stelle der vorherigen (nunmehr stillgestellten) Dynamik eines alternierenden Einerseits-Andererseits. Diese Konstellation wird nun — besserer Uberschaubarkeit halber — in schematisch-formalisierter Schreibweise dargestellt. Dabei finden — in steter Bezugnahme auf den Intellekt — folgende Siglen Verwendung: Η für Heteronomie, Α für Autonomie, N + für Naturgemäßheit, N~ für Naturwidrigkeit. Der einfache Pfeil fungiert als eine Art Verknüpfungszeichen und läßt sich übersetzen im Sinne von .besteht in' oder ,ist bestimmt als'; der doppelte Pfeil signalisiert Konklusion. Einerseits:

1. Ν + 2.

Andererseits:

82 w w v π S. 491. 83 WWV II S. 500.

N"

3. N + =*· N "

Η A A Η

Ergo:

=> Η N + —• A Η « - Ν - —» A => Ν + - Ν -

82

Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Nur die drei numerierten Aussagen lassen sich in Schopenhauers Werken explizit belegen; die weiteren Thesen ergeben sich aus ihnen per Konklusion. Am Schluß steht als äußerste Zuspitzung der Widerspruch einer Koinzidenz von Naturgemäßheit und Naturwidrigkeit: Ausgerechnet in Abnormität besteht demzufolge die ,Natur' des Intellekts. Im statischen Konzentrat der schematisierten Darstellung zeigt sich also: Paradoxerweise wird gerade das Eigentliche des Intellekts gemäß den Formulierungen von dessen ,eigener Natur' und .eigenen Gesetzen' zum Konstituens seiner Abnormität. Es scheint sich hier geradezu ein doppelter Umschlag zu vollziehen, in dem vermeintliche ,eigene Natur' zur Abnormität und — vice versa — Unnatur zur eigentlichen ,Natur' wird. Als aufschlußreich erweist sich in diesem Zusammenhang eine Formulierung Schopenhauers, in der er die Abnormität des Intellekts als „das Wesentliche des eigentlichen Genies" 84 bezeichnet. Abnormität als Wesen: das ist gewissermaßen die contradictio in adjecto einer naturwidrigen Natur. Die statische Konstruktion des obigen Schemas läßt also ein Maß an Abnormität erkennen, welches das von Schopenhauer in den einschlägigen Einzelthesen expressis verbis angenommene bei weitem übersteigt. Unter Absehung vom Oszillieren gegensätzlicher Möglichkeiten folgt aus einer Addition seiner Thesen — eine Abnormität des Intellekts schlechthin. Abnormität in diesem Sinne besteht also nicht allein (gemäß Schopenhauers Thesen) in willensunabhängiger Aktivität, sondern auch in willensdependenter als vermeintlich wesensgemäßer Tätigkeit, wird doch in ihr der Intellekt durch den Willen daran gehindert, „frei seinen eigenen Gesetzen" 85 , „seiner eigenen Natur" 86 zu folgen und damit sein Wesen wirksam zum Ausdruck zu bringen.

IX. In statisch-vereinfachender Perspektive hat also Abnormität keineswegs nur als Merkmal ästhetischer oder gar spezifisch genialer Betrachtungsweise zu gelten, vielmehr expandiert sie zu einer (von Schopenhauer schwerlich beabsichtigten) Totalität. PP II S. 682. Vgl. auch W W V II S. 500, wo Schopenhauer von „jener dem Genie wesentlichen, dennoch aber naturwidrigen Sonderung des Intellekts vom Willen" spricht. 85 W W V II S. 482. 86 W W V II S. 279. 84

§ 5. Die autonom-heteronome Natur des Intellekts und seine Abnormität

83

Im Rahmen der beiden gegensätzlichen Negativbestimmungen lassen sich weder die willensdependent-heteronome noch die willensindependentautonome Tätigkeit des Intellekts eindeutig als dessen eigentliche ,Natur' fundieren. Mithin scheint kaum noch Raum zu bleiben für eine überzeugende positive Charakterisierung von Wesen und Funktion des Intellekts. Denn wenn wechselweise sowohl autonomes Wahrheitsstreben als auch heteronome Willensdependenz als ,Natur' des Intellekts in Anspruch genommen werden, haben — jeweils invers — Autonomie und Heteronomie des Intellekts abwechselnd auch als Abnormität zu gelten. Obwohl ein unmißverständliches Entweder-Oder bei der Bestimmung der ,Natur' des Intellekts geboten wäre, ergibt sich stattdessen ein Sowohl-als-auch. Dabei verflüchtigen sich die vermeintlich klaren Konturen der Wesensbeschreibung, so daß letztlich ein solches Sowohl-als-auch beim Versuch einer Definition der Intellekt-,Natur' mit einem Weder-Noch paradoxerweise zusammenfällt. Dieses Resultat ist fatal. Denn gerade den Intellekt und seine ,freie' Tätigkeit nimmt Schopenhauer als das für ästhetische Einstellung konstitutive Agens in Anspruch. Zusammenfassend läßt sich festhalten: In dem oben dargestellten schematisierten Konstrukt trat deutlich die Problematik einer autonom-heteronomen Doppelnatur des Intellekts hervor: Dessen Abnormität expandiert (zwar nicht im Sinne des von Schopenhauer jeweils Behaupteten, wohl aber in der Konsequenz seiner Thesen insgesamt) zur Totalität. Und zwar deshalb, weil sie letztlich die Natur des Intellekts schlechthin zu umfassen scheint — als autonomes Wahrheitsstreben nicht weniger denn als heteronome Willensdependenz. Wenn sowohl Autonomie als auch Heteronomie als spezifische Funktion und ,Natur' des Intellekts hier postuliert, dort negiert werden, dann droht dessen Charakterisierung jegliche klare Kontur zu verlieren.

X. Zu verschärfen scheint sich die Problematik der autonom-heteronomen Doppelnatur des Intellekts als Ursprung seiner expandierenden Abnormität dort, wo Schopenhauer so weit geht, für das Genie sogar einen doppelten Intellekt in Anspruch zu nehmen. Die interne Ambivalenz aufgrund gegensätzlicher Merkmale gestaltet sich dabei zu ,externer' Duplizität um, bringt also eine Art von Hypostasierung mit sich: „Ein Genie ist ein Mensch, der einen doppelten Intellekt hat: den einen für sich zum Dienste seines Willens und

84

Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

den andern für die Welt, deren Spiegel er wird, indem er sie rein objektiv auffaßt".87 Ein Kuriosum fürwahr! Denn dieser Aussage zufolge wäre der Intellekt — entgegen der von Schopenhauer sonst vertretenen Auffassung — gar nicht mehr auf die Notwendigkeit verwiesen, sich vom Willen loszureißen, um in ästhetische Einstellung eintreten zu können. Denn im Rahmen einer Duplizität des Intellekts wäre ein spezifischer Intellekt nfür die Welt" eo ipso durch willensindependente Objektivität bestimmt und stünde somit der anderen Spezies, dem willensdependenten Intellekt, jur sichimmer schon selbständig gegenüber, ohne einer Ablösung vom Willen allererst zu bedürfen.88

XI. Vergegenwärtigt man sich, daß Autonomie und Abnormität, Heteronomie und ,Natur' sich im Rahmen der künstlich vereinfachenden statischen Darstellung des Schemas nahezu beliebig miteinander kombinieren lassen, so gerät die Gesamtkonstellation derartig in Bewegung, daß jede klare Kontur zu verschwinden droht. Dabei löst sich die hypothetische Statik des Schemas erneut in ein Alternieren gegensätzlicher Sichtweisen auf. An die Stelle expandierender Naturwidrigkeit (oder Natur — was das gleiche wäre) tritt dann wiederum ein Changieren von zweierlei Naturen und Abnormitäten. 87 88

PP II S. 90. Auch zu diesem Kuriosum aber findet sich noch eine Steigerung, dort nämlich, wo Schopenhauer mit einer offensichdich mißglückten Metapher behauptet, der Intellekt sei „gleichsam der Diener zweier Herren [...], indem er bei jeder Gelegenheit sich von dem seiner Bestimmung entsprechenden Dienste losmacht, um seinen eigenen Zwecken nachzugehn" (WWV II S. 501). Zwar rechtfertigen Schopenhauers Aussagen zur Dependenz eines in den Willensdienst gestellten Intellekts die korrelative Herr-Diener-Metaphorik (vgl. vor allem WWV II S. 269, 274, 280; PP II S. 84; vgl. ergänzend auch WWV II S. 175, 180, 267, 288). Inkonsistent aber erscheint das zweite angebliche Herrschaftsverhältnis: Wie sollte sich denn für den Intellekt eine Konstellation gestalten, in der er durch ästhetische Tätigkeit nach eigenen Gesetzen aus eigenem Antrieb einerseits sein eigener Herr, andererseits jedoch zugleich Diener seiner selbst als dieses Herrn wäre? In diesem schizophrenen Konstrukt, das Schopenhauer allerdings durch ein vorangestelltes „gleichsam" immerhin relativiert, zeigt sich also eine neue Variante der alten Problematik: einer autonom-heteronomen Doppelnatur des auch in zweifacher Hinsicht abnormen Intellekts. - Gerhard Mollowitz, der in einem deskriptiv angelegten Aufsatz Analogien und Differenzen in Schopenhauers Konzeption des Künstlers, des Heiligen und des Philosophen lediglich wiedergibt, akzeptiert Schopenhauers problematische Metaphorik vom Intellekt als „Diener zweier Herren" (unter Bezugnahme auf Schopenhauers Ausführungen zum „doppelten Intellekt" des Genies) mit kritikloser Bereitwilligkeit. (Vgl. Mollowitz, Gerhard: Die besondere Erkenntnisweise des Künstlers, Heiligen, Philosophen. In: Schopenhauer-Jahrbuch 65 (1984) S. 2 0 9 - 2 3 2 , darin S. 213-214.)

§ 5. Die autonom-heteronome Natur des Intellekts und seine Abnormität

85

Der sowohl bei dynamischer Perspektive als auch bei statischer Sicht für eine Darstellung von Wesen und Funktion des Intellekts bedrohliche Konturverlust fordert zu einer begründeten Entscheidung zwischen den konträren Ansätzen heraus. Aus der grundlegenden Interdependenz, die offensichtlich die Bestimmung der Relation zwischen Willen und Intellekt in Schopenhauers Philosophie kennzeichnet, erhellt erneut die Bedeutung, die seine Willenstheorie auch für das Verständnis seiner Willenlosigkeitsästhetik hat. 89

89

Dieser Zusammenhang zwischen Willenstheorie und Ästhetik bei Schopenhauer verlangt entsprechende Konsequenzen auch für die Fortführung dieser Arbeit. Auf die Beziehung zwischen beiden Sphären wird in Kapitel B. (= § 7 — §12) ausführlich einzugehen sein. Die in § 1 — § 11 entfalteten Perspektiven sollen in § 12, dem eigentlichen Kernstück des (aus den Kapiteln A. und B. bestehenden) allgemeinen Teils dieser Abhandlung, fokussiert und in einen erweiterten Horizont gestellt werden.

§ 6. Selbstbewußtsein und Selbstverleugnung als Faktoren eines ästhetikinternen Konflikts I. Lassen wir zunächst Schopenhauer selbst zu Wort kommen: „Zur Auffassung einer Idee, zum Eintritt derselben in unser Bewußtsein kommt es nur mittelst einer Veränderung in uns, die man auch als einen Akt der Selbstverleugnung betrachten könnte; sofern sie darin besteht, daß die Erkenntnis sich einmal vom eigenen Willen gänzlich abwendet [...] und die Dinge so betrachtet, als ob sie den Willen nie etwas angehn könnten. Denn hiedurch allein wird die Erkenntnis zum reinen Spiegel des objektiven Wesens der Dinge. Jedem echten Kunstwerk muß eine so bedingte Erkenntnis als sein Ursprung zum Grunde liegen".1 Den Grundgedanken seiner Ästhetik hat Schopenhauer in diesem Textstück prägnant zum Ausdruck gebracht. Uber die Implikationen des Aktes, den er mit dem Begriff „Selbstverleugnung" bezeichnet, kann — so mag man angesichts der klaren Diktion vermuten — kein Zweifel bestehen: Nichts anderes scheint Schopenhauer hier zu thematisieren als die Konstellation, für die er weitaus häufiger den Begriff ,Willenlosigkeit' verwendet. Vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer den Willen nicht nur als „selbst-eigenes Wesen"2 des Menschen auffaßt, sondern ihn auch als „das eigentliche Selbst"3 bezeichnet, so verfügt man bereits über eine aussagekräftige Basis, deren Gehalt man lediglich noch zu negieren braucht, um die Einheit von Willenlosigkeit und Selbstverleugnung offenkundig werden zu lassen. In dieselbe Richtung weist Schopenhauers Behauptung, der Mensch werde „sich seines eigenen Selbsts unmittelbar bewußt [...] als eines Wollenden".4 Die Elimination des Willens im Postulat ästhetischer Willenlosigkeit ist demnach mit einer Art von Selbst-losigkeit oder Ent-selbstung iden1 2 3 4

WWV II WWV II WWV II Kl. Seht.

S. 473. S. 272. S. 475. S. 529.

88

Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

tisch, die man auch durch den Begriff der Selbstverleugnung' zum Ausdruck bringen kann. Auch im Eingangszitat ist die grundsätzliche Willensdistanz der ästhetischen, auf Selbstverleugnung beruhenden Einstellung bereits evident. Ergänzend seien nun einige Aussagen Schopenhauers angeführt, die sich problemlos in den bisher aufgespannten Horizont einfügen lassen und dadurch den behaupteten Zusammenhang konsolidieren: Für willenlos-objektive Kontemplation setzt Schopenhauer voraus, daß „wir, des leidigen Selbst entledigt, als reines Subjekt des Erkennens mit jenen Objekten völlig eins" 5 werden. Anderenorts postuliert er für das ästhetische Subjekt: „sein eignes Selbst muß aus seinem Bewußtseyn verschwinden" 6 , so daß es bei der Betrachtung eines schönen Objekts „sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert, d. h. eben sein Individuum, seinen Willen vergißt und nur noch als reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehen bleibt". 7 Und wenn Schopenhauer in seinen „Parerga und Paralipomena" mit besonderer Radikalität behauptet: „Reines Subjekt des Erkennens werden heißt sich selbst loswerden" 8 , dann scheint diese Formulierung ebenfalls die Konzeption ästhetischer Willenlosigkeit zum Ausdruck zu bringen. Die Konsequenzen, die solche Selbstvergessenheit, Selbstaufgabe oder Selbstverleugnung des Subjekts für sein Verhältnis zum ästhetischen Objekt hat, erläutert Schopenhauer in einer Anmerkung zum letztgenannten Zitat folgendermaßen: „Das reine Subjekt des Erkennens tritt ein, indem man sich vergißt, um ganz in den angeschauten Gegenständen aufzugehn, so daß nur sie im Bewußtsein übrigbleiben".9 Einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis dieser These liefert der Kontext der eingangs zitierten Textstelle, in der explizit von „Selbstverleugnung" die Rede war. Nicht allein identifiziert Schopenhauer dort „das eigentliche Selbst" mit „dem Willen" 10 ; außerdem führt er eine Differenzierung zwischen zwei Bewußtseinsseiten ein, indem er

5 VCWV I S. 283. Vgl. auch MS S. 94, wo Schopenhauer die Auffassung vertritt, daß es der Schönheit der Natur „fast immer gelingt, uns loszureißen von der Beschäftigung mit unserm leidigen Selbst und dessen Zwecken". MS S. 97. W W V I S. 257. Vgl. auch S. 266: Das Auffassen der Ideen durch reine Kontemplation verlangt „ein gänzliches Vergessen der eigenen Person und ihrer Beziehungen". 8 PP II S. 491. 9 PP II S. 491. Vgl. ferner W W V I S. 257: Anschauender und Anschauung sind untrennbar „eines geworden, indem das ganze Bewußtsein von einem einzigen anschaulichen Bilde gänzlich gefüllt und eingenommen ist". 10 w w v II S. 475. 6 7

§ 6. Selbstbewußtsein und Selbstverleugnung im Konflikt

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das „Bewußtsein vom eigenen Selbst, welches der Wille ist", dem „Bewußtsein von andern Dingen"n gegenüberstellt. Ein invers-dynamisches Verhältnis besteht zwischen diesen beiden Bewußtseinskomponenten. Die Kenntnis seiner Implikationen verhilft zu einem genaueren Verständnis dessen, was Schopenhauer in ästhetischem Kontext als „Selbstverleugnung" bezeichnet. Nach seiner Auffassung potenziert sich bei willenlosem Erkennen nämlich „das Bewußtsein anderer Dinge" in solchem Maße, „daß das Bewußtsein vom eigenen Selbst verschwindet". 12 Je objektiver die Erkenntnis wird, desto mehr treten also Wille und Selbstbewußtsein zurück. Aber nicht nur in dieser einen Richtung ist das Bewußtsein nach Schopenhauers Auffassung durch eine inverse Relation seiner beiden Komponenten zueinander bestimmt, vielmehr gilt generell: „Je mehr nun die eine Seite des gesamten Bewußtseins hervortritt, desto mehr weicht die andere zurück. Demnach wird das Bewußtsein anderer Dinge, also die anschauende Erkenntnis um so vollkommener, d. h. um so objektiver, je weniger wir uns dabei des eigenen Selbst bewußt sind. Hier findet wirklich ein Antagonismus statt. Je mehr wir des Objekts uns bewußt sind, desto weniger des Subjekts: je mehr hingegen dieses das Bewußtsein einnimmt, desto schwächer und unvollkommener ist unsere Anschauung der Außenwelt". 13 Die Quantitätsverhältnisse eines Mehr oder Weniger scheinen allerdings im Grenzbezirk zu fehlen: Im selbstvergessenen „Zustand der reinen Objektivität der Anschauung" ist nach Schopenhauers Uberzeugung der Wille „aus dem Bewußtsein eliminiert". 14 Die Totalität der das Bewußtsein ganz ausfüllenden Objektivität der Anschauung verbindet sich mit entsprechend umfassender Auslöschung des Selbstbewußtseins. Die von Schopenhauer postulierte Elimination des Selbst, die gewissermaßen eine Ent-selbstung zur Selbst-losigkeit darstellt, markiert also jene Grenzzone, in der auch die im breiten und variantenreichen Mittelfeld vorherrschende Inversion der Be11 WWV II S. 474. Vgl. auch die Definition von Selbstbewußtsein in den Kl. Sehr. S. 528: „das Bewußtsein des eigenen Selbst im Gegensatz des Bewußtseins anderer Dinge, welches letztere das Erkenntnisvermögen ist". Mit der vorliegenden Problematik habe ich mich auch in einem Aufsatz auseinandergesetzt; vgl. Neymeyr, Barbara: Selbstbewußtsein ohne Selbst? — Zur Bewußtseinsproblematik in Schopenhauers Ästhetik. In: Das Bewußtsein — philosophische, psychologische und physiologische Aspekte. Schriftenreihe der Freien Akademie Band 16. Hrsg. von Jörg Albertz. Berlin 1994. S. 1 1 3 - 1 4 6 . 12 WWV II S. 475. π WWV II S. 474. 14 WWV II S. 474. Mitunter muß man diese fundamentale Elimination (sinnvollerweise!) aber wohl doch cum grano salis verstehen: Schopenhauer selbst schränkt die Radikalität seiner These etwas ein, wenn er über die ästhetische Wahrnehmung von Objekten aussagt, „daß wir beinah bloß von ihnen wissen und fast gar nicht von uns" (WWV II S. 475).

90

Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

wußtseinskomponenten entfallen muß: Nimmt man Schopenhauers radikale These, „daß das Bewußtsein vom eigenen Selbst verschwindet"15, ernst, dann besteht infolge der Aufhebung einer der beiden Bewußtseinskomponenten auch die Möglichkeit gradueller Differenzierung nicht mehr. Indem die vormalige Komponente ,Bewußtsein anderer Dinge' ihre Partiaütät abstreift und zu einer das Bewußtsein vollends beherrschenden Totalität wird, geht die Dualität der Bewußtseinsseiten verloren. II. So überzeugend die dargelegte Inversion der beiden Bewußtseinskomponenten sowie die Aufhebung dieser dynamischen Relation in ästhetischer Kontemplation unter dem Aspekt systemimmanenter Stringenz auch erscheinen mögen, so unverständlich müssen auf dieser Folie solche Aussagen wirken, in denen Schopenhauer ausdrücklich ein Selbstbewußtsein des ästhetischen Subjekts voraussetzt. Diese Problematik wurde unter dem Aspekt eines möglichen Metavoluntarismus des Ästhetischen bereits in § 3 ausführlich diskutiert; sie soll hier in § 6 in weiterführende Überlegungen eingefügt und für die an späterer Stelle (§ 12) geplante Horizonterweiterung präpariert werden. Dabei wird zunächst der Eindruck entstehen, daß Schopenhauers Thesen von der Koinzidenz von Willen und Selbstbewußtsein realiter über weniger Durchschlagkraft verfügen, als die synonyme Verwendung der Begriffe Selbstverleugnung' und ,Willenlosigkeit' am Anfang dieses § 6 vermuten ließ. Um dies zu verdeutlichen, empfiehlt sich hier zunächst ein Rückgriff auf jene in § 3 bereits zitierte Aussage, derzufolge der Kontemplierende sich in ästhetischer Betrachtungsweise „als reines Subjekt seiner bewußt wird". 16 Und überraschenderweise differenziert Schopenhauer in gewisser Strukturanalogie zu seiner Unterscheidung zweier Komponenten des Bewußtseins generell anderenorts zwischen zwei unzertrennlichen Bestandteilen ästhetischer Betrachtungsweise speziell: zwischen der „Erkenntnis des Objekts, nicht als einzelnen Dinges, sondern als Platonischer Idee", und dem „Selbstbewußtsein des Erkennenden nicht als Individuums, sondern als reinen, willenlosen Subjekts der Erkenntnis".17 is W W V II S. 475. is W W V I S. 259. 17

W W V I S. 279. Vgl. dazu auch MS S. 1 0 9 - 1 1 0 , wo Schopenhauer das Gefühl des Erhabenen kennzeichnet „durch den Kontrast der Unbedeutsamkeit und Abhängigkeit unsres Selbst als Individuum, als Willenserscheinung gegen das Bewußtsein unseres Selbst als reinen Subjekts des Erkennens". Ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Aussagen über das Selbst führt Schopenhauer hier, die von ihm selbst gesetzte Identität von Selbst mit dem Willen offenbar

§ 6. Selbstbewußtsein und Selbstverleugnung im Konflikt

91

Denkt man diese Spezifikation nun mit der vorherigen Differenzierung zwischen einem Bewußtsein vom eigenen Selbst und einem Bewußtsein von anderen Dingen zusammen, so läßt sich diese Synthese anhand einer graphischen Darstellung der entstandenen Subsumtionsverhältnisse veranschaulichen: als Individuum (i. e. als einem Wollenden) v o m eigenen Selbst als d e m reinen, willenlosen Subjekt des Erkennens

Bewußtsein

als Einzeldingen v o n anderen Dingen als Ideen

Wenn man — besserer Übersichtlichkeit halber — Siglen einführt 18 und die Subsumtionsstruktur durch hierarchische Anordnung verdeutlicht, so ergibt sich folgendes Schema: Β BS

BSW

BD

iBSRl

BDE

|BDI|

Dieses dreistufige Schema kann jedoch im Horizont des Bisherigen allenfalls auf den ersten Blick überzeugen. Vergegenwärtigt man sich nämlich nachträglich, daß Schopenhauer einerseits das eigene Selbst des Menschen mit dem Willen identifiziert und andererseits die Reinheit der Ideenerkenntnis sowie das Selbstbewußtsein des ästhetischen Subjekts als ihres Trägers gerade durch Willensindependenz gewährleistet sieht, dann zerbricht diese — nur scheinbar

18

ignorierend, ,Selbst' sogar als Gattungsbegriff ein, unter den als Arten ein willensbestimmtes und ein willensunabhängiges Selbst zu subsumieren sind. B: Bewußtsein; BS: Bewußtsein vom eigenen Selbst, BD: Bewußtsein von anderen Dingen; BSW: Bewußtsein vom eigenen Selbst als Individuum, i. e. als einem Wollenden, BSR: Bewußtsein vom eigenen Selbst als dem reinen, willenlosen Subjekt des Erkennens; BDE: Bewußtsein von anderen Dingen als Einzeldingen, BDI: Bewußtsein von anderen Dingen als Ideen. Durch Kästchen sind die ästhetischen Faktoren eingerahmt; gestrichelte Linien zeigen die Problemfelder an.

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

stimmige — Subsumtionsstruktur sofort. Daß in dem hierarchischen Konstrukt ein ansehnlicher Spalt klafft, erhellt daraus, daß Schopenhauer Selbstbewußtsein per se definiert als „das Bewußtsein des eigenen Selbst im Gegensatz des Bewußtseins anderer Dinge".19 Der subjektiv-voluntativen Bewußtseinskomponente tritt hier eine objektive, bei entsprechender Potenzierung für den Bewußtseinszustand in ästhetischer Einstellung konstitutive Komponente gegenüber. Aufgrund ihrer Opposition zu Selbstbewußtsein schlechthin erscheint die im Schema veranschaulichte Subsumtion problematisch. Stellt man sich die Frage, was von dem Selbstbewußtsein des Subjekts überhaupt noch erhalten bleiben kann, wenn „sein eignes Selbst [...] aus seinem Bewußtseyn verschwinden" 20 soll, so lautet die Antwort definitiv: gar nichts! Im Rahmen von Schopenhauers ästhetischem Postulat hat zugleich mit dem Willen eo ipso auch das Selbstbewußtsein des Subjekts als eliminiert zu gelten. Im Falle ästhetischer Einstellung muß man daher aus dem Schema den linken Zweig des Bewußtseins ganz entfernen; nur der rechte Ast, das Bewußtsein von anderen Dingen, bleibt dann — gemäß Schopenhauers Objektivitätspostulat — noch erhalten. Durch den Primat des Genus vor der Spezies sind im Falle einer Negation der Gattung ,Selbstbewußtsein' zugleich auch die beiden — vermeintlichen — Arten derselben aufgehoben: Das Selbstbewußtsein des Individuums entfällt dann ebenso wie das angebliche Selbstbewußtsein des reinen Subjekts des Erkennens. Die von Schopenhauer mitunter vorausgesetzte Möglichkeit eines spezifisch ästhetischen Selbstbewußtseins muß hier — unter dem Anspruch auf systemimmanente Konsistenz — also fragwürdig erscheinen. Und zwar nicht nur deshalb, weil eine Differenzierung zwischen voluntativem und ästhetisch-willenlosem Selbst sich infolge der (von Schopenhauer behaupteten) Koinzidenz von Willen und Selbst des Menschen von vornherein zu verbieten scheint, sondern außerdem auch deshalb, weil Schopenhauer explizit alle „Bewegungen des Willens" als „den alleinigen Gegenstand des Selbstbewußtseins" 21 bezeichnet. Das Scheitern einer vermeintlich artkonstituierenden Spezifikation des Selbstbewußt19 20

21

Kl. Sehr. S. 528. MS S. 97. Vgl. ergänzend PP II S. 491, wo Schopenhauer zweimal vom „Verschwinden alles P] Wollens aus dem Bewußtsein" spricht. So weitreichend denkt sich Schopenhauer das Aufgehen des Subjekts „in den angeschauten Gegenständen", „daß nur [!] sie im Bewußtsein übrigbleiben" (a. a. O.). Kl. Sehr. S. 531. Ein ästhetisches Selbstbewußtsein läßt sich unter anderen Voraussetzungen als Schopenhauers Prämisse der Willenlosigkeit einer spezifisch ästhetischen Tätigkeit des Intellekts aber sehr wohl legitimieren. Diese — in § 1 2 einzuschlagende — Argumentationsrichtung setzt allerdings ein willenstheoretisches Fundament voraus, das im Verlauf von Kapitel B. erst anzulegen ist.

§ 6. Selbstbewußtsein und Selbstverleugnung im Konflikt

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seins in eine voluntative und eine ästhetisch-willenlose Art wird auf dieser Basis auffällig. Und der in § 3 nur hypothetisch erwogene Versuch, trotz Schopenhauers Identifikation von Willen und Selbst ein ästhetisches Selbstbewußtsein zu postulieren, kann hier erst recht nicht weiterhelfen. Mündete diese Überlegung in § 3 schließlich in die Absurdität eines Selbstbewußtseins ohne Selbst, so wird nunmehr — noch im Vorfeld einer solchen Überlegung — bereits die Hypothese von einem angeblich ästhetisch-willenlosen Selbstbewußtsein durch den per se voluntativen Charakter des Selbstbewußtseins systemimmanent ad absurdum geführt. Auf der Folie von Schopenhauers grundlegenden Prämissen erscheint ein ästhetisches, mithin willenloses respektive selbst-loses Selbstbewußtsein inakzeptabel, weil es die grundlegende Problematik einer contradictio in adjecto mit sich bringt. Ein Ausweg aus dieser Schwierigkeit ist hier nicht in Sicht. Zusammenfassend läßt sich die Problematik der im obigen Schema dargestellten Konstellation folgendermaßen beschreiben: Die Subsumtion krankt auf der untersten Ebene daran, daß die grundlegende Differenzierung des Bewußtseins in ein Bewußtsein vom eigenen Selbst (i. e. BS) und ein Bewußtsein von anderen Dingen (i. e. BD) als subjektive und objektive Bewußtseinskomponente unterlaufen, mithin in Frage gestellt wird: und zwar dadurch, daß unter sie jeweils wieder ein subjektiver (i. e. BSW, BDE) und ein objektiver Faktor (i. e. BSR, BDI) subsumiert werden. Die systemimmanenten Spannungen, die das Schema aufweist, entstehen also im Falle von BS durch BSR, im Falle von BD durch BDE. Allein durch diese vorläufige Analyse der spezifisch ästhetischen Bewußtseinsproblematik ist allerdings die ebenso notwendige wie naheliegende Frage nach deren Genese noch nicht beantwortet. Sie erweist sich als diffizil und scheint im engeren Rahmen der Ästhetik unbeantwortbar zu sein. Erst in einem durch die Mitberücksichtigung zentraler Aspekte von Schopenhauers Willenstheorie erweiterten Horizont wird sich eine Möglichkeit zur Erhellung der komplexen Konstellation bieten. Daher sei diese Frage vorerst noch zurückgestellt; erst im Rahmen der erweiterten Perspektiven, die in § 12 zu einem Lösungsvorschlag führen, kann sie wiederaufgenommen und schließlich auch beantwortet werden. III. Trotz der Gleichsetzung von Willen und Selbst des Menschen durch Schopenhauer erhellt aus mehreren Passagen seines Werkes eine auffällige Disproportionalität, über deren Bestehen die eingangs hervorgehobene Über-

94

Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

einstimmung der Implikationen von ,Willenlosigkeit' und Selbstverleugnung' nur vordergründig hinwegzutäuschen vermag. Zu facettenreich nimmt sich das Spektrum der Substantive aus, die sich mit dem Wort ,Selbst' zu einem Kompositum synthetisieren lassen und sich zumindest ihrem Gehalt nach, oft jedoch sogar wördich bei Schopenhauer finden, als daß die Einfachheit des Willensbegriffs und seine ebenso schlichte Negation im Begriff der ,Willenlosigkeit' ihm tatsächlich entsprechen könnte. Zu nennen sind: einerseits Selbstverleugnung 22 , Selbstaufgabe, Selbstverlust 23 , Selbstvergessenheit 24 , Selbstentäußerung 25 , Selbstaufhebung 26 , andererseits jedoch auch Selbstbewußtsein 27 , Selbsterkenntnis, Selbstbefreiung. Die Grundverhältnisse auf dieser vielfältig bestückten Palette von Selbst-Bezüglichkeiten bedürfen einer Analyse.

IV. Von Bedeutung ist zunächst einmal die Relation zwischen Selbst und Freiheit in Schopenhauers Ästhetik. Die in § 4 vertretene These von quasiintentionalen, mithin anthropomorphistischen Zügen des ästhetischen Objekts in Schopenhauers Konzeption wurde insbesondere durch das folgende Zitat belegt, das durch einen sich anschließenden, bislang nicht zitierten Relativsatz besonders aufschlußreich für den vorliegenden Argumentationskontext ist: „der vegetabilischen Natur [...] gelingt es [...] leicht, uns in den Zustand des reinen Erkennens zu versetzen, der uns von uns selbst befreit". 28 Die in § 4 aufgezeigte Fragwürdigkeit eines quasi-intentionalen, mithin anthropomorphistischen Status des ästhetischen Objekts wird hier noch Vgl. WWV II S. 473. Vgl. WWV I S. 257: „indem man [...] sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert". Vgl. auch WWV I S. 266, wo Schopenhauer Genialität definiert als „die Fähigkeit, [...] sich in die Anschauung zu verlieren [...]". 24 Vgl. ζ. B. WWV I S. 283 und MS S. 98: „Vergessen seines Selbst als Individuums". Vgl. auch WWV I S. 257: Ästhetische Kontemplation tritt ein, „indem man [...] sein Individuum, seinen Willen vergißt". 25 Vgl. ΗΝ IV,1 S. 43: Daß der Intellekt „zum Spiegel der Welt werde, ist Genialität und erfordert Selbstentäußerung". Vgl. auch WWV I S. 266, wo Schopenhauer Genialität durch die Fähigkeit charakterisiert, „seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge, übrigzubleiben". 2f> w w v I s. 328. 27 Vgl. WWV I S. 279, 259. 28 PP II S. 503.

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§ 6. Selbstbewußtsein und Selbstverleugnung im Konflikt

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überboten: Nicht nur greift eine so konzipierte Natur als eigentliches Agens determinierend auf das Subjekt über, das, der Fähigkeit zu eigenen Impulsen offenbar beraubt und auf eine passiv-rezeptive Haltung anscheinend festgelegt, der Naturheteronomie nahezu ausgeliefert ist. Darüber hinaus werden die (von Kant noch scharf gezogenen) Grenzen zwischen Natur und Freiheit hier bei Schopenhauer in dem Sinne permeabel, daß die Wirkung der Natur auf das Subjekt sogar dessen Freiheit allererst hervorbringt. Hinweise auf die Positivität einer ästhetischen Freiheit nach eigenen Gesetzen, für die Schopenhauer verschiedentlich plädiert, fehlen an dieser Stelle gänzlich. Mithin erscheint eine solche bloß negative (da im Befreitsein von der Willensdependenz sich offenbar bereits erschöpfende) Freiheit des ästhetischen Subjekts durch ihre Substanzlosigkeit problematisch. Eine so konzipierte negative Freiheit kann genaugenommen sogar nicht einmal mehr .unsere Freiheit' sein, weil doch in solchem Befreiungsakt gerade jenes Substrat aufgehoben wird, das für die Zuschreibung von Freiheit unentbehrlich ist: nämlich — ,wir selbst'! Nachdrücklich wurde allerdings bereits in § 4 darauf hingewiesen, daß Schopenhauers Konzeption ästhetischer Einstellung auf derart problematische Formulierungen keineswegs festgelegt werden darf. Denn in Schopenhauers Ästhetik finden sich durchaus auch Textpartien, die Ansätze zu spontanen Impulsen aktiver ästhetischer Subjekte erkennen lassen. Zu rekurrieren ist diesbezüglich auf den zweiten Teil einer Alternative: Entweder zieht ein Objekt „durch die Macht seiner Schönheit" die Erkenntnis vom Willen ab, oder „durch innre Stimmung befreit sich die Erkenntniß vom Dienste des Willens". 29 Die reflexive Richtung solcher Selbstbefreiung eines Subjekts, das sich aus seinem willensabhängigen Zustand löst, steht der separativisch zu interpretierenden Selbstbefreiung im Sinne einer Befreiung „von uns selbst", die wir laut Schopenhauer aufgrund besonderer Objektimpulse erfahren, diametral gegenüber. In beiden Fällen allerdings scheint zwischen Selbst und Freiheit eine notwendige Alternative in dem Sinne zu bestehen, daß beide nur wechselweise, nicht aber zugleich auftreten können — gemäß der These Schopenhauers, daß „bei allem absichtlichen Nachdenken der Intellekt nicht frei [ist], da ja der Wille", mithin das Selbst, „ihn leitet". 30 Anders als die erstgenannte Selbstbefreiung mit der separativischen Bedeutung einer Befreiung vom Selbst (als dem Willen) ist die Selbstbefreiung der letztgenannten MS S. 92. Ausführlicher dazu: § 17. so w w v n s 4 9 0 29

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Art aufzufassen: Im Falle einer Selbstbefreiung der Erkenntnis, deren Folge ihre Freiheit vom Willensdienst ist, scheint ,selbst' als Pronomen auf die Erkenntnis als Agens zurückbezogen zu sein. Sie richtet sich als Subjekt dieses Befreiungsaktes gewissermaßen auf sich selbst als Objekt, so daß Subjekt und Objekt dieses Aktes koinzidieren.

V. Die beschriebene Zweideutigkeit, in die das Verhältnis zwischen Selbst und Freiheit gerät, gibt Anlaß zu eingehender Auseinandersetzung mit Schopenhauers Begriff der Selbstverleugnung'. Das Hauptaugenmerk soll dabei der Frage nach den möglichen Agens-Patiens-Kombinationen bei solcher Verleugnung gelten. Zu klären ist demnach: Was wird in welcher Konstellation eigentlich verleugnet und durch wen oder was? Wie bereits gesagt, erblickt Schopenhauer den für den Eintritt in ästhetische Kontemplation erforderlichen „Akt der Selbstverleugnung" darin, „daß die Erkenntnis sich einmal vom eigenen Willen gänzlich abwendet". 31 Eine Antwort auf die gestellte Frage nach den Implikationen von Selbstverleugnung fällt angesichts dieses Zitats nicht schwer: Kaum etwas anderes, so wird man vermuten, kann hier mit ästhetischer Selbstverleugnung gemeint sein, als daß der Intellekt als Agens sich vom Willen als Patiens distanziert, sich dessen Anspruch auf instrumentelle Erkenntnisleistung entzieht. Läßt man jedoch diese vermeintlich mit der Uberzeugungskraft des Selbstverständlichen ausgestattete Deutung zunächst einmal beiseite und versucht, sich abstrakt, also ohne direkte Bezugnahme auf Textstellen, Klarheit zu verschaffen über die potentiellen ästhetischen Relationen zwischen Willen und Intellekt, so eröffnen sich überraschenderweise komplexere Perspektiven: Der Begriff der Selbstverleugnung' verliert seine vermeintlich scharfen Konturen und scheint — entgegen dem ersten Eindruck — potentiell polyvalent zu sein. Dabei beruht die Mehrdeutigkeit dieses Begriffs auf der Möglichkeit unterschiedlicher Agens-Patiens-Verbindungen. Unter der Voraussetzung, daß erstens Verleugnung vollzogen wird und daß zweitens dabei maximal zwei Faktoren beteiligt sein können, mindestens aber ein Faktor vorhanden und wirksam sein muß, ergeben sich formal-abstrakt zunächst einmal folgende Kombinationsmöglichkeiten: 3i W W V II S. 473. Die Fortsetzung des Zitats findet sich am Anfang von § 6.

§ 6. Selbstbewußtsein und Selbstverleugnung im Konflikt

Der Der Der Der

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Intellekt verleugnet den Willen. Intellekt verleugnet den Intellekt, Wille verleugnet den Willen. Wille verleugnet den Intellekt.

Hiermit sind die Möglichkeiten komplett genannt, die dann entstehen, wenn jeder der beiden Faktoren sich verleugnend entweder auf den jeweils anderen oder auf sich selbst richtet. Subjekt und Objekt im Sinne von Agens und Patiens der Verleugnung lassen sich — rein theoretisch — also durch differente oder durch identische Faktoren besetzen. Die formal-schematisch zur Verfügung stehenden Kombinationsmöglichkeiten sind nun im Horizont von Schopenhauers Ansatz auf ihre Plausibilität hin zu untersuchen. Unmittelbar einleuchtend erscheint im Rahmen von Schopenhauers Ästhetik — wie bereits gesagt — der erste Fall, nach dem der Verleugnungsund Distanzierungsakt vom Intellekt ausgeht und auf den Willen als das Selbst sowie auf dessen Interessen zielt. Mit Schopenhauers These, derzufolge der „Akt der Selbstverleugnung" als Abwendung des Intellekts vom Willen vollzogen wird, als Verleugnung, die sich auf ihn als das Selbst richtet, läßt sich diese Deutung belegen und legitimieren. Weniger überzeugen kann demgegenüber zunächst die zweite Kombinationsvariante. Wie sollte denn auch Selbstverleugnung als reflexiver Akt des Intellekts verständlich werden, der von ihm (als Subjekt) sowohl ausgeht als auch auf ihn (als Objekt) sich richtet? Gerät die Annahme einer Selbstverleugnung dieser Art durch ihre negative Valenz nicht außerdem in ein problematisches Verhältnis zu Schopenhauers positivem Postulat einer eigengesetzlichen ästhetischen Tätigkeit des Intellekts? Trotz der Vorbehalte indes läßt sich auch dieser zunächst abwegig erscheinende Modus von Selbstverleugnung begründen. Denn die dabei zunächst implizit unterstellte differenzlose Identität von Subjekt und Objekt solcher Selbstverleugnung, bei deren Vollzug der Intellekt zugleich als Agens und als Patiens erscheint, ist keineswegs zwingend. Bereits im Verlauf von § 5 stellte sich heraus, daß Schopenhauers Aussagen über Natur und Funktion des Intellekts durchaus kein homogenes Bild ergeben. Anhand von Textstellenvergleichen wurde dort die Doppelnatur eines Intellekts herauspräpariert, dessen Wesen und Funktion nach Schopenhauer einerseits in heteronomer, da willensdependenter Instrumentaütät bestehen soll, andererseits jedoch in einem autonomen Philaleth-Status, der allerdings — obwohl durch eine Opposition zum Willen mit seinen Interessen definiert — dennoch für Störungen von seiner Seite her anfällig bleibt.

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Unter Einbeziehung entsprechender Analyseergebnisse von § 5 läßt sich die zunächst problematisch wirkende Einheit von Agens- und Patiens-Status des Intellekts im „Akt der Selbstverleugnung" produktiv unterminieren, und zwar durch Hervorhebung einer spezifischen Differenz innerhalb dieser nur scheinbar ungebrochenen Identität: Insofern ist die Reflexivität eines von sich ausgehenden und im Akt der Selbstverleugnung auf sich selbst gerichteten Intellekts als eingeschränkte, mithin gewissermaßen als nur relative zu verstehen: Keine differenzlose Selbigkeit von Agens und Patiens liegt vor, stattdessen zielt dabei die eine seiner beiden unterschiedlichen ,Naturen' verleugnend auf die andere. Und das heißt konkret: Der Wirkungszusammenhang läßt sich so konstruieren, daß die ,eigene Natur' des Intellekts, „die auf Wahrheit gerichtet ist" 32 , sich gegenüber der anderen ,Natur' durchzusetzen versucht, nach der die ,eigentliche Bestimmung' des Intellekts gerade im Willensdienst besteht. Komplexer als im ersten Falle gestaltet sich hier der „Akt der Selbstverleugnung". Denn — so die Hypothese — nur eine Priorität der Philaleth-,Natur' des Intellekts, die ihn zu ästhetischer Wesenserkenntnis allererst befähigt, hilft in einem geglückten „Akt der Selbstverleugnung" den entgegengesetzten Modus von Selbstverleugnung zu unterbinden. Einer genau konträren Art von Selbstverleugnung nämlich fällt die autonom-philalethische der beiden Intellekt-,Naturen' dann zum Opfer, wenn der Intellekt unter dem Druck der Willensherrschaft „seiner eigenen Natur, die auf Wahrheit gerichtet ist, Gewalt antun muß, indem er sich zwingt, Dinge, die weder wahr noch wahrscheinlich, oft kaum möglich sind, seinen eigenen Gesetzen zuwider für wahr zu halten, um nur den unruhigen und unbändigen Willen auf eine Weile zu beschwichtigen, zu beruhigen und einzuschläfern". 33 Die Überlegung läuft also darauf hinaus, daß ein eigengesetzlich tätiger Intellekt sich der Normalität von Willensdependenz und Dienerfunktion verweigert, mithin die heteronome seiner beiden ,Naturen' verleugnet, um dadurch gerade seine andere Wesensbestimmung als autonomer Philaleth ihr gegenüber zum Vorschein und zur Geltung zu bringen. Im Rahmen dieser Hypothese entsteht — anders als es zunächst schien — tatsächlich kein Widerspruch zu Schopenhauers Postulat eines nach eigenen Gesetzen tätigen ästhetischen Intellekts. Vielmehr erweisen sich Eigengesetzlichkeit und Selbstverleugnung in ästhetischer Einstellung auf der Basis der intellektualen Doppelnatur hier durchaus als kompatibel, ja mehr als das: 32 w w v II S. 279. 33 W W V II S. 2 7 9 - 2 8 0 .

§ 6. Selbstbewußtsein und Selbstverleugnung im Konflikt

99

sie sind geradezu eo ipso aufeinander bezogen und essentiell aneinander gebunden. Gerade die gegensätzliche Ausrichtung der beiden ,Naturen' des Intellekts bildet also die Voraussetzung für das komplexe Zusammenspiel von jeweils partieller Selbstbejahung und Selbstverleugnung des Intellekts. Aufgrund der Differenzierung zwischen zwei verschiedenen ,Naturen' stellt sich die zunächst hervorgehobene Reflexivität des ,Selbst-' in dieser Weise von Selbstverleugnung als eine durchaus gebrochene dar. Ohne Differenzmomente ist die konstitutive Selbigkeit in dieser Art von Rückbezüglichkeit hier undenkbar. Die beiden konträren Modi von jeweils partieller Selbstverleugnung entsprechen also der in § 5 herausgearbeiteten Expansion von Abnormität. Wie in § 5 dargelegt, beruht diese erweiterte Abnormität auf der in Schopenhauers Texten aufweisbaren autonom-heteronomen Doppelnatur des Intellekts. Die wesentliche Analogie zwischen Natur, Abnormität und Selbstverleugnung besteht in deren jeweiliger Dualität. Einerseits kann der genetisch und funktional vom Willen abhängige und auf ihn instrumentell bezogene Intellekt nur durch partielle Selbstverleugnung (im Sinne einer Verleugnung dieser heteronomen Komponente) zur Wesenserkenntnis gelangen. Andererseits vollzieht der Intellekt hinsichtlich seiner autonom-philalethischen ,Natur' eine entsprechende Semi-Verleugnung, ja geradezu eine Selbst-Vergewaltigung, wenn er sich unter dem Druck der Willensherrschaft dazu zwingt, Unwahres und Unwahrscheinliches aus purer Gefälligkeit dem Willen gegenüber „seinen eigenen Gesetzen zuwider für wahr zu halten". In beiden Fällen erweist sich der Zusammenhang zwischen Naturwidrigkeit und Selbstverleugnung als signifikant. Für den vorliegenden Argumentationskontext allerdings ist nur der zuerst genannte Fall spezifisch ästhetischer Selbstverleugnung bedeutsam. Wenden wir uns nun den beiden weiteren Varianten zu, mit denen sich die Vierheit formaler Möglichkeiten zur Kombination von Agens und Patiens ästhetischer Verleugnung vervollständigen läßt. Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer immer wieder nachdrücklich dem Intellekt die konstitutive Funktion für ästhetische Einstellung zuspricht, den Willen jedoch aus der Sphäre ästhetischer Kontemplation eliminiert, drängt sich zunächst der Eindruck auf, als potentielles Subjekt oder Agens von Selbstverleugnung stehe der Wille — eben aufgrund von Schopenhauers Willenlosigkeitspostulat — grundsätzlich nicht zur Disposition. Denn behauptet nicht Schopenhauer selbst prononciert, die zu ästhetisch-objektiver Erkenntnis „erforderte Veränderung im Subjekte kann, eben weil sie in der Elimination alles Wollens besteht, nicht vom Willen ausgehn, also kein Akt der Willkür sein, d. h. nicht

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

in unserm Belieben stehn" 34 ? Beinhaltet demzufolge nicht schon das bloße Ansinnen, den Willen in ästhetischem Kontext als Agens in Anspruch zu nehmen, unweigerlich einen ebenso kühnen wie unverzeihlichen Fehlgriff? Und mündet ein solches Unternehmen nicht zwangsläufig in die unproduktive Anstrengung, Schopenhauer gewaltsam gegen den Strich zu lesen? Trotz dieses Anscheins verhält es sich de facto keineswegs so, daß sich Überlegungen in dieser Richtung von vornherein erübrigen. Denn erstaunlicherweise finden sich bei Schopenhauer Textstellen, die insbesondere für die eine der restlichen beiden Kombinationsmöglichkeiten immerhin eine rudimentäre Uberzeugungskraft zu sichern vermögen. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht die folgende These Schopenhauers: Wenn „der individuelle Wille die ihm beigegebene Vorstellungskraft auf eine Weile freiläßt und sie von dem Dienste, zu welchem sie entstanden und vorhanden ist, einmal ganz dispensiert, [...] so wird sie alsbald vollkommen objektiv, d. h. sie wird zum treuen Spiegel der Objekte". 35 Diesem Zitat sei eine andere Aussage Schopenhauers gegenübergestellt: „Der Wille, welcher die Wurzel des Intellekts ist, widersetzt sich jeder auf irgend etwas anderes als seine Zwecke gerichteten Tätigkeit desselben". 36 Das unübersehbare Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Thesen gibt Anlaß dazu, die dritte Variante ästhetischer Selbstverleugnung versuchsweise folgendermaßen zu beschreiben: Mit dem zweiten Modus von Selbstverleugnung diesbezüglich vergleichbar, scheint auch sie sich als ein reflexiver Akt zu präsentieren, dessen Agens und zugleich Patiens allerdings in diesem Falle der Wille sein müßte. Und zwar insofern, als dieser Wille sich über seinen eigenen Widerstand gegenüber einer den Willenszwecken entfremdeten und dadurch autonom gewordenen Tätigkeit des Intellekts hinwegsetzt. Denn indem der Wille den Intellekt von seinem Dienste „ganz dispensiert", vollzieht er offenbar nicht nur einen Akt, der die weitere Tätigkeit des Intellekts nachhaltig beeinflußt, ja sogar grundlegend modifiziert. Außerdem überwindet der Wille dabei seine eigene Abwehrhaltung gegenüber jedweder Aktivität des Intellekts, bei der sich dieser seiner ursprünglichen willensbezogenen Instrumentalität entzieht. Der vom Willen vollzogene Akt der Dispensierung erhält — so gesehen — also eine zweifache Ausrichtung: Einerseits ist er unmittelbar auf den Intellekt bezogen, verändert dessen Situation direkt W W V II S. 4 7 3 - 4 7 4 . Vgl. aber die neue Interpretation zum Verhältnis zwischen Willen und Intellekt, die in § 12 der vorliegenden Abhandlung als Fokus des Gesamtkomplexes von Kapitel A. und B. entfaltet wird. 3 5 PP II S. 492. 3f> w w v π s. 491. 34

§ 6. Selbstbewußtsein und Selbstverleugnung im Konflikt

101

und gravierend. Andererseits jedoch läßt sich auch eine Art indirekter Reflexivität des Willens beim Vollzug dieser Freilassung des Intellekts feststellen. Denn wenn er den Fortbestand der habituellen Dominanzverhältnisse, an denen er als Herr dem Intellekt als Sklaven gegenüber großes Interesse haben muß, nicht nur nicht gewährleistet, sondern erstaunlicherweise sogar selbst boykottiert, dann liegt folgendes vor: Statt dem Freiheitsdrang des Intellekts einen Riegel vorzuschieben, widersetzt sich der Wille seinem eigenen Widerstand gegenüber einer Autonomie des Intellekts. Transzendiert der Wille sein ureigenes Interesse an einer für seine Zwecke nützlichen Intellekttätigkeit im Rahmen der etablierten Herrschaftsverhältnisse, so handelt er seinem eigenen Wesen entgegen, also gewissermaßen naturwidrig und scheint auf diese Weise einen Akt von Selbstverleugnung zu vollziehen. Das Spezifische dieses Selbstverleugnungsmodus liegt also darin, daß der Wille hier gleichzeitig Subjekt und Objekt, nämlich Agens und Patiens ist, indem die Selbstverleugnung von ihm als dem Selbst ausgeht und zugleich auf ihn selbst zielt. Im Rahmen dieses Deutungsansatzes ergibt sich sogar ein Argument für eine vierte Variante von Verleugnung, die man allerdings semantisch nicht auch als genuinen Fall von Selbstverleugnung in Anspruch nehmen kann: Der Wille als das eigendiche Selbst verleugnet den Intellekt, will sagen: dessen willensdependente Sklaven-,Natur', indem er sich nicht lediglich dazu herbeiläßt, statt kompromißlosen Widerstands dessen Selbstbefreiung oder Befreiung durch den aktivistischen Impetus ästhetischer Objekte stillschweigend zu dulden, sondern solche Entwicklung durch unerwartetes Eingreifen sogar forciert. Geht er doch so weit, seinem abtrünnigen, zur Flucht bereiten Sklaven sogar selbst (gleichsam eigenhändig) das Tor in die Freiheit zu öffnen und ihm uneigennützig (?) den Weg in die Autonomie zu weisen. Läßt man nun abschließend die analysierten vier Modi ästhetischer Verleugnung nochmals Revue passieren, so ist festzuhalten, daß sie nicht alle gleichermaßen plausibel erscheinen. Die erste Variante, nach der Selbstverleugnung vom Intellekt ausgeht und dem Willen gilt, ist zweifellos naheliegend. Sie weist die größte Ubereinstimmung mit den expliziten Aussagen Schopenhauers und daher zunächst auch besondere Uberzeugungskraft auf. Der zweite Modus von Selbstverleugnung transzendiert bereits den Rahmen von Schopenhauers Postulaten, sofern er an die in § 5 entfaltete These von der autonom-heteronomen Doppelnatur des Intellekts und der durch sie bedingten Expansion von Abnormität anknüpft. Weniger gut scheint es um die Textbasis schon für den dritten, vor allem aber für den vierten Verleugnungsmodus bestellt zu sein. Trotzdem werden

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

gerade diese beiden ungewöhnlichen Varianten 3 und 4, so schmal ihr Fundament zunächst auch auszufallen scheint, an späterer Stelle eine produktive Möglichkeit eröffnen, den eingangs entfalteten Konflikt zwischen Selbstverleugnung und Selbstbewußtsein im Rahmen ästhetischer Einstellung wiederaufzunehmen. Die Analysen in § 12 sollen dann zeigen, daß die — bisher noch weitgehend unthematisch gebliebene — Willenstheorie Schopenhauers, deren Entfaltung die folgenden Paragraphen vorantreiben sollen, gerade für diese — vermeintliche — Konkurrenz zwischen Selbstbewußtseinspostulat und Selbstverleugnungsthese einen entscheidungsträchtigen Fokus bildet, der die gegensätzlichen Tendenzen der bisherigen Interpretationsergebnisse zu bündeln und dadurch die Gesamtkonstellation zu erhellen vermag. Besonderes Gewicht bekommt dabei die Frage nach dem Motiv fur das rätselhaftuneigennützige (?) Verhalten des Willens, der zur Autonomie des Intellekts unter Vernachlässigung seiner eigenen Interessen aktiv beizutragen scheint. Ein erster Ausblick auf jenes später zu Analysierende, der allerdings die Problematik zunächst noch verschärft, sei im folgenden gegeben.

VI. Wie am Anfang von § 6 bereits erwähnt, vertritt Schopenhauer die Auffassung: „Reines Subjekt des Erkennens werden heißt sich selbst loswerden". 37 Diese These erläutert er durch die folgende, ihr zugeordnete Anmerkung: „Das reine Subjekt des Erkennens tritt ein, indem man sich vergißt, um ganz in den angeschauten Gegenständen aufzugehn, so daß nur sie im Bewußtsein übrigbleiben". 38 Angesichts der Dezidiertheit, mit der Schopenhauer hier ästhetisches Bewußtsein ausschließlich als Gegenstandsbewußtsein gelten lassen will, wirkt seine These irritierend, ein willenlos erkennendes Subjekt bleibe „sich seiner und seiner Tätigkeit eben als eines solchen doch bewußt". 39 Um so problematischer erscheint das Spannungsverhältnis zwischen diesen gegensätzlichen Thesen, als sie einander sogar auf dem engen Raum ein und derselben Textseite begegnen. Ergänzen läßt sich dieses Zitat durch die folgende These: Die Befähigung von Künstlern und Philosophen sieht Schopenhauer begründet „in der Besonnenheit, die zunächst aus der Deutlichkeit entspringt, mit 37 38 39

PP II S. 491. PP II S. 491. PP II S. 491.

§ 6. Selbstbewußtsein und Selbstverleugnung im Konflikt

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welcher sie der Welt und ihrer selbst innewerden und dadurch zur Besinnung darüber kommen". 40 Zwar ist von Bewußtsein hier nicht explizit die Rede. Doch was sonst soll besagtes Innewerden, das auf Welt und Selbst gleichermaßen konzentriert zu sein scheint, bedeuten, wenn nicht Bewußtsein, und zwar in der spezifischen und potenzierten Weise einer Besonnenheit? Die besondere Deutlichkeit von Welt- und Selbstbewußtsein zugleich hat hier also als Charakteristikum genialer Betrachtungsart zu gelten. Trotz aller bisherigen Irritationen steht die größte Überraschung im Rahmen der Selbstbewußtseinspostulate, die, wie gesagt, angesichts der Elimination von Selbst und Selbstbewußtsein qua Willenlosigkeit frappieren müssen, bislang noch aus. In der folgenden These spitzt sich die im vorangegangenen entfaltete Problematik auf eine geradezu einmalige Weise zu: In seinen „Parerga und Paralipomena" definiert Schopenhauer das Genie „als ein ausgezeichnet klares Bewußtsein von den Dingen und dadurch [!] auch von ihrem Gegensatz, dem eigenen Selbst"! 41 In einem auffälligen Widerspruch scheint sich diese Aussage zu jenem inversen Verhältnis zwischen Selbstbewußtsein und Objektbewußtsein zu befinden, bei dem der Anteil des Selbstbewußtseins genau in dem Maße abnimmt, in dem das Bewußtsein anderer Dinge sich potenziert. Uberraschenderweise beschränkt sich Schopenhauer in diesem Zitat nicht darauf, lediglich die von ihm selbst doch postulierte Inversion im Verhältnis beider Bewußtseinsseiten zueinander aufzuheben. Darüber hinaus sieht er — und darin besteht das eigentlich Erstaunliche — die hier neu eingeführte proportionale Beziehung zwischen Objekt- und Selbstbewußtsein sogar durch einen Kausalzusammenhang bestimmt. Wider Erwarten hat die besondere Klarheit des Objektbewußtseins gerade keine eingeschränkte Präsenz des Selbstbewußtseins zur Folge. Erst recht nicht reduziert sich das Selbstbewußtsein infolge des ,ausgezeichnet' klaren Objektbewußtseins erwartungsgemäß etwa in dem Maße, daß es bereits gegen die Nullität konvergieren würde. Stattdessen spricht Schopenhauer hier der Klarheit des Objektbewußtseins als der Ursache genau die gegenteilige Wirkung zu: eine analoge Steigerung auch des Selbstbewußtseins. Nur eine Ubereinstimmung mit der vertrauten Inversionsthese bleibt in der zuletzt zitierten Aussage noch erhalten: der pointierte Gegensatz 42 zwi40 41 42

W W V II S. 493. PP II S. 93. Vgl. PP II S. 93 und im Vergleich dazu W W V II S. 474, w o Schopenhauer das Verhältnis der beiden Bewußtseinsseiten zueinander explizit als einen „Antagonismus" bezeichnet. Der „Wille als das Prinzip der Subjektivität", den Schopenhauer auch mit dem „Bewußtsein des eigenen Selbst" identifiziert, ist seines Erachtens „der Gegensatz, ja Antagonist der Erkenntnis" ( W W V II S. 475).

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Α. Grundzüge und Hauptprobleme in Schopenhauers Ästhetik

sehen Objektbewußtsein und Selbstbewußtsein. Zur Erklärung der erstaunlichen, sogar kausal bestimmten Proportionalität der beiden Bewußtseinskomponenten trägt diese Analogie jedoch nichts bei. Ganz im Gegenteil: Schopenhauers unerwarteter Perspektivwechsel von der Inversion zur kausal bedingten Proportionalität im Verhältnis der beiden Bewußtseinsseiten zueinander muß gerade im Hinblick auf diesen Kontrast zwischen den beiden Bewußtseinskomponenten nur um so unverständlicher erscheinen. Die proportionale Steigerung beider Bewußtseinsseiten mitsamt dem ihr zugrunde liegenden Kausalkonnex verbleibt in einer ebenso offensichtlichen wie enigmatischen Opposition zu dem inversen Verhältnis, das Schopenhauer für die Bewußtseinskomponenten bislang ausschließlich zu behaupten schien. Genau so lange wird die Opazität der beschriebenen Konstellation infolge der heterogenen Ansätze Schopenhauers Bestand haben, wie die erforderliche Aufklärung der komplexen Relation zwischen Welt- und Selbstbewußtsein noch aussteht. Aufschluß über den Status des Selbstbewußtseins in ästhetischer Einstellung läßt sich nur durch angemessene Mitberücksichtigung zentraler Aspekte von Schopenhauers Willenstheorie erzielen.

Β. Schopenhauers Ästhetik der Willenlosigkeit im Verhältnis zu seiner Philosophie des Willens

§ 7. Die Positivität der Willenstheorie als Fundament ästhetischer Negativität I. Weil Schopenhauer ästhetische Einstellung primär durch Negation dessen bestimmt, was er als Charakteristikum der üblichen Relation zwischen Willen und Intellekt betrachtet, setzt eine Analyse von Schopenhauers Ästhetik die Mitberücksichtigung dieses Zusammenhangs voraus. Die Positivität der Willenstheorie wirkt via negationis in die Ästhetik hinein. Denn das Spezifische ästhetischer ,Willensfreiheit' als einer Freiheit des Intellekts vom Willen verweist qua Abgrenzung von der Willenssphäre auf sie als ihr Fundament zurück. Diese Konstellation deutete sich zwar mehrfach schon im Verlauf von Kapitel A. dieser Arbeit an; allerdings bedürfen die dort nur knapp behandelten Aspekte im folgenden ausführlicherer Untersuchung. Willenstheoretische Argumentationsstränge von § 1, § 4, § 5, § 6 sollen hier wiederaufgenommen und in der Weise fortgeführt werden, daß die willenstheoretische Basis der Ästhetik deutlicher als bisher Gestalt gewinnt und für die spätere Fokussierung der beiden Kapitel A. und B. in § 12 zur Disposition steht. Indirekt trägt § 7 dabei bereits zur Klärung der Problematik bei, die sich am Ende von § 6 hinsichtlich der Relation von Gegenstands- und Selbstbewußtsein ergab. Im Unterschied zum sonstigen Duktus dieser Arbeit werden die ausführlichen deskriptiv gehaltenen Partien von § 7 (wie bereits Teile von § 1) umwillen besonderer Authentizität weitgehend in einer Zusammenstellung prägnanter Schopenhauer-Zitate bestehen. Bereits in § 4 wurde gezeigt, daß Schopenhauer den Willen keineswegs als Spezifikum des Menschen betrachtet, sondern ihn als das Wesen „jeder irgend strebenden und wirkenden Kraft in der Natur"1 in Anspruch nimmt. Als „das Sein an sich jedes Dinges in der Welt"2 erscheint der Wille mithin 1

2

W W V I S. 171. Vgl. auch S. 164, 172, 181, 197, 314, 425. Zahlreiche Stellenverweise, die Aufschluß über Schopenhauers Willensbegriff geben, finden sich in § 4 dieser Arbeit. W W V I S. 181. Vgl. auch S. 67, 246, 368, 507, 516, 557; W W V II S. 380. Weiteres Stellenmaterial bietet § 4.

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

nicht allein „im überlegten Handeln des Menschen", sondern außerdem „in jeder blindwirkenden Naturkraft" 3 , also auch da, „wo keine Erkenntnis ihn leitet". 4 Zwar manifestiert sich der Wille, der „zu immer höherer Objektivation" strebt5, bereits „in den niedrigsten unorganischen Erscheinungen" 6 und in den „untersten Naturkräften" 7 , erst im Menschen aber erreicht er „den stärksten Grad der Sichtbarkeit, Objektität" 8 , also „die vollkommenste, d. h. die deutlichste, am meisten entfaltete, vom Erkennen unmittelbar beleuchtete" Gestalt.9 Indem Schopenhauer unter Rekurs auf das „im Streben aller Dinge mit unserm Wollen Identische" 10 die vielfältigen Naturerscheinungen als „verschiedene Spezies desselben Genus" 11 interpretiert, vollzieht er eine dezidierte Abkehr von traditionellen philosophischen Entwürfen, deren Problematik seines Erachtens in der Annahme heterogener Phänomene ohne einheitliches Grundprinzip besteht. Diesem vermeintlichen Mangel glaubt Schopenhauer dadurch kritisch begegnen zu können, daß er den Willensbegriff im Zuge einer „denominatio a potiori" 12 weit über den menschlichen Bereich hinaus expandieren läßt. Dabei verabschiedet Schopenhauer die traditionelle Subsumtion von Willen unter Kraft zugunsten ihrer Umkehrung. 13 Den Vorzug seiner neuen Betrachtungsweise erblickt er in folgendem: Während der Kraftbegriff der kausalitätsbestimmten ErscheinungsSphäre zuW W V I S. 170. Vgl. auch S. 205, 557 und W W V II S. 176, 420. Das Naturale dieses Willensbegriffs hebt auch Weimer hervor: „Mein Wollen ist Natur und steht nicht beherrschend über ihr". (Weimer, Wolfgang: Schopenhauer. Darmstadt 1982 (Erträge der Forschung Bd. 171) S. 88.) 4 W W V I S. 175. Vgl. auch S. 176, 171. An sich ist der Wille „erkenntnislos und nur ein blinder, unaufhaltsamer Drang" (WWV I S. 380, analog S. 222). Vgl. auch W W V II S. 259, 371, 594. Reiz-Reaktions-Verhältnisse im menschlichen und tierischen Organismus und das Instinkt-Verhalten der Tiere begreift Schopenhauer also ebenso als Manifestationen des Willens wie Kausalmechanismen in der anorganischen Natur; vgl. dazu: W W V I S. 175, 177, 179. Überall in der Natur also vollziehen sich .Willensakte' (WWV I S. 230); „ein Wille" erscheint in allen Teilen der Natur (WWV I S. 235). Vgl. ergänzend zu Willen und Handlung bei Tieren: W W V I S. 74, 175, 224, 310, 315, 413, Wille im Zusammenhang mit Anorganischem und Vegetabilischem: W W V I S. 170, 360 („keine Materie" kann „ganz willenlos sein"), außerdem S. 165, 304, 424 u.v.m. 5 W W V I S. 215. 6 W W V II S. 384. 7 W W V II S. 419. 8 W W V I S. 191. 9 W W V I S. 171. 1 0 W W V I S. 191. Von unteilbarer Einheit spricht Schopenhauer unter Rekurs auf das Streben des Willens in W W V II S. 417. π W W V I S. 171. 12 w w v I S. 171. 1 3 Vgl. W W V I S. 172. 3

§ 7. Die Willenstheorie als Fundament ästhetischer Negativität

109

geordnet und aus dem Bereich anschaulicher Vorstellungen lediglich abstrahiert ist 14 , hat der Willensbegriff seinen Ursprung gerade „nicht in der Erscheinung", sondern kommt „aus dem Innern", geht „aus dem unmittelbarsten Bewußtsein eines jeden" hervor, „in welchem dieser sein eigenes Individuum seinem Wesen nach unmittelbar ohne alle Form [...] erkennt und zugleich selbst ist f...]". 15 Etwas enigmatisch wirkt zunächst Schopenhauers Behauptung, „das Wort Wille" schließe „uns wie ein Zauberwort das innerste Wesen jedes Dinges in der Natur" auf 16 , indem es die Möglichkeit eröffne, „ein Unbekannteres auf ein unendlich Bekannteres", ja geradezu auf das einzige uns vollends Bekannte zurückzuführen und dadurch einen gewichtigen Erkenntnisgewinn zu erzielen. 17 Die Implikationen dieser zentralen These erschließen sich erst unter Bezugnahme auf Schopenhauers Leibkonzeption, die daher im folgenden knapp skizziert sei. Nach Schopenhauers Auffassung ist der Leib dem erkennenden Subjekt auf zwei völlig unterschiedliche Weisen gegeben: erstens als „Vorstellung wie jede andere, ein Objekt unter Objekten" 18 , zweitens — im Unterschied zu allen anderen Objekten — als Wille, mithin als das jedem unmittelbar Bekannte. Für die (hier entscheidende) zweite Gegebenheitsweise des Leibs argumentiert Schopenhauer mit dem Hinweis auf die nicht kausal zu denkende Identität von Willensaffekt und Leibesaffiziertheit. 19 Den Leib exponiert er einerseits als den objektivierten, zur Vorstellung gewordenen Willen, als „die Objektität des Willens"20, andererseits als Bedingung für die Erkenntnis des Willens 21 und spricht ihm dadurch gewissermaßen eine Mittlerfunktion zwischen Willen und Intellekt zu. 22 Die „doppelte, auf zwei völlig heterogene Weisen gegebene Erkenntnis" 23 , die jedes erkennende Subjekt allein „vom eigenen Leibe" hat 24 , glaubt Vgl. W W V I S. 172. is w w v ι s. 1 7 2 - 1 7 3 . 16 W W V I S. 172. 1 7 Vgl. W W V I S. 173. is W W V I S. 157. 1 9 Vgl. W W V I S. 1 5 7 - 1 5 9 . 20 W W V I S. 158. Vgl. auch S. 245. 21 Vgl. W W V I S. 160. 2 2 Vgl. W W V II S. 639: „Der Intellekt ist Funktion des zerebralen Nervensystems: aber dieses wie der übrige Leib ist die Objektität des Willens. Daher beruht der Intellekt auf dem somatischen Leben des Organismus: dieser selbst aber beruht auf dem Willen. Der organische Leib kann also in gewissem Sinne angesehn werden als Mittelglied zwischen dem Willen und dem Intellekt [...]". 23 W W V I S. 1 6 3 - 1 6 4 . 24 W W V I S. 161. 14

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Schopenhauer als Schlüssel zum Kern jeder Naturerscheinung gebrauchen zu können und gelangt so per analogiam zu der These, alle Objekte seien wie der Leib einerseits Vorstellung, andererseits ihrem inneren Wesen nach Wille 25 : Diese Duplizität nimmt er nicht nur für Menschen und Tiere in Anspruch, sondern auch für Pflanzen und anorganische Naturphänomene, etwa für Kristallisation, Magnetismus und Schwerkraft. 26 Diese Konzeption läßt Schopenhauers These von der „Welt als Makranthropos" systemimmanent nachvollziehbar erscheinen, die er der traditionellen Auffassung des „Menschen als Mikrokosmos" gegenüberstellt. 27 In Willen und Vorstellung erschöpft sich nach Schopenhauer das Wesen sowohl des Menschen als auch der Welt. Allerdings sind die beiden Modi philosophischen Weltzugangs nicht gleichrangig: Die „einzige enge Pforte zur Wahrheit" 28 durchschreitet nur, wer „die Welt aus dem Menschen" versteht statt „den Menschen aus der Welt". 29 Seine eigenen Termini ,Wille' und .Vorstellung' betrachtet Schopenhauer als analog zu den Kantischen Begriffen ,Ding an sich' und .Erscheinung'. 30 In dieser Doppelansicht betrifft die Verschiedenheit nach Schopenhauer jeweils nur den Erscheinungscharakter der Dinge, ihren Status als Vorstellungen, während der Wille „das Allerrealste" 31 , „das Innerste, der Kern jedes Einzelnen und ebenso des Ganzen" ist. 32 In diesem Sinne denkt Schopenhauer die Welt einerseits als Vorstellung, andererseits als Willen. 33

Vgl. WWV I S. 164. Analog S. 170 und WWV II S. 253. Vgl. auch WWV II S. 412: Den Willen betrachtet Schopenhauer einerseits als geheimnisvoll, andererseits jedoch als dasjenige, „was uns wenigstens von einer Seite unendlich bekannter und vertrauter ist als alles übrige". In diesem Sinne glaubt Schopenhauer „Kants Lehre von der Unerkennbarkeit des Dinges an sich" modifizieren zu können (vgl. WWV II S. 255 — 256). 26 Vgl. WWV I S. 170. 27 WWV II S. 824. Vgl. dazu die Ausführungen in § 4. 28 WWV II S. 254. Vgl. auch Anm. 136 dieses § 7. 29 WWV II S. 824-825. Vgl. auch WWV I S. 190. Analog: WWV II S. 254: „Demzufolge müssen wir die Natur verstehn lernen aus uns selbst, nicht umgekehrt uns selbst aus der Natur". Nach WWV II S. 252 — 253 steht „uns ein Weg von innen" zum „selbst-eigenen und inneren Wesen der Dinge" (S. 253) offen, der von „der Außenseite der Dinge" her nicht erreichbar ist (S. 252). 3 0 Vgl. ζ. B. WWV I S. 170. 31 WWV II S. 454. 32 WWV I S. 170. 33 Vgl. WWV I S. 33. Analog WWV I S. 164: „Außer dem Willen und der Vorstellung ist uns gar nichts bekannt noch denkbar". Diese zentrale These prägt bezeichnenderweise auch den Titel von Schopenhauers Hauptwerk. 25

§ 7. Die WUlenstheorie als Fundament ästhetischer Negativität

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II. In welchem Verhältnis befindet sich nun abet Schopenhauers an philosophische Traditionen des Orients und Okzidents anknüpfende These vom Willen als εν και παν 3 4 zu seiner Behauptung einer Dualität von Willen und Vorstellung und zu seinem Philosophem, „der Wille als das Prinzip der Subjektivität" sei „der Gegensatz, ja Antagonist der Erkenntnis"? 35 — Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Rekurs auf die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen und ihr Verhältnis zueinander erforderlich. Auf allen Stufen der Objektivation des Willens ist „Streben sein alleiniges Wesen" 36 , ein „rastloses, nimmer befriedigtes [...] unaufhörliches Treiben" 37 , das aus Mangel entspringt. 38 Dieses Streben bekommt die Unerbittlichkeit eines Kampfes „um Leben und Tod", weil „überall die mannigfaltigen Naturkräfte und organischen Formen einander die Materie streitig machen, an der sie hervortreten wollen, indem jedes nur besitzt, was es dem andern entrissen hat". 39 Dabei kann „die höhere Idee oder Willensobjektivation nur durch Überwältigung der niedrigeren hervortreten". 40 In dem überall in der Natur vorfindlichen Streit mit wechselnden Siegen und Niederlagen manifestiert sich nach Schopenhauer die Entzweiung des Willens mit sich selbst, die in der Sphäre des Menschen ihre radikalste Ausprägung erreicht 41 und dessen Existenz zu einem durch „vielgestaltetes Leiden" bestimmten unseligen Zustand macht. 42 In entsprechend extremer Weise realisiert sich im Menschen das rastlose Streben, das zwar schon das Wesen der erkenntnislosen Naturerscheinungen ausmacht, sich allerdings im Menschen zu solcher Intensität steigert, daß Schopenhauer es geradezu mit „einem unlöschbaren Durst" vergleicht. 43

Vgl. W W V II S. 411. W W V II S. 475. 36 W W V I S. 423. Vgl. auch S. 220, 221, 425, außerdem S. 240: Der Wille ist „ein endloses Streben", S. 427: „ein beständiges Streben ohne Ziel und ohne Rast". 37 W W V I S. 424. 3 8 Vgl. W W V I S. 425. 3 W W V I S. 216. Schopenhauer gibt dazu zahlreiche Beispiele: vgl. S. 215, 217, 219. 41 Vgl. W W V I S. 218. Vgl. die drastische Anschaulichkeit einer Aussage auf S. 227, derzufolge „der Wille an sich selber zehren muß, weil außer ihm nichts daist und er ein hungriger Wille ist. Daher die Jagd, die Angst und das Leiden". Die „Selbstentzweiung des Willens" (S. 218, auch S. 424) vollzieht sich in diesem Sinne mithin als Selbstzerfleischung. Vgl. dazu W W V I S. 353. Polarität erblickt Schopenhauer in fast allen Naturerscheinungen: vgl. W W V I S. 214. 42 W W V I S. 443. Vgl. auch S. 426, 436, 437, 444. 43 W W V I S. 427. Vgl. auch S. 432, 448, 494. 34

35

112

Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Tantalusqualen 44 aufgrund von letztlich unstillbaren Bedürfnissen bestimmen also die conditio humana. Seine Feststellung, der Mensch sei „das bedürftigste unter allen Wesen" 45 , begründet Schopenhauer mit dem Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Entwicklungsstufe und spezifischer Bedürfnislage eines Organismus: Gemäß der Aristotelischen „lex parsimoniae: ,natura nihil agit frustra et nihil facit supervacaneum'" setzt er voraus, daß Höherentwicklung des Gehirns und gesteigerte Leistungsfähigkeit des Intellekts durch Vergrößerung und Komplizierung der Bedürfnisse des betreffenden Lebewesens bedingt sind, weil deren besondere Mannigfaltigkeit und speziellere Ausrichtung distinktere Wahrnehmung der Außenwelt erfordern. Die Vervollkommnung des Zerebralsystems und die dadurch verursachte Steigerung des Erkenntnisvermögens korrespondieren demzufolge mit der Höherentwicklung animalischer Lebewesen bis zum Menschen. 46 Sofern sich in der Natur nach Schopenhauer stets der Wille objektiviert, steht auch die Steigerung der Erkenntniskräfte im Dienst des Willens, der „zu seinen Zwecken das Bewußtsein hervorgebracht" hat und dessen Vorstellungen zugunsten seiner Interessen instrumentalisiert. 47 Als „Wurzel, Ursprung und Beherrscher" 48 des Intellekts bestimmt er dessen Funktionen und stellt den letzten „Einheitspunkt des Bewußtseins" dar. 49 Zuvor war die Welt nur Wille, nun ist sie auch Vorstellung, also Objekt für ein erkennendes Subjekt: „Der Wille, der bis hieher im Dunkeln höchst sicher und unfehlbar seinen Trieb verfolgte, hat sich auf dieser Stufe ein Licht angezündet, als ein Mittel, welches notwendig wurde zur Aufhebung des Nachteils, der aus dem Gedränge und der komplizierten Beschaffenheit seiner Erscheinungen eben den vollendetesten erwachsen würde". 50 In dieser Formulierung kommt eine kompensatorische Funktion des Intellekts pointiert zum Ausdruck: Seine spezifischen Leistungen dienen zum Ausgleich der Risiken, die aus erhöhter Komplexität erwachsen; als notwendiges „Hülfsmittel, μηχανή"

44

Signifikanterweise ist „das Subjekt des Wollens" laut W W V I S. 2 8 0 „der ewig schmachtende Tantalus". Zur Bedürftigkeit als conditio humana vgl. ausführlicher § 8 dieser Arbeit.

45 WWV j s 428.

Vgl. W W V II S. 361—362. Vgl. ergänzend zu diesem phylogenetischen Aspekt auch ein Beispiel für die ontogenetische Wirksamkeit der „lex parsimoniae": W W V II S. 365 und dazu den Schlußteil von § 7. 47 W W V II S. 180. Vgl. auch S. 362. 48 W W V II S. 180. 49 W W V II S. 180. 4r>

50

W W V I S. 223. Vgl. auch S. 254, .Licht' und .Laterne' auch in: W W V II S. 259, 639.

§ 7. Die Willenstheorie als Fundament ästhetischer Negativität

113

dient er zur „Erhaltung des Individuums und Fortpflanzung des Geschlechts". 51 Die anschauliche und vernünftige Erkenntnis geht nach Schopenhauers Auffassung „also ursprünglich aus dem Willen selbst hervor" und bleibt ihm „fast durchgängig gänzlich dienstbar" 52 , ja „das Erkennen überhaupt" gehört „selbst zur Objektivation des Willens auf ihren höheren Stufen", so daß Gehirn und Nerven ebenso wie andere Organe des Leibes „Ausdruck des Willens in diesem Grade seiner Objektität sind". 5 3 Die Einheit von genetischer und funktionaler Willensabhängigkeit des Intellekts, die sich bereits im vorangegangenen abzeichnete, bringt Schopenhauer in einer Fülle von Textstellen prägnant zum Ausdruck. Einige von ihnen seien im folgenden zusammengestellt: „Der Wille ist das Erste und Ursprüngliche, die Erkenntnis bloß hinzugekommen, zur Erscheinung des Willens als ein Werkzeug derselben gehörig" 5 4 ; als „das Reale und Essentiale" 5 5 , „als das Primäre und Fundamentale" behauptet der Wille stets seinen Vorrang „vor dem Intellekt", der sich „durchweg als das Sekundäre, Untergeordnete und Bedingte erweist". 56 Zum Willen, der „allein das Innere und Eigene", „das eigentliche Wesen des Menschen ist", verhält sich der Intellekt „als ein Äußeres, ein bloßes Werkzeug", als „eine Ausstattung". 57 Zu metaphorischer Beschreibung der Dualität von Willen und Intellekt verwendet Schopenhauer mehrfach das ontologische Gegensatzpaar Substanz — Akzidenz: Zum Willen als Substanz tritt der Intellekt als Akzidenz hinzu. 58 In metaphorischer Diktion

si WWV I S. 223. Analog S. 225. Vgl. auch S. 254: D i e Vorstellung ist zum Dienste des Willens bestimmt „als ein Mittel (μηχανή) zur Erreichung seiner jetzt komplizierteren [...] Zwecke, zur Erhaltung eines vielfache Bedürfnisse habenden Wesens. Ursprünglich also und ihrem Wesen nach ist die Erkenntnis dem Willen durchaus dienstbar". 52 WWV I S. 225. Vgl. auch S. 256, WWV II S. 476, P P II S. 117, 495. 53 WWV I S. 254. Analog S. 225. Schopenhauers These, der Leib vermittle zwischen Willen und Intellekt (vgl. das Zitat aus WWV II S. 639 in Anm. 22 dieses § 7), gewinnt hier eine konkretere Bestimmung. Erkennbar ist hier auch der Zusammenhang zwischen Schopenhauers Behauptung, der Leib sei Werk des Willens (vgl. WWV II S. 633), und seiner These, der Intellekt sei Werk des Willens (WWV II S. 335). In Abweichung von seinen sonstigen Aussagen über den sekundären Status des Intellekts behauptet Schopenhauer daher unter Mitberücksichtigung des Faktors Organismus: das erkennende Ich ist „im G r u n d e tertiär, indem es den Organismus voraussetzt, dieser aber den Willen" (WWV II S. 360). D e r Intellekt ist „bloße Gehirnfunktion" (WWV II S. 340, auch S. 302, 317, 318, 350, 633). 54 WWV 55 WWV sr. WWV 57 WWV 58

I S. 403. Analog WWV II S. 261, 264, 514. II S. 277. II S. 2 5 6 - 2 5 7 . Analog S. 277, 340. II S. 298.

Vgl. WWV II S. 258, 259, 264, 318, 335, 660, 824; PP II S. 58, 116.

114

Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

bringt Schopenhauer hier sowohl die grundsätzliche Verschiedenheit beider 59 als auch ihren Funktionszusammenhang zum Ausdruck. Während die einfache Natur des Willens laut Schopenhauer nur im Wollen, nicht aber im Erkennen besteht, ist der Intellekt „allein erkennend, ohne irgend zu wollen" und steht als solcher den Dingen uninteressiert, ja gleichgültig gegenüber. 60 Wie die vorangegangenen Darlegungen bereits zeigten, darf man dieses reziproke Verhältnis bei Schopenhauer jedoch keinesfalls im Sinne systematisch-ontologischer Gleichrangigkeit der beiden Faktoren verstehen. Denn sie befinden sich zueinander in der Disproportionalität von Bedingendem und Bedingtem. 61 Diese Relation erhellt daraus, daß der Intellekt nach Schopenhauer dem Willen als seiner Wurzel entsprossen ist. 62 Und diese bereits für die Entstehung des Intellekts konstitutive Abhängigkeit vom Willen bringt Schopenhauer besonders pointiert zum Ausdruck, wenn er von dem ursprünglich erkenntnislosen Willen spricht, der „sich zum Intellekt, zumal zum menschlichen, vernünftigen Intellekt steigerte". 63 Im Hinblick auf den Status des Intellekts, der letztlich nichts anderes darstellt als die höchste Objektivation des Willens, ist die Reflexivität solcher Selbstpotenzierung des Willens bezeichnend; dabei realisiert sich der Wille „als ein Erhennenwollen", „als Wille zur Wahrnehmung der Außenwelt" 64 und verschafft sich dadurch die conditio sine qua non für seine Selbsterkenntnis.65 Durch erhöhte Klarheit des Bewußtseins wird sodann „auch die Deutlichkeit, mit welcher der Wille sich seiner selbst bewußt wird, aufs höchste gesteigert". 66 Vgl. W W V II S. 633: „gänzlich verschieden"; W W V II S. 278: der Intellekt ist „etwas vom Willen völlig Verschiedenes". Dafür argumentiert Schopenhauer ζ. B., indem er den Willen als metaphysisch und unermüdlich, den Intellekt als physisch und ermüdbar (WWV II S. 275 — 277, 317, 350) bezeichnet, den Willen als vollkommen, ohne Grade seines Wesens, den Intellekt als unvollkommen und stufenweise sich steigernd (WWV II S. 182 — 183, 266), den Willen als unveränderlich, unzerstörbar, unbezwingbar, ewig, den Intellekt als veränderlich, vergängüch (WWV II S. 2 8 9 - 2 9 0 , 3 0 3 - 3 0 4 , 306, 3 0 9 - 3 1 0 , 633, 638, 642). 6 0 Vgl. W W V II S. 6 3 8 - 6 3 9 . Analog S. 268, wonach „der Wille an sich erkenntnislos, der ihm zugesellte Verstand aber willenlos ist". 61 W W V II S. 634. Vgl. auch S. 277. 6 2 Vgl. W W V I S. 256; W W V II S. 180, 261, 476, 482, 491, 493, 652; PP II S. 117, 494. 6 3 W W V II S. 731. Auf S. 494 spricht Schopenhauer sogar explizit von Wahrnehmungen des vom Intellekt beleuchteten Willens. Diese Formulierung ist nur auf der Basis der Universalität des Willens nachvollziehbar, der auch den heteronomen Intellekt als sein Produkt mit einschließt. 59

64 W W V II S. 3 3 4 , a u c h S. 3 3 5 .

65 W W V II S. 335. Vgl. auch S. 359: „Die sekundäre Welt der Vorstellung muß hinzutreten, damit er sich seiner bewußt werde". Vgl. auch W W V I S. 380: Der an sich erkenntnislose Wille „erhält durch die hinzugetretene, zu seinem Dienst entwickelte Welt der Vorstellung die Erkenntnis von seinem Wollen". 66 W W V II S. 3 6 2 - 3 6 3 .

§ 7. Die Willenstheorie als Fundament ästhetischer Negativität

115

Der im beschriebenen Sinne sekundäre Status des Intellekts, der sich schon bei seiner Entstehung zeigt, impliziert, daß er auch nur „bedingterweise wirken kann". 6 7 Dem Willen als Herrn stellt Schopenhauer den Intellekt als Diener gegenüber 68 und äußert sich über letzteren sogar folgendermaßen: Er ist „ein bloßer Sklave und Leibeigener des Willens, nicht aber wie dieser αυτόματος noch aus eigener Kraft und eigenem Drange tätig". 6 9 Vielmehr beginnt der Intellekt mit seiner Erkenntnisaktivität erst dann, „wenn er getrieben wird [...] vom Willen, der ihn beherrscht, lenkt, zur Anstrengung aufmuntert, kurz: ihm die Tätigkeit verleiht, die ihm ursprünglich nicht einwohnt". 70 Und demgemäß behauptet Schopenhauer anderenorts: An den Willen als seine Wurzel gebunden, ist der Intellekt „aus eigenen Mitteln gar keiner Tätigkeit fähig, sondern schläft in Dumpfheit, sooft der Wille (das Interesse) ihn nicht weckt und in Bewegung setzt". 7 1

III. Eine derart ausgeprägte Lethargie des Intellekts, dessen Bewegung von vorausgehenden Willensimpulsen abhängt, gibt Anlaß zu folgender Frage: Kann unter der Prämisse so grundlegender Heteronomie des Intellekts dessen Fähigkeit zur Befreiung vom Willensdienst überhaupt plausibel erscheinen? — Angesichts des Bisherigen liegt der Eindruck nahe, diese Frage sei grundsätzlich negativ zu beantworten. Zu tiefreichend erscheint die ontologische Differenz zwischen Willen und Intellekt, zu gravierend wirken die durch sie bedingten funktionalen Unterschiede, als daß in Schopenhauers Konzeption tatsächlich Aussicht auf eine fundierte Autonomie des ästhetischen Intellekts bestünde, der sich „dieser Dienstbarkeit entziehn, ihr Joch abwerfen und frei von allen Zwecken des Wollens rein für sich bestehn" 7 2 könnte. Und gerät Schopenhauer nicht sogar in einen auffälligen Widerspruch, wenn er beispielsweise über die Ideenerkenntnis behauptet: „hier taugt nur das, was der Intellekt ganz allein, ganz aus eigenen Mitteln leistet und als freiwillige Gabe darbringt"? 73 Denn aufgrund seiner Willensdependenz ist der WWV II S. 283. 68 V W V II S. 269. 69 WWV II S. 274. Vom „Sklavendienste des Willens" ist in WWV I S. 280 die Rede. Vgl. auch PP II S. 84: der Intellekt als Fronknecht. 70 WWV II S. 275. 71 WWV II S. 491. 72 WWV I S. 225. 67

73

PP II S. 493 - 494.

116

Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Intellekt doch gemäß einer bereits zitierten Textstelle „aus eigenen Mitteln gar keiner Tätigkeit fähig [. ..]". 74 Ein weiteres Problem ergibt sich hier in Gestalt intellektualer ,Freiwilligkeit', die über Schopenhauers Postulat ästhetischer ,Willensfreiheit' weit hinausgeht. Denn die Inversion innerhalb dieses Kompositums hat gewichtige semantische Folgen: Im Unterschied zu Schopenhauers Postulat einer ästhetischen ,Willensfreiheit', dessen Bedeutung wesentlich in der Negativität eines Befreitseins vom Willen 75 besteht, bezeichnet der Begriff Freiwilligkeit' in positivem Sinne die Freiheit des Willens selbst. Daß sie mit Schopenhauers Charakterisierung des ästhetischen Intellekts als eines vom Willen befreiten eigentlich nichts zu tun haben kann, liegt auf der Hand. Demzufolge scheint es sich bei der Formulierung, in der von .freiwilliger' Tätigkeit des Intellekts die Rede ist, um eine inadäquate, in aufschlußreicher Weise 76 ,verunglückte' Metapher zu handeln. Zwar betont Schopenhauer, bei der Befreiung des Intellekts vom Willensdienst handele es sich „nicht um eine dauernde Freilassung", sondern um „eine ausnahmsweise, ja eigentlich nur momentane Losmachung" 77 von der ursprünglichen Instrumentalität und Heteronomie. Das von ihm wiederholt hervorgehobene Ephemere einer autonomen Tätigkeit des willensbefreiten ästhetischen Intellekts ändert aber nichts an der prekären Ausgangslage. Und die Problematik spitzt sich noch zu, wenn Schopenhauer mehrfach die These riskiert, der ästhetische Intellekt könne sogar „von seinem Ursprung, dem Willen, völlig abgetrennt" 78 sein; schwebe „alsdann frei, keinem Willen mehr angehörig" 79 ; aufgrund „immer weitern Auseinandertntens des Willens und des Intellekts'''', das „im Genie seinen höchsten Grad" erreiche, komme es zur „völligen Ablösung des Intellekts von seiner Wurzel, dem Willen" 80 , so daß der

74 w w v II S. 491. Vgl. dazu § 1 dieser Arbeit. Bei der geplanten Fokussierung der Argumentation in § 12 dieser Arbeit werden sich A n haltspunkte ergeben, die eine solche auf den ersten Blick enigmatisch wirkende .Freiwilligkeit' des ästhetischen Intellekts in ein neues Licht rücken. Das Epitheton .freiwillig' wird sich dabei durch einen spezifischen Gehalt von Schopenhauers Aussagen unterscheiden, die sich auf dessen ästhetische Tätigkeit aus eigener Kraft, aus eigenem Antrieb, nach eigenen Gesetzen (vgl. dazu § 5) beziehen. 7 7 W W V II S. 469. Das Epitheton .momentan' findet sich auch auf S. 480. 78 W W V II S. 490. Vgl. auch S. 265. 79 w w V II S. 470. 8 0 W W V II S. 493. Schopenhauer kontrastiert diese Ablösung des Intellekts vom Willen mit deren dauerhafter Verbindung beim Pfuscher (vgl. S. 495).

75

76

§ 7. Die Willenstheorie als Fundament ästhetischer Negativität

117

Intellekt „gänzlich frei" 81 werde und „die Welt als Vorstellung zur vollkommenen Objektivation" gelange. 82 Diese Separierung und willensunabhängige Tätigkeit des Intellekts kann auf der Folie seiner ontologisch-funktionalen Willensdependenz um so weniger überzeugen, als Schopenhauer den Intellekt als „bloß empfangendes Prinzip" betrachtet 83 und die Auffassung vertritt, daß der Wille einen derartigen Befreiungsakt nicht nur nicht begünstigt, sondern sich „jeder auf irgend etwas anderes als seine Zwecke gerichteten Tätigkeit desselben" sogar „widersetzt". 84 Als „Wurzel, Ursprung und Beherrscher" 85 behauptet der Wille stets seinen Vorrang gegenüber dem Intellekt, dessen „sekundäre, abhängige, bedingte Natur" 86 Schopenhauer nicht nur mit dem Status eines Sklaven vergleicht 87 , sondern überdies metaphorisch mit dem Verhältnis eines bloßen Akzidenz zur Substanz identifiziert. 88 Im Zuge seines Willenlosigkeitspostulats negiert er für ästhetische Einstellung auch den akzidentellen Status des Intellekts, indem er expressis verbis behauptet, daß im ästhetischen Zustand „gleichsam das Akzidenz (der Intellekt) die Substanz (den Willen) bemeistert und aufhebt". 89 Die problematischen Implikationen einer zentralen Prämisse von Schopenhauers Ästhetik kommen hier besonders deutlich zum Ausdruck. Und auch die Textstellen, in denen Schopenhauer für den ästhetischen Intellekt eine energische Tätigkeit „aus eigener Kraft und Elastizität" 90 postuliert, tragen nur scheinbar zur Fundierung einer ästhetischen Autonomie des Intellekts bei. Vergegenwärtigt man sich nämlich (unter Bezugnahme auf den Anfang von § 7) jenen innovativen (wenngleich nicht unproblematischen) Ansatz bei Schopenhauer, der eine entschiedene Abkehr von der traditionellen Subsumtion des Willensbegriffs unter den Begriff der Kraft sowie — postulativ — die Umkehrung dieser Relation beinhaltet, so scheint jene vermeintlich ,eigene' Kraft des Intellekts nur vordergründig Geltung beanspruchen zu können, de facto jedoch — bei angemessener Berücksichtigung der essentiellen Tiefendimension — nichts anderes zu dokumentieren als eine der 81

82 83 84 85 86

MS S. WWV WWV WWV WWV WWV

94. Vgl. auch W W V II S. 493, 378. π S. 493. II S. 661. II S. 4 9 1 . II S. 180. II S. 3 1 1 .

Vgl. W W V I S. 280, W W V II S. 274. Vgl. dazu die Belege in Anm. 58. 89 W W V II S. 476. Zu den Implikationen dieser Metaphorik vgl. ausführlich § 10. % W W V II S. 500. Vgl. dazu auch W W V II S. 486, 490, 492, 495, 498; PP II S. 492. 87

88

118

Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

zahlreichen Objektivationen des Willens. Betrachtet Schopenhauer wiederholt jede Kraft in der Natur als voluntativ 91 , so muß dies eo ipso auch für den Intellekt gelten, der nach Schopenhauer doch aus dem Willen hervorgegangen, ja Manifestation seiner Selbststeigerung ist. 92 Wenn Schopenhauer im Sinne besagter „eigener Kraft" die „willensfreie Aktivität des Intellekts" zur „Bedingung der reinen Objektivität" 93 erklärt, dann erscheint zugleich auch eine skeptische Einschätzung der vermeintlich reinen Objektivität ästhetischer Erkenntnis angebracht, und dies um so mehr, als Schopenhauer sogar selbst die Auffassung vertritt, „ein absolut objektiver, mithin vollkommen reiner Intellekt" sei „unmöglich". 94 In der Relevanz des Kraftbegriffs selbst für Schopenhauers Ästhetik zeigt sich die Bedeutung voluntativer Positivität auch für die Negativität der angeblichen Willenlosigkeitsästhetik.95 Wenn Schopenhauer Kraft grundsätzlich unter Willen subsumiert, sie also per se zu etwas Voluntativem erklärt, dann hat er damit das angeblich ,Eigene' einer ästhetischen Kraft des Intellekts implizit bereits dementiert! Durch Schopenhauers Auffassung vom Intellekt als dem „bloßen Willens-Werkzeug" 96 scheint auch schon eindeutig die Frage beantwortet zu sein, ob der Wille oder der Intellekt als Hegemonikon zu gelten hat, also — gemäß dem von Schopenhauer verwendeten stoischen Terminus — als leitendes Vermögen. 97 Bezeichnet Schopenhauer den Intellekt explizit als „bloß Instrumentales" 98 , dessen Verhältnis zum Willen er sogar mit dem des Hammers zum Schmied vergleicht 99 , und konstatiert er außerdem, daß „der Intellekt so gut wie Klauen und Zähne nichts anderes als ein Werkzeug zum Dienste des Willens ist" 100 , so scheint die Antwort auf der Hand zu liegen: Vom vorhergehenden Willensantrieb abhängig, erweist sich der Intellekt als rein instrumentelles Vermögen, geht in Heteronomie vollends auf und steht gerade deshalb dem autonomen Willen 101 diametral gegenüber. Belege hierzu am Anfang dieses § 7 und in § 4. Vgl. W W V II S. 731. 9 3 PP I S. 218. 9 4 PP II S. 79. 9 5 Vgl. dazu den weiterführenden § 12. 9 6 W W V II S. 823. Aussagen dieser Art sind bei Schopenhauer Legion. Exemplarisch seien folgende Stellen genannt: W W V II S. 276, 291, 298, außerdem W W V I S. 403, W W V II S. 264, 277, 285, 297, 514. 9 7 Belege finden sich in W W V II S. 334, 269, 274. 9 8 W W V II S. 277. 9 9 Vgl. W W V II S. 291. too W W V n s 5 1 4 Zur Dienstbarkeit des Intellekts vgl. auch: W W V I S. 225, 2 5 4 - 2 5 6 , 258, 280, 282; W W V II S. 469, 470, 182, 486; PP II S. 84, 85, 88, 492, 495, 682. 1 0 1 Vgl. W W V I S. 394: Der Wille ist „an sich der schlechthin freie, sich ganz allein selbst bestimmende", und es gibt „kein Gesetz für ihn"; ferner S. 377: der Wille ist „nicht nur frei, 91

92

§ 7. Die Willenstheorie als Fundament ästhetischer Negativität

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IV. Bei näherem Zusehen jedoch zeigt sich, daß die Relation zwischen Willen und Intellekt bei Schopenhauer de facto weitaus komplexer ist. Im folgenden sollen einige wichtige Aspekte dieser vielschichtigen Beziehung beleuchtet werden. Als Einstieg mag die ambivalente, von Schopenhauer hier auf den Intellekt, dort auf den Willen bezogene Roß-Metapher dienen: Nach Schopenhauers Auffassung kann der Intellekt durch „dringende Not", durch sehnsüchtigen Wunsch erheblich gesteigert werden. 102 Dabei „spielt der Wille die Rolle des Reiters, der durch den Sporn das Pferd über das natürliche Maß seiner Kräfte hinaustreibt". 103 Mit den bisherigen Darlegungen ist dieses Bild ohne weiteres kompatibel, stellt es doch bloß eine Variante zu Schopenhauers Herr-Knecht-Metaphorik dar, die deren Gehalt lediglich modifiziert. Anders verhält es sich aber bei folgender Aussage: „was für ein unbändiges Roß Zügel und Gebiß ist, das ist für den Willen im Menschen der Intellekt". 104 Obwohl Schopenhauer „den Willen als das Ursprüngliche und daher Metaphysische, den Intellekt hingegen als ein Sekundäres und Physisches" 105 betrachtet, nimmt der Intellekt hier eine Art Führungsfunktion wahr, die der Leitungsaufgabe zu ähneln scheint, die bislang allein dem Willen zugeordnet war. Und — entgegen anfänglichem Anschein — vertritt Schopenhauer tatsächlich die Auffassung, daß „der Titel ήγεμονικόν" einerseits dem Willen, andererseits jedoch auch dem Intellekt gebührt: Denn der Wille als Wesen des Menschen behält zwar letztlich immer „das Regiment", allerdings fungiert der Intellekt als dessen Führer und Leiter. 106 Diese Korrelation bringt Schopenhauer mit Bezug auf eine Fabel Gellerts folgendermaßen zum Ausdruck: „In Wahrheit aber ist das treffendeste Gleichnis für das Verhältnis beider der starke Blinde, der den sehenden Gelähmten auf den Schultern trägt". 107 Hier ist die Relation zwischen Willen und Intellekt (verglichen mit dem Bisherigen) in entscheidender Hinsicht modifiziert: An die Stelle einseitiger Abhängigkeit des Intellekts vom Willen

102 103 104 tos κ» ιόν

sondern sogar allmächtig"; „außer ihm ist nichts", er ist „wahrhaft autonomisch". Vgl. auch S. 422, 413. W W V II S. 285. V7WV II S. 286. w w v II S. 275. VCWV II S. 275. W W V II S. 269. w w v II S. 269.

120

Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

scheint hier nahezu deren Interdependenz zu treten. Den Status eines bloßen Werkzeugs und Hilfsmittels 108 offenbar ansatzweise überschreitend, fungiert der Intellekt laut Schopenhauer als „Lenker und Berater des Willens" 109 , ist in animalischen Lebewesen „das Licht [...], bei dem er hier seine Zwecke verfolgt", sein „Führer und Wächter, ohne den er sich hülflos und blind weiß". 110 Als „die Laterne der Schritte des Willens, sein ήγεμονικόν" ist der Intellekt zugleich „der Träger der objektiven Außenwelt". 111 Einerseits befinden sich nach Schopenhauer Wille und Intellekt zueinander im Verhältnis von Bedingendem und Bedingtem 112 , andererseits jedoch steht der Wille als Erkanntes dem Intellekt als dem Erkennenden gegenüber 113 , verhält sich „wie ein Beleuchtetes zum Licht" 114 , ja mehr noch: seine Funktion als „Medium der Motive" 115 erfüllt der Intellekt sogar in der Weise, daß die in ihm präsenten „Bilder und Gedanken" den Willen, der ohne Motiv zur Tätigkeit nicht imstande ist, allererst „in Bewegung setzen". 116 Weit scheint Schopenhauer sich hier von seiner These entfernt zu haben, allein der Wille sei „αυτόματος" 117 , also „aus eigener Kraft und eigenem Drange tätig" 118 , während der Intellekt nur durch Willensimpulse aus seiner Lethargie gerissen und zur Aktivität veranlaßt werden kann. 119 Und vergegenwärtigt man sich nochmals Schopenhauers prägnante Metapher vom Willen als einem starken Blinden und dem Intellekt als einem sehenden Gelähmten, so erscheint die folgende These überraschend: Weil „der Wille an sich erkenntnislos, der ihm zugesellte Verstand aber willenlos ist", „verhält sich jener wie ein Körper, welcher bewegt wird, dieser wie die ihn in Bewegung setzenden Ursachen: denn er ist das Medium der Motive". 120 Nur im Hinblick auf die im ersten Teil des Zitats sich andeutende Vgl. ζ. B. WWV II S. 8 2 3 - 8 2 4 sowie WWV I S. 223. ms WWV π s 359 V g l a b e r auch S. 476: „der Wille der Lenker". no WWV II S. 639. Vgl. auch S. 499. Von „Herrschaft und Leitung des Intellekts" ist in WWV II S. 518 die Rede; vgl. auch ΗΝ IV, 1 S. 12. in WWV II S. 334. Vgl. PP II S. 681: „die Bestimmung des Intellekts ist, die Leuchte und der Lenker der Schritte des Willens zu sein". 1 1 2 Vgl. WWV II S. 2 5 6 - 2 5 7 , 283, ferner S. 340. 1 1 3 Vgl. WWV II S. 254. i n WWV II S. 258. 1 1 5 Vgl. dazu: WWV II S. 228, 271, 304, 324, 360, 371, 485; Kl. Sehr. S. 342, 394, 567. Iis WWV II S. 267. Vgl. auch Kl. Sehr. S. 694: „ein Wollen ohne Motiv" beschreibt Schopenhauer dort als die Absurdität einer „Wirkung ohne Ursache". 117 WWV II S. 272. Vgl. auch S. 274 und 379. us WWV II S. 274. 1 1 9 Vgl. dazu die zitierten Belege in WWV II S. 275, 491. 120 WWV II S. 268. Vgl. dort auch: „der Intellekt spielt auf und der Wille muß dazu tanzen". 108

§ 7. Die Willenstheorie als Fundament ästhetischer Negativität

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Reziprozität von crkenntnislosem Willen und willenlosem Intellekt korrespondiert diese Aussage mit der Metaphorik von Blindem und Lahmem. Im Unterschied zu der obigen These, in der Schopenhauer den Intellekt nicht nur als das erkennende, sondern auch als das bewegende Prinzip betrachtet, impliziert eine Interdependenz von blindem Willen und lahmem Intellekt allerdings die Angewiesenheit gerade des letzteren auf Bewegungsimpulse von Seiten des ersteren. Das Verhältnis zwischen bewegendem Intellekt und bewegtem Willen erscheint also problematisch: Denn wie soll einerseits der αύτόματος-Charakter des Willens kompatibel sein mit seinem Bewegtwerden durch den Intellekt, ja mit seiner Angewiesenheit auf dessen Funktion als ,Medium der Motive', ohne die eine Handlung nicht zustande käme? 121 Und in welcher Weise ließe sich andererseits die grundlegende Willensdependenz des Intellekts, die auch dessen Abhängigkeit von Bewegungsimpulsen des Willens einschließt, mit seinem eigenen Movens-Status vereinbaren? Entsteht hier nicht sogar die Gefahr, daß diese doppelte Schwierigkeit in die Problematik beiderseitiger Lähmungserscheinungen oder gar Bewegungsunfähigkeit mündet? Kann nämlich einerseits der durch kein Motiv bewegte Wille „sowenig handeln, als ein Stein ohne Stoß oder Zug von der Stelle kann" 122 , ist aber andererseits der Intellekt „erst tätig, wenn er getrieben wird [...] vom Willen, der ihn beherrscht, lenkt, [...] ihm die Tätigkeit verleiht, die ihm ursprünglich nicht einwohnt" 123 , so entsteht der Eindruck einer so weitreichenden Interdependenz beider Faktoren, daß sich die Frage aufdrängt, wie auf dieser Basis Bewegung noch zustande kommen und ein regressus ad infinitum 124 ihres Ursprungs vermieden werden kann. Diese Einschätzung scheint durch ein weiteres Analogon bestätigt zu werden: Schopenhauer nimmt das Motiv nicht nur als den vom Intellekt dem Willen übermittelten Bewegungsimpuls in Anspruch, sondern behauptet auch, „der sehnsüchtige Wunsch, die dringende Not" wirke als Motiv auf den Intellekt. 125

Vgl. Kl. Sehr. S. 694, 737. Kl. Sehr. S. 694. Vgl. auch S. 737. Die Problematik eines „ohne alle Leitung" unbeweglich bleibenden Willens thematisiert Schopenhauer in W W V II S. 518. 123 W W V n s. 275. Vgl. auch S. 4 9 1 . 1 2 4 Ein regressus ad infinitum entsteht, wenn einerseits der Wille zum Zwecke seiner Bewegung den Intellekt als .Medium der Motive' benötigt, während andererseits Willensbewegung bereits vorausgesetzt werden muß, damit der Intellekt tätig wird. 125 W W V II S. 285. 121

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Trotz der vermeintlichen Äquivalenz, in deren Rahmen Wille und Intellekt wechselseitig Herrschafts- und Leitungsfunktionen übernehmen 126 , steht „das Primat des Willens" 127 für Schopenhauer grundsätzlich außer Frage. Die beiden Faktoren sind demnach offenbar nicht in einer reziproken Abhängigkeit aufeinander bezogen. Ihr Zusammenspiel kann man sich wohl folgendermaßen vorstellen: Die komplexen Bedürfnisse des menschlichen Willens erfordern Intellekttätigkeit; der durch ihn in Bewegung gesetzte Intellekt fungiert als ,Medium der Motive' und ermöglicht dem individuellen Willen dadurch konkretes Handeln. Auf der Folie der meisten Aussagen, die Schopenhauer im Zusammenhang mit der Relation zwischen Willen und Intellekt über Bewegung macht, wird man die zitierten Thesen, nach denen statt des Willens gerade der Intellekt als Movens wirken und statt des Intellekts der Wille der Bewegte sein soll, wohl als hyperbolisch geratene Darstellung bewerten müssen, mit der Schopenhauer beim Versuch, spezifische Intellektfunktionen hervorzuheben, die durch den Systemkontext gezogenen Grenzen durchbricht und gleichsam über das Ziel hinausschießt. Symptomatisch dafür ist eine Textstelle, in der er den Willensakt sogar explizit als „Erfolg" des Intellekts bezeichnet. 128 Ein Korrektiv bietet das folgende Zitat: Von der „subordinierten Stellung des Intellekts gegen den Willen" 129 zeugt die Weise, wie er seine Funktion als „Medium der Motive" 130 ausübt: er faßt „ursprünglich an den Dingen nichts weiter auf als ihre Beziehungen zum Willen" 131 und „kann dabei nichts weiter tun als die Beschaffenheit der Motive allseitig und scharf beleuchten; nicht aber vermag er den Willen selbst zu bestimmen; da dieser ihm ganz unzugänglich, ja sogar [...] unerforschlich ist". 132 Der systematische Kontext dieser Aussage unterstreicht ihre Bedeutung. Denn Schopenhauer verfolgt dort die Absicht, die bloße Scheinhaftigkeit einer empirischen Freiheit des Willens durch einen Aufweis ihrer Vorausset126

127 128

129 im 131 132

Vgl. ζ. B. einerseits Antrieb, Herrschaft, Lenkung seitens des Willens gemäß WWV II S. 275; andererseits unterliegt der Wille gemäß W W V II S. 518 „der Herrschaft und Leitung des Intellekts". WWV II s. 268, auch S. 272. HN III S. 587. WWV I S. 400. WWV II S. 485, 283, 360, 268; Kl. Sehr. S. 624. WWV II S. 485. WWV I S. 402. Vgl. ergänzend W W V II S. 2 8 8 - 2 8 9 : „Zu glauben, daß die Erkenntnis wirklich und von Grund aus den Willen bestimme, ist wie glauben, daß die Laterne, die einer bei Nacht trägt, das primum mobile seiner Schritte sei". Vgl. ferner S. 288: „Der Intellekt gehorcht oft dem Willen [...]. Hingegen gehorcht eigentlich nie der Wille dem Intellekt". Vgl. außerdem W W V I S. 405, 502.

§ 7. Die Willenstheorie als Fundament ästhetischer Negativität

123

Zungen zu begründen: Gerade weil der Wirkungsradius des Intellekts über die Entfaltung der jeweils für die Entscheidung des Willens möglicherweise relevanten Motive nicht hinausreicht133, fehlen ihm Kriterien für eine angemessene Antizipation solcher Willensbeschlüsse, die er daher „erst a posteriori und empirisch" erfährt. 134 Infolgedessen müssen dem Intellekt als bloßem "Zuschauer" unterschiedliche „Entscheidungen als gleich möglich erscheinen".135 Durch Analyse dieses Zusammenhangs glaubt Schopenhauer in seiner gekrönten „Preisschrift über die Freiheit des Willens" „den Grund der Täuschung aufgedeckt" zu haben, „infolge welcher man eine empirisch gegebene absolute Freiheit des Willens, also ein liberum arbitrium indifferentiae im Selbstbewußtsein als Tatsache desselben zu finden vermeint".136 Seines Erachtens entspringt die Handlung notwendig „aus dem Zusammentreffen des Charakters mit den Motiven"137, ist also determiniert.138 Zwar hat der Mensch Deliberationsfähigkeit, also „eine vollkommene Wahlentscheidung vor dem Tiere voraus", sie ist aber keine Freiheit des Willens, sondern bloß „die Möglichkeit eines ganz durchgekämpften Konflikts zwischen mehreren Motiven, davon das stärkere ihn dann mit Notwendigkeit bestimmt".139 Dieser Exkurs zu Schopenhauers Determinismus-These läßt einen wichtigen Aspekt seiner Argumentation für den Primat des Willens vor dem bloß sekundären Intellekt hervortreten.

Vgl. WWV I S. 401. 134 WWV J s. 400. Vgl. auch WWV II S. 269. 135 WWV I S. 401. Analog S. 400. 136 WWV I S. 399 — 400. Schopenhauer sieht diese, wie er meint, falsche Ansicht dadurch mitverursacht, daß die philosophische Tradition „das Wesen des Menschen" nicht im Wollen, sondern im Erkennen erblickte (WWV I S. 403). Diesen uralten „Grundirrtum", den seines Erachtens alle ihm „vorhergegangenen Philosophen" begangen haben, glaubt er „nach Jahrtausenden des Philosophierens" als erster beseitigt und durch die Wahrheit ersetzt zu haben (WWV II S. 257). (In HN III S. 587 spricht er diesen Irrtum auch den Psychologen zu.) 137 WWV I S. 398. Motivation als „die durch das Erkennen hindurchgegangene und durch dasselbe vermittelte Kausalität" (Kl. Sehr. S. 216, auch S. 550, 572, 646, 567) wirkt „mit nicht geringerer Notwendigkeit" als die anderen Kausalitätsmodi, Reiz und Ursache (Kl. Sehr. S. 417, vgl. auch S. 5 5 4 - 5 5 5 und WWV I S. 397), und ist wie sie „ein Naturgesetz" (Kl. Sehr. S. 647). 133

Vgl. WWV I S. 401. Vgl. auch Kl. Sehr. S. 565: „Unter Voraussetzung der Willensfreiheit wäre jede menschliche Handlung ein unerklärliches Wunder — eine Wirkung ohne Ursache". Eine gründlichere Analyse dieser Zusammenhänge würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen; sie werden daher lediglich referiert. 139 WWV I S. 409. Vgl. auch S. 410 und Kl. Sehr. S. 401, 555. In WWV II S. 415 behauptet Schopenhauer unverblümt: „der Determinismus steht fest: an ihm zu rütteln haben nun schon anderthalb Jahrtausende vergeblich sich bemüht". 138

124

Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

V. Abschließend sollen einige weitere Facetten von Schopenhauers Überlegungen zur Relation zwischen Willen und Intellekt beleuchtet werden. Besonders deutlich kommt das von Schopenhauer vorausgesetzte Machtgefälle dort zum Ausdruck, wo er sich über die „eigentliche Bestimmung" des Intellekts äußert: den „Dienst des Willens". 140 Als den Zweck, zu dem „ihn die Natur bestimmte", betrachtet Schopenhauer das „Auffassen der Beziehungen der Dinge teils zueinander, teils zum Willen des erkennenden Individuums". 141 Denn Objekte sind nur vermittels ihrer „durch den Satz vom Grunde gesetzten [...] mannigfaltigen Beziehungen in Raum, Zeit und Kausalität" für das Subjekt „interessant", indem sie sich in einem Verhältnis zu seinem Willen befinden. 142 Seine „ihm natürliche Tätigkeit" vollzieht der Intellekt mithin nur dann, wenn er, dem Willensdienst unterworfen, gemäß der Erkenntnisweise nach dem Satze vom Grunde agiert. 143 Die Einflußmöglichkeiten des Willens sind dabei vielfältig: Der Intellekt wird vom Willen nicht nur „in Tätigkeit gesetzt und darin erhalten" 144 , sondern außerdem in seinen Funktionen „durch den Antrieb und Sporn des Willens bisweilen befördert", ja sogar durch Wunsch oder Not beträchtlich gesteigert. 145 Allerdings behauptet Schopenhauer auch, die grundlegende Verschiedenheit von Willen und Intellekt manifestiere sich darin, daß mit starken Willensaffekten keineswegs eine entsprechende Steigerung des Intellekts einhergehen muß, daß er vielmehr durch Orientierung an Interessen und Bedürfnissen des Willens mitunter „gehindert und deprimiert" 146 , ja sogar zu richtigen Operationen unfähig 147 wird, indem nämlich „jede Neigung oder Abneigung" die Erkenntnis „trübt und verfälscht" und dabei nicht nur das Urteil, sondern schon „die ursprüngliche Anschauung der Dinge entstellt, färbt, verzerrt". 148 Wie in § 1 bereits erwähnt, entwickelt Schopenhauer in dieser Hinsicht also eine pejorative Einschätzung der durch Dominanz des Willens und In140 W W V II S. 498. Vgl. u. a. auch S. 182 und W W V I S. 225. h i W W V j j s 501. Vgl. auch S. 469, 485 und PP II S. 84. Laut W W V II S. 485 ist der Intellekt „seiner Bestimmung nach bloß das Medium der Motive". 142 W W V I s. 255. Vgl. außerdem W W V II S. 485, 469, 480. Vgl. PP II S. 495. Vgl. auch W W V I S. 2 5 4 - 2 5 6 . PP II S. 495. 145 W W V II S. 285. 146 W W V II S. 279. Vgl. auch S. 481 - 4 8 2 . Die Erkenntnis wird durch den Willen „verunreinigt" (S. 476) und „verfälscht" (S. 481, 491, 278). • 4 7 Vgl. W W V II S. 283. 148 W W V II S. 481. Vgl. auch PP II S. 8 0 - 8 1 und W W V II S. 278, 279, 476, 491 - 4 9 2 . 143 144

§ 7. Die Willenstheorie als Fundament ästhetischer Negativität

125

strumentalität des Intellekts geprägten Beziehung. Seinen Einfluß macht der Wille bisweilen gar in so weitreichendem Maße geltend, daß er den Intellekt durch seine Wünsche veranlaßt, „seiner eigenen Natur, die auf Wahrheit gerichtet ist, Gewalt" anzutun, „indem er sich zwingt, Dinge, die weder wahr noch wahrscheinlich, oft kaum möglich sind, seinen eigenen Gesetzen zuwider für wahr zu halten, um nur den unruhigen und unbändigen Willen" wenigstens zeitweilig „zu beruhigen".149 Diese aufschlußreiche These dokumentiert nicht allein den in Stör- und Beeinflußbarkeit sich zeigenden sekundären Status des Intellekts, sondern läßt zugleich auch seine zwischen Autonomie- und Heteronomiekomponenten oszillierende Doppelnatur erkennen.150 Seiner autonomen Wahrheitssuche nach „eigenen Gesetzen" 151 steht dabei die reguläre Heteronomie und Instrumentalität gegenüber. Diese Konstellation erweist sich als vielschichtig: Einerseits erhellt aus einer im Willensdienst nicht bereits aufgehenden ,Natur' des Intellekts ansatzweise die grundlegende Verschiedenheit von Intellekt und Willen; andererseits jedoch stellt die geradezu seismographische Empfindlichkeit, die der Intellekt voluntativen Einflüssen gegenüber an den Tag legt, gerade dessen angeblich autonome Eigennatur in Frage. Der Wille ist nach Schopenhauer für Störungen von selten des Intellekts keineswegs in vergleichbarer Weise anfällig152; allenfalls wird seine Energie durch jenes exzeptionelle Übermaß an Intellekt gehemmt und beeinträchtigt, das dem Genie eigen ist. 153 149 \y/\y/\r Ii S. 2 7 9 - 2 8 0 . Eine pathologische Variante dieses Wirkungszusammenhangs beschreibt Schopenhauer in WWV II S. 516. Interessant ist die Antizipation der Freudschen Verdrängungstheorie bei Schopenhauer. Das Verhältnis zwischen Willen und Intellekt im Falle uneingestandener Wünsche und kaschierter Motive (vgl. dazu ζ. B. WWV II S. 2 7 0 271) läßt sich mit der Relation zwischen Unbewußtem und Ich bei Freud parallelisieren. Vgl. auch WWV II S. 282, wo Schopenhauer von der „geheimen und unmittelbaren Gewalt, welche der Wille über den Intellekt ausübt", spricht (Bsp.: das Sich-Verrechnen zum eigenen Vorteil). — Einen komprimierten Vergleich zwischen Schopenhauer und Freud bietet folgender Aufsatz: Gupta, Rajender Kumar: Freud und Schopenhauer. In: Schopenhauer. Hrsg. von Jörg Salaquarda. Darmstadt 1985. (Wege der Forschung Bd. 602) S. 164—176. Vgl. auch Lütkehaus, Ludger (Hrsg.): „Dieses wahre innere Afrika". Texte zur Entdeckung des Unbewußten vor Freud. Frankfurt a. M. 1989. Zu den Implikationen und Schwierigkeiten dieser Konstellation sowie zu den Auswirkungen auf den Gehalt von Abnormität vgl. § 5 dieser Arbeit. 151 W W π S. 280, 482. 152 Vgl. WWV II S. 278. 153 Vgl. WWV II S. 2 8 4 - 2 8 5 . Die Vielschichtigkeit dieser Relation steigert sich noch dadurch, daß Schopenhauer „Vehemenz des Willens" und eine dadurch bedingte „Erhöhung aller Affekte" als notwendige Voraussetzung für besondere Steigerung des menschlichen Intellekts betrachtet (vgl. WWV II S. 363). Die von Schopenhauer exponierte „lex parsimoniae" ist offensichtlich nicht nur in phylogenetischer Hinsicht wirksam (vgl. WWV II S. 3 6 1 - 3 6 2 und dazu den Anfangsteil dieses § 7), sondern auch ontogenetisch: „Genie ist durch ein 150

126

Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Aussicht auf eine von voluntativen Irritationen weitgehend unbelastete Intellekttätigkeit, in der die subjektive Individualität und Relationalität der willensabhängigen Erkenntnisweise überwunden sind, besteht nach Schopenhauer nur dann, wenn „der Wille schweigt und pausiert", so daß der Intellekt „seine Funktion [...] ganz rein und richtig vollziehn kann" 154 , und zwar „um so reiner und vollkommener", je mehr er sich „vom Willen losgemacht" hat. 155 Dann tritt an die Stelle der vorherigen Perspektive auf die Dinge „als einzelne" 156 die objektive Auffassung ihres Wesens 157 , die Erkenntnis der Idee als ewiger Form 1 5 8 , und die Welt zeigt sich in „ihrer wahren [...] Gestalt". 159 Diese Erkenntnisweise bestimmt den Zustand ästhetischer Kontemplation, in dem eine interesselose Auffassung des Wesens der Dinge unter Absehung von deren Relationen erfolgt. 160 Im Verlauf dieser Arbeit ergaben sich bereits mehrere Aspekte, die eine tiefreichende Skepsis gegenüber dem Postulat ästhetischer Autonomie des Intellekts nahelegen. So fundamental ist die ontologisch-funktionale Willensdependenz des Intellekts, daß seine angeblich freie Tätigkeit nach „eigenen Gesetzen" nicht überzeugend erscheint. Die Anfälligkeit des Intellekts für willensbedingte Irritationen und die Verunreinigung seiner Erkenntnisse durch den Willen zeigt, inwiefern die Positivität von Schopenhauers Willens-

leidenschaftliches Temperament bedingt, und ein phlegmatisches Genie ist undenkbar: es scheint, daß ein überaus heftiger, also gewaltig verlangender Wille dasein mußte, wenn die Natur einen abnorm erhöhten Intellekt [...] dazugeben sollte" (WWV II S. 365). Vgl. analog: PP II S. 681, HN III S. 610. Nicht aber umgekehrt: Ginge „der Wille aus der Erkenntnis" hervor, „so müßte, wo viel Wille ist, auch viel Erkenntnis, Einsicht, Verstand sein. Dem ist aber ganz und gar nicht so [...]" (WWV II S. 290). 154 V7WV II S. 277. Vgl. auch S. 481: „eine rein objektive und daher richtige Auffassung der Dinge" ist allein dann möglich, „wann wir dieselben ohne allen persönlichen Anteil, also unter völligem Schweigen des Willens betrachten". Allerdings behauptet Schopenhauer auch die Angewiesenheit des Intellekts, der „aus eigenen Mitteln gar keiner Tätigkeit fähig" ist, auf den Willen, der ihn „weckt und in Bewegung setzt" (WWV II S. 491). Vgl. ergänzend auch S. 311, wo Schopenhauer der periodischen Intermittenz des Intellekts den nie pausierenden Willen gegenüberstellt. iss WWV Ii s. 316. Analog HN III S. 586. Setzt man diese Konstellation in eine Beziehung zu Schopenhauers Gleichnis vom Willen als einem starken Blinden, „der den sehenden Gelähmten auf den Schultern trägt" (WWV II S. 269), so ist dieses für den ästhetischen Kontext folgendermaßen umzudeuten: Die auf wechselseitige Angewiesenheit gegründete Kooperation von Willen und Intellekt zerfällt, und zwar zum Nachteil des Willens: indem der Intellekt seine Lähmung überwindet, verliert der Wille seine Surrogat-Augen. Vgl. jedoch § 12! 156 WWV I S. 255. 157 Vgl. PP II S. 88. 158 Vgl. WWV I S. 257. 159 w w v II S. 492. IM) Vgl. WWV II S. 481.

§ 7. Die Willenstheorie als Fundament ästhetischer Negativität

127

theorie via negationis in seine Ästhetik hineinwirkt. Die Beziehung zwischen Willen und Intellekt, die sich in § 7 als überaus komplex erwies und auch von Inkonsistenzen nicht frei blieb, setzt zwar eine Verschiedenheit von Willen und Intellekt voraus; problematisch ist allerdings Schopenhauers Antagonismus-These 161 , obwohl sie von einzelnen Aspekten zunächst ansatzweise konsolidiert zu werden schien. Denn die Universalität des Willens, den Schopenhauer — wie beschrieben — als omnipotentes 162 Naturprinzip auffaßt, schließt ja auch den genetisch-funktional von ihm abhängigen Intellekt mit ein. Bloße Verschiedenheit des Intellekts vom Willen im Hinblick auf ontologischen Status und Aktivitätsmodus ist als Bedingung der Möglichkeit seiner Autonomie nicht hinreichend. Das — verglichen mit der DifferenzThese — erheblich stärkere Antagonismus-Postulat, das einen — für ästhetische Autonomie des Intellekts konstitutiven — Dualismus zu beinhalten scheint, läßt sich mit Schopenhauers Willensmonismus nicht vereinbaren.

161

162

Vgl. WWV II S. 474, 475. Vgl. die Fokussierung von Kapitel A. und B. dieser Arbeit in § 12, der auch zur Interpretation der Korrelation zwischen Willen und Intellekt einen neuen Vorschlag enthält und die Problematik von Schopenhauers Ästhetik ganz anders als in der bisherigen Forschungsliteratur beleuchtet. Vgl. WWV I S. 377: Der Wille ist „nicht nur frei, sondern sogar allmächtig".

§ 8. Erfolg als Mißerfolg: Zu ambivalenten Strukturen in Schopenhauers Willenstheorie I. Erfolg als Mißerfolg!? — Die provokante Identifikation dieser Gegensätze muß auf den ersten Blick fragwürdig, ja geradezu absurd erscheinen. Deshalb wird es im folgenden darauf ankommen, zu demonstrieren, in welcher Hinsicht sich auf der Basis von Schopenhauers Thesen und entgegen einer zunächst berechtigt erscheinenden Skepsis tatsächlich Erfolg des wollenden Subjekts als Mißerfolg erweist. Zuvor allerdings bedarf es einer deskriptiven Hinführung, die aus Gründen der Authentizität bewußt zitatreich gehalten ist. Sie soll den Boden bereiten für die sich anschließende kritische Auseinandersetzung.

II. Schopenhauer betrachtet den Menschen als „das komplizierte, vielseitige, bildsame, höchst bedürftige und unzähligen Verletzungen ausgesetzte Wesen" 1 , das sich insofern von niedrigeren Graden der Objektivation des Willens unterscheidet. Die ,Natur' des Menschen sieht Schopenhauer gekennzeichnet durch ziel- und rastloses „Wollen und Streben", das sich mit „einem unlöschbaren Durst" vergleichen läßt. 2 „Die Basis alles Wollens aber ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz", dem der Mensch „folglich schon ur-

1 2

W W V I S. 224. W W V I S. 427. Vgl. auch W W V I S. 403: „Jeder Mensch ist [...] das, was er ist, durch seinen Willen"; Wollen ist „die Basis seines Wesens"; W W V II S. 272: Wollen ist „unser selbsteigenes Wesen"; W W V I S. 448: „Das Motiv überhaupt steht vor dem Willen als vielgestaltiger Proteus: es verspricht stets völlige Befriedigung, Löschung des Willensdurstes; ist es aber erreicht, so steht es gleich in anderer Gestalt da und bewegt in dieser aufs neue den Willen [...]". Hierzu vgl. auch W W V I S. 432.

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

sprünglich und durch sein Wesen anheimfällt" 3 , und zwar um so nachhaltiger, als gerade er „das bedürftigste unter allen Wesen" ist. 4 Bedroht durch mannigfaltige Gefahren und fundamentaler Unsicherheit in vielfacher Hinsicht ausgeliefert, sieht sich der Mensch in anhaltenden Kampf um die Bewahrung seiner Existenz verstrickt; Sorge für seine Selbsterhaltung begleitet sein Dasein als Grundkonstante. 5 Alles Streben betrachtet Schopenhauer als Leiden, insofern als es „aus Mangel, aus Unzufriedenheit" mit dem Status quo entspringt.6 Diesem Zustand „macht die Erfüllung ein Ende; jedoch gegen einen Wunsch, der erfüllt wird, bleiben wenigstens zehn versagt: ferner, das Begehren dauert lange, die Forderungen gehn ins unendliche; die Erfüllung ist kurz und kärglich bemessen". 7 Somit ist die bloß ephemere Befriedigung „stets nur der Anfangspunkt eines neuen Strebens"; es gibt „kein letztes Ziel des Strebens, also kein Maß und Ziel des Leidens".8 Zwar läßt sich das Wesen des Willens beschreiben als „ewiges Werden, endloser Fluß" 9 , dennoch ist jeder individuelle Wille laut Schopenhauer „Wille nach etwas, hat ein Objekt, ein Ziel seines Wollens". 10 Ziellosigkeit und Zielbezogenheit erweisen sich also von unterschiedlichem Standpunkt aus als kompatibel.

WWV I S. 4 2 7 - 4 2 8 . Vgl. auch S. 279, 430. WWV I S. 428. Vgl. a. a. O.: Der Mensch „ist ein Konkrement von tausend Bedürfnissen". 5 Vgl. WWV I S. 4 2 8 - 4 2 9 . Vgl. ferner WWV I S. 227: Der Wille muß „an sich selber zehren [...], weil außer ihm nichts daist und er ein hungriger Wille ist. Daher die Jagd, die Angst und das Leiden". Seine Schärfe bekommt dieser „Widerstreit des Willens mit sich selbst", „dessen Erscheinungen [...] sich selbst bekämpfen und sich selbst zerfleischen" (WWV I S. 353), durch den Egoismus als „Ausgangspunkt alles Kampfes" (WWV I S. 454), der nach Schopenhauers Auffassung „jedem Dinge in der Natur wesendich ist" (WWV I S. 455) und den inneren „Widerstreit des Willens mit sich selbst zur fürchterlichen Offenbarung" bringt (WWV I S. 455). Vgl. ergänzend WWV I S. 454, 456, 468, 424, 237. 6 Vgl. WWV I S. 425, außerdem S. 495, 279. 7 WWV I S. 279. 8 WWV I S. 425. Entsprechend WWV I S. 240: „In der Tat gehört Abwesenheit alles Zieles, aller Grenzen zum Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben ist". Vgl. auch WWV I S. 494: „Der Wille kann sowenig durch irgendeine Befriedigung aufhören, stets wieder von neuem zu wollen, als die Zeit enden oder anfangen kann: eine dauernde, sein Streben vollständig und auf immer befriedigende Erfüllung gibt es für ihn nicht. Er ist das Faß der Danaiden". Vgl. auch WWV I S. 424, 448. 9 WWV I S. 240. Ein solches „ewiges Werden" erblickt Schopenhauer auch „in den menschlichen Bestrebungen und Wünschen, welche ihre Erfüllung immer als letztes Ziel des Wollens uns vorgaukeln; sobald sie aber erreicht sind, sich nicht mehr ähnlich sehn [...]". (WWV I S. 240 - 241). Vgl. auch WWV I S. 440. 10 WWV I S. 238. Nach Schopenhauer „weiß der Wille, wo ihn Erkenntnis beleuchtet, stets was er jetzt, was er hier will; nie aber was er überhaupt will: jeder einzelne Akt hat einen Zweck; das gesamte Wollen keinen". (WWV I S. 241) 3

4

§ 8. F.rfolg als Mißerfolg

131

III. Schopenhauers Aussage, jeder individuelle Wille sei „Wille nach etwas", erscheint unmittelbar evident. Denn nur dadurch, daß im Wollen jeweils ein konkretes Objekt intendiert wird, kann ja — so scheint es — Befriedigung im „Erreichen des Ziels" 11 bestehen, während das Leiden des Willens aus seiner „Hemmung durch ein Hindernis" resultiert, „welches sich zwischen ihn und sein einstweiliges Ziel stellt". 12 Unmißverständlich formuliert Schopenhauer: „Wenn ein Mensch will·, so will er auch etwas: sein Willensakt ist allemal auf einen Gegenstand gerichtet und läßt sich nur in Beziehung auf einen solchen denken". 13 Diese These leuchtet zweifellos ein, ist doch in ihr nichts anderes thematisiert als jene Selbstverständlichkeit, daß ein Subjekt sich intentional auf solche Objekte richtet, durch die es Befriedigung bestimmter individueller Bedürfnisse zu erlangen hofft. Wie aber ist auf dieser Folie folgende Aussage Schopenhauers zu beurteilen: „unermüdlich streben wir von Wunsch zu Wunsch, [...] eilen zu immer neuen Wünschen"? 14 Einerseits scheint diese Formulierung ihrer Grundtendenz nach durchaus den Charakter des Wollens als progressus ad infinitum, als fortwährendes Streben ohne jede Aussicht auf dauernde Befriedigung zum Ausdruck zu bringen. 15 Andererseits suggeriert das Zitat zumindest im Ansatz, der Wunsch bleibe hier ohne konkreten Objektbezug, vielmehr sei das Wünschen als solches selbst das eigentliche Ziel des Strebens, als terminiere das Streben schon im Wunsch, der mithin obskures Objekt einer besonderen Art von Begierde sei. In den Rahmen des Bisherigen läßt sich nur der erste Deutungsansatz problemlos integrieren. Er legt eine apologetische Interpretation nahe. Ihr folgend, hätte man dieses unermüdliche Streben „von Wunsch zu Wunsch" als leicht .verunglückte', da mißverständliche Formulierung für den Normalfall des Wollens zu interpretieren. Die zweite Deutung hingegen wirkt zunächst weithergeholt, ja geradezu abstrus. Stellt man sie jedoch in einen Kontext von analogen Aussagen, so entfaltet sich sukzessive ihr ernstzunehmender Problemgehalt.

11 W W V I S. 425. 12 W W V I S. 425. Kl. Sehr. S. 532. 14 W W V I S. 437. 1 5 Vgl. W W V I S. 4 2 3 - 4 2 5 , 427, 440, 2 4 0 - 2 4 1 . 13

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

IV. Die oben skizzierte Bedürftigkeitskonzeption erfährt dort eine wichtige Modifikation, wo Schopenhauer explizit von dem „des steten Strebens und Erreichens bedürftigen Willen" spricht.16 Schopenhauers Formulierung von einem Willen, der angeblich „steten Strebens" bedarf, erweckt den zunächst sehr überraschenden Eindruck, der Wille begnüge sich nicht mit dem Erreichen von Objekten, vielmehr richte sich sein Bedürfnis außerdem geradezu auf ein perpetuum mobile. Diese Konstellation gibt Anlaß zu mehreren Fragen, die — vorerst — ohne Antwort bleiben: Intendiert der Wille hier seine eigene Bewegung per se, also um ihrer selbst willen? Kann eine solche anhaltende Willensbewegung dann sogar eine spezifische Art von Glück oder Befriedigung hervorbringen? Und falls dies zutrifft: Kann man diese erstaunliche Konstellation, in der fortwährende Willensbewegung selbst tatsächlich bereits Befriedigung vermittelt, als Symptom dafür bewerten, daß dabei das bedürftige Subjekt von einer ganz unwahrscheinlichen Genügsamkeit geprägt ist? — Zunächst mag es so scheinen. Eine modifizierte Einschätzung allerdings ergibt sich, sofern man anstelle des Einzelfalls voluntativen Bewegungsstrebens die Totalität des auf Streben und Erreichen gerichteten Bedürfnisses in den Blick faßt. Statt übertriebener Genügsamkeit tritt dann eine überzogene Anspruchshaltung zutage: nämlich sofern der Wille, der nach Schopenhauer eo ipso Streben ist17, sich mit dem Erreichen von Objekten allein noch nicht zufriedengibt, sondern zusätzlich auch „steten Strebens" bedarf. In einer solchen Konstellation intendiert er über die Objekte hinaus gewissermaßen auch noch sich selbst und erweist sich damit als ein Streben, das stetes Streben erstrebt, oder — anders gesagt — als ein Wille, der wollen will. Auf der Basis des bisher Dargelegten läßt sich festhalten: Offensichtlich besteht eine Opposition zwischen zwei divergenten Ansätzen bei Schopenhauer: jenem plausiblen, nach dem der Wille stets etwas will, indem sein Streben auf ein Objekt zielt, das er zu erreichen sucht, und jenem abstrus anmu16 W W V I S. 290. Diese Formulierung ist bei Schopenhauer durchaus nicht singular: In seinen Vorlesungen zur „Metaphysik des Schönen" findet sich die Aussage „der Wille aber ist des steten Strebens und Erreichens bedürftig" (S. 105); im Nachlaß ist die Rede vom Willen, der „des ewigen Strebens und Erreichens bedarf (ΗΝ I S. 255). 1 7 Vgl. ζ. B. W W V I S. 440: Der Wille ist „ein Streben ohne Ziel und ohne Ende". Das seines Erachtens „das innerste Wesen jedes Dinges ausmachende Streben" (WWV I S. 424) exemplifiziert Schopenhauer an unterschiedlichsten Naturerscheinungen (vgl. W W V I S. 423 — 424). Ferner vgl. W W V I S. 423, wo Schopenhauer behauptet, daß der Wille „eines letzten Zieles und Zweckes ganz entbehrt, immer strebt, weil Streben sein alleiniges Wesen ist". Vgl. auch W W V I S. 240: Wille als „endloses Streben".

§ 8. Erfolg als Mißerfolg

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tenden, nach dem der Wille gewissermaßen wollen will. Ein fragwürdiges Bewegungsbedürfnis des Willens konkurriert also mit der Normalität von Bedürftigkeit. Die Schwierigkeit, in die Schopenhauer sich durch seine Konzeption eines bewegungsbedürftigen Willens verstrickt, tritt durch die Entfaltung einiger Implikationen noch deutlicher hervor: Rekurriert man nämlich auf Schopenhauers Aussage, das Leiden des Willens entspringe aus seiner „Hemmung durch ein Hindernis, welches sich zwischen ihn und sein einstweiliges Ziel stellt" 18 , und wendet man diese These dann auf den „steten Strebens [...] bedürftigen Willen" an, so ergibt sich die folgende Frage: Müßte nicht — so gesehen — das eigentliche Hemmnis des Strebens hier konsequenterweise ausgerechnet in der Befriedigung von Bedürfnissen bestehen, da solche transitorische Erfüllung vorübergehend das Streben aufhebt und damit dem Bewegungsbedürfnis des Willens widerstrebt, dessen Befriedigung entgegenarbeitet? Und müßte nicht umgekehrt gerade das Ausbleiben der (wenn auch nur zeitweiligen) Ruhe, die normalerweise durch erzielte Befriedigung eintritt, letztlich ganz der Intention des bewegungsbedürftigen Willens entsprechen? Denn nur unter dieser Voraussetzung kann doch sein Streben sich kontinuierlich fortsetzen; allein im Milieu von Unruhe infolge ausbleibender Wunscherfüllung scheint der auf perpetuierliche Bewegung zielende Wille mithin seine spezifische Art von Befriedigung zu finden. Mit den beiden gegensätzlichen Tendenzen des Willens sind also Modi von Befriedigung verbunden, die einander wechselseitig ausschließen. Vor diesem Hintergrund erhellt zugleich, daß der Erfolg des Willens aus veränderter Perspektive gewissermaßen zu seinem Mißerfolg wird. Im Horizont voluntativer Doppelbedürftigkeit lassen sich weder Glück noch Leiden, weder Erfolg noch Mißerfolg eindeutig definieren. Die beiden Opponenten geraten vielmehr in eine oszillatorische Bewegung, indem sie — abhängig von der im Einzelfall eingenommenen Perspektive — unversehens in ihr jeweiliges Gegenteil umschlagen können. Denn das Erlangen der gewünschten Objekte bedeutet zwar Wunscherfüllung für den „steten [...] Erreichens bedürftigen Willen" und bringt dessen Bewegung vorübergehend zum Stillstand; zugleich verhindert solches Erreichen jedoch die Befriedigung des Bedürfnisses nach ,stetem Streben'. Und umgekehrt liegt der Erfolg des „steten Strebens" bedürftigen Willens in der Unruhe kontinuierlicher Bewegung, die sich zugleich aber als kontraproduktiv erweist im Hinblick auf .normale', Ruhe beinhaltende Bedürfnisbefriedi18 W W V I S. 425.

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

gung und — bezogen auf eine entsprechende Intention — einen Mißerfolg darstellt. Der Anschein von Widersprüchlichkeit entsteht dabei erst im Zugleich der konträren Standpunkte. Nur solches ,Einfrieren' perspektivistischer Dynamik bringt die kristalline Struktur eines doppelten Paradoxons hervor, in dem befriedigende Nichtbefriedigung und nichtbefriedigende Befriedigung einander gegenübertreten. Bei angemessener Berücksichtigung der stattfindenden Standpunktwechsel läßt sich festhalten: Schopenhauers Ansätze zu einer gespaltenen Intentionalität, deren divergente Komponenten sowohl streben als auch erreichen wollen, eröffnen einen opaken Horizont, in dem die üblicherweise klaren Konturen von Befriedigung und Nichtbefriedigung, von Erfolg und Mißerfolg sich in perspektivistisch-changierende Beliebigkeit zu verflüchtigen drohen. Daß in diesem Rahmen nicht nur unerfüllte ,Normal'-Wünsche Leiden verursachen können, erscheint intern konsequent. Und so abstrus dieser Gedankengang auch anmuten mag, solange Schopenhauers eigentliches Motiv noch im Dunkeln liegt: er selbst läßt das Leiden explizit in unerwartetem Maße expandieren: „Daß Wunsch und Befriedigung sich ohne zu kurze und ohne zu lange Zwischenräume folgen, verkleinert das Leiden, welches beide [!] geben, zum geringsten Maße und macht den glücklichsten Lebenslauf aus". 19 Frag-würdig erscheint die hier zum Ausdruck kommende Auffassung, daß Leiden auch aus Befriedigung entspringen kann. An der insofern prekären conditio humana ändert auch die Tatsache nichts, daß Schopenhauer hier dennoch superlativisch von dem „glücklichsten Lebenslauf' spricht. Weil das so erstaunlich expandierte Leiden die Möglichkeit von Glück fast aufzuheben scheint, erhält solches größtmögliche Glück den Status äußerster Reduktion. Liegt danach ausgerechnet in der unvermeidlichen Unermüdlichkeit einer Sisyphosarbeit des Willens ein (innerhalb seiner verengten Grenzen) nicht mehr potenzierbarer Genuß? Ist der Mensch im Zuge eines möglichst ausgewogenen Wechsels zwischen Wunsch und Befriedigung auf sein Streben als „unlöschbaren Durst" 20 also einerseits partiell angewiesen, obwohl er doch andererseits an dem damit verknüpften Gefühl schmerzlichen Mangels leidet?

19

WWV I S. 430. Auch in diesem Sinne läßt sich Schopenhauers Auffassung interpretieren: „Die unaufhörlichen Bemühungen, das Leiden zu verbannen, leisten nichts weiter, als daß es seine Gestalt verändert" (WWV I S. 432). 2n WWV I S. 427.

§ 8. Erfolg als Mißerfolg

135

V. Trotz der beschriebenen Opposition scheint Schopenhauer besonderes Gewicht auf die Vermittlung der gegensätzlichen Tendenzen zu legen, erblickt er doch das „Wesen des Menschen" in kontinuierlicher Abfolge von Streben und Befriedigtwerden des Willens. 21 Ja, mehr noch: Den wünschenswerten Zustand einer gewissen „Heiterkeit, wenigstens Gelassenheit" 22 gewährleistet nicht schon der Erfolg voluntativen Strebens allein. Vielmehr setzt Schopenhauer für dieses relative Optimum in der schlechtesten aller möglichen Welten 23 mit ihrem allzu begrenzten Glücksreservoir erstaunlicherweise sogar ein harmonisches Verhältnis von „Gelingen" und „Mißlingen" voraus. 24 Dem Ursprung dieser überraschenden Dualität, die lediglich eine Variante darstellt zur eigentümlichen, auf Streben und Erreichen gerichteten Doppelbedürftigkeit des Willens, gilt es im folgenden auf die Spur zu kommen. Erforderlich ist dafür eine Erhellung der auffällig positiven Konnotation solchen Mißlingens, das im Verein mit supplementärem Gelingen erst den eigentlichen Erfolg ermöglicht: die kuriose Synthesis von Harmonie und Disharmonie zu einer Harmonie höherer Stufe, in der ein ausgewogenes Wechselspiel beider Opponenten sich vollzieht.

VI. Eine aufschlußreiche Ergänzung zum Problemverständnis bietet der Kontext jener Aussage, die weiter oben die Problematisierung einleitete: Innerhalb einer Reihe von Beispielen, die zur Veranschaulichung seiner Theorie des Erhabenen 25 dienen sollen, beschreibt Schopenhauer „eine sehr einsame Gegend" 26 , ohne Tiere, Menschen, bewegte Gewässer. Sie erhält seines Erachtens Vgl. W W V I S. 362. 22 W W V I S. 449. 2 3 Vgl. W W V II S. 747. 2 4 Ausführlich lautet die Textstelle in W W V I S. 449 folgendermaßen: „So ist das Leben fast aller Menschen: sie wollen, wissen, was sie wollen, streben danach mit so vielem Gelingen, als sie vor Verzweiflung, und so vielem Mißlingen, als sie vor Langerweile und deren Folgen schützt". Gelingen und Mißlingen relativieren sich hier gegenseitig; ihre Gemeinsamkeit besteht in ihrer Ambivalenz. 21

25

Grundlegend für Schopenhauers Theorie des Erhabenen (vgl. W W V I S. 2 8 6 - 296) ist der „Kontrast" zwischen „Ruhe und Allgenugsamkeit" ästhetischer Erkenntnis und der „Erinnerung an die Abhängigkeit und Armseligkeit des eines steten Treibens bedürftigen Willens" ( W W V I S. 290). Vgl. § 20 der vorliegenden Abhandlung.

26 WWV ι s. 289.

136

Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Wiliensphilosophie

„einen Anstrich des Erhabenen", indem sie „wie ein Aufruf zum Ernst, zur Kontemplation, mit Losreißung von allem Wollen und dessen Dürftigkeit" ist. 27 „Denn weil sie für den des steten Strebens und Erreichens bedürftigen Willen keine [!] Objekte darbietet, weder günstige noch ungünstige [!], so bleibt nur der Zustand der reinen Kontemplation übrig, und wer dieser nicht fähig ist, wird der Leere des nichtbeschäftigten Willens [...] preisgegeben". 28 Auffällig ist in diesem Zitat der Status der Objekte. Einerseits scheinen in der Opposition zwischen günstigen und ungünstigen Objekten wenigstens Rudimente einer überzeugenden Konzeption des Wollens angelegt zu sein; dabei versucht ein Subjekt, Bedürfnisse üblichen Zuschnitts zu befriedigen, indem es nützliche Objekte sich aneignet und verwendet, ungeeignete oder schädliche hingegen verschmäht oder gar abwehrt. Andererseits ist dieser Kontrast jedoch bloß sekundär. Überlagert und dominiert wird er nämlich durch den fundamentaleren Gegensatz zwischen Präsenz und Absenz von Objekten überhaupt. Keine Objekte zu haben: dies bedeutet für den bedürftigen Willen eine gesteigerte Ungünstigkeit, die ihm Aussicht weder auf die Befriedigung von Normalbedürfnissen noch auf die Verwirklichung voluntativen Bewegungsdrangs eröffnet. An positiven Impulsen fehlt es ihm dabei sowohl für sein Streben als auch für sein Erreichen: nicht vorhandene Objekte haben eben evidenterweise auch nichts zu bieten. Im Unterschied dazu stellen sich die von Schopenhauer sogenannten ,ungünstigen' Objekte offenbar als nur relativ ungünstig heraus, — relativierbar nämlich durch einen Umschlag in relative Günstigkeit unter anderem Aspekt: sofern sie eben trotz beziehungsweise gerade wegen ihrer Ungünstigkeit (im Sinne einer Ungeeignetheit zu ,normaler' Bedürfnisbefriedigung) immerhin dazu prädestiniert sind, der Willensbewegung Vorschub zu leisten, also das voluntative Bedürfnis nach ,stetem Streben' zu befriedigen. Genau umgekehrt verhält es sich wohl im Falle der sogenannten ,günstigen' Objekte: Zur Bedürfnisbefriedigung üblichen Zuschnitts geeignet, behindern sie zugleich die Entfaltung voluntativen Bewegungsstrebens und erweisen sich insofern als ungünstig. Die jeweilige Ambivalenz von Günstigkeit und Ungünstigkeit solcher Objekte erhellt erst aus entsprechendem Perspektivwechsel. In ihm stellt sich das Statisch-Definitive der Epitheta ,günstig' und ,ungün27 w w v I S. 290. 28 w w v I S. 290. Eine für den vorliegenden Argumentationskontext aufschlußreiche ( — d a mit einem neuen Akzent ausgestattete —) Variante bietet Schopenhauers Vorlesung zur „Metaphysik des Schönen", S. 104: „Die tiefste Stille und Einsamkeit in einem weiten Raum hat schon etwas Erhabenes: weil sie dem Willen dadurch ungünstig [!] ist, daß sie ihm überhaupt keine [!] Objekte darbietet". P a s Analogon zu W W V I S. 290 findet sich a. a. O. S. 105.)

§ 8. Erfolg als Mißerfolg

137

stig' als irreführend heraus. Denn solche vermeintliche Eindeutigkeit löst sich bei verändertem Standpunkt sogleich in die Dynamik einer jeweils perspektivbedingten Wertigkeit auf. Die Opposition von Günstigkeit und Ungünstigkeit der Objekte suggeriert eine entschiedene Abgrenzung, wo — unter der Prämisse der beschriebenen Doppelbedürftigkeit des Willens — vorrangig Perspektivismus regiert. Im Unterschied zu dieser ambivalenten Wertigkeit in Gestalt relativer Günstigkeit und Ungünstigkeit bleibt die absolute Ungünstigkeit fehlender Objekte von jeglicher Zweideutigkeit frei. In gänzlichem Mangel an Objekten besteht also eine besonders problematische Konstellation für den Willen. Verglichen mit ihr muß eine Situation, in der immerhin ungünstige Objekte noch vorhanden sind, dem Willen zumindest,halbwegs' willkommen erscheinen. Denn derartige Semi-Negativität hat in der Perspektive des bewegungsbedürftigen Willens den Stellenwert einer Semi-Positivität, die ihm wenigstens die (für ihn doch so wichtige) Perpetuierung seines Strebens ermöglicht (— und sei es auch nur in Gestalt eines Strebens, das sich darin erschöpft, Abwehr schädigender Einflüsse zu sein). Eine weitreichende Analogie weisen sogenannte ,günstige' und ungünstige' Objekte offenbar insofern auf, als beiderlei Objekte jeweils über eine positive und eine negative Komponente verfügen. Gemäß Schopenhauers Postulat eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Gelingen und Mißlingen müßte also eine harmonische Kombination von günstigen mit ungünstigen Objekten den Willen am ehesten in einen erträglichen, also schmerzarmen Zustand versetzen können. In der Tat scheint dem Willen mit einer derartigen Balance von Gelingen und Mißlingen am meisten gedient zu sein. Tritt nämlich der Erfolg im Ubermaß auf, so droht laut Schopenhauer ein spezifisches Defizit: Fehlt es dem Willen „an Objekten [...], indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich wieder wegnimmt; so befällt ihn furchtbare Leere [,..]". 2 9 Offensichtlich zählt für den Willen auch das Mißlingen mit zu den Bedingungen, die zur Sicherstellung seines relativen Wohlbefindens erfüllt sein müssen, hilft ihm solcher Mißerfolg doch vorab, die Nachteile zu kompensieren, die ihm gewissermaßen aus ,allzu geglücktem' Gelingen erwachsen müßten. Spätestens hier ist nun durch eine weitere überraschende These endlich der Punkt erreicht, an dem das Erfordernis, Schopenhauers eigentliches Motiv zu exponieren, geradezu zwingend wird. Das letzte Zitat gibt bereits die Richtung des weiteren Gedankenganges vor. Er soll nun den Ursprung der entfalteten Problematik erhellen. 29 v r o v

I S. 4 2 8 .

§ 9. Sirenengesang zwischen Skylla und Charybdis: Die Plazierung ästhetischen Glücks zwischen Sorge und Langeweile I.

Offenbar durch eine Art von horror vacui veranlaßt, stellt Schopenhauer innerhalb seiner Willenstheorie dem Komplex von Sorge, Leiden, Schmerz als der grundlegenden conditio humana einen, wie er glaubt, systematisch gleichgewichtigen Faktor gegenüber: die Langeweile! Sie, die realistischer wohl eher als bloßes Epiphänomen einzustufen wäre und folglich den ihr angemessenen Platz eher an der Peripherie1 als im Zentrum einer Willenstheorie fände, gelangt somit in der Philosophie Schopenhauers zu unerwarteten ,Ehren', geht er doch tatsächlich so weit, das Menschenleben überhaupt zu vergleichen mit einem Pendel, das hin und her schwingt „zwischen dem Schmerz und der Langenweile, welche beide in der Tat dessen letzte Bestandteile sind". 2 Das folgende Zitat zeigt den besagten horror vacui bereits in actu, mithin als Produzent einer spezifischen Problematik: „glücklich genug", meint Schopenhauer, „wenn noch etwas zu wünschen und zu streben übrigblieb, damit das Spiel des steten Überganges vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch, dessen rascher Gang Glück, der langsame Leiden 1

Vgl. dazu übrigens einen (wenn auch singulären) Ansatz bei Schopenhauer selbst: In P P II S. 336 exponiert er „die zwei einfachen Triebfedern, Hunger und Geschlechtstrieb, denen allenfalls nur noch die Langeweile ein wenig nachhilft". 2 WWV I S. 428. Vgl. ferner WWV I S. 432: „zwischen Schmerz und Langerweile wird jedes Menschenleben hin und her geworfen"; sie sind „die beiden Feinde des menschlichen Glükkes" (PP I S. 392). In PP II S. 348 bezeichnet Schopenhauer „ N o t und Langeweile" als „die beiden Pole des Menschenlebens"; analoge Aussagen finden sich in WWV II S. 766, P P II S. 694. Weitere Textstellen: WWV I S. 429, WWV II S. 464, PP I S. 4 0 3 - 4 0 5 , PP II S. 338 - 339, 344, 347. Eine interessante Variante zur Pendelbewegung von WWV I S. 428 findet sich in WWV II S. 465: „Und wie mit dem Ausharren im Leben, so ist es auch mit dem Treiben und der Bewegung desselben. Diese ist nicht etwas irgend frei Erwähltes: sondern während eigentlich jeder gern ruhen möchte, sind N o t und Langeweile die Peitschen, welche die Bewegung der Kreisel unterhalten".

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

heißt, unterhalten werde und nicht in jenes Stocken gerate, das sich als furchtbare, lebenserstarrende Langeweile, mattes Sehnen ohne bestimmtes Objekt, ertötender languor zeigt".3 Das Vakuum einer durch Befriedigung vorübergehend objektlos gewordenen Welt, in der das Subjekt vollends auf sich selbst zurückgeworfen ist, kennzeichnet nach Schopenhauer also den Zustand der Langeweile. Verschiedentlich stilisiert er sie zu einer ebenso furchterregenden Daseinsdeterminante wie das Ausgeliefertsein des Menschen an den durch vielfältige Bedürfnisse bestimmten, leidensvollen Mangelzustand, aus dem das Streben allererst entspringt. Schopenhauers pessimistische Uberzeugung, das Menschenleben sei „schon der ganzen Anlage nach keiner wahren Glückseligkeit fähig, sondern wesentlich ein vielgestaltetes Leiden und ein durchweg unseliger Zustand"4, dem „gänzliches Nichtsein [...] entschieden vorzuziehn wäre" 5 : diese Auffassung wird folgendermaßen konkretisiert: „Zwischen Wollen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben fort. Der Wunsch ist seiner Natur nach Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfnis wieder ein: wo nicht, so folgt Ode, Leere, Langeweile, gegen welche der Kampf ebenso [!] quälend ist wie gegen die Not". 6 Geradezu aporetisch 7 erscheint diese mit düsteren Farben ausgemalte Grundkonstellation, gestaltet sie sich doch als ein aus doppelter Bedürftigkeit 8 entspringender endloser Zweifrontenkrieg, in dem sich der 3 4 5 6

7

8

WWV I S. 241. WWV I S. 443. Vgl. auch Schopenhauers These, daß „alles Leben Leiden" (WWV I S. 426), „jede Lebensgeschichte eine Leidensgeschichte" (WWV I S. 444) ist. WWV I S. 445. WWV I S. 430. (Ahnlich S. 439.) Besitz erweist sich in diesem Sinne zugleich als Verlust. Die Langeweile zeigt nach Schopenhauer die „Gehaklosigkeit und Nichtigkeit" des Daseins, dessen „gänzliche Kahlheit und Leere"; dazu ausführlicher: PP II S. 338 — 339. Dafür spricht u. a. die plastisch-drastische Eindringlichkeit mehrerer von Schopenhauer metaphorisch eingesetzter Mythologeme, die zum Sinnbild schlechthinniger Vergeblichkeit menschlichen Strebens werden: Im Rahmen seiner Ästhetik kontrastiert er die Willenssphäre mit der willenlos-sorgenfreien Ruhe ästhetischer Kontemplation: „So liegt das Subjekt des Wollens beständig auf dem drehenden Rade des Ixion, schöpft immer im Siebe der Danaiden, ist der ewig schmachtende Tantalus" (WWV I S. 280). Vgl. außerdem WWV I S. 437: Dort beschreibt Schopenhauer im Anschluß an die Erkenntnis, „daß das Leiden dem Leben wesendich ist" (WWV I S. 436), die übliche Uneinsichtigkeit: „Denn unermüdlich streben wir von Wunsch zu Wunsch" und sehen, obwohl keine Wunscherfüllung uns je befriedigt, „doch nicht ein, daß wir mit dem Faß der Danaiden schöpfen; sondern eilen zu immer neuen Wünschen". Vgl. außer der behandelten These vom „des steten Strebens und Erreichens bedürftigen Willen" (WWV I S. 290) auch WWV I S. 443, wo Schopenhauer Superstitionen, Verehrung von Göttern, Dämonen und Heiligen als den „Ausdruck und das Symptom der doppelten

§ 9. Sirenengesang zwischen Skylla und Charybdis

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Mensch seiner beiden (nach Schopenhauers Auffassung offenbar annähernd gleichstarken) Gegner trotz äußerster Anstrengung kaum zu erwehren vermag. Wenn Schopenhauer sowohl Wunsch als auch Befriedigung mit Leiden verbunden sieht9, wenn nach seiner Uberzeugung das Menschenleben sich als eine Pendelbewegung zwischen dem mit ungestilltem Bedürfnis verbundenen Schmerz einerseits und der Langeweile als dem Sonderfall eines aus erzielter Befriedigung resultierenden Leidens andererseits10 vollzieht, dann scheint für dergleichen wie Glück kein Platz mehr zur Verfügung zu stehen. Bleibt also keine andere Möglichkeit, als eine bloße Reduktionsform von Glück in der perpetuierüchen Bewegung selbst anzusiedeln? Genau diesen Denkweg beschreitet Schopenhauer tatsächlich. Denn „Glück und Wohlsein" des Menschen sieht er nur darin, „daß jener Ubergang vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch rasch vorwärtsgeht, da das Ausbleiben der Befriedigung Leiden, das des neuen Wunsches leeres Sehnen, languor, Langeweile ist". 11 Wenn Schopenhauer hier und anderenorts Glück allein durch eine Akzeleration der Abfolge von Wunsch und Befriedigung gewährleistet sieht, dann besteht gegenüber dem Leiden als langsamerem Wechsel der beiden Faktoren keine qualitativ-absolute, sondern lediglich eine quantitativ-graduelle Differenz. Indem die Glückschance zu einer Angelegenheit des Tempos wird, tritt die Beschränktheit solchen Glücks deutlich hervor. Eines schwierigen Balanceaktes also beBedürftigkeit des Menschen teils nach Hülfe und Beistand und teils nach Beschäftigung und Kurzweil" bezeichnet. 9 Vgl. WWV I S. 430. Dieser Verknüpfung entspricht eine Textstelle in W W V I S. 432: Dort stellt Schopenhauer „Mangel, Not, Sorge" einerseits und Uberdruß, Langeweile andererseits als Gestalten von Leiden oder Schmerz einander gegenüber. In W W V I S. 438 subsumiert er Leiden, Wunsch und Langeweile unter Schmerz oder Not. 1 0 Vgl. W W V I S. 428. 11 W W V I S. 362 — 363. (Parenthetisch sei darauf hingewiesen, daß sich diese Textstelle nicht zufällig im Kontext von Schopenhauers Musikästhetik findet. Ihren Status als unmittelbares „Abbild des Willens selbst" (S. 366) zeigt die Musik durch ediche Analoga zur Willens Sphäre, u. a. auch zur Langeweile. Vgl. W W V I S. 363, 440, W W V II S. 585 und dazu ausführlich § 18 der vorliegenden Abhandlung.) Auch in W W V I S. 241 bestimmt Schopenhauer Glück als raschen Wechsel zwischen den Polen Wunsch und Befriedigung. Gemäß W W V I S. 362 — 363 und S. 241 scheint das Glück sich genau proportional zur Akzeleration dieser Ubergänge zu steigern. Dieser Maximierungsstrategie tritt allerdings in WWV I S. 430 ein moderateres Konzept gegenüber: „Daß Wunsch und Befriedigung sich ohne zu kurze und ohne zu lange Zwischenräume folgen, verkleinert das Leiden, welches beide geben, zum geringsten Maße und macht den glücklichsten Lebenslauf aus". Hier scheinen im Unterschied zu den beiden anderen Stellen nicht nur zu lange, sondern auch zu kurze Abstände das Leiden zu vergrößern und dem Glück mithin abträglich zu sein. Eine Balance beider Komponenten bei optimalem (nicht maximalem) Tempo macht dann aber vermutlich ein noch schwierigeres Austarieren erforderlich.

142

Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

darf es, um unter diesen wenig hoffnungserweckenden und an günstigen Aussichten armen Umständen „den glücklichsten Lebenslauf 1 1 2 zu erreichen, dessen superlativischen Status man sich kaum hinreichend reduziert vorstellen kann. Da „dieser Existenz selbst das Leiden wesentlich und wahre Befriedigung unmöglich" 13 ist, muß sich der Mensch innerhalb der Willenssphäre nach Schopenhauers Auffassung mit dem bescheidenen Glück zufriedengeben, das ihm aus einer Minimierung der sowohl mit Wunsch als auch mit Befriedigung verbundenen Leiden erwächst. Wenn Glück — entgegen außerphilosophischem Alltagsverständnis — nicht bereits durch Bedürfnisbefriedigung, durch Wunscherfüllung gewährleistet ist, sondern stattdessen allenfalls in raschem Alternieren von Wunsch und seiner Erfüllung, von Bedürfnis und seiner Befriedigung eintritt, dann wird die absurd anmutende Eigentümlichkeit eines Willens, der „des steten Strebens und Erreichens" 14 in ausgewogenem Verhältnis bedarf, in ihrer Genese transparent. Und zwar genau in dem Maße, wie die Einsicht in die ungewöhnlich große systematische Bedeutung der Langeweile in Schopenhauers Willenstheorie gelingt. In einer wohl schwerlich noch realistisch zu nennenden Weise veranlaßt ihn offenbar der beschriebene horror vacui dazu, die erzielte Wunscherfüllung dergestalt zu problematisieren, daß der positive Status, den sie als Aufhebung von Leiden erhält, sich zusehends in eine Ambivalenz auflöst, und zwar angesichts der allgegenwärtigen latenten Bedrohung des Subjekts durch eine mögliche Objektlosigkeit der Welt. Die positiven Konnotationen von Befriedigung als Wunscherfüllung, die negativen Implikationen von Bedürfnis oder Wunsch als Schmerz und Leiden werden in Frage gestellt, indem die vermeintliche Eindeutigkeit solcher Bewertungen umschlägt in doppelseitige Relativierungen in Gestalt eines Perspektivismus. Einem offenkundig zum Postulat geronnenen πάντα- ρεΐ-Prinzip, das sich unverkennbar auch in der Wesensbestimmung des Willens als „ewiges Werden, endloser Fluß" 15 manife12 WWV I s. 430. WWV I S. 437. Den Nachweis „des im Wesen des Lebens begründeten unumgänglichen Leidens" glaubt Schopenhauer „a priori" geführt zu haben (WWV I S. 444). 14 W W V I S. 290. 1 5 WWV I S. 240. Vgl. ergänzend Schopenhauers Aussage, das menschliche Dasein habe „wesentlich die beständige Bewegung zur Form, ohne Möglichkeit der von uns stets angestrebten Ruhe" (PP II S. 335). Der Bedeutungshorizont dieses Zitats ist komplexer, als der unmittelbare Kontext zunächst vermuten läßt. Aus ihm geht nämlich nur hervor, daß Schopenhauer „Unruhe" als „Typus des Daseins" insofern begreift, als es „keinen Grund und Boden [hat], darauf es fußte, als die dahinschwindende Gegenwart" (PP II S. 335). Die prozessuale Daseinsdynamik gemäß dem ττάντα-ρεΤ-Prinzip vollzieht sich darüber hinaus aber wesendich auch als fortwährendes Alternieren von Wunsch und Befriedigung, von Streben und Erreichen. 13

§ 9. Sirenengesang zwischen Skylla und Charybdis

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stiert, scheint die Plausibilität von Schopenhauers Willenstheorie teilweise zum Opfer zu fallen. Denn erst auf der Basis dieser -ττάντα-ρεΐ-Maxime läßt sich ein „Stocken" 16 der Willensbewegung zu jenem Feind aufbauen, gegen den angeblich „der Kampf ebenso quälend ist wie gegen die Not". 17 Nur im Rahmen dieser Konzeption schließlich vermag man die hyperbolisch anmutende Befürchtung Schopenhauers wenigstens ansatzweise nachzuvollziehen (— wenn auch nicht deshalb schon zu teilen —), dem Menschen könne es „an Objekten des Wollens" fehlen, „indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich wieder wegnimmt". 18 Gerade solche als Objekt-,Räuber' negativ konnotierte Befriedigung betrachtet Schopenhauer als Ursprung der Langeweile, bei der sich die dynamische Willensbewegung in eine als bedrückend empfundene Stagnation auflöst. Insgesamt also scheint allein die perpetuierliche Willensbewegung als Prophylaktikum geeignet zu sein, um Sorge ebenso wie Langeweile auf das unumgängliche Minimum zu beschränken.

II. Die Dualität von Sorge und Langeweile sprengt Schopenhauer allerdings dort, wo er diese Alternative durch ästhetische Erkenntnis als zusätzlichen Faktor zu einer Trias erweitert: „drei Extreme" betrachtet Schopenhauer „als Elemente des wirklichen Menschenlebens": erstens „das gewaltige Wollen, die großen Leidenschaften", „zweitens das reine Erkennen, das Auffassen der Ideen, bedingt durch Befreiung der Erkenntnis vom Dienste des Wil! WWV

I S. 226. I S. 259. II S. 473. I S. 257. I S. 283.

§ 1 0 . Ästhetische Ataraxie als Therapeutikum für den Willen?

155

Die „reine Objektivität der Anschauung", die dem ästhetischen Subjekt einen Zugang zur Ideenerkenntnis eröffnet, ist laut Schopenhauer „dadurch bedingt, daß man nicht mehr seiner selbst, sondern allein der angeschauten Gegenstände sich bewußt ist, das eigene Bewußtsein also bloß als der Träger der objektiven Existenz jener Gegenstände" übrigbleibt. 37 Zwar mag man zunächst geneigt sein, diese Aussage lediglich als eine hyperbolische Formulierung Schopenhauers zu bewerten. Analoge Textbelege jedoch geben Anlaß dazu, den Begriff ,Träger' durchaus versuchsweise ontologisch ernstzunehmen. Im Hintergrund der Überlegung steht dabei jenes bekannte ontologische Theorem, daß Dinge als Träger von Eigenschaften prinzipiell über eine duale Struktur verfügen. Offenbar mehr als eine harmlose Zufallsformulierung darstellend, verrät das obige Zitat bereits eine reduktionistische Tendenz. Denn die korrelative Dualität von Subjekt und Objekt, die auch für ästhetische Einstellung — wenngleich mit spezifischen Modifikationen — vorauszusetzen ist, droht hier umzuschlagen in den Monismus einer lediglich intern noch durch eine duale Struktur gekennzeichneten Ding-Einheit. Sofern man das Wagnis eingeht, Schopenhauers These vom SubjektBewußtsein als bloßem „Träger" von Objekten versuchsweise einmal ontologisch wörtlich 38 zu nehmen, tritt in ihr ein — seiner Genese nach - äußerst ungewöhnliches Ding hervor. In seiner dualen Substanz-Akzidenz-Struktur findet sich dann nur noch ein schwacher Abglanz dessen, was sich zuvor als Dualität einer Subjekt-Objekt-Korrelation präsentierte. Führt man dieses spielerische Gedankenexperiment fort, so sind zunächst die Implikationen eines derartigen Ding-Monismus zu beleuchten: Damit das Bewußtsein des ästhetischen Subjekts als „Träger" in ontologischem Sinne überhaupt in Anspruch genommen werden kann, bedarf es einer — unstatthaften — Reduktion des ästhetischen Objekts um seine Substanz. Infolgedessen wird ein solcher Gegenstand — qua Absenz seines Hypokeimenon — zu einem bloß Akzidentellen, erhält mithin den Status ontologischer Unselbständigkeit. Die ontologische Reduktion betrifft allerdings nicht nur das Objekt, sondern auch das Subjekt: Es büßt alles Akzidentelle ein, so daß es als pure 37

W W V II S. 476.

38

Wohlgemerkt: In diesem Versuch, Schopenhauers Formulierungen einmal in äußerster K o n sequenz wördich zu nehmen, wird selbstverständlich nicht unterstellt, Schopenhauer hätte das ontologische .Zauberkunststück', das im folgenden vorgeführt werden soll, auch tatsächlich in dieser Form postuliert und für realisierbar gehalten. Vielmehr kommt es hier auf eine — in letzter Instanz sprachkritische — Demonstration der Schwierigkeiten an, die sich bei präziser, wortgetreuer Lektüre ergeben.

156

Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Substanz, als bloßer Träger ebenfalls unvollständig ist, wenngleich — anders als das Objekt — nicht in Gestalt ontologischer Unselbständigkeit qua Akzidenz. Das Subjekt als Substanz und das Objekt als Akzidenz stehen sodann als die beiden Reduktionsresultate zur Verfügung. Sie verbinden sich zu jenem dubiosen Konstrukt, das aufgrund seiner erzwungenen Einheit als eo ipso dual strukturiertes Ding zwar ontologisch wieder Vollständigkeit erlangt, allerdings in problematischer Weise und unter Preisgabe der plausiblen Dualität von Subjekt und Objekt. Diesem ontologischen ,Zauberkunststück' scheint sich auf selten des Subjekts zunächst ein Hindernis entgegenzustellen. Denn Schopenhauer vertritt — ebenfalls in ontologischer Terminologie — die Auffassung: „der Wille ist die Substanz des Menschen, der Intellekt das Akzidenz". 39 Schwierigkeiten bereitet diese These insofern, als der beschriebene kuriose Syntheseakt ein komplementäres Verhältnis zwischen den beiden Faktoren Subjekt und Objekt voraussetzt, das hier allerdings nicht gewährleistet zu sein scheint. Denn als passende Ergänzung zum akzidentellen Status des Objekts wäre in Gestalt des Intellekts auf der Subjektseite eine substantielle Komponente erforderlich. Schopenhauers Postulat ästhetischer Willenlosigkeit jedoch beinhaltet gerade die Elimination des individuellen Willens als der Substanz. Mithin stellt sich die Frage, was mit der entstandenen Duplizität des Akzidentellen anzufangen ist, das ja zweifach, nämlich sowohl in Form des rudimentären Objekts als auch in Gestalt des ästhetischen Intellekts auftaucht. Ohne eine passende Substanz jedenfalls läßt sich das Zauberkunststück' einer Synthese von reduziertem Subjekt und reduziertem Objekt zu einem zutiefst heterogenen Quasi-Ding als Pseudo-Einheit wohl schwerlich bewerkstelligen. Vorangehen müßte solcher Synthesis ein ,Bäumchenwechsele-dich'-Spiel, in dem das vormals Akzidentelle des Intellekts verwandelt wird in Substanz, die sich dann mit dem Akzidenz-Objekt als dem gleichsam konträr geladenen Pol verbinden kann. Und tatsächlich scheint Schopenhauer mit seinem Postulat der Willenlosigkeit einen Schritt in diese eigentümliche Richtung zu tun. Die Seltenheit des ästhetischen Zustands nämlich führt Schopenhauer darauf zurück, daß in ihm „gleichsam das Akzidenz (der Intellekt) die Substanz (den Willen) bemeistert und aufhebt, wenngleich nur auf eine kurze Weile". 40 Tendenziell erweckt dieses Zitat den Eindruck, hier werde gleichsam ein ontologisches Wunder inszeniert, läßt sich doch aus einer Aufhebung des rein akzidentellen 39 W W V II S. 259. ParallelsteUen: W W V II S. 264, 660, 824; PP II S. 58, 116. 40 w w v II S. 476.

§ 1 0 . Ästhetische Ataraxie als Therapeutikum für den Willen?

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Status und der Willensdependenz des Intellekts allein noch nicht seine neue, überraschende Fähigkeit zu zeitweiliger ,Bemeisterung' des Willens erklären. Dazu wäre weitaus mehr erforderlich als der akzidentell-unselbständige Status des Intellekts: nämlich eine spezifisch ästhetische Aktivität, die man im vorliegenden Zusammenhang als Indiz für einen veränderten Zustand im Sinne einer Quasi-Substantialität deuten könnte. 41 Angesichts dieser Gegebenheiten können wir das vorgeführte ontologische Mirakelspiel mühelos noch um ein oder zwei Akte erweitern: Man vergegenwärtige sich einmal die Konsequenzen, die derlei ontologische Turbulenzen für das menschliche Subjekt mit sich bringen müßten, sobald es von einer voluntativ bestimmten Konstellation in ästhetische Einstellung wechselt, von dieser wieder zurück in die voluntative Sphäre und so fort: Es müßte damit jeweils ein Wechsel von Substanz und Akzidenz in der Weise einhergehen, daß der Substanz-Wille aufgehoben wird, der bloße Akzidenz-Intellekt zum Substanz-Intellekt avanciert und sodann unter Beteiligung des AkzidenzObjekts ein dual strukturiertes Pseudo-Ding bildet, bis diese künstliche Einheit beim Zurücktreten aus ästhetischer Einstellung und gleichzeitigem Wiedereintritt in die voluntative Sphäre abermals zerfällt, der Wille gleichsam ex machina erneut auftaucht und seine alten Substanz-,Rechte' wieder einklagt et cetera. Das vorgeführte ontologische Mirakelspiel zeigt (auch wenn man für eine so obskure Inszenierung Schopenhauers Einverständnis nicht voraussetzen kann) recht anschaulich die Problematik, die mit dem Status des selbstvergessenen, ja geradezu selbst-losen oder ent-selbsteten ästhetischen Subjekts verbunden ist, von dem Schopenhauer auch behauptet, es sei „nicht mehr Individuum" 42 . Da die Möglichkeit, ästhetische Ataraxie als Therapeutikum für den Willen in Anspruch zu nehmen, von der Uberzeugungskraft der Ästhetik Schopenhauers insgesamt abhängig ist, schränkt die beschriebene SubjektObjekt-Problematik das therapeutische Potential ästhetischer Ataraxie noch weiter ein. Übrigens legt die Suggestion einer Verschmelzung von Subjekt und Objekt die Vermutung nahe, Schopenhauer deute hier geradezu symbiotische 41

42

Notwendige Voraussetzung dafür wäre allerdings, daß sich der Intellekt tatsächlich, wie Schopenhauer behauptet, vom Willen emanzipieren könnte. D e m steht aber als grundlegende Schwierigkeit die genetisch-funktionale Willensdependenz des Intellekts entgegen. Vgl. dazu bereits die Ausführungen in § 7, vor allem aber die abschließende Fokussierung dieser Problematik in § 12 dieser Arbeit. W W V I S. 257, 254.

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Zustände einer Ungeschiedenheit von Welt und Selbst an und antizipiere damit das Telos eines Nirwana, indem er ein Erlöschen der Individualität des Subjekts propädeutisch in Aussicht stelle.43

III. Die bei Schopenhauer mitunter bis zur Intensität einer Verschmelzung gesteigerte Subjekt-Objekt-Beziehung sowie der mit ihr verknüpfte Zustand von Harmonie und Wohlgefühl durch Schmerzlosigkeit werden partiell dort durchbrochen, wo er überraschenderweise Kontrast, Widerstreit, Duplizität des Bewußtseins Eingang sogar in die Sphäre ästhetischer Einstellung finden läßt. Diese Momente, deren grundsätzliche Zugehörigkeit zum leidensverhafteten Bereich perpetuierlicher Willensbewegung in Schopenhauers Konzeption bislang außer Frage zu stehen schien, erhebt er zu zentralen Konstituenten des lyrischen und des erhabenen Zustande, macht sie mithin zu Kriterien im Rahmen einer Binnendifferenzierung seiner Ästhetik. Die sowohl das Lyrische als auch das Erhabene kennzeichnenden Kontrastmomente seien zunächst einleitend mit prägnanten Zitaten knapp 44 erläutert: Nach Schopenhauer besteht der „volle Eindruck des Erhabenen" für das ästhetische Subjekt in einer „Duplizität seines Bewußtseins", in einem bewußtseinsimmanenten Gegensatz. Eine solche Ambivalenz erlebt ein Zuschauer, der „den Kampf der empörten Naturkräfte im Großen" vor sich sieht, beispielsweise ein vom Sturm aufgewühltes Meer: „er empfindet sich zugleich als Individuum, als hinfällige Willenserscheinung, die der geringste Schlag jener Kräfte zertrümmern kann, [...] ein verschwindendes Nichts ungeheuren Mächten gegenüber; und dabei nun zugleich als ewiges ruhiges Subjekt des Erkennens, welches als Bedingung des Objekts der Träger ebendieser ganzen Welt ist und der furchtbare Kampf der Natur nur seine Vorstellung, es selbst in ruhiger Auffassung der Ideen, frei und fremd allem Wollen

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Bekanntlich ist Schopenhauers Ethik nachhaltig von der indischen Philosophie geprägt und greift auch die buddhistische Nirwana-Vorstellung auf. Vgl. dazu vornehmlich jeweils das 4. Buch von W W V I und W W V II. — In einem instruktiven Aufsatz vertritt Reinhard Margreiter u. a. die These, „Schopenhauer markiert in der europäischen Philosophie das Ende des Eurozentrismus"; er „bezieht das indische Denken unmittelbar in sein eigenes ein. Es ist also keine äußerlich bleibende Adaptation". (Margreiter, Reinhard: Die achtfache Wurzel der Aktualität Schopenhauers. In: Schopenhauers Aktualität. Schopenhauer-Studien 1/2. Hrsg. von Wolfgang Schirmacher. Wien 1988. S. 15 — 36, darin S. 23.) Ausführlicher zum Erhabenen: § 20, zur Lyrik: § 19.

§10. Ästhetische Ataraxie als Therapeutikum für den Willen?

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und allen Nöten". 45 Das Charakteristikum des Dynamisch-Erhabenen wie des Mathematisch-Erhabenen 46 besteht also, wie Schopenhauer wenig später ausführt, im „Kontrast der Unbedeutsamkeit und Abhängigkeit unsers Selbst als Individuums, als Willenserscheinung, gegen das Bewußtsein unserer als reinen Subjekts des Erkennens". 47 Eine bewußtseinsimmanente Ambivalenz, die Spannung zwischen gegensätzlichen Komponenten, ist in anderer Weise auch für die lyrische Stimmung konstitutiv. Die „unerschütterliche, selige Ruhe" bei willenloser Naturbetrachtung steht einem affektgeladenen, freudigen oder traurigen Gemütszustand gegenüber 48 ; in der „Empfindung dieses Kontrastes, dieses Wechselspieles", in einem „so gemischten und geteilten Gemütszustande" aus Wollen und reinem Anschauen erblickt Schopenhauer das Spezifische des lyrischen Zustands. Im Gedicht kommt diese dynamische Ambivalenz zum Ausdruck. 49 Die Spannung, die in je spezifischer Weise sowohl den erhabenen als auch den lyrischen Zustand kennzeichnet, scheint im Hinblick auf die kalmierendbeglückende Willenlosigkeit ästhetischer Einstellung geradezu eine kontraproduktive Wirkung zu entfalten. Denn so wenig ist offenbar in Schopenhauers Konzeption des Erhabenen und des Lyrischen letztlich der Widerstreit des Willens überwunden, daß er selbst in diese Sonderbereiche des Ästhetischen noch eindringt. 45

tov I S. 291. Schopenhauer veranschaulicht in WWV I S. 2 8 9 - 2 9 3 seine Konzeption des Erhabenen mit mehreren lebendig geschilderten Beispielen. In der (mit didaktischer Zielsetzung verfaßten) MS (S. 1 0 4 - 1 1 1 ) steigert sich sogar noch die Plastizität ihrer Darstellung.

Die beiden Termini hat Schopenhauer von Kant übernommen. (Vgl. W W V I S. 292 und Kant: Kritik der Urteilskraft. Akademie-Ausgabe Bd. 5. S. 2 4 7 - 2 6 4 . ) 47 WWV ι s. 293. Vgl. auch S. 291: „In diesem Kontrast eben liegt das Gefühl des Erhabenen". 48 WWV I S. 349. Auf derselben Seite charakterisiert Schopenhauer die lyrische Gattung folgendermaßen: „Es ist das Subjekt des Willens, d. h. das eigene Wollen, was das Bewußtsein des Singenden füllt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen (Freude), wohl noch öfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als Affekt, Leidenschaft, bewegter Gemütszustand. Neben diesem jedoch und zugleich damit wird durch den Anblick der umgebenden Natur der Singende sich seiner bewußt als Subjekts des reinen willenlosen Erkennens, dessen unerschütterliche, selige Ruhe nunmehr in Kontrast tritt mit dem Drange des [...] Wollens: die Empfindung dieses Kontrastes, dieses Wechselspieles ist eigendich, was sich im Ganzen des Liedes ausspricht und was überhaupt den lyrischen Zustand ausmacht. In diesem tritt gleichsam das reine Erkennen zu uns heran, um uns vom Wollen und seinem Drange zu erlösen: wir folgen; doch nur auf Augenblicke: immer von neuem entreißt das Wollen, die Erinnerung an unsere persönliche[n] Zwecke uns der ruhigen Beschauung [...]; die subjektive Stimmung, die Affektion des Willens, teilt der angeschauten Umgebung und diese wiederum jener ihre Farbe im Reflex mit: von diesem ganzen so gemischten und geteilten Gemütszustande ist das echte Lied der Abdruck" (WWV I S. 349-350).

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Vgl. WWV I S. 3 4 9 - 3 5 0 . Die „Identität des Subjekts des Erkennens mit dem des Wollens" erscheint Schopenhauer angesichts so tiefgreifender Disparatheit rätselhaft, ja — wie er selbst formuliert — geradezu als „das Wunder κατ' εξοχήν" (WWV I S. 350).

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Erscheinen also Schopenhauers Darlegungen zum Lyrischen und zum Erhabenen auf der Folie seiner zentralen Ästhetik-Postulate inkonsequent? — Von therapeutischen Möglichkeiten des Ästhetischen, von Kalmierung des Willens und Nähe zur Ataraxie kann in diesen beiden Bereichen allenfalls partiell noch die Rede sein, präziser: genau zur Hälfte, da jeweils nur eine der beiden Komponenten durch Willenlosigkeit gekennzeichnet ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt tritt hervor, sobald man einen Perspektivwechsel vollzieht und Schopenhauers Ästhetik von einem übergeordneten Standpunkt aus betrachtet: Rekurriert man nämlich auf den Erkenntnisanspruch der Kunst, die laut Schopenhauer „die durch reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen, das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt" darstellt 50 , vergegenwärtigt man sich, daß Schopenhauer den einzigen Ursprung der Kunst in der „Erkenntnis der Ideen", „ihr einziges Ziel" in deren Mitteilung erblickt 51 , und berücksichtigt man schließlich seine Auffassung, als Konzentrat und „höhere Steigerung" der Realität, als „Spiegel des Willens" begleite die Kunst ihn „zu seiner Selbsterkenntnis, ja [...] zur Möglichkeit seiner Erlösung" 5 2 , so tritt eine grundlegende Problematik zutage: Ideenbezogener Erkenntnisanspruch und Glücksversprechen der Kunst geraten in ein konfliktträchtiges Konkurrenzverhältnis, das sich durch kritische Bezugnahme auf Schopenhauers Erkenntnis-Metaphern verdeutlichen läßt. Behauptet er beispielsweise, der vom Willensdienst befreite Erkenntnisüberschuß werde „zum willensreinen Subjekt, zum hellen Spiegel des Wesens der Welt" 53 , bleibe, aller Zwecke und Interessen ledig, als „klares Weltauge" 54 übrig, so drängen sich die folgenden Fragen auf: Erweckt nicht die beschriebene Konstellation den Eindruck, daß ein solches angeblich „klares Weltauge" eigentlich eher blicklos als sehend kontempliert, indem es gleichsam unter geschlossenen Lidern ästhetische Vorstellungen passieren läßt? Tritt nicht ein derartiges „klares Weltauge" geradezu in einer Art von (wenn auch reversibler) Blindheit der Realität gegenüber? Denn wie sonst wäre ein Zustand möglich, in dem ein vorgeblich zum ,klaren Weltauge' gewordenes Subjekt die Objektivationen des Willens, die eo ipso nichts anderes sind als Re-

50 WWV I S. 265. Vgl. auch WWV II S. 522: „Jedes Kunstwerk ist [...] bemüht, uns das Leben und die Dinge so zu zeigen, wie sie in Wahrheit sind, aber durch den Nebel objektiver und subjektiver Zufälligkeiten hindurch nicht von jedem unmittelbar erfaßt werden können. Diesen Nebel nimmt die Kunst hinweg."

si WWV I S. 265. 52 WWV I S. 371.

53 WWV I S. 266. Vgl. auch S. 352. 54 WWV I S. 266. Vgl. außerdem WWV I S. 282 und WWV II S. 479.

ξ 10. Ästhetische Ataraxie als Therapeutikum für den Willen?

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Präsentationen radikaler Selbstentzweiung des Willens mit sich, allen Ernstes als schön betrachtet? 55 Wie sollte ästhetische Kontemplation als Wesenserkenntnis von Wohlgefühl und Glücksempfindung, ja sogar von Seligkeit begleitet sein, ohne daß es sich bei ihr um eine fatale Selbsttäuschung 56 handelt? Erweist sich hier nicht ein unausgesprochenes Harmonieideal als überaus illusionsträchtig? Und verstärkt sich die Selbsttäuschung des im Genuß willensenthobener Wesensschau schwelgenden ästhetischen Subjekts nicht noch angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer zur Beschreibung der Selbstentzweiung des Willens im unaufhörlichen Kampf der individuellen Willensobjektivationen gegeneinander sogar den an plastisch-drastischer Ausdruckskraft kaum überbietbaren Begriff der ,Selbstzerfleischung' 57 wählt?

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Sehr treffend formuliert Walter Schulz aus einer ähnlichen Perspektive den folgenden Einwand gegen Schopenhauers Kunsttheorie: Die Kunst „zeigt das Seiende gerade nicht unter dem Aspekt der Negativität, sondern betrachtet es in der Einstellung des interesselosen Wohlgefallens unter dem objektiven Aspekt der Schönheit. Die Kunsterkenntnis ist offensichtlich paradox, insofern sie die Ideen als Manifestationen des Willens, der eo ipso immer entzweiter Wille und daher ein Widerspruch mit sich selbst ist, als schön deklariert. Im Extrem: stellte die Kunst Grauenvolles und Schreckliches dar, so müßte, so scheint es nach Schopenhauer, jedermann in ästhetischer Einstellung nicht affektiv, aber eben auch nicht resignativ reagieren, sondern das Dargestellte objektiv als schön empfinden". (Schulz, Walter: Die problematische Stellung der Kunst in Schopenhauers Philosophie. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Tübingen 1981. S. 403 — 415, darin S. 408.) — Bereits Georg Simmel formuliert die kritische Frage, inwieweit Schopenhauers Ästhetik mit seinem Pessimismus kompatibel ist: „Wie kann die reine und tiefe Erkenntnis der Dinge, die das Wesen der Kunst ist, uns beglücken, wenn das Erkannte selbst nichts als Qual ist?" (Simmel, Georg: Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus. 3. Aufl. München/Leipzig 1923. Darin S. 98.) Die Kunstlehre Schopenhauers exponiert Simmel als die „interessanteste, eindringendste, mit den Tatsachen der Kunst und des Kunstgenusses vertrauteste"; daß sie dennoch „dem Kunstgenuß seine Positivität und Autonomie prinzipiell vorenthält", ist seines Erachtens durch „die usurpatorische Energie des Pessimismus" bedingt (S. 105). Mit Bezug auf Ausführungen Simmeis stellt sich Friedhelm Decher die Frage, „ob Schopenhauers Konzeption der Idee nicht als grundsätzlich unverträglich mit dem zugrundeliegenden willensmetaphysischen Ansatz beurteilt werden muß." Decher begründet diese Überlegung zutreffend dadurch, „daß gegeneinander kämpfende Individuen und harmonisch aufeinander abgestimmte Gattungen (Ideen) gleichermaßen Erscheinungen des einen und selben Willens sind." (Decher, Friedhelm: Wille zum Leben — Wille zur Macht. Eine Untersuchung zu Schopenhauer und Nietzsche. Würzburg/Amsterdam 1984. S. 36.) Auf S. 96 — 97 greift Decher diese Problematik erneut auf und verwirft einen Lösungsvorschlag Schopenhauers (vgl. WWV I S. 237), der ihm konstruiert und unbefriedigend erscheint. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß Schopenhauer selbst die „Seligkeit des willenlosen Anschauens", die „über die Vergangenheit und Entfernung einen so wundersamen Zauber verbreitet [...], durch eine Selbsttäuschung" (!) entstehen sieht (WWV I S. 283). Vgl. ζ. B. WWV I S. 353, 484, 549.

162

Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Oder umgekehrt: Müßten nicht vielmehr Klarheit und Deutlichkeit der ästhetisch-kontemplativen Wesensschau, die Schopenhauer doch als Qualitätssignum willenloser Subjekte (vor allem der Genies) hervorhebt, Ursprung einer radikal-realistischen, vom trügerischen ,Schleier der Maja'58 befreiten Erkenntnis der Schrecklichkeit des Willens sein, der sich nach Schopenhauer als das An-sich der Welt unmittelbar in den Ideen und mittelbar in den individuellen Erscheinungen objektiviert? Unter dem Aspekt ästhetischer Erkenntnis erschiene sodann abgrundtiefe Verzweiflung59 adäquater als heiterunbeschwertes Wohlgefallen oder gar Glück in ästhetischer Einstellung. Erkenntnisfördernde Ent-täuschung und glücksverheißende Illusion stehen einander also diametral gegenüber. So weit sich Schopenhauer stellenweise von der Einsicht in die Schrecklichkeit des willensdurchwirkten Daseins entfernen mag: Seine Ästhetik bietet — trotz der behaupteten Seligkeit willenloser Kontemplation — auch Textbelege, die gerade eine realistische Erkenntnis des Wesens der Welt, in letzter Instanz also des Willens, zu einem Qualitätskriterium sui generis für Kunst avancieren lassen. Nirgendwo sonst tritt diese Einschätzung so deutlich her58

59

Vgl. ζ. B. WWV I S. 353, 392, 481, 498, 504, 507, 508, 542. Die Metapher .Schleier der Maja' hat Schopenhauer aus der indischen Philosophie entlehnt; er bezeichnet mit ihr das principium individuationis, das Täuschende der Erscheinungssphäre. Diese Richtung kritischer Argumentation schlägt auch Jochen Schmidt ein. In seiner „Geschichte des Genie-Gedankens", in der er profunde Einzelanalysen in einen umfassenden historischen Horizont stellt, hat Jochen Schmidt auch Schopenhauer ein Kapitel gewidmet. Auf S. 473 betont Schmidt: „das Genie, welches sich durch seine Fähigkeit zur GesamtAnschauung auszeichnet, in der diese Objektivation [sc. des Willens] stattfindet, dürfte demnach in seiner Schau nur das ungeheure Schauspiel der Unseligkeit innewerden, welches das Wesen der Welt ausmacht. Dies könnte nichts Befreiendes für das Genie haben. Im Gegenteil, es müßte zur Verzweiflung und zum Pessimismus führen. Gerade diese Konsequenz aber macht Schopenhauer nicht sichtbar, wo er vom Genie handelt. Zwar folgt er ihr selbst im Duktus seines Buches, indem er von der Warte einer solchen genialen Universal-Kontemplation das Wesen der Welt als Sphäre des unseligen „Willens" interpretiert und aus dieser Interpretation eine pessimistische Lebensverneinung ableitet. Wenn er aber vom Genie und der Kunst spricht, vernachlässigt er den schnöden Inhalt der genialen Gesamt-Wahrnehmung und hält sich ausschließlich an die abstrakte Erlebnis-Form". (Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. 2 Bände. Darmstadt 1985. Band 1: S. 4 6 7 - 4 7 6 , darin S. 473.) - Christoph Oehler hingegen bringt in einer allzu glatten Formulierung Disparates in eine unangemessene Affinität, indem er mit Bezug auf die „Selbsterfahrung des Menschen als Wille" in Schopenhauers Konzeption behauptet: „um eben dessen Beschwichtigung, ja Versöhnung mit sich selbst, in der Widerspiegelung seiner Entzweiung mit sich selbst im Kunstwerk, kraft der ästhetischen Kontemplation, geht es ja." Die eigentliche Problematik wird an dieser Stelle kaschiert statt thematisiert. (Oehler, Christoph: Schopenhauers und Nietzsches Ästhetik als Ausgangspunkt des modernen Irrationalismus? In: Schopenhauer-Jahrbuch 65 (1984) S. 80 — 90, darin S. 82.)

§ 1 0 . Ästhetische Ataraxie als Therapeutikum für den Willen?

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vor wie in Schopenhauers Ausführungen zum Trauerspiel: In der „Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens" besteht seines Erachtens „der Zweck dieser höchsten poetischen Leistung". 60 Das Trauerspiel, das den „Widerstreit des Willens mit sich selbst [...] auf der höchsten Stufe seiner Objektität am vollständigsten entfaltet", macht ihn am „Leiden der Menschheit [...] sichtbar". 61 Eine solche exemplarische Gestaltung zeigt zugleich die dem menschlichen „Willen geradezu widerstrebende Beschaffenheit der Welt"; vorgeführt werden „der Jammer der Menschheit, die Herrschaft des Zufalls und des Irrtums, der Fall des Gerechten, der Triumph der Bösen". 62 Die tragischen Folgen der „sich kreuzenden Willensbestrebungen der Individuen" 63 verdeutlichen dabei in paradigmatischer Weise den „Widerstreit" zwischen den einzelnen Willenserscheinungen, der „die Welt zu einem beständigen Kampfplatz aller jener Erscheinungen des einen und selben Willens macht". 64 Bezeichnenderweise betrachtet Schopenhauer das so charakterisierte und in qualitativer Hinsicht hervorgehobene Trauerspiel als eine Gattung des Erhabenen: „Unser Gefallen am Trauerspiel gehört nicht dem Gefühl des Schönen, sondern dem des Erhabenen an; ja es ist der höchste Grad dieses Gefühls". 65 Naturerhabenes, Trauerspiel und Lyrik weisen eine auffällige Analogie insofern auf, als die erhabene, tragische und lyrische Stimmung des ästhetischen Subjekts jeweils durch Momente von Kontrast, Ambivalenz, ja sogar Widerstreit oder Zwiespalt gekennzeichnet ist, die im Horizont ästhetischer Einstellung zunächst überraschen müssen. Als besonders ausgeprägt stellt sich dabei unter wirkungsästhetischem Aspekt die Affinität zwischen Naturerhabenem und Tragödie heraus, ist doch laut Schopenhauer „die Wirkung des Trauerspiels analog der des dynamisch Erhabenen". 66 Ihre Klimax erreicht die Konfliktkonstellation offenkundig im Trauerspiel, „welches, auf der höchsten Stufe der Objektivation des Willens, eben jenen seinen Zwiespalt mit sich selbst in furchtbarer Größe und Deutlichkeit uns vor die Augen bringt". 67 «> W W V I S. 353. Vgl. auch W W V II S. 556. Ferner W W V I S. 355: „Darstellung eines großen Unglücks ist dem Trauerspiel allein wesentlich". 61 W W V I S. 353. 6 2 W W V II S. 556. Vgl. auch W W V I S. 353. « W W V I S. 353. 64 W W V I S. 370. Vgl. dazu ergänzend: W W V I S. 4 5 4 - 4 5 6 . ω w w v II S. 556. Vgl. dazu § 21 dieser Arbeit. 6 6 W W V II S. 556. 6 7 W W V I S. 357.

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Zwar leistet dieser bis zum Zenit getriebene Konflikt der Opponenten in einzigartiger Weise einer realistischen68 Erkenntnis des Wesens von Welt und Dasein Vorschub und eignet sich daher zu antizipatorischem Ausblick auf den Zustand gänzlicher Verneinung des Willens zum Leben, den Schopenhauer in seiner Ethik behandelt. Schopenhauers Anspruch an illusionslosen Realismus der ästhetischen Erkenntnis scheint allerdings mit der von voluntativem Leidensdruck entlastenden Eudämonie ästhetisch-willenloser Kontemplation unvereinbar zu sein. Von einem „wundersamen Zauber" 69 , von „Seligkeit und Geistesruhe" 70 kann im Zusammenhang mit der künsderischen Veranschaulichung des Zwiespalts, in dem sich der Wille mit sich selbst befindet, wohl schwerlich die Rede sein. Als „Trost"71 oder gar als „Panakeion" 72 kommt das Trauerspiel also — in ästhetischem Kontext 73 — nicht in Betracht. Die Dualität von Wesenserkenntnis und Eudämonie in ästhetischer Einstellung verschärft sich erst unter der Voraussetzung fundamentaler Schrecklichkeit von Leben und Welt zum Konflikt inkompatibler Perspektiven und löst dadurch die systemimmanenten Spannungen aus, die in Schopenhauers Ästhetik sichtbar werden. Und abhängig davon, welchem der konkurrierenden Aspekte der Interpret jeweils den Vorrang gibt, dem Erkenntnisanspruch oder der Glücksverheißung, ändert sich jeweils auch die Einschätzung ästhetischer Einzelphänomene. Das Trauerspiel beispielsweise erscheint zwar für eine ästhetische Therapie des voluntativen Leidensdrucks zunächst nicht aussichtsreich, erweist sich jedoch nach Schopenhauer als besonders befähigt zu authentischer und eindringlicher Darstellung von Leben und Welt in ihrer ganzen Schrecklichkeit. 74 Ästhetische Eudämonie hingegen rückt genau in dem Maße in den Bezeichnend für solchen Erkenntnisrealismus ist die Reziprozität zwischen dem Trauerspiel als Ausdruck des Lebens einerseits und der Auffassung des Lebens als Trauerspiel andererseits. Vgl. W W V I S. 442: „Das Leben jedes einzelnen ist, wenn man es im Ganzen und Allgemeinen übersieht [...], eigentlich immer ein Trauerspiel". Ähnlich S. 489. 6 9 W W V I S. 283. 70 W W V I S. 3 0 1 . 7 1 W W V I S. 372. 72 W W V I S. 365. 7 3 Anders verhält es sich im Hinblick auf das Telos der Resignation im Sinne gänzlicher Verneinung des Willens zum Leben. Vgl. dazu § 2 2 dieser Arbeit. Auf eine wirkungsästhetische Ambivalenz des Trauerspiels geht Schopenhauer in W W V II S. 558 — 559 ein. 7 4 Vgl. W W V I S. 372: Nach Schopenhauer ist „das An-sich des Lebens, der Wille, das Dasein selbst, ein stetes Leiden und teils jämmerlich, teils schrecklich". Vgl. auch W W V I S. 443: Das Menschenleben ist „wesentlich ein vielgestaltetes Leiden und ein durchweg unseliger Zustand", W W V I S. 445: „Unser Zustand ist ein so elender, daß gänzliches Nichtsein ihm entschieden vorzuziehn wäre". Vgl. ferner W W V I S. 426, 480, 540. 68

§ 1 0 . Ästhetische Ataraxie als Therapeutikum für den Willen?

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Bereich des Möglichen, wie der künstlerische Ausdruck der beschriebenen Konflikte in Gestalt bewußtseinsimmanenter Ambivalenzen zurücktritt. Und umgekehrt: Genau in dem Maße, in dem Momente von Kontrast, Widerstreit und bewußtseinsimmanentem Wechselspiel gerade keinen Zugang zu ästhetischer Kalmierung eröffnen, spiegeln sie Unruhe des Lebens und Schrecklichkeit der Welt authentisch und lassen dabei die Erlösungsbedürftigkeit des Willens erkennen, der diese „schlechteste unter den möglichen" 75 Welten unheilstiftend durchwirkt. Die ephemere „Seligkeit" ästhetischer Kontemplation weicht hier der Perspektive auf die durch Verneinung des Willens zum Leben entstehende Ataraxie, die auf der Selbsterkenntnis des Willens 76 sowie der Einsicht in seine Erlösungsbedürftigkeit beruht und den Kulminationspunkt von Schopenhauers Ethik darstellt. Schopenhauer vertritt die Auffassung, daß „die ganze durch Auffassung der Ideen erwachsene Erkenntnis des Wesens der Welt, die den Willen spiegelt, zum Quietiv des Willens wird und so der Wille frei sich selbst aufhebt". 77 Nur auf diese Weise ist „die gänzliche Selbstaufhebung und Verneinung des Willens, die wahre Willenslosigkeit" möglich, die „allein den Willensdrang für immer stillt und beschwichtigt". 78 Erkenntnis anspruch und Glücks Verheißung bilden im Horizont von Schopenhauers Ästhetik eine ebenso artifizielle wie fragile Einheit, deren Brüchigkeit allein im Lichte seiner Ethik in den Hintergrund tritt.

W W V II S. 747. Vgl. W W V I S. 3 9 6 - 3 9 7 , 377, 3 7 9 - 3 8 0 , 500, 557. 7 7 W W V I S. 393. Vgl. auch S. 397, 423, 457, 539, 547, 549. 78 stfTWV I S. 494. Vgl. außerdem S. 515, 520, 5 2 9 - 5 3 3 . 75

7 Vgl. W W V I S. 266, W W V II S. 475. 1 7 Ein kurioses, auf den Willen bezogenes Analogon findet sich in ΗΝ I S. 407 in der folgenden Parataxe: „nur der reine Wille, das Nicht-Wollen des Lebens" erlöst „aus dieser jammervollen Welt". 1 8 PP II S. 4 9 1 . 19 W W V II S. 4 7 3 . 14

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Zitat: Wer in ästhetische Betrachtung eingetreten ist, wird — so Schopenhauer — „des leidigen Selbst entledigt, als reines Subjekt des Erkennens mit jenen Objekten völlig eins [...]. Die Welt als Vorstellung ist dann allein noch übrig, und die Welt als Wille ist verschwunden". 20 So sehr forciert Schopenhauer hier dasjenige, was er in einer erheblich abgeschwächten Formulierung auch als „das Vergessen seines Selbst als Individuums" 21 bezeichnet, daß an die Stelle einer überzeugenden Subjekt-Objekt-Korrelation hier tendenziell die unüberbietbare Einheit einer Subjekt-Objekt-Koinzidenz zu treten droht. Reine Objektivität in diesem Sinne läßt also — nimmt man Schopenhauers Formulierungen wörtlich — die ästhetische Subjekt-Objekt-Beziehung zerfallen, indem die zuvor voneinander unterschiedenen Korrelate zu obskurer Pseudo-Einheit verschmelzen. 22 Eine auffällige Ambivalenz prägt die folgende These: Schopenhauer behauptet, daß „man, nach einer sinnvollen deutschen Redensart, sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert, d. h. eben sein Individuum, seinen Willen vergißt und nur noch als reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehen bleibt; so daß es ist, als ob der Gegenstand allein dawäre [!], ohne jemanden, der ihn wahrnimmt, und man also nicht mehr den Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern beide eines geworden sind [!], indem das ganze Bewußtsein von einem einzigen anschaulichen Bilde gänzlich gefüllt und eingenommen ist". 23 Die Modi Konjunktiv und Indikativ markieren in diesem Zitat eine aufschlußreiche Differenz, in der sich die Alternative von postulierter Real-Einheit und bloß imaginierter, letztlich also illusorischer Subjekt-Objekt-Synthese zu spiegeln scheint. Der Irrealis „als ob der Gegenstand allein dawäre" stellt zur Aussage eine Distanz her, so daß aus ihr implizit eine auch in ästhetischer Einstellung (plausiblerweise!) sich fortsetzende, wenngleich entsprechend veränderte Subjekt-Objekt-Korrelation hervorgeht. Der Realis in der anschließenden indikativischen Aussage hingegen zeigt eine Tendenz zur problematischen Radikalität einer identitas indiscernibilium, mithin einer monistischen Subjekt-Objekt-Synthese. Eine vergleichbare Ambivalenz zeigt sich noch in einer anderen Textpartie: Einerseits nämlich behauptet Schopenhauer, das reine Subjekt des Erkennens werde, „des leidigen Selbst entledigt, [...] mit jenen Objekten völlig eins". 24 Andererseits jedoch schwächt er diese These im Kontext erheblich 20 W W V I S. 283. Diese pejorative Formulierung .leidiges Selbst* findet sich auch in MS S. 94. 21 W W V I S. 2 8 3 - 2 8 4 . 22

Vgl. dazu das ontologische Experiment in § 10.

23 W W V I S. 257.

24 W W V ι s. 283.

§ 1 1 . Problematische Aspekte der Subjekt-Objekt-Korrelation

171

ab, indem er behauptet, daß wir als ästhetische Subjekte „die Illusion hervorzubringen vermögen, daß allein jene Objekte, nicht wir selbst gegenwärtig wären". 25 Während hier lediglich autosuggestiv eine quasi-symbiotische Einheit beschworen wird, in der das Subjekt glaubt aufgehen zu können, scheint Schopenhauer dort tatsächlich ,völlige Einheit' von Subjekt und Objekt vorauszusetzen. Daß neben und trotz gelegentlicher Abschwächung, die jene allzu radikal, ja abstrus anmutenden Postulate ins Hypothetisch-Irreale zurücknimmt, verschiedentlich Ansätze zu der beschriebenen Subjekt-Objekt-Koinzidenz sichtbar werden, zeigt eine Schwierigkeit in Schopenhauers Ästhetik. Selbst wenn man wohl konzedieren muß, daß seine extremen Formulierungen schwerlich mit allen Konsequenzen wörtlich zu nehmen sind: .immerhin zeigt sich an ihnen die grundsätzliche Problematik einer Konzeption, die ästhetische Einstellung zu Objekten nur auf dem Weg über Selbstverleugnung, Selbstaufgabe, Selbstverlust, Selbstverlorenheit, Selbstvergessenheit, Selbstaufhebung und Selbstentäußerung 26 von Subjekten für möglich hält. In diesem Horizont zeichnet sich die uneinlösbare Utopie einer genial-vollkommenen Selbstentäußerung 27 ab, in deren Rahmen das Subjekt in pseudo-objektivistischer Manier zum klaren Weltauge stilisiert und als reiner ungetrübter Spiegel des Wesens der Welt 28 aufgefaßt wird. Im Zuge der Koinzidenz-Ansätze wird die Konzeption ästhetischer Einstellung noch in anderer Hinsicht problematisch. Denn ent-selbstete PseudoSubjekte büßen auch ihr ästhetisches Potential ein. Nachhaltig in eine passivrezeptive Haltung gedrängt, vermögen sie aus ,eigener Kraft' zu ästhetischer Erfahrung mitunter so wenig beizutragen, daß sie im Extremfall gar zum Erfolg der mit pseudo-intentionaler Aktivität ausgestatteten ästhetischen Objekte zu degenerieren drohen. Symptomatisch ist in dieser Hinsicht die folgende Aussage: Der vegetabilischen Natur „gelingt es [...] leicht, uns in den Zustand des reinen Erkennens zu versetzen, der uns von uns selbst befreit". 29 Die ästhetische Freiheit des Subjekts scheint hier mittelbar zum 25 w w v j s. 283. Eine Parallelstelle bietet MS S. 97. 26 27

28 29

Belegstellen hierzu finden sich in § 6 dieser Arbeit. Vgl. ΗΝ IV,1 S. 43: Daß der Intellekt „zum Spiegel der Welt werde, ist Genialität und erfordert Selbstentäußerung". Vgl. auch W W V I S. 266, wo Schopenhauer Genialität durch die Fähigkeit bestimmt, „seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge, übrigzubleiben". Vgl. Belege in: W W V I S. 266, 396, 530; W W V II S. 366, 473. PP II S. 503. Dazu ausführlicher § 4 und § 6 dieser Arbeit. Eine Parallelstelle findet sich in WWV I S. 281: „der schönen Natur [...] gelingt es [...] fast immer, uns [...] der Subjektivität, dem Sklavendienste des Willens zu entreißen und in den Zustand des reinen Erkennens zu versetzen".

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Ergebnis spezifischer Aktionen anthropomorphistischer Objekte zu werden. Mit der gesteigerten Machtfülle ästhetischer Objekte korrespondiert eine Entmächtigung ästhetischer Subjekte, die sich in einer passiv-rezeptiven Haltung zeigt. Das „Entgegenkommen der Natur" also ist es, das „uns [...] in die ästhetische Kontemplation versetzt und ebendamit zum willensfreien Subjekt des Erkennens erhebt". 3 0 Der selbst-lose Objektivismus steht also mit der in § 4 entfalteten Rezeptivitätsproblematik in direktem Zusammenhang.

II. Eine Subjekt-Objekt-Korrelation ganz anderer Art erhellt aus Schopenhauers Willenstheorie, sofern er über die plausible Position hinausgeht, der Mensch sei, von mannigfaltigen Bedürfnissen geplagt, stets auf die Erfüllung seiner Wünsche bedacht. Obwohl Schopenhauer „Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz" 3 1 als das Fundament alles Wollens betrachtet, ist die Leidenssituation durch Wunschbefriedigung seines Erachtens nicht aufgehoben. Denn nicht allein vertritt Schopenhauer die Auffassung, jeder Wille habe ein Objekt seines Wollens, in dessen Erlangung die Befriedigung besteht. 32 Außerdem spricht er — wie in § 8 bereits dargelegt - von einem „des steten Strebens und Erreichens bedürftigen Willen" 3 3 , der sich mit dem Erreichen der jeweils zur Erfüllung seiner Wünsche geeigneten Objekte allein nicht begnügt, sondern darüber hinaus auch streben will und demnach als Kuriosität eines Willens, der gewissermaßen wollen will, in Erscheinung tritt. Schopenhauers Formulierung, die nicht als ein bloßer sprachlicher Lapsus aufzufassen ist, belegt ein ambivalentes Verhältnis des Willens zu seiner eigenen Befriedigung. Kaum in den Besitz des ersehnten Objekts gelangt und der Qual des unbefriedigten Wollens soeben erst entronnen, scheint dieser Wille dem zuvor erstrebten, nunmehr endlich erzielten Objekt keine nachhaltige Freude abgewinnen zu können. Denn ausgerechnet die Befriedigung wird für ihn zur Ursache eines Leidens sui generis: der Langeweile. Ein horror vacui also scheint es zu sein, die angstbesetzte Vorstellung von einem Zustand, in dem es dem Willen an erstrebenswerten Objekten, ja überhaupt 30 wwv I s. 286-287. 31 W W V I S. 428. Vgl. W W V I S. 238, 425. 33 W W V I S. 290. 32

§ 1 1 . Problematische Aspekte der Subjekt-Objekt-Korrelation

173

an Objekten fehlt, der Schopenhauer zu der übertriebenen Befürchtung motiviert, auch Befriedigung berge eo ipso Leiden in sich, indem sie durch zu raschen Eintritt dem Willen seine Objekte „sogleich wieder wegnimmt". 34 Ein horror vacui prägt offensichtlich seine ungewöhnliche These, größtmögliches Glück im Sinne minimierten Leidens sei dem Willen nur dann beschieden, wenn ihm eine ausgewogene Bewegung in moderatem Tempo gelingt, ein perpetuierlicher Wechsel zwischen Wunsch und Befriedigung. 35 Das übliche Befriedigungsstreben wird durch eine Art von Bewegungsstreben 36 eines Willens ergänzt, der „des steten Strebens und Erreichens" in angemessenem Verhältnis bedarf. Aufschlußreich ist der (bereits in § 8 analysierte) Kontext dieser Formulierung: Schopenhauer schreibt einer zuvor von ihm dargestellten Landschaft „einen Anstrich des Erhabenen" zu; denn „weil sie für den des steten Strebens und Erreichens bedürftigen Willen keine Objekte darbietet, weder günstige noch ungünstige, so bleibt nur der Zustand der reinen Kontemplation übrig" 37 — oder die Langeweile. Gegen die zunächst naheliegende Annahme, gerade aufgrund seines Bedürfnisses nach ,stetem Streben und Erreichen' sei der Wille in jedem Fall auf Objekte gerichtet, kann man den folgenden partiellen Einwand erheben: Die zitierte Aussage ist offensichtlich durch eine doppelte Dualität geprägt, und zwar in der Weise, daß mit der Opposition zwischen günstigen und ungünstigen Objekten der Gegensatz von Streben und Erreichen korrespondiert. Während es sich bei den für das Erreichen günstigen Objekten um die zur Bedürfnisbefriedigung tauglichen handelt, eignen sich die dafür ungünstigen Objekte immerhin zur Fortsetzung voluntativen Bewegungsstrebens und weisen dadurch eine Günstigkeit sui generis auf, die sich von jener ersteren grundlegend unterscheidet. Die Epitheta ,günstig' und ,ungünstig' sind ambivalent; ihre positiven oder negativen Implikationen hängen jeweils von der eingenommenen Perspektive ab. Die zentrale Opposition hingegen besteht hier zwischen Präsenz und Absenz von Objekten überhaupt; denn erst gänzliches Fehlen von Objekten beinhaltet eine Ungünstigkeit, die als absolutes Negativum von je standpunktbedingter Umwertung unabhängig ist. Objekte überhaupt zu haben, und zwar — jeweils perspektivabhängig — sowohl günstige als auch ungünstige, ist also das primäre Ziel des Willens. Denn die 34 35 36

37

Vgl. W W V I S. 428. Dazu § 9 dieser Arbeit. Vgl. dazu die in § 8 und § 9 interpretierten Textstellen in W W V I S. 430, 3 6 2 - 3 6 3 . Man könnte dafür geradezu den Begriff ,Strebensstreben' einsetzen, der - qua Reduplikation — die Problematik des strebensbedürftigen Willens besonders auffällig hervortreten läßt. W W V I S. 290. Hierauf geht die Schlußpassage von § 8 ausführlich ein.

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

für eine Befriedigung üblichen Zuschnitts ungünstigen Objekte eignen sich immerhin zur Perpetuierung des Strebens. Demnach besteht die Günstigkeit ,ungünstiger' Objekte bereits in ihrem bloßen Vorhandensein, weil es jene potenzierte und absolute Ungünstigkeit zu verhindern hilft, die mit dem Fehlen von Objekten überhaupt verbunden ist. Die nur auf den ersten Blick eindeutige Opposition zwischen günstigen und ungünstigen Objekten wird dadurch erheblich relativiert. Der Objektstatus der zur Bedürfnisbefriedigung .ungünstigen', zugleich jedoch für das Bewegungsstreben ,günstigen' Objekte erweist sich als ein verkürzter, ja als ein uneigentlicher. Denn der Wille zielt keineswegs unmittelbar auf sie selbst als potentiell befriedigende (im üblichen Sinne), sondern versucht ihnen offenbar lediglich Impulse zur Fortsetzung dynamischer Bewegung abzugewinnen. Ein derartig reduzierter Status beinhaltet für solche Objekte eine Beschränkung auf die wohl eher katalysatorische Funktion, zur Perpetuierung des Strebens beizutragen. Dabei scheint das Höchstmaß an ,Günstigkeit' ein ausgewogenes Verhältnis zwischen günstigen und ungünstigen Objekten vorauszusetzen: Eine „gewisse Heiterkeit, wenigstens Gelassenheit" sieht Schopenhauer für Subjekte innerhalb der voluntativen Erfahrungssphäre allein entspringen aus „so vielem Gelingen, als sie vor Verzweiflung, und so vielem Mißlingen, als sie vor Langerweile und deren Folgen schützt". 3 8 Das größtmögliche Glück, das sich allerdings als bloße Leidensminimierung eher bescheiden ausnimmt, erblickt er deshalb in einem beschleunigten Wechsel von Wunsch und Befriedigung. 39

III. Im vorangegangenen wurde deutlich, daß nicht nur Schopenhauers Postulat ästhetischer Willenlosigkeit den Eindruck erweckt, zwischen den Bereichen des Ästhetischen und des Voluntativen bestehe eine grundlegende Polarität. Vielmehr schienen die dargelegten Differenzen hinsichtlich der jeweils spezifischen Subjekt-Objekt-Korrelation diese Einschätzung zu bestätigen, und dies um so mehr angesichts des unterschiedlichen Stellenwerts von Objekten im Rahmen dynamisch-akzelerierter Abfolge von Wunsch und Befriedigung einerseits und im Vollzug ästhetischer Kontemplation andererseits, die aufgrund einer bis zum äußersten intensivierten und essentiell veränderten Objektbeziehung des Subjekts mit beglückender Ruhe verbunden ist. 38 V W V 39

I S. 4 4 9 .

V g l . W W V I S. 3 6 2 .

§ 1 1 . Problematische Aspekte der Subjekt-Objekt-Korrelation

175

In einem erweiterten Horizont jedoch erhellt, daß Schopenhauers Willensmetaphysik entgegen erstem Anschein auch die Sphäre der Ästhetik wesentlich bestimmt. Das Konzept eines selbst-losen Objektivismus bedarf in diesem umfassenden Kontext der Relativierung. Angesichts der von Schopenhauer postulierten Selbstaufhebung, Selbstverleugnung, Selbstentäußerung und Selbstvergessenheit des ästhetischen Subjekts sorgte bereits in § 6 die folgende Textstelle für (bislang weitgehend unbereinigt gebliebene) Irritationen: Schopenhauer definiert dort Genie „als ein ausgezeichnet klares Bewußtsein von den Dingen und dadurch [!] auch von ihrem Gegensatz, dem eigenen Selbst". 40 Auffällig erscheint der Kontrast zu dem von ihm behaupteten inversen Verhältnis der beiden Bewußtseinskomponenten zueinander, durch das sich zugleich mit einer Steigerung des Objektbewußtseins das Selbstbewußtsein des Subjekts entsprechend reduziert (vice versa), so daß im Falle eines höchst potenzierten ästhetischen Objektbewußtseins sogar „das Bewußtsein vom eigenen Selbst verschwindet". 41 Dieser Inversion steht die — auffälligerweise durch einen Kausalzusammenhang begründete — Proportionalität der Bewußtseinskomponenten in Schopenhauers Genie-Definition diametral gegenüber. Erst § 12, der bisherige Analyseergebnisse fokussiert und deren Bewertung im Horizont von Schopenhauers Willensmetaphysik nachhaltig verändert, kann zu dieser Problematik weiteren Aufschluß geben. Als Uberleitung zu § 12 mag folgende These dienen: „Im Menschen also kann der Wille zum völligen Selbstbewußtsein, zum deutlichen und erschöpfenden Erkennen seines eigenen Wesens, wie es sich in der ganzen Welt abspiegelt, gelangen. Aus dem wirklichen Vorhandensein dieses Grades von Erkenntnis geht [...] die Kunst hervor". 42 Nicht nur zum Postulat ästhetischer Willenlosigkeit und Elimination des Selbst scheint diese These einen Gegensatz zu bilden; sie entwirft auch eine neue Perspektive auf das Verhältnis zwischen Welt- und Selbstbewußtsein, das nur durch zusätzliche Interpretationen zur Beziehung zwischen Willen und Intellekt transparent werden kann. Grundlegender Relativierung bedarf dabei die Differenz zwischen ästhetischer und voluntativer Einstellung überhaupt, und zwar im Horizont der — in weitreichendem Sinne — einheitsstiftenden Tendenz von Schopenhauers Willensmonismus. PP II S. 93. Vgl. auch PP II S. 4 9 1 , w o Schopenhauer behauptet, das ästhetisch-willenlose Subjekt bleibe „sich seiner und seiner Tätigkeit eben als eines solchen doch bewußt". Vgl. ferner W W V II S. 493. 4 1 W W V II S. 475. Vgl. auch S. 474, wo Schopenhauer ausdrücklich von einem „Antagonismus" spricht. 42 w w v I S. 3 9 6 - 3 9 7 . 4,1

§ 12. Metavoluntarismus des Ästhetischen — Metaästhetizismus des Voluntativen? I. Die doppelte Analogiebildung in dieser Fragestellung weist über die bislang vorherrschende Opposition von Ästhetischem und Voluntativem hinaus. Unter Bezugnahme auf Perspektiven, die sich am Ende von § 11 bereits andeuteten, soll im folgenden untersucht werden, inwiefern sich in Schopenhauers Ästhetik Aspekte ergeben, die eine Kluft zwischen Ästhetischem und Voluntativem überbrücken. Der von Schopenhauer oftmals betonte Kontrast zwischen beiden Bereichen wird dabei nachhaltig relativiert. Die eine Schiene auf dieser gleichsam doppelgleisig befahrbaren Brücke, deren Fundamente auf beiden Ufern ruhen, kann als Metavoluntarismus des Ästhetischen bezeichnet werden. Dieser Komplex stand bereits im Zentrum von § 2 und § 3 dieser Arbeit und war außerdem passagenweise auch in § 6 thematisch. Um die notwendigen Voraussetzungen für weiterreichende Analysen zu schaffen, mit denen die bisherigen Interpretationen von Kapitel A. und B. fokussiert und in einen neuen Horizont gerückt werden sollen, ist zunächst eine Rekapitulation einiger wesentlicher Perspektiven und Ergebnisse erforderlich. Daß Schopenhauer seine Ästhetik via negationis entwirft, erhellt nicht nur aus dem Postulat der Willenlosigkeit, sondern wird außerdem an der Negativität der Begriffe interesselos', ,absichtslos', ,zwecklos' sichtbar, mit denen er das ästhetische Subjekt und seine Einstellung zu Objekten charakterisiert.1 Der semantische Gehalt dieser Epitheta erweist sich dadurch als einheitlich, daß Schopenhauer sie im Rahmen seiner ästhetischen Konzeption nicht nur parataktisch aneinanderreiht, sondern sie in explikativen Formulierungen auch wechselweise als Substitute füreinander eintreten läßt: Das „rein objektive Wesen der Dinge" können wir — so eine seiner exemplarischen Thesen — „nur dann auffassen [...], wann wir kein Interesse an ihnen selbst haben, 1

Textbelege hierzu finden sich zahlreich in § 2 und § 3. Ihre Wiederholung erübrigt sich hier.

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

indem sie in keiner Beziehung zu unserm Willen stehn". 2 Demnach muß der Intellekt bei ästhetischer Ideenerkenntnis „absichtslos tätig, folglich willenslos sein". 3 Angesichts der zwischen den Negativ-Epitheta ,willenlos', ,absichtslos', interesselos' und ,zwecklos' bestehenden Bedeutungsanalogie wirken solche Textstellen erstaunlich, in denen Schopenhauer die entsprechenden positiven Attribute zur Kennzeichnung ästhetischer Einstellung verwendet: Offensichtlich um Kontrastierung bemüht, unterscheidet Schopenhauer beispielsweise zwischen objektivem und subjektivem Interesse: Während die meisten Menschen lediglich zu subjektivem Interesse fähig sind, indem sie ihre Aufmerksamkeit stets nur auf die Relationen der Dinge zu ihrem Willen richten, bringt der Geniale den Gegenständen ein objektives Interesse entgegen. 4 Für dieses ästhetisch-objektive Interesse wurden in § 2 zwei gegensätzliche Deutungsmöglichkeiten zur Diskussion gestellt: Erstens könnte man eine artkonstituierende Differenzierung behaupten, in deren Rahmen eine Gattung .Interesse' sich zu subjektivem Interesse der Willenstätigkeit einerseits und zu objektivem Interesse der willensunabhängigen, auf Wesenserkenntnis zielenden Intellektaktivität andererseits spezifiziert. Diese Interpretation böte (gemäß § 2) eine willkommene Möglichkeit, die Grenzen bloß negativer Charakterisierung ästhetischer Einstellung zu transzendieren und den Ubergang zu deren positiver Bestimmung zu schaffen, durch die ästhetische Freiheit des Intellekts sich als Autonomie allererst fundieren ließe. Ästhetische Kontemplation wäre in diesem Falle durch objektives Interesse spezifisch ausgewiesen und positiv bestimmt. Das Postulat ästhetischer Interesselosigkeit erführe dabei insofern eine Einschränkung, als es im Sinne bloßer Negation des subjektiven Interesses zu verstehen wäre. An seine Stelle träte in ästhetischer Einstellung als Positivum ein objektives Interesse des kontemplierenden Subjekts, das am grundsätzlich voluntativen Charakter der Gattung ,Interesse' teilhätte und somit Anlaß zur These von einem Metavoluntarismus des ästhetischen Intellekts gäbe. Hielte man jedoch — und darin besteht die zweite Deutungsmöglichkeit — an der Radikalität des Postulats ästhetischer Interesselosigkeit fest, ohne 2

3

4

W W V II S. 477. Analog: PP II S. 85. Vgl. ζ. B. auch W W V II S. 491, w o Schopenhauer „Wille" durch den parenthetischen Klammerzusatz „(das Interesse)" erläutert. PP II S. 494. Vgl. auch W W V II S. 490: Danach „ist bei allem [!] absichtlichen Nachdenken der Intellekt nicht frei, da ja der Wille ihn leitet". In W W V II S. 5 1 0 differenziert Schopenhauer zwischen „rein objektivem Interesse" des Genies und bloß subjektivem Interesse der gewöhnlichen Menschen. Dazu bietet PP II S. 86 ein Analogon.

§ 1 2 . Metavoluntarismus des Ästhetischen

179

sie als Ausschaltung allein des subjektiven Interesses zu deuten, so entstünde eine doppelte Problematik: Während das Syntagma ,objektives Interesse' als contradictio in adjecto zu gelten hätte, wäre ,subjektives Interesse' als Tautologie zu betrachten. Eine Strukturanalogie ergibt sich für Schopenhauers Postulat ästhetischer Zwecklosigkeit, dessen begrifflicher Negativität das Positive objektiver Zwecke 5 in ästhetischer Kontemplation gegenübertritt. Ein solcher Ansatz zu artkonstituierender Spezifikation von Zwecken zu objektiv-ästhetischen und persönlich-voluntativen Zwecken entspricht offensichtlich der Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Interesse. In § 2 wurde die Frage gestellt, ob sich dadurch ein metavoluntativer Status des willensindependenten ästhetischen Intellekts mit der Konsequenz begründen ließe, daß er als eine Art von Surrogat-Intentionalität an die Stelle des in ästhetischer Einstellung eliminierten Willens treten könnte. Weitere metavoluntative Komponenten, in denen ebenfalls Willensspezifisches in den Wirkungsbereich des ästhetischen Intellekts übertragen zu werden scheint, lassen sich ergänzen: Wenn Schopenhauer einerseits zwar von Interesse-, Zweck- und Absichtslosigkeit der ästhetischen Einstellung eines Subjekts ausgeht, das seines eigentlichen Selbst entiedigt ist, andererseits jedoch explizit von objektiven Zwecken, von unbewußtem Streben 6 eines ästhetischen Subjekts spricht, für das er auch ein ästhetisches Selbstbewußtsein 7 in Anspruch nimmt, so ergibt sich in allen diesen Fällen jeweils die folgende Deutungsalternative: Wie das objektive Interesse fordern auch die weiteren metavoluntativen Komponenten zur Entscheidung darüber heraus, ob entsprechende Formulierungen bei Schopenhauer auf einer artkonstituierenden Spezifikation oder auf einer contradictio in adjecto basieren. Den Hintergrund dieser Überlegung bildet auch hier die apologetische Fragestellung, ob sich vermittels dieser metavoluntativen Komponenten, deren Auftauchen in ästhetischem Kontext zunächst befremden muß, eine positive Charakterisierung des Ästhetischen fundieren läßt, die über Schopenhauers Entwurf einer Ästhetik via negationis hinausweist. Nimmt man jedoch auf solche Aussagen Schopenhauers Bezug, in denen sich — gemäß § 2 und § 3 — eine ungebrochene, intern keineswegs in der beschriebenen Weise differenzierbare Einheit von Willen, Selbst, Selbstbewußtsein, Zweck, Interesse, Absicht und Streben mit ihrer Opposition zur 5 6 7

Vgl. W W V II S. 496, außerdem MS S. 112. Vgl. W W V II S. 521. Vgl. dazu die in § 3 zitierten Belege, ζ. B. W W V I S. 259, 279, 297.

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Objektivität des Ästhetischen abzeichnet 8 , dann ist — wie es scheint — die folgende Entscheidung zu fällen: Weil das besagte Gattungs-Art-Konstrukt sich als problematisch, da verbalistisch, herausstellt, indem es Inkonsistenzen lediglich kaschiert, sie aber keineswegs beseitigt, kann auch von der hypothetisch erwogenen positiven Kennzeichnung des ästhetischen Intellekts nicht sinnvoll die Rede sein. Hinfällig wird damit die in Betracht gezogene Möglichkeit, der ästhetische Intellekt sei aufgrund objektiven Interesses, objektiver Zwecke, unbewußten Strebens und ästhetischen Selbstbewußtseins als metavoluntativer Komponenten tatsächlich imstande, als Alternativ-Agens den aus ästhetischer Einstellung eliminierten Willen zu ersetzen und dabei seine grundlegende Willensdependenz durch autonome Aktivität zu überwinden. Dieses Konzept muß scheitern! Denn nicht allein wird in diesen Fällen die zunächst naheliegende Annahme artkonstituierender Spezifikationen hinfällig. Außerdem lassen einschlägige Aussagen Schopenhauers erkennen, wie fundamental und radikal (im wördichen Sinne: bis auf die Wurzel gehend) die Willensdependenz des Intellekts in seiner Philosophie ist. 9 Im Rahmen grundsätzlicher Einheit von Willen, Zweck, Interesse einerseits und von Objektivität, Zwecklosigkeit, Interesselosigkeit andererseits scheint ein Postulat objektiver Interessen und Zwecke des ästhetischen Intellekts jeweils die kuriose Absurdität willenloser Interessen und Zwecke, mithin interesseloser Interessen oder zweckloser

8

9

Belege dazu finden sich in § 2 und § 3. Vgl. exemplarisch WWV II S. 475: der Wille als „das eigentliche Selbst", „Bewußtsein des eigenen Selbst, also die Subjektivität, d. i. der Wille"; WWV II S. 477: „kein Interesse", d. h. „in keiner Beziehung zu unserm Willen"; WWV II S. 491: „der Wille (das Interesse)"; WWV II S. 489: „Interesse, d. h. Beziehungen zu seinem Willen". Die Einheit von Interesse und Willen läßt sich auch durch WWV I S. 431, Kl. Sehr. S. 694 und PP II S. 85 belegen. Absicht bindet Schopenhauer in ΗΝ I S. 312 an den Willen. Vgl. dazu auch den oben in Anm. 3 zitierten Beleg in WWV II S. 490. In Kl. Sehr. S. 690 behauptet Schopenhauer dezidiert: „Zweck sein bedeutet: gewollt werden. Jeder Zweck ist es nur in Beziehung auf einen Willen". In WWV I S. 240 spricht Schopenhauer vom „Wesen des Willens an sich, der ein endloses Streben ist"; gemäß WWV I S. 423 ist „Streben sein alleiniges Wesen", und zwar laut WWV I S. 440 „ein Streben ohne Ziel und ohne Ende". Vgl. hierzu vor allem § 7 dieser Arbeit. Dort finden sich auch Belege zum Willen als .Wurzel' des Intellekts. „Der Wille ist das Erste und Ursprüngliche, die Erkenntnis bloß hinzugekommen, zur Erscheinung des Willens als ein Werkzeug derselben gehörig" (WWV I S. 403). Der Intellekt fungiert als „bloß Instrumentales" (WWV II S. 277) und ist „so gut wie Klauen und Zähne nichts anderes als ein Werkzeug zum Dienste des Willens" (WWV II S. 514). Er ist „aus eigenen Mitteln gar keiner Tätigkeit fähig" (WWV II S. 491) und verdankt diesem Willen als seiner „Wurzel" (WWV II S. 491) sogar seine Existenz (vgl. WWV I S. 256; WWV II S. 476, 491; PP II S. 117, 495).

§ 1 2 . Metavoluntarismus des Ästhetischen

181

Zwecke zu beinhalten. Für unbewußtes Streben und ästhetisches Selbstbewußtsein des Intellekts gilt Entsprechendes. 10 Die vier metavoluntativen Komponenten des Intellekts geraten also dadurch in eine fundamentale Problematik, daß jeweils die Subsumtionsstruktur des in Erwägung gezogenen Gattungs-Art-Konstrukts zerfällt. Denn der radikale Gegensatz zwischen den eo ipso an die Willenssphäre gebundenen Faktoren Interesse, Zweck, Streben, Selbstbewußtsein einerseits und der durch Interesse- und Willenlosigkeit gekennzeichneten Objektivität des ästhetischen Intellekts andererseits läßt die beschriebenen Syntheseversuche in Gestalt objektiv-ästhetischen Interesses, Zwecks, Strebens und Selbstbewußtseins des Intellekts an der Absurdität von contradictiones in adjectis scheitern. Und die vermeintlich subjektiv-voluntativen Artbegriffe fallen mit der jeweiligen Gattung zusammen, so daß beispielsweise subjektives Interesse ebenso mit Interesse identisch ist wie persönlicher Zweck mit Zweck überhaupt. Da in diesem Sinne offenbar keine artkonstituierende Spezifikation vorliegt, kann auch ein Versuch, den vermeintlich mit metavoluntativen Attributen ausgestatteten ästhetisch-willensfreien Intellekt als Surrogat-Intentionalität und Alternativ-Agens zu etablieren, nicht gelingen. Von einem Metavoluntarismus des ästhetischen Intellekts kann in diesem Sinne wohl schwerlich die Rede sein. Mit dieser Einsicht ist allerdings nicht schon prinzipiell bestritten, daß objektive Interessen und Zwecke sowie ein spezifisches Selbstbewußtsein — trotz des bisherigen Anscheins — doch noch einen systemimmanent akzeptablen Platz in Schopenhauers Ästhetik erhalten können. Dazu soll im folgenden eine Interpretation entfaltet werden, die über den Stand der Analysen von § 2 und § 3 weit hinausgeht. Entscheidend ist dafür die folgende Voraussetzung: Nicht dem Intellekt sind die besagten metavoluntativen Komponenten zuzuordnen, sondern — dem Willenl Nur so läßt sich die Problematik einer vierfachen contradictio in adjecto vermeiden. Zugleich bietet dieses Postulat objektiver Interessen und Zwecke sowie eines ästhetischen Selbstbewußtseins des Willens statt des Intellekts eine Möglichkeit, auch die folgende, bisher problematisch gebliebene Textstelle in den Systemhorizont bruchlos einzufügen: In seinen „Parerga und Paralipomena" definiert Schopenhauer das Genie „als ein ausgezeichnet klares Bewußtsein von den Dingen und dadurch [!] auch von ihrem Gegensatz, dem eigenen 10

In § 3 wurde auch auf die Problematik der Relation zwischen dem Unbewußten ästhetischen Strebens und dem Bewußten ästhetischen Selbstbewußtseins hingewiesen.

182

Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Selbst". 11 Mit dieser erstaunlichen Formulierung scheint er — so der aporetische Schluß von § 6 — in einen ebenso auffälligen wie unverständlichen Widerspruch zum Postulat einer Ent-selbstung zur Selbst-losigkeit als conditio sine qua non ästhetischer Einstellung zu geraten. Dabei verschärft sich (gemäß § 6) der Gegensatz zu ästhetischer Selbstverleugnung und Selbstentäußerung noch dadurch, daß Schopenhauer nicht nur ein Zugleich der offenbar einander ausschließenden und daher alternierenden 12 Antagonisten Weltund Selbstbewußtsein 13 voraussetzt, sondern überdies sogar einen Wirkungszusammenhang zwischen ihnen behauptet. An die Stelle einer inversen Beziehung zwischen den beiden Bewußtseinskomponenten tritt also deren kausal begründete Proportionalität. Aussicht auf eine Erhellung dieser erstaunlichen Konstellation besteht allein im umfassenden Horizont von Schopenhauers philosophischem Gesamtentwurf. Im Anschluß an Perspektiven, die in § 7 entfaltet wurden, seien zunächst einige wesentliche Aspekte knapp wiedergegeben. Im Menschen als der — laut Schopenhauer — vollkommensten Willenserscheinung „kann der Wille zum völligen Selbstbewußtsein, zum deutlichen und erschöpfenden Erkennen seines eigenen Wesens, wie es sich in der ganzen Welt abspiegelt, gelangen", und zwar in der Weise, daß bei der Auffassung der Ideen „eine völlig adäquate Wiederholung des Wesens der Welt unter der Form der Vorstellung" erfolgt. „Aus dem wirklichen Vorhandensein dieses Grades von Erkenntnis geht [...] die Kunst hervor". 14 Diese These basiert auf Schopenhauers Konzeption des Willens als Totalität eines universalen, Welt und Selbst gänzlich umfassenden und durchwirkenden Naturprinzips. Seine zunächst irritierende Uberzeugung von der Einheit des Welt- und Selbstbewußtseins erscheint auf dieser Folie konsequent. Als „das Sein an sich jedes Dinges in der Welt und der alleinige Kern jeder

PP II S. 93. Vgl. dazu § 6. In WWV II S. 493 spricht Schopenhauer von der besonderen Deutlichkeit, mit welcher Künsder und Philosophen sich „der Welt und ihrer selbst innewerden". In PP II S. 491 vertritt er die Auffassung, daß das ästhetische Subjekt „sich seiner und seiner Tätigkeit eben als eines solchen doch bewußt bleibt". 12 Vgl. WWV II S. 474: „Je mehr nun die eine Seite des gesamten Bewußtseins hervortritt, desto mehr weicht die andere zurück. Demnach wird das Bewußtsein anderer Dinge, also die anschauende Erkenntnis um so vollkommener, d. h. um so objektiver, je weniger wir uns dabei des eigenen Selbst bewußt sind. Hier findet wirklich ein Antagonismus statt". Vgl. ergänzend auch W W V II S. 475 und eine weitere Formulierung auf S. 474. 1 3 Belege dazu in W W V II S. 474 („Antagonismus"), S. 475 („Antagonist"). In Kl. Sehr. S. 528 definiert Schopenhauer Selbstbewußtsein als „das Bewußtsein des eigenen Selbst im Gegensatz des Bewußtseins anderer Dinge, welches letztere das Erkenntnisvermögen ist". 14 W W V I S. 3 9 6 - 3 9 7 . 11

§ 1 2 . Metavoluntarismus des Ästhetischen

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Erscheinung" 15 ist der Wille grundsätzlich auch in ästhetischer Kontemplation präsent. Wenn nämlich nach Schopenhauers metaphysischem Ansatz außer dem Willen „nichts da ist" 16 , dann werden Welt und Selbst, Welterkenntnis und Selbstbewußtsein gerade durch diese Universalität des Willens als eines omnipotenten Prinzips zu einer Einheit synthetisiert. Ontologische und erkenntnistheoretische Prämissen dieser Auffassung bringt Schopenhauer in dem folgenden längeren Textstück zum Ausdruck: „Der Wille ist das An-sich der Idee, die ihn vollkommen objektiviert; er auch ist das An-sich des einzelnen Dinges und des dasselbe erkennenden Individuums, die ihn unvollkommen objektivieren. Als Wille außer der Vorstellung und allen ihren Formen ist er einer und derselbe im kontemplierten Objekt und im Individuo, welches sich an dieser Kontemplation emporschwingend, als reines Subjekt seiner bewußt wird: jene beiden sind daher an sich nicht unterschieden; denn an sich sind sie der Wille, der hier sich selbst erkennt. [...] Sowenig ich ohne das Objekt, ohne die Vorstellung, erkennendes Subjekt bin, sondern bloßer blinder Wille; ebensowenig ist ohne mich als Subjekt des Erkennens das erkannte Ding Objekt, sondern bloßer Wille, blinder Drang. Dieser Wille ist an sich, d. h. außer der Vorstellung, mit dem meinigen einer und derselbe: nur in der Welt als Vorstellung [...] treten wir auseinander als erkanntes und erkennendes Individuum. Sobald das Erkennen, die Welt als Vorstellung, aufgehoben ist, bleibt überhaupt nichts übrig als bloßer Wille, blinder Drang". 17 Auf dieser Folie zeigt sich folgendes: Sofern es in ästhetischer Kontemplation nach Schopenhauer um Ideenschau, um Wesenserkenntnis geht, handelt es sich in letzter Instanz eo ipso um die Selbsterkenntnis des Willens, auf deren Basis allein seine „Bejahung oder Verneinung" als „die einzige Begebenheit an sich" möglich wird. 18 Als das „An-sich der gesamten Natur" 19 ist der Wille dasjenige, „wovon alle Vorstellung, alles Objekt, die Erscheinung, die Sichtbarkeit, die Objektität ist". 20 Unter dieser Prämisse formuliert Schopenhauer dann auch die folgende These: „Die einzige Selbsterkenntnis des Willens im Ganzen aber ist die Vorstellung im Ganzen, die gesamte anschauliche Welt. Sie ist seine Objektität, seine Offenbarung, sein

is is η is 19 2,1

WWV WWV WWV WWV WWV WWV

I I I I I I

S. S. S. S. S. S.

181. 227. 259-260. 264. 197. 170.

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Spiegel". 2 1 Die in Schopenhauers Ästhetik mehrfach auftretende Spiegelmetapher erfährt im Horizont seines Willensmonismus eine charakteristische Umdeutung: W e n n nach Schopenhauer die „völlig adäquate Wiederholung des Wesens der Welt unter der F o r m der Vorstellung [...] die Auffassung der Ideen, der reine Spiegel der Welt ist" 2 2 , dann weist ästhetische Erkenntnis geradezu narzißtische Züge auf — im Solipsismus des Willens, der solus ipse in seinen Objektivationen sich selbst bespiegelt und, in solche Betrachtung versunken, sich selbst erkennt. 2 3 In diesem willensmetaphysisch erweiterten Horizont ist die in den bisherigen Analysen dieser Arbeit behandelte Binnenstruktur ästhetischer Einstellung, mithin das Postulat einer Willen- und Selbst-losigkeit des Subjekts transzendiert. Bei Schopenhauer werden Erkennendes und Erkanntes in der metaphysischen Tiefendimension resdos eins: Wille ist alles; alles ist Wille. 2 4 V o n einer Elimination des Willens schlechthin kann demnach selbst in ästhetischer Kontemplation nicht die Rede sein. S o f e r n gerade die spezifisch ästhetische Erkenntnis (sowie — in modifizierter Weise — auch philosophische 2 5 Reflexion) letztlich auf den Willen in seiner Essenz, also auf das Wesen WWV I S. 241. Vgl. auch S. 371. In diesem Sinne kann also keineswegs davon die Rede sein, „daß der Wille selbst aus dem Spiel bleibe und wir durchweg uns als rein Erkennende verhalten", wie Schopenhauer in WWV II S. 579 behauptet; qua Erkenntnis ist der Wille, der sich im Intellekt „als ein Erkennenwollen" (WWV II S. 334) objektiviert, eo ipso präsent und wirksam. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht auch WWV II S. 471: „Nur sofern jedes Erkennende zugleich Individuum und dadurch Teil der Natur ist, steht ihm der Zugang zum Innern der Natur offen in seinem eigenen Selbstbewußtsein, als wo dasselbe sich am unmittelbarsten und [...] als Wille kundgibt". Als irreführend erweist sich in willensmetaphysischem Horizont auch Schopenhauers These in WWV I S. 287, das ästhetische Subjekt werde „über sich selbst, seine Person, sein Wollen und alles [!] Wollen hinausgehoben". Denn diese Aussage ist mit der Universalität und Omnipräsenz des Willens als Naturprinzips inkompatibel. 22 ψ ψ γ ι s 396 23 Mit den traditionellen Implikationen von Narzißmus hat diese Konstellation allerdings nur die mythologische Figuration des sich selbst im (Wasser-)Spiegel Anschauenden gemeinsam; von der Selbstverliebtheit und Selbstbewunderung, die dem narzißtisch Orientierten üblicherweise zugeschrieben wird, kann hier bei Schopenhauer, wo es qua Selbsterkenntnis wesentlich um die Einsicht des Willens in seine Selbstzerrissenheit geht (vgl. dazu einige Aspekte in § 8), schwerlich die Rede sein. (In WWV I S. 218 thematisiert Schopenhauer „die dem Willen wesendiche Entzweiung mit sich selbst" (analog S. 424); die Selbstentzweiung des Willens steigert sich auf S. 353 und S. 227 bis zur Selbstzerfleischung.) 24 Die Vorbehalte, die gegenüber derartigem Willensmonismus geltend gemacht werden können, sollen an dieser Stelle nicht wiederholt werden; hingewiesen sei auf die Ausführungen in § 4. 25 Schopenhauer setzt eine „Verwandtschaft der Philosophie mit den schönen Künsten" voraus und behauptet, daß „auch die Fähigkeit zu beiden, wiewohl in ihrer Richtung und im Sekundären sehr verschieden, doch in der Wurzel dieselbe ist" (WWV II S. 522). Die Differenzen erläutert Schopenhauer in WWV II S. 522 — 523; sie werden allerdings von der einheidichen 21

§ 1 2 . Metavoluntarismus des Ästhetischen

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von Dasein und Welt überhaupt zielt, erfolgt sie allein als Einheit von Weltund Selbsterkenntnis. Vom Normalfall theoretisch-praktischer Alltagseinstellung unterscheidet sich diese Erkenntnisweise dadurch, daß sie die Vordergründigkeit der Erscheinungssphäre und die Jeweiligkeit individuell-relationaler Perspektiven überschreitet, in deren Rahmen ein Zugang zur Wesenhaftigkeit nach Schopenhauer prinzipiell unmöglich ist. Allein auf diese phänomenale Dimension zielt Schopenhauers Willenlosigkeitspostulat. Nur für den Horizont, der durch die Beziehungen von Objekten untereinander und zum individuellen Willen des Subjekts geprägt ist, beansprucht Schopenhauers These vom Antagonismus zwischen Selbstbewußtsein und Bewußtsein von anderen Dingen 26 Geltung; bloß in diesem Rahmen kann von einer Opposition zwischen Subjektivität und Objektivität systemimmanent sinnvoll die Rede sein. Solche mit Ideenschau als Wesenserkenntnis einhergehende Objektivität versucht Schopenhauer im Horizont seiner Ästhetik durch eine Ausblendung allein des individuellen Willens und seines Selbstbewußtseins zu etablieren. In diesem Sinne ist Schopenhauers Willenlosigkeitspostulat mit seiner These von Welt und Vorstellung als einziger Selbsterkenntnis des Willens durchaus kompatibel. Die vormalige Differenz von Welt und Selbst, von Gegenstands- und Selbstbewußtsein löst sich in der Tiefendimension seiner Willensmetaphysik in die Alleinheit des Willens als universellen Naturprinzips auf. Der von Schopenhauer betonte Antagonismus von Selbstbewußtsein und Bewußtsein von anderen Dingen, der auch den bisherigen argumentativen Duktus dieser Arbeit entscheidend prägte, erhält also im Gesamthorizont des Schopenhauerschen Voluntarismus einen bloß sekundären Status, erweist sich als relativ und relativierbar, ist er doch letztlich selbst Produkt perspektivbedingter Differenzierung. Primär ist ihm gegenüber die einheitsstiftende Identität von Schopenhauers Willensmonismus. In bezug auf das Selbstbewußtsein des Willens, der im Menschen als seiner höchsten Objektivation sein eigenes, im Weltganzen sich spiegelndes Wesen zu erkennen vermag 27 , entsteht ein Horizont, in dem Subjekt und Objekt „an sich nicht unterschieden" sind; „denn an sich sind sie der Wille, der hier sich selbst erkennt". 28

Ausrichtung auf Wesenserkenntnis überlagert und können daher im vorliegenden Argumentationszusammenhang vernachlässigt werden. 2 6 Vgl. dazu W W V II S. 4 7 4 - 4 7 5 . 2 7 Vgl. W W V I S. 3 9 6 - 3 9 7 , 241. Weitere Belege finden sich in § 11. 28 W W V I S. 259.

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Betrachten wir diese Konstellation nun aus der Perspektive des hypothetischen Metavoluntarismus des Ästhetischen: Als zweckfrei und interesselos läßt sich ästhetische Erkenntnis gemäß Schopenhauers Ansatz beschreiben, sofern sie sich von theoretischer und praktischer Einstellung und deren Bezogenheit auf Elementarbedürfnisse des Menschen grundlegend unterscheidet, in der sich die Objekte gerade durch ihre Beziehungen zum individuellen Willen des Menschen zur Befriedigung seiner Wünsche eignen. Solche Zweckdienlichkeit von Objekten bedingt deren Instrumentalisierbarkeit und ist zugleich Ursprung entsprechenden Interesses an ihnen auf selten des Subjekts. Von voluntativ-subjektiven Zwecken und Interessen dieser Art ist ästhetisch-kontemplatives Erkennen nach Schopenhauer also frei. Sofern nach Schopenhauer aber die Objektivität des Ästhetischen in übergeordneter Perspektive letztlich im Dienste adäquater Selbsterkenntnis des Willens steht, dem Interesse und Zweck eo ipso zugeordnet sind 29 , bietet sich folgende Interpretation an, die bei Schopenhauers Thesen zu objektiven Interessen und objektiven Zwecken zwar ansetzt, sich zugleich aber in entscheidender Hinsicht von ihnen distanziert. Dort, wo Schopenhauer objektives Interesse und objektive Zwecke dem vom Willensdienst befreiten ästhetischen Intellekt zuschreibt, gerät er, wie in § 2 ausführlich dargelegt, in eine fundamentale Problematik. Denn die Inkompatibilität vermeintlich objektiver Interessen und Zwecke eines angeblich willensunabhängigen ästhetischen Intellekts mit der grundsätzlichen Einheit von Willen, Interessen und Zwecken ist offensichtlich und läßt sich durch etliche Textstellen belegen. Legitim erscheinen objektive Interessen und Zwecke sowie ästhetisches Streben und Selbstbewußtsein unter dem Aspekt systemimmanenter Stimmigkeit allein dann, wenn man sie als spezifische, höherstufige Manifestationen des Willens in Anspruch nimmt. Auf der übergeordneten Ebene seines Interesses an Selbsterkenntnis nämlich transzendiert dieser Wille sein subjektiv-individuelles Interesse an der Befriedigung animalischer Triebe und elementarer Bedürfnisse, um metaphysischen Orientierungen zu folgen: in Gestalt seines essentiellen und differenzierteren Strebens nach der Erkenntnis seines eigenen Wesens. 29

Vgl. hierzu die in § 2 zitierten wichtigen Textstellen. Bezeichnenderweise bringt Schopenhauer in der dort behandelten These aus WWV I S. 338 den .objektiven Zweck' sogar mit dem Willen in Verbindung — im Unterschied zu der sonst von ihm vorgenommenen (in § 2 belegten) Verknüpfung objektiver Interessen und Zwecke mit dem Intellekt·. Von dem, der „bloß sein persönliches Wohl besorgen will", grenzt er denjenigen ab, der „einen objektiven, idealen Zweck verfolgt, welcher sich seines Denkens und Wollens bemächtigt hat" (WWV I S. 338).

§ 1 2 . Metavoluntarismus des Ästhetischen

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Da die Objektivität einer Einstellung, die jenseits der (dem Satze vom Grunde unterworfenen) Erscheinungssphäre angesiedelt ist, nach Schopenhauer die conditio sine qua non für solche Selbsterkenntnis des Willens darstellt, erscheint seine Annahme objektiver Zwecke und Interessen sowie eines spezifisch ästhetischen Strebens und Selbstbewußtseins hier durchaus nachvollziehbar. Objektive Zwecke verfolgt der an Selbsterkenntnis interessierte Wille insofern, als er den Intellekt, das Licht, das er sich auf der höchsten Stufe seiner Objektivation angezündet hat 30 , nicht mehr in den Dienst der Befriedigung elementarer Bedürfnisse vermittels der Erkenntnis nach dem Satze vom Grunde stellt, sondern dieses Licht von derartigen Funktionalisierungen befreit, um mit ihm gleichsam das Panorama der gesamten Objektivationen des Willens auszuleuchten und sie in ihrem Wesen zu erkennen. Schopenhauers Formulierungen von sogenannten „eigenen Zwecken" 31 eines willensunabhängigen, angeblich nur noch nach „eigenen Gesetzen" 32 tätigen Intellekts erscheinen allerdings nicht überzeugend, weil er, der nur mit andersartigen Aufgaben betraute, in seiner essentiellen Willensdependenz und heteronomen Instrumentalität auch weiterhin grundsätzlich verbleibt — wenngleich mit entsprechenden Modifikationen. Eine ästhetische oder philosophische Zweckorientierung des Willens unterscheidet sich von der alltäglich-elementaren also insofern, als sogenannte ,objektive', mithin essenzbezogene Zwecke an die Stelle der subjektiven, auf bloße Relationen gerichteten Zwecke der Bedürfnis- und Erscheinungssphäre treten. Mit Schopenhauers Postulat ästhetischer Zweckfreiheit oder Zwecklosigkeit sind die sogenannten .objektiven Zwecke' nur unter der Voraussetzung kompatibel, daß dabei entsprechende Differenzen in der jeweiligen Bestimmung des Zweckbegriffs beachtet werden. Zwecklos erscheint ästhetische Einstellung nur unter einer vordergründigen Perspektive, die den Zweckbegriff auf denjenigen primär-elementarer Alltagsbedürftigkeit einschränkt. Ist der Zweckbegriff hingegen dergestalt erweitert, daß subjektive und objektive Zwecke gleichermaßen unter ihn subsumiert werden, so kann von einer Zwecklosigkeit des ästhetischen Intellekts nicht die Rede sein. An die Stelle einer auf die Beziehungen der Dinge untereinander und zum Willen gerichteten Erkenntnisweise, die sich an subjektiven Zwecken orientiert, tritt in ästhetischer Kontemplation eine andersartige, aber ebenfalls willensdependente Erkenntnisweise, die .objektive' Zwecke verfolgt. Vgl. W W V I S. 223. Analoge Belege in § 7. 31 W W V II S. 501; PP II S. 84. 32 w W V π S. 482, 280. 30

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Die von Schopenhauer verschiedentlich mit Nachdruck postulierte Einheit des Willens mit Interessen und Zwecken läßt sich mit der Annahme ästhetisch-objektiver Interessen nur dann vereinbaren, wenn auch sie als Interessen des Willens zu gelten haben. Durch Schopenhauers Thesen wurde zunächst der Eindruck nahegelegt, bei objektiven Interessen und Zwecken handele es sich eo ipso um die ,eigenen' Zwecke und Interessen des Intellekts, der nach seiner Befreiung vom Willensdienst „aus eigener Kraft" 33 , „aus eigenem Antriebe" 34 nach „eigenen Gesetzen" 35 tätig ist. Stattdessen zeigt sich nun: Objektive Interessen und Zwecke in ästhetischer Kontemplation koinzidieren keineswegs mit angeblich .eigenen Zwekken' des ästhetischen Intellekts, und zwar deshalb nicht, weil sie in letzter Instanz grundsätzlich Manifestationen des Willens sind und bleiben. Nicht nur kann von einer Identität objektiver Interessen und Zwecke mit vermeintlich ,eigenen' Zwecken des Intellekts keine Rede sein, vielmehr dokumentieren gerade sie — als spezifisch ästhetische Zwecke des Willens — die prinzipielle Unmöglichkeit derartiger intellektueller Faktoren. So nachhaltig zeigen solche ästhetisch-objektiven Zwecke und Interessen die Universalität und Omnipräsenz des Willens, daß sie als Komponenten des ästhetischen Intellekts im Sinne metavoluntativer Reminiszenzen nicht in Betracht kommen. Infolgedessen besteht auch keine Aussicht darauf, den ästhetischen Intellekt mit Bezug auf objektive Interessen und Zwecke sowie auf spezifisch ästhetisches Streben und Selbstbewußtsein als eine Art von Surrogat-Intentionalität, als willensunabhängiges Alternativ-Agens zu etablieren, sind doch gerade diese Komponenten symptomatisch für die Fortsetzung der grundsätzlichen — wenngleich in entscheidender Hinsicht modifizierten — Instrumentalität eines Intellekts, der zu genuiner Autonomie außerstande ist. Die in § 2 und § 3 dieser Arbeit bereits aufgewiesene Problematik eines durch derartige Komponenten des Intellekts begründeten intellektuellen Metavoluntarismus des Ästhetischen tritt hier mit ihren weitreichenden Implikationen erst eigentlich zutage. Tatsächlich ist Schopenhauers Philosophie durch einen universellen Voluntarismus geprägt, der ungebrochen — wenn auch modifiziert — selbst seine Ästhetik durchwirkt. Von einem Metavoluntarismus des Ästhetischen kann demzufolge nur in dem Sinne die Rede sein, daß im Zuge des Willenlosigkeitspostulats die relationale, am Satze vom Grunde 33

W W V II S. 500.

PP I S. 32. 35 W W V II S. 482, 280. Vgl. dazu ausführlich § 5. 34

§12. Metavoluntarismus des Ästhetischen

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orientierte und im Dienst einer Befriedigung elementarer Bedürfnisse stehende Erkenntnisweise zwar aufgehoben ist, jedoch ohne daß damit das Voluntative überhaupt eliminiert wäre. Denn in einem übergeordneten Horizont, also gewissermaßen auf einer Metaebene, bleibt der Wille fortwährend präsent und wirksam. Als Metavoluntarismus des Ästhetischen soll jetzt also die Konstellation gelten, die durch Transzendierung elementarer Bedürftigkeit und durch das sublimere, differenziertere, mithin höherstufige Streben des Willens nach Selbsterkenntnis gekennzeichnet ist. Im Gesamthorizont der Philosophie Schopenhauers können die Thesen, in denen er für ästhetische Einstellung eine Ausschaltung von Willen, Interesse, Zweck, Selbst und Selbstbewußtsein postuliert, mithin nur einen beschränkten Geltungsbereich beanspruchen. Jenseits einer solchen Relativierung zeigt sich: Nicht nur kann im Gesamthorizont der Schopenhauerschen Philosophie von einer Elimination des Selbstbewußtseins aus ästhetischer Einstellung keine Rede sein, vielmehr erweist sich ausgerechnet dieses ästhetische Selbstbewußtsein, das in § 6 zunächst lediglich als störender Inkonsistenzfaktor aufzutreten schien, als das eigentliche Selbstbewußtsein, als die Bewußtseinsstufe des Willens also, der allein Schopenhauer vollkommene Adäquatheit glaubt attestieren zu können. Systematisch bedeutsam sind demnach gerade die Aussagen, die zunächst enigmatisch wirkten und im Widerspruch zu Schopenhauers zentralen Asthetik-Postulaten zu stehen schienen. Im Gesamthorizont von Schopenhauers Philosophie bilden gerade sie den eigentlichen Fokus. „Im Menschen also kann der Wille zum völligen Selbstbewußtsein, zum deutlichen und erschöpfenden Erkennen seines eigenen Wesens, wie es sich in der ganzen Welt abspiegelt, gelangen", und zwar dadurch, daß der ästhetisch-kontemplative Mensch „eine völlig adäquate Wiederholung des Wesens der Welt unter der Form der Vorstellung, welches die Auffassung der Ideen, der reine Spiegel der Welt ist" 36 , zu leisten vermag. Der Antagonismus, den Schopenhauer für die Beziehung zwischen Selbstbewußtsein und Objektbewußtsein postuliert, wird in diesem Gesamthorizont überbrückt, so daß er problemlos das Genie als „ausgezeichnet klares Bewußtsein von den Dingen und dadurch [!] auch von ihrem Gegensatz, dem eigenen Selbst" 37 , definieren kann. Selbst das für Schopenhauers Ästhetik doch konstitutive Postulat der Willenlosigkeit erweist sich, da es allein die Ausschaltung des individuellen Willens •v. WWV I S. 396-397. 37 PP II S. 93.

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

und seiner Bedürfnisse, nicht aber des omnipräsenten Willens als universellen Weltprinzips und Dinges an sich beinhaltet, als vordergründig, da auf eine spezifische Perspektive bezogen. Die Negativität von Schopenhauers Postulat ästhetischer Willenlosigkeit ist mithin selbst noch Exponent einer scheinhaften Oberflächendimension. Die unter ihr verborgene essentielle Tiefensphäre hingegen wird vollends bestimmt durch die Positivität des Willens. Eigentlich, nämlich ,an sich' in Schopenhauers Sinne ist auch die Ästhetik nicht Sphäre der Willenlosigkeit, vielmehr bleibt sie fortwährend Terrain des Willens, der hier lediglich andersartige, nämlich metaphysische Zwecke auf eine besondere Weise verfolgt. Schopenhauers Ästhetik der Willenlosigkeit erweist sich mithin in metaphysischem Horizont als eine Ästhetik des Willens\

II. Zu behandeln sind nun Tendenzen zu einem Metaästhetizismus des Voluntativen, der über die von Schopenhauer oftmals nachdrücklich hervorgehobene Kluft zwischen Ästhetischem und Voluntativem — gleichsam vom anderen Ufer aus — eine Brücke schlägt und insofern den Metavoluntarismus des Ästhetischen zu ergänzen scheint. Zurückzugreifen ist im folgenden vornehmlich auf Analyseergebnisse von § 5 und § 6. Sie seien einleitend rekapituliert. Als bedeutsam erweisen sich hier solche Aussagen Schopenhauers, aus denen sich eine ambivalent zwischen Autonomie und Heteronomie oszillierende ,Natur' des Intellekts ergibt. Wichtig sind ferner die Implikationen seiner Abnormitätsthese. Nicht allein kennzeichnet Schopenhauer das Genie durch eine singuläre „abnorm starke und übermächtige Entwickelung des Intellekts und das daraus entstehende ganz unverhältnismäßige Uberwiegen desselben über den Willen" 38 ; darüber hinaus betont er wiederholt den abusiven Charakter willensunabhängiger Intellekttätigkeit in ästhetischer Einstellung: Das Erkenntnisvermögen, das sich vom Willensdienst „emanzipiert" hat, „um auf eigene Hand tätig zu sein", erweist sich seines Erachtens als „ein seiner Bestimmung untreu gewordener Intellekt". 39 Er wird mithin seiner naturgemäßen Funktion nicht mehr gerecht, die darin besteht, als „das Medium der Motive" 40 , „auf die Wahl der allerbesten Zwecke und Mittel bePP II S. 682. Weitere Belege finden sich in § 5. 39 W W V II S. 498. Vgl. auch S. 492. 4 0 W W V II S. 485. Vgl. ferner S. 498. 38

§12. Metavoluntarismus des Ästhetischen

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dacht" 41 , die „Beziehungen der Dinge teils zueinander, teils zum Willen des erkennenden Individuums" 42 aufzufassen, wobei er „vom Willen, dem Ursprünglichen im Menschen, in Tätigkeit gesetzt und darin erhalten" wird. 43 Von der Normalität dieser heteronom-instrumentellen Funktion des Intellekts grenzt Schopenhauer die Abnormität der spezifischen Aktivität ab, zu der sich der vom Willensdienst befreite Intellekt „ganz allein aus freien Stükken" 44 aufschwingt, indem er „aus eigenem Antrieb" 45 , „aus eigener Kraft und Elastizität frei tätig ist". 46 Dieses von Schopenhauer wiederholt betonte ,Eigene' 47 scheint einen autonomen Status des ästhetischen Intellekts zu signalisieren, der, „von seiner Wurzel, dem Willen, abgelöst, frei schwebend und doch höchst energisch tätig" ist. 48 Diese Einschätzung wird insbesondere dort nahegelegt, wo Schopenhauer von diesem „seinen eigenen Zwecken" 49 nachgehenden Intellekt behauptet, daß er dabei „frei seinen eigenen Gesetzen folgt und [...] aus eigenem Triebe in höchster Spannung und Tätigkeit ist". 50 Die weiter oben bereits eingehend behandelte Problematik solcher vermeintlich „eigenen Zwecke" des ästhetischen Intellekts bleibt hier — aus heuristischen Gründen — zunächst unberücksichtigt. Die ästhetische Autonomie des Intellekts gründet sich laut Schopenhauer also auf „eine ihm unnatürliche abusive Tätigkeit", die bedingt ist „durch ein entschieden abnormes, daher eben sehr seltenes Ubergewicht des Intellekts". 51 Sie unterscheidet sich gravierend von „jener natürlichen Form seiner Erkenntnisse, welche der Satz vom Grunde ausdrückt". 52 Der „naturwidri41 w w v II S. 498. 42 WWV II S. 501. Vgl. ergänzend WWV II S. 469 und PP II S. 84. 4 3 PP II S. 495. 4 4 WWV II S. 490. 4 5 PP II S. 84. Vgl. auch WWV II S. 482 und PP I S. 32. 46 w w v π S. 500. Vgl. dort auch S. 470, 482, 486; ferner PP II S. 505. 4 7 Vgl. außer den im laufenden Text bereits genannten Belegen zusätzlich noch WWV II S. 486, wo von „eigener Elastizität" die Rede ist, und WWV II S. 498: „auf eigene Hand". 48 WWV II S. 482. 49 WWV II S. 501. so WWV II S. 482. Von „eigenen Gesetzen" des Intellekts spricht Schopenhauer auch in WWV II S. 280. 51 PP II S. 495. Eine analoge Darstellung findet sich in WWV II S. 492: Willensunabhängige Tätigkeit ist „der Natur und Bestimmung des Intellekts entgegen, also gewissermaßen widernatürlich, daher eben überaus selten: aber gerade hierin liegt das Wesen des Genies". In WWV II S. 501 beschreibt Schopenhauer den genialen Intellekt als ein zweckentfremdetes Werkzeug. Der Intellekt „wird abusive gebraucht in allen freien Künsten und Wissenschaften" (PP II S. 495). 52 PP II S. 495.

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

gen Sonderung des Intellekts vom Willen" und dem dafür erforderlichen „völlig abnormen, wirklichen Übermaß von Intellekt" 53 entspringt also nach Schopenhauers Auffassung eine autonome Aktivität des Intellekts, kraft deren besonders die Genies, jene „höchst seltenen abnormen Menschen", dazu imstande sind, „das Wesentliche der Dinge und der Welt, also die höchsten Wahrheiten aufzufassen". 54 Riskante Unnatur und qualifizierende Ubernatürlichkeit verbinden sich hier zur Einheit eines doppelten Extremismus 55 , die sowohl der Exzentrizität als auch der Exklusivität dieser Erkenntnisweise Rechnung trägt. Der Einheit von Autonomie und Abnormität steht eine Verknüpfung von Heteronomie und Naturgemäßheit des Intellekts diametral gegenüber. Diese klare Opposition allerdings ist dort aufgehoben, wo Schopenhauer von der „eigenen Natur" des Intellekts gerade nicht im Sinne der beschriebenen Willensdependenz ausgeht. Durch Erregung des Willens sieht Schopenhauer „die Funktion des Intellekts gestört und durch seine Einmischung ihr Resultat verfälscht" 56 , so daß „dieser seine Funktion nur so lange ganz rein und richtig vollziehn kann, als der Wille schweigt und pausiert". 57 Und in prägnanter Zuspitzung vertritt Schopenhauer folgende Auffassung: Der Intellekt muß, wenn er das vom Willen Gewünschte nicht herbeizuschaffen vermag, dieses zumindest vormalen und dabei „seiner eigenen Natur, die auf Wahrheit gerichtet ist, Gewalt antun [...], indem er sich zwingt, Dinge, die weder wahr noch wahrscheinlich, oft kaum möglich sind, seinen eigenen Gesetzen zuwider für wahr zu halten, um nur den unruhigen und unbändigen Willen auf eine Weile zu beschwichtigen, zu beruhigen und einzuschläfern". 58

53 W W V II S. 500. Vgl. dort auch S. 486, 501, 539, 540. 54 W W V II S. 496. Eine solche „abnorm erhöhte Erkenntniskraft" ( W W V II S. 501) reserviert Schopenhauer aber durchaus nicht für das Genie; vielmehr hat seines Erachtens „jede Steigerung des Intellekts über das gewöhnliche Maß hinaus" als Abnormität zu gelten ( W W V I S. 274) — also auch in rezeptionsästhetischem Kontext. 55

Inwiefern diese Erkenntnisweise nach Schopenhauer sowohl Privileg ist als auch Risiken in sich birgt, wurde in § 5 dargelegt. Als Textbeleg vgl. W W V II S. 496: Die Ausrichtung auf das Objektiv-Theoretische statt auf das Persönlich-Praktische ist „etwas der menschlichen Natur Fremdes, etwas Unnatürliches, eigentlich Ubernatürliches".

W W V II S. 278. Von Verfälschung und Verunreinigung der Erkenntnisse des Intellekts durch den Willen ist mehrfach auch in PP II S. 80 — 81 die Rede. Vgl. dazu auch § 7 (mit zahlreichen Belegstellen). 57 w w V II S. 277. 58 W W V II S. 2 7 9 — 280. Und im Kontext dieser Aussage behauptet Schopenhauer, infolge fundamentaler Verschiedenheit von Willen und Intellekt werde mit affektiver „Aufregung und Steigerung des Willens" keineswegs „auch der Intellekt mit gesteigert", sondern — ganz im Gegenteil — sogar nachhaltig behindert ( W W V II S. 279). 56

§ 1 2 . Metavoluntarismus des Ästhetischen

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Diese Aussage über die ,eigene Natur' des Intellekts befindet sich in einem auffälligen Kontrast zu jenen Formulierungen, nach denen gerade im Willensdienst die „natürliche Tätigkeit" 59 und „eigentliche Bestimmung" 60 des Intellekts besteht. Während die behauptete Eigengesetzlichkeit des Intellekts im obigen Zitat mit „seiner eigenen Natur" koinzidiert, beinhaltete sie im zuvor dargestellten ästhetischen Kontext genau das Gegenteil: grundlegende Naturwidrigkeit. Zwei divergente Bestimmungen der ,Natur' des Intellekts also lassen sich feststellen. Einerseits nimmt Schopenhauer den Status von .Naturgemäßheit' für dessen willensdependent-heteronome Instrumentalität in Anspruch. Andererseits jedoch setzt er die ,eigene Natur' des Intellekts mit einem autonomen Wahrheitsstreben gleich, das der Interessenlage des Willens diametral gegenüberzustehen scheint.61 Willensdienst und Wahrheitssuche sind demzufolge offenbar inkompatibel. Dadurch gerät Schopenhauers Konzeption von Wesen und Funktion des Intellekts in eine problematische Ambivalenz mit weitreichenden Folgen: Denn Natur und Unnatur sind via negationis in der Weise aufeinander bezogen, daß die Ambivalenz des einen Faktors eo ipso eine entsprechende Zweideutigkeit des anderen nach sich zieht. Betrachtet Schopenhauer den Willensdienst als naturgemäße Bestimmung des Intellekts, so hat dessen ästhetischwillensindependente Aktivität als abnorm-abusive Tätigkeit zu gelten. Ästhetische Autonomie des Intellekts erscheint mithin als Naturwidrigkeit, wenn willensabhängige Heteronomie seine eigentliche ,Natur' darstellt. Besteht hingegen im autonomen, über die Interessen des Willens sich vermeintlich hinwegsetzenden Wahrheitsstreben die ,Natur' des Intellekts, so schlägt ausgerechnet der von Schopenhauer zumeist als ,natürliche Bestimmung' des Intellekts bezeichnete Willensdienst und seine mit ihm verbundene Heteronomie in eine Art von Abnormität um. Zwar läßt sich diese außerästhetische Naturwidrigkeit — im Unterschied zur Abnormität ästhetischer Autonomie des Intellekts — nicht durch explizite Thesen Schopenhauers belegen, wohl aber ergibt sie sich aufgrund der Interdependenz zwischen Natur und Naturwidrigkeit implizit, nämlich durch Konklusion. Das Oszillieren der ,Natur' des Intellekts hat also zur Folge, daß auch seine Abnormität zwischen Willensdependenz und -independenz changiert. 5 9 PP II S. 495. ήο v ? W V II S. 498. 6 1 Denn das Schweigen des Willens und vorübergehende Aufhebung der Instrumentalität des Intellekts sind — laut Schopenhauer — die Voraussetzung dafür, daß der Intellekt objektive Wesenserkenntnis gewinnen und damit seiner Funktion gerecht werden kann.

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Kann der Intellekt nur beim Schweigen des Willens „seiner eigenen Natur, die auf Wahrheit gerichtet ist" 62 , folgen, so scheint im Gegensatz zu Schopenhauers sonstigen Thesen hier gerade nicht ästhetische Einstellung, sondern stattdessen die heteronome Willensdependenz des Intellekts eine Art von Selbstverleugnung und Abnormität vorauszusetzen, ist doch der willensbestimmte Intellekt offenbar dazu gezwungen, sich entgegen seinem philalethischen Wesen und „seinen eigenen Gesetzen zuwider" 63 an den Interessen des Willens zu orientieren. Tendenzen zu einem Metaästhetizismus des Voluntativen kann man demnach darin sehen, daß in Gestalt von Abnormität ein Charakteristikum ästhetisch-autonomer Erkenntnisweise hier infolge einer autonom-heteronomen Doppelnatur des Intellekts Eingang auch in die außerästhetische Sphäre willensdependenter Heteronomie findet. Von den bislang in ästhetischem Kontext aufgetretenen Phänomenen Selbstverleugnung und Abnormität aus läßt sich also eine Brücke schlagen, die zwischen den Bereichen des Ästhetischen und des Voluntativen vermittelt, und zwar diesmal vom anderen Ufer, vom Terrain des Ästhetischen aus.

III. Im folgenden sei der Versuch unternommen, den Metaästhetizismus des Voluntativen in eine Beziehung zum Metavoluntarismus des Ästhetischen zu setzen. Denn trotz beiderseitiger Vermitdungsfunktion, die gleichsam eine doppelgleisige Brücke ins jeweils gegenüberliegende, vorläufig ausgegrenzte und daher fremde Territorium ermöglicht, stehen die beiden Komponenten bislang noch unvermittelt nebeneinander. Im Anschluß an den sozusagen metaästhetischen Status einer Abnormität der Intellekttätigkeit im Bereich willensdependenter Heteronomie empfiehlt sich für eine Vermitdung mit metavoluntaristischen Tendenzen zunächst ein Blick auf die Ansätze zur Interpretation ästhetischer Selbstverleugnung. Von den in § 6 diskutierten vier formalen Kombinationsmöglichkeiten, bei denen die Faktoren Wille und Intellekt jeweils in unterschiedliche AgensPatiens-Relationen eintreten, erschien zunächst nur die erste unmittelbar einleuchtend: Ihr zufolge geht der ästhetische Verleugnungsakt vom Intellekt aus, richtet sich auf den Willen als das eigentliche Selbst und zeigt damit die 62 w w v II s. 279. 63 w W V II S. 280.

§ 1 2 . Metavoluntarismus des Ästherischen

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Abwendung des autonom gewordenen Intellekts vom Willensdienst. Daß sich der Intellekt als Agens vom Willen als Patiens distanziert, läßt sich mit Schopenhauers These belegen, der für ästhetische Kontemplation erforderliche „Akt der Selbstverleugnung" bestehe darin, „daß die Erkenntnis sich einmal vom eigenen Willen gänzlich abwendet". 64 Damit scheint dieser Selbstverleugnungsmodus problemlos legitimiert zu sein. Die zweite Deutungsvariante hingegen, derzufolge der Intellekt sowohl Agens als auch Patiens ästhetischer Selbstverleugnung sein sollte, erweckte zunächst einen eher dubiosen Eindruck. Nachvollziehbar wurde ein solcher reflexiver Akt des Intellekts erst auf der Folie der in § 5 analysierten autonom-heteronomen Doppelnatur des Intellekts, in der autonome Philalethie und heteronom-willensbestimmte Instrumentalität als, wie es schien, unvereinbare Komponenten angelegt sind. Im vorangegangenen wurde die in § 5 entfaltete These von einer mit dieser Doppelnatur korrespondierenden Dualität auch von Abnormität bereits wiederholt. Auf der Folie der Ambivalenz sowohl von Natur als auch von Abnormität des Intellekts ergibt sich eine spezifische Differenz innerhalb dieser nur scheinbar ungebrochenen Identität von Agens und Patiens in der besagten zweiten Selbstverleugnungsvariante: dadurch, daß die autonome Philaleth,Natur' des Intellekts sich auf seine heteronom-instrumentelle ,Natur' verleugnend richtet. Nur indem der Intellekt seine heteronom-willensdependente ,Natur' verleugnet, vermag er demnach sein autonom-philalethisches Wesen ihr gegenüber zum Vorschein und zur Geltung zu bringen. Allein durch einen Vorrang der Philaleth-,Natur' des Intellekts, die ihn zu ästhetischer Wesenserkenntnis allererst befähigt, kann der entgegengesetzte Modus einer Selbstverleugnung vermieden werden, die der Intellekt seiner autonomphilalethischen ,Natur' antun muß, wenn er unter dem Druck der Willensherrschaft „seiner eigenen Natur, die auf Wahrheit gerichtet ist", zuwiderhandelt, indem er sich dazu zwingt, Unwahres und Unwahrscheinliches entgegen „seinen eigenen Gesetzen [...] für wahr zu halten", nur um dem Willen dadurch eine Gefälligkeit zu erweisen. 65 Auf der Basis der intellektualen Doppelnatur und des durch sie bedingten Zusammenspiels von jeweils partieller Selbstbejahung und Selbstverleugnung des Intellekts erscheinen Eigengesetzlichkeit und Selbstverleugnung problemlos kompatibel. Zwei Verleugnungsvarianten, bei denen der Wille als Agens fungiert, komplettierten in § 6 schließlich die Vierheit formaler Möglichkeiten zur 64 M

W W V II S. 473. Zu den hypothetischen Selbstverleugnungsmodi vgl. § 6. Vgl. W W V II S. 2 7 9 - 2 8 0 .

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Kombination von Agens und Patiens. Für sie ist bereits die über § 6 hinausweisende Erkenntnis vorausgesetzt, daß der Wille trotz Schopenhauers Willenlosigkeitspostulats in ästhetischer Einstellung gleichwohl präsent und wirksam bleibt. Die in § 7 ausführlich dargelegten Hauptthesen der Schopenhauerschen Willensmetaphysik lassen sich durch die folgende aufschlußreiche Textstelle ergänzen: Wenn „der individuelle Wille die ihm beigegebene Vorstellungskraft auf eine Weile freiläßt und sie von dem Dienste, zu welchem sie entstanden und vorhanden ist, einmal ganz dispensiert, [...] so wird sie alsbald vollkommen objektiv, d. h. sie wird zum treuen Spiegel der Objekte". 66 Befremdlich wirkt diese Aussage zunächst in zweierlei Hinsicht: erstens bezüglich des - hier fehlenden — ästhetischen Willenlosigkeitspostulats, zweitens angesichts einer konträr erscheinenden These Schopenhauers: „Der Wille, welcher die Wurzel des Intellekts ist, widersetzt sich jeder auf irgend etwas anderes als seine Zwecke gerichteten Tätigkeit desselben". 67 Der Gegensatz zwischen diesen beiden Textstellen scheint vorerst auch für den Willen eine oszillatorische Bewegung zwischen zweierlei,Naturen' zu beinhalten. Zugleich Agens und Patiens von Selbstverleugnung ist der Wille offenbar insofern, als er allein unter der Voraussetzung den Intellekt zu ästhetisch-autonomer Tätigkeit freistellen kann, daß er sich über seine eigene Abwehrhaltung gegenüber willensunabhängiger Intellekttätigkeit hinwegzusetzen vermag. Eine Art von Selbstverleugnung des Willens könnte man darin deshalb erblicken, weil der Wille, indem er den Intellekt „dispensiert", seiner auf Indienstnahme des Intellekts gerichteten ,Natur' und seinem Interesse am Fortbestand der Herrschaftsverhältnisse zuwiderhandelt. Die vierte Spielart von Verleugnung, die man allerdings semantisch nicht auch als genuinen Fall von Selbstverleugnung in Anspruch nehmen kann, wäre dann folgendermaßen zu beschreiben: Der Wille als das eigentliche Selbst verleugnet beziehungsweise negiert die instrumentell-heteronome Skla66 p p j i § 492. - Rudolf Malter deutet diese Konstellation dahingehend, „daß der Wille diesen Zustand duldet"; dabei läßt er „gleichsam seine eigene Entmächtigung über sich ergehen und gönnt dem Subjekt das Glück seiner Abwesenheit" (S. 328). Daß der Wille mit dem Losreißen des Erkennens von ihm nichts zu tun hat, sondern nur mit dessen Rückholung in seinen Herrschaftsbereich, ist nach der Auffassung Malters „gewiß" (S. 329), allerdings nicht weiter erklärbar. Von dem im vorliegenden § 12 unternommenen Interpretationsversuch unterscheidet sich Malters These grundlegend. (Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991. S. 328 — 329.) Die Differenz zwischen den Deutungsansätzen zeigt sich auch in Malters Annahme eines (wenn auch instabilen) autarken Zustands des ästhetischen Intellekts (vgl. a. a. O. S. 328) im Gegensatz zu meiner Hypothese von dessen prinzipieller Heteronomie. f'7 W W V II S. 491.

§ 1 2 . Metavoluntarismus des Ästhetischen

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ven-,Natur' des Intellekts, indem er dessen willensindependent-autonome, den Willenszwecken widerstrebende Tätigkeit fördert. Statt dem Freiheitsdrang des Intellekts von vornherein einen Riegel vorzuschieben, scheint der Wille sein ureigenes Interesse am Fortbestand der etablierten Dominanzverhältnisse so weit zu verleugnen, daß er seinem abtrünnigen, zur Flucht bereiten Sklaven gleichsam eigenhändig das Tor in die Freiheit öffnet. An der Uneigennützigkeit des Willens, der zur Autonomie des Intellekts unter Vernachlässigung seiner eigenen Interessen aktiv beizutragen scheint, deuteten sich bereits in § 6 erste Zweifel an, deren Berechtigung im folgenden zu begründen sein wird. Dieses tetradische Konstrukt ist nämlich in entscheidender Hinsicht abzuwandeln, sofern man die weiter oben angestellten Überlegungen zu spezifisch ästhetischen Interessen des Willens in Abgrenzung von seiner subjektivalltäglichen Zweckorientierung mitberücksichtigt. Gerade indem sich der Wille über sein subjektives Interesse hinwegsetzt, verfolgt er ein objektives Interesse, erstrebt Befriedigung seines subtileren metaphysischen Bedürfnisses nach Selbsterkenntnis. Das bisher vermutete Verhältnis zwischen Negation und Affirmation bedarf nun einer grundlegenden Korrektur. Schien bislang die Verleugnung oder Negation heteronomer Instrumentalität des Intellekts eine Affirmation und Förderung seiner autonomen Philalethie zu beinhalten (vice versa), so ergibt sich — auch in bezug auf die schon mehrfach hervorgehobene Problematik intellektualer Autonomie — abschließend eine andersgeartete, neue Horizonte eröffnende Perspektive: Prädiziert man im Rahmen des weiter oben entfalteten Metavoluntarismus des Ästhetischen objektive Interessen und Zwecke sowie ein spezifisch ästhetisches Streben und Selbstbewußtsein dem Willen, so entfallen nicht nur die contradictiones in adjectis, die im Falle einer Zuordnung dieser Momente zum Intellekt unvermeidlich sind. Außerdem ergeben sich weitreichende Folgen für Status und Wesen des Intellekts überhaupt: Entgegen dem durch Schopenhauers Thesen zunächst nahegelegten Eindruck kann von zwei gegensätzlichen, einander annähernd gleichrangigen Komponenten der ,Natur' des Intellekts keine Rede sein. Vielmehr erweist sich diese Einschätzung nun endgültig als verfehlt. 68 Die Tatsache, daß der Fokus von Schopenhauers Ästhetik letztlich in der Selbsterkenntnis

68

Im vorangegangenen wurde bereits darauf hingewiesen, daß die These vom (zumindest teilweise) autonomen Intellekt — trotz der Implikationen der Metavoluntarismus-These — aus heuristischen Gründen vorübergehend wiederaufgenommen wurde.

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des — grundsätzlich egoistischen 69 — Willens besteht, läßt auf pure Uneigennützigkeit des Willens bei der Dispensierung des Intellekts durchaus nicht schließen. Anzunehmen ist eher, daß der Wille selbst mit solcher Freilassung des Intellekts noch seine eigenen Zwecke und Interessen verfolgt. Und damit liegt hier die Vermutung nahe, daß der Intellekt, „dieser getriebene Fronknecht", sich täuscht, sofern er „in einer Feierstunde ein Stück von seiner Arbeit freiwillig aus eigenem Antrieb und ohne Nebenabsicht bloß zu eigener Befriedigung und Ergötzung zu verfertigen" glaubt. 70 Vermag der Wille seine objektiv-ästhetischen Interessen vielleicht sogar am besten dadurch zu wahren, daß er die ästhetische Erkenntnistätigkeit des Intellekts mit Hilfe der trügerischen Suggestion forciert, er sei dabei „bloß zu eigener Befriedigung und Ergötzung" tätig? Wenn diese Vermutung berechtigt ist (und dafür soll im folgenden argumentiert werden), dann wird die in § 5 ausführlich entfaltete These von der autonom-heteronomen Doppelnatur des Intellekts, in der selbstbestimmtes Wahrheitsstreben und willensabhängige Instrumentalität als antagonistische Komponenten einander gegenübertreten, vollends hinfällig: Ausgerechnet seine philalethischen Orientierungen machen den Intellekt dann zu einem Instrument, das geeignet ist, die objektiven Zwecke des an Selbsterkenntnis interessierten Willens zu realisieren. Von annähernder Gleichrangigkeit

69

70

Zur Bedeutung des Egoismus vgl. ζ. B. Kl. Sehr. S. 7 2 7 - 7 3 4 . Laut WWV I S. 455 ist der Egoismus „jedem Dinge in der Natur wesentlich" und „hat seinen Bestand" im „Gegensatz des Mikrokosmos und Makrokosmos oder darin, daß die Objektivation des Willens das prineipium individuationis zur Form hat [...]" (analog a. a. O. S. 468). In WWV II S. 688 betrachtet Schopenhauer den Egoismus als „eine so tief wurzelnde Eigenschaft aller Individualität überhaupt, daß [...] egoistische Zwecke die einzigen sind, auf welche man mit Sicherheit rechnen kann". PP II S. 84 (analog: HN III S. 237). Vgl. auch PP II S. 494: Bei künsderischen Leistungen geht es nur um das, „was der Intellekt ganz allein, ganz aus eigenen Mitteln leistet und als freiwillige Gabe darbringt". Diese These kann wohl (entgegen Schopenhauer) allenfalls eine potentielle Selbsteinschätzung des ästhetischen Intellekts beschreiben, die sich aber im Horizont von Schopenhauers Willensmetaphysik als unzutreffend herausstellt. Um eine Illusion mit ähnlichem Gehalt handelt es sich bei einer These Schopenhauers, nach der das Auseinandertreten von Willen und Intellekt im Genie „bis zur völligen Ablösung des Intellekts von seiner Wurzel, dem Willen, geht, so daß der Intellekt hier völlig frei wird" (WWV II S. 493). Entsprechendes gilt für die Aussage, ästhetische Kontemplation bestehe in „einer in jedem Sinn völlig uninteressierten Betrachtung" (WWV I S. 268). Eine nachhaltige Überschätzung des Aktionsspielraums, den der Intellekt in ästhetischer Kontemplation erhält, scheint auch die Formulierung zu prägen, der Intellekt sei „von seinem Ursprung, dem Willen, völlig abgetrennt" (WWV II S. 490, analog S. 265). Schopenhauers These, daß bei der Auffassung der Außenwelt „bisweilen ihre Beziehung auf den Willen momentan aus den Augen verloren werden muß, damit [!] sie desto reiner und richtiger vor sich gehe" (WWV II S. 362), ist aufschlußreich für die zweckorientierte Funktionalisierung solcher Realitätsverkennung.

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zweier gegensätzlicher Intellekt-,Naturen', nämlich autonomer Philalethie und heteronomer Willensdependenz, kann dann nicht mehr die Rede sein. Stattdessen erhält die heteronome Willensdependenz des Intellekts einen so großen Stellenwert, daß die vermeintlich autonome Philalethie des Intellekts zu einer bloßen Spielart seiner grundlegenden Instrumentalität wird. Statt der instrumentell-heteronomen Vereinnahmung des Intellekts als Antagonist gegenüberzutreten und ihr somit äußerlich zu bleiben, wird das Wahrheitsstreben des Intellekts dann gleichfalls in den umfassenden Rahmen seiner Heteronomie integriert. Die angebliche Autonomie des ästhetischen Intellekts scheint dabei zur bloßen Schimäre zu werden, zu einer Art von Selbsttäuschung, die, vom Willen inszeniert und vom Intellekt autosuggestiv internalisiert, nur die Erkenntnisanstrengung im Dienste des Willens steigert. So erstaunlich dieses Konstrukt einer durch intellektuelle Selbsttäuschung geförderten Selbsterkenntnis des Willens auch wirken mag: immerhin läßt sich mit Bezug auf mehrere Anhaltspunkte bei Schopenhauer dafür argumentieren — auch wenn eine .zwingende' Beweisführung dabei nicht zu erwarten ist. Drei Argumente seien im folgenden entwickelt. Erstens: Auffälligerweise verwendet Schopenhauer in seiner Ästhetik mehrfach Begriffe, die für eine gewisse Illusionshaltigkeit ästhetischer Einstellung sprechen: Die Freude am Schönen ist „nur höchst wenigen und auch diesen nur als ein vorübergehender Traum vergönnt" 71 ; „wie der Schlaf und der Traum" hebt das „Freiwerden der Erkenntnis" den Kontemplierenden aus der üblichen Relation der Objekte zu seinem Willen heraus 72 ; sobald diese jedoch „wieder ins Bewußtsein tritt, hat der Zauber ein Ende". 73 Signifikant ist auch eine Textpassage, die Schopenhauer kurz darauf folgen läßt: „Jene Seligkeit des willenlosen Anschauens ist es endlich auch, welche über die Vergangenheit und Entfernung einen so wundersamen Zauber verbreitet und sie in so sehr verschönerndem Lichte uns darstellt, durch eine Selbsttäuschung". 74 Denn bei der Erinnerung an Vergangenes ruft die Phantasie allein die Objekte zurück, unabhängig von ihrem Verhältnis zum Willen des leidensverhafteten Subjekts; so erhält das Subjekt den trügerischen Eindruck, „daß jenes Objektive damals ebenso rein, von keiner Beziehung auf den 71 W W V I S. 431. Zum Traumbegriff in anderem Kontext vgl. W W V I S. 441, 388. 7 2 W W V I S. 282. Analog: MS S. 94. Auch mit der Musik sind Aspekte von Täuschung verbunden: Gemäß W W V II S. 584 „schmeichelt die Musik sich so in unser Herz, daß sie ihm stets die vollkommene Befriedigung seiner Wünsche vorspiegelt". 73 VCWV I S. 282. Den Begriff ,Zauber' verwendet Schopenhauer auch in W W V II S. 483 in ästhetischem Kontext. 74 W W V ι s. 283.

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Willen getrübt" vor ihm gestanden habe „wie jetzt sein Bild in der Phantasie". 7 5 Und sein ästhetisches Ataraxie-Ideal setzt Schopenhauer folgendermaßen in eine Relation zu dieser Täuschung: „Wir können durch die gegenwärtigen Objekte ebensowohl wie durch die entfernten uns allem Leiden entziehn, sobald wir uns zur rein objektiven Betrachtung derselben erheben und so die Illusion hervorzubringen vermögen, daß allein jene Objekte, nicht wir selbst gegenwärtig wären". 7 6 ,Traum', ,Seligkeit', ,wundersamer Zauber', verschönerndes Licht', Selbsttäuschung' und ,Illusion' — das sind die Begriffe, die einen spezifischen Illusionsgehalt der ästhetischen Einstellung zum Ausdruck bringen. Dabei verhält es sich offenbar einerseits so, daß ein ästhetisches Subjekt solchem Zauber tendenziell passiv-empfangend gegenübersteht. Andererseits jedoch scheint es eine aktive Funktion insofern zu übernehmen, als es die ästhetische Illusion selbst allererst produziert. 77 Eine bezeichnende Radikalisierung findet sich in Schopenhauers Vorlesungen zur „Metaphysik des Schönen". Uber das Erfreuliche der rein objektiven Anschauung äußert er sich dort folgendermaßen: „Wer dies erzwingen will [!], muß im Stande seyn die Dinge unter der Illusion zu betrachten, daß sie ganz allein da wären, er, der Beschauer, aber gar nicht gegenwärtig". 78 Der explizit formulierte Willensbezug läßt das Illusionäre der ästhetischen Einstellung als Ergebnis einer voluntativen Aktion erscheinen. Das ist für den vorliegenden Argumentationszusammenhang überaus aufschlußreich. Auch wenn man die besagte Illusion nicht ohne weiteres gleichsetzen kann mit einer durch den Willen evozierten Selbsttäuschung des Intellekts, der seine lediglich eingebildete Autonomie irrtümlich für real hält: eine gewisse Affinität immerhin deutet sich hier durchaus an. Sie läßt sich fundieren durch ein zweites Argument, das man aus einer Aussage Schopenhauers zur Relation zwischen Willen und Vorstellung gewinnen kann. Schopenhauer sieht dort die Höherentwicklung des Intellekts abhängig von der zunehmenden Komplexität des Organismus. Mannigfaltigkeit und spezifische Ausrichtung seiner Bedürfnisse erfordern eine zunehmende Weite des Erkenntnishorizonts sowie eine gesteigerte Distinktheit der Außen-

75 76 77 78

W W V I S. 283. W W V I S. 283. Zur Problematik der Relation zwischen Spontaneität und Rezeptivität vgl. § 4 dieser Arbeit. MS S. 97. Und wenn Schopenhauer diese These mit der folgenden, auf den Betrachter bezogenen Formulierung fortsetzt: „sein eignes Selbst muß aus seinem Bewußtseyn verschwinden", dann scheint auch dies zu den Erscheinungsweisen geglückter Selbstillusionierung zu gehören.

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weltwahrnehmung, die von der Entwicklung des Zerebralsystems abhängig sind. 79 Die Auffassung der Außenwelt verlangt dann „immer mehr Aufmerksamkeit und zuletzt in dem Grade, daß bisweilen ihre Beziehung auf den Willen momentan aus den Augen verloren werden muß, damit sie desto reiner und richtiger vor sich gehe". 80 Der finale Nebensatz macht deutlich, daß es sich hier um eine zweckorientierte, mithin instrumentalisierte Illusion handelt, die sich durchaus im Einklang befindet mit Schopenhauers globaler These von der „geheimen und unmittelbaren Gewalt, welche der Wille über den Intellekt ausübt". 81 Auch die von Schopenhauer als Spezifikum des Menschen postulierte „reine Sonderung des Erkennens vom Wollen"82 gehört wohl in den Bereich solcher Illusionsbildung, setzt sie doch ebenfalls eine Außerachtlassung der essentiellen Willensabhängigkeit jeglicher Erkenntnis im Horizont von Schopenhauers Willensmetaphysik voraus. Ihre eigentümliche Komplexität gewinnt die Relation zwischen Willen und Intellekt dadurch, daß Illusion hier in Gestalt eingebildeter Willensindependenz der Erkenntnis offenbar als ein Mittel fungiert, das letztlich im Dienste voluntativen Wahrheitsstrebens steht. Als drittes Argument kann man eine Täuschungskonstellation anführen, die Schopenhauer in seiner „Welt als Wille und Vorstellung II" unter dem Titel „Metaphysik der Geschlechtsliebe" beschreibt. Für den vorliegenden Argumentationskontext ist dieses Kapitel zwar nicht durch seinen konkreten Gehalt, wohl aber qua Strukturanalogie aufschlußreich. Nach Schopenhauers Auffassung beruht die Leidenschaft der Geschlechtsliebe auf einem Wahn, „der das, was nur für die Gattung Wert hat, [...] als für das Individuum wertvoll" vorspiegelt 83 , ihm „den eigenen Genuß vorgaukelt", während es „emsig und mit Selbstverleugnung für die Gattung" 84 arbeitet. Nach Schopenhauer ist der Egoismus im Individuum so tief verwurzelt, daß „egoistische Zwecke die einzigen" sind, die sein Tun mit Sicherheit bestimmen. 85 Mithin liefe die Natur Gefahr, den Gattungszweck, die Fortpflanzung, zu verfehlen, wenn es ihr nicht gelänge, das Individuum vermittels einer Schimäre derart zu täuschen, daß es, durch „die GeschlechtsVgl. W W V II S. 361. W W V II S. 362. W W V II S. 282; dort gibt Schopenhauer auch einige Beispiele. W W V II S. 362. W W V II S. 7 1 3 . Analog S. 688. W W V II S. 692. A u f S. 691 behauptet Schopenhauer, daß das Individuum, „vom Willen der Gattung beseelt, mit jeglicher Aufopferung einem Zwecke diente, der gar nicht sein eigener war". Vgl. außerdem S. 690, 709, 714. «5 W W V II S. 688.

79

so ei 82 «3 84

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

liebe, d. i. das Interesse der Gattung" 86 , verblendet, „individuellen Zwecken nachzugehn wähnt" 87 , während es jedoch unter der „Maske eines egoistischen Zweckes" 88 in Wirklichkeit „bloß generelle" Zielsetzungen verfolgt. 89 Gemäß dieser Darstellung Schopenhauers weiß der „Genius der Gattung", also der in der Gattung sich objektivierende Wille 90 , durch geschickte Strategie den bestehenden Interessenkonflikt „mit den schützenden Genien der Individuen" 91 souverän zu seinen Gunsten zu entscheiden. Als „der Betrogene der Gattung" 92 handelt das Individuum mithin im Auftrag des Gattungswillens, der seine spezifischen Zwecke vermittels eines Täuschungsmanövers gleichsam subkutan durchzusetzen vermag. 93 Illusionshaltigkeit, Realitätsverkennung und Selbstverleugnung erhalten also nach Schopenhauer im Bereich der Geschlechtsliebe einen besonderen Stellenwert. Der zunächst eher spekulative Anstrich der These von einer spezifisch ästhetischen Selbsttäuschung des Intellekts als Medium gesteigerter Selbsterkenntnis des Willens verschwindet in genau dem Maße, in dem die drei Argumente sukzessive ihre Uberzeugungskraft zu entfalten vermögen. Zwar läßt sich diese These nicht im strengen Sinne ,beweisen', da Schopenhauers Darlegungen - im Hinblick auf den konkreten Stellenwert von Selbsttäuschung in ästhetischer Einstellung — wenig Aufschluß geben. Wohl aber kann anhand der drei Argumente gezeigt werden, daß fundamentale Täuschungskonstellationen bei Schopenhauer verschiedentlich eine auffällige Bedeutung erhalten. Auf dieser Basis läßt sich die These von einer Selbsttäuschung des (nur scheinbar autonom agierenden) Intellekts, die durch den an Selbsterkenntnis interessierten Willen hervorgerufen wird, wohl zumindest als sinnvoller und begründbarer Deutungsversuch legitimieren. Die autonom-heteronome Doppelnatur des Intellekts, mit deren Entfaltung sich § 5 der vorliegenden Abhandlung befaßte, löst sich im Rahmen dieser Interpretation in die Einheitlichkeit einer umfassenden Heteronomie des Intellekts auf. Sie läßt sich allerdings intern durchaus in verschiedene Modi von Willensdependenz differenzieren. Das vermeintlich autonome 86 toy π s. 87 VTOV II S. 88 VTOV II S. 89 V W V II S.

707. 688. 692. 688.

Vgl. W W V II S. 7 0 9 - 7 1 0 . οι w w V II S. 712. 92 W W V II S. 691. Vgl. auch S. 713: „der Betrogene des Willens der Gattung". 9 3 Vgl. W W V II S. 702. 90

§ 1 2 . Metavoluntarismus des Ästhetischen

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Wahrheitsstreben des Intellekts erweist sich dabei als vordergründig; stattdessen scheint der Intellekt selbst in ästhetischem Kontext grundsätzlich auf einen instrumentell-heteronomen Status festgelegt zu sein. Indem er als bloßes Instrument im Dienste des Willens verbleibt, fungiert er als Mittel zum Zweck der Befriedigung subtilerer Bedürfnisse des Willens und hilft mithin dessen Interesse an der Erkenntnis seines eigenen Wesens durchzusetzen. Selbst von dem „entfesselten Intellekt", den Schopenhauer dem Genie zuschreibt94, kann im Hinblick auf die essentielle und unaufhebbare Willensdependenz des Intellekts nicht plausiblerweise die Rede sein. Denn im Intellekt realisiert sich der Wille „als ein Erkennenwollen'', und zwar nicht nur in dem Sinne, daß er „als Wille zur Wahrnehmung der Außenwelt"95 auf die phänomenale Sphäre ausgerichtet ist; außerdem bedarf er des Intellekts auch zu seiner Selbsterkenntnis: Nur im Menschen „kann der Wille zum völligen Selbstbewußtsein, zum deutlichen und erschöpfenden Erkennen seines eigenen Wesens, wie es sich in der ganzen Welt abspiegelt, gelangen", weil nur der Mensch aufgrund seines hochentwickelten und ausdifferenzierten Erkenntnisvermögens „eine völlig adäquate Wiederholung des Wesens der Welt unter der Form der Vorstellung", mithin „die Auffassung der Ideen" zu leisten vermag.96 Sowohl in dieser These Schopenhauers als auch in seiner Überzeugung, daß sich der Wille im Intellekt „als ein Erkennenwollen'''' objektiviert, tritt der monistische Grundzug der Schopenhauerschen Willensmetaphysik deutlich zutage. Daß die Relation zwischen Willen und Intellekt nicht als ein Antagonismus zwischen gleichrangigen Opponenten aufzufassen ist, zeigt sich auch dort, wo Schopenhauer die geniale Melancholie darin erblickt, „daß der Wille zum Leben, von je hellerem Intellekt er sich beleuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt".97 Sofern der Wille, der laut Schopenhauer „rein an sich betrachtet, erkenntnislos und nur ein blinder, unaufhaltsamer Drang ist"98, hier explizit Wahrnehmung leistet, dort Er94 wwv π s. 498. 95 w w v II S. 334. Vgl. auch S. 335. W W V I S. 396 — 397. In diesem Sinne setzt die Möglichkeit von Selbsterkenntnis des Willens prinzipielle Abhängigkeit des Intellekts voraus, der Ietzdich nichts anderes ist als eine Manifestation des Willens. Vgl. ergänzend W W V I S. 380: Der an sich erkenntnislose Wille „erhält durch die hinzugetretene, zu seinem Dienst entwickelte Welt der Vorstellung die Erkenntnis von seinem Wollen". 9 7 W W V II S. 494. Zur Begründung des Willensmonismus trotz der Textstellen, die einen gegenläufigen Eindruck erwecken, vgl. die ausführlichen Analysen in § 7. 98 W W V ι s. 380. Vgl. auch das (in § 7 behandelte) Gleichnis vom Willen als starkem Blinden und vom Intellekt als sehendem Gelähmten in W W V II S. 269. 96

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

kenntnis vollzieht, ist eo ipso vorausgesetzt, daß der Wille den genetischfunktional von ihm abhängigen Intellekt mit einschließt. Besonders pointiert bringt Schopenhauer die Willensdependenz des Intellekts zum Ausdruck, wenn er von dem ursprünglich erkenntnislosen Willen spricht, der „sich zum Intellekt, zumal zum menschlichen, vernünftigen Intellekt steigerte". 99 Eine in metavoluntativer Instrumentalität letztlich doch aufgehende, also nur scheinbar autonome Wahrheitsliebe des Intellekts kann zum Willensdienst keinen Antagonismus mehr bilden. Vielmehr erweist sie sich nunmehr als überaus geeignetes Instrument im Dienste der objektiv-ästhetischen, auf Selbsterkenntnis gerichteten Interessen des Willens. Das ästhetische oder philosophische Wahrheitsstreben dokumentiert mithin keine autonome, willensunabhängige ,Natur' des Intellekts, sondern stellt lediglich einen Faktor im Rahmen grundlegender und einheitlicher Heteronomie des Intellekts dar. Die These von der autonom-heteronomen Doppelnatur des Intellekts, die in § 5 entfaltet wurde, ist damit widerlegt. Nur intern bestehen noch Differenzierungsmöglichkeiten, und zwar jeweils abhängig davon, ob der Wille alltäglich-subjektive Interessen verfolgt oder ob er, diese transzendierend, auf dem Weg über kontemplative Ideenschau sein objektives Interesse an Selbsterkenntnis zu verwirklichen sucht. Von solchen Unterscheidungen wird die grundlegende Heteronomie und Instrumentalität des Intellekts allerdings nicht tangiert. Und die besondere Effizienz, die Schopenhauer in seiner „Metaphysik der Geschlechtsliebe" jenem Täuschungsmanöver des Gattungswillens zutraut, mit dem dieser gleichsam subkutan seine eigenen Zwecke durchzusetzen vermag, legt per analogiam die folgende Vermutung nahe: Zu seiner höchsten Leistungsfähigkeit steigert sich der Intellekt möglicherweise gerade dann, wenn er „freiwillig aus eigenem Antrieb und ohne Nebenabsicht bloß zu eigener Befriedigung und Ergötzung" 100 tätig zu sein wähnt, wenn er „frei seinen eigenen Gesetzen" 101 zu folgen und dabei „aus eigener Kraft und Elastizität" 102 , „aus eigenem Triebe in höchster Spannung und Tätigkeit" 103 zu sein glaubt. Und übereinstimmend mit Schopenhauers „Metaphysik der

99

100 ιοί 102 ms

W W V II S. 731. Vgl. auch W W V I S. 394: Der Wille ist „an sich der schlechthin freie, sich ganz allein selbst bestimmende", und es gibt „kein Gesetz für ihn"; ferner S. 377: der Wille ist „nicht nur frei, sondern sogar allmächtig"; „außer ihm ist nichts", er ist „wahrhaft autonomisch". Vgl. außerdem W W V I S. 422, 413; W W V II S. 272, 274, 379. p p π s. 84. Vgl. auch PP II S. 494. W W V II S. 482. Vgl. auch W W V II S. 280. W W V II S. 500. Zur .Kraft' des Intellekts vgl. auch W W V II S. 470, 486; PP II S. 505. W W V II S. 482. Vgl. auch PP II S. 84: „aus eigenem Antrieb".

§ 1 2 . Metavoluntarismus des Ästhetischen

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Geschlechtsliebe" könnte man auch die folgende Spekulation anstellen: Möglicherweise beflügelt ein quasi-egoistischer Impuls die Tätigkeit des Intellekts in der Weise, daß er der Illusion einer willensindependenten Autonomie verfällt, die durch den Freigabegestus 104 des Willens zunächst zwar nahegelegt wird, dann aber ebenso verdächtig anmuten muß wie dessen vermeintliche .Großzügigkeit' auf der Basis seines grundsätzlichen Egoismus. Gerade durch solche bloß scheinbare Freigabe vermag der Wille den ästhetischen Intellekt möglicherweise am wirkungsvollsten in den Dienst seines objektiven Interesses an Selbsterkenntnis zu stellen. Vermutlich gestaltet sich die ästhetische Dienstbarkeit des Intellekts für den Willen ausgerechnet dann am effizientesten, wenn sie mit einem ausgeprägten Freiheitsbewußtsein des Intellekts einhergeht, das durch Vortäuschung seiner ästhetischen Autonomie durch den Willen bedingt ist und durch den zu höchster Leistungsfähigkeit gesteigerten Intellekt nachhaltig internalisiert wird. Die bereits in § 10 behandelte Ambivalenz von Wahrheit und Illusion, von Enthüllung des Weltwesens einerseits und realitätsfernem Zauber traumähnlicher ästhetischer Einstellung andererseits wird durch die spekulative Hypothese von einem spezifisch ästhetischen Täuschungsmanöver des Willens um eine neue Facette ergänzt. Aufschlußreich ist der Stellenwert, den eine aus der indischen Philosophie entlehnte Metapher bei Schopenhauer erhält, und zwar gerade im Hinblick auf Tendenzen zur Annahme von Illusion und Verzauberung des Subjekts in ästhetischer Kontemplation. Als Analogon zur Kantischen Lehre von der Erscheinung im Gegensatz zum Ding an sich führt Schopenhauer „eine Hauptlehre der Veden und Puranas", die indische Auffassung von der Maja, ein: als „das Werk der Maja" gilt in ihr „diese sichtbare Welt, in der wir sind, ein hervorgerufener Zauber, ein bestandloser, an sich wesenloser Schein, der optischen Illusion und dem Traume zu vergleichen, ein Schleier, der das menschliche Bewußtsein umfängt". 105 Dem vom „Schleier der Maja" getrübten Blick des Individuums „zeigt sich statt des Dinges an sich nur die Erscheinung in Zeit und Raum, dem principio individuationis, und in den übrigen Gestaltungen des Satzes vom Grunde". 106 Vgl. PP II S. 492. Dort behauptet Schopenhauer in ästhetischem Kontext, daß „der individuelle Wille die ihm beigegebene Vorstellungskraft auf eine Weile freiläßt und sie v o n dem Dienste, zu welchem sie entstanden und vorhanden ist, einmal ganz dispensiert", ms W W V I S. 567. Vgl. auch W W V I S. 37. In Kl. Sehr. S. 808 umschreibt Schopenhauer ,Maja' mit „Schein, Täuschung, Gaukelbild"; in W W V I S. 4 5 2 ist im Zusammenhang mit ihr v o n „Scheinwelt" die Rede; in W W V I S. 3 6 8 verbindet er die Vorstellungssphäre mit „Täuschung". inf. W W V I S. 4 8 1 . Vgl. auch S. 379. Vgl. ferner W W V II S. 479: „das individuelle [...] in seinem Erkennen getrübte Subjekt [hat] nur einzelne Dinge zum Objekt". 104

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Nur eine Transzendierung dieser beschränkten Erkenntnisweise ermöglicht den Zugang zum Wesenskern der Welt. Erst ästhetische oder philosophische Weltbetrachtung 107 führt die Erkenntnis zu dem Punkt, „wo die Erscheinung, der Schleier der Maja, sie nicht mehr täuscht, die Form der Erscheinung, das principium individuationis, von ihr durchschaut wird". 108 In diesem Sinne hat man den Vollzug kontemplativer Wesenserkenntnis als einen Akt weitreichender Desillusionierung aufzufassen, der das „Gewebe der Maja" 109 , den „Schleier des Truges" 110 lüftet 111 oder gar zerreißt und so die Täuschung durch das principium individuationis, die „Illusion der Vielheit", aufhebt. 112 Ästhetische Ideenschau kommt also dem Erwachen aus einem Traum gleich 113 und beinhaltet eine essentielle Ent-täuschung. Daß Schopenhauer das ästhetische Subjekt metaphorisch als „klares Weltauge" 114 bezeichnet, erscheint insofern durchaus konsequent. Dennoch verwendet Schopenhauer — wie im vorangegangenen bereits gezeigt — die Begriffe ,Traum', ,Zauber', .Illusion' und Selbsttäuschung' explizit auch im Kontext seiner Ästhetik. 115 Im SpannungsVerhältnis zwischen Illusion und Desillusionierung zeigt sich mithin eine spezifische Ambivalenz ästhetischer Einstellung. In diesem Kontext sei an problemorientierte Überlegungen in § 10 erinnert: Eine grundlegende Opposition zwischen ideenbezogenem Erkenntnisanspruch und leidensentrückter Eudämonie in ästhetischer Einstellung gab dort den Anstoß zu der kritischen Frage, ob nicht ein solches „klares Weltauge" eigentlich eher blicklos als sehend kontempliert und gleichsam unter geschlossenen Lidern ästhetische Vorstellungen passieren läßt — in einer Art 107 108

109 no 111

112 113

in 115

Vgl. W W V I S. 379. W W V I S. 353 — 354. Schopenhauer rekurriert diesbezüglich auch auf Piaton: „Piaton sagt öfter, daß die Menschen nur im Traum leben, der Philosoph allein sich zu wachen bestrebe" (WWV I S. 49). Vgl. auch die analogisierende Parataxe in W W V I S. 568: „die bloße Erscheinung, das Werk der Maja, die Schattenwelt des Piaton". Vgl. ferner W W V I S. 261, wo Schopenhauer zustimmend Piaton referiert, der „nur den Ideen eigendiches Sein beilegt, hingegen den Dingen in Raum und Zeit, dieser für das Individuum realen Welt, nur eine scheinbare, traumartige Existenz zuerkennt". WWV j s 49> 3 7 9 ( 3 9 2 . W W V I S. 37. Vgl. W W V I S. 514: „Schleier der Maja [...] gelüftet". W W V II S. 416. Zusammenhänge mit Schopenhauers Ethik werden sichtbar ζ. B. in: W W V I S. 5 0 7 - 5 1 0 , 498, 5 1 4 - 5 1 6 , 5 4 0 - 5 4 2 . Bezeichnend ist folgende Formulierung: die tragische Katastrophe zeigt uns, „daß das Leben ein schwerer Traum sei, aus dem wir zu erwachen haben" (WWV II S. 556). W W V I S. 266. Vgl. auch W W V I S. 282 und W W V II S. 479. Vgl. auch § 10 dieser Arbeit. (Einen anderen Akzent setzt W W V II S. 540, wonach der Zweck der Malerei darin besteht, „den Schein der Wirklichkeit hervorzubringen".)

§ 1 2 . Metavoluntarismus des Ästhetischen

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von reversibler Blindheit gegenüber der Wirklichkeit. Denn die drastische Anschaulichkeit, mit der Schopenhauer wiederholt und nachdrücklich die Schrecklichkeit des Willens, die Härte seiner Selbstentzweiung sowie deren Manifestation in unaufhörlichem Kampf der individuellen Willensobjektivationen gegeneinander beschreibt, läßt eine von heiter-unbeschwertem Wohlgefallen, von Glücksgefühl, ja Seligkeit erfüllte Kontemplation wohl als Ergebnis einer gravierenden Selbsttäuschung erscheinen. 116 Der Wille, dem es in ästhetischer Einstellung letztlich um die Erkenntnis seines eigenen Wesens geht, müßte doch - bei realistischer Sicht - die individuellen Objektivationen seiner selbst eo ipso als Repräsentanten seiner radikalen Selbstentzweiung erkennen. Weil Schopenhauer für ästhetische Kontemplation als Wesenserkenntnis dennoch Glücksempfindung, Wohlgefühl, ja sogar Seligkeit in Anspruch nimmt, entsteht der Eindruck, Selbsttäuschung 117 sei eine wesentliche Komponente in ästhetischer Kontemplation. Der Blick des .klaren Weltauges' scheint dabei trotz seiner Fähigkeit, die das Wesen verhüllende Phänomenalität zu durchschauen, durch ein harmonistisches Schönheitsideal offenbar getrübt, also gewissermaßen durch Schleier ästhetischen Scheins verhängt zu sein. Unter dem Aspekt ästhetischer Erkenntnis erschiene jedenfalls abgrundtiefe Verzweiflung realistischer als heiter-unbeschwertes Wohlgefallen. 118 Unter Schopenhauers Prämisse einer fundamentalen Schrecklichkeit von Leben und Welt verschärft sich die Dualität von Wesenserkenntnis und Eudämonie in ästhetischer Einstellung zum Konflikt inkompatibler Perspektiven, der sich in Gestalt systemimmanenter Spannungen in seiner Ästhetik niederschlägt. Erkenntnisanspruch und Glücksverheißung als konkurrierende Komponenten werden im Horizont von Schopenhauers Ästhetik zu einer ebenso artifiziellen wie fragilen Einheit synthetisiert. Das Verhältnis zwischen Selbsterkenntnis und Selbsttäuschung, zwischen desillusionierender Entschleierung und harmonistisch-realitätsferner Illusionsbildung erweist sich in Schopenhauers Ästhetik als problematisch. Der im vorangegangenen unterbreitete Interpretationsvorschlag, der ästhetische Selbsterkenntnis des Willens mit einer Art von Selbsttäuschung des

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117

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Belege für diese in § 1 0 ausführlicher entfaltete Problematik, die hier nur knapp rekapituliert werden kann, finden sich dort. Bezeichnenderweise sieht Schopenhauer selbst die „Seligkeit des willenlosen Anschauens", die „über die Vergangenheit und Entfernung einen so wundersamen Zauber verbreitet [...], durch eine Selbsttäuschung" entstehen ( W W V I S. 283). Vor allem Schopenhauers Theorie des Trauerspiels trägt dem Rechnung, daneben (durch bestimmte Ambivalenzstrukturen) rudimentär auch die Lyrik und das Naturerhabene. Vgl. dazu Ausführungen in § 10.

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Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Intellekts in Verbindung bringt, gibt auch zu folgender Vermutung Anlaß: Selbst das wesensbezogene ästhetische Erkennen vermag den ,Schleier der Maja' niemals gänzlich zu lüften, vielmehr scheint gerade dessen partielle Erhaltung zu den auch für das ästhetische Subjekt maßgeblichen Erkenntnisbedingungen zu gehören: Dazu zählt außer dem realitätsfernen Schönheitsschein, der die Manifestationen einer Selbstentzweiung des Willens kaschiert, auch die illusionäre Vorstellung von einem autonom nach ,eigenen Gesetzen', aus ,eigener Kraft' tätigen Intellekt und die Schimäre, daß der Wille trotz seines wesensbestimmenden Egoismus und entgegen seinen eigentlichen Interessen den in seinem Dienst stehenden Intellekt aus freien Stücken von seinen Pflichten entbindet. Das Syntagma „aus eigener Kraft" 1 1 9 erweist sich in diesem Zusammenhang als besonders aufschlußreich. Denn gerade solche vermeintlich ,eigene Kraft' des Intellekts, die für dessen ästhetische Autonomie doch symptomatisch zu sein schien, offenbart bei näherem Zusehen einen Sachverhalt, der dem ersten Eindruck diametral gegenübersteht. Ausgerechnet solche ,eigene Kraft', die ein markantes Signal für die neugewonnene Eigenständigkeit des in ästhetischer Einstellung autonom gewordenen Intellekts zu setzen schien, entpuppt sich stattdessen als Zeichen seiner ungebrochenen, lediglich modifizierten Heteronomie aufgrund fortwährender Indienstnahme durch den Willen. Denn mit Nachdruck hebt Schopenhauer „die Identität des Wesens jeder irgend strebenden und wirkenden Kraft in der Natur mit dem Willen" 120 hervor. In entschiedener Abgrenzung von traditionellen philosophischen Konzeptionen läßt Schopenhauer den Willensbegriff im Zuge einer „denominatio a potiori" 121 weit über den menschlichen Bereich hinaus expandieren und verabschiedet die herkömmliche Subsumtion von Willen unter Kraft zugunsten ihrer Umkehrung. Wenn er nachdrücklich „jede Kraft in der Natur als Wille gedacht wissen" 122 will, kann von „eigener Kraft" des Intellekts nicht willensunabhängig die Rede sein. Vielmehr erweist sich solches vermeintlich ,Eigene' des Intellekts im Horizont von Schopenhauers Willensmetaphysik bloß als unselbständige Komponente innerhalb der universellen Willenssphäre. Ebensowenig wie die These von der ,eigenen Kraft' des ästhetischen Intellekts läßt die Aussage, in der Schopenhauer eine „große, wiewohl sponΠ9 WWV II S. 500. 120 WWV I S. 171. 121 WWV I S. 171. 122 WWV I S. 172.

§ 1 2 . Metavoluntarismus des Ästhetischen

209

tane Anspannung" 123 postuliert, auf eine metavoluntative Aktivität des ästhetischen Intellekts schließen. Denn auch sie signalisiert letztlich nichts anderes als eine unaufhörliche Präsenz des Willens. Im Rahmen der von Schopenhauer behaupteten Identität von Spontaneität und Willensäußerung 124 kann die contradictio in adjecto in der Vorstellung einer ästhetisch-willenlosen Spontaneität, die in § 4 entfaltet wurde, nur unter der Voraussetzung vermieden werden, daß man klarstellt: Eine solche ästhetische Spontaneität kann eo ipso allein dem Willen, nicht jedoch dem Intellekt zugesprochen werden. Dies gilt auch für das „Streben [...], das wahre Wesen der Dinge, des Lebens, des Daseins zu erfassen", das nach Schopenhauer allein „Interesse für den Intellekt als solchen" 125 , mithin als von den Willenszwecken befreiten hat. Denn die grundsätzliche Einheit von Willen und Streben 126 läßt sich bei Schopenhauer gleichermaßen belegen wie die Identität von Spontaneität und Willensäußerung. Und die eigentümliche Inversion in der Vorstellung einer freiwilligwillensfreien Intellekttätigkeit127 scheint ebenfalls auf die Universalität eines Willens hinzuweisen, der — entgegen erstem Anschein — auch ästhetische Kontemplation durchwirkt. Das Spannungsverhältnis innerhalb dieser Begriffsinversion kommt erst durch Paraphrase deutlich zum Ausdruck: Im Unterschied zu Schopenhauers Postulat einer ästhetischen ,Willensfreiheit', die sich in der Negativität eines Befreitseins vom Willen erschöpft, exponiert der positive Begriff Freiwilligkeit' die Freiheit des Willens selbst. Die Vorstellung 123 w w v j s 270. Vgl. dazu § 4 dieser Arbeit. Vgl. Kl. Sehr. S. 383, wo Schopenhauer behauptet, „daß, was wir durch den Begriff der Spontaneität denken, [...] allemal hinausläuft auf Willensäußerung, von welcher jene demnach nur ein Synonym wäre". Vgl. auch ΗΝ II S. 358: „Man kann sagen alle wahre Spontaneität ist Wille, und umgekehrt". Die Gleichsetzung von Spontaneität und Willen läßt sich außerdem durch ΗΝ II S. 349 belegen. 125 w w v II S. 521. 1 2 6 Vgl. ζ. B. W W V I S. 240: Der Wille ist „ein endloses Streben"; W W V I S. 423: der Wille strebt „auf allen Stufen seiner Erscheinung [...], weil Streben sein alleiniges Wesen ist". 127 vgl. PP II S. 84: Kommt „dieser getriebene Fronknecht [sc. der Intellekt] einmal dazu, in einer Feierstunde ein Stück von seiner Arbeit freiwillig aus eigenem Antrieb und ohne Nebenabsicht bloß zu eigener Befriedigung und Ergötzung zu verfertigen — dann ist dies ein echtes Kunstwerk, ja, wenn hoch getrieben, ein Werk des Genies". Analog: PP II S. 493 — 494: Für ästhetische Kontemplation „taugt nur das, was der Intellekt ganz allein, ganz aus eigenen Mitteln leistet und als freiwillige Gabe darbringt." — In eine Inkonsistenz gerät Mollowitz mit seiner Behauptung, ein Selbstdenker müsse „freiwillig denken, nicht absichtlich oder gewollt, nicht bestimmt und veranlaßt von Absichten, Zielen, Zwecken", also „unabhängig vom Willen, [...] von selbst". (Mollowitz, Gerhard: Die Assimilation der platonisch-augustinischen Ideenlehre durch Schopenhauer. In: Schopenhauer-Jahrbuch 66 (1985) S. 131 - 1 5 2 , darin S. 132.) 124

210

Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

von freiwilliger' Tätigkeit des vom Willen befreiten ästhetischen Intellekts erscheint genau so lange enigmatisch, ja widersprüchlich, wie der grundsätzlich voluntative Status auch ästhetischer Kontemplation noch undurchschaut ist. Insofern als das Epitheton freiwillig', das Schopenhauer dem Intellekt beigibt, durch das Syntagma ,aus freiem Willen' paraphrasiert werden kann, nähert sich seine Bedeutung dem semantischen Gehalt von Spontaneität' an. Bekanntlich geht das Wort .spontan' etymologisch auf die lateinische Ablativform ,sponte' zurück: ,sua sponte' ist zu übersetzen mit ,aus eigenem Antrieb, von selbst, freiwillig'. Ästhetische Freiwilligkeit und Spontaneität zeigen also gleichermaßen die fortdauernde Präsenz des Willens, von dem der Intellekt auch in ästhetischer Kontemplation abhängig bleibt. Aufschlußreich im Hinblick auf die grundlegende Heteronomie des Intellekts ist der unmittelbare Kontext der Aussage, derzufolge „der individuelle Wille die ihm beigegebene Vorstellungskraft auf eine Weile freiläßt und sie von dem Dienste, zu welchem sie entstanden und vorhanden ist, einmal ganz dispensiert". Schopenhauer beschreibt die ästhetische Intellekttätigkeit im Anschluß an dieses Zitat folgendermaßen: Die Vorstellungskraft wird „alsbald vollkommen objektiv,; d. h. sie wird zum treuen Spiegel der Objekte oder genauer: zum Medium der Objektivation des in den jedesmaligen Objekten sich darstellenden Willens". 128 — Erhellt nicht auch aus einer solchen treuen Spiegelung oder Objektivation des Willens die funktionsgemäße Willensdependenz des grundsätzlich heteronomen Intellekts? Und verrät nicht außerdem der mediale Charakter des Intellekts, daß sein ontologischer Status im Verhältnis zum Willen auch in ästhetischer Kontemplation erhalten bleibt? Bezeichnend ist doch die Analogie zu Schopenhauers Formulierung, der Intellekt fungiere als „Medium der Motive" für den Willen. 129 Daß Schopenhauer den Begriff .Medium' auch im vorliegenden ästhetischen Kontext verwendet, scheint eine fortwährende, in ästhetischem Kontext lediglich abgewandelte Instrumentalität des Intellekts zu indizieren. Die Negativität von Schopenhauers Willenlosigkeitspostulat stellt in diesem Horizont, wie bereits beschrieben, lediglich eine Oberflächendimension dar. Schopenhauers monistische Willensmetaphysik hat zur Folge, daß der

128

129

P P II S. 492. In W W V II S. 4 7 5 behauptet Schopenhauer in ästhetischem Kontext, daß „unser ganzes Bewußtsein fast nichts weiter ist als das Medium, dadurch das angeschaute Objekt in die Welt als Vorstellung eintritt". Zur Funktion des Intellekts als „Medium der Motive" vgl. W W V II S. 228, 271, 304, 3 2 4 - 3 2 5 , 3 3 1 - 3 3 3 , 3 6 0 - 3 6 3 , 3 7 0 - 3 7 1 , 485; Kl. Sehr. S. 3 4 1 - 3 4 4 , 394, 5 6 7 - 5 6 9 .

§ 12. Metavoluntarismus des Ästhetischen

211

Wille auch in der Ästhetik unaufhörlich wirksam ist. 130 Signifikanterweise schließt Schopenhauer unmittelbar vor dem Anfang des dritten (der Ästhetik gewidmeten) Buches seiner „Welt als Wille und Vorstellung I" deren zweites Buch mit der prägnanten Formulierung ab: „Die einzige Selbsterkenntnis des Willens im Ganzen aber ist die Vorstellung im Ganzen, die gesamte anschauliche Welt. Sie ist seine Objektität, seine Offenbarung, sein Spiegel". 131 Reflektiert man abschließend die Relation zwischen den beiden im Paragraphentitel genannten Syntagmen, so zeigt sich folgendes: Entgegen der anfanglichen Annahme einer Äquivalenz zwischen Metavoluntarismus des Ästhetischen und Metaästhetizismus des Voluntativen, in deren Rahmen beide Konzepte zusammen die Fundamente einer gewissermaßen doppelgleisig befahrbaren Brücke zwischen ästhetischer und voluntativer Sphäre bilden sollten, erwies sich im Verlauf der Analysen von § 12 letztlich der umfassende, auch die Ästhetik mit einbeziehende Voluntarismus Schopenhauers als der eigentliche Fokus. Das Argument, das zunächst einen Metaästhetizismus des Voluntativen zu fundieren schien, verliert infolgedessen beträchtlich an Gewicht. Die in § 5 behandelte, im globalen (durch § 12 entfalteten) Horizont der Schopenhauerschen Willensmetaphysik jedoch hinfällig gewordene These von der autonom-heteronomen Doppelnatur des Intellekts ließ zunächst einen Metaästhetizismus des Voluntativen vermuten. Erweist sich die ästhetische Autonomie des Intellekts jedoch als illusionär, so entfällt zugleich mit der angeblichen autonom-heteronomen Doppelnatur auch die via negationis mit ihr verknüpfte Dualität der Abnormität sowie der (weiter oben beschriebene) metaästhetische Status der Abnormität des Intellekts. Zugleich mit solcher Willenstätigkeit ist eo ipso Spontaneität, die Schopenhauer mit Willensäußerung identifiziert (Kl. Sehr. S. 383), am Werke. An die Stelle ästhetischer Willenlosigkeit tritt in diesem Horizont ein umfassender Voluntarismus, der subkutan auch im Bereich der Ästhetik wirksam ist. Nicht der Wille selbst, sondern lediglich Teilbereiche seiner Wirkungsmöglichkeiten sind in ihr ausgeblendet. In diesem Sinne ist die Annahme einer ästhetischen Spontaneität (anders als es in Kapitel A. dieser Arbeit zunächst schien) keineswegs als inkonsistent zu betrachten. Allerdings läßt sich die in § 4 behandelte Problematik einer unspezifischen Verwendung des Spontaneitätsbegriffs nicht ohne weiteres lösen; daß Schopenhauer von „der Gewalt des Dranges dieser Spontaneität, auch in Pflanzen," (Kl. Sehr. S. 383) ausgeht, sie also keineswegs auf den Bereich der menschlichen Intentionalität beschränkt, folgt systemimmanent aus seinem Willensmonismus. 131 WWV I S. 241. Wenige Seiten später bezeichnet Schopenhauer „die Welt als Vorstellung" als „die Objektität des Willens, welches demnach besagt: der Objekt, d. i. Vorstellung gewordene Wille" (WWV I S. 245). „Der Wille ist das An-sich der Idee, [...] des einzelnen Dinges und des dasselbe erkennenden Individuums"; kontempliertes Objekt und erkennendes Subjekt „sind daher an sich nicht unterschieden; denn an sich sind sie der Wille, der hier sich selbst erkennt" (WWV I S. 259). 130

212

Β. Ästhetische Willenlosigkeit im Verhältnis zur Willensphilosophie

Gemäß den vorangegangenen Ausführungen überlagert das objektivästhetische Interesse des Willens an der Erkenntnis seines eigenen Wesens das Postulat ästhetischer Interesse- und Willenlosigkeit. Objektive Interessen und Zwecke sowie spezifisch ästhetisches Streben und Selbstbewußtsein gewinnen im willensmetaphysisch expandierten Horizont von § 12 dadurch an Bedeutung, daß sie ihren zunächst (in § 2, § 3, § 6) fragwürdigen Status als contradictiones in adjectis verlieren. Statt nämlich widersprüchliche Manifestationen des angeblich autonomen ästhetischen Intellekts darzustellen, erweisen sich diese metavoluntativen Komponenten letztlich als spezifisch ästhetische Repräsentanten des Willens als des universellen Weltprinzips. Die Analysen von § 12 lassen schließlich auch erkennen, daß der Titel des vorliegenden Buches „Ästhetische Autonomie als Abnormität" durchaus nicht eindimensional zu verstehen ist, sondern zweierlei zum Ausdruck bringt: Erstens nimmt er Bezug auf Schopenhauers These, die autonome Aktivität des ästhetischen Intellekts sei abnorm, weil sie von der Normalität seiner heteronom-instrumentell auf den Willen bezogenen Tätigkeit abweiche. Zweitens wird diese deskriptive Dimension des Titels durch eine analytisch herauspräparierte Deutungsmöglichkeit ergänzt, und zwar insofern, als sich Schopenhauers These von der Autonomie des ästhetischen Intellekts im Verlauf der Untersuchungen von § 1 bis § 12 zusehends als fragwürdig erwies: Im Horizont von Schopenhauers Voluntarismus kommt Autonomie — entgegen anderslautenden Aussagen in seiner Ästhetik — grundsätzlich nur für den Willen in Betracht. 132 Demgemäß ist der Buchtitel nicht allein als deskriptive Wiedergabe eines wichtigen Postulats aus Schopenhauers Ästhetik zu lesen, vielmehr weist er auch bereits auf den Problemgehalt hin, den meine kritischen Analysen zum Verhältnis zwischen Intellekt und Willen in seiner Konzeption eruieren. So gesehen hat der Abnormitätsbegriff nicht bloß als neutrale Bezugnahme auf Schopenhauers Auffassung zu gelten, sondern darüber hinaus zugleich als Ausdruck einer kritischen Bewertung seiner These, der üblicherweise heteronome Intellekt sei in ästhetischer Kontemplation autonom tätig. Festzuhalten bleibt: Schopenhauers Postulat einer ästhetischen Autonomie des Intellekts basiert auf einem Antagonismus 133 von Willen und Intellekt, mithin auf einem dualistischen Ansatz, der jedoch durch den fundamentalen Willensmonismus in Frage gestellt wird.

132 Yg] dazu W W V I S. 394: Der Wille ist „an sich der schlechthin freie, sich ganz allein selbst bestimmende", und es gibt „kein Gesetz für ihn"; außerdem S. 377: der Wille ist „nicht nur frei, sondern sogar allmächtig"; „außer ihm ist nichts", er ist „wahrhaft autonomisch". 133

Vgl. z.B. W W V II S. 474, 475. Weitere Hinweise bietet § 7 dieser Abhandlung.

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

§ 1 3 . Schopenhauers Ästhetik im Verhältnis zu Nietzsche, Kant und Piaton I.

„Der Satz Kants vom interesselosen Wohlgefallen" ist „durch Schopenhauer am verhängnisvollsten mißdeutet worden". 1 Diese These vertritt Martin Heidegger in seinen Nietzsche-Vorlesungen „Der Wille zur Macht als Kunst". Die Rezeptionsgeschichte der Kantischen Ästhetik betrachtet er als eine Verkettung von Mißverständnissen und Fehldeutungen, für deren Entstehung seines Erachtens Schopenhauer die Hauptverantwortung trägt. Nach Heideggers Überzeugung hat auch Nietzsche im Rahmen seiner Reflexionen zur Ästhetik „immer Kant durch Schopenhauers sehr trübe Brille" gesehen. 2 Mit pointierten Formulierungen grenzt Heidegger die ästhetischen Positionen Kants und Schopenhauers folgendermaßen voneinander ab: In dem durch interesseloses Wohlgefallen bestimmten Zustand gelingt es uns — so Heideggers Kant-Interpretation — in der freien Gunst angesichts des Schönen, durch „die höchste Anstrengung unseres Wesens" uns selbst „zur Frei-

1

2

Heidegger, Martin: Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst. (Freiburger Vorlesung Wintersemester 1936/37.) Hrsg. von Bernd Heimbüchel. Gesamtausgabe Bd. 43. Frankfurt a. M. 1985. S. 129. Heidegger grenzt sich mit dieser Formulierung dezidiert von der konträren Auffassung Diltheys ab. — Der vorliegende § 13 hat teilweise (insbesondere Abschnitt I. —III.) in einen Aufsatz Eingang gefunden. Vgl. Neymeyr, Barbara: Ästhetische Subjektivität als interesseloser Spiegel? Zu Heideggers und Nietzsches Auseinandersetzung mit Schopenhauer und Kant. In: Philosophisches Jahrbuch 102 (1995) S. 2 2 5 - 2 4 8 . Heidegger a. a. O. S. 126. Vgl. auch S. 125: „An der Entstehung dieses Mißverständnisses der Kantischen Ästhetik, dem auch Nietzsche völlig unterliegt, und an der Vorbereitung dieses Mißverständnisses, das heute noch durchgängig im Schwange ist, hat Schopenhauer das Hauptverdienst". Der Kantische Begriff,Gunst', dessen Implikationen Heidegger zutreffend entfaltet, wird auch noch in neueren Publikationen mißverstanden, ja geradezu mit konträren Konnotationen aufgeladen — beispielsweise von Margitta Dobrileit-Helmich: Sie hält irrtümlich Schopenhauers Auffassung, nach der „das Gefühl der Schönheit dadurch hervorgerufen wird, daß das Objekt dem Subjekt gleichsam .entgegenkommt', zur Kontemplation ,einlädt' [...]", für vergleichbar „mit dem Kantischen Phänomen der ,Gunst'" (Dobrileit-Helmich, Margitta: Ästhetik bei Kant und Schopenhauer. Ein kritischer Vergleich. In: Schopenhauer-Jahrbuch 64 (1983) S. 125-137, darin S. 132).

216

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

gäbe dessen" zu befreien, „was in sich eigene Würde hat, damit es sie rein nur habe". 3 Bei Schopenhauer hingegen bedeute ästhetische Einstellung nicht mehr als „eine Aushängung des Willens, ein Zurruhekommen alles Strebens, das reine Ausruhen, das reine Nichts-mehr-wollen, das reine Verschweben in der Teilnahmslosigkeit".4 Diese von Heidegger nur skizzenhaft-fragmentarisch entworfenen, keineswegs aber in zureichendem Maße entfalteten Einschätzungen lassen detaillierte und kritische Recherchen lohnend erscheinen. Im vorliegenden § 13 sollen sie — zumindest ansatzweise — durchgeführt werden. Dabei ist auch die Frage zu beantworten, ob Heideggers Polarisierung der ästhetischen Konzeptionen Kants und Schopenhauers legitim ist. Drei — vorläufige - Überlegungen seien zunächst zur Sprache gebracht. Erstens: Spricht nicht gegen die Berechtigung zu dieser Kontrastierung auf den ersten Blick das Faktum, daß Schopenhauer seiner Wertschätzung für Kant gerade im Hinblick auf dessen Ästhetik recht deutlichen Ausdruck verliehen hat? Denn unübersehbar — so könnte man argumentieren — zeigt sich doch Schopenhauers Respekt vor den Leistungen Kants beispielsweise in folgender Feststellung: „es ist, sage ich, zu bewundern, wie [...] Kant sich um die philosophische Betrachtung der Kunst und des Schönen ein großes und bleibendes Verdienst erwerben konnte". 5 Zweitens: Heidegger nähert sich der Kantischen Bestimmung interesselosen Wohlgefallens via negationis, indem er zunächst die Implikationen von Interesse zu ermitteln sucht: Nach einem etymologischen Rekurs auf „das 3 4

5

Heidegger a. a. O. S. 1 2 7 - 1 2 8 . Heidegger a. a. O. S. 126. Ohne darauf hinzuweisen, greift Heidegger mit dieser Formulierung auf Nietzsche zurück, der im Kontext seiner Schopenhauer-Kritik mehrfach von Willensaushängung spricht: vgl. ζ. B. 1888; 14[170], KSA 13 S. 357: „eine gewisse WillensAushängung ... (Schopenhauer!!!!)". Vgl. ferner: 1888; 14[119]: „Die unkünstlerischen Zustände: die der Objektivität, der Spiegelung, des ausgehängten Willens" (KSA 13 S. 298). (Die Werke Nietzsches werden hier zitiert nach: Nietzsche, Friedrich: Sämdiche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München/ Berlin/New York 1980. [Abgekürzt als KSA mit angehängter Bandnummer.] Zu den Nachlaßfragmenten werden außer der Fundstelle in der KSA — wie in der heutigen NietzscheForschung üblich — auch Jahreszahl und Manuskriptnummer genannt.) Kants und Nietzsches Hervorhebungen (in Gestalt von Sperrung, Kursivschrift oder Fettdruck) gebe ich in der vorliegenden Abhandlung einheidich durch Kursivschrift wieder. WWV I S. 709. Vgl. auch WWV I S. 712, wo Schopenhauer „die Theorie des Erhabenen" als das bei weitem „Vorzüglichste in der ,Kritik der ästhetischen Urteilskraft'" exponiert. Vgl. ferner ΗΝ II S. 426: Kant hat „ein sehr großes Verdienst, sofern er das eigendiche Philosophiren über das Schöne an sich, d. h. sofern es im Subjekt gegründet ist, also über die Möglichkeit der Empfänglichkeit] für das Schöne und die Bedeutung dieser, erfunden und zuerst versucht hat".

§ 1 3 . Schopenhauers Ästhetik im Verhältnis zu Nietzsche, Kant, Piaton

217

lateinische mihi interest, mir ist an etwas gelegen" 6 erläutert Heidegger: „Ein Interesse nehmen an etwas, das besagt: dieses Etwas für sich haben wollen, nämlich zum Besitz, zur Verwendung und Verfügung", es „in die Ausrichtung auf eine Absicht" stellen und es insofern „niemals nur als es selbst, für sich, sondern immer und immer schon im Hinblick auf anderes" nehmen. 7 Aber — so könnte man dann einwenden — besteht nicht in Schopenhauers Konzeption eine auffallige Analogie zu diesem Ansatz Heideggers? Denn auch Schopenhauer bezieht sich explizit auf den etymologischen Gehalt von ,Interesse': „heißt nicht Interesse ,quod mea interest', woran mir gelegen ist? Und ist dies nicht überhaupt alles, was meinen Willen anregt und bewegt?" 8 Mit diesen Thesen Schopenhauers und Heideggers scheint überdies auch Kants Auffassung zu korrespondieren: „Etwas aber wollen und an dem Dasein desselben ein Wohlgefallen haben, d. i. daran ein Interesse nehmen, ist identisch". 9 So eklatant wirkt in dieser Hinsicht die Affinität zwischen den Konzepten Kants, Schopenhauers und Heideggers, daß die Differenzen sich hier beinahe zu verflüchtigen scheinen. Und wie Kant und Heidegger stellt auch Schopenhauer der Interessen-Perspektive sein Konzept ästhetischer Einstellung diametral gegenüber. In „einer in jedem Sinn völlig uninteressierten Betrachtung" erblickt Schopenhauer „die eigentliche Beschaulichkeit" 10 ; die Schönheit von Gegenständen beruht seines Erachtens „gerade auf der reinen Objektivität, d. i. Interessenlosigkeit ihrer Anschauung". 11 Schließlich drittens: Das falsche Verständnis von ,Interesse', das Heidegger implizit Schopenhauer und dem angeblich von ihm fehlgeleiteten Nietzsche unterstellt, basiert nach Heidegger auf der „Irrmeinung, es sei mit der Ausschaltung des Interesses jeder wesenhafte Bezug zum Gegenstand unterbunden". 12 Schopenhauers Ästhetik aber kann man solch eine ,Wesensferne' wohl schwerlich attestieren, erhalten doch gerade in ihr die Ideen einen zentralen Stellenwert — als „das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt". 13 Ganz im Gegenteil: Heideggers eigene kontrastive These, „der Heidegger a. a. O. (vgl. Anm. 1) S. 127. Heidegger a. a. O. S. 127. 8 Kl. Sehr. S. 694. Im Unterschied zu Heidegger („mihi interest") wählt Schopenhauer hier die korrekte lateinische Form „mea interest". 9 Kant: Kritik der Urteilskraft. Akademie-Textausgabe Band V. Berlin 1968. Unveränderter photomechanischer Abdruck von „Kants gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften", Band V, Berlin 1908/13. [Künftig abgekürzt als: Kant: KU. A A 5.] S. 209. 10 W W V I S. 268. 11 W W V II S. 483. Vgl. dazu ausführlich § 2. 1 2 Heidegger a. a. O. (vgl. Anm. 1) S. 128. 13 W W V I S. 265. Vgl. auch S. 262, 263. Das Subjekt wird dabei „zum hellen Spiegel des Wesens der Welt" (S. 266). 6 7

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

wesentliche Bezug zum Gegenstand selbst, rein als ihm selbst, kommt durch das ,ohne Interesse' gerade ins Spiel" 1 4 , ist mit Schopenhauers ästhetischem Grundkonzept durchaus kompatibel, — so ausgeprägt die Differenzen ansonsten auch sein mögen. Indem Heidegger diesen bedeutsamen Sachverhalt außer acht läßt, wird er der ästhetischen Konzeption Schopenhauers nicht gerecht. Bislang haben sich also drei vorläufige Perspektiven ergeben, die zunächst eine skeptische Haltung gegenüber Heideggers kritischer Auseinandersetzung mit Schopenhauer zu legitimieren scheinen. Ob sich Schopenhauer allerdings — trotz unübersehbarer Affinität — auch bei einem Blick hinter die Kulisse pauschaler Reverenz tatsächlich als getreuer Adept der Kantischen Philosophie erweist oder sich gar zu Recht als deren Vollender 15 begreift, ist damit noch längst nicht entschieden. Schopenhauers explizite Anerkennung Kantischer Ästhetik und Heideggers Kritik an einem seines Erachtens fatalen Antipodenstatus Schopenhauers im Hinblick auf Kant lassen sich nicht ohne weiteres gegeneinander ausspielen. Die tatsächliche Konstellation erweist sich als weitaus komplexer. Symptomatisch für dieses philosophische ,Dickicht' ist eine Aussage Schopenhauers, die indirekt bereits seine Nähe zu Kant verringert. Schopenhauer äußert sich in seiner „Kritik der Kantischen Philosophie" nur eine Seite nach der bereits zitierten These folgendermaßen: „Kanten aber war auch hier das Verdienst aufbehalten, die Anregung selbst, infolge welcher wir das sie veranlassende Objekt schön nennen, ernstlich und tief zu untersuchen". 1 6 Weit davon entfernt, das Spezifikum der Kantischen Ästhetik, die ,freie Gunst' interesselosen Wohlgefallens, als eine intentional durch „höchste Anstrengung" 17 geleistete Selbstbefreiung des Subjekts von Interessenbezügen im Heideggerschen Sinne treffend zum Ausdruck zu bringen, scheint diese Formulierung kaum etwas anderes zu zeigen als Schopenhauers von Kant grundlegend abweichende Tendenz zur Annahme einer passiven Rezeptivität des ästhetischen Subjekts. 18 — Erweist sich also Heideggers kritischer Ansatz letztlich doch als berechtigt, wenn er Schopenhauers ästhetische Konzeption (im Unterschied zur Kantischen Auffassung) gekennzeichnet

14 15

16 17 18

Heidegger a. a. O. (vgl. Anm. 1) S. 128. Vgl. dazu beispielsweise WWV I S. 673, wo Schopenhauer (unter Rekurs auf eine „Prolegomena"-Stelle) behauptet: „Kant ist mit seinem Denken nicht zu Ende gekommen: ich habe bloß seine Sache durchgeführt". WWV I S. 7 0 9 - 7 1 0 . Heidegger a. a. Q (vgl. Anm. 1) S. 127. Vgl. dazu ausführlich § 4 dieser Arbeit.

§ 13. Schopenhauers Ästhetik im Verhältnis zu Nietzsche, Kant, Piaton

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sieht durch „eine Aushängung des Willens" und „das reine Verschweben in der Teilnahmslosigkeit"?19 Die bisherige Problemexposition läßt ansatzweise bereits die Vielschichtigkeit der philosophischen Konstellationen erahnen. Ziel des vorliegenden § 1 3 soll es sein, durch das Dickicht von Ambivalenzen, die Schopenhauers Verhältnis zu Nietzsche, Kant und Piaton 20 im Bereich der Ästhetik prägen, einige gangbare Denkpfade zu schlagen. Dies allerdings grundsätzlich sub specie modestiae. Denn um einen so umfassenden Horizont wie den im Titel von § 13 umrissenen weit genug ausleuchten zu können, wäre monographische Behandlung unabdingbar notwendig.

II. Thematisieren wir zur Aufhellung der im vorangegangenen entfalteten opaken Konstellation zunächst das Postulat ästhetischer Interesselosigkeit. Zu den offenbar nicht leicht zu beseitigenden Irrtümern in der Sekundärliteratur gehört die Uberzeugung, Schopenhauers Postulat ästhetischer Interesselosigkeit sei durch eine tiefreichende Analogie zu Kants Konzeption ästhetischer Interesselosigkeit gekennzeichnet, ja es lasse sich geradezu eine Identität beider Ansätze feststellen. 21 Zwar schienen die oben zitierten The19 20

21

Heidegger a. a. O. (vgl. Anm. 1) S. 126. Die Relation zwischen Schopenhauer und Piaton wird erst im Schlußteil des vorliegenden § 13 zur Sprache kommen. Exemplarisch seien als Vertreter dieser verfehlten Auffassung Volker Gerhardt und Margitta Dobrileit-Helmich genannt: Volker Gerhardt verkennt den fundamentalen Unterschied zwischen Kant und Schopenhauer, wenn er behauptet, daß Schopenhauer den Begriff .Interesse' „nur im Sinn Kants in der Kunstbetrachtung hervorhebt" (Gerhardt, V.: Interesse. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 4: I-K. Basel/Stuttgart 1976. Spalte 4 8 5 - 4 9 4 , darin 492). - Margitta Dobrileit-Helmich schlägt folgendermaßen eine Brücke von der Kantischen Ästhetik zur Position Schopenhauers: „Auch Schopenhauer geht es darum, in der Kontemplation der Idee innerhalb der Sphäre des Ästhetischen eine Ebene zu erreichen, die willenslos ist, sofern sie die willensdurchherrschte Welt überwindet" (Hervorhebung von mir). (Dobrileit-Helmich, Margitta: Ästhetik bei Kant und Schopenhauer. Ein kritischer Vergleich. In: Schopenhauer-Jahrbuch 64 (1983) S. 125 — 137, darin S. 128.) Aus dem analogiebildenden ,auch' erhellt, daß Dobrileit-Helmich tatsächlich dasjenige glaubt konstatieren zu können, was sie eine Seite zuvor als Untersuchungsziel angibt: zu zeigen, ob „Kants Begriff des Interesses dem Schopenhauerschen Begriff des Willens, die ex-»ega//i2 A. a. O. S. 39. 1 6 3 A. a. O. S. 45. 1 M A. a. O. S. 27. 1 6 5 A. a. O. S. 38. 1 6 6 A. a. O. S. 30, 39. 1 6 7 A. a. O. S. 31. 1 6 8 A. a. O. S. 38. 1 6 9 A. a. O. S. 72. 17(1 A. a. O. S. 73. 171 A. a. O. S. 29. Hier greift Nietzsche die von Schopenhauer bekanndich aus der indischen Philosophie entlehnte Metapher auf. 1 7 2 A. a. O. S. 28. 173 Ygi a a o g 36, 38. Entsprechende (in § 12 zitierte) Formulierungen Schopenhauers finden sich in PP II S. 492, W W V I S. 241, 371, 3 9 6 - 3 9 7 .

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§ 1 3 . Schopenhauers Ästhetik im Verhältnis zu Nietzsche, Kant, Piaton

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Ist ungebrochenes Adeptentum Nietzsches gegenüber seinem Lehrer Schopenhauer mit dieser repräsentativen (noch keineswegs erschöpfenden) Auswahl von Textstellen also schlagend unter Beweis gestellt? — Mitnichten! Bezieht man sich erneut auf die Dualität des Apollinischen und Dionysischen 1 7 4 , und zwar mit der Intention, sowohl die jeweiligen Implikationen dieser beiden Kunsttriebe als auch ihr Verhältnis zueinander zu ermitteln, so eröffnen sich Perspektiven auf fundamentale Differenzen zwischen Schopenhauer und Nietzsche. Schon die Blickrichtung Nietzsches in seiner Erstlingsschrift unterscheidet sich von den philosophischen Akzentsetzungen Schopenhauers grundlegend, besteht doch sein erklärtes Ziel darin, den Ursprung der griechischen Tragödie aus einer Synthese der beiden ursprünglich voneinander getrennten, ja sogar feindselig einander gegenüberstehenden 175 Kunstprinzipien herzuleiten. Dieser eigenständige Erkenntnisanspruch Nietzsches zeigt sich bereits in der — gegenüber Schopenhauer innovativen — Wahl der Termini »Apollinisches' und ,Dionysisches', vor allem aber in Nietzsches kulturhistorischer und geschichtsphilosophischer Orientierung. In diesem Rahmen unternimmt Nietzsche nicht nur einen Versuch, die Tragödie auf den Chor zurückzuführen, diesen aus dem Dionysoskult abzuleiten und dabei die wechselnden Relationen zwischen Apollinischem und Dionysischem zu beschreiben; außerdem will er eine historische Entwicklung in Griechenland rekonstruieren, die das Streben nach wissenschaftlicher Objektivität dominant werden und den Platz instinktsicherer Empfindungen einnehmen ließ. Dieser durch einen „Glauben an die Ergründlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens" 1 7 6 sowie durch die Dekadenzsymptome Heiterkeit und Optimismus gekennzeichnete Sokratismus löst nach Auffassung Nietzsches die tragische Weltbetrachtung ab, deren Renaissance er sich in Gestalt des Wagnerschen Musikdramas erhofft. In diesem Ansatz fehlen Analogien zu Schopenhauer gänzlich. Interessanter als diese im Hinblick auf Schopenhauer inkommensurablen Aspekte sind solche Komponenten der Artisten-Metaphysik Nietzsches, die

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Informationen zur Provenienz des Begriffspaars ,apollinisch'-,dionysisch' sowie zu Aspekten seines historischen Bedeutungswandels finden sich beispielsweise bei folgenden Autoren: Gründer, Karlfried: Apollinisch/dionysisch. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter. Bd. 1: A-C. Basel 1971. Sp. 441 - 4 4 5 . Max L. Baeumer: D a s moderne Phänomen des Dionysischen und seine „ E n t d e c k u n g " durch Nietzsche. In: NietzscheStudien 6 (1977) S. 1 2 3 - 1 5 3 .

Vgl. Nietzsche: GT. K S A S. 42, 25. > A. a. O. S. 111.

175 17(

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sowohl Analogien als auch Differenzen zu Schopenhauers Ästhetik erkennen lassen. Die apollinische „Kunst des Bildners" stellt Nietzsche „der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus" gegenüber und veranschaulicht diesen Kontrast durch die Polarität von Traum und Rausch. 177 An Schopenhauers Differenzierung zwischen dem (als Ding an sich bezeichneten) Willen als einheitlichem Naturprinzip und Urgrund alles Seienden einerseits und der (durch das principium individuationis bedingten) Vielheit von Individuen in der Sphäre der Erscheinungen 178 andererseits knüpft Nietzsche mit seiner Unterscheidung folgendermaßen an: Im apollinischen Kunsttrieb manifestiert sich nach Nietzsche das vertrauensvolle Befangensein im principium individuationis; den Gott Apollo als den Repräsentanten der Bildnerkräfte und des schönen Scheins charakterisiert Nietzsche durch „maassvolle Begrenzung", „Freiheit von den wilderen Regungen" und „weisheitsvolle Ruhe". 179 Das Wesen des Dionysischen hingegen sieht Nietzsche durch die Aufhebung des Individuationsprinzips und aller für Individualität konstitutiven Grenzen gekennzeichnet, so daß rauschhafte Selbstentäußerung oder Selbstvergessenheit im Menschen ein Gefühl umfassender Versöhnung und Vereinigung miteinander und mit der Natur erzeugt. 180 Keineswegs aber erschöpft sich der Gegensatz zwischen dem apollinischen und dem dionysischen Kunstprinzip schon in diesen konträren Implikationen. Ihre eigentliche Heterogenität tritt vielmehr erst dann hervor, wenn man dieses Begriffspaar in eine Beziehung zu Hauptthesen der Schopenhauerschen Ästhetik stellt: Allein das Dionysische nämlich weist Analogien zu bestimmten Postulaten von Schopenhauers Ästhetik auf, das Apollinische hingegen — und darin liegt die entscheidende Differenz — läßt sich nicht einmal partiell in den Rahmen von Schopenhauers Ästhetik einfügen, weil es mit ihren Postulaten grundsätzlich inkompatibel ist. Betrachtet Schopenhauer nämlich Zeit, Raum, Kausalität als „die verschiedenen Gestaltungen des Satzes vom Grunde [...], der das letzte Prinzip 177

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A. a. Ο. S. 25 — 26. Vgl. auch S. 30: Jeder Künstler ist „apollinischer Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünsder". Vgl. ζ. B. WWV I S. 245: „Die Vielheit solcher Individuen ist durch Zeit und Raum, das Entstehn und Vergehn derselben durch Kausalität allein vorstellbar", darin erkennt Schopenhauer „die verschiedenen Gestaltungen des Satzes vom Grunde" als des letzten Prinzips von Endlichkeit und Individuation. Vgl. ferner W W V I S. 170: Der Wille als „innerstes Wesen" der Welt ist laut Schopenhauer „das Innerste, der Kern jedes Einzelnen und ebenso des Ganzen", ja das „Ding an sich", mithin dasjenige, „wovon alle Vorstellung, alles Objekt, die Erscheinung, die Sichtbarkeit, die Objektität ist". Nietzsche: GT. KSA 1 S. 28. In PP I S. 364 sieht Schopenhauer die Schranken, durch welche „die Individuen gesondert sind", durch das principium individuationis bedingt. Nietzsche: GT. KSA 1 S. 2 8 - 3 1 , 41, 44.

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aller Endlichkeit, aller Individuation und die allgemeine Form der Vorstellung" für das Individuum ist 181 , dann setzt die seines Erachtens nur „außerhalb der Erkenntnissphäre" des Individuums mögliche ästhetische Ideenschau zugleich mit der „Aufhebung der Individualität im erkennenden Subjekt" 182 eo ipso die Transzendierung des principium individuationis voraus. Genau im Gegensatz zur Konzeption ästhetischer Einstellung bei Schopenhauer steht dann Nietzsches Apollo als „das herrliche Götterbild des principii individuationis [...], aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des ,Scheines', sammt seiner Schönheit, zu uns" spricht. 183 In radikaler Umkehrung des Status, den die Erscheinungssphäre als die in ästhetischer Ideenschau überschrittene bei Schopenhauer erhält, erhebt Nietzsche gerade den Schein zur Zentralkategorie des Ästhetischen. Ausdrücklich setzt Nietzsche voraus, „dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht". 184 Das gemeinsame Fundament der ästhetischen Konzepte Schopenhauers und Nietzsches erweist sich hier als recht schmal: nur insofern, als beide das Ästhetische als Möglichkeit zur Erlösung vom Leiden begreifen, konvergieren ihre Ansätze. Hinsichtlich der Implikationen solcher Erlösung aber unterscheiden sie sich grundlegend. Uber den fundamentalen Kontrast zwischen dem Erscheinungsbegriff bei Schopenhauer und dem Scheinbegriff bei Nietzsche kann auch eine Aussage Nietzsches, in der er die erlösende „Scheinwelt" als ein „leuchtendes Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem, aus weiten Augen strahlenden Anschauen" 185 preist, nur vordergründig hinwegtäuschen. Zwar geht W W V I S. 245. Vgl. auch S. 173, w o Schopenhauer Zeit und Raum als principium individuationis bezeichnet und darauf hinweist, daß nur vermittels Zeit und Raum „das dem Wesen und dem Begriff nach Gleiche und Eine doch als verschieden, als Vielheit neben und nach einander erscheint". 182 w w y J s 246. Analog S. 254, 256. Nur die durch den Satz vom G r u n d e konstituierten Relationen in Zeit, Raum, Kausalität machen das einzelne Objekt für das Individuum interessant; vgl. dazu W W V I S. 255 und ergänzend S. 257, 266, 280. Ästhetische Interesselosigkeit setzt insofern die Aufhebung dieser Relationen voraus. 181

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Nietzsche: GT. K S A 1 S. 28. Friedhelm Decher (s. o.) weist in seinem Aufsatz (S. 123) auf die Konsequenzen für den ontologischen Status der Kunstobjekte hin: Schopenhauer stellt die Ideen ins Zentrum, Nietzsche die individuellen Einzeldinge. Nietzsche: GT. K S A 1 S. 38. A. a. O. S. 39. Vgl. auch S. 51. — Gerade dieser Täuschung ist Walter Schulz o f f e n b a r anheimgefallen, wenn er ausgerechnet die apollinische Kunst im Sinne Nietzsches mit Schopenhauers Konzeption der Kunst analogisiert, der - angeblich — „das Scheinhafte [...] wesentlich ist". D a ß sowohl Schopenhauer als auch Nietzsche „die Kunst als Scheinwelt ontologisch zu rechtfertigen" suchen, wie Schulz behauptet, ist ein durch Verabsolutierung der Perspektive Nietzsches bedingter Irrtum. (Schulz, Walter: Schopenhauer und Nietzsche. Gemeinsam-

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auch Schopenhauer auf die Ruhe ästhetischer Schmerzlosigkeit ein. Doch weit entfernt von jener Aufhebung des principium individuationis, die bei Schopenhauer den ästhetischen Zustand, bei Nietzsche den dionysischen Trieb mit seiner einheitsstiftenden „Vernichtung des Schleiers der Maja" 186 charakterisiert, ist das apollinische Bewußtsein nach Nietzsche zu vergleichen mit einem Schleier, der die dionysische Welt als den leidend-widerspruchsvollen Urgrund verdeckt. 187 Eine Textstelle, in der Schopenhauer sich zur Maja äußert, macht den Kontrast zwischen dem Apollinischen bei Nietzsche und ästhetischer Kontemplation im Sinne Schopenhauers vollends evident: „das Werk der Maja wird eben angegeben als diese sichtbare Welt, in der wir sind, ein hervorgerufener Zauber, ein bestandloser, an sich wesenloser Schein, der optischen Illusion und dem Traume zu vergleichen, ein Schleier, der das menschliche Bewußtsein umfängt". 188 Nachweislich sind die hier von Schopenhauer verwendeten Begriffe ,Traum', .Schein', .Illusion', ,Schleier' für Nietzsches Konzeption des Apollinischen konstitutiv.189 Während nach Schopenhauers Auffassung umfassende Wesenserkenntnis voraussetzt, daß der „Schleier der Maja, das principium individuationis [...] gelüftet ist" 190 , bringt Nietzsche das Postulat der Selbsterkenntnis ausgerechnet mit der Sphäre des apollinischen Scheins in Verbindung. 191 Den apollinischen Kunsttrieb gemäß Nietzsches Konzeption würde Schopenhauer jedoch dem Bereich des Nichtästhetischen zuordnen. Daß in Nietzsches Tragödienschrift gerade der „verführerische Schönheitsschleier der Kunst" 192 , also das Scheinhafte, zum Medium der Erlösung werden kann, ist wesentlich durch eine von Schopenhauer erheblich abweikeiten und Differenzen. In: Schopenhauer, Nietzsche und die Kunst. Schopenhauer-Studien 4. Hrsg. von Wolfgang Schumacher. Wien 1991. S. 2 1 - 3 4 , darin S. 28, 29.) 18f> A. a. O. S. 33. Vgl. außerdem S. 29. 1 8 7 A. a. O. S. 34. iss V W V I S. 567. Vgl. W W V I S. 37, wo Schopenhauer die in Kantischem Sinne dem Ding an sich entgegengesetzte Erscheinung mit der indischen Maja, dem „Schleier des Truges", analogisiert, einer Welt, die „dem Traume" gleicht. Vgl. ergänzend auch W W V I S. 49, 353. Vgl. ferner Kl. Sehr. S. 808: Die Hindus bezeichnen die Erscheinung „mit dem Namen Maja, d. h. Schein, Täuschung, Gaukelbild". 1 8 9 Nietzsche: GT. KS A 1 S. 25 — 39. In dieser Textpassage lassen sich die genannten vier Begriffe jeweils mehrfach belegen. Daß allerdings auch in Schopenhauers Ästhetik der Faktor Illusion nicht ohne Bedeutung ist, wurde in § 10 und § 12 dieser Abhandlung (in anderer Hinsicht) nachgewiesen. 190 w w v I s. 514. Vgl. auch S. 507, 508. 1 9 1 Nietzsche: GT. KSA 1 S. 40, 70. 1 9 2 A. a. O. S. 115. Vgl. auch S. 155.

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chende Auffassung des Leidens bedingt. Obwohl Nietzsches Ansatz deutliche Einflüsse von Schopenhauers Konzeption der „Selbstentzweiung" des Willens aufweist 193 , unterscheidet er sich von ihr gravierend: Schopenhauer führt den „Widerstreit des Willens mit sich selbst" letztlich auf die durch das principium individuationis bedingte Vielheit seiner Objektivationen zurück und begreift ihn mithin als einen „Widerstreit der Individuen". 194 Seines Erachtens ist das Leiden des Individuums wesentlich dadurch bedingt, daß es — „befangen im principio individuationis, getäuscht durch den Schleier der Maja" 195 — an einheitsstiftender Wesenserkenntnis gehindert ist. Nietzsche hingegen siedelt das Konfliktpotential bereits im Ur-Einen als dem EwigLeidenden selbst an. 196 Die Möglichkeiten ästhetischer Erlösung bei Schopenhauer und Nietzsche sind folglich ebenso disparat wie die jeweilige ontologische Situierung des Leidens. Im Unterschied zu den Erlösungsmodi, die Schopenhauer in Gestalt ästhetisch-willenloser Kontemplation, vor allem aber im Vollzug ethisch-resignativer Selbstverneinung des Willens zum Leben postuliert 197 , entwirft Nietzsche das kühn anmutende Konzept einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt, mit der er sich dezidiert von moralischer Weltdeutung abgrenzt. 198 Mit diesem Rechtfertigungsgedanken ist die Schein-Konzeption auf das engste verknüpft: Nach Nietzsche braucht das „Ur-Eine, als das EwigLeidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung". 199 Der Schopenhauerschen Nega193 w w v I s . 424. Vgl. ferner S. 455, 484, 227. Diesen Einfluß betont auch Friedhelm Decher in seinem Aufsatz (s.o.) S. 117. im TOV I S. 455. 195 W W V I S. 482. 196

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Nietzsche: GT. K S A 1 S. 38. A u f S. 39 spricht Nietzsche v o n der „Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der Welt". Analog: S. 4 3 —44, wo vom „UrEinen, seinem Schmerz und Widerspruch" die Rede ist. A u f diesen Unterschied zwischen den Konzeptionen des Leidens bei Schopenhauer und Nietzsche weist zu Recht auch Decher hin. Vgl. die differenzierten Ausführungen in seinem obengenannten Aufsatz S. 1 1 7 — 120. Vgl. ζ. B. W W V I S. 5 4 7 - 5 5 4 . Zur Relation zwischen Ästhetik und Ethik vgl. § 22. Vgl. Nietzsche: GT. K S A 1 S. 47. Vgl. auch S. 17, w o Nietzsche im Rahmen seines 1 8 8 6 zusammen mit dem neu betitelten Werk „Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus" erstmals veröffentlichten „Versuch einer Selbstkritik" retrospektiv die Rechtfertigungsthese besonders hervorhebt, und zwar in ausdrücklichem Kontrast zu moralischer Weltdeutung. Nietzsche: GT. K S A 1 S. 38. Nietzsche versteht den Schein „als ein fortwährendes Werden in Zeit, Raum und Causalität, [...] als empirische Realität [...], als eine in jedem Moment erzeugte Vorstellung des Ur-Einen" (a. a. O. S. 39), das er signifikanterweise als den „Urkünstler der Welt" (a. a. O. S. 48) bezeichnet.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

tion — qua Pessimismus — setzt Nietzsche schon hier in seinem Erstlingswerk — qua Daseinsrechtfertigung — durch den vom Leiden erlösenden Schein eine Affirmation entgegen. Der „verführerische Schönheitsschleier der Kunst" 200 verhüllt den leidensvollen Urgrund der Existenz und macht durch Illusion „das Dasein überhaupt lebenswerth". 201 Während Schopenhauer „ein Hinwenden zur Resignation, zur Verneinung des Willens zum Leben" als „letzte Absicht des Trauerspiels" bezeichnet 202 , gilt für Nietzsche der „metaphysische Trost", das Leben sei „im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll", als Wirkung jeder wahren Tragödie. 203 Eine rudimentäre Nähe zu Schopenhauer schimmert aber selbst im Kontext dieser dezidierten Gegenposition Nietzsches noch durch, sieht er doch mit der Selbstvergessenheit des dionysischen Zustande als deren Wirkung (bei der nachfolgenden erneuten Konfrontation mit der Alltagswirklichkeit) „eine asketische, willenverneinende Stimmung" verbunden. 204 Während Schopenhauer jedoch Verneinung, Resignation, Pessimismus zum eigentlichen Telos avancieren läßt, in dessen Dienst die Kunst als — wie Nietzsche kritisch gegen Schopenhauer behauptet — „Brücke zur Verneinung des Lebens" 205 steht, betrachtet Nietzsche derartige Haltungen als Gefahr und hebt — im Gegensatz zu Schopenhauer — gerade an dieser Stelle eine therapeutische Wirkkraft der Kunst hervor: „Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst·, sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt". 206 Dieses Konzept einer Affirmation des Daseins, mit dem sich Nietzsche kritisch gegen Schopenhauer wendet, wird in der „Geburt der Tragödie" von ihm erstmals forA. a. O . S . I I 5. Vom .Schönheitsschleier', der den Urgrund des Leidens verhüllt, spricht Nietzsche auf S. 155. Vgl. auch S. 3 8 - 3 9 . 2 0 1 A. a. O. S. 155. 202 w w v II S. 562. 2 0 3 Nietzsche: GT. K S A 1 S. 56. Vgl. auch S. 122: „Trostmittel gegen jenen Pessimismus". 2 0 4 A. a. O. S. 56. 2 0 5 Nietzsche: 1888; 14[119], K S A 13 S. 298. Vgl. zu dieser Thematik § 22. Mit Bezug auf diese Textstelle betont auch Georges Goedert in einem primär moralphilosophisch orientierten Aufsatz die grundlegende Differenz zwischen Nietzsches dionysischer Lebensbejahung und Schopenhauers Pessimismus. (Goedert, Georges: Nietzsche und Schopenhauer. In: Nietzsche-Studien 7 (1978) S. 1 — 15, darin S. 5.) Goedert geht in seinen Ausführungen zu Nietzsche v o n der Prämisse aus: „Uberall wegweisend [...] bleibt sein K a m p f gegen Schopenhauer" (S. 11). 206 Nietzsche: GT. K S A 1 S. 57. Dabei fungieren das Erhabene und das Komische als Remedia gegen das Entsetzliche und den „Ekel des Absurden" (a. a. O.). 2(10

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muliert und läßt sich auch in seinen späteren Werken mehrfach belegen — auch wenn Nietzsche „von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens" in späteren Phasen seines Philosophierens und unter dem Vorzeichen seiner Abwendung von der Artisten-Metaphysik nicht mehr überzeugt ist. 207 Abschließend sei ein fragmentarisch-skizzenhafter Ausblick auf Nietzsches weitere Entwicklung versucht. Dafür, daß Nietzsche gerade den Schein als Remedium gegen den Pessimismus in Anspruch nimmt, finden sich auch in seinen späteren Werken etliche Belege: Hätten wir nicht die „übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst" als „den guten Willen zum Scheine", so liefen wir Gefahr, unsere ,JFreiheit über den Dingen" zu verlieren; nur die Künste als „Cultus des Unwahren" machen uns das Dasein erträglich — als Gegenmacht zu einer Redlichkeit, aus der Ekel und Selbstmord resultieren würden.208 In einem nachgelassenen Fragment spitzt Nietzsche diese Auffassung zu: Kritisch wendet er sich gegen Schopenhauers „reines willenloses schmerzloses zeidoses Subjekt der Erkenntniß" und stellt dem Postulat der Interesselosigkeit seine These entgegen, in aestheticis sei eine höchstgradig und „rücksichtslos interessirte Zurechtmachung der Dinge" am Werke, die den Menschen Selbstbejahung ermögliche und jedweden objektiven Erkenntnisanspruch gerade ausschließe.209 Eine solche Welterdichtung ist nach Nietzsches Auffassung essentiell Fälschung, also keineswegs im Sinne Schopenhauers „reiner Spiegel des Objekts".210 Ausgehend von der Prämisse einer Lebensnotwendigkeit der Lüge in einer widersprüchlichen, sinnentleerten und grausamen Welt, postuliert Nietzsche für den Menschen ein „Künstler- Vermögen par excellence", kraft dessen er „die Realität durch die Lüge vergewaltigt" und dabei die ungeheure Aufgabe bewältigt, sich ein vertrauenserweckendes Leben zurechtzumachen. Nicht nur Religion und Moral, sondern auch Metaphysik und 207 Nietzsche: GT. KSA 1 S. 24. Vgl. zur Entwicklung von Nietzsches Konzeptionen zur Ästhetik ζ. B. die gründliche und instruktive Uberblicksdarstellung von Volker Gerhardt: Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst. In: Nietzsche-Studien 13 (1984) S. 3 7 4 - 3 9 3 . 2 0 8 Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. KSA 3 S. 4 6 4 - 4 6 5 . 2 0 9 Nietzsche: 1886/87; 5[99], KSA 12 S. 226. Der Schopenhauer-Rekurs bleibt hier zwar implizit, nachweislich handelt es sich bei dieser Formulierung Nietzsches aber um eine wördiche Wiedergabe von W W V I S. 257. Unter Bezugnahme auf dieselbe Stelle spricht Nietzsche in KSA 5 S. 365 (Zur Genealogie der Moral) von einer „gefährlichen alten Begriffs-Fabelei". 2 1 0 Nietzsche: 1886/87; 5[99], KSA 12 S. 226. Auch diese Bezugnahme auf Schopenhauer bleibt implizit; sie korrespondiert aber offensichtlich mit den im vorangegangenen bereits zitierten Spiegel-Thesen Schopenhauers in W W V I S. 266, 396; W W V II S. 265, 473, 490.

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Wissenschaft betrachtet Nietzsche als bloße Ausgeburten des menschlichen Willens zu Kunst, Lüge und Verneinung der Wahrheit. 211 Im Gegensatz zu Schopenhauer konzipiert Nietzsche solche Verneinung allerdings strikt antipessimistisch, besteht doch Kunst seines Erachtens wesentlich in einer Bejahung des Daseins, ja in dessen Vergöttlichung; die Vorstellung einer pessimistischen Kunst hingegen betrachtet er als contradictio in adjecto. 212 Wie sehr diese Ansätze Nietzsches selbst via negationis noch durch Schopenhauer beeinflußt sind, erhellt nicht nur daraus, daß er — in dezidierter Opposition zum Schopenhauerschen Pessimismus — die Kunst als das Medium von Daseinsbejahung schlechthin auffaßt. Darüber hinaus sieht er Pessimismus, Interesselosigkeit und Objektivität offenbar in der Weise miteinander verbunden 213 , daß er die Selbstbejahung des Menschen in seiner Existenz allein durch Elimination jedes objektiven Erkenntnisanspruchs und durch ein ausgeprägtes Verfälschungsinteresse für möglich hält. Von einem Wahrheitsanspruch des Ästhetischen, wie Schopenhauer ihn postuliert, grenzt Nietzsche sich also auf andere Weise ab als Kant. Nietzsche übernimmt zwar Schopenhauers ästhetische Spiegel-Metapher, setzt sie aber unter erheblich modifizierten Vorzeichen ein: Im Zuge seiner Abkehr von Schopenhauers Konzeption eines objektiven, interesselosen Erkennens, bei dem das Subjekt „zum klaren Spiegel der Welt" 214 wird, betrachtet Nietzsche die Schönheit der Welt als Produkt einer narzißtischen Selbstspiegelung des Menschen: „Der Mensch glaubt die Welt selbst mit Schönheit überhäuft, — er vergisst sich als deren Ursache. Er allein hat sie mit Schönheit beschenkt, ach! nur mit einer sehr menschlich-allzumenschlichen Schönheit ,.." 2 1 5 Anders als bei Schopenhauer ist es kein objektiv erfaßbares Wesen der Welt, keine Idee, als deren klarer Spiegel das ästhetische Subjekt Nietzsche: 1887/88; 11[415], KSA 13 S. 193. Vgl. ergänzend 1888; 14[18]: „Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln ist tiefer, .metaphysischer' als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein" (KSA 13 S. 226). Vgl. ferner 1884; 26[226]. KSA I I S . 209: „Die Erkenntniß ist ihrem Wesen nach etwas Setzendes, Erdichtendes, Fälschendes". 2 . 2 Vgl. Nietzsche: 1888; 14[47], KSA 13 S. 241. 2 . 3 Vgl. Nietzsche: 1886/87; 7[η. KSA 12 S. 284. 214 W II S. 265, 490. 2 1 5 Nietzsche: Götzen-Dämmerung. [Künftig abgekürzt als GD.] KSA 6 S. 123. Vgl. auch: 1887; 9[102]. KSA 12 S. 393: Wir legen „eine Verklärung und Fülle in die Dinge [...], bis sie unsere eigene Fülle und Lebenslust zurückspiegeln". Vgl. ergänzend: 1876/77; 23[150]. KSA 8 S. 458: „Die Natur, von welcher man unser Subjekt abzieht, ist etwas sehr Gleichgültiges, Uninteressantes, kein geheimnißvoller Urgrund, kein enthülltes Welträthsel [...]; je mehr wir die Natur entmenschlichen, um so leerer bedeutungsloser wird sie für uns. — Die Kunst beruht ganz und gar auf der vermenschlichten Natur, auf der mit Irrthümern und Täuschungen umsponnenen und durchwebten Natur, von der keine Kunst absehen kann; erfaßt nicht das Wesen der Dinge, weil sie ganz an das Auge und das Ohr angeknüpft ist". 2.1

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fungiert: „Im Grunde spiegelt sich der Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm sein Bild zurückwirft". 216 So ausgeprägt ist offenbar der menschliche Wille zu Illusion und Schein, daß er auch den besagten Anthropomorphismus hervorbringt. 217 Allein aufgrund ihres Schein-Status kann die Kunst nach Nietzsches Auffassung ihre Wirksamkeit „als größtes Stimulans des Lebens" entfalten. 218 Zugleich erweist sie sich als Manifestation des Willens zur Macht. 219 Denn der Mensch, der aus einem rauschhaften „Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle" an die Dinge abgibt, verwandelt sie dadurch zu Spiegeln seiner eigenen Macht und Vollkommenheit. 220 Weit entfernt von einer ziel- und zwecklosen l'art pour l'art 221 , ist die Kunst nach Nietzsches Überzeugung durch die Macht von Schein und Illusion stärker als Wahrheit und Pessimismus 222 und tritt kraft dieses Potentials ihre „Herrschaft [...] über das Leben" an. 223 216

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Nietzsche: GD. KSA 6 S. 123. - Dieser Spiegelbegriff Nietzsches unterscheidet sich fundamental von seinem Spiegelbegriff in der (im vorangegangenen analysierten) Passage aus „Jenseits von Gut und Böse" (KSA 5 S. 135), in der er gegen Schopenhauers Konzeption des ästhetischen Subjekts als eines ,reinen Spiegels' polemisiert. Vgl. ergänzend a. a. O.: Der Gattungsinstinkt „der Selbsterhaltung und Selbsterweiterung strahlt noch in solchen Sublimitäten aus". Als Symptom der von Nietzsche a. a. O. behaupteten Gattungseitelkeit des Menschen erweist sich dessen Verhältnis zum Schönen: „Im Schönen setzt sich der Mensch als Maass der Vollkommenheit; in ausgesuchten Fällen betet er sich darin an" (a. a. O. S. 123). Vgl. auch „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" (KSA 1 S. 883): nur dadurch, daß sich der Mensch „als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit und Consequenz". Nietzsche: 1888; 14[120], KSA 13 S. 299. Vgl. Nietzsche: 1888; 14[117]: „Verschönerung als nothwendige Folge der Kraft-Erhöhung" und „als Ausdruck eines siegreichen Willens" (KSA 13 S. 293). Zur Willensthematik bei Schopenhauer und Nietzsche ist eine Abhandlung von Friedhelm Decher empfehlenswert, die allerdings auf ästhetische Fragestellungen nur sporadisch eingeht: Decher, Friedhelm: Wille zum Leben — Wille zur Macht. Eine Untersuchung zu Schopenhauer und Nietzsche. Würzburg/Amsterdam 1984. Vgl. Nietzsche: GD. KSA 6 S. 116-117. Vgl. auch 1887; 9[102]. KSA 12 S. 394: „eine Erhöhung des Lebensgefühls, ein Stimulans desselben". Vgl. Nietzsche: GD. KSA 6 S. 127. Vgl. Nietzsche: 1888; 14[21], KSA 13 S. 227. Demgemäß ist der These Oehlers durchaus zuzustimmen: „Wenn aber auch für den herrschenden Willen zur Macht seine eigene Weltauslegung nur perspektivischer Schein ist, bleibt konsequent als die Art des Bezuges zur Welt der Erscheinungen [...] nur die ästhetische." (Vgl. Oehler, Christoph: Schopenhauers und Nietzsches Ästhetik als Ausgangspunkt des modernen Irrationalismus? In: Schopenhauer-Jahrbuch 65 (1984) S. 80 — 90, darin S. 84.) Philosophie-Status und Wahrheitsanspruch der Werke Nietzsches scheint Oehler allerdings erheblich zu unterschätzen, wenn er kategorisch feststellt: „Nietzsches Schriften insgesamt haben ihre Uberzeugungs- und Suggestivkraft überwiegend in dem selben Medium, in dem ein Kunstwerk seine Evidenz entfaltet, ohne zu beweisen oder zu definieren." (A. a. O. S. 85.) Nietzsche: 1872/73; 19[310-311], KSA 7 S. 513. Vgl. auch 1872/73; 19[36]: „Die Bändigung der Wissenschaft geschieht jetzt nur noch durch die Kunst. [...] Sie muß alles neu schaffen und

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

V. Zum Abschluß von § 13 seien einige Aspekte der Be2iehung zwischen Schopenhauer und Piaton skizziert. Schopenhauers besondere Wertschätzung für Piaton wird im Rahmen seiner Ästhetik mehrfach evident. Nicht nur bezeichnet Schopenhauer Piaton und Kant als die „beiden größten Philosophen" 224 , darüber hinaus apostrophiert er die Ideen in seiner Ästhetik explizit als „Platonische"225, ja er behauptet sogar, „das Wort Idee" sei bei ihm „immer in seiner echten und ursprünglichen, von Piaton ihm erteilten Bedeutung zu verstehn"226; allein den „Platonischen Sinn" erkenne er für dieses Wort an.227 Außerdem erscheinen „Piaton, der göttliche, und der erstaunliche Kant" zusammen in der ersten Zeile von Schopenhauers Dissertation aus dem Jahre 181 3. 228 Und wenn Schopenhauer in der Vorrede zur ersten Auflage seiner „Welt als Wille und Vorstellung" nicht nur „gründliche Bekanntschaft" des Lesers mit der Kantischen Transzendentalphilosophie voraussetzt, sondern überdies auch Vertrautheit mit der Philosophie Piatons und den indischen Veden empfiehlt229, so entspringt dieser Ratschlag aus Schopenhauers Uberzeugung, daß diese drei Quellen, aus denen er selber schöpft, dieselbe Grundwahrheit enthalten. Die fundamentale Analogie, die Schopenhauer in den drei Theorien zur Relation zwischen Sein und Schein erblickt, bringt er in einer Passage seiner „Welt als Wille und Vorstellung I" prägnant zum Ausdruck: Im 7. Buch seiner „Politeia" spricht Piaton — gemäß Schopenhauers Darstellung — die besagte gan·^ allein das Leben neu gebärenV (KSA 7 S. 428 — 429). Weniger zuversichtlich zeigt sich Nietzsche schon wenige Jahre später in seiner Schrift „Menschliches, Allzumenschliches": „Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwickelung des künstlerischen" (KSA 2 S. 186). Vgl. ebenfalls a. a. O.: „Den Künstler wird man bald als ein herrliches Ueberbleibsel ansehen". 224 WWV I S. 247. 225 Vgl. dazu beispielsweise WWV I S. 245; WWV II S. 470, 473, 485, 525; PP II S. 492. 226 WWV I S. 195. Analog: WWV II S. 470. Daß sich Schopenhauer trotz dieser dezidierten Beteuerung durchaus nicht konsequent an des Meisters reine Lehre gehalten hat, wird sich auch in § 18 im Kontext der Musikästhetik zeigen. 227 II S. 525. — Auf den Stellenwert der .Platonischen Idee' in Schopenhauers Philosophie — insbesondere vor der Veröffendichung seiner WWV I (1819) — geht Kamata ausführlich ein. (Kamata, Yasuo: Platonische Idee und die anschauliche Welt bei Schopenhauer. In: Schopenhauer-Jahrbuch 70 (1989) S. 84-93.) - Bernd Dörflinger behandelt in einem Aufsatz auch das Verhältnis zwischen Kants ästhetischer Idee und der Platonischen Idee bei Schopenhauer. (Dörflinger, Bernd: Zur Erkenntnisbedeutung des Ästhetischen. Schopenhauers Beziehung zu Kant. In: Schopenhauer-Jahrbuch 71 (1990) S. 68 — 77.) 228 Kl. Sehr. S. 11. 229 w w v χ s,

§13. Schopenhauers Ästhetik im Verhältnis zu Nietzsche, Kant, Piaton

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Wahrheit mythisch aus, indem er sagt, „die Menschen, in einer finstern Höhle festgekettet, sähen weder das echte ursprüngliche Licht noch die wirklichen Dinge, sondern nur das dürftige Licht des Feuers in der Höhle und die Schatten wirklicher Dinge, die hinter ihrem Rücken an diesem Feuer vorüberziehn: sie meinten jedoch, die Schatten seien die Realität und die Bestimmung der Sukzession dieser Schatten sei die wahre Weisheit". 230 In den indischen Veden und Puranas sieht Schopenhauer dieselbe Wahrheit in Gestalt der Maja-Lehre dokumentiert, die seines Erachtens genau dem entspricht, „was Kant die Erscheinung im Gegensatze des Dinges an sich nennt: denn das Werk der Maja wird eben angegeben als diese sichtbare Welt, in der wir sind, ein hervorgerufener Zauber, ein bestandloser, an sich wesenloser Schein, der optischen Illusion und dem Traume zu vergleichen". 231 Die Analogie zwischen dem immer Werdenden, aber nie Seienden bei Piaton, der bloßen Erscheinung bei Kant und der indischen Maja 232 hält Schopenhauer für grundlegend. Piaton und Kant glaubt er eine „Identität des Zieles" 233 attestieren zu können; „der innere Sinn beider Lehren" ist seines Erachtens „ganz derselbe": beide enthalten nämlich die These von der sichtbaren Welt als bloßer nichtiger Erscheinung. 234 Allerdings weiß Schopenhauer zwischen dem Kantischen Ding an sich und der Platonischen Idee im Rahmen seiner eigenen Konzeption durchaus zu differenzieren: Trotz ausgeprägter Affinität unterscheiden sich beide Konzepte seines Erachtens insofern voneinander, als der Wille qua Ding an sich 230 WWV I S. 566. Übrigens hält Schopenhauer die entsprechende Stelle am Anfang des 7. Buches der „Politeia" für die wichtigste Stelle aller Werke Piatons (vgl. WWV I S. 566). Er referiert das Höhlengleichnis auch in WWV I S. 248. 231 WWV I S. 567. Demgemäß hebt Schopenhauer auch in WWV I S. 49 die grundlegende Analogie zwischen der Philosophie Piatons und der indischen Maja-Lehre hervor. Vgl. WWV I S. 37. 233 WWV ι S. 252. Analog: S. 250. 234 WWV I S. 248. Ein Passus, in dem Schopenhauer Piaton und Kant sich wechselseitig kommentieren läßt, findet sich in WWV I S. 247 — 250. Heinz Gerd Ingenkamp weist in einem instruktiven Aufsatz darauf hin, daß Schopenhauer seinen philosophischen Werdegang als Platoniker begann (vgl. S. 52), dabei allerdings einem populären Piatonverständnis verhaftet blieb (vgl. S. 45), das sich in der „naiven Uminterpretation der Ideenlehre in seiner Ästhetik" (S. 45 — 46) zeigt. (Ingenkamp, Heinz Gerd: Der Piatonismus in Schopenhauers Erkenntnistheorie und Metaphysik. In: Schopenhauer-Jahrbuch 72 (1991) S. 45 — 66.) Angesichts der selbstgestellten Alternative, ob Schopenhauer ein Kantianer ist, der auch Platonische Konzepte übernimmt, oder eher ein Platoniker, der später Kantische Gedanken in Platonischem Sinne umdeutet, präferiert Ingenkamp die letztgenannte Möglichkeit (vgl. S. 53). Sowohl Analogien als auch Differenzen zwischen Piatonismus und Kantianismus stellt Ingenkamp in seinem Text ausführlich dar. Allerdings verzichtet er darauf, auch die Probleme zu analysieren, die durch Platonische Komponenten in Schopenhauers Philosophie bedingt sind, und zwar vor allem im Hinblick auf seine Rezeption des Kantischen Transzendentalismus. 232

254

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

nicht objektiviert, also keine Vorstellung ist, während die Idee als dessen „unmittelbare und daher adäquate Objektität" eo ipso als Objekt, als Vorstellung, mithin als ein Erkanntes zu gelten hat. 235 Für Schopenhauers Ästhetik erhält die Platonische Ideenlehre insofern Bedeutung, als er in ausdrücklicher Berufung auf Piaton „nur den Ideen eigentliches Sein" zuspricht, den einzelnen Dingen in der raumzeitlichen Phänomenalität hingegen bloß „eine scheinbare, traumartige Existenz" zugesteht. 236 Die ewigen, keinem zeitlichen Wandel unterworfenen, weder entstehenden noch vergehenden Ideen allein sind — gemäß Schopenhauers PiatonReferat — „wahrhaft seiend"; als „die Urformen aller Dinge" werden sie zum Gegenstand einer wesensbezogenen Erkenntnis. 237 Als „das berichtigte Analogon" der Platonischen Erkenntnislehre, deren Postulat einer Reinhaltung des Erkennens von jeglicher Verknüpfung mit Leiblichkeit und sinnlicher Anschauung er kritisiert, betrachtet Schopenhauer — signifikanterweise — seine eigene Konzeption, nach der nur das willenlose, „intuitive Erkennen die höchste Objektivität und deshalb Vollkommenheit erreicht". 238 Damit gestaltet sich die Modifikation der Platonischen Erkenntnistheorie bei Schopenhauer zur Ästhetik um, zumal er an der genannten Stelle auch explizit auf das dritte Buch seiner „Welt als Wille und Vorstellung", also deren Ästhetik-Teil, verweist. Ähnlich verfährt Schopenhauer übrigens mit der Kantischen Erkenntnistheorie, behauptet er doch, die transzendentale Auffassung der Dinge gemäß Kants „Kritik der reinen Vernunft" könne sich „ausnahmsweise [...] auch intuitiv einstellen", wie er selber im dritten Buch seiner „Welt als Wille und Vorstellung" zu erläutern versuche. 239 In außerordentlich kühner Weise versucht Schopenhauer, Ansätze der Platonischen und der Kantischen Erkenntnistheorie harmonisch in seine eigene Ästhetik zu integrieren. Angesichts seiner Uberzeugung, daß tiefreichende Analogien zwischen Piaton und Kant bestehen, mag das zunächst zwar konsequent erscheinen. Die Brüchigkeit einer derartigen Synthese indes wird im folgenden noch deutlich werden. Verschiedenerlei Indizien sprechen dafür, daß Schopenhauer die von ihm so nachdrücklich postulierten AnaloVgl. W W V I S. 252. Weitere Differenzierungen nimmt Schopenhauer auf S. 249 und 251 252 vor. (Eine gründliche Analyse würde den Rahmen der vorliegenden Abhandlung sprengen.) 236 W W V I S. 261. 237 W W V I S. 248. 2 3 8 PP I S. 63. 235

239 WWV ι s_ 250.

§ 1 3 . Schopenhauers Ästhetik im Verhältnis zu Nietzsche, Kant, Piaton

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gien zwischen Piaton und Kant ebenso überschätzt wie das Ausmaß seiner eigenen Affinität zu Kant. Schopenhauers Ästhetik gerät dadurch in ein problematisches Spannungsfeld zwischen Piatonismus und Kantianismus. Zunächst seien einige Platonismus-Signale in Schopenhauers Ästhetik behandelt. Die für Piaton zentrale Urbild-Abbild-Relation 240 transponiert Schopenhauer in seine Ästhetik, indem er den Kunstwerken eine Abbildfunktion zuspricht: Via negationis geht dies deutlich aus einer Textstelle hervor, in der er den Sonderstatus der Musik gerade darin erblickt, daß sie „keineswegs gleich den andern Künsten das Abbild der Ideen" ist. 241 Und diesen (nur von der Musik überbotenen) Abbild-Status der Kunst beschreibt Schopenhauer folgendermaßen: „Sie wiederholt die durch reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen, das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt". 242 Betrachtet Schopenhauer das Kunstwerk pauschal als „Wiederholung" des kontemplativ Erkannten, so liegen Assoziationen an die antiken Mimesis-Konzepte nahe. 243 Die Implikationen der von Piaton inspirierten Abbild-Auffassung in Schopenhauers Ästhetik erweisen sich als folgenreich. Denn im Zusammenhang mit Abbildung geht es allein um graduelle Differenzierungen, sofern es sich nämlich bei einem Abbild jeweils um eine mehr oder minder deutliche Wiedergabe des Abgebildeten handelt. 244 Quantitativ-graduelle Unterscheidungen dieser Art, die — wie zu zeigen sein wird — einen spezifischen erkenntnistheoretischen Problemgehalt mit sich bringen, treten in Schopenhauers Ästhetik auffällig häufig auf. Nicht allein spricht Schopenhauer von der Deutlichkeit, mit der Dichter die Ideen auffassen 245 und mit der Künsder und Philosophen sich „der Welt und ihrer selbst innewerden". 246 Die im Begriff ,Deutlichkeit' liegenden Quantifizierungsmöglichkeiten nutzt er auch selber, indem er vom bloßen Talent das Genie abgrenzt, in dessen Kopf sich 240 V g l TOY I s. 248-249, 245. 241 tov ι s. 359. 242 W W V I S. 265. Das Verb ,wiederholen' verwendet Schopenhauer analog auch in W W V I S. 266, 278, das Verb .wiedergeben' in W W V II S. 496, 492. 243 W W V II S. 523. Einen sehr differenzierten Aufsatz zur Mimesis-Thematik hat Hans Blumenberg in einem Sammelband vorgelegt. Den antiken Konzepten schenkt er darin besondere Aufmerksamkeit; auf Schopenhauer geht er nicht ein. (Blumenberg, Hans: „Nachahmung der Natur". Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981. S. 5 5 - 1 0 3 . ) Vgl. Prauss, Gerold: Einführung in die Erkenntnistheorie. Darmstadt 1980. S. 30. Vgl. W W V I S. 340. 24f, w w v π S. 493. Vgl. auch W W V I S. 259, wo Schopenhauer das ästhetische Bewußtsein als „deutlichstes Bild" des Gegenstandes bezeichnet. 244 245

256

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

die Welt „objektiver, mithin reiner und deutlicher darstellt".247 Und wenn Schopenhauer hinsichdich des reinen Subjekts des Erkennens von „sehr verschiedenen Graden der Klarheit" 248 spricht, so ist das Graduell-Quantitative solcher Deutlichkeit evident. Den Ursprung der verschiedenen Erkenntnisgrade erblickt Schopenhauer ebenfalls in etwas Graduellem: indem nämlich seines Erachtens „das Erkennen um so reiner und vollkommener ist, je mehr es sich vom Willen losgemacht und gesondert hat, wodurch die rein objektive, die ästhetische Auffassung eintritt". 249 Geht Schopenhauer schließlich sogar so weit, den Begriff ,Richtigkeit'250 in den Komparativ zu setzen, so wird die erkenntnistheoretische Problematik eklatant: Sie besteht in einer Quantifizierung von Wahrheit. Das mehr oder minder deutliche Abbild ist zugleich mehr oder minder undeutlich; Deutlichkeit und Undeutlichkeit unterscheiden sich lediglich graduell-quantitativ voneinander, so daß ihre Differenz nur eine relative ist. Hinsichtlich der Wahrheit von Erkenntnissen erweist sich eine lediglich quantitativ-graduelle Differenzierung aber als verfehlt. Denn keineswegs kann auch für die Wahrheit gelten, was nur im Falle der Deutlichkeit legitim ist: Keinesfalls ist Erkenntnis mehr oder minder wahr und zugleich mehr oder minder falsch. Der qualitative, mithin absolute Unterschied zwischen Wahrheit und Falschheit einer Erkenntnis entspricht der quantitativen und insofern relativen Differenz zwischen der Deutlichkeit und der Undeutlichkeit eines Abbildes grundsätzlich nicht. 251 Diese wichtige Abgrenzung ignoriert Schopenhauer, wenn er den Gehalt der Begriffe ,Richtigkeit' und ,Deutlichkeit' sichtlich analogisiert und die zugehörigen Adjektivformen gleicherweise in den Komparativ glaubt setzen zu können. Mit diesem Piatonismus gerät Schopenhauer — offenbar ohne es selbst zu bemerken — geradezu in eine Gegenposition zu Kant; denn in seinen „Reflexionen" stellt Kant dezidiert fest: „Wahrheit hat keine Grade". 252 Kantische Wahrheits^/Wi/ä/ und Platonische Oeux\icbkeix.squantität lassen sich nicht synthetisieren. So nachhaltig ist Schopenhauers Ästhetik durch den Piatonismus geprägt, daß die Belege für quantitative Differenzierungen von Deutlichkeit nicht nur 247 TOY II s. 485. 248 w w v n s 479 249 TOY II S. 316. Analog: HN III S. 423. 250

251 252

Kl. Sehr. S. 399: Das Erkennen ist „um so reiner und folglich um so objektiver und richtiger, je mehr es sich vom Willen losgemacht hat". Zum Verhältnis von Richtigkeit und Deutlichkeit vgl. auch PP II S. 614. Dazu vgl. Prauss, Gerold: Einführung in die Erkenntnistheorie. Darmstadt 1980. S. 31. Kant: Handschriftlicher Nachlaß. Bd. III: Logik. Akademie-Ausgabe Bd. 16. Berlin-Leipzig 1924. Reflexion 2210, S. 272.

§13. Schopenhauers Ästhetik im Verhältnis zu Nietzsche, Kant, Piaton

257

durch die Häufigkeit ihres Erscheinens auffallen, sondern auch dadurch, daß sie verschiedene Komponenten von Schopenhauers Ästhetik betreffen: Bindet Schopenhauer den jeweiligen Rang von Genialität an einen entsprechenden Grad von Objektivität beziehungsweise Deutlichkeit der Erkenntnis 253 , so wird diese Quantitätsdifferenz produktionsästhetisch wirksam. Außerdem bemißt Schopenhauer den Rang der Ideen nach dem Grad der Deutlichkeit, mit der sie den Willen offenbaren. 254 Die Schönheit eines Dinges sieht er erstens dadurch bedingt, daß es „durch das sehr deutliche [...] Verhältnis seiner Teile" zueinander „die Idee seiner Gattung rein ausspricht" und „vollkommen offenbart", zweitens dadurch, daß die in ihm sich manifestierende Idee „eine hohe Stufe der Objektität des Willens" ist. 255 Ansätze zu einer Platonischen Universalität der Schönheit zeigen sich dort, wo Schopenhauer behauptet, der Idee sei „als solcher die Schönheit wesentlich", schön sei demnach dasjenige, was „die Idee seiner Gattung deutlich an den Tag legt". 256 Daraus ergibt sich eine Omnipräsenz des Schönen, die Schopenhauer auch selbst zum Ausdruck bringt: Da „jedes vorhandene Ding rein objektiv und außer aller Relation betrachtet werden kann [...] und [...] Ausdruck einer Idee ist; so ist auch jedes Ding schön".257 Daß im Horizont dieser durch Piaton angeregten Totalisierung des Schönen nur noch die Möglichkeit quantitativer Differenzierung besteht, ist evident. 258 Der Unterschied zwischen Schönheit und Häßlichkeit wird somit zu einem lediglich graduell-relativen, der letztlich vom Mehr oder Minder an Deutlichkeit bei den Objektivationen des Willens sowie von deren höherem oder niedrigerem Rang abhängt. Eine Koinzidenz von Deutlichkeit und Schönheit tritt auch 253 Ygj WWV j s. 266, wo Schopenhauer Genialität als vollkommenste Objektivität definiert. WWV II S. 544: „je objektiver, d. h. genialer". HN III S. 577: im Kopf des Genies ist „die Welt als Vorstellung mit einem Grad mehr Helligkeit und Deutlichkeit ausgeprägt". 254 Ygj w w v I S. 301: Zur „deudichsten" und „vollkommensten" Offenbarung des Willens sind nach Schopenhauer nur Kunstwerke imstande, die bestimmte Facetten der Idee des Menschen zum Ausdruck bringen. 255 w w v ι S 298. 256 pp j j g 500. Das Schöne ist laut Schopenhauer „das deudich hervortretende Anschauliche, mithin der deutliche Ausdruck bedeutsamer (Platonischer) Ideen". Weitere Belege zur Deutlichkeit: WWV I S. 379, WWV II S. 538-539. - Otto J. Most sieht in der zitierten Stelle aus PP II S. 500 eine Affinität zu „dem von Piaton, vor allem im Symposion (211b) und im Phaidon (100c), entfalteten Gedanken, daß die Dinge schön sind durch Teilnahme an dem Schönen selbst, d. h. an der Idee des Schönen." (Most, Otto J.: Zeidiches und Ewiges in der Philosophie Nietzsches und Schopenhauers. Hrsg. von Hannes Böhringer. Frankfurt a. M. 1977. S. 34.) 257 WWV I S. 297-298. Vgl. auch PP II S. 501, wonach „jedes natürliche Ding schön", und MS S. 118, wonach , jedes vorhandene Ding schön" ist. 258 Vgl. ζ. B. WWV I S. 408: „vollkommen rein und deudich, d. h. schön".

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

dort hervor, wo Schopenhauer über den Künstler aussagt, er gebe das Aufgefaßte „durch Reinigung von allem Unwesentlichen verdeutlicht (d. i. eben verschönert)" wieder. 259 Und daß Schönheit im Rahmen von Schopenhauers ästhetischem Piatonismus — gänzlich unkantisch — den Status eines Prädikats von Dingen erhält, impliziert - wie weiter oben bereits gesagt — die Gefahr einer Nivellierung ästhetischer Werte, sofern dieses Prädikat letztlich allen Dingen zukommen soll. Piatonismus, Objektivismus und Erkenntnisstatus sind in Schopenhauers Konzeption ästhetischer Einstellung auf das engste miteinander verknüpft. Mit der Auffassung von Schönheit als Objekteigenschaft korrespondiert die These, ästhetische Kontemplation beinhalte eine spezifische Erkenntnisweise. Und wie groß die Distanz zur Kantischen Theorie ist, zeigt eine Aussage in der „Kritik der Urteilskraft": „Das Geschmacksurtheil ist also kein Erkenntnißurtheil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch", bezeichnet „gar nichts im Objecte" und ist als solches allein durch einen subjektiven Bestimmungsgrund gekennzeichnet. 260 Hier etwa noch Analogien zwischen Piaton und Kant feststellen zu wollen: das wäre ein von vornherein aussichtsloses Unterfangen! In Schopenhauers These, daß „nur das Wahre schön" ist 261 , kommt eine Koinzidenz von Schönem und Wahrem zum Ausdruck, die dem Kantischen Ansatz inkommensurabel ist. Dem bereits Dargelegten zufolge läßt sich nicht nur die Wahrheit — qua άλήθεια im Platonischen Sinne einer Unverborgenheit als relativer Deutlichkeit — quantifizieren, sondern auch die Schönheit, ja überdies sogar die Freiheit des ästhetischen Subjekts: Ist nämlich nach Schopenhauers Auffassung „das Erkennen [...] um so reiner und folglich um so objektiver und richtiger, je mehr es sich vom Willen losgemacht hat" 2 6 2 , so braucht man das Partizip ,losgemacht' (gemäß der in § 1 behandelten Negativität ästhetischer Willensfreiheit) lediglich durch sein Synonym ,befreit' zu ersetzen, damit diese implizite graduelle Stufung verschiedener Freiheits-,Quanten' auch explizit hervortritt.

259 260

H N III S. 517. Kant: Kritik der Urteilskraft. AA 5 S. 2 0 3 - 204. Auf S. 2 1 5 behauptet Kant, daß das ästhetische Urteil „gar nicht auf das Object geht", auf S. 347 betont er, daß „ein Geschmacksurtheil kein Erkenntnißurtheil und Schönheit keine Beschaffenheit des Objects" ist. Analog S. 290: „Schönheit ist kein Begriff vom Object, und das Geschmacksurtheil ist kein Erkenntnißurtheil".

261

W W V II S. 550. Offenbar infolge einer derartigen fragwürdigen Koinzidenz thematisiert Schopenhauer in W W V II S. 519 eine „durchgängige Wahrheit und Konsequentζ der Natur".

262

Kl. Sehr. S. 399. Vgl. auch S. 400.

§ 1 3 . Schopenhauers Ästhetik im Verhältnis zu Nietzsche, Kant, Piaton

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Vom Kantischen Konzept der Autonomie als einer spezifischen Qualität unterscheidet sich Schopenhauers reduktionistische Vorstellung von einer vermeintlich quantifizierbaren Freiheit grundlegend. Auch Schopenhauers ausgeprägte Tendenz zur Annahme einer rezeptiven Haltung des ästhetischen Subjekts stehen dem Kantischen Konzept einer durch Autonomie und Spontaneität bestimmten ästhetischen Einstellung diametral gegenüber. Offenbar wurzelt die in § 4 ausführlich behandelte Rezeptivitätsproblematik 263 letztlich in Schopenhauers Piatonismus. Symptomatisch erscheint diesbezüglich seine These von einem Auffassen 264 der Idee durch das ästhetische Subjekt, sofern man sich vergegenwärtigt, daß die Ideen nach Piatons Lehre immer schon vorhanden sind, so daß ein Subjekt sie in nachträglichem Hinzutreten lediglich zu rezipieren braucht und sie nicht etwa kreativ-spontan allererst konstituieren muß. 265 Mit etlichen Textstellen läßt sich diese Einschätzung belegen. Beispielsweise vertritt Schopenhauer die Auffassung, daß das einzelne Ding „die Idee seiner Gattung rein ausspricht", „daß die Idee selbst [...] uns aus ihm anspricht" 266 , daß die Idee uns „aus dem Kunstwerk [...] leichter entgegentritt als unmittelbar aus der Natur und der Wirklichkeit". 267 Und in einer noch radikaleren Aussage gerät die Rezeptivität des Subjekts sogar in ein komplementäres Verhältnis zu einer problematischen Quasi-Spontaneität der Idee: Denn die Idee „entwickelt in dem, welcher sie gefaßt hat, Vorstellungen, die [...] neu sind: sie gleicht einem lebendigen, sich entwickelnden, mit Zeugungskraft begabten Organismus". 268 Die Produktion 263

Hingewiesen sei auf die zahlreichen Belege in § 4, die an dieser Stelle nicht eigens rekapituliert werden sollen.

264 vgl. WWV I S. 266, 278, 329, 340. Vgl. Prauss, Gerold: Einführung in die Erkenntnistheorie. Darmstadt 1980. S. 18, 23. — Auch Rudolf Malter konstatiert, daß Schopenhauer im Kontext seiner Ideenlehre nicht „von einem subjektiv bedingten Entstehen des Objektiven, der Ideen", spricht, allerdings setzt er sich nicht kritisch damit auseinander. (Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1 9 9 1 . S. 306.) Das liegt offenbar daran, daß Malter den Transzendentalismus Schopenhauers selbst durch seine Platonische Ideenlehre nicht in Frage gestellt sieht (vgl. S. 307), behauptet er doch in ästhetischem Kontext bei Schopenhauer „eine Aktivität des Subjekts" (S. 307). Malters These, „Nicht die Idee nötigt sich dem Subjekt auf [...]" (S. 307), ist mit den Textstellen aus W W V I S. 298, 278, 314, 3 3 0 nicht kompatibel. 266 W W V I S. 298. 2 6 7 Vgl. W W V I S. 278. Vgl. ergänzend W W V I S. 314, w o analog zum (in § 4 mehrfach belegten) .Entgegenkommen' der Objekte — vom ,Entgegenkommen' der Idee die Rede ist. 268 W W V j s. 330. (Vgl. ergänzend PP II S. 6 1 4 , wonach der Gedanke im K o p f nach Deutlichkeit strebt.) — Der Auffassung von Walter Schulz, daß nach Schopenhauer „das Subjekt am Zustandekommen dieser Idee wesenhaft mitwirkt", wird man — angesichts der zitierten Textstellen aus W W V I S. 298, 278, 3 1 4 , 3 3 0 - wohl schwerlich zustimmen können. (Vgl. Schulz, Walter: Die problematische Stellung der Kunst in Schopenhauers Philosophie. In:

265

260

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

von Vorstellungen ist hier offenkundig Angelegenheit der Idee und gerade nicht Aufgabe des Subjekts. Im Zuge seines Piatonismus nimmt Schopenhauer eine Position ein, die mit der Kantischen Transzendentalphilosophie unvereinbar ist. Seine Rezeptivitätsauffassung erweist sich im Vergleich zu der von Kant postulierten Spontaneität eines autonom agierenden, intentionalen Subjekts als defizitär. Ergänzend zu den im vorangegangenen behandelten Platonismus-Signalen in Schopenhauers Konzeption seien abschließend noch einige wesentliche Unterschiede zu Piaton hervorgehoben. Während der Platonische Dualismus auf einer Differenzierung zwischen der Welt der realen individuellen Sinnendinge und der (ihr gegenüber ontologisch vorrangigen) Ideensphäre beruht, konzipiert Schopenhauer den Willen als universelles, schlechthin primäres Naturprinzip und Wesen der Welt. Die Ideen als „die unmittelbare Objektität jenes Willens auf einer bestimmten Stufe" 269 erhalten in diesem Rahmen ontologisch nur einen sekundären Status; sie sind den individuellen Einzeldingen als den mittelbaren Objektivationen des Willens ontologisch vorgeordnet. Die Beziehung zum (bei Schopenhauer ontologisch drittrangigen) Bereich der realen Einzeldinge gestaltet sich allerdings für Ideen im Platonischen und im Schopenhauerschen Sinne insofern analog, als sie jeweils unmittelbar höherrangig als diese Einzeldinge sind. Angesichts der beschriebenen Konstellation wird man Schopenhauers Uberzeugung, er habe den Begriff Idee „immer in seiner alten, ursprünglichen Platonischen Bedeutung gebraucht" 270 , wohl schwerlich stricto sensu verstehen können. Besonders auffällig wird die Differenz zwischen Piaton und Schopenhauer dort,wo Schopenhauer sich von Piatons pejorativer Einschätzung der Kunst distanziert: Er referiert Piatons These, „daß der Gegenstand, den die schöne Kunst darzustellen beabsichtigt, das Vorbild der Malerei und Poesie, nicht die Idee wäre, sondern das einzelne Ding" 271 , nimmt selbst entschieden Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Tübingen 1981. S. 403 - 415, darin S. 407.) 269 W W V I S. 247. Auch Jochen Schmidt weist darauf hin, daß „Schopenhauers Berufung auf die Platonische Idee irreführend" ist und gibt dafür folgende Begründung: „Während sich bei Piaton die Welt der realen Erscheinungen aus der ewigen, ontologisch übergeordneten Welt der Ideen herleitet, sieht Schopenhauer umgekehrt in der Welt der Ideen eine ,Objektivation' des ontologisch vorgeordneten ,Willens'. Diese Objektivation findet in der Vorstellung des erkennenden und anschauenden Subjekts statt" (Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750—1945. 2 Bände. Darmstadt 1985. Band 1: S. 4 7 0 - 4 7 1 ) . - Walter Schulz (vgl. obige Aran.) betont ebenfalls, daß Schopenhauer „kein Platoniker im traditionellen Sinne" ist (S. 406). 270 otV I S. 656. 271 W W V I S . 3 0 0 - 3 0 1 .

§ 13. Schopenhauers Ästhetik im Verhältnis zu Nietzsche, Kant, Piaton

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den entgegengesetzten Standpunkt ein und etikettiert Piatons „Geringschätzung und Verwerfung der Kunst, besonders der Poesie", sogar als schwerwiegenden Fehler. 272 Mit dieser Kritik bezieht sich Schopenhauer auf einen längeren Passus im 10. Buch von Piatons „Politeia" 273 , in dem Piaton zwischen Wesensbildner, Werkbildner und Nachbildner differenziert und den Produkten des Künsders als des Nachbildners lediglich eine Zugehörigkeit ,zu dem dritten von der Wahrheit ab' zugesteht. 274 Denn während Gott — so Piaton — als Wesensbildner Tische und andere Dinge ihrem Wesen nach gemacht hat und insofern der Verfertiger von wahrhaft Seiendem ist, stellen Handwerker als Werkbildner gemäß diesen Vorgaben Tische, Bettgestelle und dergleichen her. 275 Die Künsder als bloße Nachbildner hingegen ahmen lediglich letzteres nach, so daß ihre Erzeugnisse ontologisch nur den tertiären Rang erhalten. 276 Nicht das Seiende, sondern nur das Erscheinende nachbildend, geraten die Künsder in große Distanz zur Wahrheit und bringen bloße Schattenbilder hervor 2 7 7 — ohne vom Wirklichen eigentlich etwas zu verstehen 278 und ohne Einsicht in die ethische Wertigkeit dessen, was sie nachbilden. 279 272 WWV I S. 301. — Martin Seel läßt diese wichtige Differenz außer acht, wenn er Schopenhauer unterstellt: „Ausgeschlossen, unter Zensur gestellt bleibt alles, was sich nicht in das nach Piaton und Spinoza zurechtgeschusterte Modell der theoretischen Schau einfügen will." (Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a. M. 1991. S. 82.) 2 7 3 Vgl. Piaton: Politeia 595a-608b. Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Hrsg. von Gunther Eigler. (Deutsche Ubersetzung von Friedrich Schleiermacher.) Darmstadt 2. Aufl. 1990. 274 Piaton: Politeia 602c. Dieser tertiäre Status der Kunst läßt sich auch belegen durch 597e, 599a, 599d. (Die Stellennachweise folgen der — in der Platon-Forschung etablierten — Stephanus-Numerierung.) Heinz Gerd Ingenkamp betrachtet Piaton im Hinblick auf diese Konstellation sogar als „Schopenhauers direkten Antipoden". (Ingenkamp, Heinz Gerd: Schopenhauer und die Antike. In: Schopenhauer-Jahrbuch 65 (1984) S. 181 — 196, darin S. 187.) 2 7 5 Piaton: Politeia 597d. 2 7 6 A. a. O. 597e. 2 7 7 A. a. O. 598b. Vgl. auch 605c, 599a, 603a. 2 7 8 A. a. O. 601b. Vgl. auch 602a. 2 7 9 A. a. Ο. 602a — b. Damit hängt Piatons Anklage zusammen, daß der Dichter Emotionen weckt und steigert, auf deren Beherrschung es doch ankäme (vgl. a. a. Ο. 605c —606d). Unter diesem Aspekt glaubt Piaton zwar .Gesänge an die Götter und Loblieder auf treffliche Männer' in seinem Staat akzeptieren zu können (vgl. a. a. O. 607a); im allgemeinen aber sollen die Dichter — trotz Anerkennung der künstlerischen Qualität ihrer Produkte — nicht in die Stadt hineingelassen werden. Im „Menon" erhalten die Dichter immerhin gleich den Orakelsprechern und Weissagern das Prädikat des Götdichen (99c —d), sofern nämlich ihre Dichtung durch Naturgabe und Begeisterung entsteht, so daß sie von dem, was sie sagen, nichts wissen (Apologie 22b —c). Im „Ion" exponiert Piaton die dichterische Inspiration als eine götdiche Kraft und Begeisterung, unabhängig vom vernünftigen Bewußtsein (533a —535c), so daß die Dichter gar ,Sprecher der Götter' sind (534e). Im „Phaidros" betrachtet Piaton die Dichtkunst als Produkt einer der drei Arten götdichen Wahnsinns; ohne den Wahnsinn der Musen ist die dichterische Weihe nicht zu erlangen (Phaidros 244a —245a).

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Mithin vollziehen sie ihre Nachbildungen nur als Spiel und ohne eigentlichen Ernst. 280 Die besagte Kritik Schopenhauers an Piatons pejorativer Kunsteinschätzung läßt via negationis wichtige Differenzen zwischen den beiden Philosophen erkennen: sowohl ontologisch im Hinblick auf den Gegenstand der Kunst als auch produktionsästhetisch hinsichtlich des sie hervorbringenden Künstlers. Vergegenwärtigt man sich den exklusiven Stellenwert des Genies in Schopenhauers Ästhetik, so erhellt, daß Schopenhauers Thesen mit Piatons Uberzeugung vom inferioren Status der ontologisch lediglich drittrangigen Kunst inkompatibel sind. Bereits diese Konstellation läßt vermuten, was eingehendere Textlektüre sogleich bestätigt: daß auch von der Kunst als Abbild der Ideen, von deren Wiederholung als Funktion der Kunst bei Schopenhauer durchaus nicht originär im Sinne antiker Mimesisvorstellungen die Rede sein kann. Diesbezüglich differieren in Schopenhauers Ästhetik bereits die Kunstgattungen untereinander erheblich: Nach Schopenhauers Auffassung ist die Musik „keineswegs gleich den andern Künsten das Abbild der Ideen". 281 Und die Baukunst unterscheidet sich „von den bildenden Künsten und der Poesie" insofern, als sie „nicht ein Nachbild, sondern die Sache selbst gibt: nicht wiederholt sie wie jene die erkannte Idee". 282 Daß Schopenhauer allerdings auch die Funktion der bildenden Künste und der Poesie keineswegs in genuiner Mimesis erblickt, deutet sich bereits dort an, wo er ihnen die Aufgabe zuweist, „die Weisheit der Natur [...] durch Verdeutlichung und reinere Wiederholung [zu] verdolmetschen". 283 Trotz der auffälligen mimetischen Reminiszenzen im Begriff der ,Wiederholung' zeigt das komparativische Epitheton ,reinere' zugleich, daß Schopenhauer die tradierten Mimesis-Konzepte transzendiert, bringt es doch einen — im Rahmen letzterer nicht einlösbaren — Rangprimat des Abbilds vor dem Abgebildeten zum Ausdruck, mit dem die Funktion

280 piaton: Politeia 602b. Bezeichnenderweise kontrastiert auch Schopenhauer Spiel und Ernst: A m Ende des 3. Buches seiner W W V I stellt er das Ephemere einer Erlösung in ästhetischkünsderischer Kontemplation der dauerhaften Erlösung gegenüber, die der Heilige durch die Verneinung des Willens zum Leben erfährt; den Begriff des Spiels bringt er mit der ästhetischen Sphäre in Verbindung, den Begriff des Ernstes mit dem ethischen Bereich (vgl. W W V I S. 372). 281 W W V I S. 359: statt „Abbild der Ideen" ist die Musik ,Abbild des Willens selbst". Analog S. 366. 282 W W V I S. 307. 283 W W V II S. 523. Vgl. ergänzend S. 477: „Daß also das Kunstwerk die Auffassung der Ideen [...] so sehr erleichtert, beruht" unter anderem „darauf, daß die Kunst durch Hervorhebung des Wesentlichen und Aussonderung des Unwesentlichen die Dinge deudicher und charakteristischer darstellt". Vgl. dazu § 16.

§ 1 3 . Schopenhauers Ästhetik im Verhältnis zu Nietzsche, Kant, Piaton

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der Kunst, ästhetische Kontemplation zu erleichtern, zusammenhängt. 284 Und eine amimetische Poiesis erhellt in Schopenhauers These, daß der echte Künsder „die Natur in seiner Darstellung übertrifft". 285 Einen auffälligen Kontrast zur traditionellen Mimesis im Platonischen Sinne weist außerdem Schopenhauers Behauptung auf, daß — qua Erleichterungsfunktion — „das Bild der Idee nähersteht als die Wirklichkeit". 286 Und schön ist nach Schopenhauer nicht das Leben selbst, sondern „nur die Bilder des Lebens sind es, nämlich im verklärenden Spiegel der Kunst oder der Poesie". 287 Das Changieren von Schopenhauers Thesen zwischen der Annahme einer spezifischen Aktivität des ästhetischen Subjekts einerseits und Tendenzen zu dessen bloß passiver Rezeptivität andererseits führt zu einer ausgeprägten (in § 4 behandelten) Ambivalenz; ihr scheint in Schopenhauers Konzeption ein Oszillieren zwischen romantischer Genie-Auffassung und PiatonismusReminiszenzen zu entsprechen. Auf dieser Basis läßt sich dann auch eine Vermutung anstellen, die zum Anfang des vorliegenden § 13 zurückführt und damit den Kreis schließt: Gerade die Komponenten von Schopenhauers Ästhetik, die Heidegger zu Recht (wenngleich einseitig) kritisiert, scheinen sich aus Schopenhauers Piatonismus zu ergeben. Und eben dieser Platonismus bringt Schopenhauer in eine (von ihm selbst offenbar nicht erkannte) Distanz zu der Konzeption Kants, die Heidegger — auf Kosten Schopenhauers — zu rehabilitieren versucht. Weit davon entfernt, Platonische und Kantische Konzepte harmonisch in sich zu vereinigen, zeigt Schopenhauers Ästhetik mit ihren tiefreichenden Ambivalenzen letztlich nichts anderes als gerade die Aussichtslosigkeit eines derartig kühnen Syntheseversuchs.

Vgl. dazu W W V II S. 477. 285 W W V I S. 313. 286 p p JJ s 49G E i n e wesentliche Funktion erhält in diesem Kontext die Phantasie, weil die Dinge in ihr „reiner ausgeprägt" stehen als in der Realität (HN III S. 577). Vgl. dazu § 15. 287 W W V II S. 483. 284

§ 14. Das Genie als Hermaphrodit? — Zur Problematik ästhetischer Fertilitätsmetaphorik I.

Das Genie als Hermaphrodit? — Diese Frage klingt befremdlich. Denn verliert eine solche Fragestellung nicht von vornherein dadurch ihren Sinn, daß Schopenhauer den Frauen eine Befähigung zu ästhetischer Kontemplation grundsätzlich und nachdrücklich abspricht? In seiner Misogynie versteigt er sich nämlich bis zu der Behauptung, „das weibliche Geschlecht" als „das unästhetische" sei „keines rein objektiven Anteils an irgend etwas fähig". 1 Objektivität jedoch nimmt Schopenhauer als Konstituens ästhetischer Einstellung in Anspruch. 2 Konsequent ergibt sich daraus für ihn folgende Einschätzung: Nicht „zu einer einzigen wirklich großen, echten und originellen Leistung in den schönen Künsten" 3 haben es seines Erachtens „die Weiber" im Laufe der Jahrhunderte gebracht; auch haben sie „weder für Musik noch Poesie noch bildende Künste [...] wirklich [...] Sinn und Empfänglichkeit". 4 Für das Genie ist damit eo ipso Männlichkeit vorgegeben. Diese Auffassung vertritt Schopenhauer allerdings nicht nur via negationis, durch den Ausschluß des weiblichen Geschlechts aus dem Bereich von Genialität. Vielmehr behauptet er im Genie-Kapitel seiner „Welt als Wille und Vorstellung" im Zusammenhang mit Darlegungen zu physiologischen Voraussetzungen von Genialität explizit: „Die Grundbedingung ist ein abnormes Uberwiegen der Sensibilität

' PP II S. 726. Der Text von § 14 orientiert sich — streckenweise auch wörtlich — an einem Vortrag, den ich im Rahmen der Arbeitstagung „Denker gegen den Strom? Schopenhauers Verhältnis zur philosophischen Tradition und zur Moderne" am 23. 2. 1988 in Innsbruck/ Rum gehalten habe. Vgl. Neymeyr, Barbara: Das Genie als Hermaphrodit? Schopenhauers ästhetische Fertilitätsmetaphorik und ihr Verhältnis zu Nietzsche. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 40 (1995) S. 199 — 217. Der Aufsatz erscheint auch in: Schopenhauer und die Tradition. Schopenhauer-Studien 6. Hrsg. von Wolfgang Schirmacher. Berlin 1997. 2 Vgl. ζ. B. W W V II S. 4 7 4 - 4 7 8 , 483; PP II S. 495. 3 PP II S. 7 2 6 - 7 2 7 . 4 PP II S. 726.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

[...], und zwar [...] auf einem männlichen Körper. (Weiber können bedeutendes Talent, aber kein Genie haben: denn sie bleiben stets subjektiv.)"5 Für eine ernsthafte Auseinandersetzung bieten derlei Meinungen natürlich keine lohnende Basis, zeigt sich doch an ihnen allzu deutlich eine — in dieser Hinsicht — geradezu erstaunliche Borniertheit ihres Urhebers. — Wie aber soll angesichts dieser Uberzeugung Schopenhauers für das Genie eine weibliche Komponente überhaupt noch in Betracht gezogen werden, die mit dem männlichen Bestandteil dann zu jener merkwürdigen Hybridbildung sich vereinigen könnte, von der eingangs im Begriff ,Hermaphrodit' bereits die Rede war? Ist nicht schon durch seine ausdrücklich bekundete Auffassung von der Unmöglichkeit weiblicher Genies der Ausdruck ,Hermaphrodit', der doch eine Synthese von Männlichem und Weiblichem voraussetzt, für das Genie bei Schopenhauer als schlichte Absurdität entlarvt? Zwar scheint der anfängliche Eindruck, genau so verhalte es sich, durch das bislang Dargestellte sogar noch bestätigt zu werden. Dennoch kann sich mit der Vorstellung eines hermaphroditischen Genies durchaus ein plausibler Sinn verbinden. In welcher Hinsicht und mit welchen problematischen Implikationen — das zu erhellen, soll Aufgabe der nun folgenden Überlegungen sein.

II. Ausgehend von dem Begriff ,Konzeption', nutzt Schopenhauer dessen Ambiguität, um die eine seiner Bedeutungskomponenten durch die andere zu erläutern. Schopenhauer befürwortet diese Äquivokation ausdrücklich, bietet sie ihm doch Gelegenheit, mit Bezug auf das entsprechende Tertium comparationis einen wichtigen produktionsästhetischen Aspekt besonders anschaulich hervortreten zu lassen. In seinen „Parerga und Paralipomena" äußert er sich dazu: „Sehr treffend hat man das Entstehn des Grundgedankens zu einem Kunstwerke die Konzeption desselben genannt: denn sie ist, wie zum Entstehn des Menschen die Zeugung, das Wesentlichste".6 Die metaphorische Anwendung der biologischen Bedeutungskomponente auf den ästhetischen Kontext vollzieht er in folgender Aussage: „Überhaupt nämlich übt das Objekt, gleichsam als Männliches, einen beständigen Zeugungsakt

5 6

W W V II S. 5 0 5 - 5 0 6 . PP II S. 505.

§ 1 4 . Das Genie als Hermaphrodit?

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auf das Subjekt, als Weibliches, aus". 7 Dabei fängt das in die Apperzeption des Subjekts fallende Objekt an, „zu ihm zu reden, d. h. einen lebhaften, eindringenden und originellen Gedanken in ihm [zu] erzeugen". 8 Daß dieses Subjekt im Zusammenhang mit künstlerischer Konzeption unter Ausblendung rezeptionsästhetischer Perspektiven spezifisch als Genie zu betrachten ist, liegt auf der Hand. Damit ist offenbar mehr gefunden, als am Anfang dieses Paragraphen gesucht wurde: Nicht allein von einem weiblichen Wesensbestandteil des Genies ist auszugehen, vielmehr deuten die Textbelege darüber hinaus sogar auf prinzipielle ,Weiblichkeit' des Genies als .Empfängnisbereitschaft' in metaphorischem Sinne hin; ihr steht die gleichermaßen grundsätzliche ,Männlichkeit' des ,zeugenden' Objekts diametral gegenüber. Infolge der zitierten metaphorischen Aussage scheint allerdings die Vorstellung vom Genie als Hermaphrodit von neuem suspekt zu werden, nur diesmal aufgrund eines Mangels an ,Männlichkeit' statt — wie man anfangs meinen mochte — durch ein Defizit an ,Weiblichkeit'. Dieser Anschein indessen trügt. Denn die vermeintliche Lücke läßt sich schließen durch eine weitere Textstelle aus den „Parerga und Paralipomena". Sie bietet metaphorisch das andersgeschlechtige Pendant: „Der auffassende, urteilende Geschmack ist gleichsam das Weibliche zum Männlichen des produktiven Talents oder Genies. Nicht fähig, zu erzeugen, besteht er in der Fähigkeit, zu empfangen, d. h. das Rechte, das Schöne, das Passende als solches zu erkennen — wie auch dessen Gegenteil". 9 Faßt man beide Textstellen zugleich in den Blick, so findet man metaphorisch sowohl .Männlichkeit' als auch .Weiblichkeit' des Genies belegt. Wie aber läßt es sich mit der zunächst nachdrücklich hervorgehobenen .Weiblichkeit' des Genies vereinbaren, daß Schopenhauer kurz danach von deren konträrem Gegenteil, nämlich von genialer .Männlichkeit', ausgeht? Führen die Belegstellen nicht einen Widerspruch herbei zwischen Schopen7 8 9

PP II S. 505. PP II S. 505. PP II S. 533. Zur metaphorischen .Männlichkeit' des Genies vgl. auch W W V II S. 4 9 7 - 4 9 8 : „Nicht im Ruhme, sondern in dem, wodurch man ihn erlangt, liegt der Wert und in der Zeugung unsterblicher Kinder der Genuß". Das Inferiore des bloß empfangenden Weiblichen deutet sich in „Nicht fähig" (PP II S. 533) bereits an. Offenkundig wird diese pejorative Konnotation noch in einem anderen Kontext: „Die Vernunft ist weiblicher Natur, ist nie erzeugend, sondern immer nur empfangend" (ΗΝ I S. 158), zumal Schopenhauer auf der folgenden Seite behauptet: „aus ihr wird nie etwas Geniales hervorgehn". Vgl. ferner W W V I S. 140, 91. Schopenhauers Uberzeugung von der Höherwertigkeit des männlichen Geschlechts tritt auch in W W V II S. 660 — 661 klar zutage: dort stellt er dem männlich-zeugenden Geschlecht als „sexus potior" das weibliche Geschlecht als „bloß empfangendes" gegenüber, das er deshalb zum „sexus sequior" glaubt degradieren zu können.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

hauers Auffassung von ,weibüch'-passiver Rezeptivität des Genialen und dem Moment kreativer Aktivität, das sein Verständnis von genialer ,Männlichkeit' doch offensichtlich entscheidend prägt? Trotz des gegenläufigen ersten Anscheins stehen jedoch metaphorische ,Weiblichkeit' und ,Männlichkeit' des Genies einander keineswegs inkompatibel gegenüber, vielmehr lassen sie sich durchaus miteinander vereinbaren. Wirft man einen Blick auf das jeweilige Differenzierungskriterium, das in Schopenhauers unterschiedlichen Thesen zur Geltung gelangt, so erhellt, daß im Falle genialer ,Weiblichkeit' die Opposition zwischen passivem Subjekt und aktiviertem Objekt relevant ist, während im Beleg für die metaphorische ,Männlichkeit' des Genies eine Gegenüberstellung verschiedenartiger Subjekte erfolgt: von der Aktivität des genialen Produzenten grenzt Schopenhauer die Passivität des nichtgenialen Rezipienten ab. Die Subjekt-ObjektOpposition ist als primäre der bloß sekundären Differenzierung zwischen ästhetischen Produzenten und Rezipienten innerhalb der Subjektsphäre systematisch übergeordnet. Die Frage also, ob es sich beim Genie um ein androgynes Wesen handelt, läßt sich unter Rekurs auf die ästhetische Fertilitätsmetaphorik mit einem vorsichtigen Ja beantworten. Denn tatsächlich werden doch ,Männliches' und ,Weibliches' — den metaphorischen Textbelegen zufolge — im Genie sozusagen synthetisiert. Der hybride Begriff ,Hermaphrodit' 10 ist damit legitimiert; seine beiden Komponenten erscheinen kompatibel. Allerdings kann man diese Androgynie-These nur mit gewisser Einschränkung gelten lassen; denn im Genie als Hermaphrodit liegt keine Verknüpfung gleichrangiger Faktoren vor. Eindeutig überwiegt die ,weibliche' Komponente. Die behauptete .Männlichkeit' des Genies erweist sich nämlich nicht als uneingeschränkte, vielmehr wird sie unterlaufen und erheblich reduziert durch die ihr zugrundeliegende dominante ,Weiblichkeit' qua Subjekt. Ihr tritt in offenbar völlig ungebrochener ,Männlichkeit' das ,zeugende', aktive Objekt gegenüber. Im Bereich des Subjekts hingegen dient das ,maskuline' Prinzip lediglich als untergeordnetes Differenzierungskriterium, und zwar bei der Abgrenzung des Genies von der uneingeschränkten, ganz reinen ,Weiblichkeit' als bloßer .Empfängnisbereitschaft', die nach Schopenhauer den nichtgenialen Rezipienten kennzeichnet. 10

Im Kapitel „Metaphysik der Geschlechtsliebe" seiner WWV II thematisiert Schopenhauer den Hermaphroditismus in nichtmetaphorischem Sinne und außerhalb des ästhetischen K o n textes: „ D i e Physiologen wissen, daß Mannheit und Weiblichkeit unzählige Grade zulassen, durch welche jene bis zum widerlichen Gynander und Hypospadiäus sinkt, diese bis zur anmutigen Androgyne steigt: von beiden Seiten aus kann der vollkommene Hermaphroditismus erreicht werden [...]" (WWV II S. 6 9 8 - 6 9 9 ) .

§14. Das Genie als Hermaphrodit?

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Der prinzipiellen ,Weiblichkeit' des passiven ästhetischen Subjekts, das nur in Gestalt des Genies teilweise auch .männliche' Züge annimmt, steht das ästhetische Objekt gegenüber, das sich zur ungebrochenen, reinen Aktivität eines ,Männlich-Zeugenden' aufschwingt.

III. Und genau hier, an der Schnittstelle zwischen Subjekt und Objekt, ist anzusetzen, wenn man auf dem Weg über metaphorische Aussagen erneut auf jenes Kernproblem im nichtmetaphorischen Kontext von Schopenhauers Ästhetik eingehen will, das in § 4 bereits behandelt wurde. Dabei wird sich zeigen, daß die immanenten Spannungen im Genie als androgyner Hybridbildung keineswegs allein metaphorischer Natur sind. Verfehlt wäre es demnach, die metaphorischen Aussagen für philosophisch irrelevant zu halten. Im folgenden ist zu untersuchen, inwiefern Strukturen, die sich bereits im Zusammenhang mit den eher vereinzelt auftretenden ästhetischen Fertilitätsmetaphern herauskristallisieren, Ubereinstimmungen mit nichtmetaphorischen Aussagen Schopenhauers aufweisen. Unter der Oberfläche dieser metaphorischen Bildlichkeit liegt das Problem der Beziehung zwischen Spontaneität und Rezeptivität gleichsam präformiert. Unter Berufung auf eine Vielzahl von Textstellen läßt sich dafür argumentieren, daß ein Subjekt, das sich in ästhetischer Kontemplation befindet, nach Schopenhauer die Haltung einer bloß passiven Rezeptivität einnimmt. Einige wichtige Textstellen, die in § 4 bereits zur Sprache kamen, seien zunächst rekapituliert. In etlichen Aussagen vertritt Schopenhauer die Auffassung, daß „äußerer Anlaß oder innere Stimmung uns plötzlich aus dem endlosen Strome des Wollens heraushebt" 11 , „entgegenkommende Objekte" die „rein objektive Gemüts Stimmung" 12 befördern, so „daß wir eine momentane Erhöhung der Intensität unserer intuitiven Intelligenz erfahren". 13 Der Initiative ästhetischer Objekte — so Schopenhauer — verdankt es das Subjekt, daß es vom „Sklavendienste des Willens" 14 „losgerissen und emporgehoben wird" zur Erkenntnisweise „des reinen willensfreien Subjekts des Erkennens". 15 Die „Schönheit des Objekts" entfernt „den Willen und die seinem 11 WWV I S. 280. 12 wwV I S. 281. 13 WWV II S. 480. 14 WWV I S. 280. is WWV I S. 306.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Dienste frönende Erkenntnis der Relationen ohne Widerstand und daher unmerklich aus dem Bewußtsein". 16 Und den Grad der Schönheit eines Objekts bemißt Schopenhauer danach, in welchem Maße „es jene rein objektive Betrachtung erleichtert, ihr entgegenkommt, ja gleichsam dazu zwingt". 17 Diese exemplarisch ausgewählten Belege könnte man mühelos um weitere Textstellen mit analogem Gehalt ergänzen. Als fundamentale Gemeinsamkeit und damit zugleich als einheitliches Problem wurde im Hinblick auf solche Aussagen bereits in § 4 die Aktivierung des Objekts zum primären Agens hervorgehoben, dem das Subjekt als bloß passiv-empfangendes, mithin ohne maßgeblichen eigenen Impuls, gegenübersteht. Das ästhetische Objekt als eigentlicher Initiator kontemplativer Einstellung scheint (den zitierten Textbelegen zufolge) für den Zustand des ästhetischen Subjekts nahezu allein verantwortlich' zu sein. In einer weiteren aufschlußreichen Formulierung erklärt Schopenhauer im Hinblick auf die schöne Natur: „Ihr gelingt es [...] fast immer, uns, wenn auch nur auf Augenblicke, der Subjektivität, dem Sklavendienste des Willens zu entreißen und in den Zustand des reinen Erkennens zu versetzen". 18 Durch anthropomorphistische, mithin pseudo-intentionale Naturimpulse bestimmt, läuft das Subjekt Gefahr, geradewegs zum bloßen determinierten Objekt naturaler Wirkungen degradiert zu werden. Der ästhetische Zustand des passiv-rezeptiven Subjekts erhält in dieser Aussage (wie in § 4 begründet) gewissermaßen den Status eines Erfolgs der intendierenden Natur, womit die Fragwürdigkeiten ihren Zenit erreichen. Textstellen, nach denen die ästhetischen Objekte sich des Kontemplierenden in der beschriebenen Weise bemächtigen, erwecken den Eindruck, daß Autonomie und Eigeninitiative des ästhetischen Subjekts dabei buchstäblich auf der Strecke bleiben. Im Hinblick auf Schopenhauers Genieästhetik spitzt sich diese Schwierigkeit sogar noch zu. Wenn Schopenhauer die Genies beispielsweise als „im Makrokosmos" 1 9 lebende „Welterleuchter und Förderer des Menschengeschlechts" 2 0 , als „die eigentliche Noblesse der Welt" 2 1 oder als „die Leuchttürme der Menschheit" 2 2 charakterisiert, wenn er die fehlende Urteilskraft 16 w w v I S. 287. W W V I S. 298. is W W V I S. 281. Vgl. auch die Parallelstelle in PP II S. 503: „der vegetabilischen Natur [...] gelingt es [...] leicht, uns in den Zustand des reinen Erkennens zu versetzen, der uns von uns selbst befreit". 19 WWV II S. 497. 2 0 PP II S. 578. 2 1 PP II S. 84. 2 2 PP II S. 94. Vgl. auch S. 105. 17

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derer beklagt, die den „geisdosen, plumpen Nachahmer [...] neben das Genie auf den Altar [...] setzen" 23 , dann bringt er seine außerordentliche Wertschätzung der Genialität zum Ausdruck. Kann diese Auffassung aber noch legitim erscheinen, wenn Autonomie und engagierte Aktivität des Subjekts in ästhetischer Einstellung weder unter produktions- noch unter rezeptionsästhetischem Aspekt gesichert sind?

IV. Daß die passiv-rezeptive Haltung des Subjekts in Schopenhauers Ästhetik durch sein zentrales Postulat ästhetischer Willenlosigkeit bedingt ist, deutet sich bereits dort an, wo er die „ästhetische Auffassung, die im höhern Grade nur dem Genie eigentümlich ist", als „Zustand des reinen, d. h. völlig willenlosen und ebendadurch vollkommen objektiven Erkennens" 24 beschreibt. Sie, die Schopenhauer bereits zur „Bedingung des Genusses ästhetischer Gegenstände" erklärt, ist seines Erachtens „um so mehr die der Hervorbringung derselben". 25 Genialität definiert Schopenhauer „als die vollkommenste Objektivität"26, als die Fähigkeit, „sich in die Anschauung zu verlieren", „sein Interesse, sein Wollen, seine Zwecke ganz aus den Augen zu lassen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern". 27 Die Elimination von Interesse und Absicht geht mit Schopenhauers Postulat ästhetischer Willenlosigkeit also ebenso einher wie Selbstentäußerung. Daß sich Schopenhauer über die weitreichenden Konsequenzen seines Willenlosigkeitspostulats durchaus im klaren ist, zeigt das folgende Zitat: „Das Unvorsätzliche, Unabsichtliche, ja zum Teil Unbewußte und Instinktive, welches man von jeher an den Werken des Gentes bemerkt hat, ist eben die Folge davon, daß die künstlerische Urerkenntnis eine vom Willen ganz gesonderte und unabhängige, eine willensreine, willenslose ist. Und eben weil der

PP II S. 536. 24 v w v II S. 378. 25 W W V II S. 478. Vgl. auch S. 479, außerdem Kl. Sehr. S. 399: „willenloses Erkennen ist die Bedingung, ja das Wesen aller ästhetischen Auffassung". 26 W W V I S. 266. Vgl. auch W W V II S. 377. Die Koinzidenz v o n Genialität und Objektivität läßt sich belegen durch: W W V I S. 282, Kl. Sehr. S. 3 9 9 („Genialität ist Objektivität"), PP II S. 79. 27 W W V I S. 266. Vgl. auch W W V II S. 473: „Selbstverleugnung". Vgl. ferner W W V I S. 283: „des leidigen Selbst endedigt". Weitere Belege mit ähnlichem Gehalt finden sich in § 6 dieser Abhandlung. 23

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Wille der eigentliche Mensch ist, schreibt man jene einem von diesem verschiedenen Wesen, einem Genius zu". 28 Wenn Schopenhauer aus der Willenlosigkeit der genialen Erkenntnisweise glaubt schließen zu können, das Genie sei in seinem Schaffensprozeß nicht von „Absicht oder Willkür", sondern „von einer instinktartigen Notwendigkeit" 29 geleitet, dann deuten sich bereits hier naturalistische Tendenzen an, die sich in Schopenhauers markanter These noch verstärken, das Genie bringe seine Werke lediglich aus einem „Instinkt ganz eigner Art" hervor, „aus derselben Notwendigkeit, mit welcher der Baum seine Früchte trägt". 30 Die Natur von Objekten springt als anthropomorphistische, mithin pseudointentionale offenbar genau an der Stelle ein, wo das zentrale Postulat der Willenlosigkeit eine klaffende Intentionalitätslücke zu reißen scheint.31 Weil ein tendenziell auf bloße Rezeptivität beschränktes Subjekt zu autonomer Aktivität nicht imstande ist, scheint es der Heteronomie von Naturkausalität ausgeliefert zu sein.

V. Deutlich tritt in dieser Problemkonstellation eine wichtige Übereinstimmung mit der bereits behandelten Metaphorik zutage, in deren Rahmen das ästhetische Objekt als ,maskulin-zeugender' Faktor das ästhetische Subjekt in seiner passiv-rezeptiven ,Weiblichkeit' gewissermaßen ,übermannt'. Mag Schopenhauer das Genie in seiner Ästhetik auch noch so sehr exponieren: in dieser Hinsicht nimmt es gegenüber dem Rezipienten durchaus keine Sonderstellung ein. Auch die folgende metaphorische Formulierung bringt das ,weibliche' Wesen des Genies klar zum Ausdruck: „der Genius" wird „befruchtet [...] nur vom Leben und der Welt selbst unmittelbar durch den Eindruck des Anschaulichen". 32 Kurz zuvor läßt Schopenhauer die auf der Objektseite piazierte Idee als das ,männlich-zeugende' Prinzip hervortreten. Vom (nach Schopenhauer) analytischen Begriff unterscheidet sich die Idee grundlegend: Sie „entwickelt in dem, welcher sie gefaßt hat, Vorstellungen, 28

PP II S. 494. Vgl. auf derselben Seite: „die Erkenntnis muß absichtslos tätig, folglich willenslos sein".

29 VWV π § 490.

PP II S. 104. Diese Einschätzung ist (wie die vorangegangenen Darlegungen) cum grano salis zu verstehen; die Hauptthese von § 1 2 bleibt an dieser Stelle ausgeblendet. 32 W W V I S. 331. 30 31

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die in Hinsicht auf den ihr gleichnamigen Begriff neu sind: sie gleicht einem lebendigen, sich entwickelnden, mit Zeugungskraft begabten Organismus". 33 „Nur aus solcher unmittelbaren Empfängnis entstehn echte Werke". 34 Zusammenfassend läßt sich vorläufig folgendes festhalten: Der Initiative der ästhetischen Objekte mit ihrem ausgeprägten Aktivitätspotential entspricht metaphorisch die Rede von deren ,Männlichkeit'. Im Falle des Subjekts korrespondiert metaphorische ,Weiblichkeit' mit jenen nichtmetaphorischen Aussagen, die eine passive Rezeptivität der Subjekte und deren Abhängigkeit von Objektimpulsen voraussetzen. Die Relation zwischen subjektbezogener ,Weiblichkeits-' als Rezeptivitätsmetaphorik und ihrem nichtmetaphorischen Kontext ist bei Schopenhauer durch so weitreichende Entsprechungen geprägt, daß man seine Subjekt-Ästhetik geradezu als Rezeptivitätsästhetik bezeichnen könnte. 35

VI. Bislang allerdings fehlen noch solche Thesen Schopenhauers, die als nichtmetaphorische Parallelen zu jener metaphorischen Partial-,Männlichkeit' in Betracht kommen, durch die sich das Genie von der ganz ungebrochenen ,Weiblichkeit' des bloß rezipierenden ästhetischen Subjekts unterscheidet. Nur unter der Voraussetzung, daß sie sich aufweisen lassen, ist die Ansicht

WWV I S. 330. Der Begriff hingegen ist trotz seiner Nützlichkeit für Leben und Wissenschaft „für die Kunst ewig unfruchtbar" (a. a. O.). 34 WWV I S. 330. Vgl. auch PP II S. 94: „der äußere Anlaß muß als Vater hinzukommen, das Genie zu befruchten, damit es gebäre", d. h. „originelle Gedanken" habe. Ein rezeptionsästhetisches Analogon erhellt aus WWV II S. 524: „In der Kunst" muß „das allerbeste [...] in der Phantasie des Beschauers geboren, wiewohl durch das Kunstwerk erzeugt werden". Eine interessante biographische Parallelstelle findet sich in einem nachgelassenen Manuskript von 1813: „Das Werk wächst, concrescirt allmählig und langsam wie das Kind im Mutterleibe: ich weiß nicht was zuerst und was zulezt entstanden ist, wie beym Kind im Mutterleibe"; ich „begreife das Entstehn des Werks nicht, wie die Mutter nicht das des Kindes in ihrem Leibe begreift [...]" (ΗΝ I S. 55). Von Konzeption und Geburt schreibt Schopenhauer hinsichtlich seines Werks auch in einem Brief an Goethe (11. 11. 1815): Vgl. Schopenhauer, Arthur: Gesammelte Briefe. Hrsg. von Arthur Hübscher. 2. Aufl. Bonn 1987. S. 18, 22. Das Erscheinen seiner „Parerga und Paralipomena" bezeichnet Schopenhauer in einem Brief an Julius Frauenstädt (23. 10. 1850) als „die Geburt meines letzten Kindes" (a. a. O. S. 251). Einen Brief mit vergleichbarer Metaphorik schreibt Schopenhauer am 26.6.1850 an F. A. Brockhaus (a. a. O. S. 242). 35 Dieser Begriff ,Rezeptivitätsästhetik' hat selbstverständlich nichts zu tun mit dem literaturund kunstwissenschaftlich etablierten Begriff,Rezeptionsästhetik'; vielmehr umfaßt er Schopenhauers rezeptions- und produktionsästhetische Überlegungen gleichermaßen. 33

274

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

gerechtfertigt, zwischen metaphorischen und nichtmetaphorischen Aussagen bestehe eine umfassende Korrespondenz. Tatsächlich finden sich in Schopenhauers Ästhetik auch Belege, die Ansätze zu Spontaneität und autonomer Aktivität ästhetischer Subjekte zeigen. Ausgerechnet am Ende der Passage, in der er vom ,weiblich-empfangenden' Subjekt das ,männlich-zeugende' Objekt abgrenzt, stellt Schopenhauer resümierend fest: zuletzt „kommt doch überall [...] alles auf die eigene Kraft an". 3 6 Diese Auffassung überrascht gerade an dieser Stelle sehr, weil in diesem Abschnitt die wenig später auftretende Ambivalenz noch fehlt, die eingangs Anlaß dazu bot, die These von der Androgynie des Genies zu formulieren. Keine Spontaneitätsreminiszenzen, keine ,männlichen' Komponenten des Genies schränken hier die Gültigkeit der Rezeptivitätsthese ein. In diesem Kontext bleibt die „eigene Kraft" des Genies substanzlos und hypothetisch. Daran kann wohl auch Schopenhauers Versuch kaum etwas ändern, die Bedeutung metaphorischer .Weiblichkeit' dadurch zu heben, daß er die Relevanz der „zum Empfangen geeigneten Stimmung" 3 7 betont, die dem Objekt einen Weg zu seiner obskuren .Vaterschaft' allererst ebnet. Im übrigen stellt sich die Frage, was mit der postulierten ,eigenen Kraft' denn gewonnen sein soll, sofern sie beziehungsweise ihre Anwendung angeblich „gar nicht in unserer Gewalt" 3 8 liegt, solange die zur ästhetischen Erkenntnis erforderte „Elimination alles Wollens [...] nicht in unserm Belieben stehn" 3 9 kann. Außerdem beinhaltet die vermeintlich ,eigene Kraft' des ästhetischen Intellekts eine fundamentale Schwierigkeit, weil Schopenhauer mehrfach ausdrücklich „jede Kraft in der Natur als Wille gedacht wissen" will. 40 Und wenn Schopenhauer vermittels einer „denominatio a potiori" die tradierte Subsumtion von Willen unter Kraft umkehrt 41 , dann wird die Einsicht wohl unumgänglich, daß er Kraft eo ipso als Kraft des Willens versteht, so daß eine vermeintlich willensbefreite ,eigene Kraft' des ästhetischen Intellekts schwerlich plausibel sein kann. Ausgerechnet die Formulierungen also, in denen von „eigener Kraft und Elastizität" eines genialen Intellekts die Rede ist, der in ästhetischer Einstellung „ganz allein aus freien Stücken", „aus eigenem Antriebe" „energisch tätig ist" 4 2 , setzen nur scheinbar ein markantes

PP II S. 505. P P II S. 505. 3 8 PP II S. 94. 39 \JTOV II S. 4 7 3 - 4 7 4 . 4 0 W W V I S. 172, vgl. auch S. 171. 41 W W V I s. 1 7 1 - 1 7 2 . Vgl. dazu § 4 und § 12 dieser Arbeit. 42 W W V II S. 490; PP I S. 32; W W V II S. 500, 492. Vgl. auch W W V II S. 486 und 498. 35 37

§ 1 4 . Das Genie als Hermaphrodit?

275

Signal für die Autonomie des vom Willensdienst befreiten ästhetischen Intellekts. Im Horizont von Schopenhauers Willensphilosophie nämlich entpuppen sie sich bei näherem Zusehen als Indiz für die sich auch in ästhetischer Einstellung fortsetzende, in ihr nur in besonderer Weise modifizierte Heteronomie des Intellekts.43 Wenn Schopenhauer Genialität als die Fähigkeit bezeichnet, „die Erkenntnis, welche ursprünglich nur zum Dienste des Willens daist, diesem Dienste zu entziehn" 44 , dann scheint die passive Rezeptivität des ästhetischen Subjekts durch aktive Komponenten des Genialen hier — zumindest der Formulierung nach — relativiert und im Sinne der Hermaphroditismus-These ergänzt zu werden. Das gesuchte nichtmetaphorische Pendant zur metaphorischen ,Männlichkeit' des Genies scheint damit immerhin rudimentär belegt zu sein. Dieses ,maskuline' Potential faßt Schopenhauer mitunter offenbar sogar als Konstituens ästhetischer Einstellung auf, indem er „willensfreie Aktivität des Intellekts" zur „Bedingung der reinen Objektivität und dadurch aller großer Leistungen" 45 erklärt. Die bislang bloß sekundäre ,Männlichkeit' des Subjekts scheint hier geradezu mit seiner primären .Weiblichkeit' zu konkurrieren. Und wenn Schopenhauer über „die Erkenntnis der (Platonischen) Ideen" aussagt: „sie ist ästhetisch, wird, wenn selbsttätig, genial und erreicht den höchsten Grad, wenn sie philosophisch wird" 46 , dann tritt in Gestalt der behaupteten genialen Selbsttätigkeit ein besonders auffälliges Aktivitätsmoment zutage. Noch eine andere, ebenfalls metaphorische Formulierung Schopenhauers weist eine Analogie zur ,männlichen' Komponente des Genies auf: Das Genie „strahlt eigenes Licht aus, während die andern nur das empfangene reflektieren". 47 Jene eingangs hervorgehobene Textstelle, in der Schopenhauer den ,urteilenden Geschmack' als „das Weibliche zum Männlichen des produktiven Talents oder Genies" betrachtet, sofern ersterer, unfähig, „zu erzeugen, [...] in der Fähigkeit, zu empfangen", besteht 48 , läßt eine Übereinstimmung mit Schopenhauers produktionsästhetischer Lichtmetapher erkennen. Trotz der vermeintlichen Aussagekraft der Thesen, mit denen er eine angeblich willensfreie Intellektaktivität behauptet, kann Schopenhauers Po43

44

45 46 47 48

In § 12 wurde dafür argumentiert, daß sich der Einfluß des Willens entgegen etlichen Formulierungen Schopenhauers selbst in die Sphäre des Ästhetischen hinein fortsetzt. W W V I S. 266, von Schopenhauer übernommen in MS S. 67. Analog: MS S. 71 sowie W W V I S. 272. PP I S. 218. PP II S. 89. PP II S. 94. PP II S. 533.

276

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

stulat einer Emanzipation des Intellekts vom Willensdienst 49 im Horizont seines Willensmonismus letztlich nicht überzeugen. Denn nach seiner Auffassung reicht die Willensdependenz des Intellekts so weit, daß er als „bloß Instrumentales" 50 fungiert, daß er „nichts anderes als ein Werkzeug zum Dienste des Willens" 51 und ohne Willensantrieb „aus eigenen Mitteln gar keiner Tätigkeit fähig" 52 ist, ja daß er diesem Willen als Primärem sogar seine Existenz verdankt. 53 Wie sollte sich Schopenhauers Postulat eines autonomen ästhetischen Intellekts gegenüber einer so fundamentalen Instrumentalität behaupten können? Und erscheint eine ästhetische Autonomie des Intellekts nicht vollends unvertretbar, wenn der Wille als „Wurzel des Intellekts [...] sich jeder auf irgend etwas anderes als seine Zwecke gerichteten Tätigkeit desselben" sogar „widersetzt"? 54 In § 12 wurde eingehend untersucht, in welcher Weise sich die heteronome Instrumentalität des Intellekts selbst in ästhetische Einstellung hinein prolongiert. Indem der Wille „die ihm beigegebene Vorstellungskraft auf eine Weile freiläßt" und sie von seinem Dienste „einmal ganz dispensiert" 55 , verfolgt er offenbar trotz vermeintlicher ästhetischer Interesselosigkeit und Zweckfreiheit dennoch spezifische, nämlich ästhetisch-objektive Zwecke und scheint dabei — vermutlich gerade durch ,unfreiwillige' 56 Mithilfe des irrtümlich sich frei fühlenden Intellekts — sogar überaus erfolgreich zu sein. Wahrscheinlich läßt sich nur so der systematische Zusammenhang zwischen seinem Widerstand gegenüber einer zweckfreien Intellekttätigkeit einerseits und der von ihm selbst vollzogenen Dispensierung des Intellekts andererseits ohne Konsistenzprobleme rekonstruieren. Auch die contradictio in adjecto im Begriff einer willenlosen Spontaneität des ästhetischen Intellekts, die sich infolge der Synonymie von Spontaneität' Vgl. W W V II S. 498, wonach der Intellekt, „dessen eigentliche Bestimmung der Dienst des Willens ist, sich von diesem Dienste emanzipiert, um auf eigene Hand tätig zu sein". so W W V π S. 277. Vgl. auch S. 291. 51 W W V II S. 514. 52 W W V II S. 4 9 1 . Vgl. auch S. 275. 5 3 Vgl. W W V I S. 256; W W V II S. 476, 4 9 1 ; PP II S. 1 1 7 , 495. A u f weitere wichtige Belege stützen sich die Analysen in § 7 dieser Abhandlung. 54 W W V II S. 491. 5 5 PP II S. 492. 5(1 Auch in dieser Hinsicht (also nicht nur semantisch) erscheint es wenig überzeugend, daß Schopenhauer zweimal ausgerechnet das Epitheton .freiwillig' auf den vom Willen befreiten ästhetischen Intellekt bezieht: Vgl. PP II S. 84: die ästhetische Tätigkeit des Intellekts erfolgt „freiwillig aus eigenem Antrieb"; PP II S. 4 9 3 — 494: Bei der Auffassung der Ideen „taugt nur das, was der Intellekt ganz allein, ganz aus eigenen Mitteln leistet und als freiwillige Gabe darbringt". 49

§ 1 4 . Das Genie als Hermaphrodit?

277

und ,Willensäußerung'57 zwangsläufig ergäbe, kann — wie in § 12 dargelegt — nur unter der Voraussetzung vermieden werden, daß es sich hierbei um die Spontaneität des Willens selbst handelt, der auch in den ästhetischen Bereich maßgeblich und legislativ hineinwirkt.

VII. Mögen die Reminiszenzen einer dynamisch-autonomen Aktivität der ästhetischen Subjekte als Analogon zur ,männlichen' Komponente des genialen Hermaphroditen auch sehr willkommen sein: ihre Existenz unterliegt den Einschränkungen, die sich aus den obigen kritischen Hinweisen ergeben. Infolgedessen scheinen solche Textbelege, die für besondere Aktivität des ästhetischen Intellekts sprechen, kein hinreichendes Gegengewicht zu den Aussagen zu bieten, die eher von einer passiven Haltung des Subjekts ausgehen. Bei Schopenhauer dominiert die Rezeptivität des ästhetischen Subjekts gegenüber Momenten von ,Männlichkeit' respektive Spontaneität. Unter der Oberfläche der Textstellen, die vermeintlich von spontaner Aktivität des ästhetischen Intellekts zeugen, tut sich letztlich eine Dimension grundlegender Rezeptivität und Passivität auf. Der geniale Produzent scheint davon (etlichen Textstellen zufolge) kaum weniger betroffen zu sein als der nichtgeniale Rezipient, finden sich doch beide in eine mitunter eher abwartende Haltung zurückgeworfen — abhängig von der Gunst der Stunde und des Objekts. Als die eigentliche Tiefendimension auch der Ästhetik erweist sich das Naturprinzip Wille mit seiner Subjekt und Objekt unterschiedslos-unspezifisch durchwirkenden Spontaneität.58 Abschließend läßt sich festhalten: Die metaphorische .Weiblichkeit' des ästhetischen Subjekts einschließlich des Genies und seine passive Rezeptivität sind problematisch. Indem man sich gegen den Primat so verstandener 57

58

Vgl. W W V I S. 270: Eine „spontane Anspannung" postuliert Schopenhauer „zur willensfreien Auffassung der Ideen". In Kl. Sehr. S. 383 bezeichnet Schopenhauer die Begriffe .Spontaneität' und ,Willensäußerung' explizit als Synonyma. Zur Spontaneitätsproblematik vgl. ausführlicher § 4. Vgl. exemplarisch Kl. Sehr. S. 383, w o Schopenhauer explizit von „der Gewalt des Dranges dieser Spontaneität, auch in Pflanzen", spricht, und zwar im Kontext der Aussage, in der er Spontaneität' mit,Willensäußerung' gleichsetzt. Die naturalistisch anmutenden Instinkt-Thesen zum Genie haben offenbar in dieser essentiellen Einheit qua Willensmonismus ihren Ursprung. Als Spezifikum intentionaler ästhetischer Subjekte, als Außerungsweise ihrer Autonomie in Abgrenzung von der Heteronomie der Naturkausalität auf selten des Objekts kommt eine solche Spontaneität also bei Schopenhauer nicht in Betracht.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

,Weiblichkeit' von Subjekten wendet, braucht man allerdings die in Schopenhauers Ästhetik blühenden Metaphern nicht notwendigerweise gänzlich welken zu lassen. Sie gleichsam umzutopfen, reicht zunächst aus. 59 Die durch das Übergewicht von ,Weiblichkeit' beziehungsweise Rezeptivität dominierte Partial-,Männlichkeit' des produktiven ästhetischen Subjekts bedarf der Potenzierung. In diesem Sinne könnte man Schopenhauer aus kritischer Perspektive nur dringend empfehlen: Mehr Misogynie! — Jedenfalls so weit (und nur insoweit) sich mit einer Reduktion der metaphorisch postulierten Weiblichkeit' für das ästhetische Subjekt ein entsprechender Zuwachs an Männlichkeit' verbindet. (Das hätte — nebenbei bemerkt — auch den Vorteil, daß jene kuriose Inkonsequenz weniger auffällig wäre, in die Schopenhauer sich verstrickt, wenn er ausgerechnet die Frauen zur Basis seiner Weiblichkeitsmetaphorik macht, denen er die Fähigkeit zu ästhetischer Einstellung doch nachdrücklich und grundsätzlich abspricht.) Ein Zuwachs an ,Männlichkeit' also ist gefordert. Und das heißt — ohne Bild gesprochen: die ganze Dynamik

59

Nichtsdestoweniger wäre - außerhalb ästhetischer Reflexion — an die Männlichkeits- und Weiblichkeitsmetaphorik, die ihren Reiz aus radikalem Kontrast bezieht, die kritische Frage zu richten, ob solche Bildlichkeit den realen Verhältnissen gerecht zu werden vermag. Und um so kritischer und eindringlicher muß diese Frage gestellt werden, wenn Männlichkeit im Selbstgenuß schöpferischer Spontaneität sich sonnt, während Weiblichkeit mit bloß passiver Rezeptivität vorliebzunehmen hat und damit in eine inferiore Position abgedrängt wird. So rigide Fesdegungen können nur einem unvertretbaren Dogmatismus entspringen. Außerhalb des spezifisch ästhetischen Horizonts wäre also mit einem korrigierenden Eingriff, der die problematische .Weiblichkeit' beziehungsweise Passivität oder Rezeptivität von Schopenhauers ästhetischem Subjekt durch die erforderliche ,Männlichkeit' respektive Spontaneität oder Aktivität substituiert, noch längst nicht alles Notwendige geleistet. Um auch dem besagten Dogmatismus entgegenzutreten, reicht bloßes .Umtopfen' der in Schopenhauers Ästhetik .blühenden' Metaphern in der Tat nicht aus. Statt dessen müßten sie gleichsam .entwurzelt', ja geradezu ,mit Stumpf und Stiel' extrahiert werden. Nur so wäre letztlich auch der problematischen Synthesis von ,Weiblichkeit' und passiver Rezeptivität einerseits, von .Männlichkeit' und aktiver Spontaneität andererseits, die durch rigide Rollenzuweisung für solche .Weiblichkeit' eine unzulässige Einschränkung impliziert, wirksam beizukommen. — Erwähnt sei in diesem Kontext, daß Sigmund Freud in seinen Schriften mehrfach kritisch auf Versuche eingeht, Weiblichkeit durch Passivität, Männlichkeit durch Aktivität zu charakterisieren. (Vgl. Freud, Sigmund: Studienausgabe in 10 Bänden und einem Ergänzungsband. Hrsg. von A. Mitscherlich, A. Richards, J. Strachey. Frankfurt a. M. 1982. Darin: Bd. I S. 545-548, Bd. V S. 123 f., 69, 55; Bd. IX S. 235 f.) In seiner Schrift „Das Unbehagen in der Kultur" behauptet Freud: „den Charakter des Männlichen und Weiblichen kann zwar die Anatomie, aber nicht die Psychologie aufzeigen" (Bd. IX S. 235). Eine Identifizierung von Männlichkeit mit Aktivität und Weiblichkeit mit Passivität hält Freud für unergiebig und problematisch (Bd. I S. 547, Bd. IX S. 235). Seines Erachtens existiert anstelle reiner Männlichkeit oder Weiblichkeit in jedem Individuum eine Vermengung beider Geschlechtscharaktere und eine Synthese von Aktivität und Passivität (Bd. V S. 123).

§14. Das Genie als Hermaphrodit?

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eines ästhetischen Subjekts, das im Vollbesitz seines Willens verbleibt 60 und sich kraft seiner Intentionalität autonom und spontan auf ästhetische Objekte richtet, allerdings ohne subjektives Interesse.

VIII. Beschließen wir die Hermaphroditismus-Debatte nun mit einem Nietzsche-Exkurs. Häufiger als Schopenhauer operiert Nietzsche in seinen ästhetischen Überlegungen mit biologischen Metaphern, und zwar unter wechselnden Perspektiven, die eine gewisse Affinität zu Schopenhauer ebenso erkennen lassen wie eine entschiedene Abgrenzung vom Postulat ästhetischer Interesselosigkeit. Stellenweise geraten dabei Kant und Schopenhauer gleichermaßen ins Zielfeld von Nietzsches Kritik. Ein Analogon zu den eingangs zitierten Thesen Schopenhauers findet sich in Nietzsches Schrift „Jenseits von Gut und Böse". Dort bezeichnet Nietzsche das Genie als ein „Wesen, welches entweder %eugt oder gebiert, beide Worte in ihrem höchsten Umfange genommen". 61 Und an späterer Stelle äußert sich Nietzsche in diesem Werk folgendermaßen: „Es giebt zwei Arten des Genie's: eins, welches vor allem zeugt und zeugen will, und ein andres, welches sich gern befruchten lässt und gebiert. [...] Diese zwei Arten des Genie's suchen sich, wie Mann und Weib; aber sie missverstehen auch einander, — wie Mann und Weib". 62 Wenn Schopenhauer in seinen „Parerga und Paralipomena" „das Objekt, gleichsam als Männliches, einen beständigen Zeugungsakt auf das Subjekt, als Weibli-

60

61 (Λ

Im Rahmen der in § 12 modifizierten Metavoluntarismus-These sind ,spontane Anspannung', ,eigene Kraft', .eigener Antrieb' in Schopenhauers Ästhetik nicht mehr einem angeblich willensindependenten ästhetischen Intellekt zuzuordnen, sondern dem selbst die Ästhetik durchwirkenden universalen lVillen als dem Welt- und Naturprinzip schlechthin. Eine grundlegende, in der Kantischen Transzendentalphilosophie fundierte Differenz wird aber vollends eingeebnet, wenn Schopenhauers monistische Willensphilosophie unterschiedslos alles — die Kausalzusammenhänge innerhalb heteronomer Natur ebenso wie das Selbstverhältnis autonom-intentionaler Subjekte — auf ein und dasselbe universale Prinzip zurückführt. Gegen pseudo-spontane Akte quasi-intentionaler ästhetischer Objekte ist unter diesen Voraussetzungen fürwahr ,kein Kraut mehr gewachsen'. Daß Schopenhauer seine Thesen zum ästhetischen Subjekt und zum ästhetischen Objekt in auffälliger, mitunter sogar wörtlicher Ubereinstimmung formuliert und beide Faktoren, Subjekt wie Objekt, zwischen einem aktiven und einem passiven Part in ästhetischer Einstellung oszillieren läßt (vgl. dazu § 4 sowie — differenzierend — § 16 und § 20 dieser Arbeit), scheint für seinen monistischen Ansatz geradezu symptomatisch zu sein. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse Nr. 206. KSA 5 S. 133. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse Nr. 248. KSA 5 S. 191.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

ches" 6 3 , ausüben sieht, dann scheint daraus eine gewisse Übereinstimmung mit dem ,weiblichen' Genie bei Nietzsche zu erhellen. Und die Textstelle, in der Schopenhauer das Urteilsvermögen des ästhetischen Rezipienten als „Fähigkeit, zu empfangen", vom „Männlichen des produktiven Talents oder Genies" abgrenzt, das „zu erzeugen" vermag 64 , weist offenbar eine Parallele zu Nietzsches Vorstellung von einem ,männlich-zeugenden' Genie auf. In dieser dualen Konstellation erschöpfen sich allerdings bereits die Gemeinsamkeiten. Die Differenz überwiegt: Nur bei Schopenhauer finden sich Anhaltspunkte für jenen Synthesevorschlag, der als These vom Genie als Hermaphrodit im vorangegangenen entfaltet wurde. Denn während für geniale ,Weiblichkeit' bei Schopenhauer die Opposition zwischen passivem Subjekt und aktiviertem Objekt ausschlaggebend ist, kommt in der metaphorischen ,Männlichkeit' des schöpferischen Genies lediglich die Abgrenzung vom bloßen Empfängnis vermögen des ästhetischen Rezipienten zum Ausdruck. Allein unter der Voraussetzung solcher Verschiedenheit der Differenzierungskriterien kann man ,Männlichkeit' und .Weiblichkeit' in der Hybridform eines androgynen Genies vereint denken. Nietzsche hingegen exponiert offenbar zwei gleichrangige und voneinander unabhängige Arten von Genie, deren wechselseitige Attraktionskraft jene fundamentale Kluft nicht zu überbrücken vermag, die Konsequenz grundlegender Verschiedenheit ist und — wie er sagt — Anlaß zu Mißverständnissen bietet. In anderen Aussagen Nietzsches steigert sich die Distanz zu Schopenhauer erheblich: Zwischen dem Künstler und dem Laien als „dem künstlerisch-Empfänglichen" sieht Nietzsche einen „Antagonismus": Denn „letzterer hat im Aufnehmen seinen Höhepunkt von Reizbarkeit; ersterer im Geben". 6 5 Und Nietzsches Folgerung lautet: „man soll vom Künstler, der giebt, nicht verlangen, daß er Weib wird — daß er ,empfängt'", sonst nämlich müßte 66 er verarmen. Dieses nachdrückliche Plädoyer für eine ,männlich-zeugende' Schöpfungspotenz des Künstlers läßt die zuvor zitierte Alternative von ,männlichen' und .weiblichen' Genies als eine uneigentliche erscheinen. Von einem gleichberechtigten Nebeneinander kann hier offensichtlich nicht die Rede sein. Und bereits im nächsten Satz gewinnt Nietzsches kritische Perspektive auf die Tradition der Ästhetik konkretere Gestalt: „Unsere Aesthetik

PP II S. 505. PP II S. 533. 6 5 Nietzsche: Nachlaßfragment [hier und im folgenden zitiert unter Angabe von Jahreszahl, Manuskriptnummer und Fundstelle in der KSA]: 1888, 14[170], KSA 13 S. 357. f>6 A. a. O. 63

64

§ 1 4 . Das Genie als Hermaphrodit?

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war insofern bisher eine Weibs-Aesthetik, als nur die Empfänglichen für Kunst ihre Erfahrungen ,was ist schön?' formulirt haben. In der ganzen Philosophie bis heute fehlt der Künstler ..,". 6 7 Prägnant formuliert Nietzsche seinen kritischen Ansatz auch in der Schrift „Jenseits von Gut und Böse": Unter der „Aesthetik der ,interesselosen Anschauung'" sucht sich „die Entmännlichung der Kunst verführerisch genug heute ein gutes Gewissen zu schaffen". 68 Implizit gibt die Metapher ,Entmännlichung' zu erkennen, daß Nietzsche dieser von ihm attackierten Konstellation postulativ die kraftvolle ,Männlichkeit' einer schöpferischen, von spezifischen Interessen geleiteten Künstlerpersönlichkeit gegenüberstellt. „Zur Psychologie des Künstlers" lautet der Titel eines Abschnitts in Nietzsches „Götzen-Dämmerung". Als physiologische conditio sine qua non für die Entstehung von Kunst, ja für „ästhetisches Thun und Schauen" überhaupt bezeichnet Nietzsche dort den Rausch. 69 An diese These schließt sich das folgende aufschlußreiche Textstück an: „Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle. Aus diesem Gefühle giebt man an die Dinge ab, man %wingt sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie, — man heisst diesen Vorgang Idealisiren. [...] Man bereichert in diesem Zustande Alles aus seiner eignen Fülle: was man sieht, was man will, man sieht es geschwellt, gedrängt, stark, überladen mit Kraft. Der Mensch dieses Zustandes verwandelt die Dinge, bis sie seine Macht wiederspiegeln, — bis sie Reflexe seiner Vollkommenheit sind". 70 Während sich bei Schopenhauer das schöne Objekt durch ein besonderes ästhetisches Potential auszeichnet, vermöge dessen es „jene rein objektive Betrachtung erleichtert, ihr entgegenkommt, ja gleichsam dazu zwingt" 71 ,

A. a. O. Auch Nietzsches biologische Ästhetik-Metaphern erweisen sich allerdings als jeweils perspektivbedingt: In „Menschliches, Allzumenschliches I" spricht Nietzsche im Zusammenhang mit dem freien Geist von „einer unbewussten Schwangerschaft" (KSA 2 S. 21). Im selben Werk sieht Nietzsche den Künstler „nicht in den vordersten Reihen der Aufklärung und der fortschreitenden Vermännlichutig der Menschheit" stehen: „er ist zeidebens ein Kind oder ein Jüngling geblieben" (KSA 2 S. 142). 6 8 Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse Nr. 33. KSA 5 S. 52. 6 9 Nietzsche: Götzen-Dämmerung. KSA 6 S. 116. 7 0 Nietzsche: Götzen-Dämmerung. KSA 6 S. 1 1 6 - 1 1 7 . Vgl. auch: 1888, 14[170], KSA 13 S. 356. Eine aufschlußreiche Ergänzung bietet KSA 6 S. 123: „Der Mensch glaubt die Welt selbst mit Schönheit überhäuft, - er vergisst sich als deren Ursache. Er allein hat sie mit Schönheit beschenkt, ach! nur mit einer sehr menschlich-allzumenschlichen Schönheit ... Im Grunde spiegelt sich der Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm sein Bild zurückwirft". 71 W W V I S. 298. 67

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

rücken bei Nietzsche derartige Qualitäten offenbar auf die Seite des Subjekts. Signifikanterweise geht der Akt des ,Zwingens' dabei nicht — wie bei Schopenhauer — vom Objekt aus, sondern kennzeichnet wesensmäßig den dynamischen Impetus des Subjekts, das selbst die Initiative ergreift. Auch die Spiegel-Metapher, die sich in Schopenhauers Ästhetik vielfach belegen läßt, erfährt bei Nietzsche eine charakteristische Umwertung. Vertrat Schopenhauer die Auffassung, die vom Willensdienst befreite Erkenntnis werde „zum klaren Spiegel der Welt" 72 , mithin objektiv, so hält Nietzsche die Schönheit der Welt für eine narzißtische Selbstspiegelung des Menschen, also für einen Anthropomorphismus; das nur scheinbar den Dingen zugehörige Attribut ,schön' betrachtet er in Wahrheit als Symptom menschlicher „GattungsEitelkeit",73 Von der Objektivität, die Schopenhauer für das ästhetische Subjekt postuliert, grenzt sich Nietzsche entschieden ab, indem er dessen Passivität, Fragilität, „Entselbstung und Entpersönlichung" als defizitär betrachtet. 74 An einer späteren Stelle der „Götzen-Dämmerung" behauptet Nietzsche: „Das Genie — in Werk, in That — ist nothwendig ein Verschwender: dass es sich ausgiebt, ist seine Grösse ...". 7 S Nachdrücklich vertritt Nietzsche die Überzeugung, daß auch die Kunst als „das grosse Stimulans zum Leben" 76 eine Erscheinungsform des Willens zur Macht ist. 77 Zu Schopenhauers Postulat ästhetischer Willenlosigkeit befindet sich diese Konzeption in einem eklatanten, von Nietzsche selbst verschiedentlich betonten 78 Gegensatz. Der

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WWV II S. 265, 490. Analog: WWV I S. 225, 266, 396; WWV II S. 473. Nietzsche: Götzen-Dämmerung. KSA 6 S. 123. Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse Nr. 207. KSA 5 S. 135. Wichtig ist auch der Kontext: S. 134—137. Vgl. S. 136: „Der objektive Mensch ist ein Werkzeug [...] und Spiegel-Kunstwerk [...]; aber er ist kein Ziel, kein Ausgang und Aufgang, kein complementärer Mensch, in dem das übrige Dasein sich rechtfertigt". Vgl. hierzu § 13 der vorliegenden Abhandlung. Nietzsche: Götzen-Dämmerung. KSA 6 S. 146. Nietzsche: Götzen-Dämmerung. KSA 6 S. 127. Vgl. a. a. O. auch die folgende, auf den Künstler bezogene rhetorische Frage: „Geht dessen unterster Instinkt auf die Kunst oder nicht vielmehr auf den Sinn der Kunst, das Leben? auf eine Wünschbarkeit von Leben?" Und in der „Geburt der Tragödie" erweist sich die Kunst als „heilkundige Zauberin"; denn „sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt f...]" (KSA 1 S. 57). Vgl. exemplarisch eine Stelle in der „Götzen-Dämmerung", wo Nietzsche im Zusammenhang mit der Architektur behauptet: „hier ist es der grosse Willensakt, der Wille, der Berge versetzt, der Rausch des grossen Willens, der zur Kunst verlangt" (KSA 6 S. 118). Von dieser Position aus muß Nietzsches Schopenhauer-Kritik radikal ausfallen: eine besonders scharfe Attacke findet sich in KSA 6 S. 125. Vgl. dazu § 13. Vgl. dazu ausführlicher § 13 dieser Arbeit.

§14. Das Genie als Hermaphrodit?

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rauschhafte Impetus, den Nietzsche insbesondere mit kraftvoll-schöpferischer Genialität verknüpft sieht, erreicht im Akt einer ,Vergewaltigung' der Dinge zweifellos seinen Höhepunkt. Der ,männlichen Zeugungspotenz' ästhetischer Objekte bei Schopenhauer steht die ,Weiblichkeit' dieser ,vergewaltigten' Dinge bei Nietzsche diametral gegenüber. In Nietzsches expressiver Metaphorik wird die ,Männlichkeit' des Genies79 zu einer usurpatorischüberbordenden Machtfülle potenziert. Zur „Entmännlichung der Kunst", die Nietzsche der traditionellen Ästhetik glaubt attestieren zu können, bildet sein eigenes ,Vergewaltigungs'-Postulat einen auffälligen Kontrast. Trotz der Opposition zwischen den Ansätzen Schopenhauers und Nietzsches, die sich in ,männlichen Zeugungsakten' ästhetischer Objekte im Unterschied zum ,Vergewaltigungsdrang' rauschhaft gesteigerter .maskuliner' Subjekte manifestiert, kann man zwei aufschlußreiche Analogien feststellen: Sowohl Schopenhauer als auch Nietzsche verwenden Fertilitätsmetaphern, um konstitutive Momente ästhetischer Einstellung bildhaft zu veranschaulichen. Und beide tun dies so, daß der Gehalt der biologischen Ästhetik-Metaphern jeweils mit den zentralen nichtmetaphorischen Postulaten korrespondiert. Gerade aufgrund dieser Ubereinstimmungen allerdings kristallisieren sich die Hauptakzente so deutlich heraus, daß sich die Differenz zwischen Schopenhauer und Nietzsche dadurch noch verschärft.

79

Erwähnt sei, daß Jean Paul in der zweiten Auflage seiner „Vorschule der Ästhetik" von 1813 (also sechs Jahre vor dem Erscheinen von Schopenhauers W W V I) im II. Programm (§ 10) zwischen aktiven und passiven Genies unter Verwendung biologischer Metaphorik differenziert: „weibliche, empfangende oder passive Genies" (S. 51) sind „reicher an empfangender als schaffender Phantasie" (S. 52). Als die „leidenden Grenz-Genies" sind sie zwar zu poetischer Empfindung und philosophischer Auffassung, nicht aber auch zu genuiner Gestaltung fähig (vgl. S. 52). „Im Empfinden" liegt ihre Stärke, „im Erfinden" ihre Schwäche (S. 52); ihre Weltanschauung betrachtet Jean Paul nur als „Fortbildung einer fremden genialen" (S. 53). In die Rubrik der „weiblichen Grenzgenies" (S. 53) ordnet er exemplarisch eine Reihe zeitgenössischer und früherer Philosophen und Poeten ein (vgl. S. 53 — 54). Hinsichdich meiner These vom Hermaphroditismus des Genies bei Schopenhauer ist es interessant, daß Jean Paul seine Metaphorik bis zum Bild der „genialen Mannweiber" vorantreibt, „welche unter dem Empfangen zu zeugen glauben" (S. 54). Ähnlich wie bei Schopenhauer (vgl. PP II S. 505, 533) dominiert auch hier offenkundig die weibliche Komponente. Daß es sich bei solchen „genialen Empfängern" (S. 55) — gemäß der Auffassung von Jean Paul — allerdings um defiziente Modi von Genialität handelt, erhellt auch daraus, daß er den mit dem Titel „Passive Genies" versehenen § 10 in sein II. Programm „Stufenfolge poetischer Kräfte" integriert und mit dem Ende von § 10 unter Bezugnahme auf die „aktiven Genien" den Ubergang zum III. Programm vollzieht, dessen Titel „Uber das Genie" die Uneigendichkeit ,weiblicher' Genialität noch unterstreicht. — Die oben angegebenen Seitenzahlen orientieren sich an der folgenden Edition: Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. Nach der Ausgabe von Norbert Miller hrsg., textkritisch durchgesehen und eingeleitet von Wolfhart Henckmann. Hamburg 1990. (Philosophische Bibliothek Bd. 425.)

284

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

IX. Wenden wir uns nach diesem Exkurs nun erneut und abschließend der Metaphorik Schopenhauers zu: Uberraschenderweise verändert Schopenhauer sein bildliches Konzept männlicher und weiblicher Fruchtbarkeit grundlegend, sobald er die Immanenz seiner Ästhetik durch eine Horizonterweiterung überschreitet und ethische Aspekte mit einbezieht. Dabei ist Schopenhauers Einschätzung der Relation zwischen dem Genie und dem Heiligen ausschlaggebend. Die Unabhängigkeit künstlerischer Produkte von „nützlichen Zwecken" 8 0 bietet einen ersten Anhaltspunkt: „ein Werk des Genies ist kein Ding zum Nutzen. Unnütz zu sein gehört zum Charakter der Werke des Genies: es ist ihr AdelsbrieP' 81 , der sie vor allen übrigen Menschenwerken auszeichnet. Im Unterschied zu diesen sind jene allein „ihrer selbst wegen da [...] als die Blüte oder der reine Ertrag des Daseins". 82 Dieser Blütenmetapher implantiert Schopenhauer einen charakteristischeren Gehalt, wenn er seine Auffassung, daß „das Schöne selten mit dem Nützlichen vereint" ist 83 , durch Naturbeispiele zu belegen sucht: „Die hohen und schönen Bäume tragen kein Obst: die Obstbäume sind kleine, häßliche Krüppel. Die gefüllte Gartenrose ist nicht fruchtbar, sondern die kleine, wilde, fast geruchlose ist es". 84 Und in einem nachgelassenen Manuskript aus dem Jahre 1817 führt Schopenhauer diese metaphorische Opposition folgendermaßen näher aus: Das Genie und der Heilige „haben die Erkenntniß der Idee des Lebens gemein: dem Heiligen wird sie zum Quietiv des Willens, den er aufgiebt; sie ist ihm also Mittel zum Zweck, folglich untergeordnet und er bleibt nicht bei ihr stehn. Das Genie aber wiederholt die erkannte Idee des Lebens in der Kunst, bleibt also bei ihr stehn, behandelt sie (die Idee) selbst als Zweck und sein Wille wird nicht durch sie aufgehoben". 8 5 Die Erkenntnis bleibt also „für den Willen bei ihm unfruchtbar: durch das Beharren bei ihr aber, entfaltet sie sich reicher als beim Heiligen, der sie sogleich auf seinen Willen bezieht, als Quietiv desselben". 86 Im Anschluß an diese Gegenüberstellung gelangt Schopenhauer zu seiner eigentlichen Pointe, die Heterogenstes unter einem Tertium comparationis 80 ei 82 83 84

WWV WWV WWV WWV WWV

85

ΗΝ I S. 477. Vgl. auch ΗΝ I S. 2 6 9 - 2 7 0 . ΗΝ I S. 478.

86

II II II II II

S. S. S. S. S.

500. 500. 500. 501. Vgl. auch HN IV,1 S. 122. 501.

§ 1 4 . Das Genie als Hermaphrodit?

285

zusammenzwingt: „So ist der Zweck der Rose die Befruchtung; aber durch üppigere Nahrung wird die ursprüngliche wilde Rose zur Gartenrose, füllt sich mit ungleich mehr Blättern, wird viel größer und schöner, aber eben dadurch unfruchtbar und der Hauptzweck geht verloren. Dieser Gartenrose gleicht das Genie·, der wilden der Heilige". 87 Die Differenz zwischen Genie und Heiligem hängt demnach mit einer Fruchtbarkeit zusammen, die einem über sie selbst hinausweisenden Zweck dient. Dieses Telos nimmt Schopenhauer für den Heiligen in Anspruch, verneint es jedoch für das Genie, das bei der willenlos-selbstzweckhaften Ideenschau stehenbleibt. Im Hinblick auf die in § 14 entfalteten Facetten der Fertilitätsmetaphorik kann man in zweierlei Hinsicht eine Relativierung feststellen: Erstens wird die spezifisch ,männliche' Fruchtbarkeit, die Schopenhauer dem schöpferisch,zeugenden' Genie in Abgrenzung von der spezifisch ,weiblichen' Fruchtbarkeit des empfängnisfähigen ästhetischen Rezipienten zuspricht, dann eingeschränkt, wenn Schopenhauer den Horizont über die Subjektsphäre hinaus erweitert. Denn auf der Basis prinzipieller ,Weiblichkeit' des ästhetischen Subjekts, dem die ungebrochene ,männliche Zeugungspotenz' des Objekts gegenübertritt, bietet die ,Männlichkeit' des Genialen bei Schopenhauer allenfalls eine Differenzierung, ist jedoch nicht für das Subjekt als solches konstitutiv. Zweitens relativiert sich die androgyne Fertilität des Genies überhaupt, wenn die Ästhetik in einen erweiterten Bezugsrahmen gerät, der in Gestalt des Heiligen auch ethische Aspekte mitumfaßt. Während die spezifische ,Fruchtbarkeit' des Heiligen nach Schopenhauer gerade in einer Instrumentalisierung willenloser Erkenntnis zum Zwecke der Erlösung besteht, schlägt die in der Immanenz der Ästhetik behauptete Fertilität des Genies in ihr Gegenteil um: in eine perspektivbedingte Unfruchtbarkeit sui generis. 88

87

88

ΗΝ I S. 478. Dieser Gegensatz zwischen Genie und Heiligem wird anderenorts durch eine doppelte Analogie relativiert: Ebenso wie der Heilige „einen genialen Zug" hat, zeigt auch das Genie „eine gewisse Erhabenheit der Gesinnung [.·.], wodurch es dem Heiligen verwandt ist" (ΗΝ IV,1 S. 240). Vgl. auch W W V I S. 538: „in ethischer Hinsicht genial". Übrigens erscheint Schopenhauers ästhetische Fertilitätsmetaphorik in dreierlei Hinsicht nicht konsequent. Vergegenwärtigt man sich erstens seine These vom Genitalsystem als „Brennpunkt des Willens" (vgl. ζ. B. W W V II S. 5 0 8 - 5 0 9 , 656; W W V I S. 452, 289), dem als konträrer Pol das Gehirn als Repräsentant der Erkenntnis (mithin der Welt als Vorstellung) gegenübersteht (vgl. W W V I S. 452, 289), so entspricht die Opposition zwischen Wollen und Erkennen dem Gegensatz zwischen Genital- und Zerebralsystem. Das sogenannte ,reine Erkennen' als ästhetisch-willenloses ist folglich durch gänzliche Irrelevanz der Genitalsphäre gekennzeichnet und befindet sich dadurch eigendich auch außerhalb des Anwendungsbereichs biologisch-sexueller Metaphorik. — Eine vergleichbare Inkonsequenz beinhaltet zweitens die Betonung der Fruchtbarkeit des Heiligen in Abgrenzung von der Unfruchtbarkeit des Genies, und zwar in Anbetracht der Tatsache, daß Schopenhauer Zeugungsverzicht,

286

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Einen impliziten Beleg dafür sowie einen Ausblick auf die Thematik von § 22 bietet das Ende von Buch 3 der „Welt als Wille und Vorstellung I": Für den Künsder ist die „reine wahre und tiefe Erkenntnis des Wesens der Welt [...] Zweck an sich". Weil er bei ihr verharrt, fungiert sie für ihn — im Unterschied zum Heiligen - nicht als „Quietiv des Willens, erlöst ihn nicht auf immer, sondern nur auf Augenblicke vom Leben und ist ihm so noch nicht der Weg aus demselben, sondern nur einstweilen ein Trost in demselben; bis seine dadurch gesteigerte Kraft endlich des Spieles müde den Ernst ergreift". 89

freiwillige Keuschheit, Askese (insbesondere in sexueller Hinsicht) als Charakteristika heiligmäßiger Lebensweise exponiert (vgl. dazu jeweils Buch 4 in WWV I und WWV II). — Ein drittes Spannungsverhältnis entsteht dadurch, daß Schopenhauer seine ästhetische Weiblichkeitsmetaphorik ausgerechnet von den Frauen ableitet, denen er die Fähigkeit zu ästhetischer Einstellung rigoros abspricht. Misogynie und ästhetische Weiblichkeitsmetaphorik, willenlose Kontemplation und biologisch-sexuelle Metaphorik, Keuschheit des Heiligen und ethische Fertilitätsmetaphorik: diese drei Relationen erweisen sich also als problematisch. 89 WWV I S. 372.

§15. Die Funktion der Phantasie als Spontaneitätsfaktor I. Die Phantasie erhält in Schopenhauers Ästhetik einen hohen Stellenwert, und zwar sowohl im produktions- als auch im rezeptionsästhetischen Bereich. Eine „ungewöhnliche Stärke der Phantasie" betrachtet Schopenhauer als notwendige, allerdings nicht zugleich auch als zureichende Bedingung von Genialität.1 Dem Genie dient die Phantasie als „unentbehrliches Werkzeug" 2 ; denn „Alles Urdenken geschieht in Bildern". 3 In quantitativer und qualitativer Hinsicht eignet sich die Phantasie als Medium zur Transzendierung der Realität. Via negationis leitet Schopenhauer die Notwendigkeit der Phantasietätigkeit aus der Überlegung her, daß sich die Erkenntnis des Genies anderenfalls beschränken müßte „auf die Ideen der seiner Person wirklich gegenwärtigen Objekte". 4 Der „Herrschaft des Zufalls" 5 unterworfen und abhängig „von der Verkettung der Umstände" 6 , bliebe das Genie angewiesen auf die Kontingenz des Faktischen, hätte sich folglich mit der Tatsache zu arrangieren, daß sich die Dinge „selten zur rechten Zeit" und zumeist ohne zweckmäßige Ordnung einstellen.7 Von zufallsbedingten Imponderabilien dieser Art ist das Genie kraft seiner Phantasie freigestellt, gibt sie ihm doch die Möglichkeit, „seinen Horizont weit über die Wirklichkeit seiner persönlichen Erfahrung" hinaus zu vergrößern und „aus dem wenigen, was in seine wirkliche Apperzeption gekommen, alles übrige zu konstruieren". 8 Die Erkenntnissphäre des Genies erfährt dabei 1

2 3

4 5 6 7 8

Vgl. W W V I S. 267: „ungewöhnliche Stärke der Phantasie" als „Begleiterin, ja Bedingung der Genialität". A. a. Ο.: „Man hat als einen wesentlichen Bestandteil der Genialität die Phantasie erkannt, ja sie sogar bisweilen für mit jener identisch gehalten: ersteres mit Recht; letzteres mit Unrecht". Denn Phantasie zeugt nicht bereits von Genialität. W W V II S. 488. Vgl. auch S. 97: Phantasie als „notwendiges Werkzeug" des Urdenkens. W W V II S. 97, 488. Zur Anschaulichkeit der Ideenerkenntnis vgl. auch W W V I S. 267, 340 und W W V II S. 96, 488, 489 sowie PP II S. 497. W W V I S. 267. W W V II S. 488. W W V I S. 267. W W V II S. 488. W W V I S. 267.

288

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

auch eine qualitative Horizonterweiterung. Weil die realen Objekte zumeist nur in sehr mangelhafter Weise die in ihnen repräsentierten Ideen zum Ausdruck bringen 9 , benötigt das Genie Phantasie, „um in den Dingen nicht das zu sehn, was die Natur wirklich gebildet hat, sondern was sie zu bilden sich bemühte". 10 Mithin bedarf es der Phantasie, „um alle bedeutungsvollen Bilder des Lebens zu vervollständigen, zu ordnen, auszumalen, festzuhalten und beliebig zu wiederholen". 11 Nach Schopenhauers Auffassung vollzieht das Genie also eine Art von Idealisierung und überbietet die Kontingenz des Gegenwärtigen durch eine deutlichere Darstellung des Wesens der Dinge.

II. Mit derartigen Thesen zur produktionsästhetischen Bedeutung der Phantasie transzendiert Schopenhauer die Platonische Vorstellung einer Mimesis von Natur in der Kunst. 12 Seines Erachtens verhält sich der Phantasiebegabte zum Phantasielosen „wie zum freibeweglichen, ja geflügelten Tiere die an ihren Felsen gekittete Muschel, welche abwarten muß, was der Zufall ihr zuführt". 1 3 Im Unterschied zu der in § 14 eingangs zitierten Aussage Schopenhauers, nach der das Objekt während der künstlerischen Konzeption, „gleichsam als Männliches, einen beständigen Zeugungsakt auf das Subjekt, als Weibliches", ausübt 14 , bietet der Phantasiebegabte - ,freibeweglich', ja ,geflügelt' — den Anblick eines spontan-autonomen Wesens, das von einer Beschränkung auf die vermeintlich ,weibliche' Passivität reiner Rezeptivität weit entfernt ist. Offenbar zu einer autonomen Aktivität aus eigenem Impuls befähigt, unterscheidet sich der Phantasiebegabte erheblich von der kontingenzabhängigen Reduktionsform ,muschelartiger' Passivität, die Schopenhauer dem Phantasielosen zuspricht. Trotz dieser grundlegenden Differenz will Schopenhauer auch dem Phantasielosen den Eintritt in ästhetische Einstellung ermöglichen: Kunstwerke sollen dabei die kompensatorische Funktion übernehmen, „denen, die

9 Vgl. W W V I S. 267. 10 W W V I S. 267. 11 W W V II S. 488.

Die Begriffe .Wiederholung' und ,Wiedergabe' (vgl. W W V I S. 266, 278; W W V II S. 492, 523) weisen zwar auf mimetische Tendenzen in Schopenhauers Ästhetik hin, jedoch stehen ihnen konträre Ansätze gegenüber. Vgl. dazu § 13 und § 16 dieser Abhandlung. 13 W W V II S. 489. 1 4 PP II S. 505. 12

§ 1 5 . Die Funktion der Phantasie als Spontaneitätsfaktor

289

keine Phantasie haben, diesen Mangel möglichst zu ersetzen"; dem mit Phantasie Begabten hingegen erleichtern sie „den Gebrauch derselben". 1 5 Läßt aber die ,muschelartige' Rezeptivität des Phantasielosen, der von der Kontingenz des zufällig ihm Zu-fallenden völlig abhängig ist, eine solche Surrogatfunktion der Kunstwerke überhaupt zu? Naheliegend erscheint der Eindruck, daß Schopenhauer die rudimentären Fähigkeiten des Phantasielosen ebenso überschätzt wie das Ausmaß der kompensatorischen Wirkungen, die ein gelungenes Kunstwerk aufgrund seiner Funktion, ästhetische Einstellung zu erleichtern 16 , erwarten läßt. Bei näherem Zusehen erweist sich die zitierte Aussage Schopenhauers als singulär. Offensichtlich überwiegen Thesen mit einem von ihr abweichenden Gehalt. In einer durch biologische Metaphorik geprägten Textstelle äußert sich Schopenhauer folgendermaßen: „In der Kunst" muß „das allerbeste [...] in der Phantasie des Beschauers geboren, wiewohl durch das Kunstwerk erzeugt werden". 17 Ein derartiger Wirkungszusammenhang von ,männlicher' Zeugungskraft des Objekts (in Gestalt des Kunstwerks) und angeblicher ,Weiblichkeit' des Subjekts scheint eine grundlegende Differenz gegenüber der autonomen Aktivität des Subjekts aufzuweisen, die in Schopenhauers Vergleich des Phantasiebegabten mit einem „freibeweglichen, ja geflügelten Tiere" zum Ausdruck kommt. Allerdings läßt sich die Metaphorik von weiblicher Gebärfähigkeit nicht gleichsetzen mit der Beschränkung ästhetischer ,Weiblichkeit' auf bloße Empfängnisbereitschaft 18 im Sinne reiner Rezeptivität. Weiteren Aufschluß gibt der Kontext der biologischen Metapher: „daß jedes Kunstwerk nur durch das Medium der Phantasie wirken kann", diese mithin „nie [...] untätig bleiben d a r f , betrachtet Schopenhauer als „eine Bedingung der ästhetischen Wirkung und daher [als] ein Grundgesetz aller schönen Künste". 1 9 Wie sich auf dieser Basis der Mangelzustand des Phantasielosen aufheben ließe, ist unklar: Wenn der Phantasie laut Schopenhauer „immer [...] das letzte zu tun übrigbleiben" muß 20 , wenn das Kunstwerk „den Sinnen" „nur soviel" geben darf, „als erfordert ist, die Phantasie auf den

is WWV II S. 489. Zur Funktion der Kunst, die ästhetische Kontemplation zu erleichtern, vgl. vor allem WWV I S. 278, WWV II S. 477, PP II S. 498, daneben auch WWV I S. 332, WWV II S. 522, 524 — 525. Ausführungen dazu finden sich insbesondere in § 16 dieser Arbeit. 17 WWV II S. 524. 1 8 Vgl. dazu die in § 14 problematisierte These in PP II S. 505. i W W V II S. 523. 37

Beispielsweise betrachtet Schopenhauer die Genies als „Weiterleuchter und Förderer des Menschengeschlechts" (PP II S. 578), als „die Leuchttürme der Menschheit" (PP II S. 94) und als „die eigendiche Noblesse der Welt" (PP II S. 84). In ΗΝ I S. 1 1 1 kontrastiert Schopenhauer die als Objektivität verstandene Genialität mit der Subjektivität der Philister. — In einem durchweg historisch orientierten Aufsatz zeichnet Arthur Hübscher Grundmomente rationalistischer und romantischer Genietheorien nach und stellt dabei Parallelen zu Schopenhauers Antithese v o n Genie und Philister bei Tieck, Ε. T. A. Hoffmann und Eichendorff fest. (Hübscher, Arthur: Das Genie bei Schopenhauer. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 18 (1973) S. 1 0 3 —126.) — A u f die Opposition von Genie und Philister geht auch Jochen Schmidt ein. Daß Schopenhauer an die Stelle des in seinen frühen Aufzeichnungen verwendeten Begriffs .Philister' später die Bezeichnungen ,Pöbel' oder ,Fabrikware der Natur' treten läßt, interpretiert Schmidt als „eine historisch bedeutsame, weil v o n der Wahrnehmung der heraufkommenden Massengesellschaft motivierte Weiterentwicklung jenes ursprünglichen Gegenbildes". (Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1 7 5 0 — 1945. 2 Bände. Darmstadt 1985. Band 1: S. 4 6 7 - 4 6 8 . )

§ 1 6 . Die Differenz zwischen Kunstschönem und Naturschönem

303

Verhielte sich der besagte Bildbetrachter angesichts von Naturobjekten in vergleichbarem Maße passiv, so bliebe ihm ästhetische Kontemplation wohl ganz versagt. Denn hier, wo ein potentieller Willensbezug der Objekte stets gegeben und ästhetische Erfahrung durch das Subjekt allererst zu leisten ist, fehlen die Rezeptionshilfen, die das Kunstschöne gewährt. So bleibt ihm angesichts der Natur offenbar nichts anderes übrig, als entweder von der .Schwungkraft' seines Intellekts aktiv Gebrauch zu machen oder auf ästhetische Einstellung zu verzichten. Avanciert also der Gegensatz von spontaner Aktivität und passiver Rezeptivität des Subjekts geradewegs zum Kriterium einer Differenzierung zwischen ästhetischer Einstellung zu Naturschönem und Kunstschönem? — Stützt man sich ausschließlich auf die gut belegbare Uberzeugung Schopenhauers von der Erleichterungsfunktion der Kunst, so erscheint diese Einschätzung tatsächlich legitim.

III. Im Unterschied zu der — wie es scheint — eindeutigen Bestimmung des Kunstzwecks erweisen sich jedoch Schopenhauers Charakterisierungen des Naturschönen als ambivalent. Die vermeintliche Klarheit der besagten Gegenüberstellung weicht infolgedessen einer durch oszillierende Perspektiven bestimmten Konstellation. Behält man Schopenhauers Funktionsbestimmung der Kunst im Blick, so wird man seine These, „daß das Versetzen in den Zustand des reinen Anschauens am leichtesten eintritt, wenn die Gegenstände demselben entgegenkommen" 38 , zunächst wohl kaum anders verstehen können denn als eine Darstellung kunstspezifischer Wirkkraft. Aus dem Kontext allerdings erhellt wider Erwarten, daß seines Erachtens vor allem „die schöne Natur diese Eigenschaft" besitzt. 39 Ein „Entgegenkommen der Natur" ist laut Schopenhauer die Voraussetzung dafür, daß „selbst dem Unempfindlichsten wenigstens ein flüchtiges ästhetisches Wohlgefallen" 40 möglich wird. In offenkundigem Gegensatz zu den zuvor behandelten Textstellen scheint die Erleichterungsfunktion hier geradewegs vom Kunstschönen auf das Naturschöne überzugehen, zumal Schopenhauer durch die „sich aufdringende Fülle der 38 wwv I S. 286. 39 W W V I S. 286. Parallelstelle: MS S. 102. « W W V I S. 286. Parallelstelle: MS S. 102.

304

C. Rinzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

schönen Natur" „jene rein objektive Gemütsstimmung" ebenfalls „erleichtert und von außen befördert" sieht. 41 In diese Richtung weist außerdem Schopenhauers These, der schönen Natur „gelingt es [...] fast immer, uns [...] dem Sklavendienste des Willens zu entreißen und in den Zustand des reinen Erkennens zu versetzen". 42 Sofern ein solches Gelingen naturaler Bestrebungen gewissermaßen eine Intentionalität dieser Natur voraussetzt, liegt hier ein Ansatz zu anthropomorphistischer Naturdeutung vor, in dem eine spezifisch intentionale Aktivität des Subjekts vollends unterzugehen droht. 43 Bezeichnenderweise behauptet Schopenhauer, das ästhetische Subjekt werde durch „Naturschönheiten hervorgerufen". 4 4 Der Kausalzusammenhang ist evident: Das kontemplierende Subjekt tritt hier als Wirkung der Naturschönheit als der Ursache auf. Sofern seine ästhetische Einstellung gleichsam auf dem ,Erfolgskonto' entgegenkommender, mit pseudo-intentionaler Aktivität ausgestatteter Objekte zu verbuchen ist, ergibt sich eine (in § 4 bereits ausführlich behandelte) Problematik, deren Kehrseiten aufeinander bezogen sind: Mit naturalistischen Tendenzen in Schopenhauers Konzeption des ästhetischen Subjekts korrespondieren anthropomorphistische Ansätze in seiner Theorie des ästhetischen Objekts. Von einem spezifischen Leistungsvermögen, von besonderer „Schwungkraft des Intellekts" 45 , die gerade das Naturschöne — im Gegensatz zum Kunstschönen mit seiner Erleichterungsfunktion — dem Subjekt abzuverlangen schien, sind hier nicht einmal Rudimente zu erkennen. Das Defizitäre eines in passive Rezeptivität und heteronome Objektabhängigkeit gedrängten Subjekts gipfelt in dessen Selbstverlust, der ebenfalls als Wirkung der Objekte erscheint: Dem schönen Naturobjekt „gelingt" die ästhetische Einstellung, die „uns von uns selbst befreit". 46 Indem die Befreiung des Subjekts durch die Natur als Agens vollzogen wird, bekommt ästhetische Freiheit gewissermaßen einen naturalen Status. Das Naturschöne scheint in Schopenhauers Konzeption also gegensätzliche Charakteristika zu erhalten, sofern es ästhetische Einstellung einerseits erleichtert, andererseits jedoch in Abgrenzung von Kunstschönem eher er41 WWV I S. 281. Zur Rezeptivitätsproblematik vgl. ausführlich § 4. 42 WWV I S. 281. Vgl. auch PP II S. 503 und MS S. 94. Vgl. dazu § 4 dieser Arbeit. 44 WWV II S. 478. 45 WWV II S. 477. Erstaunlicherweise findet sich diese Textstelle nicht weit entfernt von der Aussage, nach der das ästhetische Subjekt durch „Naturschönheiten hervorgerufen" wird (S. 478). 4(1 PP II S. 503. 43

§ 1 6 . D i e Differenz zwischen Kunstschönem und Naturschönem

305

schwert. Wenn entgegenkommende Naturobjekte einigen Textstellen zufolge eine spontane Aktivität des Subjekts entbehrlich machen, dann scheint die spezifische Differenz zwischen Naturschönem und Kunstschönem weitgehend zu verschwinden. Offenbar steht das Subjekt mitunter nahezu unterschiedslos beiderlei Objekten passiv-rezeptiv gegenüber. Dennoch ist es notwendig, die spezifischeren Aussagen Schopenhauers jeweils als mögliches Korrektiv mitzuberücksichtigen. Uber die Gründe, die in Schopenhauers Ästhetik zur Nivellierung der Unterschiede zwischen Kunst- und Naturschönem geführt haben, läßt sich allenfalls spekulieren. Problematisch ist wohl von vornherein das Ansinnen, Charakteristika ästhetischer Einstellung zu Naturschönem zu benennen, die eine prinzipielle Differenz gegenüber Kunstschönem festschreiben. 47 Vermutlich ist die ästhetische Subjekt-Objekt-Korrelation so sehr durch individuellsituative Bedingungen geprägt, daß man bei deren Vernachlässigung die Einbuße wesentlicher Aspekte riskiert. Das jeweilige Ausmaß der Anforderungen, die ein Objekt an das ästhetische Subjekt stellt, hängt sicher mehr von seinem spezifischen ästhetischen Potential ab als von seiner Zugehörigkeit zu Kunst oder Natur. Verglichen mit Schopenhauers allzu pauschaler Abgrenzung in dieser Hinsicht ist seinem Ansatz zu der (in § 4 beschriebenen) dynamischen Subjekt-Objekt-Korrelation, der jeweils deren individuelle Charakteristika betont, entschieden der Vorzug zu geben. Nur so läßt sich eine absurde Konsequenz im Zusammenhang mit Schopenhauers These vermeiden, ein Objekt sei desto schöner, je mehr es „jene rein objektive Betrachtung erleichtert, ihr entgegenkommt, ja gleichsam dazu zwingt". 48 Denn aus einer Gegenüberstellung der Kunstwerke mit ihrer Erleichterungspotenz einerseits und der „besondere Schwungkraft des Intellekts" erfordernden Naturobjekte andererseits ergäbe sich die fragwürdige Schlußfolgerung: Kunstschönes ist schöner als Naturschönes.

IV. Die bislang entfalteten Überlegungen zum Status ästhetischer Objekte in Natur und Kunst vermittelten den Eindruck, allein die ersteren seien von der beschriebenen Ambivalenz betroffen — durch ein Changieren zwischen 47

40

Abgesehen wird dabei natürlich von der Trivialität, daß Kunst als Artefakt Menschenwerk ist und sich insofern als intentionshaltige von den nicht in diesem Sinne allererst zu produzierenden Naturobjekten unterscheidet. M S S. 118; W W V I S. 298.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Erleichterung ästhetischer Kontemplation (qua Entgegenkommen) und Erschwerung (qua Fehlen der im Kunstwerk angelegten Rezeptionshilfen). Diese Einschätzung jedoch bedarf ebenfalls einer nachträglichen Korrektur. Bei näherem Zusehen nämlich zeigt sich, daß auch die Funktion der Kunst, dem Rezipienten die Ideenerkenntnis zu erleichtern, durch bestimmte Ambivalenzen in Frage gestellt wird, und zwar dort, wo Schopenhauer innerhalb seiner Kunstästhetik gattungstypologische Differenzierungen einführt. Sieht man Schopenhauers These, die Rezeption von Werken der bildenden Kunst erfordere „gar wenig Zeit und Anstrengung" 49 , im Horizont seiner Kunstzweck-Postulate, so bietet sich zunächst folgende Einschätzung an: Malerei und Skulptur scheinen den Eintritt in ästhetische Kontemplation für den Betrachter in solchem Maße zu erleichtern, daß sie den besagten Kunstzweck in vorbildlicher Weise erfüllen. Und Schopenhauers wenig später folgende Behauptung, daß „Poesie und selbst Musik ungleich beschwerlichere Bedingungen stellen" 50 , könnte man zunächst als implizite Bestätigung dieser Perspektive lesen: Gerade durch die besagte ,Beschwerlichkeit' scheinen Poesie und Musik ihre Funktion qua Kunst tendenziell zu verfehlen. Der einzigartige Rang der Musik in Schopenhauers Ästhetik legt aber eine skeptische Beurteilung dieser These nahe: Auch zeigt der Kontext der Aussage, nach der die bildenden Künste „gar wenig Zeit und Anstrengung" von selten des Betrachters erfordern, daß Schopenhauer dies keineswegs als Qualitätssignum bewertet. Und demgemäß können „beschwerlichere Bedingungen", die Poesie und Musik an den Rezipienten stellen, durchaus nicht als symptomatisch für deren etwaige Inferiorität gelten. Ganz im Gegenteil: Schopenhauer kehrt die Gewichtung, die auf der Folie seiner KunstzweckThesen zu erwarten wäre, um, indem er unter gattungstypologischem Aspekt einen anderen Maßstab anlegt. Einen zentralen Stellenwert erhält dabei die Phantasie, verdankt ihr doch die Dichtkunst jenes Wirkungspotential, das ihr eine offenkundige Überlegenheit gegenüber den bildenden Künsten sichert, die Schopenhauer als „die am schwächsten wirkenden Künste" 51 etikettiert. Für Schopenhauers Argumentation ist hier die rezeptionsästhetische Bedeutung der Phantasie ausschlaggebend: Weil „die Phantasie des Lesers der Stoff ist, in welchem die W W V II S. 545. so W W V II S. 545. 51 W W V II S. 544. Vgl. zur Phantasie § 15 dieser Abhandlung. Daß „die Werke der bildenden Künste" „wenig direkte und unvermittelte Wirkung" haben, bringt Schopenhauer auch damit in Zusammenhang, „daß ihre Schätzung weit mehr als die aller andern der Bildung und Kenntnis b e d a r f ( W W V II S. 545).

49

§ 1 6 . Die Differenz zwischen Kunstschönem und Naturschönem

307

Dichtkunst ihre Bilder darstellt" 52 , bietet sie ihm die Möglichkeit zu einer jeweils ganz individuellen Rezeption, die „seiner Erkenntnissphäre und seiner Laune gerade am angemessensten ist und ihn daher am lebhaftesten anregt". 53 Daraus erwächst nach Schopenhauer die „viel stärkere, tiefere und allgemeinere Wirkung" 54 der Dichtkunst, die den qualitativen Vorrang dieser Kunstgattung gegenüber den bildenden Künsten fundiert. Außerdem ermöglicht die Phantasie eine kunstspezifische Konzentration auf das Wesentliche: „In der Phantasie stehn die Dinge reiner ausgeprägt als in der Wirklichkeit". 55 Der Malerei und der Skulptur spricht Schopenhauer die schwächste Wirkung zu, weil sie eine solche für individuelle Rezeption wichtige Phantasietätigkeit gerade nicht voraussetzen. Im Unterschied zur Dichtkunst soll bei den Werken der bildenden Kunst „ein Bild, eine Gestalt allen genügen". 56 Aus dieser Konstellation folgert Schopenhauer, „daß der Genuß derselben gar wenig Zeit und Anstrengung erfordert und jeden Augenblick auf einen Augenblick bereit ist; während Poesie und selbst Musik ungleich beschwerlichere Bedingungen stellen". 57 Offenkundig ist die „beschwerlichere" Rezeption von Musik und Dichtung keineswegs pejorativ im Sinne einer Verfehlung des eigentlichen Kunstzwecks zu verstehen. Ganz im Gegenteil: Für „eine schöne, das Herz treffende Melodie" oder „eine vortreffliche Dichtung" nimmt Schopenhauer eine geradezu „unfehlbar" eintretende Wirkung in Anspruch. 58 Der qualitative Rang einer Kunstgattung auf der hierarchisch angelegten Wertungsskala 59 bemißt sich — dem Gesagten zufolge — also nach dem Anspruch, den die ihr zugehörigen Werke jeweils an den Rezipienten stellen. Kann aber ein solches Klassifikationskriterium kompatibel sein mit der grundsätzlichen Auffassung Schopenhauers, der Kunstzweck bestehe in einer Erleichterung der Ideenerkenntnis? Und wird eine Vereinbarkeit der unterschiedlichen Perspektiven hier nicht noch fragwürdiger, sofern man sich ihre W W V II S. 544. Vgl. dort auch Schopenhauers „Definition der Poesie" als „die Kunst [...], durch Worte die Einbildungskraft ins Spiel zu versetzen" (vgl. dazu § 15 und § 19). In einer entsprechenden Definition in PP II S. 497 ersetzt Schopenhauer den Begriff .Einbildungskraft' durch .Phantasie'. Aufschlußreich ist diesbezüglich Schopenhauers Postulat der Phantasietätigkeit als „Bedingung der ästhetischen Wirkung" (WWV II S. 523). 53 W W V II S. 544. 52

54 WWV Ii s. 544.

HN III S. 577. W W V II S. 544. Vgl. auch S. 545: „wenig direkte und unvermittelte Wirkung". 57 W W V II S. 545. 58 W W V II S. 545. Der fragmentarische Charakter der (von Schopenhauer) sogenannten „Werke aus einem Guß" stellt an die Phantasieleistung des Rezipienten besondere Anforderungen und trägt zu „unfehlbarer" Wirkung solcher Kunstwerke bei (vgl. W W V II S. 526). 59 Vgl. dazu ausführlich § 17. 55 56

308

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Implikationen in positiver und negativer Hinsicht konkret veranschaulicht? Denn müßte nicht der eigentliche Zweck der Kunst in vorbildlicher Weise gerade in den bildenden Künsten realisiert sein, deren Inferiorität sich jedoch in einer nachhaltigen Beschränkung ihrer Anforderungen an den Rezipienten zeigt? Und verfehlen nicht Poesie und Musik — gemessen am Erleichterungskriterium — ihren Zweck qua Kunst gerade aufgrund ihres gehobenen Anspruchsniveaus, das ihnen im Rahmen gattungstypologischer Klassifikation jedoch einen besonderen Rang sichert? Offensichtlich scheint hier allein die Unvereinbarkeit von Schopenhauers Thesen zu sein. Erleichterung der Ideenerkenntnis als Kunstzweck und Beschwerlichkeit im Sinne hoher Anforderungen an den Rezipienten als Rangkriterium stehen einander diametral gegenüber. Zweckerfüllung vollzieht sich demnach konträr zum Rangkriterium. Paradox wirkt diese Konstellation, weil offenbar gerade die inferioren Kunstgattungen die größte Aussicht haben, den Zweck der Kunst in vorbildlicher Weise zu realisieren, während ausgerechnet die höherrangigen Gattungen ihn fast zwangsläufig zu verfehlen scheinen. Eine Lösung des Dilemmas ist nicht in Sicht; die Aporie erscheint unvermeidlich. Allenfalls eine Suche nach dem Ursprung dieser Problematik bietet Aussicht auf Klärung. Vermutlich intendierte Schopenhauer zweierlei zugleich: die argumentative Fundierung von Niveau und Leistungspotential sowohl des Kunstwerks als auch eines adäquaten Rezipienten. Die Kriterien sind dabei allerdings so ungünstig angesetzt, daß sie in einen Konflikt miteinander geraten. Dabei scheint das Leistungsvermögen des Rezipienten mit der Wirkkraft des Kunstwerks insofern zu konkurrieren, als beide Komponenten offenbar ein besonderes ästhetisches Potential auf der jeweiligen Gegenseite — zumindest teilweise — entbehrlich machen sollen. 60 In anderer Hinsicht jedoch ermöglichen bestimmte Korrespondenzen zwischen dem Kunstwerk und seinem Rezipienten ein kreatives Wechselspiel: Das Kunstwerk, das „viel zu denken veranlaßt", verlangt einen denkfähigen Rezipienten. 01 In auffälliger Ubereinstimmung damit befindet sich die von 60

61

Vgl. dazu die in § 4 dieser Arbeit analysierte dynamische Subjekt-Objekt-Korrelation, die ζ. B. aus MS S. 9 2 - 9 4 erhellt. Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft. A A 5 S. 314: dort definiert er die Idee als „diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. B e g r i f f , adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann". Gemäß S. 316 läßt die ästhetische Idee „zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken". Vgl. ergänzend Schopenhauers W W V II S. 5 2 3 - 5 2 4 : Weil der Phantasie bei der Rezeption stets „das letzte zu tun übrigbleiben" muß, soll „sogar der Schriftsteller stets dem Leser noch etwas zu denken übriglassen". In der Kunst nämlich, so Schopenhauers Begründung, ist „das allerbeste zu geistig, um geradezu den Sinnen gegeben zu werden" (WWV II S. 524).

§16. Die Differenz zwischen Kunstschönem und Naturschönem

309

Schopenhauer zitierte Empedokles-These, „nur vom Gleichen [...] wird das Gleiche erkannt" 62 , die er folgendermaßen deutet: „nur vom Geist wird der Geist vernommen". 63 In einem Abschnitt seiner „Parerga und Paralipomena" gibt Schopenhauer eine aufschlußreiche Zusatzinformation: Seines Erachtens ist „der Wert aller Meisterwerke in Kunst und Wissenschaft" „bedingt durch den verwandten ihnen gewachsenen Geist, zu dem sie reden. Nur er besitzt das Zauberwort, wodurch die in solche Werke gebannten Geister rege werden und sich zeigen". 64 Diese These scheint sich durchaus im Einklang mit transzendentalphilosophischen Prämissen zu befinden. Die prinzipielle Abhängigkeit des Objekts von Konstitutionsleistungen des erkennenden Subjekts, mithin auch die grundsätzliche Dependenz des künstlerischen oder philosophischen Artefakts von seinem Rezipienten bringt Schopenhauer in einer abschließenden Feststellung nochmals prägnant zum Ausdruck: „Demnach bedarf ein schönes Werk eines empfindenden Geistes, ein gedachtes Werk eines denkenden Geistes, um wirklich dazusein und zu leben". 65 Der Genialität des Produzenten entspricht die Kongenialität des Rezipienten, in dem das Werk allererst ,zur Welt' kommt. Die von Schopenhauer postulierte Voraussetzung solcher Rezeption allerdings weist eine grundlegende Differenz zum transzendentalphilosophischen Ansatz auf. Wenn Schopenhauer nämlich die Möglichkeit der „Antizipation des Schönen a priori im Künstler wie seiner Anerkennung a posteriori im Kenner" darauf zurückführt, „daß Künsder und Kenner das An-sich der WWV I S. 314. WWV I S. 314. Diese These hat Schopenhauer nach eigenem Bekunden von Helvetius übernommen. M PP II S. 540. Transzendentalphilosophische Reminiszenzen weist die Einleitung des obigen Zitats auf: „Wie nun aber doch die Sonne eines Auges bedarf, um zu leuchten, die Musik eines Ohres, um zu tönen; so ist auch der Wert aller Meisterwerke [...] durch den verwandten ihnen gewachsenen Geist, zu dem sie reden", bedingt. Vgl. ergänzend den ersten Absatz in Schopenhauers WWV I, in dem er seine These ,Die Welt ist meine Vorstellung' erläutert: WWV I S . 3 1 - 3 2 . f ' 5 PP II S. 540. Vgl. dazu Schopenhauers Behauptung, daß „die aufgefaßte und im Kunstwerk wiederholte Idee jeden nur nach Maßgabe seines eigenen intellektualen Wertes anspricht" (WWV I S. 329). — Man kann Aussagen dieser Art durchaus als Antizipation der modernen Rezeptionsästhetik interpretieren, wie es Virginia Cutrufelli tut. (Vgl. Cutrufelli, Virginia: Kunst und Pseudokunst. In: Schopenhauer, Nietzsche und die Kunst. Schopenhauer-Studien 4. Hrsg. von Wolfgang Schirmacher. Wien 1991. S. 153 - 1 6 0 , darin S. 157 - 1 5 8 . ) - In WWV II S. 523 allerdings stellt Schopenhauer seiner These, der aus Kunstwerken hervorgehende Gewinn sei ein durch den Rezipienten „stets neu zu erzeugender", ein pejoratives „nur" voran, und zwar in Abgrenzung zur höherrangigen Philosophie, die seines Erachtens einen schon realisierten, bleibenden Besitz verspricht. An dieser Stelle nutzt Schopenhauer die Chance nicht, gerade solche perpetuierliche Neuerzeugung auf eine intentionale Selbsttätigkeit des Subjekts zurückzuführen (gemäß dem transzendentalphilosophischen Ansatz). 62

63

310

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Natur, der sich objektivierende Wille selbst sind" 66 , dann ist dafür seine Überzeugung von der Universalität des Willens als Naturprinzips ausschlaggebend: „Daß wir alle die menschliche Schönheit erkennen, wenn wir sie sehn, im echten Künstler aber dies mit solcher Klarheit geschieht, daß er sie zeigt, wie er sie nie gesehn hat, und die Natur in seiner Darstellung übertrifft; dies ist nur dadurch möglich, daß der Wille [...] ja wir selbst sind. Dadurch allein haben wir in der Tat eine Antizipation dessen, was die Natur (die ja eben der Wille ist, der unser eigenes Wesen ausmacht) darzustellen sich bemüht". 6 7 In einer vermeintlich essentiellen Einheit des Menschen mit der Natur, die ihrem Wesen nach ebenso Wille ist wie er selbst, erblickt Schopenhauer letztlich die Bedingung der Möglichkeit sowohl apriorischer Antizipation im genialen Produzenten als auch aposteriorischer Anerkennung durch den kongenialen Rezipienten. Der Dualismus Kantischer Transzendentalphilosophie unterscheidet sich fundamental von Schopenhauers monistischer Konzeption eines Willens, der als universelles Prinzip die gesamte Natur vom Anorganischen bis zum menschlichen Bewußtsein durchwirkt. 68 Von dieser Prämisse aus läßt sich eine Brücke zum Anfang des vorliegenden Paragraphen schlagen, weil sie zugleich auch die Voraussetzung für Schopenhauers Ablehnung der pejorativen Kunsteinschätzung Piatons darstellt. Denn gerade der Schopenhauersche Antizipationsgedanke schafft die Möglichkeit, die Platonische Mimesistheorie, die das (angeblich durch bloße Wiedergabe einer selbst bereits abbildlichen Erfahrungswirklichkeit entstehende) Kunstwerk auf ontologische Drittrangigkeit reduziert, zugunsten einer Konzeption zu verabschieden, die kreative Poiesis erst zuläßt. 69

V. Abschließend soll ein Ansatz zur Sprache kommen, mit dem der späte Schopenhauer seiner Kunstphilosophie eine ebenso überraschende wie exzeptionelle Wendung gibt. Das im folgenden zu behandelnde in sich abge'·'•' WWV I S. 314. Zum metaphysischen Fundament dieser These vgl. § 7 und § 12 dieser Arbeit. 6 7 W W V I S. 313. Das Spezifische der Ideenerkenntnis des Genies besteht darin, daß es „gleichsam die Natur auf halbem Worte versteht und nun rein ausspricht, was sie nur stammelt" (WWV I S. 3 1 3 - 3 1 4 ) . ,A Vgl. dazu ausführlicher § 7 sowie passagenweise bereits § 4. 6 9 Von Platonischer Anamnesis ist Schopenhauers .Antizipation' weit entfernt, setzt dieses Konzept doch Tiefendimensionen der Immanenz an die Stelle eines die Erfahrungswirklichkeit verlassenden Aufschwungs in die Transzendenz.

§ 1 6 . Die Differenz zwischen Kunstschönem und Naturschönem

311

schlossene Textstück, das an stilistischer Elaboriertheit in Schopenhauers Ästhetik kaum seinesgleichen findet, sei zunächst vollständig zitiert: „Wie den zarten angehauchten Tau über blaue Pflaumen hat die Natur über alle Dinge den Firnis der Schönheit gezogen. Diesen abzustreifen, um ihn dann aufgehäuft zum bequemen Genuß uns darzubringen, sind Maler und Dichter eifrig bemüht. Dann schlürfen wir schon vor unserm Eintritt ins wirkliche Leben ihn gierig ein. Wann wir aber nachher in dieses treten, dann ist es natürlich, daß wir nunmehr die Dinge von jenem Firnis der Schönheit, den die Natur darübergezogen hatte, entblößt erblicken: denn die Künstler haben ihn gänzlich verbraucht und wir ihn vorgenossen. Demzufolge erscheinen uns jetzt die Dinge meistens unfreundlich und reizlos, ja widern uns oft an. Demnach würde es wohl besser sein, jenen Firnis darauf zu lassen, damit wir ihn selbst fänden: zwar würden wir dann ihn nicht in so großen Dosen, aufgehäuft und auf einmal in Form ganzer Gemälde oder Gedichte genießen; dafür aber alle Dinge in jenem heitern und erfreulichen Lichte erblicken, in welchem jetzt nur noch dann und wann ein Naturmensch sie sieht, der nicht mittelst der schönen Künste seine ästhetischen Freuden und den Reiz des Lebens vorweg genossen hat". 70 Erstaunlich wirkt die skeptische Haltung, die Schopenhauer hier gegenüber der Kunst einnimmt. Mit dem resignativen Anstrich dieser Position korrespondiert die Entschiedenheit, in der Schopenhauer die Aufwertung unverfälschter Naturschönheit betreibt. Ausgerechnet mit der Funktion der Kunst, ästhetische Einstellung zu erleichtern, verbindet sich hier ihr eigentümliches Defizit, das sie zum Ursprung nachhaltiger Depravation werden läßt. Anders als in allen zuvor behandelten Aussagen 71 betrachtet Schopen70

71

PP II S. 763 - 764. Ein interessanter Kontrast zu dieser Passage findet sich in W W V II S. 477 — 478, wo Schopenhauer kunstästhetische Begriffe auf Naturschönes überträgt und eine nahezu inverse Argumentation entwirft: Die „anteilslose, willenslose und dadurch rein objektive Auffassung" läßt „einen angeschauten Gegenstand malerisch, einen Vorgang des wirklichen Lebens poetisch erscheinen [...]; indem nur sie über die Gegenstände der Wirklichkeit jenen zauberischen Schimmer verbreitet, welchen man bei sinnlich angeschauten Objekten das Malerische, bei den nur in der Phantasie geschauten das Poetische nennt". — Überlegungen, die der vorliegende Abschnitt V. von § 16 entfaltet, haben auch in einen Aufsatz Eingang gefunden; vgl. Neymeyr, Barbara: Die Kunstskepsis des Ästhetikers. Anmerkungen zu einer singulären Parabel in Schopenhauers „Parerga und Paralipomena". In: Schopenhauer-Jahrbuch 76 (1995) S. 91 - 1 0 2 . Der Kontrast zur Bewertung in folgender Aussage beispielsweise ist auffallig: Die Kunst kann „im vollen Sinne des Wortes die Blüte des Lebens genannt werden", weil „sie wesentlich ebendasselbe, nur konzentrierter, vollendeter, mit Absicht und Besonnenheit leistet, was die sichtbare Welt selbst" — „als die höhere Steigerung, die vollkommenere Entwickelung von allen diesem" (sie!), „die Camera obscura, welche die Gegenstände reiner zeigt [...]" (WWV I S. 3 7 1 - 3 7 2 ) .

312

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

hauer in diesem singulären Text also die kunstspezifische Verdichtung, die sowohl eine Konzentration auf das Wesentliche als auch die Ausblendung von Kontingent-Peripherem voraussetzt, nicht als besondere Chance, sondern als Ursache einer gravierenden Problematik. Schopenhauers pessimistische Umwertung vollzieht sich folgendermaßen: Indem die Künsder in ihren Werken einen Schönheitsextrakt präsentieren, verführen sie die Rezipienten zu lukullischem Genuß. Diese, zum Widerstand gegen solche Verlockung offenbar außerstande, verfallen — durch Gewöhnung an diese bequeme, von Leistungsanforderungen vollends entbundene Konstellation — einer Schlaraffenland-Attitüde. Der habituell gewordene Konsum des Schönheitskonzentrats in Gestalt der Kunstwerke verringert die Empfänglichkeit für die weniger konzentrierte und nicht so bequem zum Genuß dargebotene Naturschönheit. Diese zunehmende Desensibilisierung für Naturschönheit verbindet sich mit einer überzogenen Anspruchshaltung, in der das Subjekt fortwährend eine dem (Objekte ,mundgerecht' anbietenden) Schlaraffenland-Service ähnelnde äugen- und ohrengemäße Zubereitung und Präsentation des Schönheitsextrakts erwartet. Auffällig wirkt hier übrigens Schopenhauers verbildlichte Darstellung der Relation zwischen Kunstschönem und Naturschönem. Beide geraten nämlich überraschenderweise in einen Kausalzusammenhang. Denn Kunstschönes muß hier nicht durch eine kreative künstlerische Leistung allererst hervorgebracht werden; als abtrennbarer Bestandteil von Naturdingen scheint Schönheit immer schon vorhanden zu sein. Dabei tritt sie weder als Qualität eines Objekts, also mit akzidentellem Status in Erscheinung, noch kann sie als Ergebnis spezifischer Konstitutionsleistungen eines Subjekts gelten, das mit interesselosem Wohlgefallen ein Objekt als solches selbst zu erkennen trachtet. Vielmehr erfolgt in dem zitierten Textstück eine Hypostasierung der Schönheit, mithin eine Verselbständigung, ja geradezu Materialisierung zu einem selber Dinglichen. Erst auf dieser Basis wird Schopenhauers bildliche Vorstellung überhaupt möglich, die Künstler seien bemüht, den „Firnis der Schönheit", mit dem die Natur alle Dinge überzogen habe, „abzustreifen, um ihn dann aufgehäuft zum bequemen Genuß uns darzubringen".72 Bereits diese Stelle führt deutlich vor Augen, in welcher Weise Schopenhauer die Aura, die traditionell sowohl das Kunstwerk als auch seinen Produzenten umgibt, in seiner Parabel systematisch destruiert. Übrig bleibt — in Gestalt bloßen ,Abstreifens' und ,Aufhäufens' — schließlich nur noch eine künstlerische Pseudoleistung, die mit kreativer Schöpfung nichts mehr ge72

PP II S. 763.

§ 1 6 . Die Differenz zwischen Kunstschönem und Naturschönem

313

mein hat. Anfechtbare Auswüchse einer Genie-Ideologie, der Schopenhauer sonst durchaus nicht immer fernstand 73 , werden hier so nachhaltig demontiert, daß der vormals zum „Makrokosmos" 74 erweiterte Künstler geradezu auf ein Rudiment zusammenschrumpft — als bloßer Jäger und Sammler der längst schon vorhandenen schönen Oberflächenphänomene. Schopenhauers Demontage setzt sich dort fort, wo er darlegt, inwiefern gerade die Erfüllung des Kunstzwecks eine kontraproduktive Wirkung entfaltet. Ästhetische Einstellung zu Naturschönem nämlich, laut Schopenhauer größeres Engagement erfordernd, scheint für den verwöhnten Rezipienten nunmehr vollends unmöglich zu werden. Schopenhauer bringt dessen Unfähigkeit plastisch durch die Vorstellung zum Ausdruck, daß die Dinge, durch den Künsder vom „Firnis der Schönheit [...] entblößt" 75 , ihren Reiz verloren haben und den Betrachter kaum noch aus seiner Reserve zu locken vermögen, ja bisweilen gar Abscheu in ihm auslösen. Bloß einen Ausweg gibt es aus diesem wenig wünschenswerten Zustand: den Verzicht auf das lockende Angebot zu lukullischem Konsum, das eine von entwendeter (und dadurch ihrem Ursprung entfremdeter) Schönheit strotzende Kunst macht. Daher empfiehlt Schopenhauer, den Schönheitsfirnis auf den Dingen zu lassen, damit das Subjekt selbst ihn finden kann. Nur in dem Maße also, wie es sich von seiner Schlaraffenland-Attitüde zu befreien vermag, erhält es die Chance, sich vom Künstler unabhängig und dessen Produkt, die Kunst (als Modus entfremdeter Schönheit!), überflüssig zu machen. Um die Möglichkeit zu genuinem Naturgenuß wiederzugewinnen, ist also Eigeninitiative gefordert; engagierte Aktivität soll an die Stelle einer passiv-rezeptiven Konsumhaltung treten. Zwar gerät Schopenhauers Position hier durch seine radikale Kunstskepsis ins Extrem und hat eine Polarisierung von Passivität des Subjekts angesichts des Kunstschönen und seiner Aktivität in der Einstellung zu Naturschönem zur Folge; die weiter oben in diesem Paragraphen dargelegte Grundtendenz seiner Differenzierung zwischen Natur- und Kunstschönem bleibt allerdings auch hier erhalten. Hinzuweisen ist auf eine eigentümliche Ambivalenz in Schopenhauers Textstück: In dem von ihm beschriebenen Status quo besteht ein Vorrang des Kunstschönen vor dem Naturschönen, sofern nämlich der Mensch erst durch einen zweiten Schritt in die Natur gelangt und dabei einer — durch den vorherigen exzessiven Kunstkonsum bereits programmierten — EnttäuVgl. dazu beispielsweise PP II S. 84, 94, 578. 74 w v ? V II S. 497. 7 5 PP II S. 763. 73

314

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

schung anheimfällt. Im Status quo ante jedoch zeigt sich in doppelter Hinsicht ein Primat des Naturschönen vor dem Kunstschönen, und zwar produktionsästhetisch insofern, als das Vorhandensein des Naturschönen für die Hervorbringung des Kunstschönen vorauszusetzen ist, außerdem rezeptionsästhetisch im Hinblick auf das in die Vergangenheit projizierte Ideal eines vom Kunstgenuß noch nicht verdorbenen Naturmenschen. Die Aktivität der Künstler hingegen verfällt implizit dem Verdikt Schopenhauers, sind sie es doch, die den Reizverlust der Natur durch deren nachträgliche Entblößung von Schönheit eigentlich verschuldet haben. Soll sich der Künstler also in Zukunft jeglicher Produktion enthalten, um den durch besonderes Engagement wiederzugewinnenden Zugang der Menschen zum Naturschönen nicht erneut zu verschütten? Was aber bleibt dem Künstler dann überhaupt noch zu tun? — Diese Fragen läßt Schopenhauer unbeantwortet. Bezeichnenderweise kommt er auf den Künstler am Ende des Textes auch nicht mehr zu sprechen. Stattdessen eröffnet er dem Leser einen Blick auf das utopisch-sentimentalische Ideal eines Naturmenschen 76 , der, von schönen Künsten unverdorben und von ihnen zu lukullischer Schlaraffenland-Attitüde noch nicht verführt, sich die Fähigkeit zu ursprünglicher ästhetischer Freude an der Natur bewahren konnte. — Von einer ihrem Ursprung entfremdeten Kunst-Schönheit also zurück zu genuiner Natur-Schönheit? Zurück also ins Arkadien einer von schädigenden Wirkungen der Kunst noch unberührten Natur? — Das Ende der Kunst als heilsame Utopie? 77

76

77

Diese Idealvorstellung läßt an Schillers Konzept des Sentimentalischen in der Abgrenzung vom Naiven denken, das er in seiner Schrift „Uber naive und sentimentalische Dichtung" (1795) entfaltet. Außerdem liegen Assoziationen an Rousseaus Kulturkritik nahe, die er vor allem in seinem „Discours sur les Sciences et les Arts" (1750) darlegt. Der Stellenwert dieses Textstücks im Gesamtkontext von Schopenhauers Ästhetik ist nicht leicht zu bestimmen. Vielleicht hat Volker Spierling mit einer Vermutung recht, die er in seiner Einleitung zu Teil III der von ihm herausgegebenen Vorlesungen Schopenhauers („Metaphysik des Schönen") äußert. Die Passage aus den PP II (S. 763 — 764) kommentiert er folgendermaßen: „Gegen Ende seines Lebens muß Schopenhauer die strikte Trennung von Leben und Kunst als schmerzlich empfunden haben" (MS S. 33). Eine adäquate Einschätzung von Schopenhauers Textstück wird dadurch erschwert, daß die in ihm vorherrschende radikale Kunstskepsis singulär zu sein scheint, (jedenfalls ist mir keine auch nur annähernd vergleichbare Aussage in seinem Werk bekannt.) Die Tatsache, daß die Passage sich in den „Parerga und Paralipomena" unter der Uberschrift „Gleichnisse, Parabeln und Fabeln" findet, könnte darauf schließen lassen, daß dieses Textstück mit seiner auffalligen Kunstskepsis einen experimentellen Charakter hat, so daß auch seine resignativ-pessimistische Haltung und die pejorative Kunstdeutung nicht ohne spielerische Note und daher im Horizont der sonstigen Ästhetik-Konzepte Schopenhauers zu relativieren sind. — Entsprechendes gilt natürlich auch für meine an Schopenhauer anknüpfenden und bewußt unbeantwortet gelassenen Fragen.

§ 17. Die Architektonik von Schopenhauers Hierarchien ästhetischer Objekte I. In diesem Paragraphen sind verschiedene Kriterien zu beleuchten, nach denen Schopenhauer ästhetische Naturobjekte und Kunstgegenstände systematisch klassifiziert. Dabei sollen insbesondere die Modi von Hierarchiebildung untersucht werden, die sich im Zusammenhang mit solchen Ordnungsprinzipien abzeichnen. Leitend ist hier die Frage, ob Schopenhauers Kriterien sich sinnvoll ergänzen oder miteinander konkurrieren. Ihre Beantwortung erfordert eine Mitberücksichtigung der Relationen zwischen den verschiedenen Hierarchien ästhetischer Objekte, so daß letztlich deren Architektonik überhaupt im Blickfeld steht. Zu untersuchen sind nicht nur Konzepte Schopenhauers, die das Spektrum ästhetischer Objekte umfassend zu behandeln scheinen, sondern auch eher rudimentäre Ansätze, in denen er unter einem bestimmten Aspekt lediglich zwischen zwei oder drei Spezies differenziert, ohne eine ausgearbeitete Gattungstypologie im Sinn zu haben. Zwei Komponenten sind nach Schopenhauers Auffassung für ästhetische Einstellung konstitutiv: „Die Erkenntnis des Objekts [...] als Platonischer Idee" und „das Selbstbewußtsein des Erkennenden [...] als reinen, willenlosen Subjekts der Erkenntnis"} Diese beiden Seiten, der objektive und der subjektive Bestandteil ästhetischer Kontemplation, treten seines Erachtens „immer vereint" 2 auf. Allerdings speist sich „die Quelle des ästhetischen Genusses" 3 nicht aus beiden Komponenten gleichermaßen. Vielmehr läßt Schopenhauer gerade ein Ungleichgewicht zum Kriterium einer Differenzierung zwischen den ästhetischen Objekten avancieren. Mithin liegt der Ursprung ästhetischen Wohlgefallens „bald mehr in der Auffassung der erkannten Idee [...], bald mehr in der Seligkeit und Geistesruhe des von allem Wollen [...] befreiten

1 2 3

W W V I S. 279. W W V I S. 279. Analoge Aussagen finden sich in W W V I S. 284, 301, 3 1 1 - 3 1 2 . W W V I S. 301.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

reinen Erkennens". 4 Welches der beiden Korrelate jeweils dominiert: das hängt nach Schopenhauer davon ab, „ob die intuitiv aufgefaßte Idee eine höhere oder niedere Stufe der Objektität des Willens ist". 5 Seines Erachtens überwiegt die subjektive Komponente, der Genuß der Willenlosigkeit, bei ästhetischer Betrachtung von Anorganischem und Vegetabilischem in Natur und Kunst, und zwar deshalb, „weil die hier aufgefaßten Ideen nur niedrige Stufen der Objektität des Willens, daher nicht Erscheinungen von tiefer Bedeutsamkeit und vielsagendem Inhalt sind". 6 Den hier bereits präfigurierten Kontrast zu den höheren Stufen macht der Folgesatz explizit: Sind nämlich Tiere oder Menschen der Gegenstand ästhetischer Betrachtung oder Darstellung, so dominiert die objektive Komponente des Wohlgefallens, nämlich die Auffassung „dieser Ideen, welche die deutlichsten Offenbarungen des Willens sind", weil sie „die größte Mannigfaltigkeit der Gestalten, Reichtum und tiefe Bedeutsamkeit der Erscheinungen darlegen und uns am vollkommensten das Wesen des Willens offenbaren". 7 Zweifellos verbindet sich mit dieser Klassifikation eine qualitative Wertung. 8 Drei Superlative verleihen der zuletzt zitierten These eine gewisse Emphase. Zugleich markieren sie den Zenit einer durch quantitativ-graduelle Unterschiede bestimmten Stufenreihe. Dem superioren oder inferioren Status gemäß, den eine Idee jeweils innerhalb dieser Stufenfolge erhält, ist der Natur- oder Kunstgegenstand, in dem sie zum Ausdruck kommt, im oberen oder unteren Bereich von Schopenhauers Hierarchie zu piazieren. Diese durch quantitativ-graduelle9 Differenzierung entstehende Stufenreihe weist 4 5 6 7 8

9

W W V I S . 301. W W V I S. 301. W W V I S. 301. Vgl. ferner ΗΝ I S. 299, wonach diese Ideen „nicht sehr bedeutend sind". W W V I S. 301. Die qualitative Bewertung, die Schopenhauer mit dieser quantitativ-graduellen Differenzierung verbindet, tritt insbesondere dort hervor, wo er bestimmte Ideen pejorativ als „nur niedrige Stufen der Objektität des Willens" bezeichnet (vgl. W W V I S. 301). Auch dort, wo Schopenhauer zwei Vorzüge besonderer Schönheit betont, liegt seiner Einschätzung eine quantitativ-relative Unterscheidung zugrunde: Sehr schön ist ein Ding nämlich erstens „dadurch, daß es als einzelnes Ding, durch das sehr deutliche, rein bestimmte, durchaus bedeutsame Verhältnis seiner Teile die Idee seiner Gattung rein ausspricht und [...] die Idee derselben vollkommen offenbart" (WWV I S. 298, wörtliche Entsprechungen in MS S. 118). Der Vorzug „besonderer Schönheit eines Objekts" besteht laut Schopenhauer zweitens „darin, daß die Idee selbst, die uns aus ihm anspricht, eine hohe Stufe der Objektität des Willens und daher durchaus bedeutend und vielsagend sei" (WWV I S. 298, fast ganz übernommen in MS S. 118). Aus beiden Thesen folgert Schopenhauer, der Mensch sei „vor allem andern schön und die Offenbarung seines Wesens das höchste Ziel der Kunst" (WWV I S. 298, MS S. 118). An derselben Stelle findet sich eine ergänzende Differenzierung: „Menschliche Gestalt und menschlicher Ausdruck sind das bedeutendeste Objekt der bildenden Kunst so wie menschliches Handeln das bedeutendeste Objekt der Poesie". In den zuvor dargestellten Wertungskontext lassen sich diese Thesen offenbar bruchlos integrieren.

§17. Schopenhauers Hierarchien ästhetischer Objekte

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allenfalls an der Stelle eine gewisse Zäsur auf, wo ein qualitativer Umschlag von der Dominanz der subjektiven Komponente zum Uberwiegen der objektiven Seite erfolgt. Das quantitativ-relative Differenzierungskriterium erhellt auch aus Schopenhauers Auffassung, „alle Dinge stellen sich um so schöner dar, je mehr man sich bloß ihrer und je weniger man sich seiner selbst bewußt ist". 10 Mit dem von Schopenhauer behaupteten Primat der objektiven Komponente bei ästhetischer Kontemplation höherstufiger Ideen scheint diese These problemlos kompatibel zu sein. Schopenhauers Postulat einer auch in ästhetischer Einstellung sich fortsetzenden dualen Struktur eines Bewußtseins, in dem sich die objektive Komponente mit der subjektiven verbindet, kommt in seiner These zum Ausdruck, bei der Ideenkontemplation bleibe das ästhetische Subjekt „sich seiner und seiner Tätigkeit eben als eines solchen doch bewußt". 11 Ihr entspricht Schopenhauers Aussage über menschliche Schönheit als Klimax von Schönheit überhaupt: „Sosehr hier aber auch die objektive Seite des Schönen hervortritt; so bleibt die subjektive doch ihre stete Begleiterin".12 Ohne ein spezifisch ästhetisches Selbstbewußtsein entfiele die beschriebene Dualität der Bewußtseinskomponenten, aus deren jeweiliger Gewichtung Schopenhauer seine Rangskala ästhetischer Objekte ableitet.

Die Textbelege, die eine Vollkommenheit der Willensoffenbarung mit dem hohen Rang auf der Skala der Willensobjektivationen verknüpfen, beziehen sich auf verschiedene ontologische Ebenen: Einerseits spricht Schopenhauer von Graden der Deudichkeit, mit der sich der Wille in den Ideen objektiviert (vgl. WWV I S. 301), andererseits geht es ihm um das Einzelding, das „die Idee seiner Gattung" jeweils mit größerer oder geringerer Deutlichkeit und Reinheit zum Ausdruck bringt (vgl. WWV I S. 298). 10 WWV II S. 475. Analog: S. 474. 11 PP II S. 491. Uberraschenderweise behauptet Schopenhauer auf derselben Seite: „Das reine Subjekt des Erkennens tritt ein, indem man sich vergißt, um ganz in den angeschauten Gegenständen aufzugehn, so daß nur sie im Bewußtsein übrigbleiben". 12 WWV I S. 3 1 1 - 3 1 2 . Analog: S. 279. An die Stelle variierender Anteile innerhalb einer invers bestimmten Korrelation scheint jedoch eine Ausschließlichkeit der objektiven Komponente zu treten, wenn Schopenhauer behauptet: „Zum reinen, willenlosen Erkennen kommt es also, indem das Bewußtsein anderer Dinge sich so hoch potenziert, daß das Bewußtsein vom eigenen Selbst verschwindet" (WWV II S. 475). Auf der Folie der Analysen von § 12 allerdings, in denen sich als Fokus ästhetischer Kontemplation eine Selbst- und Weltbewußtsein gleichermaßen umfassende Wesenserkenntnis ergab, erweist sich diese Aussage als vordergründig; nur unter Außerachtlassung der zentralen willensmetaphysischen Konzeption Schopenhauers könnte man eine resdose Elimination des Selbstbewußtseins im Falle ästhetischer Kontemplation vermuten. Uberzeugend erscheint demgegenüber Schopenhauers Differenzierung zwischen dem Primat der objektiven respektive subjektiven Bewußtseinskomponente insofern, als sie - gemäß der zitierten These aus WWV I S. 3 1 1 - 3 1 2 — eine grundsätzlich bestehende und nicht aufhebbare Dualität von Selbst- und Gegenstandsbewußtsein voraussetzt.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Stellt man sich nun die Frage, ob Schopenhauers These von der Dominanz der objektiven Komponente ästhetischen Wohlgefallens bei der Kontemplation höherstufiger Ideen einerseits und vom Uberwiegen der subjektiven Seite bei ästhetischer Erkenntnis der Ideen niederer Stufe andererseits plausibel wirkt, so liegt zunächst eine positive Antwort nahe. Denn durchaus nachvollziehbar erscheint die Annahme, das Subjekt wende sich gerade bedeutenden ästhetischen Objekten mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu, so daß ein Bewußtsein der eigenen Befindlichkeit in ästhetischer Einstellung demgegenüber eher in den Hintergrund tritt. Bei Objekten hingegen, deren geringeres ästhetisches Potential die Konzentration des Betrachters nicht voll in Anspruch nimmt, könnte bewußter Selbstgenuß des durch ästhetisches Wohlgefallen erfüllten Subjekts einen höheren Stellenwert bekommen, vielleicht sogar in der Weise, daß sich die Funktion des Gegenstandes in einem katalysatorischen Impuls bereits erschöpft. Fragwürdig erscheint allerdings Schopenhauers Tendenz, den Grad von Bedeutsamkeit, den ein Objekt durch sein ästhetisches Potential erhält, grundsätzlich an den Rang der in ihm sich manifestierenden Idee zu binden. Dem ästhetischen Einzelfall wird dort zu wenig Rechnung getragen, wo die Plazierung der jeweils relevanten Idee auf Schopenhauers Skala bereits die Wertigkeit für das konkrete ästhetische Objekt vorgibt.

II. Zu untersuchen ist nun, welches Verhältnis zwischen der Hierarchie ästhetischer Objekte, die aus dem jeweiligen Überwiegen der subjektiven oder der objektiven Bewußtseinskomponente hervorgeht, und der Unterscheidung von Naturschönem und Kunstschönem besteht. Im Rahmen der Hierarchie ästhetischer Objekte differenziert Schopenhauer zwischen der Fiktionalität des künsderischen Artefakts und der Faktizität der Wirklichkeit erstaunlicherweise nur in Parenthese; ein beiordnendes „oder" stellt Kunst und Realität gleichberechtigt nebeneinander und läßt sie gewissermaßen gegeneinander austauschbar, die Spezifika mithin vergleichsweise irrelevant 13 erscheinen: „So wird bei ästhetischer Betrachtung (in der Wirklichkeit oder durch das Medium der Kunst) der schönen Natur im Anorganischen und Vegetabilischen und der Werke der schönen Baukunst der 13

Wohlgemerkt: nur in diesem Kontext! Hingewiesen sei auf die in § 16 ausführlich behandelten Differenzen zwischen Kunst- und Naturschönem.

§17. Schopenhauers Hierarchien ästhetischer Objekte

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Genuß des reinen willenlosen Erkennens überwiegend sein", weil die darin sich manifestierenden Ideen den niedrigeren, weniger bedeutsamen Stufen der Objektität des Willens angehören. 14 In diesem Zitat erhält die Differenz zwischen ästhetischen Objekten in Natur und Kunst offenbar nur einen untergeordneten Stellenwert. Aber lassen sich die in § 16 behandelten Aussagen Schopenhauers, nach denen „das Bild der Idee nähersteht als die Wirklichkeit" 15 und der geniale Künstler „die Natur in seiner Darstellung übertrifft" 1 6 , bruchlos ins Konzept einer Stufenfolge ästhetischer Objekte integrieren? Nehmen Kunstwerke demnach auf Schopenhauers Skala eo ipso einen höheren Rang ein als ästhetische Naturobjekte? Und wie ist in diesem Rahmen seine These einzuschätzen, das Kunstwerk erleichtere die Ideenerkenntnis 17 : indem es einerseits durch Elimination von Unwichtigem ein Konzentrat des Wesentlichen biete 18 , andererseits insofern, als die zu objektiver Erkenntnis erforderliche Willenlosigkeit am leichtesten durch ein Objekt erzielt werde, das als Artefakt außerhalb der Sphäre der Dinge liegt, „welche einer Beziehung zum Willen fähig sind"? 1 9 Zwar scheint die größere Nähe zur Idee, die das Kunstwerk gegenüber der Wirklichkeit auszeichnet, ihm zugleich auf der Wertungsskala einen Primat vor dem Naturschönen zu sichern. Dennoch ist der Eindruck nicht berechtigt, die bloß parenthetische Unterscheidung zwischen Kunst und Natur in der zitierten Aussage beinhalte notwendigerweise eine unangemessene Nivellierung grundlegender Differenzen. Denn die (verglichen mit der Wirklichkeit) größere Ideenähe der Kunst läßt doch den Status der Ideen selbst sowie deren Rangordnung gänzlich unberührt. Nach Schopenhauer scheint eine Rangskala dieser Ideen also unabhängig von der Unterscheidung zwischen Fiktionalität der Kunst und Faktizität der Wirklichkeit zu sein. Die beiden Differenzierungsansätze lassen sich deshalb miteinander vereinbaren, weil sie auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind und infolgedessen nicht in einen Konflikt miteinander geraten.

WWV I S. 301. PP II S. 498. 16 WWV 1 S. 313. 17 Vgl. WWV II S. 477, MS S. 197. Hingegen erfordert „das Auffassen der Ideen aus der Wirklichkeit [...] eine besondere Schwungkraft des Intellekts", über die in höherem Grade nur das Genie verfügt (WWV II S. 477). Vgl. dazu § 16 dieser Arbeit. 18 Vgl. WWV II S. 477. 19 WWV II S. 477. Dazu ausführlicher: § 16.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

III. Wenden wir uns nun der Rangskala ästhetischer Objekte aus einer anderen Perspektive zu. In Schopenhauers Vorlesungen zur „Metaphysik des Schönen" finden sich auch unter produktionsästhetischem Aspekt Ansätze zu einer Stufenreihe. Dort, wo Schopenhauer zwischen höheren und niederen Stufen der Objektität des Willens differenziert und Ideen des obersten Ranges als deutlichste und vollkommenste Offenbarungen des Willens bezeichnet 20 , scheint sich eine gewisse Analogie zu der These anzudeuten, den Genies stelle sich die Welt „objektiver, mithin reiner und deutlicher" als den übrigen Menschen dar 21 , ja Genialität sei geradezu „die vollkommenste Objektivität"?2· Die besagten Unterscheidungen legen die folgende Spekulation nahe: Ist das oben komparativisch und superlativisch zum Ausdruck gebrachte Maß an Vollkommenheit, Deudichkeit, Objektivität der genialen Erkenntnisweise vielleicht mitbedingt durch den jeweils relevanten ästhetischen Gegenstand, so daß Künsder, die in ihren Werken vorwiegend oder ausschließlich Roheren' Ideen Gestalt verleihen, denjenigen überlegen sind, deren Produktivität nur zur Beschäftigung mit .niedrigeren' Ideen ausreicht? — Tatsächlich korrespondiert in Schopenhauers Ästhetik der Grad an Deutlichkeit, in dem die Ideen den Willen offenbaren, mit den Abstufungen von Genialität bei denen, die in ihren Werken Ideen künsderisch zum Ausdruck bringen. Den Zenit von Genialität erreichen im Rahmen dieser Konzeption nur die zur Darstellung des Menschen befähigten Künsder. Trotz ähnlicher Hierarchisierungstendenzen unterscheidet sich allerdings das produktionsästhetische Argument Schopenhauers grundlegend von der zuvor behandelten ontologischen Perspektive, nach der das Kriterium für den Rang einer Idee in der besonderen Deutlichkeit und Vollkommenheit besteht, mit der sie „das Wesen des Willens" offenbart. 23 Die folgende produktionsästhetische Textpassage aus Schopenhauers ästhetischen Vorlesungen zur „Metaphysik des Schönen" zeigt die Unterschiedlichkeit der Perspektiven: „für den menschlichen Willen ist unter allen Objekten dasjenige welches ihn am leichtesten anregt, weil es die stärksten und meisten Beziehungen 2 0 Vgl. W W V I S. 301. 21 WWV II s. 485. Vgl. auch W W V II S. 316: das Erkennen ist „um so reiner und vollkommener, je mehr es sich vom Willen losgemacht und gesondert hat". Parallelstelle: Kl. Sehr. S. 399. 22 W W V I S. 266. 23 W W V I S. 301.

§ 1 7 . Schopenhauers Hierarchien ästhetischer Objekte

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zu ihm hat, der Mensch; die Thiere und die erkenntnislose Welt weniger: daher gehört der höchste Grad von Genie dazu den Menschen zum Gegenstand seiner willensreinen Auffassung zu machen, also die Idee des Menschen künsderisch aufzufassen und darzustellen". 24 Aus dieser These zieht Schopenhauer gattungstypologische Konsequenzen: „Darum eben ist es nur das größte Genie dem das Kunstwerk gelingt dessen Gegenstand der Mensch ist, also die Historienmalerei, die Bildhauerei, das Trauerspiel, das Epos". 25 Mit der Intensität der Wirkung, die der darzustellende Gegenstand jeweils auf den Willen des Künsders hat, ist also ein proportionaler Anspruch an dessen Leistungsfähigkeit verknüpft. Besonderer Kraftanstrengung bedarf das Genie, um trotz starker Beziehungen der Objekte zu seinem Willen den Eintritt in ästhetische Kontemplation zu vollziehen. Ein in diesem Sinne weniger begabtes Genie erhält auf Schopenhauers Genialitätsskala einen inferioren Rang: Schon „ein niedrer Grad von Genie" genügt, um „die Thierische und erkenntnislose Natur rein aufzufassen, d. h. sie anzuschauen ohne daß der Wille erregt werde, eben weil ihre Beziehungen zum eignen Willen des Künsders nicht so zahlreich, stark und unmittelbar sind; daher ist es ein niedrer Grad von Genie der sich zeigt in der Malerei der Thiere, der Landschaft, des Stilllebens, in der beschreibenden Poesie, in der Baukunst. — " 2 6 Weil die vegetabilische und animalische Natur den Willen des Genies schwächer affiziert, reicht zu deren künsderischer Auffassung und Darstellung ein geringeres ästhetisches Potential aus. Die Entsprechung zwischen niedrigeren oder höheren Stufen der Willensobjektität einerseits und der Inferiorität oder Superiorität des sie darstellenden Genies andererseits zeigt eine Analogie zwischen ontologischen und produktionsästhetischen Differenzierungen. Mit dem Rang der jeweils relevanten Idee korrespondiert offensichtlich die Genialitätsstufe des sie darstellenden Künsders sowie eine gattungstypologische Klassifikation, in deren Rahmen die mit der Darstellung des Menschen befaßten Kunstgattungen den obersten Rang erhalten. Nur in Werken, die ihre Entstehung Künsdern von höchstgradiger Genialität verdanken, kommen die Ideen zum Ausdruck, die Schopenhauer durch besonderen „Reichtum und tiefe Bedeutsamkeit" ausgezeichnet sieht. 27 Die Argumentation, auf der Schopenhauers werkästhetische Beurteilung beruht, weist also eine subjekt- und eine objektbezogene Komponente auf. MS S. 73 — 74. Eine Parallelstelle mit wörtlichen Entsprechungen findet sich in HN III S. 21. MS S. 74. 2 6 MS S. 74. Vgl. auch HN III S. 21. 27 W W V I S. 301. 24 25

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Diese Duplizität der Perspektiven läßt die Hierarchie der Kunstgattungen bei Schopenhauer auch in doppelter Hinsicht fundiert erscheinen, und dies um so mehr, als beide Ansätze nicht nur miteinander kompatibel sind, sondern — als Ausdruck der auch für ästhetische Einstellung konstitutiven SubjektObjekt-Korrelation - einander sogar produktiv ergänzen. Dieser Ausgewogenheit steht ein anderer Ansatz Schopenhauers diametral gegenüber: Ebenfalls in seinen ästhetischen Vorlesungen zur „Metaphysik des Schönen" vertritt er die Auffassung, gerade die künstlerische Darstellung relativ unbedeutender Objekte setze besonderes Engagement auf selten des genialen Künsders voraus.28 Unverständlich erscheint dieses Postulat angesichts der These Schopenhauers, ein gesteigertes Leistungsvermögen des Künstlergenies sei für die gegensätzliche Konstellation, nämlich für künstlerische Darstellung des Menschen als des bedeutendsten Objekts, erforderlich. Diese Thesen stehen in ganz unterschiedlichen Argumentationskontexten. Das zeigt die folgende Alternative: „Entweder ist es ein Objekt, welches durch die Macht seiner Schönheit, d. h. durch seine bedeutsame Gestalt, unsre Erkenntniß endlich ganz abzieht von dem eignen Willen und seinen Zwecken; oder durch innre Stimmung befreit sich die Erkenntniß vom Dienste des Willens". 29 Welche dieser beiden Möglichkeiten jeweils realisiert wird: das hängt nach Schopenhauers Auffassung wesentlich vom ästhetischen Potential des Objekts ab. Durch gesteigerte Aktivität des genialen Intellekts im Sinne einer „innern Kraft des künsderischen Gemüths" läßt sich das Defizitäre eher bedeutungsarmer Objekte kompensieren, so daß „auch das Unbedeutende in der Darstellung ästhetisch" 30 wirken kann. Schopenhauer exemplifiziert diese These durch Stilleben und Landschaftsgemälde der Niederländischen Schule; solche Bilder verdanken ihre Entstehung der Befähigung des Künsders zu objektiver Betrachtung auch der „unbedeutendesten Gegenstände". 31 Besonderes Engagement des Subjekts macht „jedem Objekt gegenüber, unter jeder Umgebung" 32 ästhetische Kontemplation möglich. Ein inverses Kräfteverhältnis bestimmt die folgende Konstellation: „die Schönheit d. h. die bedeutsame seine Idee ausdrückende Gestalt des Objekts" er28 29 3(1 31

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Vgl. MS S. 93. MS S. 92. Vgl. dazu auch § 4 dieser Abhandlung. MS S. 93. MS S. 93. Im Rezipienten löst die Betrachtung eines solchen Bildes nach Schopenhauer eine Art von Rührung aus, „denn es vergegenwärtigt ihm den ruhigen* stillen, willenslosen Gemüthszustand des Künstlers, der nöthig war, um so unbedeutende Dinge, so objektiv anzuschauen" (a. a. O.). Vermehrt wird diese Rührung des Betrachters durch den Kontrast zur „eignen, unruhigen, durch Wollen jeder A r t getrübten Gemüthsverfassung" (a. a. O.). M S S. 93.

§ 1 7 . Schopenhauers Hierarchien ästhetischer Objekte

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leichtert dem Subjekt durch ihr .Entgegenkommen' den Eintritt in ästhetische Kontemplation erheblich. 33 Nachdrücklich vertritt Schopenhauer die Auffassung, daß es einem solchen Objekt kraft seiner Schönheit „fast immer gelingt", den Menschen von seiner Subjektivität und „vom Sklavendienst des Willens zu befreien". 34 Dieses variable Verhältnis zwischen der subjektiven und der objektiven Komponente prägt Schopenhauers dynamische Konzeption der ästhetischen Subjekt-Objekt-Beziehung: Je schwächer das zur Kontemplation ,einladende' oder gar .zwingende' Potential des ästhetischen Objekts, desto höher der Anspruch an die engagierte Aktivität des ästhetischen Subjekts. 35 Und umgekehrt: Je mehr das Objekt ästhetischer Betrachtung selbst bereits entgegenzukommen vermag 36 , desto weniger Aktivität des Subjekts ist erforderlich, so daß es eine Haltung passiver Rezeptivität einnehmen kann. Von dieser Inversion der dynamischen Kräfteverhältnisse in der ästhetischen Subjekt-Objekt-Korrelation unterscheiden sich die zuvor dargestellten Entsprechungen zwischen Ideenhierarchie und Genialitätsskala erheblich: Hier korrespondieren jeweils Bedeutsamkeit des Objekts und das Erfordernis kraftvollen Engagements auf selten des Künstlers. Die Differenz zwischen Inversion und Proportionalität führt aber nicht notwendigerweise einen Widerspruch herbei. Denn die Analogie der Kräfteverhältnisse setzt den Willensbezug voraus, die Inversion hingegen klammert — gemäß Schopenhauers Aussagen 37 — voluntative Aspekte gerade aus und beschränkt sich auf den ästhetischen Bereich. Zu unterscheiden ist mithin zwischen zweierlei Wirkkraft des Objekts: einer solchen, die den Willen affiziert und dadurch ästhetisch-willenlose Betrachtung erschwert, und einer solchen, die gerade die ästhetische Kontemplation fördert. Im ersten Falle steigert sich proportional zum (auf den Willen des Subjekts gerichteten) Potential des Objekts zugleich der Anspruch an die Leistungsfähigkeit (im Sinne einer Widerstands33

34 35

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M S S. 93. V o m .Entgegenkommen' der Objekte ist die Rede in: MS S. 94; W W V I S. 2 8 1 , 286, 298. MS S. 94. Vgl. dazu § 4 dieser Arbeit. In W W V I S. 2 9 8 bemißt Schopenhauer den Grad der Schönheit eines Objekts danach, in welchem Maße es ästhetische „Betrachtung erleichtert, ihr entgegenkommt, ja gleichsam dazu zwingt". Ihre Klimax erreicht Schopenhauers anthropomorphistische Konzeption eines pseudointentionalen Objekts dort, w o dieses den Eintritt des Subjekts in ästhetische Einstellung sogar als seinen .Erfolg' verbuchen darf. Zu entsprechenden Aussagen in PP II S. 503 und MS S. 94 vgl. kritische Analysen in § 4 der vorliegenden Abhandlung. Vgl. jedoch § 1 2 und die dortigen Analysen zum willensmetaphysischen Horizont v o n Schopenhauers Ästhetik.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

kraft) des Subjekts. Im zweiten Falle hingegen scheint das Subjekt um so leichter in passive Rezeptivität zu geraten, je größer die Macht entgegenkommender ästhetischer Objekte ist, so daß inverse Kräfteverhältnisse die ästhetische Subjekt-Objekt-Beziehung prägen. Berücksichtigt man diese entscheidende Differenz, so scheinen die proportionalen Verhältnisse mit den inversen Relationen durchaus kompatibel zu sein. Noch komplexer wird die Situation dadurch, daß eine Vereinbarkeit von Proportionalität und Inversion nicht auf jeder Stufe innerhalb der Hierarchie ästhetischer Objekte auch tatsächlich gegeben ist. Den Grad der Schönheit eines ästhetischen Objekts bemißt Schopenhauer danach, in welchem Maße es ästhetische Einstellung durch sein Entgegenkommen erleichtert.38 Wenn „der Mensch vor allem andern schön" 39 ist, dann hat die menschliche Schönheit nicht allein als „die vollkommenste Objektivation des Willens auf der höchsten Stufe seiner Erkennbarkeit" 40 zu gelten. Vor allem muß sie dem Betrachter mehr als Schönheit in anderer Gestalt .entgegenkommen'. So ist es konsequent, wenn Schopenhauer behauptet, daß „kein Objekt uns so schnell zum rein ästhetischen Anschauen hinreißt wie das schönste Menschenantlitz und Gestalt", deren Anblick „uns auch am leichtesten und schnellsten in den Zustand des reinen Erkennens versetzt". 41 Hier, im Bereich der Klimax von Schopenhauers Hierarchie ästhetischer Objekte, geraten Proportionalitätskonzept und Inversionsthese offenbar in ein Konkurrenzverhältnis. Einerseits versetzt die Einzigartigkeit menschlicher Schönheit den Betrachter besonders leicht in ästhetische Einstellung, andererseits aber „gehört der höchste Grad von Genie dazu den Menschen zum Gegenstand seiner willensreinen Auffassung zu machen", weil gerade der Mensch „die stärksten und meisten Beziehungen" zu dessen Willen hat. 42 Proportionalität und Inversion in der ästhetischen Subjekt-Objekt-Korrelation konkurrieren allerdings nicht allein bei ästhetischer Betrachtung des Menschen. Bezeichnet Schopenhauer „die Schönheit d. h. die bedeutsame seine Idee ausdrückende Gestalt des Objekts" als Auslöser „des reinen Erkennens" 43 , so steht hier — entgegen berechtigter Vermutung — keineswegs der Mensch im Blickfeld,

Vgl. dazu die oben in einer Anmerkung zitierte Textstelle aus W W V I S. 298. Analog: MS S. 118. 39 W W V ι s. 298. 4 0 W W V I S. 311. 41 W W V I S. 312. 4 2 MS S. 7 3 - 7 4 . 4 3 MS S. 93. 38

§ 1 7 . Schopenhauers Hierarchien ästhetischer Objekte

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sondern die ,schöne Natur'. 44 Ihre ,Bedeutsamkeit' erscheint zunächst frappierend. Denn in seiner Ideenhierarchie schien Schopenhauer Bedeutsamkeit doch für die Idee des Menschen als Klimax der Skala reserviert zu haben, während die relativ geringe Bedeutsamkeit der vegetabilischen Natur sich daran zeigte, daß er sie im unteren Bereich seiner Rangskala ansiedelte. Zur Erhellung dieser Konstellation bedarf es ebenfalls einer Differenzierung zwischen verschiedenerlei Kriterien. Von Bedeutsamkeit kann im Zusammenhang mit dem schönen Vegetabilischen allenfalls dann die Rede sein, wenn dessen Fähigkeit, den Eintritt in ästhetische Kontemplation zu erleichtern, thematisch ist. Und tatsächlich behauptet Schopenhauer in einer Abgrenzung gegenüber der animalischen Natur: „der vegetabilischen Natur [...] gelingt es [...] so leicht, uns in den Zustand des reinen Erkennens zu versetzen, der uns von uns selbst befreit"; denn sie trägt den „Ausdruck von Ruhe, Frieden und Genügen [...], während die animalische sich uns meistens im Zustande der Unruhe, der Not, ja des Kampfes darstellt". 45 Eine Bedeutsamkeit dieser Art unterscheidet sich von der durch den Rang auf der Ideenskala definierten Bedeutsamkeit grundlegend. Hinsichtlich der Bedeutsamkeit des Vegetabilischen gelangt Schopenhauer zu uneinheitlichen Resultaten, da er verschiedene Kriterien anwendet. Unbedeutend aufgrund ihres inferioren Ranges auf der Ideenskala, werden bestimmte Objekte zugleich als .entgegenkommende', die ästhetische Kontemplation erleichternde bedeutsam. Dies gilt für vegetabilische Naturschönheit nicht zuletzt aufgrund ihrer Distanz zum Willen des Subjekts, dem sie folglich keinen anstrengenden Widerstand abverlangt. Umgekehrt gestaltet sich die Ambivalenz der Kriterien im Falle menschlicher Schönheit. Aufgrund der in ihr objektivierten höchstrangigen Idee bedeutsam, scheint auch menschliche Schönheit dem Betrachter ,entgegenzukommen', und zwar insofern, als sie „die vollkommenste Objektivation des Willens auf der höchsten Stufe seiner Erkennbarkeit" ist, die den Betrachter „so schnell" wie kein anderes Objekt „zum rein ästhetischen Anschauen hinreißt". 46 Aufgrund ihrer besonderen Nähe zum Willen des Betrachters erschwert sie ihm jedoch den Eintritt in ästhetische Einstellung, indem sie 44

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Vgl. MS S. 94: Objektive Betrachtung wird „sehr erleichtert, wenn die Objekte selbst, durch ihre bedeutsame Gestalt, ihr entgegenkommen, zur reinen Anschauung von selbst einladen: dies thut besonders die schöne Natur [...]". PP II S. 503. Analog: Die schöne Natur ist es, der es „fast immer gelingt", den Menschen „vom Sklavendienst des Willens zu befreien" (MS S. 94). Ihr stellt Schopenhauer die „Unruhe und Heftigkeit" des in Tierdarstellungen ausgedrückten Willens gegenüber (WWV I S. 310). W W V I S. 3 1 1 - 3 1 2 . Vgl. auch S. 301, wo Schopenhauer die ästhetische Darstellung von Tieren und Menschen als den „deudichsten Offenbarungen des Willens" thematisiert.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

seine Widerstandskraft gegenüber einer Affektion seines Willens herausfordert. Von jeweils unterschiedlichen Perspektiven aus kann man sowohl Objekten, die höherrangige Ideen repräsentieren, als auch ästhetischen Gegenständen, die inferiore Ideen ausdrücken, Bedeutsamkeit und ,Entgegenkommen' attestieren. Daraus ergibt sich eine besondere Komplexität von Schopenhauers Rangskala ästhetischer Objekte. Übrigens ist die Erleichterungsfunktion qua Entgegenkommen noch in anderer Hinsicht ambivalent besetzt. Einerseits nämlich vertritt Schopenhauer die Auffassung, daß „vor Allem die schöne Natur" über diese Eigenschaft verfügt 47 , andererseits jedoch erklärt er mit mehreren Argumenten die Erleichterung ästhetischer Einstellung dezidiert zur Funktion der Kunst. 48 Diese analoge Charakterisierung von Kunst- und Naturschönem ähnelt den Grundstrukturen der zuvor analysierten Ambivalenz.

IV. Die bislang behandelten Ansätze zur Klassifikation ästhetischer Objekte lassen sich um weitere Differenzierungen ergänzen. Zunächst ist das Verhältnis gattungstypologischer Unterscheidungen zur Rangskala der Ideen bei Schopenhauer zu untersuchen. Ein Vergleich zwischen inferioren und superioren Kunstgattungen ergibt folgendes 49 : Allein Werke der Architektur sowie der schönen Wasserleitungsund Gartenkunst lassen sich mit Bezug auf die in ihnen sich manifestierenden Ideen bereits eindeutig auf Schopenhauers Rangskala einordnen. Denn diese Kunstgattungen bringen die Natur des Anorganischen und Vegetabilischen zum Ausdruck, stellen mithin inferiore Ideen dar und finden ihren Platz daher im unteren Bereich der Skala. Bei den höherrangigen Gattungen Malerei, Skulptur, Dichtkunst hingegen, die jeweils ein weitaus umfassenderes Spektrum von Ideen darzustellen vermögen, erweist sich eine gleichermaßen pauschale Standortbestimmung als unmöglich. Über das bloß Formale der Gattungszugehörigkeit von Werken der Poesie und bildenden Künste hinaus ist die jeweilige Thematik der einzelnen Artefakte mitzuberücksichtigen. Eine 47 48 49

M S S. 102. Vgl. ζ. B. W W V II S. 477 und entsprechende Untersuchungen in § 16. Schopenhauer selbst scheint diesen Unterschied zwischen den beiden Gruppen nicht bemerkt zu haben; jedenfalls findet sich, soweit ich sehe, in seinen Darlegungen zur Ästhetik nirgends eine Bemerkung dazu.

§ 1 7 . Schopenhauers Hierarchien ästhetischer Objekte

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größere Komplexität der anwendbaren Differenzierungskategorien kennzeichnet mithin die superioren Kunstgattungen. (Schopenhauer selbst hat diese in seiner Ästhetik naheliegende Möglichkeit der Abgrenzung allerdings nicht expliziert.) Bringt man nun Schopenhauers Ideenhierarchie mit seiner Gattungstypologie in Verbindung, so kann man auch die Werke der Poesie, Skulptur und Malerei eindeutig auf der Rangskala der Kunstobjekte piazieren. Dabei ist jeweils die Themenwahl ausschlaggebend: Stellt ein Werk der Poesie oder der bildenden Kunst Menschen oder Tiere dar, so erhält es — aufgrund der Schopenhauerschen Ideenhierarchie — einen höheren Rang auf der Skala als ein Artefakt, das sich vorzugsweise oder ausschließlich der Darstellung von Anorganischem oder Vegetabilischem widmet. 50 Demzufolge wäre die literarische Gestaltung zwischenmenschlicher Vorgänge der Tierbeschreibung oder Landschaftsschilderung grundsätzlich überlegen; Liebeslyrik beispielsweise erhielte stets den Primat vor reiner Naturlyrik. Und dementsprechend bestünde in den bildenden Künsten ein Ranggefälle von Historienmalerei und Porträt über Tiergemälde bis hinab zu Stilleben und Landschaftsmalerei. Schopenhauers eigene Aussagen bestätigen diese Folgerung: „die große Aufgabe der Historienmalerei und der Skulptur" 51 überwiegt die Funktion von „Tiermalerei und Tierbildhauerei", die ihrerseits „der Landschaftsmalerei" sowie dem „Stilleben und gemalter bloßer Architektur" überlegen sind. 52 Dieser an Schopenhauers Ideenhierarchie orientierten Gattungstypologie entspricht seine Gegenüberstellung von Historienmalerei, Bildhauerei, Trauerspiel, Epos als superioren Künsten und Tier- und Landschaftsmalerei, Stilleben, beschreibender Poesie sowie Baukunst als inferioren Gattungen. 53 Obwohl Schopenhauer entsprechende Differenzierungen vornimmt, kombiniert er die gattungstypologischen Kriterien mit der Ideenhierarchie selbst allenfalls implizit. Auch scheint er sich nicht die Frage vorgelegt zu haben, wie sich die Superiorität der Dichtkunst (verglichen mit der schwächeren Wirkkraft der bildenden Künste) 54 zum Kriterium der Ideenstufe oder 50

Cum grano salis natürlich. Für ein so puristisch konzipiertes Werkganzes lassen sich im letzteren Falle — wohl schwerlich Beispiele anführen. A u f poetische Darstellung von Anorganischem und Vegetabilischem kann eine solche Klassifikation wohl allenfalls hinsichtlich einzelner Werkpassagen sinnvoll angewendet werden. Nicht zufällig weist Schopenhauer ja primär der Dichtkunst die Aufgabe zu, die Idee des Menschen zum Ausdruck zu bringen; inferiore Ideen treten dabei in den Hintergrund.

si WWV I S. 311. 52 WWV j s. 309.

53 Vgl. MS S. 7 4 unter produktionsästhetischem Aspekt. 54

Schopenhauer begründet diese These in W W V II S. 5 4 4 — 545 mit Bezug auf den Stellenwert der Phantasie in rezeptionsästhetischer Hinsicht.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Thematik verhält. Konkurtierende Perspektiven geben Anlaß zu folgenden Fragen: Kommt beispielsweise der Historienmalerei qua Darstellung des Menschen ein höherer Rang zu als einem poetischen Werk, das vorzugsweise inferiore Ideen zum Ausdruck bringt? Oder verhält es sich gerade umgekehrt, weil die gattungstypologische Rangskala gegenüber der mit der Ideenhierarchie verbundenen Wertung primär ist? Auf Fragen dieser Art geht Schopenhauer in seiner Ästhetik nicht ein. Immerhin kann man festhalten: Die Komplexität des Kriterienarsenals selbst zeigt bereits den superioren Rang der betreffenden Kunstgattungen. Die Mehrzahl der jeweils anzulegenden Maßstäbe und in Betracht kommenden Perspektiven korrespondiert mit dem Facettenreichtum des Gegenstandes und spricht für einen höheren qualitativen Status der Gattungen Poesie, Skulptur, Malerei. Diese Argumentation läßt sich durch Unterscheidungen innerhalb der superioren Trias ergänzen: So vertritt Schopenhauer die Auffassung, „daß die Werke der Dichtkunst eine viel stärkere, tiefere und allgemeinere Wirkung ausüben als Bilder und Statuen". 55 Er begründet diese These mit der besonderen Funktion, die seines Erachtens der Phantasie bei der Rezeption poetischer Werke zukommt. Während sie eine auf die aktuale Situation des Lesers genau abgestimmte individuelle (zugleich aber besonders anspruchsvolle) Lektüre ermöglicht 56 , erfordert die Rezeption von Artefakten der bildenden als der „am schwächsten wirkenden Künste", bei denen „ein Bild, eine Gestalt allen genügen soll" 57 , „gar wenig Zeit und Anstrengung" und ist „jeden Augenblick auf einen Augenblick bereit"; Poesie und Musik hingegen stellen „ungleich beschwerlichere Bedingungen". 58 Erhöhte Anforderungen an das Engagement des Rezipienten, mit denen nach Schopenhauer offenbar eine intensivierte Wirkung des Kunstwerks korrespondiert, zählen also mit zu den gattungstypologischen Differenzierungskriterien, und zwar trotz Schopenhauers Auffassung, der Zweck der Kunst und ihr Vorrang gegenüber Naturschönem bestehe in der Erleichterung der Ideenerkenntnis.59 Zur Synthese gelangen produktionsästhetische mit rezeptions- und wirkungsästhetischen Gesichtspunkten im Falle der von Schopenhauer soge55 WWV II s. 544. Vgl. W W V II S. 5 4 4 und dazu § 15 dieser Arbeit. 57 W W V II S. 544. 58 W W V II S. 545. Vgl. dazu § 16. Ergänzt sei ein produktionsästhetisches Differenzierungskriterium: Beim Maler oder Bildhauer ist laut Schopenhauer „der Weg zwischen der genialen Auffassung und der künsderischen Produktion der kürzeste"; im Falle der Poesie oder Philosophie hingegen ist „der Hergang nicht so einfach" ( W W V II S. 487). 5 9 Vgl. ζ. B. W W V II S. 477. Zu Schopenhauers Argumentation vgl. § 16. 56

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nannten „Werke aus einem Guß". 60 Künstlerische Artefakte dieser Art mit ihrem skizzenhaften oder gar fragmentarischen Charakter verdanken ihre Entstehung und singulare Wirkkraft seines Erachtens ausschließlich ihrer Vollendung noch im Moment genialer Inspiration. Ganz aus der „Begeisterung des Augenblicks" 61 entsprungen, sind sie von nachträglicher Korrektur und diffiziler Ausarbeitung unabhängig, die beharrliche Bemühung und routinierte Technik (als Surrogate für den nachlassenden genialen Enthusiasmus) verlangen und die ästhetische Wirkung beeinträchtigen. Bezeichnenderweise exemplifiziert Schopenhauer diesen produktionsästhetischen Sonderfall mit den jeweils skizzenhaften Darstellungsmodi in Malerei, lyrischer Poesie und Musik 62 , also ausschließlich mit Werken der drei superioren Kunstgattungen. Der besondere Status der Poesie innerhalb der aus Malerei, Skulptur, Poesie bestehenden Trias höherrangiger Kunstgattungen erhellt auch aus ihrer spezifischen Beziehung zur Verneinung des Willens in Schopenhauers Ethik. Über die Idee des Menschen, den „Hauptgegenstand der Poesie" 63 , äußert sich Schopenhauer folgendermaßen: Sie offenbart „am vollkommensten das Wesen des Willens [...], sei es in seiner Heftigkeit, Schrecklichkeit, Befriedigung oder in seiner Brechung (letzteres in den tragischen Darstellungen), endlich sogar in seiner Wendung oder Selbstaufhebung", wobei „die Idee des vom vollen Erkennen beleuchteten Willens" Thema ist. 64 In der Darstellung solcher Selbstaufhebung des Willens erblickt Schopenhauer zwar auch „die höchsten und bewunderungswürdigsten Leistungen der Malerkunst" 65 ; allein das Trauerspiel aber, dem „die Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens" 66 obliegt, ist ganz im Grenz- und Vermitdungsbereich zwischen Ästhetik und Ethik angesiedelt. Zum „Gipfel der Dichtkunst" 67 avanciert die Tragödie in Schopenhauers Ästhetik durch die ihr immanente Aufforderung zur Einsicht in das Wesen der Welt, die „als Quietiv des Willens" die Resignation, die Abwendung vom Willen zum Leben herbeiführt. 68

Vgl. zu dieser Thematik W W V II S. 524, 526. 61 W W V II S. 526. 6 2 Vgl. W W V II S. 524, 526. 63 W W V I S. 342. Vgl. auch S. 353. 6 4 W W V I S. 3 0 1 - 3 0 2 . Darin sieht er den „Gipfel aller Kunst" (S. 3 2 7 - 3 2 8 ) . f.5 W W V I S. 327. 66 W W V I S. 353. 6 7 W W V I S. 353. 6 8 Vgl. W W V I S. 354. Vgl. auch W W V II S. 557: „der tragische Geist [...] leitet demnach zur Resignation hin". Weitere Stellen finden sich auf S. 559, 562. Zu dieser Thematik vgl. § 22. 60

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

V. Der besondere Rang der Kunstgattungen Poesie und Musik in Schopenhauers Ästhetik läßt sich noch durch ein anderes Argument fundieren. Ausschlaggebend hierfür ist die folgende Differenzierung Schopenhauers: Dem Willen, der „seine Ideen im Raum allein, d. h. durch die bloße Gestalt offenbart", steht der „in der Zeit allein, d. h. durch Handlungen sich offenbarende Wille" 69 gegenüber. Diese Opposition zwischen räumlichem Zugleich und zeitlichem Nacheinander avanciert bei Schopenhauer zu einem wichtigen Kriterium für die Klassifikation der Kunstgattungen. Dabei treten Poesie und Musik der Trias von Architektur, Skulptur und Malerei gegenüber, und zwar so, daß Architektur und Musik innerhalb von Schopenhauers „Reihe der Künste [...] die beiden äußersten Enden" 7 0 bilden. Als „wahre Antipoden" erweisen sie sich „ihrem innern Wesen, ihrer Kraft, dem Umfang ihrer Sphäre und ihrer Bedeutung nach"; „sogar auf die Form ihrer Erscheinung erstreckt sich dieser Gegensatz, indem die Architektur allein im Raum ist, ohne irgendeine Beziehung auf die Zeit, die Musik allein in der Zeit, ohne irgendeine Beziehung auf den Raum". 71 Nur eine „einzige Analogie" vermindert diesen fundamentalen Gegensatz: die strukturelle Entsprechung zwischen Symmetrie und Rhythmus als den spezifischen Ordnungskategorien und Einteilungsprinzipien von Architektur und Musik. 72 Allein „die äußere Form" betreffend, bleibt diese Analogie allerdings ohne Einfluß auf das Wesen dieser beiden Künste, das laut Schopenhauer „himmelweit verschieden" ist. 73 In wirkungsästhetischer Hinsicht steht die Architektur als „die beschränkteste und schwächste aller Künste" der Musik als der „ausgedehntesten und wirksamsten" gegenüber. 74 Die Bedeutung der besagten raumzeitlichen Unterscheidung erhellt aus Schopenhauers These, der Wille bedürfe „auf den höhern Stufen, um zu erscheinen, einer ganzen Reihe von Zuständen und Entwickelungen in der f.9

w w v I S. 408.

7(1

WWV II S. 581. Vgl. aber WWV I S. 306: „der Gegensatz der Architektur und das andere Extrem in der Reihe der schönen Künste [ist] das Drama, welches die allerbedeutsamsten Ideen zur Erkenntnis bringt". Analog: Η Ν I S. 416. WWV II S. 581. Ähnlich äußert sich Schopenhauer in WWV I S. 371: Musik wird „einzig und allein in und durch die Zeit mit gänzlicher Ausschließung des Raumes" perzipiert. Vgl. WWV II S. 581 — 582. Genaugenommen ist diese Analogie allerdings (anders als Schopenhauer hier behauptet) nicht die „einzige". In WWV II S. 531 betont er eine weitere Gemeinsamkeit: Wie die Musik ist auch die Architektur „keine nachahmende Kunst". WWV II S. 582. WWV II S. 5 8 2 - 5 8 3 .

71

72

73 74

§ 1 7 . Schopenhauers Hierarchien ästhetischer Objekte

331

Zeit", die insgesamt „erst den Ausdruck seines Wesens vollenden". 75 Bereits beim Tier, vor allem aber beim Menschen ist „zur vollständigen Offenbarung des in ihnen erscheinenden Willens" eine „Reihe von Handlungen" erforderlich, wodurch „eine unmittelbare Beziehung auf die Zeit" 76 entsteht. Im Bereich des Anorganischen als der untersten Stufe der Objektität des Willens genügt hingegen schon „eine einfache Äußerung". 77 Auch die Pflanze betrachtet Schopenhauer als eine „bloß räumliche Erscheinung des Willens", weil „keine Bewegung und folglich keine Beziehung auf die Zeit (abgesehn von ihrer Entwickelung) zum Ausdruck ihres Wesens gehört: ihre bloße Gestalt spricht ihr ganzes Wesen aus". 78 Aus der Raum-Zeit-Differenzierung läßt sich folgendermaßen ein neues Kriterium für die Klassifikation ästhetischer Objekte gewinnen: Im Bereich der Kunstwerke steht der Punktualität eines statischen Raum-Zugleich die Sukzession einer zeitlichen Abfolge mit ihrer Entwicklungsdynamik gegenüber. Während erstere durch die vergleichsweise einfache Struktur des Gegenstandes künsüerischer Darstellung bedingt ist, verlangt im zweiten Falle gerade der Facettenreichtum des ästhetischen Objekts andere Modi künsüerischer Gestaltung: solche nämlich, die in zeitlicher Abfolge, in prozessualem Nacheinander jener Komplexität Ausdruck verleihen können, die in der statischen Punktualität des Zugleich nur unzulänglich oder gar nicht zur Geltung käme. Denn in der Statik eines einzigen dargestellten Augenblicks kann sich nur solches bereits umfassend präsentieren, dessen Einfachheit einen Verzicht auf die allmähliche Entfaltung in sukzessiver Darstellung ohne besondere Einbußen erlaubt. Hingegen würde ein Versuch, das EntwicklungslosEinfache in prozessualem Nacheinander darzustellen, wohl unweigerlich in den Leerlauf einer bloßen Anhäufung von Redundanzen münden. Umgekehrt gilt: Je komplexer der Gegenstand künstlerischer Darstellung, desto geringer die Aussicht darauf, daß die Kunstgattungen, für die ein punktuelles Konzentrat, eine von sukzessiver Entfaltung gerade absehende Darstellungsweise charakteristisch ist, ihn adäquat zur Geltung bringen könnten. Im Falle des Menschen wäre eine solche Disproportionalität besonders auffällig. Diesbezüglich beschreibt Schopenhauer die Gestaltungsmöglichkeiten von Poesie und bildenden Künsten folgendermaßen: Zur „Darstellung der niedrigeren Stufen der Objektität des Willens" ist die bildende Kunst präde75 wwv ι s. 229. 76 W W V I S

315

77 VPWV I S. 229. 78 v r o v I S. 315. Vgl. ergänzend W W V I S. 229.

332

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

stiniert, „weil die erkenntnislose und auch die bloß tierische Natur in einem einzigen wohlgefaßten Moment fast ihr ganzes Wesen offenbart". 79 Der „Hauptgegenstand der Poesie" hingegen ist „der Mensch, soweit er sich nicht durch seine bloße Gestalt und Ausdruck der Miene, sondern durch eine Kette von Handlungen und sie begleitender Gedanken und Affekte ausspricht". 80 Mit der Superiorität der Idee des Menschen auf Schopenhauers Rangskala korrespondiert offensichtlich ein Vorrang der Poesie vor den bildenden Künsten, ist es doch laut Schopenhauer die Poesie, der es bei der Darstellung des Menschen „keine andere Kunst gleichtut, weil ihr dabei die Fortschreitung zustatten kommt, welche den bildenden Künsten abgeht". 81 Im Falle des Menschen erweist sich eine Vereinfachung aufgrund der nicht-sukzessiven Darstellungsweise der bildenden Künste als besonders folgenreich: seine Komplexität wird nachhaltig reduziert. Aus der Mannigfaltigkeit möglicher Perspektiven wählt die bildende Kunst jeweils nur ein einziges exemplarisches Segment aus, das sie aus dem dynamischen Zeitstrom der Entwicklung herausreißt und gewissermaßen in petrifizierender Statik stillstellt. In diesem Sinne ist das Stilleben nicht nur eines von mehreren möglichen Sujets der Malerei, sondern sujetunabhängiges Spezifikum der bildenden Künste überhaupt, und zwar in der Weise, daß Malerei und Skulptur per se nichts anderes hervorbringen können als eben — Stilleben. Indem der Maler „die Flüchtigkeit des Augenblicks", die sich unentwegt umgestaltende Welt „im dauernden Bilde" festhält, scheint er „die Zeit selbst zum Stillstande zu bringen". 82 Gerade in derartiger Transzendierung des zeitlichen Nacheinander, in solchem ,Einfrieren' des Zeitstroms verwirklicht sich exemplarisch eines der Momente, die Schopenhauer als konstitutiv für ästhetische Einstellung betrachtet: Zeitlosigkeit.83 WWV I S. 341; hierin ist die bildende Kunst der Poesie sogar meist überlegen. Schopenhauers Darstellung des Tierischen in WWV I S. 341 stimmt mit S. 229, 315 nicht überein. so WWV J s. 3 4 1 - 3 4 2 . Parallelstelle in MS S. 190. 81 WWV I S. 342. 82 WWV I S. 325. 83 Vgl. ζ. B. WWV I S. 257: „reines, willenloses, schmerzloses, zeidoses Subjekt der Erkenntnis". Vgl. ferner WWV I S. 343: Der Dichter faßt „das Wesen der Menschheit, außer aller Relation, außer aller Zeit" auf. WWV I S. 297: „Und nicht allein der Zeit, sondern auch dem Raum ist die Idee enthoben". — Günter Heintz vertritt die These, Schopenhauers Werk sei symptomatisch für die Restaurationsepoche: durch seine pessimistische Grundstimmung und die antitemporale Statuarik seiner Ästhetik, derzufolge das Subjekt katharasch-quietistisch seinem leidensvollen Dasein enthoben sein kann. Schopenhauers Konzeption des Stillebens betrachtet Heintz als „das Herzstück einer restaurationszeitlichen Kunsdehre" (S. 147); als zeittypisch gilt ihm statische, dem Stilleben verwandte Prosa (vgl. S. 148). (Heintz, Günter: Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung (Buch 3): eine Poetik der Restaurationsepoche? Eine Grundriß-Skizze. In: Schopenhauer-Jahrbuch 65 (1984) S. 136-156.) 79

§ 1 7 . Schopenhauers Hierarchien ästhetischer Objekte

333

Die besondere Komplexität des Menschen in künstlerischer Darstellung hängt nach Schopenhauer auch mit der Aufhebung der für Tiere typischen Koinzidenz von Schönem und Charakteristischem zusammen. Während etwa in der Tiermalerei „der am meisten charakteristische Löwe [...] auch allemal der schönste" 84 ist, divergieren bei der Darstellung des Menschen Gattungsund Individualcharakter: „jener heißt nun Schönheit [...], dieser aber behält den Namen Charakter oder Ausdruck bei, und es tritt die neue Schwierigkeit ein, beide zugleich im nämlichen Individuo vollkommen darzustellen". 85 Der Künstler, der sich vorzugsweise dem Ausdruck der Idee des Menschen widmet, muß demnach besonders hohen Anforderungen gerecht werden. Schopenhauers These, die „Idee der Menschheit" stelle sich „in Individuen von eigentümlicher Bedeutsamkeit" dar, von denen jedes „gewissermaßen die Dignität einer eigenen Idee" 86 habe, beschreibt eine facettenreiche Konstellation. Sie verlangt eine künstlerische Gestaltung, die in prozessualem Nacheinander ein umfangreiches Spektrum von Perspektiven eröffnet. 87 Dem Facettenreichtum der Idee entspricht die Perspektivenvielfalt bei ihrer künstlerischen Verwirklichung. Der Dichter, den Schopenhauer als den „Spiegel der Menschheit" 88 bezeichnet, soll die „Offenbarung der Idee der Menschheit besonders durch zwei Mittel" leisten: „durch richtige und tiefgefaßte Darstellung bedeutender Charaktere und durch Erfindung bedeutsamer Situationen, an denen sie sich entfalten". 89 Das Sukzessiv-Prozessuale der poetischen Darstellung tritt hier erneut hervor. Im Rückblick läßt sich festhalten: Poesie und Musik erschließen sich dem Rezipienten allein sukzessiv; ein statisch-punktuelles Zugleich hingegen kennzeichnet Architektur, Skulptur und Malerei, deren Werke sich nach Schopenhauers Auffassung ohne zeitliche Abfolge unmittelbar in ihrer Totalität dem Betrachter präsentieren. Allerdings stehen die Kategorien Nacheinander und Zugleich sich hier keineswegs unvermittelt als Opponenten gegenüber. Zwischen den Antipoden Architektur und Musik, von denen erstere „allein im W W V I S. 311. 85 W W V I S. 311. Das Auseinandertreten von Gattungs- und Individualcharakter gehört laut Schopenhauer „zum Auszeichnenden der Menschheit" (WWV I S. 316). 86 W W V I S. 318. Vgl. auch S. 198, 316, 353. 84

Vgl. W W V I S. 326, 343, 344. In W W V I S. 261 behauptet Schopenhauer, daß „die eine und selbe Idee sich in so vielen Erscheinungen offenbart und den erkennenden Individuen ihr Wesen nur stückweise, eine Seite nach der andern darbietet". sä W W V I S. 349. Vgl. auch S. 347, 348. 89 W W V I S. 351. Zur internen Differenzierung der Poesie vgl. W W V I S. 3 4 7 - 3 4 8 . Schopenhauers Konzeptionen zur Lyrik und zur Tragödie werden in § 19 und § 21 dieser Arbeit analysiert. 87

334

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Raum", letztere „allein in der Zeit" ist 90 , siedelt Schopenhauer in einem Übergangsbereich Skulptur, Malerei und Poesie als Synthesefaktoren an. Ausdrücklich kritisiert er die Auffassung, wie Architektur seien „auch Skulptur und Malerei bloß im Räume". Seines Erachtens hängen deren Werke „zwar nicht unmittelbar, aber doch mittelbar mit der Zeit zusammen, indem sie Leben, Bewegung, Handlung darstellen". 91 Schopenhauers zweiter Einwand gilt der These, wie Musik gehöre „auch die Poesie als Rede allein der Zeit" an. Denn seiner Ansicht nach gilt dies „nur unmittelbar von den Worten; ihr Stoff ist alles Daseiende, also das Räumliche". 92 Das Sukzessive der Poesie schließt das Räumliche mithin ebensowenig aus, wie das Punktuelle von Malerei und Skulptur jegliche Form von Zeidichkeit aufhebt. Nur in den Antipoden auf Schopenhauers Skala der Künste, also allein in Musik und Architektur, ist das besagte Nacheinander als reine Zeidichkeit und das beschriebene Zugleich als pure Räumlichkeit aufzufassen. Betont sei allerdings in partieller Abgrenzung von Schopenhauers Gegenüberstellung, daß auch die Werke der bildenden Künste — trotz ihrer Punktualität — sukzessiv wahrgenommen werden. Wie sonst ließe sich die Vielfalt möglicher Perspektiven, die eine Skulptur durch ihre Dreidimensionalität bietet, auch nur annähernd ausloten, wenn nicht dadurch, daß der Betrachter um sie herumgeht, also sukzessiv vermittels bewußt vollzogener Standortwechsel das Zugleich des Gesamtkomplexes zu erfassen sucht? Entsprechendes gilt sogar noch für das Zugleich des Gemäldes, auch wenn dessen Zweidimensionalität den notwendigen Bewegungsradius so weit einschränkt, daß zumeist bloßes ,Wandern' der Blicke die Bewegung der Füße, den Perspektivenwechsel des Betrachters durch Einnehmen eines neuen Standorts, ersetzen kann. Das Zugleich der auf der Leinwand dargestellten Einzelaspekte jedenfalls kann dem Betrachter niemals punktuell in unverminderter Totalität gegenwärtig sein. Für adäquate Wahrnehmung ist es erforderlich, einzelne Komponenten in prozessualem Nacheinander zu erfassen und sie durch eine besondere Konstitutionsleistung in einen ästhetischen Sinnhorizont zu integrieren. Obwohl die Rezeption von Kunstwerken aller Gattungen auf diese Weise sukzessiv erfolgt, behalten Poesie und Musik aufgrund ihrer spezifischen Prozessualität einen Sonderstatus.

90 91 92

V W V II S. 581. W W V II S. 581. W W V II S. 581.

§ 1 8 . Der Sonderstatus der Musikästhetik I. Mehrfach war die Musik in § 17 bereits thematisch, und zwar als eine der beiden einander diametral gegenüberstehenden Kunstgattungen, die Schopenhauer im Grenzbereich seiner Rangskala der Künste ansiedelt. Zwischen den Antipoden Musik und Architektur 1 , die Schopenhauer — wie in § 17 dargelegt — durch ihre jeweils ausschließliche Zugehörigkeit zu Zeit und Raum charakterisiert, finden Skulptur, Malerei und Poesie als Synthesebereiche ihren Platz. Wenn Schopenhauer den Gegensatz zwischen Architektur und Musik durch die „Form ihrer Erscheinung", den „Umfang ihrer Sphäre" und das unterschiedliche Maß ihrer Wirkkraft bestimmt sieht 2 , dann ist das eigentliche Spezifikum der Musik noch nicht einmal angedeutet, geschweige denn etwa expliziert. Und dies um so weniger, als Schopenhauer — wie in § 17 bereits gesagt — die Symmetrie der Architektur und den Rhythmus der Musik als Ordnungskategorien analogisiert und dadurch deren Status als Antipoden nachträglich etwas einschränkt. Außerdem liegt zunächst der Eindruck nahe, daß gerade die im Ubergangsbereich piazierten und aufgrund ihrer Raumzeitlichkeit zwischen Musik und Architektur gewissermaßen vermittelnden Gattungen Poesie, Malerei, Skulptur eine intern ausgewogene, zwischen Musik und Architektur als Extremen aufgespannte Skala der Künste mit einem Brückenschlag komplettieren. Diese Einschätzung jedoch erweist sich als verfehlt. Denn nicht allein von der Architektur ist die Musik ihrem Wesen nach „himmelweit verschieden". 3 Vielmehr verschafft Schopenhauer der Musik in seiner Ästhetik einen Son-

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2

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Vgl. W W V II S. 581. Nach Schopenhauer wird die Musik „einzig und allein in und durch die Zeit mit gänzlicher Ausschließung des Raumes" perzipiert ( W W V I S. 371). Vgl. W W V II S. 581. D o r t exponiert Schopenhauer den Hauptunterschied: Während „die Architektur allein im Raum ist", ist „die Musik allein in der Zeit". W W V II S. 582.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

derstatus 4 , durch den sie zur schönsten und mächtigsten Kunst 5 avanciert und in seiner Gattungstypologie den unüberbotenen Zenit erreicht. Denn er piaziert die Musik auf einer höheren ontologischen Ebene, so daß sie „ganz abgesondert von allen andern" 6 Künsten steht und eine singulare Affinität zum Willen aufweist. Gelungene Kunstwerke jeder Gattung beantworten nach Schopenhauers Auffassung jeweils auf ihre Weise „die Frage: ,Was ist das Leben?'" Die Musik jedoch tut dies „tiefer als alle andern", indem sie „das innerste Wesen alles Lebens und Daseins" unmittelbar verständlich zum Ausdruck bringt, allerdings in einer Sprache, die sich in diejenige der Vernunft nicht transponieren läßt. 7 Im Unterschied zu allen anderen Künsten, die „den Willen nur mittelbar, nämlich mittelst der Ideen" 8 objektivieren, ist die Musik laut Schopenhauer keineswegs „das Abbild der Ideen; sondern

Abbild des Willens selbst".9 An diese für seine Musikästhetik zentrale These schließt Schopenhauer eine gewichtige wirkungsästhetische Folgerung an: „deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher als die der andern Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen". 10 Im Dieser Sonderstatus der Musik ist äußerlich auch daran zu erkennen, daß sie in Schopenhauers Ästhetik mehr Textseiten beansprucht als alle anderen Gattungen: vgl. WWV I S. 3 5 7 - 3 7 1 , WWV II S. 5 7 3 - 5 8 6 , PP II S. 5 0 7 - 5 1 4 , ergänzend WWV I S. 227, 233, 440. Der singuläre Rang der Musik bei Schopenhauer erhellt auch daraus, daß sie den (gewissermaßen .krönenden") Abschluß seiner Ästhetik bildet, indem sie am Ende des dritten Buches sowohl der WWV I als auch der WWV II thematisch ist. 5 Vgl. WWV I S. 357, 359. 6 WWV I S. 357. 7 WWV II S. 522. Vgl. auch WWV I S. 357: Dort bezeichnet Schopenhauer die Musik als „eine ganz allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft", superlativisch formuliert er in WWV I S. 365: „eine im höchsten Grad allgemeine Sprache". Zur Betonung der Verwandtschaft zwischen Philosophie und Musik wandelt Schopenhauer ein Diktum von Leibniz folgendermaßen ab: „Musica est exercitium metaphysices occultum nescientis se philosophari animi" (WWV I S. 369). Die Auffassung von Leibniz hingegen, die Musik sei ein „exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerate animi" bleibt nach Schopenhauers Überzeugung zu äußerlich und daher unzureichend (vgl. WWV I S. 357). — Christoph Oehler geht so weit, für Schopenhauer, Nietzsche und Wagner „eine innere Affinität ihres Werkes zur Musik" zu konstatieren, und zwar im Hinblick auf einen Antirationalismus, der seines Erachtens „weniger eine Absage an die Weltvernunft als eine Widerspiegelung des vernunftwidrigen und menschheitsgefahrdenden Zustandes der Welt bis heute" ist. (Oehler, Christoph: Schopenhauers und Nietzsches Ästhetik als Ausgangspunkt des modernen Irrationalismus? In: Schopenhauer-Jahrbuch 65 (1984) S. 80 —90, darin S. 88.) 8 WWV I S. 359. 9 WWV I S. 359. Parallelstelle: WWV II S. 574. in WWV I S. 359. Vgl. auch S. 357. Arthur Hübscher weist „auf vier Gemeinsamkeiten" hin, die Schopenhauers Philosophie „aufs engste mit der Welt der Romantik verbinden: seine Erhöhung der Musik über alle anderen Künste, seine Auffassung des Genies, sein Anknüpfen 4

§ 1 8 . Der Sonderstatus der Musikästhetik

337

Hinblick auf Schopenhauers Platon-Rezeption hat diese Gegenüberstellung radikale und überaus aufschlußreiche Implikationen, die ein Rekurs auf Schopenhauers Ideenlehre im folgenden verdeutlichen soll. Zuvor allerdings sei darauf hingewiesen, daß Schopenhauer aus der fundamentalen Differenz, die er zwischen der Musik und allen anderen Künsten erblickt, durchaus auch Konsequenzen für die Grenzmarkierungen seiner Skala der Künste zieht. Der besonderen Stellung der Musik trägt er nämlich dort Rechnung, wo er nicht Architektur und Musik als „die beiden äußersten Enden" der von ihm „aufgestellten Reihe der Künste" betrachtet11, sondern die Musik isoliert und das Drama an ihre Stelle treten läßt: Mit Bezug auf das variable Verhältnis zwischen subjektiver und objektiver Komponente der ästhetischen Kontemplation behauptet er: „In dieser Hinsicht ist der Gegensatz der Architektur und das andere Extrem in der Reihe der schönen Künste das Drama, welches die allerbedeutsamsten Ideen zur Erkenntnis bringt, daher im ästhetischen Genuß desselben die objektive Seite durchaus überwiegend ist". 12

II. In der ontologischen Hierarchie Schopenhauers findet die Musik als Abbild des Willens ihren Platz auf einem Niveau, das der Ebene der Ideen entspricht. Allein der Wille selbst ist der Musik noch ontologisch vor- und übergeordnet, sofern er sich in je spezifischer Weise „sowohl in den Ideen als in der Musik [...] objektiviert" 13 . Aus dieser Konstellation ergibt sich für Schopenhauer „ein Parallelismus, eine Analogie" 14 zwischen den Ideen und der Musik. Diese Entsprechung wird dort evident, wo Schopenhauer zum Zwecke ontologischer Differenzierung auf scholastische Termini zurückgreift. Im Kontext seiner Metaphysik der Musik kleidet er seine Überzeugung, daß die

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an die mittelalterliche Mystik und sein inniges Verhältnis zur Weisheit der Inder." (Hübscher, Arthur: Der Philosoph der Romantik. In: Schopenhauer-Jahrbuch 34 ( 1 9 5 1 - 1 9 5 2 ) S. 1 - 1 7 , darin S. 7.) — Unter Rekurs auf diese These betont Weyers, nicht grundlos sei die Musikkonzeption hier an erster Stelle angeführt. Dennoch ist seines Erachtens Schopenhauers Musikkonzeption „nicht in ihrem Wesen aus romantischer Musikauffassung deduziert". (Weyers, Raymund: Arthur Schopenhauers Philosophie der Musik. Regensburg 1976. (Kölner Beiträge zur Musikforschung. Hrsg. von Heinrich Hüschen. Band 88.) S. 22, vgl. auch S. 21.) W W V II S. 581. w w v ι s. 3 0 6 - 3 0 7 . Analog: ΗΝ I S. 416. W W V I S. 3 5 9 - 3 6 0 . W W V I S. 360.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Musik „den innersten aller Gestaltung vorhergängigen Kern oder das Herz der Dinge gibt" 15 , auch in folgende Formulierung: Die Begriffe als nachträgliche Abstraktionen auf der Basis vorliegender Anschauung „sind die universalia post rem", die Musik „gibt die universalia ante rem", während sich in der Wirklichkeit „die universalia in re" manifestieren. 16 Wenn Schopenhauer anderenorts „die Ideen als universalia ante rem" und „die Begriffe als universalia post rem" 17 bezeichnet, dann erhellt die von ihm behauptete Analogie zwischen der Musik und den Ideen aus der Identität der auf beide Bereiche bezogenen lateinischen Syntagmen. Aufschlußreiche Konsequenzen dieses Parallelismus zwischen der Musik und den Ideen kommen in der oben bereits zitierten wirkungsästhetischen These zum Ausdruck. Soll nämlich die Musik ihre eminente Wirkkraft gerade der Tatsache verdanken, daß die Kunstwerke anderer Gattungen als Abbilder der Ideen „nur vom Schatten" reden, „sie aber vom Wesen" 18 , so überraschen die Konnotationen dieser Gegenüberstellung von ,Schatten' und ,Wesen'. Denn oftmals bezeichnet Schopenhauer die Ideen in seiner Ästhetik explizit als platonische' 19 , ja er behauptet nachdrücklich, „das Wort Idee" sei bei ihm „immer in seiner echten und ursprünglichen, von Piaton ihm erteilten Bedeutung zu verstehn" 20 , allein den „Platonischen Sinn" erkenne er für dieses Wort an. 21 Hat sich Schopenhauer als selbsternannter Platoniker in seiner Ideenlehre tatsächlich konsequent an des Meisters unverfälschte Lehre gehalten? — Schon in § 13 wurde deutlich, daß Schopenhauer, von vorbehaltlosem Adeptentum weit entfernt, den ontologischen Status der ,Platonischen' Ideen in entscheidender Hinsicht modifiziert: Für Piaton nämlich sind die Ideen W W V I S. 367. — Wilfried Wenzel vertritt die Auffassung, Schopenhauers Musikästhetik sei zwar nicht „unterwegs [...], sich dem musikalischen Kunstwerk zu nähern", begründe jedoch „eine grandiose [...] divinatorische Deutung des Wesens der Musik" (S. 168). Zuversichtlich erwartet Wenzel eine Wiederentdeckung Schopenhauers durch ,nachmoderne' Komponisten. (Wenzel, Wilfried: Ist Schopenhauers Musikästhetik noch aktuell? In: Schopenhauer, Nietzsche und die Kunst. Schopenhauer-Studien 4. Hrsg. von Wolfgang Schirmacher. Wien 1991. S. 1 6 1 - 1 6 8 , darin S. 168, 161.) κ. W W V I S. 367. iv W W V II S. 473. Vgl. ergänzend W W V I S. 330. is W W V I S. 359. 15

Das zeigt schon ein Beleg auf der ersten Seite seiner Ästhetik in Buch 3 der W W V I: S. 245. Weitere Textbeispiele in: W W V II S. 473, 485; PP II S. 492. Zu den durch Schopenhauers Piaton- und Kant-Rezeption bedingten systemimmanenten Spannungsverhältnissen vgl. § 13 dieser Arbeit. 20 W W V I S. 195. Analog: W W V II S. 470. 21 W W V II S. 525. 19

§ 1 8 . Der Sonderstatus der Musikästhetik

339

ontologisch primär, bei Schopenhauer hingegen erhalten sie lediglich einen sekundären Rang, und zwar insofern, als der Wille ihnen ontologisch vorund übergeordnet ist. Diese wichtige Differenz liegt auch der zitierten Textstelle zugrunde, in der Schopenhauer Schatten und Wesen im Rahmen seiner Musikmetaphysik kontrastiert. Offensichtlich hat Schopenhauer die Schattenmetapher aus Piatons „Politeia" endehnt, bezieht er sich doch mehrfach auf Piatons berühmtes Höhlengleichnis im 7. Buch dieses Werkes. Schopenhauer referiert die Passage, in der Piaton sagt, „die Menschen, in einer finstern Höhle festgekettet, sähen weder das echte ursprüngliche Licht noch die wirklichen Dinge, sondern nur das dürftige Licht des Feuers in der Höhle und die Schatten wirklicher Dinge, die hinter ihrem Rücken an diesem Feuer vorüberziehn: sie meinten jedoch, die Schatten seien die Realität und die Bestimmung der Sukzession dieser Schatten sei die wahre Weisheit". 22 Stattdessen verhält es sich nach Piaton so, daß „wahrhaft seiend, nie aber werdend noch untergehend" allein „die realen Urbilder jener Schattenbilder" sind, „die ewigen Ideen, die Urformen aller Dinge". 23 Aus diesen Thesen Piatons erhellt, wie weit sich Schopenhauer in seiner Musikmetaphysik tatsächlich von der Platonischen Ontologie entfernt. Nimmt er nämlich einzig und allein für die Musik in Anspruch, sie spreche „vom Wesen", während die anderen Künste „nur vom Schatten" reden 24 , so verweist diese Aussage auf Schopenhauers musikmetaphysische Hauptthese, daß allein die Musik als „Abbild des Willens selbst" fungiert, während alle anderen Künste sich darin erschöpfen, bloß „Abbild der Ideen" zu sein.25 In fundamentaler Abweichung von dem in Piatons Höhlengleichnis entworfenen erkenntnistheoretischen Modell erhalten hier bei Schopenhauer ausgerechnet die Ideen den Status bloßer Schattenhaftigkeit; ihnen steht allein der Wille als quasi-urbildliches Wesen der Welt gegenüber. Die zentrale Differenzierung zwischen den Ideen als Urbildern und den Sinnendingen als bloßen Schattenbildern, die Schopenhauer zunächst von Piaton übernimmt, wird also im Rahmen seiner Musikästhetik erstaunlicherweise unterminiert. Schopenhauers Ideen, die im Vergleich zum ontologisch vorgeordneten Willen selbst nur sekundär sind, geraten — so gesehen — als schattenhafte in eine eigentümliche Analogie zu Piatons Sinnendingen und deren (in bloßem Ab-

22 w w v ι s. 566. Auch in W W V I S. 248 referiert Schopenhauer Piatons Höhlengleichnis. 23 W W V I S. 248. 24 W W V I S. 359. 25

W W V I S. 359.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

bildcharakter sich manifestierender) Schattenhaftigkeit. Mit Schopenhauers Auffassung, gerade die Ideen seien das Wesen der Dinge, läßt sich diese Konstellation nicht vereinbaren. Und die ontologisch superiore Musik fügt sich keineswegs harmonisch in die Hierarchie der Kunstgattungen ein. Schopenhauers Uberzeugung, er selbst habe den Ideenbegriff „immer in seiner echten und ursprünglichen, von Piaton ihm erteilten Bedeutung" 26 verwendet, hält also einer kritischen Prüfung nicht stand. Inwiefern sich der Primat des Willens in Schopenhauers Philosophie 27 auf die Ideenontologie auswirkt, wird im Rahmen seiner Musikmetaphysik besonders auffällig. Die Schattenhaftigkeit der Schopenhauerschen Ideen gibt Anlaß dazu, von einer (sit venia verbo) ,Entplatonisierung' seiner Ideenlehre durch seine Musikmetaphysik zu sprechen. Denn die ontologische Differenz zwischen Platonischen und Schopenhauerschen Ideen tritt gerade hier deutlich hervor. Erstaunlicherweise hat Schopenhauer diese weitreichende Abweichung von den Denkwegen seines Lehrers Piaton an dieser Stelle nicht selbst als solche auch thematisiert und begründet. Das überrascht vor allem deshalb, weil seine Affinität zu Piaton sich auch sonst durchaus nicht in uneingeschränkter Affirmation zeigt. Dort nämlich, wo er der Platonischen Kunsttheorie seine eigene gegenüberstellt, kann Schopenhauer nicht umhin, die Unterschiedlichkeit beider Konzeptionen im Hinblick auf den ontologischen Status der Kunst zu betonen: Nachdrücklich distanziert er sich von Piatons These, „die schöne Kunst" beabsichtige die Darstellung des Einzeldinges statt der Idee, indem er „gerade das Gegenteil" behauptet und von diesem Standpunkt aus Piatons „Geringschätzung und Verwerfung der Kunst, besonders der Poesie" kritisiert. 28 III. Im Anschluß an die These von einer ,Entplatonisierung' der Ideenlehre Schopenhauers durch seine Musikmetaphysik gilt es nun, das Wesen der Musik qua , r Abbild des Willens selbst " 2 9 zu beleuchten. Schopenhauers Musikmeta2f> W W V I S. 195. Bereits in den ersten beiden Paragraphen von Buch 3 der W W V I (i. e. § 30, § 31) tritt der Primat des Willens hervor. Dessen Konsequenzen für den ontologischen Status der Ideen bleiben hier allerdings noch vergleichsweise unauffällig, weil Schopenhauer vor allem den ontologischen Vorrang der urbildlichen Ideen gegenüber den nachbildlichen Einzeldingen betont. 28 W W V I S. 3 0 0 - 3 0 1 . Schopenhauer vertritt in PP II S. 498 die Auffassung, daß „das Bild der Idee nähersteht als die Wirklichkeit". 27

29 wwv j s. 359.

§ 1 8 . D e r Sonderstatus der Musikästhetik

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physik basiert auf spekulativen Überlegungen, die ihr Autor erklärtermaßen zwar für einleuchtend, nicht aber für beweisbar hält und deren Beurteilung er deshalb ausdrücklich dem Leser anheimsteilt. 30 Die Musik als „überaus herrliche Kunst, wirkt so mächtig auf das Innerste des Menschen", der in ihr „das tiefste Innere" seines Wesens ausgedrückt findet.31 Einen Parallelismus erblickt Schopenhauer zwischen Musik und Ideen vor allem insofern, als die „vier Stimmen aller Harmonie, also Baß, Tenor, Alt und Sopran oder Grundton, Terz, Quinte und Oktave [...] den vier Abstufungen in der Reihe der Wesen, also dem Mineralreich, Pflanzenreich, Tierreich und dem Menschen" 3 2 entsprechen. Im Grundbaß glaubt Schopenhauer die rohe, anorganische Natur als niedrigste Stufe der Objektität des Willens zu erkennen. 33 Daß sich auf ihrer Basis alle Naturkörper, auch die differenzierten organischen Formen entwickelt haben: diese Tatsache korrespondiert seines Erachtens mit dem Faktum, daß die hohen Töne „durch die Nebenschwingungen des tiefen Grundtones" entstanden sind. 3 4 In den Ripienstimmen zwischen Baß und Melodiestimme sieht er die Gesamtheit der Ideenstufen von Pflanzen- und Tierreich repräsentiert. 35 Die Melodiestimme schließlich ordnet Schopenhauer der Sphäre des Menschen zu: Ihre leichte, rasche und zusammenhängende Bewegung entspricht dem kontinuierlichen Bewußtsein des Menschen, seiner Perfektibilität und seiner sukzessiven Entwicklung. 36 Laut Schopenhauer bringt die Melodiestimme die „innerste Geschichte des sich selbst bewußten Willens, das geheimste Leben, Sehnen, Leiden und Freuen, das Ebben und Fluten des menschlichen Herzens" zum Ausdruck. 37 Von ihr unterscheiden sich die langsameren Tonfolgen „ohne melodischen

Vgl. WWV I S. 3 5 8 - 3 5 9 . 31 w w v I S. 357. 32 WWV II S. 573. 3 3 Vgl. WWV I S. 360. Mit Bezug auf eine Passage aus WWV I S. 360 wirft Günter Schnitzler Schopenhauer „Sorglosigkeit im U m g a n g mit den Seinsweisen" vor: er habe „nicht konsequent [...] zwischen der Idee als Objektivationsform und der in Erscheinung getretenen Idee" unterschieden, so „daß in der Analogie, die doch die metaphysischen Elemente der Musik erklären soll, Interpretationshilfen aus der Erscheinungswelt, die nicht mehr die Gesamtheit der Ideen ist, genommen werden" (Schnitzler, Günter: Die Musik in Schopenhauers Philosophie. In: Musik und Zahl. Interdisziplinäre Beiträge zum Grenzbereich zwischen Musik und Mathematik. Hrsg. von Günter Schnitzler. Bonn-Bad G o d e s b e r g 1976. S. 1 3 7 - 1 5 7 , darin S. 150, vgl. auch S. 1 4 8 - 1 4 9 ) . 34 WWV I S. 360. 30

Vgl. WWV I S. 3 6 0 - 3 6 1 . Vgl. WWV I S. 3 6 1 - 3 6 2 . 37 WWV I S. 440. 35 36

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Zusammenhang", von denen der Baß sich „am schwerfälligsten", nämlich „nur in großen Stufen" bewegt. 38 Schopenhauer sieht hier eine Analogie zur „ganzen unvernünftigen Welt" des Anorganischen, Vegetabilischen und Animalischen, der ein zusammenhängendes, sinnstiftendes Bewußtsein fehlt. 39 In der bedeutungsvollen Kontinuität der Melodiestimme hingegen spiegelt sich „das besonnene Leben und Streben des Menschen" 40 , jede Willensbewegung und Gefühlsregung. Das Dasein des Menschen als oberster Stufe der Willensobjektivationen setzt die niedrigeren Stufen voraus. Zu vollkommenem Ausdruck des Willens gelangt die Musik demgemäß nur durch die vollstimmige Ganzheit der kompletten Harmonie; ihre umfassende Wirkung entfaltet die Melodie erst durch die „Begleitung aller andern Stimmen bis zum tiefsten Baß, welcher als der Ursprung aller anzusehn ist". 41 Zustimmend nimmt Schopenhauer auf die seit der Antike etablierte Auffassung Bezug, „die Musik sei die Sprache des Gefühls und der Leidenschaft so wie Worte die Sprache der Vernunft". 42 Seine Prämisse, daß die Musik den Willen selbst, nicht die Erscheinungen abbildet, impliziert für ihr Verhältnis zu den Willensaffekten, daß sie nicht eine bestimmte einzelne Gemütsstimmung darstellt, „sondern die Freude, die Betrübnis, den Schmerz, das Entsetzen, den Jubel, die Lustigkeit, die Gemütsruhe selbst, gewissermaßen in abstracto". 43 Anstelle einzelner Lebensvorgänge bringt die Musik allein deren Quintessenz zum Ausdruck und erlangt dadurch jene Allgemeinheit, die sie dazu befähigt, sogar als „Panakeion" aller menschlichen Leiden zu fungieren 44 oder — nach Aristoteles — zumindest als „Kathartikon [...] des Gemütes". 45 Die conditio sine qua non für eine solche kathartische Funktion der

38 W W V I S. 361. Aus musikwissenschaftlicher Perspektive setzt sich Weyers mit dieser Auffassung Schopenhauers kritisch auseinander; vgl. Weyers, Raymund: Arthur Schopenhauers Philosophie der Musik. Regensburg 1976. (Kölner Beiträge zur Musikforschung. Hrsg. von Heinrich Hüschen. Band 88.) S. 1 0 6 - 1 1 0 . 39 W W V I S. 361. 40 W W V I S. 362. Analog: S. 440. W W V I S. 370. Auch zur „Grundbeschaffenheit der Natur, vermöge welcher die organischen Wesen untereinander viel näher verwandt sind als mit der leblosen, unorganischen Masse des Mineralreichs" ( W W V II S. 574), sieht Schopenhauer in der Musik ein Analogon, und zwar in deren Grundregel, „daß der Baß in viel weiterem Abstände unter den drei obern Stimmen bleiben soll, als diese zwischen einander haben" ( W W V II S. 573). 42 W W V I S. 362; dort zitiert Schopenhauer auch Piaton und Aristoteles. Vgl. auch PP II S. 507. 43 W W V I S. 364. Analog: W W V II S. 577. 41

W W V I S. 365. Weitere Ausführungen zur Allgemeinheit der Musik finden sich in W W V I S. 3 6 5 - 3 6 6 . 45 W W V II S. 520. 44

§ 18. Der Sonderstatus der Musikästhetik

343

Musik besteht darin, daß sie statt realer Willensaffekte lediglich deren jeweils dem Intellekt angemessene Substitute im Hörer hervorruft 46 und so den Leidensdruck der Wirklichkeit von ihm fernhält. 47

IV. Die in der Willenssphäre bedeutsamen Komponenten Wunsch und Befriedigung versucht Schopenhauer in dreierlei Hinsicht auch in der Musik aufzuzeigen: Erstens korrespondieren mit den beiden Grundstimmungen des Gemüts, Heiterkeit und Traurigkeit, die beiden Tonarten Dur und Moll. 48 Diese Entsprechung ist ebenso bekannt wie plausibel. Einleuchtend erscheint auch die zweite Analogie: Schopenhauer bringt „Unzufriedenheit und Befriedigung" des Willens mit den musikalischen Phänomenen Dissonanz und Konsonanz in Verbindung. 49 Mit der Willensbefriedigung, die sich durch Retardation verstärkt, korrespondiert seines Erachtens das musikalische Faktum, daß durch vorgeschaltete dissonante Klänge das verzögerte Eintreten der finalen Konsonanz besonders befriedigend erscheint. 50 Dem Wechsel von Beruhigung und Beunruhigung in der realen Willenssphäre entsprechen also in Gestalt von Konsonanz und Dissonanz vergleichbare Phänomene in der Musik. 51 Eine Beziehung zur Thematik von § 8 und § 9 dieser Abhandlung besteht hier insofern, als die Dissonanz bei Schopenhauer ebensowenig rein negativ konnotiert ist wie das unbefriedigte Bedürfnis. Trotz ihrer beunruhigenden Wirkung erfüllen Dissonanzen in der Musik eine unentbehrliche Funktion: Sie verhindern den übersättigend-ermüdenden Effekt einer perpetuierlichen 4f> 47 48 49

50

51

Vgl. WWV II S. 579. Vgl. WWV I S. 368. Vgl. WWV II S. 5 8 5 - 5 8 6 . Vgl. WWV II S. 585 und vor allem WWV II S. 578: „das unserer Apprehension Widerstrebende", die Dissonanz, wird „zum natürlichen Bilde des unserm Willen Widerstrebenden", während die Konsonanz, „indem sie unserer Auffassung sich leicht fügt, zum Bilde der Befriedigung des Willens" wird. — Jan Aier deutet Schopenhauers Auffassung von Harmonie, die sich seines Erachtens „nicht mcht gegen Dissonanz absetzt, sondern diese in sich beschließt", als Fortschritt gegenüber unzureichenden Erklärungsversuchen des englischen Ästhetikers Hutcheson. (Aler, Jan: Die Erfahrung vom Schönen. Marginalien zur Ästhetik des 18. Jahrhunderts. In: Schopenhauer-Jahrbuch 53 (1972) S. 2 9 6 - 3 0 6 , darin S. 302.) Vgl. WWV II S. 585. A. a. O.: „nur auf das dringendeste Verlangen" kann „die am tiefsten gefühlte Befriedigung und gänzliche Beruhigung folgen". Vgl. WWV II S. 585.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Konsonanz-Abfolge, die Schopenhauer mit der durch Befriedigung sämtlicher Wünsche bedingten Langeweile vergleicht. 52 Auf dieser Basis postuliert Schopenhauer eine „harmonische Fortschreitung in der kunstgerechten Abwechselung der Dissonanz und Konsonanz". 53 Die Dissonanz avanciert dabei zu einem ebenso notwendigen Moment wie ihre Auflösung in Konsonanz. Sofern Konsonanz und Dissonanz als die spezifisch musikalische Konkretisation von Harmonie und Disharmonie aufzufassen sind, ergibt sich aus der zitierten Aussage das eigentümliche Konstrukt einer Harmonie höherer Stufe, die in einer Synthesis der beiden Faktoren Harmonie und Disharmonie besteht. Eine auffällige Analogie zu dieser Beziehung zwischen Konsonanz und Dissonanz zeigt Schopenhauers Überzeugung, den wünschenswerten Zustand einer gewissen „Heiterkeit, wenigstens Gelassenheit" 54 gewährleiste nicht schon die Befriedigung von Bedürfnissen als Erfolg voluntativen Strebens allein. Vielmehr setzt Schopenhauer für dieses relative Optimum in der schlechtesten aller möglichen Welten 55 mit ihrem allzu begrenzten Glücksreservoir ein ausgewogenes Verhältnis von ,Gelingen' und ,Mißlingen' voraus, das eine doppelte Präventivfunktion erfüllt: Ein hinreichendes Maß von g e lingen' schützt „vor Verzweiflung", während ein ausreichendes Quantum an ,Mißlingen' „vor Langerweile und deren Folgen" bewahrt. 56 Auffällig sind die Parallelen zum Verhältnis zwischen Konsonanz und Dissonanz: Während konsonante Klangfolgen eine schmerzliche Beunruhigung aufgrund von Dissonanzen in Grenzen halten, verhindert ein entsprechender Anteil von Dissonanzen eine Konsonanz-Übersättigung, die schließlich eine der Langeweile ähnliche „nur lästige und nichtssagende Monotonie" nach sich zöge. 57 Die Analogien zwischen Schopenhauers willenstheoretischen und musikästhetischen Ansätzen reichen bis in die Genese der jeweils ambivalenten Bewertungen: In § 9 wurde dargelegt, inwiefern ein horror vacui offenbar Vgl. W W V II S. 585. Vgl. dazu auch W W V I S. 440: „Die Melodie ist immer ein Abweichen vom Grundton durch tausend wunderliche Irrgänge bis zur schmerzlichsten Dissonanz, darauf sie endlich den Grundton wiederfindet, der die Befriedigung und Beruhigung des Willens ausdrückt, mit welchem aber nachher weiter nichts mehr zu machen ist und dessen längeres Anhalten nur lästige und nichtssagende Monotonie wäre, der Langenweile entsprechend". 53 W W V n s. 585. 5 4 W W V I S. 449. 5 5 Vgl. W W V II S. 747. 5 6 W W V I S. 449. Die teilweise positive Konnotation des beschriebenen Mißlingens, das im Verein mit supplementärem Gelingen erst den .eigentlichen' Erfolg als eine Art von MetaGelingen ermöglicht, findet in Schopenhauers Konzeption der Dissonanz ein auffalliges Analogon. 57 W W V I S. 440.

52

§ 1 8 . Der Sonderstatus der Musikästhetik

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zum Anlaß fur Schopenhauers (zunächst äußerst befremdlich anmutende) Konzeption eines Willens wurde, der sich mit dem Erreichen von Objekten zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung nicht begnügt, sondern überdies auch „steten Strebens", mithin seiner eigenen Bewegung bedarf.58 Diese eigentümliche These von der Doppelbedürftigkeit eines Willens, der nicht nur etwas will, sondern zusätzlich noch gewissermaßen wollen will, entspringt aus Schopenhauers hyperbolischer Vorstellung vom Vakuum einer durch Befriedigung vorübergehend objektlos gewordenen Welt, in der das Subjekt bei gänzlicher Stagnation seines Strebens vollends auf sich selbst zurückgeworfen ist: also aus der Imagination bedrohlicher Langeweile. Dieses Epiphänomen Langeweile stilisiert Schopenhauer in seiner Willenstheorie zu einem Faktor, der angeblich genauso bedeutsam ist wie der Komplex von Sorge, Not, Schmerz59 und insofern die conditio humana wesentlich mitbestimmt. In diesem Rahmen wird die Vorstellung vom sozusagen statischen Glück der Bedürfnisbefriedigung oder Wunscherfüllung in ein dynamisches Geschehen aufgelöst. Allein rasche Übergänge „vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch" gewährleisten demnach Glück, während deren verlangsamte Abfolge Leiden impliziert.60 Not aufgrund ungestillter Bedürfnisse einerseits und Langeweile als Spezialfall eines aus erzielter Befriedigung entstehenden Leidens andererseits markieren die beiden entgegengesetzten Fronten, an denen das Subjekt fortwährend kämpfen muß.61 Aus einer auf Streben und Erreichen sich richtenden Doppelbedürftigkeit des Willens ergibt sich die Vorstellung eines reduzierten Glücks, das allein in der perpetuierlichen Bewegung selbst zu finden ist. Denn nur ein rascher Wechsel von Wunsch und Befriedigung hilft das aus beiden entspringende Leiden zu minimieren.62 Bezeichnenderweise findet sich eine der diesbezüglich zentra58 x y w v I S. 290. Hier spricht Schopenhauer vom „des steten Strebens und Erreichens bedürftigen Willen". 59

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61

62

Vgl. ζ. B. W W V I S. 428: Schopenhauer vergleicht das Menschenleben mit einem Pendel, das hin und her schwingt „zwischen dem Schmerz und der Langenweile", die „dessen letzte Bestandteile sind". Der eindeutig positive Status der Wunscherfüllung als Aufhebung von Leiden verflüchtigt sich angesichts der allgegenwärtigen latenten Bedrohung des Subjekts durch Langeweile. Durch eine entsprechende Relativierung wird auch die Einschätzung von Bedürfnis und Wunsch ambivalent. Dazu ausführlicher: § 9 dieser Arbeit. Vgl. W W V I S. 241. Denn der retardierte Wechsel von Wunsch und Befriedigung nähert sich bereits jenem „Stocken", das Schopenhauer „als furchtbare, lebenserstarrende Langeweile, mattes Sehnen ohne bestimmtes Objekt" (a. a. O.) beschreibt. Vgl. W W V I S. 428, 430. Aufschlußreich ist auch die hyperbolisch anmutende Befürchtung Schopenhauers, dem Menschen könne es „an Objekten des Wollens" fehlen, „indem die zu leichte Befriedigung sie ihm sogleich wieder wegnimmt" (WWV I S. 428). Vgl. W W V I S. 241, 430.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

len Aussagen Schopenhauers im Kontext seiner Musikmetaphysik: „Glück und Wohlsein" des Menschen bestehen seines Erachtens allein darin, „daß jener Übergang vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch rasch vorwärtsgeht, da das Ausbleiben der Befriedigung Leiden, das des neuen Wunsches leeres Sehnen, languor, Langeweile ist". 6 3 Dieses zum Postulat avancierte πάντα-ρεΐ-Prinzip im Bereich des Willens wird bereits auf der folgenden Seite um sein musiktheoretisches Analogon ergänzt: „Wie nun schneller Ubergang vom Wunsch zur Befriedigung und von dieser zum neuen Wunsch Glück und Wohlsein ist, so sind rasche Melodien ohne große Abirrungen fröhlich; langsame, auf schmerzliche Dissonanzen geratende und erst durch viele Takte sich wieder zum Grundton zurückwindende sind als analog der verzögerten, erschwerten Befriedigung traurig". 64 Trotz der erkennbaren Analogie unterscheidet sich die musikalische von der voluntativen Sphäre insofern, als Dissonanz und Retardation in diesem Zitat eindeutig negativ akzentuiert sind und jene Ambivalenz vermissen lassen, durch die sowohl die Konsonanz als auch die Dissonanz jeweils positive und negative Komponenten erhalten. Nur infolge einer solchen Ambivalenz kann aber ein kunstgerechter Wechsel von Konsonanz und Dissonanz als Optimum gelten 6 5 und mit Schopenhauers Postulat einer ausgewogenen Abfolge von .Gelingen' und ,Mißlingen' korrespondieren. Im Rückblick läßt sich festhalten: Die Dualität sowohl von Dur und Moll als auch von Konsonanz und Dissonanz entspricht offenkundig voluntativen Komponenten. Während die Dur-Moll-Polarität auf die Grundstimmungen Heiterkeit und Traurigkeit in ihrer statischen Eindeutigkeit verweist, zeigt die Beziehung zwischen den jeweils ambivalenten Phänomenen Konsonanz und Dissonanz Analogien zu den gegensätzlichen Tendenzen eines Willens, der des „steten Strebens und Erreichens" 6 6 bedarf. Der dritte und letzte Faktor der Trias von Übereinstimmungen zwischen voluntativen Aspekten und musikalischen Phänomenen weist im Unterschied zu den beiden bereits behandelten Komponenten einen symptomatischen Bruch auf, den es im folgenden aufzuzeigen gilt. Rhythmus und Harmonie beschreibt Schopenhauer als die beiden Elemente, aus denen die Melodie besteht. 67 Der Rhythmus als quantitatives Element betrifft laut Schopenhauer die Dauer der Töne, die Harmonie als quali63 TOV I S. 3 6 2 - 3 6 3 . 64 w w v I S. 363. Vgl. WWV II S. 585. 66 w w v I S. 290. 6 7 Vgl. WWV II S. 580. 65

§ 1 8 . Der Sonderstatus der Musikästhetik

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tatives Element deren Höhe und Tiefe.68 Das Wesen der Melodie besteht seines Erachtens „i n der stets erneuerten Entzweiung und Versöhnung des rhythmischen Elements der Melodie mit dem harmonischen".69 Schopenhauer beschreibt diese Konstellation folgendermaßen: Das harmonische Element der Melodie „hat den Grundton zur Voraussetzung wie das rhythmische die Taktart und besteht in einem Abirren von demselben durch alle Töne der Skala, bis es auf kürzerem oder längerem Umwege eine harmonische Stufe, meistens die Dominante oder Unterdominante, erreicht, die ihm eine unvollkommene Beruhigung gewährt"; erst bei der Rückkehr zum Grundton tritt „die vollkommene Beruhigung" ein.70 Eine solche Wirkung setzt voraus, daß ein Erreichen dieser Zwischen- und Endstufe jeweils „mit gewissen bevorzugten Zeitpunkten des Rhythmus" koinzidiert.71 Während die Harmonie bestimmte Töne fordert, verlangt der Rhythmus gewisse Takte oder Taktteile, also bestimmte Zeitpunkte.72 Schopenhauer vertritt die Auffassung, „die Entzweiung jener beiden Grundelemente" bestehe „darin, daß, indem die Forderung des einen befriedigt wird, die des andern es nicht ist, die Versöhnung aber darin, daß beide zugleich und auf einmal befriedigt werden".73 Das Problematische dieser zunächst durchaus plausibel wirkenden These tritt erst dort hervor, wo Schopenhauer gemäß seinem Vorsatz, die Musik als Abbild des Willens selbst74 philosophisch zu erklären, auch im Hinblick auf Entzweiung und Versöhnung eine Analogie zwischen voluntativer und musikalischer Sphäre glaubt feststellen zu können: Die „beständige Entzweiung und Versöhnung" von Rhythmus und Harmonie „ist, metaphysisch betrachtet, das Abbild der Entstehung neuer Wünsche und sodann ihrer Befriedigung".75 68

69 70 71 72

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Vgl. W W V II S. 580. Zwar verlangt „die vollkommene Melodie" beide Elemente, allerdings betrachtet Schopenhauer das „rhythmische Element" als „das wesentlichste" (WWV II S. 581). Als Ordnungsprinzip entspricht der Rhythmus in der Musik laut Schopenhauer der Symmetrie in der Architektur (vgl. S. 581). Auf S. 582 zitiert Schopenhauer zustimmend das auf Goethe zurückgehende „kecke Witzwort", „daß Architektur gefrorene Musik sei". W W V II S. 583. Analog: S. 581. W W V II S. 583. W W V II S. 583. Detailliertere Ausführungen finden sich auf S. 5 8 3 - 5 8 4 . Vgl. W W V II S. 583. Günter Schnitzler betrachtet Zahl und Zeit in der Weise als konstitutiv „für die physisch verstandene Musik", daß sich die Musik zur Uberwindung des Willens „der Herrschaft von Zahlen ausliefern" muß. (Schnitzler, Günter: Die Musik in Schopenhauers Philosophie. In: Musik und Zahl. Interdisziplinäre Beiträge zum Grenzbereich zwischen Musik und Mathematik. Hrsg. von Günter Schnitzler. Bonn-Bad Godesberg 1976. S. 137 — 157, darin S. 155, 154.) W W V II S. 583. Vgl. W W V II S. 574, W W V I S. 359. W W V II S. 584. Raymund Weyers referiert zustimmend Schopenhauers These von der Ubereinstimmung zwischen den Willensbewegungen und der Melodie, deren Wesen in der Entzweiung und Versöhnung von Rhythmus und Harmonie besteht. Dabei übersaht er die

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Aber nur auf den ersten Blick erscheint diese Parallelisierung legitim. Zwar läßt sich die von Schopenhauer suggerierte Entsprechung zwischen Entzweiung und Wunsch, zwischen Versöhnung und Befriedigung zunächst dadurch begründen, daß der Wunsch durch eine Kluft zwischen dem Status quo und dem erhofften zukünftigen Zustand, also durch eine Art von Entzweiung gekennzeichnet ist, Befriedigung hingegen durch deren Aufhebung aufgrund einer Verwirklichung des Ersehnten. Diese Ubereinstimmung jedoch wirkt angesichts der vorangegangenen Zitate irreführend. Denn keineswegs begreift Schopenhauer dort ,Entzweiung' etwa als Gegenteil von Befriedigung, sondern bereits als eine Art von Semi-Befriedigung: „indem die Forderung des einen" der beiden Grundelemente Rhythmus und Harmonie „befriedigt wird", während „die des andern es nicht ist". 76 Die Doppelbedürftigkeit des Willens, der „steten Strebens und Erreichens" in ausgewogenem Verhältnis bedarf 7 7 , läßt sich nur mit dem musiktheoretischen Begriff ,Entzweiung' angemessen bezeichnen. Denn der von Not und Langeweile bedrängte Wille zielt auf gegensätzliche Modi von Befriedigung, und zwar mit ambivalenten Konsequenzen. In concreto: Die aufgrund von Bedürfnisbefriedigung eingetretene Ruhe kann einerseits als beglückende Entlastung vom Leidensdruck drängender Wünsche und quälender Not erlebt werden, schafft aber andererseits bereits gefährliche Vorbedingungen fur die durch Objektmangel entstehende Langeweile. Vice versa: Die Dynamik des strebend-bewegten Willens kann einerseits als leidensvolle Bedürftigkeit empfunden werden, bietet andererseits jedoch zugleich eine willkommene Chance zur Abwehr der Langeweile. Diese Konstellation beruht auf einer Alternative, die im Einzelfall jeweils nur eine Art von Befriedigung zuläßt, so daß eine simultane Doppelbefriedigung im Sinne gleichzeitiger erfolgreicher Abwehr von Not und Langeweile unmöglich ist. 78 Und genau deshalb ist die von Schopenhauer behauptete Analogie zwischen musikalischer und voluntativer Sphäre im Hinblick auf das Verhältnis von Entzweiung und Versöhnung systemimmanent ausgeschlossen. Die Koinzidenz der Befriedigung rhythmischer und harmonischer Forderungen,

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Unhaltbarkeit dieser Analogie-These. (Vgl. Weyers, Raymund: Arthur Schopenhauers Philosophie der Musik. Regensburg 1976. (Kölner Beiträge zur Musikforschung. Hrsg. von Heinrich Hüschen. Band 88.) S. 120-121.) WWV II S. 583. WWV I S. 290. Vgl. ergänzend die in § 8 und § 9 bereits behandelten Textstellen in WWV I S. 241, 362 - 363, 428, 430. Auf die in § 8 und § 9 ausführlich thematisierten einschlägigen Textstellen kann an dieser Stelle nur verwiesen werden.

§ 1 8 . Der Sonderstatus der Musikästhetik

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die Schopenhauer in seiner Musikmetaphysik als ,Versöhnung' bezeichnet, findet im Bereich des Voluntativen, in dem eine vergleichbare Doppelbefriedigung unmöglich ist, keine Entsprechung. Im Bereich des strebenden Willens besteht also — anders als im Felde der Musik und entgegen Schopenhauers Postulat — zur ,Entzweiung' (gemäß dem obigen Zitat im Sinne einer Semi-Befriedigung) keine Alternative. Für den des „steten Strebens und Erreichens" bedürftigen Willen ist trotz seiner Doppelorientierung jeweils immer nur ein Modus von Befriedigung möglich, so daß sich insgesamt ein Alternieren gegensätzlicher Befriedigungen ergibt. Nur akzelerierter Wechsel von Wunsch und Befriedigung hält sowohl Not als auch Langeweile in Schranken und stellt dadurch ein Glück in Aussicht, das nichts anderes ist als Minimierung des Leidens. An seine irrtümliche Parallelisierung von Entzweiung und Wunsch, von Versöhnung und Befriedigung schließt Schopenhauer den explikativen Satz an: „Ebendadurch schmeichelt die Musik sich so in unser Herz, daß sie ihm stets die vollkommene Befriedigung seiner Wünsche vorspiegelt".79 Die Illusionshaltigkeit derartiger Vorspiegelungen ist im Horizont von Schopenhauers Willenstheorie offensichtlich.80 Die von der Musik vorgespiegelte „vollkommene Befriedigung" der Wünsche bleibt — ebenso wie ein voluntatives Analogon zu musikalischer ,Versöhnung' — letztlich U-topie.

79 V W V II S. 584. Vgl. ergänzend auch S. 586. 80

Exemplarisch seien folgende Belegstellen genannt: W W V I S. 241, 279, 280, 428, 430, 443. Vgl. dazu die entsprechenden Passagen in § 10 und § 12 dieser Arbeit.

§ 19. Die Inferiorität der Lyrik in Schopenhauers Dichtungstheorie I. Mit einigen zentralen Aussagen Schopenhauers über Wesen und Funktion der Kunst generell sowie der Dichtkunst speziell läßt sich der Rahmen abstecken, in dem seine — mit systemimmanenten Schwierigkeiten verbundene — Konzeption der Lyrik zu piazieren ist. Als „das höchste Ziel der Kunst" betrachtet Schopenhauer die Offenbarung des menschlichen Wesens.1 Die Idee des Menschen, die als „hohe Stufe der Objektität des Willens" besondere Bedeutung hat 2 , erklärt Schopenhauer zum Gegenstand verschiedener Kunstgattungen: „Menschliche Gestalt und menschlicher Ausdruck sind das bedeutendeste Objekt der bildenden Kunst so wie menschliches Handeln das bedeutendeste Objekt der Poesie". 3 Aufgrund ihrer linearen Struktur erweisen sich Werke der Dichtkunst nach Schopenhauers Auffassung als besonders geeignet zur Darstellung einer „Kette von Handlungen und sie begleitender Gedanken und Affekte" 4 und überbieten diesbezüglich das Potential der bildenden Künste beträchtlich. Der Status der Lyrik erhellt aus einer Passage, in der Schopenhauer zwischen drei (durch graduelle Übergänge untereinander vermittelten) Hauptgattungen der Dichtkunst differenziert: „Die Darstellung der Idee der Menschheit, welche dem Dichter obliegt, kann er nun entweder so ausführen, daß der Dargestellte zugleich auch der Darstellende ist: dieses geschieht in der lyrischen Poesie, im eigentlichen Liede, wo der Dichtende nur seinen eigenen Zustand lebhaft anschaut und beschreibt, wobei daher durch den Gegenstand dieser Gattung eine gewisse Subjektivität wesentlich ist — oder aber der Darzustellende ist vom Darstellenden ganz verschieden wie in allen andern Gattungen, wo mehr oder weniger der Darstellende hinter dem Dargestellten 1 2 3 4

WWV WWV WWV WWV

I I I I

S. S. S. S.

298. 298. 298. 342.

352

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

sich verbirgt und zuletzt ganz verschwindet". 5 Als Charakteristikum der Lyrik hebt Schopenhauer hier deren Subjektivität hervor, die seines Erachtens durch eine Koinzidenz von Dargestelltem und Darstellendem bedingt ist. Objektivität hingegen kennzeichnet die Gattungen, die keine Identität von Dargestelltem und Darstellendem aufweisen. Nach dem Kriterium Subjektivität oder Objektivität differenziert Schopenhauer zwischen den poetischen Gattungen und Spezies, die sich durch ein Mehr oder Minder an Subjektivität respektive Objektivität jeweils graduell voneinander unterscheiden. Komparativ- und Superlativformen verraten eine quantitative Differenzierung: „In der Romanze drückt der Darstellende seinen eigenen Zustand noch durch Ton und Haltung des Ganzen in etwas aus: viel objektiver als das Lied hat sie daher noch etwas Subjektives, dieses verschwindet schon mehr im Idyll, noch viel mehr im Roman, fast ganz im eigentlichen Epos, und bis auf die letzte Spur endlich im Drama, welches die objektiveste und in mehr als einer Hinsicht vollkommenste, auch schwierigste Gattung der Poesie ist". 6 Gemäß dem jeweiligen Anteil an Subjektivität respektive Objektivität erhalten die poetischen Gattungen also ihren Platz auf einer Rangskala. Die zentrale Grenzlinie verläuft dabei zwischen Identität und Differenz von Darstellendem und Dargestelltem und ergänzt das quantitative Differenzierungskriterium um ein qualitatives. Einen Sonderstatus erhält die Lyrik aufgrund vermeintlicher Identität 7 von Darstellendem und Dargestelltem — im Unterschied zu entsprechender Differenz bei den epischen und dramatischen Gattungen. 8 Jene oben zitierte These, nach der im Drama ein Maximum an Objektivität mit einem Höchstmaß an Vollkommenheit gepaart ist, hat Auswirkungen auf die Bewertung der Lyrik: Die Subjektivität der Lyrik scheint demnach einen Mangel zu bein-

5 6

7

8

WWV I S. 3 4 7 - 3 4 8 . WWV I S. 348. Auf S. 351 grenzt Schopenhauer von der Lyrik „ R o m a n , E p o s und D r a m a " als die „mehr objektiven Dichtungsarten" ab. Hingewiesen sei darauf, daß die heutzutage in der Literaturwissenschaft etablierte Unterscheidung zwischen Autor und lyrischem Ich hier bei Schopenhauer noch fehlt. D a ß der Lyriker im Gedicht unmittelbar seine eigene Gefühlslage und Erlebnissphäre zum Ausdruck bringt, stand für Schopenhauer offenbar außer Frage. In WWV I S. 347 — 348 finden sich mehrere diesbezüglich aufschlußreiche Thesen. Im Unterschied zu dieser Dualität von Lyrik einerseits, Epik und Dramatik andererseits findet sich in WWV II S. 554 eine eher triadische Strukturierung: „Wie demnach in der lyrischen Poesie das subjektive Element vorherrscht, so ist dagegen im D r a m a das objektive allein und ausschließlich vorhanden. Zwischen beiden hat die epische Poesie in allen ihren Formen und Modifikationen, von der erzählenden Romanze bis zum eigentlichen E p o s , eine breite Mitte inne. D e n n obwohl sie in der Hauptsache objektiv ist; so enthält sie doch ein bald mehr, bald minder hervortretendes subjektives Element [...]".

§ 1 9 . Die Inferiorität der Lyrik in Schopenhauers Dichtungstheorie

353

halten. Diese Einschätzung wird bestätigt, wenn Schopenhauer seiner These, der Lyriker schildere im Gedicht seine eigene Gemütsverfassung, durch ein vorangestelltes „nur"9 eine pejorative Konnotation implantiert. Eine Inferiorität der Lyrik gegenüber den anderen poetischen Gattungen erhellt auch aus Schopenhauers Behauptung: Um „ein schönes Lied zustande bringen" zu können, bedarf es „nur einer lebhaften Anschauung seines eigenen Zustandes im aufgeregten Moment".10 Und das Inferiore der lyrischen Subjektivität wird vollends evident, wenn man ihr Schopenhauers Konzeption ästhetischer Objektivität gegenüberstellt. Beispielsweise bezeichnet Schopenhauer „die eigentlich ästhetische Auffassung, die im höhern Grade nur dem Genie eigentümlich ist", als „Zustand des reinen, d. h. völlig willenlosen und ebendadurch vollkommen objektiven Erkennens"11, das als Bedingung ästhetischer Produktivität zu gelten hat: „alle echten Werke der Künste, der Poesie und selbst der Philosophie"12 setzen also „eine ganz objektive Anschauung" als ihr „punctum saliens" voraus.13 So entschieden erklärt Schopenhauer Objektivität zum unabdingbaren Konstituens von Genialität, daß er geradezu eine Koinzidenz behauptet: Demnach „ist Genialität nichts anderes als die vollkommenste Objektivität, d. h. objektive Richtung des Geistes, entgegengesetzt der subjektiven, auf die eigene Person, d. i. den Willen gehenden".14 Selbst wenn die Lyrik — qua Kunst — ohne eine objektive Komponente im Rahmen von Schopenhauers Ästhetik undenkbar ist15: hinter den anderen poetischen Gattungen steht sie durch ihren besonders hohen Anteil an Subjektivität zurück. Denn die Verbindung von Subjektivität und Inferiorität läßt sich in Schopenhauers Ästhetik ebenso belegen wie die Einheit von Objektivität und Superiorität. Daß Schopenhauer dem Drama gerade aufgrund seiner maximalen Objektivität die höchste Vollkommenheit attestiert16, ist diesbezüglich ebenso aufschlußreich wie der auffällig geringe Anspruch, den Schopenhauer an den Produzenten lyrischer Poesie stellt, in der eben „das subjektive Element vorherrscht".17 9

10 π 12 13 14

Vgl. W W V I S. 347: „in der lyrischen Poesie, im eigentlichen Liede, wo der Dichtende nur seinen eigenen Zustand lebhaft anschaut und beschreibt". W W V I S. 348. w w v II S. 378. Vgl. auch Kl. Sehr. S. 399. W W V II S. 4 8 4 - 4 8 5 . Vgl. auch S. 479. W W V II S. 479. Vgl. ferner Kl. Sehr. S. 399. W W V I S. 266. Analog: W W V II S. 378, W W V I S. 282, Kl. Sehr. S. 3 9 9 - 4 0 0 .

Vgl. dazu beispielsweise ΗΝ I S. 159: Die geniale „Kraft objektiver Anschauung [...] fehlt den meisten Menschen ganz: sie kann zufallig auf einen Augenblick ihnen kommen: dann machen sie oft ein erträgliches Gedicht". 1 6 Vgl. W W V I S. 348. 17 W W V II S. 554. 15

354

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Dabei lockert sich zusehends die Bindung der Lyrik an das Genie als ihren Produzenten: Aufgrund ihres subjektiven Charakters ist die „lyrische Gattung [...] die leichteste, und wenn die Kunst sonst nur dem so seltenen echten Genius angehört, so kann selbst der im ganzen nicht sehr eminente Mensch, wenn in der Tat durch starke Anregung von außen irgendeine Begeisterung seine Geisteskräfte erhöht, ein schönes Lied zustande bringen: denn es bedarf dazu nur einer lebhaften Anschauung seines eigenen Zustandes im aufgeregten Moment". 18 — Doch ist eine Aufhebung der Notwendigkeit dieser Bindung hier wirklich schon hinreichend? Müßte Schopenhauer seine Einschätzung nicht dahingehend radikalisieren, daß die (im Vergleich zu anderen poetischen Gattungen) pejorativ bewertete Lyrik grundsätzlich kein geniales Produkt sein kann? Denn sind nicht lyrische Subjektivität und geniale Objektivität inkompatibel? Indes: So berechtigt Fragen dieser Art erscheinen mögen: die tatsächliche Konstellation erweist sich als weitaus komplexer. Schopenhauers Auffassung, daß der Lyriker „nur seinen eigenen Zustand lebhaft anschaut und beschreibt" 19 , so daß „die ganze Leistung dieser poetischen Gattung" darin besteht, „die Stimmung des Augenblickes zu ergreifen und im Liede zu verkörpern" 20 , wird in der folgenden These relativiert: „Dennoch bildet in der lyrischen Poesie echter Dichter sich das Innere der ganzen Menschheit ab, und alles, was Millionen gewesener, seiender, künftiger Menschen in denselben, weil stets wiederkehrenden Lagen empfunden haben und empfinden werden, findet darin seinen entsprechenden Ausdruck". 21 Und wenig später 'β W W V I S. 348. Diese These glaubt Schopenhauer fundieren zu können durch den Hinweis auf „viele einzelne Lieder übrigens unbekannt gebliebener Individuen, besonders die deutschen Volkslieder [...] und ebenso unzählige Liebes- und andere Lieder des Volkes in allen Sprachen" (S. 348). Die Musikalität der Lyrik betont Schopenhauer, wenn er die Begriffe ,Lied' und .lyrische Poesie' als Synonyma verwendet (vgl. Belege in W W V I S. 347 — 350). Außerdem exponiert Schopenhauer die lyrischen Stilmittel Rhythmus und Reim mit ihrer „unglaublich mächtigen Wirkung" (WWV I S. 341) als eine „Art Musik", die dem bloßen Wortklang „eine gewisse Vollkommenheit und Bedeutsamkeit an sich selbst" verleiht (WWV II S. 550) und somit eine (natürlich nur scheinbare) Dispensierung vom instrumentell-zeichenhaften Charakter der Sprache suggeriert, eine von deren Funktionalität gelöste, mithin autonom gewordene Klangfülle (vgl. a. a. O.). Eine Analogie zwischen Lyrik und Musik erhellt auch dort, wo Schopenhauer Gedankensprünge und logische Inkohärenzen in der Lyrik folgendermaßen zu rechtfertigen sucht: „hier ist der logische Zusammenhang absichtlich vernachlässigt, um ersetzt zu werden durch die Einheit der darin ausgedrückten Grundempfindung und Stimmung, als welche gerade dadurch mehr hervortritt, indem sie [...] den schnellen Wechsel der Gegenstände der Betrachtung so vermittelt wie in der Musik der Septimenakkord [...]" (WWV II S. 554). 19 w w v I S. 347. 20 W W V I S. 348. 21 W W V I S. 348.

§19. Die Inferiorität der Lyrik in Schopenhauers Dichtungstheorie

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konstatiert Schopenhauer: „Ist doch überhaupt der Dichter der allgemeine Mensch: alles, was irgendeines Menschen Herz bewegt hat und was die menschliche Natur in irgendeiner Lage aus sich hervortreibt, [...] ist sein Thema und sein Stoff; wie daneben auch die ganze übrige Natur". 22 Diese Einschätzung läßt sich ohne weiteres mit jenen Aussagen Schopenhauers vereinbaren, nach denen die höchste Aufgabe der Kunst in der Darstellung menschlicher Handlungen, Gedanken, Affekte zur Offenbarung des menschlichen Wesens besteht. Problematisch bleibt allerdings der Status der Lyrik innerhalb der poetischen Gattungen, und zwar aufgrund ihrer von Schopenhauer vorausgesetzten Inferiorität qua Subjektivität. Eine weitere Schwierigkeit kommt hinzu: Als potentiell nicht-geniale Kunst sprengt die Lyrik den Zusammenhang von Kunst und Genialität. 23

II. Aussicht darauf, die Lyrik unter Wahrung ihrer Spezifika bruchlos in den Bereich der Dichtung zu integrieren, bestünde allenfalls dann, wenn sich Perspektiven entwickeln ließen, die zur vermeintlichen Inferiorität der Lyrik einen Ausgleich schaffen könnten. Zunächst stellt sich die Frage, wie Schopenhauer seine These von der Subjektivität der Lyrik eigentlich begründet. Das „eigentümliche Wesen des Liedes" beschreibt Schopenhauer in einer längeren Passage innerhalb seiner Lyriktheorie folgendermaßen: „Es ist das Subjekt des Willens, d. h. das eigene Wollen, was das Bewußtsein des Singenden füllt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen (Freude), wohl noch öfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als Affekt, Leidenschaft, bewegter Gemütszustand. Neben diesem jedoch und zugleich damit wird durch den Anblick der umgebenden Natur der Singende sich seiner bewußt als Subjekts des reinen willenlosen Erkennens, dessen unerschütterliche, selige Ruhe nunmehr in Kontrast tritt mit dem Drange des immer beschränkten, immer noch dürftigen Wollens: die Empfindung dieses Kontrastes, dieses Wechselspieles ist eigentlich, was 22 VPWV I S. 348. Vgl. auch S. 347: „Die Darstellung der Idee der Menschheit" obliegt „dem Dichter". 23

Ansonsten faßt Schopenhauer die Kunst eo ipso als Genieprodukt auf (vgl. ζ. B. W W V I S. 348); fraglich ist daher, wie die Subjektivität der Lyrik und die potentielle Nichtgenialität ihrer Produzenten mit Schopenhauers Kunstbegriff kompatibel sein können — zumal angesichts der (oben belegten) Koinzidenz von Genialität und Objektivität.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

sich im Ganzen des Liedes ausspricht und was überhaupt den lyrischen Zustand ausmacht".24 Diese zentrale Aussage zeigt, daß Schopenhauer das Spezifische der Lyrik in einer Ambivalenz erblickt, die durch ästhetisch-willenlose Ataraxie und affektbestimmte Willensimpulse des Subjekts entsteht. Dabei scheint der Antagonismus dieser Komponenten wohl ein annähernd paritätisches Verhältnis zwischen ihnen vorauszusetzen; anderenfalls wäre der Fortbestand der Ambivalenz bis zur lyrischen Produktion nicht gesichert. Unklar bleibt dabei, ob Schopenhauer die bewußtseinsimmanente Polarität eher als ein Nacheinander dieser gegensätzlichen Zustände oder als ein ambivalent-komplexes Zugleich betrachtet.25 Die von Schopenhauer pejorativ bewertete Subjektivität der lyrischen Poesie hat offensichtlich ihren Ursprung in der voluntativen Komponente des ambivalenten lyrischen Zustands. Das läßt sich beispielsweise aus Schopenhauers These erschließen, daß „der Wille als das Prinzip der Subjektivität der Gegensatz, ja Antagonist der Erkenntnis" ist.26 Auf dieser Folie erscheint Nietzsches Kritik an Schopenhauers lyriktheoretischem Ansatz plausibel: Im Anschluß an ein ausführliches SchopenhauerZitat problematisiert er in seiner Tragödienschrift Schopenhauers Konzeption der Lyrik durch die folgende rhetorische Frage: „Wer vermöchte in dieser 24 w w v ι s. 349. Für eine Synchronic der gegensätzlichen Momente spricht WWV I S. 349, wo Schopenhauer mit Bezug auf den voluntativen Faktor behauptet: „Neben diesem jedoch und zugleich damit wird [...] der Singende sich seiner bewußt als Subjekts des reinen willenlosen Erkennens". Für eine Gleichzeitigkeit des Heterogenen kann man außerdem mit Schopenhauers These vom „so gemischten und geteilten Gemütszustande" (WWV I S. 350) argumentieren. — Der gegenläufige Eindruck, es handele sich beim lyrischen Kontrast eher um ein Changieren in zeitlichem Nacheinander, liegt nahe, wenn Schopenhauer den Begriff .Kontrast' appositionell durch .Wechselspiel' erläutert (vgl. WWV I S. 349). Für eine Sukzession der gegensätzlichen Zustände spricht auch die folgende Partie: Im „lyrischen Zustand", so Schopenhauer, „tritt gleichsam das reine Erkennen zu uns heran, um uns vom Wollen und seinem Drange zu erlösen: wir folgen; doch nur auf Augenblicke: immer von neuem entreißt das Wollen, die Erinnerung an unsere persönliche[n] Zwecke uns der ruhigen Beschauung aber auch immer wieder entlockt uns dem Wollen die nächste schöne Umgebung, in welcher sich die reine willenslose Erkenntnis uns darbietet" (WWV I S. 349). Ob es sich bei dem lyrikspezifischen Kontrast also um ein Zugleich oder um ein Nacheinander der polaren Komponenten handelt, bleibt in Schopenhauers Ausführungen (sogar auf ein und derselben Seite) offensichtlich unentschieden. -Kein Zweifel jedoch besteht am Faktum dieses Kontrastes (unabhängig von seinen Implikationen), so daß der Einschätzung von Walter Schulz nicht zugestimmt werden kann, der in gelungener Lyrik gemäß der Schopenhauerschen Konzeption „nicht nur Subjekt und Objekt, Individuum und Allgemeinheit, sondern auch Freude und Trauer zur Harmonie kommen" sieht. (Schulz, Walter: Die problematische Stellung der Kunst in Schopenhauers Philosophie. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Tübingen 1981. S. 403 - 415, darin S. 411.) 26 WWV n s. 475.

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§ 19. Die Inferiorität der Lyrik in Schopenhauers Dichtungstheorie

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Schilderung zu verkennen, dass hier die Lyrik als eine unvollkommen erreichte, gleichsam im Sprunge und selten zum Ziele kommende Kunst charakterisirt wird, ja als eine Halbkunst, deren Wesen darin bestehen solle, dass das Wollen und das reine Anschauen d. h. der unaesthetische und der aesthetische Zustand wundersam durch einander gemischt seien?"27 Ausgehend von den Prämissen der Schopenhauerschen Ästhetik, kritisiert Nietzsche zu Recht den „Gegensatz [...] des Subjectiven und des Objectiven", der seines Erachtens „in der Aesthetik ungehörig ist, da das Subject, das wollende und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann"; als Künstler nämlich ist das Subjekt — so Nietzsche — „bereits von seinem individuellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subject seine Erlösung im Scheine feiert".28 Im Hinblick auf Schopenhauers These, „willenloses Erkennen" sei „die Bedingung, ja das Wesen aller ästhetischen Auffassung"29, ist Nietzsches auf Lyrik in Schopenhauers Sinne gemünzter Begriff ,Halbkunst' adäquat. Daß gemäß Nietzsches Kritik aus einer Synthese von Unästhetischem und Ästhetischem im lyrischen Zustand allenfalls Kunstwerke inferioren Ranges entspringen können, erscheint einleuchtend. Richtet man seine Aufmerksamkeit weniger auf die beschriebene systemimmanente Problematik als vielmehr auf die subjektinterne Ambivalenz per se, so eröffnen sich andere Perspektiven. Sie können zu den

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Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. KSA 1 S. 47. Die Passage, die Nietzsche zitiert, entspricht WWV I S. 349 — 350. — Im Anschluß an diese kritische Frage Nietzsches exponiert Erich Heller „das Versäumnis Schopenhauers [...], die Lyrik überzeugend als Kunst zu begründen" (Heller, Erich: Das lyrische Ich seit Schopenhauer. In: Schopenhauer-Jahrbuch 57 (1976) S. 58 — 70, darin S. 68). Dennoch apologetisch gesonnen, bezweifelt Heller jedoch den niedrigen Rang der Lyrik bei Schopenhauer und vertritt irrtümlich die Meinung, gegen derartige Inferiorität spreche neben einem Mangel an „Ausgesprochenheit" auch „die liebevolle Einläßlichkeit", mit der Schopenhauer Metrum und Reim thematisiere (vgl. S. 64). Daß Schopenhauer diese Stilmittel aber auch kritisch betrachtet, läßt sich belegen durch WWV I S. 341 und WWV II S. 5 4 8 - 5 5 2 . Und das bloße Faktum der Ausführlichkeit, mit der Schopenhauer auf Metrum und Reim eingeht, ist als Argument im vorliegenden Kontext nicht funktionalisierbar. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. KSA 1 S. 47. Ein einziger Satz Nietzsches zeigt hier in auffälliger Weise sowohl Affinität als auch Distanz zu Schopenhauer: erstere in Gestalt der Erlösung vom „individuellen Willen", letztere in Gestalt bestimmter Implikationen der ersteren: eine „Erlösung im Scheine" fände in Schopenhauers Ästhetik keinen Platz. Vgl. dazu die Ausführungen zur Relation zwischen ästhetischer Einstellung in Schopenhauers Sinne und Nietzsches Konzeption des Apollinischen in § 13 dieser Arbeit. Kl. Sehr. S. 399.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

pejorativen Konnotationen in Schopenhauers Lyrikkonzeption einen gewissen Ausgleich schaffen. Wenn Schopenhauer im Gedicht Wechselwirkungen zwischen subjektiver Stimmung als „Affektion des Willens" einerseits und der schönen (zu willenloser Kontemplation anregenden) Natur andererseits glaubt feststellen zu können 30 , dann erhellt, daß er sich an einem ganz bestimmten Typus von Lyrik orientiert: an erlebnishaft geprägter Naturlyrik. 31 Andere Typen hingegen — beispielsweise Lehrgedichte des Barock, Balladen oder die sogenannte ,Gedankenlyrik' Schillers — läßt Schopenhauer in seiner Lyriktheorie unberücksichtigt. Spricht er von der „lyrischen Poesie" als dem „eigentlichen Liede" 32 , so betrachtet er die durch bewußtseinsinterne Ambivalenz gekennzeichnete naturbezogene Erlebnislyrik offenbar als paradigmatisch für die lyrische Poesie überhaupt. Daß andere Typen lyrischer Dichtung nicht durch derartige Kontraste geprägt sind, bleibt dabei außer acht. Spricht Schopenhauer vom „gemischten und geteilten Gemütszustande", dessen Abdruck „das echte Lied" ist 33 , so scheint auf dieses wohl schwerlich die (exemplarisch auch auf das Gedicht bezogene) Aussage Schopenhauers zuzutreffen, im Kunstwerk stelle sich dem Rezipienten das „vollkommene Genügen, die finale Beruhigung, der wahre wünschenswerte Zustand" dar. 34 — In diesem Zusammenhang empfiehlt sich ein Rückblick auf Überlegungen im Schlußteil von § 10, in dem der lyrische und der erhabene Zustand als durch besondere Kontrastmomente geprägte Spezialfälle des Ästhetischen exponiert wurden. Die reine Ruhe willenloser Kontemplation wird durch diese exzeptionellen Kontrastmomente erheblich erschwert. Erblickt Schopenhauer das Spezifische des lyrischen Zustands in einer bewußtseinsimmanenten Ambivalenz zwischen Wollen und reinem Anschauen, zwischen einem affektgeladenen Gemütszustand und der Ruhe willenloser Naturbetrachtung 35 , so scheint diese spannungsreiche Konstellation mit der Einheitlichkeit einer kalmierend-beglückenden Willenlosigkeit in ästhetischer Einstellung inkompatibel zu sein. Von ästhetischer Ataraxie kann im Falle der lyrischen

Vgl. W W V I S. 350. Zu exemplarischer Veranschaulichung empfiehlt Schopenhauer seinen Lesern einige Gedichte Goethes zur Lektüre: .Schäfers Klagelied', .Willkommen und Abschied', ,An den Mond', ,Auf dem See', .Herbstgefühl' (WWV I S. 350). 32 W W V I S. 347. 33 W W V I S. 350. 3 4 PP II S. 491. 3 5 Vgl. W W V I S. 3 4 9 - 3 5 0 . 30 11

§ 1 9 . Die Inferiorität der Lyrik in Schopenhauers Dichtungstheorie

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Ambivalenz offenbar ebensowenig die Rede sein wie im Falle der Duplizität des Bewußtseins angesichts des Erhabenen. 36 Nimmt man allerdings auf den Erkenntnisanspruch der Kunst generell 37 Bezug, die als „Spiegel des Willens" ihn „zu seiner Selbsterkenntnis, ja [...] zur Möglichkeit seiner Erlösung" begleitet 38 , so geraten Erkenntnisanspruch und Glücksverheißung der Kunst in ein Konkurrenzverhältnis. Das ästhetische Subjekt, das Schopenhauer als „klares Weltauge" 39 bezeichnet, erkennt die tiefgreifende Unseligkeit des Willens, das Rasdos-Leidensvolle seines Dranges und seine radikale Entzweiung mit sich selbst. Bereits in § 10 und § 1 2 wurde die Frage gestellt, ob die selige Ruhe willenloser Ideenschau nicht gerade als Symptom einer Art von Blindheit gegenüber der schrecklichen Faktizität der Welt und des sie durchherrschenden Willens zu deuten wäre. Beinhaltet demnach ästhetische Kontemplation als Wesenserkenntnis eine fatale Selbsttäuschung 40 , indem das im Genuß willensenthobener Ideenschau schwelgende Subjekt die ganze Härte der Selbstentzweiung des Willens verkennt? — Offenbar geraten der ideenbezogene Erkenntnisanspruch und die kalmierend-entlastende, von voluntativem Leiden befreiende Wirkung der Kunst in Schopenhauers Ästhetik in einen Konflikt miteinander, der sich, wie es scheint, nur im ästhetischen Einzelfall jeweils zugunsten des einen oder des anderen Faktors entscheiden läßt. Illusionär-i«dastender Schönheitsschein und realistisch-Mastende Wesensschau des eo ipso Schrecklichen können wohl schwerlich in einer harmonischen Synthese nebeneinander bestehen. Daß Schopenhauer mitunter eine radikal-realistische Erkenntnis des Wesens der Welt, in letzter Instanz also des Willens, zu einem Qualitätskriterium sui generis für Kunst avancieren läßt, wird nirgends so deutlich wie in seinen Ausführungen zum Trauerspiel, dessen Zweck er in der „Darstellung der

Vgl. dazu die Ausführungen in § 10 dieser Arbeit. Vgl. WWV I S. 265. 38 WWV J s. 371. 39 WWV I S. 266. Vgl. dort ferner S. 282 sowie W W V II S. 479. - Zu Recht problematisiert Martin Seel die Vernachlässigung von Kontingenz, von Leib-, Sinnen- und Perspektivgebundenheit, für die seines Erachtens Schopenhauers metaphorische Vorstellung von einem .klaren Weltauge' bezeichnend ist, das „den Blick auf die Idee seiner Objekte wirft". (Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a. M. 1991. S. 81. Vgl. auch S. 80, 82.) Über den Rahmen angemessener Kritik schießt Seel allerdings hinaus, wenn er Schopenhauer pauschal „eine grandiose begriffliche Verunstaltung der Möglichkeit ästhetischer Kontemplation" glaubt attestieren zu können (a. a. O. S. 82). 4 0 Bezeichnenderweise sieht Schopenhauer selbst die „Seligkeit des willenlosen Anschauens", die „über die Vergangenheit und Entfernung einen so wundersamen Zauber verbreitet [...] durch eine Selbsttäuschung" entstehen (WWV I S. 283). 36 37

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

schrecklichen Seite des Lebens" erblickt.41 Dem Trauerspiel als der „höchsten poetischen Leistung" spricht Schopenhauer die Aufgabe zu, den „Widerstreit des Willens mit sich selbst" am „Leiden der Menschheit" sichtbar zu machen. 42 Wie in § 10 bereits gezeigt, weisen Lyrik, Trauerspiel und Naturerhabenes eine auffällige Analogie insofern auf, als die erhabene, tragische und lyrische Stimmung des ästhetischen Subjekts jeweils durch Momente von Ambivalenz und Kontrast, ja sogar von Widerstreit oder Zwiespalt gekennzeichnet sind. Sie fügen sich offensichtlich nicht bruchlos in eine durch „Seligkeit und Geistesruhe" 43 geprägte, vom Leidensdruck endastende ästhetisch-willenlose Kontemplation ein, eignen sich dafür aber um so mehr dazu, einer realistischdesillusionierten Erkenntnis des Wesens von Dasein und Welt Vorschub zu leisten. Und genau hier bietet sich ein Ansatzpunkt für den Versuch, Schopenhauers Lyriktheorie systemimmanent auch mit positiven Akzenten zu versehen. Denn weist nicht die Komplexität der ästhetisch-lyrischen Stimmung weitaus eher als die Simplizität heiter-unbeschwerten Wohlgefallens den Weg zur Erkenntnis des Wesens von Willen und Welt im Schopenhauerschen Sinne? Gerade aus dem „gemischten und geteilten" Gemütszustand des lyrischen Subjekts 44 müßten sich doch fruchtbare Erkenntnisperspektiven ergeben. Wer den dynamischen Konflikt gegensätzlicher Impulse im eigenen Bewußtsein intensiv erlebt, nähert sich damit der Einsicht ins Wesen der Welt genau in dem Maße, wie er sich von der statischen und differenzlosen Simplizität einer beglückenden Willenskalmierung entfernt. Die von Schopenhauer behauptete Einheit von Selbst- und Gegenstandsbewußtsein 45 manifestiert sich hier in einer Entsprechung zwischen dem Widerstreit der Willenserscheinungen in der Außenwelt und der Ambivalenz gegensätzlicher Komponenten in der Innenwelt des lyrischen Subjekts. 41 W W V I S. 353. Vgl. dazu § 10, § 21 und § 22 dieser Arbeit. 42 VCWV I S. 353. Vgl. ergänzend W W V II S. 556. 43 W W V I S. 301. 44 W W V I s. 350. In seinen ästhetischen Vorlesungen zur „Metaphysik des Schönen" führt Schopenhauer Wesen und spezifische Wirkung der Lyrik darauf zurück, „daß in uns auf eine wundersame Weise das Subjekt des Willens und das Subjekt des Erkennens Eins sind, ein Ich: und nun beide doch so sehr in Kontrast treten" (MS S. 199). Analog: W W V I S. 350. Pejorative Konnotationen fehlen an dieser Stelle gänzlich. 4 5 Vgl. dazu exemplarisch eine Textstelle in PP II S. 93, in der Schopenhauer das Genie definiert „als ein ausgezeichnet klares Bewußtsein von den Dingen und dadurch auch von ihrem Gegensatz, dem eigenen Selbst". Von der Deutlichkeit, mit der sich Künsder und Philosophen „der Welt und ihrer selbst innewerden", spricht Schopenhauer in W W V II S. 493. Vgl. zu dieser Thematik vor allem § 1 2 dieser Arbeit.

§ 1 9 . Die Inferiorität der Lyrik in Schopenhauers Dichtungstheorie

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Erst unter der Prämisse fundamentaler Schrecklichkeit der Welt verschärft sich die Dualität von Wesenserkenntnis und Eudämonie in ästhetischer Einstellung zum Konflikt unvereinbarer Perspektiven. Dadurch entstehen systemimmanente Spannungen, die zu ambivalenten Einschätzungen von Lyrik, Trauerspiel und Naturerhabenem führen. Nur dann, wenn man die ästhetische Ataraxie zum Hauptziel erklärt, legt die ambivalente Dynamik des lyrischen Zustands eine pejorative Bewertung nahe. Gibt man jedoch den besonderen, gerade in bewußtseinsinternem Widerstreit liegenden Erkenntnismöglichkeiten den Vorrang, so verändert sich die Beurteilungsbasis grundlegend: Außer dem Trauerspiel bietet — wenngleich in weniger ausgeprägter Weise — auch die Lyrik eine besondere Chance, zu realistischer Einschätzung des Wesens der Welt hinzuführen, sofern die Ambivalenz im Bewußtsein des lyrischen Subjekts mit der Selbstentzweiung 46 des Willens korrespondiert. Ein solches Potential der Lyrik tritt als Korrektiv ihrer angeblichen Inferiorität qua Subjektivität gegenüber. Insofern zeigt Schopenhauers Lyrikkonzeption exemplarisch die Ambivalenzen, die — unter der Voraussetzung einer pessimistischen Weltsicht — aus einer Dualität von Erkenntnisanspruch und Eudämoniepostulat in ästhetischer Einstellung entspringen. Abhängig davon, ob der Interpret den Erkenntnisanspruch oder die Glücksverheißung in den Vordergrund stellt, variiert jeweils die Einschätzung bestimmter ästhetischer Einzelphänomene. Der immanente Kontrast, der außer der Lyrik auch Trauerspiel und Naturerhabenes prägt, läßt eine ästhetische Therapie des willensbedingten Leidens zwar wenig aussichtsreich erscheinen. Wohl aber eröffnet gerade die beschriebene Ambivalenz des ästhetischen Bewußtseins in diesen drei Spezialfällen eine besondere Möglichkeit zu authentisch-eindringlicher Darstellung der im Widerstreit des erlösungsbedürftigen Willens zum Ausdruck kommenden Schrecklichkeit von Leben und Welt. Eine weitgehend unangefochtene ästhetische Eudämonie hingegen setzt die Distanz zu konfliktträchtigen Ambivalenzen voraus, die einer nachhaltigen Kalmierung nur im Wege stünden. Anders als die Selbstgenügsamkeit seliger Ruhe in ästhetischer Kontemplation weist der ästhetische Erkenntnisanspruch bereits über die künsderische Sphäre hinaus und eröffnet einen Blick auf Schopenhauers Ethik der Selbstverneinung des Willens zum Leben. Daß sich Schopenhauer über die Chance besonderer Erkenntnisperspektiven, die gerade im „so gemischten und geteilten" 47 lyrischen GemütszuVgl. WWV I S. 357, wo Schopenhauer über den Willen sagt, das Trauerspiel bringe „seinen Zwiespalt mit sich selbst in furchtbarer Größe und Deutlichkeit" zum Ausdruck. 47 WWV I S. 350.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

stand angelegt sind, offenbar nicht im klaren war, erhellt aus dem Nachdruck, mit dem er die Lyrik gegenüber den anderen poetischen Gattungen abwertet. Schopenhauers Lyriktheorie krankt folglich an einer — systemimmanent keineswegs zwingenden — Einseitigkeit.

III. Berücksichtigung verdienen noch weitere Aspekte, die ein Gegengewicht zu Schopenhauers These von der Inferiorität der Lyrik bilden können. Sofern seines Erachtens ein „echter Dichter" als „der allgemeine Mensch" imstande ist, „das Innere der ganzen Menschheit" abzubilden 48 , gilt dies gewissermaßen totum pro parte auch für den Lyriker. In singulärer Weise eignet sich nach Schopenhauer gerade die Dichtung zu einem künsderischen Ausdruck der besonderen Komplexität des Menschen, da sie ihn „in der zusammenhängenden Reihe seiner Bestrebungen und Handlungen" beschreibt. 49 Er, dem nur sukzessive Darstellung gerecht zu werden vermag, ist der Hauptgegenstand der linear strukturierten Poesie, die den bildenden Künsten mit ihrer statischen, auf die Punktualität des Augenblicks, mithin auf wenige Facetten beschränkten Darstellungsweise Wesentliches voraushat. 50 Auch an dieser spezifischen Qualität der Poesie partizipiert die Lyrik. Einen gewissen Sonderstatus erhalten lyrische Werke bei Schopenhauer insofern, als er auch sie als Beispiele für die von ihm sogenannten „Werke aus einem Guß" anführt. Deren Vorzug besteht darin, daß sie als Produkte der Inspiration im Augenblick ihrer Konzeption bereits vollendet sind und daher keiner mühsamen Korrektur und Vervollständigung durch Reflexion, Routine und vermittels „beharrlicher Absichtlichkeit" bedürfen. 51 Außer durch „die Skizzen großer Meister" exemplifiziert Schopenhauer diese „Werke aus einem Guß" auch durch „die Melodie" sowie „das eigentlich lyrische Gedicht, das bloße Lied". 52 Das Prärogativ dieser — die lyrische Poesie einschließenden — Werke erblickt Schopenhauer darin, daß „ihre Wirkung viel unfehlbarer ist als die der größten Kunstwerke von langsamer und überlegter Ausführung". 53 Auch diese Konstellation könnte zu einer Aufwertung der Lyrik beitragen. 48 W W V I S. 348. Vgl. ergänzend W W V I S. 298, wo Schopenhauer die Darstellung des menschlichen Wesens zum höchsten Ziel der Kunst erklärt. 49 W W V I S. 342. Vgl. W W V I S. 3 4 1 - 3 4 2 . Vgl. W W V II S. 524, 526. 52 W W V II S. 526. 53 W W V II S. 526.

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§ 1 9 . Die Inferiorität der Lyrik in Schopenhauers Dichtungstheorie

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Und wenn Schopenhauer den poetischen Werken generell erhöhte Anforderungen an den Rezipienten sowie „eine viel stärkere, tiefere und allgemeinere Wirkung" 54 attestiert als den bildenden Künsten, so erhält die Phantasie hier eine wichtige Funktion. Denn Schopenhauer vertritt die Auffassung, „daß die Phantasie des Lesers der Stoff ist, in welchem die Dichtkunst ihre Bilder darstellt" 55 , so daß gerade dadurch die Rezeption stärker als bei anderen Kunstgattungen von der Individualität des Subjekts geprägt ist. 56 Sogar in die Definition der Poesie findet der Phantasiebegriff Eingang; Schopenhauer bezeichnet die Poesie „als die Kunst, durch Worte die Phantasie ins Spiel zu versetzen". 57 Der Kontext zeigt, daß hier die Dichtkunst generell thematisch ist, also unter Einbeziehung der Lyrik. In verschiedenerlei Hinsicht kann man also für positiv zu wertende Momente argumentieren, die Schopenhauers tendenziell pejorativer Kennzeichnung der Lyrik gegenüberstehen. Dadurch wird allerdings die Problematik seiner Lyrik-Konzeption nicht beseitigt. Sofern nämlich die Lyrik aufgrund ihrer Subjektivität mit der grundsätzlichen Objektivität der Poesie 58 in Konflikt gerät, bleibt eine Subsumtion der Lyrik unter die Poesie fragwürdig. Daß „ein schönes Lied" des Lyrikers angeblich „nur einer lebhaften Anschauung seines eigenen Zustandes im aufgeregten Moment" bedarf, wie Schopenhauer behauptet, daß er dabei „nur seinen eigenen Zustand lebhaft anschaut und beschreibt" und lediglich „die Stimmung des Augenblickes" im Lied einfängt 59 : die Suggestion einer so ungebrochenen Unmittelbarkeit ist nicht plausibel. Auf die wichtige Differenz zwischen Autor und lyrischem Ich, die in der heutigen Literaturwissenschaft vorausgesetzt wird, hat Schopenhauer offensichtlich noch nicht reflektiert. Nur so läßt es sich wohl erklären, daß er für den Lyriker in der beschriebenen Weise die naive Schlichtheit eines Gefühlsausdrucks in Anspruch nimmt, der ohne reflexive Vermittlungen und Brechungen auskommt.

Vgl. W W V II S. 544. Auch in produktionsästhetischer Hinsicht stellt die Poesie höhere A n forderungen als die bildenden Künste: vgl. W W V II S. 487. 55 W W V II S. 544. 54

Denn die lebendigste Wirkung verdankt sich einer Rezeptionsweise, die der Persönlichkeit des Lesers, seiner Erkenntnissphäre und momentanen Stimmung jeweils am besten entspricht (vgl. dazu W W V II S. 544). 5 7 PP II S. 497. Vgl. auch W W V I S. 340: „nur durch Beihülfe seiner eigenen Phantasie" kann der „Hörer die Ideen des Lebens anschauen". Andere Textstellen (ζ. B. aus W W V II S. 97, 524) kommen in § 15 der vorliegenden Arbeit zur Sprache. 5 8 Vgl. W W V II S. 477: die Wirkung der Poesie „ist bedingt durch die anteilslose, willenslose und dadurch rein objektive Auffassung." 59 W W V I S. 3 4 7 - 3 4 8 . 51S

§ 20. Die Problematik der Relation zwischen Schönem und Erhabenem I.

Offensichtlich erhält das Objekt in Schopenhauers Ästhetik einen Rang besonderer Art. Aus der Fülle der Textstellen, die diesen Status der ästhetischen Gegenstände erkennen lassen, seien hier nochmals einige exemplarisch zitiert, um den Zusammenhang zwischen § 4 und § 20 zu verdeutlichen: Die „rein objektive Gemütsstimmung" 1 , deren Vorhandensein Schopenhauer „als erforderlich zur Erkenntnis der Idee" 2 betrachtet, wird seines Erachtens „erleichtert und von außen befördert [...] durch entgegenkommende Objekte" 3 , und zwar in der Weise, daß die Subjekte durch sie „eine momentane Erhöhung der Intensität" ihrer „intuitiven Intelligenz erfahren". 4 Eine so große Wirkkraft traut Schopenhauer dem ästhetischen Objekt zu, daß er behauptet, es entferne „den Willen und die seinem Dienste frönende Erkenntnis der Relationen ohne Widerstand und daher unmerklich aus dem Bewußtsein". 5 Das „Entgegenkommen der Natur" schließlich ist es, das den Betrachter „in die ästhetische Kontemplation versetzt und ebendamit zum willensfreien Subjekt des Erkennens erhebt". 6 Diese Zitate, die sich mühelos um etliche analoge Aussagen ergänzen lassen, mögen hier genügen, um unter Rekurs auf § 4 erneut folgende These ι W W V I S. 281. Der Text von § 20 ist die überarbeitete und etwas erweiterte Fassung eines Vortrags, den ich unter dem Titel „Zur Problematik von Schönem und Erhabenem in Schopenhauers Ästhetik" am 25.5.1988 im Rahmen des Internationalen Schopenhauer-Kongresses der Internationalen Schopenhauer-Vereinigung in Hamburg gehalten habe. Er ist inzwischen publiziert worden in: Schopenhauer, Nietzsche und die Kunst. Schopenhauer-Studien 4. Hrsg. von Wolfgang Schirmacher. Wien 1991. S. 1 2 9 - 1 4 6 . 2 W W V I S. 280. 3 W W V I S . 281. 4 W W V II S. 480. 5 W W V I S. 287. 6 W W V I S. 2 8 6 - 2 8 7 . (Parallelstelle: MS S. 102.) Auf S. 286 finden sich noch zwei weitere Belege zum „Entgegenkommen" der Objekte. Vgl. auch W W V I S. 278, wo vom Entgegentreten der Idee „aus dem Kunstwerk" die Rede ist.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

zu belegen: In auffälliger Weise aktiviert Schopenhauer das ästhetische Objekt zum eigentlichen Agens in willenloser Kontemplation. Die Dynamik solcher Objekte hat für das ästhetische Subjekt zur Folge, daß es von der willensdependenten Erkenntnisweise „losgerissen und emporgehoben wird zu der des reinen willensfreien Subjekts des Erkennens". 7 Wenn sich allerdings die ästhetische Einstellung primär als Wirkung des Objektimpulses entfaltet, dann droht zugleich dem Subjekt die Gefahr, auf eine Haltung passivrezeptiven Gewährenlassens reduziert zu werden. In den Rahmen dieser Konzeption fügt sich auch Schopenhauers pointierte Formulierung ein, der Grad der Schönheit ästhetischer Objekte hänge davon ab, inwieweit ein Ding „jene rein objektive Betrachtung erleichtert, ihr entgegenkommt, ja gleichsam dazu zwingt, wo wir es dann sehr schön nennen". 8 Spitzt Schopenhauer seine Auffassung schließlich in der These noch zu, „der vegetabilischen Natur [...] gelingt es [...] leicht, uns in den Zustand des reinen Erkennens zu versetzen" 9 , dann steigert sich die Agensfunktion determinierender Natur geradewegs bis zu einem anthropomorphistisch-pseudointentionalen Status. Solche von Schopenhauer allzu ,großzügig' ausgestatteten Objekte scheinen dann genau dort einzuspringen, wo sein radikales Postulat der Willenlosigkeit eine klaffende Intentionalitätslücke riß. So sehr werden offenbar die ästhetischen Subjekte durch den Übergriff aktivierter Objekte vereinnahmt, daß sie, durch solchen Impetus stillgelegt, sich deren Wirkung schwerlich zu entziehen vermögen. In dem Maße, in dem ihnen folglich der Verlust ihrer Autonomie und Spontaneität droht, gerät Schopenhauers Konzeption ästhetischer Einstellung in eine fundamentale Problematik.

II. Versucht man nun aber im Anschluß an die skizzierten kritischen Überlegungen zur Subjekt-Objekt-Relation in Schopenhauers Ästhetik, sich über den Kontext der zitierten Textstellen Klarheit zu verschaffen, so stößt man auf ein bemerkenswertes Phänomen: Es zeigt sich nämlich, daß die Belege, W W V I S. 306. 8 W W V I S. 298. Diese Aussage, die sich bereits in einem Manuskript v o n 1 8 1 5 findet (vgl. HN I S. 2 5 0 — 251), hat Schopenhauer auch in seine Vorlesungen übernommen; vgl. MS S. 118.

7

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PP II S. 503. Eine ähnliche Formulierung bietet W W V I S. 281: „der schönen Natur [...] gelingt es [...] fast immer, uns, wenn auch nur auf Augenblicke, der Subjektivität, dem Sklavendienste des Willens zu entreißen und in den Zustand des reinen Erkennens zu versetzen".

§ 20. Die Problematik der Relation zwischen Schönem und Erhabenem

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die bislang Anlaß zur Kritik gaben, in Schopenhauers Theorie des Schönen auftreten. Bereits die Redeweise vom Schönen in der Ästhetik Schopenhauers läßt das Verhältnis zwischen Schönem und Ästhetischem als eine Relation zwischen Besonderem und Allgemeinem erscheinen. Demnach koinzidiert Philosophie des Schönen offenkundig nicht mit Ästhetik schlechthin, beansprucht nicht, als Ästhetik aufzutreten, vielmehr bedarf sie als ein bloß Partielles der Ergänzung um mindestens einen weiteren Faktor, mit dem zusammen sie sich dann zur Totalität von Ästhetik vervollständigt. Erhöbe man also den Anspruch, die vorgetragenen Einwände auf Schopenhauers Ästhetik insgesamt zu beziehen, so käme man nicht umhin, den Nachweis zu führen, daß auch der Bereich, der außerhalb des Schönen und gemeinsam mit ihm den Gegenstandsbereich von Schopenhauers Ästhetik konstituiert, in analoger Weise oder wenigstens in vergleichbarem Maße zu kritischer Reflexion herausfordert.

III. Zur Einbeziehung in die entworfene Problemstellung bietet sich hier die „Theorie des Ästhetisch-Erhabenen" 1 0 an, dem Schopenhauer sowohl 1819 als auch 1844 in seiner „Welt als Wille und Vorstellung" jeweils einen geschlossenen Abschnitt gewidmet hat, und zwar — das ist hervorzuheben — beide Male in ausdrücklicher Abgrenzung gegenüber dem Schönen. Gemeinsam ist „beiden Arten der ästhetischen Auffassung, der des Schönen und der des Erhabenen" 1 1 , die Willensindependenz der für sie charakteristischen Erkenntnisweise. Was allerdings nach Schopenhauer „das Gefühl des Erhabenen von dem des Schönen unterscheidet, ist dieses: beim Schönen hat das reine Erkennen ohne Kampf die Oberhand gewonnen, indem die Schönheit des Objekts [...] den Willen und die seinem Dienste frönende Erkenntnis der Relationen ohne Widerstand und daher unmerklich aus dem Bewußtsein entfernte und dasselbe als reines Subjekt des Erkennens übrigließ, so daß selbst keine Erinnerung an den Willen nachbleibt: hingegen bei dem Erhabenen ist jener Zustand des reinen Erkennens allererst gewonnen durch ein bewußtes und gewaltsames Losreißen von den als ungünstig erkannten Beziehungen desselben Objekts zum Willen, durch ein freies von Bewußtsein begleitetes Erheben über den Willen und die auf ihn sich bezie10 WWV I S. 288. 11

MS S. 103.

368

C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

hende Erkenntnis". 12 Während ästhetische Einstellung zu Schönem dem Kontemplierenden mühelos, geradezu ohne eigene Anstrengung zuzufallen scheint, muß der Zustand willenlosen Erkennens im Falle des Erhabenen „erst errungen" 13 werden. Für Schopenhauers Differenzierung zwischen Schönem und Erhabenem ist offensichtlich die je spezifische Subjekt-ObjektRelation ausschlaggebend. Der Rudimentärform eines ästhetischen Subjekts, das dem Ubergriff schöner Objekte widerstandslos ausgeliefert ist und die Entfernung seines individuellen Willens passiv-rezeptiv erleidet, tritt im Falle des Erhabenen ein ganz andersgeartetes Subjekt gegenüber: In spontan-dynamischer Aktivität ergreift es selbst die Initiative, indem es sich durch einen Gewaltakt vom (mehrfach betonten) feindlichen 14 Verhältnis „des kontemplierten Objekts zum Willen" 15 losreißt. Ist nicht zu jener kritisierten Konzeption bloß passiver Rezeptivität ein Ausgleich geschaffen in solcher Ubermacht spontaner Aktivität eines Betrachters, der sich im Spezialfall des Erhabenen nur durch einen kämpferischen Impetus in ästhetische Einstellung zu Objekten zu bringen vermag? Anders als es anfangs erscheinen mochte, liegt nunmehr der Eindruck nahe, daß die zitierten Belege zum Entgegenkommen ästhetischer Objekte, zur Lethargie durch sie okkupierter Subjekte keineswegs als signifikant für Schopenhauers Ästhetik überhaupt, als symptomatisch für ihre Problematik gelten können. Unter dieser Voraussetzung müßte die Kritik an der Rezeptivität des ästhetischen Subjekts soweit zurückgenommen werden, daß sie als ihren Adressaten allein den Fall kontemplativer Einstellung zu Schönem behielte. Als unberechtigt indes hätte solche Kritik zu gelten, sofern sie auf den Bereich des Erhabenen ausgeweitet würde. Denn das bislang Dargelegte 12 W W V I S. 2 8 7 - 2 8 8 . 13 w w V I S. 296. Vgl. W W V I S. 287, 288, 291, 296. In zweifacher Weise können laut Schopenhauer die Gegenstände eine feindliche Beziehung haben „gegen den menschlichen Willen überhaupt, wie er in seiner Objektität, dem menschlichen Leibe, sich darstellt [...]: sie können nämlich diesem entgegen seyn, entweder dadurch daß sie ihm eine Macht vorhalten die allen Widerstand aufheben würde, eine ihn also bedrohende Macht; und diese Art nenne ich, mit dem Kantischen Ausdruck, das dynamisch Erhabne: oder auch ihre Größe ist unermeßlich und vor derselben wird der menschliche Leib zu Nichts verkleinert; dies ist das mathematisch Erhabne." (MS S. 102.) Anschauliche Beispiele für beide Arten des Erhabenen präsentiert Schopenhauer in sehr lebendiger Darstellung a. a. O. S. 104—111. Aufschlußreich für das Verhältnis der Ästhetik zur Willenstheorie ist die analysebedürftige Relation zwischen dem von Schopenhauer mehrfach betonten furchtbaren „Kampf der Natur" (WWV I S. 291: Z. 6, Z. 31, analog Z. 13) und dem „Kampf mit der feindlichen Natur" (WWV I S. 291, Z. 2), dem sich das Subjekt ausgeliefert sieht. Vgl. hierzu § 10 der vorliegenden Abhandlung. 15 W W V I S. 288.

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§ 20. Die Problematik der Relation zwischen Schönem und Erhabenem

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erweckt den Eindruck, eine derartig expandierende Kritik setze in unstatthafter Weise pars pro toto, wobei Theorie des Schönen die pars, Ästhetik das totum darstelle, mithin werde die spezifische Differenz zwischen Schönem und Erhabenem unterschlagen und dadurch implizit verleugnet.

IV. Im folgenden gilt es, Argumente beizubringen für die sich aufdrängende Vermutung, zumindest im Phänomen des Erhabenen sei ein Bereich gefunden, der sich gegenüber der eingangs skizzierten kritischen Bewertung als resistent erweise. Einige Schlüsselbegriffe bieten sich dafür besonders an. Mehrfach bringt Schopenhauer den dynamischen Akt, durch den sich das Subjekt von den feindlichen Objekten „gewaltsam losreißt" 16 , mit Bewußtsein in Verbindung: Die Erhebung zum ästhetisch-erhabenen Zustand muß — so Schopenhauer — „mit Bewußtsein nicht nur gewonnen, sondern auch erhalten werden". 17 Und wenn Schopenhauer für diese Einstellung eine „freie bewußte Erhebung über den Willen" 18 postuliert, dann wird offenbar mit dem Epitheton ,frei' noch ein gewichtiger zusätzlicher Akzent gesetzt. Ist nicht das Potential des Subjekts, das in Schopenhauers Konzeption ästhetischer Betrachtung des Schönen fehlt, im Falle ästhetischer Einstellung zu Erhabenem gerade gewährleistet, wenn Schopenhauer diesen bewußten Akt hier dezidiert dem ästhetischen Subjekt zuschreibt? Diese apologetische Überlegung scheint sogar noch Bestätigung zu erfahren durch den dritten Teil der philosophischen Vorlesungen Schopenhauers von 1820, der von der „Metaphysik des Schönen" handelt. Dort thematisiert er im 9. Kapitel „Vom Eindruck des Erhabenen" die Position des kontemplierenden Subjekts, das „jenes Feindliche und Uebermächtige" in den Dingen „zwar wahrnimmt und anerkennt, allein es aus den Augen läßt, sich absichtlich [!] und mit Bewußtsein davon abwendet".19 „Das Gefühl des Erhabnen" entsteht (wie Schopenhauer wenige Seiten später mit Bezug auf IS W W V I S. 287. η w w v I S. 288. Vgl. auch MS S. 103. is W W V I S. 296. Analog S. 287: „freies von Bewußtsein begleitetes Erheben über den Willen", von Schopenhauer wörtlich in seine Vorlesungen zur „Metaphysik des Schönen" übernommen, vgl. S. 103. 1 9 MS S. 103. Parallelstelle (allerdings ohne „absichtlich") in W W V I S. 287. Vgl. in § 3 der vorliegenden Abhandlung die Problematik unbewußter Absichdichkeit und absichtslosen Bewußtseins in ästhetischer Einstellung.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

das Mathematisch-Erhabene ausführt) „durch den Kontrast der Unbedeutsamkeit und Abhängigkeit unsres Selbst als Individuum, als Willenserscheinung gegen das Bewußtsein unseres Selbst [!] als reinen Subjekts des Erkennens." 20 Dieser Beleg für ein ästhetisches Selbst bietet, so mag es scheinen, eine schlechterdings ideale Ergänzung zu den Aussagen über das ästhetische Bewußtsein. Und der reflexive Selbstbezug eines so konzipierten ästhetischen Subjekts erfährt eine wichtige Bereicherung durch die im ersten Zitat belegte Absichtlichkeit. Ein solches Subjekt scheint als Adressat der eingangs vollzogenen Problematisierung ästhetischer Rezeptivität nicht in Betracht zu kommen. Denn wird nicht durch „gewaltsames Losreißen" 21 , „freie bewußte Erhebung" 22 , die „absichtlich"23 erfolgt und mit dem „Bewußtsein unseres

MS S. 109 - 1 1 0 . Diese Textstelle korrespondiert mit W W V I S. 293, wo allerdings das zweite — ästhetische — „Selbst" fehlt. Ein Vergleich der zitierten Belege aus den ästhetischen Vorlesungen zur „Metaphysik des Schönen" von 1820 (S. 103, 1 0 9 - 1 1 0 ) mit den bis in den Wordaut übereinstimmenden Formulierungen in der im März 1818 abgeschlossenen und Anfang 1819 erschienenen „Welt als Wille und Vorstellung" (WWV I S. 287, 293) läßt erkennen, daß Schopenhauer nachträglich eine Radikalisierung vorgenommen hat. Immerhin entfällt dadurch auf S. 1 0 9 - 1 1 0 die in § 3 der vorliegenden Abhandlung entfaltete Problematik eines ästhetischen Selbstbewußtseins ohne Selbst. Eine andere Schwierigkeit allerdings tritt an ihre Stelle: vgl. Abschnitt V. im vorliegenden § 20. Die für ästhetische Einstellung zu Erhabenem charakteristische Ambivalenz im Subjekt bezeichnet Schopenhauer als „die Duplizität seines Bewußtseins" (WWV I S. 291). Sie entsteht dadurch, daß sich das Subjekt einerseits „als Individuum, als hinfällige Willenserscheinung" empfindet, „hülflos gegen die gewaltige Natur, abhängig [...], ein verschwindendes Nichts ungeheuren Mächten gegenüber", andererseits jedoch „zugleich als ewiges ruhiges Subjekt des Erkennens, welches als Bedingung des Objekts der Träger ebendieser ganzen Welt ist [...]" (WWV I S. 291). So vermag das Subjekt „ruhig, unerschüttert" auch „an eben den Gegenständen, welche dem Willen drohend und furchtbar sind, die Ideen" aufzufassen (WWV I S. 291). Die Einsicht des Subjekts in seinen eigenen superioren Status als Träger jener Vorstellungen von erhabener Größe oder Ubermacht, ja als Träger sogar der ganzen Welt (vgl. WWV I S. 293, 291, außerdem ΗΝ I S. 209: „Träger dieses Weltalls", mithin eine Erweiterung in kosmische Dimensionen) dokumentiert offenbar einen Vorrang ästhetisch-kontemplativer Ideenschau bzw. des ,reinen willenlosen Subjekts des Erkennens'. Die subjektinternen Opponenten im Rahmen seiner Bewußtseinsduplizität befinden sich demnach wohl nicht in einer Balance der Kräfte. Vielmehr scheint ein charakteristisches Ungleichgewicht die conditio sine qua non für jenes Spezifikum des Erhabenen darzustellen, das Hans Blumenberg durchaus treffend als .transzendentalen Trotz' bezeichnet (vgl. Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M. 3. Aufl. 1988. S. 59). Signifikant ist eine auch von ihm in diesem Kontext zitierte Textstelle in WWV I S. 292: „Die Größe der Welt, die uns vorher beunruhigte, ruht jetzt in uns: unsere Abhängigkeit von ihr wird aufgehoben durch ihre Abhängigkeit von uns". 21 w w v I s. 287. 22 WWV I S. 296. 2 3 MS S. 103. 20

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Selbst als reinen Subjekts des Erkennens" 24 verknüpft ist, buchstäblich alles gewährleistet, ,was das (apologetische) Herz begehrt': Freiheit, Spontaneität, Intentionalität eines durch dynamische Aktivität gekennzeichneten ästhetischen Selbst?

V. Mag diese rhetorische Frage auch noch so suggestiv wirken: man tut gut daran, ihr skeptisch zu begegnen. Denn was sich bislang als glaubhafter Anschein präsentierte, erweist sich bei näherem Zusehen teilweise als bloßer leerer Schein. Um ihn als solchen zu entlarven, bedarf es weiterführender Untersuchungen. Ein kritisch geschärfter Blick muß die Oberflächendimension der zitierten Formulierungen durchdringen und den Zugang zur verborgenen Tiefendimension des Problematischen freilegen. Bereits im Hinblick auf die Absichtlichkeit, mit der angeblich ein ästhetisches Subjekt in die Kontemplation von Erhabenem eintritt, ist die kritische Frage zu stellen, ob sie systemimmanent, also auf dem Hintergrund der ästhetischen Konzeption Schopenhauers, überhaupt plausibel werden kann. Daß diese Frage mit einem klaren Nein zu beantworten ist, erhellt aus Textstellen, die ebenfalls Absichtlichkeit thematisieren. Dort etwa, wo Schopenhauer Absicht und Willen durch identifizierend-erläuterndes „d. h." verbindet 25 , tritt seine Uberzeugung von deren Koinzidenz zutage. Solche auf die Willenssphäre festgelegte Absicht kommt für die ästhetische Einstellung willenlos gewordener Subjekte — jedenfalls nach Schopenhauers Postulaten — nicht in Betracht. Und wenn er von „dem absichtlichen (durch Motive bestimmten) Tun der Person" 26 spricht, dann gibt die explizierend für Absichtlichkeit eintretende Motivbestimmtheit mit ihrem unverkennbaren Bezug auf den individuellen Willen 2 7 ebenfalls einen deutlichen Hinweis auf die Inkompatibilität von Absichtlichkeit mit ästhetischer Kontemplation. Auf der Basis von Schopenhauers Postulat ästhetischer Willenlosigkeit einerseits und der Zuordnung von Absicht zum Willen andererseits scheint die Annahme einer ästhetischen Absichtlichkeit also eine contradictio in adjecto zu implizieren. MS S. 110. ΗΝ I S. 312. 26 W W V I S. 553. 2 7 Vgl. ζ. B. W W V I S. 239, 346; W W V II S. 443; Kl. Sehr. S. 646, 694. 24 25

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Ganz innerhalb des selbstgesteckten Rahmens seiner Ästhetik dagegen bleibt Schopenhauer, wenn er anderenorts für ästhetische Einstellung eine Erkenntnis postuliert, die „absichtslos tätig, folglich willenslos" 28 ist, und wenn er den Erkennenden als „eine reine Intelligenz ohne Absichten und Zwecke" 29 charakterisiert. Abweichend von dem zitierten Beleg für ästhetische Absichtlichkeit in seinen Vorlesungen zur Ästhetik, will Schopenhauer in seiner „Welt als Wille und Vorstellung" nicht einmal für den Ubergang in den Zustand willenloser Kontemplation einen aus Absichtlichkeit entspringenden Willensakt in Anspruch nehmen, behauptet er doch unmißverständlich und ohne Einschränkung auf den Bereich des Schönen: die für ästhetische Einstellung zu Objekten „erforderte Veränderung im Subjekte kann, eben weil sie in der Elimination alles Wollens besteht, nicht vom Willen ausgehn, also kein Akt der Willkür sein, d. h. nicht in unserm Belieben stehn". 30 Angesichts einer überwältigenden Mehrzahl der Textstellen, die Schopenhauers Postulat ästhetischer Willen- und Absichtslosigkeit dokumentieren, tritt der singuläre Beleg für Absichtlichkeit in ästhetischer Einstellung zu Erhabenem in den Hintergrund. Einblick in eine aufschlußreiche Inkonsistenz gewährt der Kontext dieses Belegs: Wenn der Betrachter von Ästhetisch-Erhabenem „jenes Feindliche und Uebermächtige" in den Objekten „zwar wahrnimmt und anerkennt, allein es aus den Augen läßt, sich absichtlich und mit Bewußtsein davon abwendet, indem er nämlich seine Erkenntniß von seinem Willen und dessen Verhältnissen gewaltsam losreißt, sie für sich bestehn läßt, so wird er der reinen Erkenntniß allein hingegeben seyn und in dieser eben jene dem Willen furchtbaren Gegenstände ruhig kontempliren, als reines willenloses Subjekt des Erkennens". 31 Sofern dem Willen in dieser Aussage gewissermaßen nur die Position des Objekts zukommt, auf das der Akt der Abwendung und des Losreißens sich richtet, scheint diese These auf den ersten Blick ohne weiteres mit jenem Postulat Schopenhauers kompatibel zu sein, nach dem die zum Eintritt in ästhetische Kontemplation „erforderte Veränderung im Subjekte [...] nicht vom Willen ausgehn" 32 kann. Denn offenkundig stimmen beide Aussagen darin überein, daß Schopenhauer — hier explizit, dort implizit — PP II S. 494. Im vorliegenden Kontext bleibt der in § 1 2 ausführlich behandelte willensmetaphysische Horizont von Schopenhauers Ästhetik ausgeblendet. 2 9 PP II S. 4 9 1 . 3n w w v II S. 4 7 3 - 4 7 4 . 28

31

MS S. 103.

32 W W V II S. 473.

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den individuellen Willen als eigentliches Agens aus seiner Ästhetik herauskatapultiert. Doch mit Befremden wird man angesichts der von ihm für die Sphäre menschlicher Strebungen prinzipiell vorausgesetzten Koinzidenz von Willen und Absicht registrieren, daß er diese Einheit in der oben zitierten Aussage zerfallen läßt. Dem Willen als Objekt respektive Patiens der besagten Elimination oder Abwendung steht dort erstaunlicherweise nämlich eine als Subjekt beziehungsweise Agens fungierende Absichtlichkeit gegenüber. Gerade diese Problematik zeigt folgendes: Wollte Schopenhauer mit seiner im Kontext des Erhabenen wohl singulären, jedoch nachdrücklich zu befürwortenden These von einer ästhetischen Absichtlichkeit tatsächlich Ernst machen, so müßte er den mit Absichtlichkeit als Motivbestimmtheit im Falle des Menschen koinzidierenden Willen selber zum Agens erheben, dessen Präsenz im Zustand ästhetischer Kontemplation also gerade erhalten, anstatt sie aufzuheben. Im Rahmen eines solchen Entwurfs würde der Wille den Status eines bloßen Objekts, auf das der Eliminationsakt zielt, erheblich transzendieren und folglich zum Subjekt oder Agens in ästhetischer Einstellung avancieren. Auf dieser Basis bestünde auch Aussicht darauf, Autonomie und Spontaneität, also eine eigengesetzliche Selbsttätigkeit, wenigstens für die Begegnung ästhetischer Subjekte mit Erhabenem zu sichern. Bedauerlicherweise stellen sich einer solchen plausiblen Konzeption ästhetischer Einstellung, zu der grundlegende Ansätze gerade in Schopenhauers Theorie des Erhabenen präfiguriert sind, zwei Hindernisse in den Weg: Erstens verliert der Absichtlichkeitsbeleg aufgrund seines singulären Erscheinens an Durchschlagkraft, zweitens stellt darüber hinaus die oben entfaltete Inkonsistenz seine Bedeutung in Frage. Zu sehr reduziert, um als Baustein an einer Apologie des Erhabenen mitwirken zu können, droht er, verarmt an systematischer Relevanz, auf das Niveau eines bloßen sprachlichen Lapsus herabzusinken. Klaren Vorrang haben in Schopenhauers Ästhetik die Belege gerade für die Negation von Absichtlichkeit. Weiteren Aufschluß bietet eine Textstelle, in der Schopenhauer diese These in folgenden Begründungszusammenhang integriert: Seines Erachtens „ist bei allem absichtlichen Nachdenken der Intellekt nicht frei, da ja der Wille ihn leitet und sein Thema ihm vorschreibt". 33 Prägnanter läßt sich die Inkompatibilität von Absichtlichkeit und Freiheit des Intellekts wohl schwerlich artikulieren. Ex negativo geht aus diesem Kausalverhältnis von Unfreiheit und Willen oder Absicht hervor, daß Schopenhauer ästhetische Freiheit als Willensfreiheit im Sinne einer Freiheit vom Willen ver33 W W V II S. 490. Vgl. zu dieser Thematik ausführlicher § 1 der vorliegenden Abhandlung.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

steht, mithin als Willenlosigkeit. Eine andere Textstelle, nur wenige Seiten von der zitierten entfernt, unterstreicht diesen Sachverhalt: Das Auseinandertreten von Willen und Intellekt „erreicht im Genie seinen höchsten Grad, als wo es bis zur völligen Ablösung des Intellekts von seiner Wurzel, dem Willen, geht, so daß der Intellekt hier völlig frei wird". 3 4 Beide Belege dokumentieren die Auffassung Schopenhauers, daß die für ästhetische Einstellung zu Schönem wie zu Erhabenem erforderliche Freiheit des Intellekts zu ihrer conditio sine qua non eine Aufhebung der gewöhnlichen, durch Instrumentalität gekennzeichneten Abhängigkeit des Intellekts vom Willen hat. Dieser Konditionalzusammenhang tritt auch in Schopenhauers Aussage zutage, „willensfreie Aktivität des Intellekts" sei „die Bedingung der reinen Objektivität". 35 Für ästhetische Kontemplation setzt Schopenhauer voraus, daß der Intellekt sich „vom eigenen Willen gänzlich abwendet" 36 , sich von ihm „emanzipiert" 37 , um „höchst energisch" 38 und „aus eigener Kraft und Elastizität frei tätig" 39 zu sein. Textbelege dieser Art konsolidieren zunächst den Eindruck, zwar sei der apologetische Versuch gescheitert, den Sonderstatus des Erhabenen durch eine Synthese von Absichtlichkeit und Freiheit abzusichern, weil sich erstere systemimmanent bereits als unhaltbar erwiesen habe, doch lasse sich immerhin ästhetische Freiheit tatsächlich gewährleisten. Dieser Eindruck indessen trügt. Und zwar aus folgendem Grund, der in Teil A. der vorliegenden Abhandlung bereits zur Sprache kam und deshalb hier nur knapp skizziert werden soll: Zwischen Willen und Intellekt besteht laut Schopenhauer eine gravierende Differenz, die ontologisch fundiert ist und sich funktional auswirkt. Sie tritt dort zutage, wo er dem Willen als Primärem 4 0 den Intellekt als „das Sekundäre, Bedingte, Hervorgebrachte" 41 gegenüberstellt, das aus dem Willen als seiner Wurzel entsprossen ist 42 und

W W V II S. 493. Vgl. auch S. 470: „Er schwebt alsdann frei, keinem Willen mehr angehörig". PP I S. 218. 36 W W V II S. 473. 37 W W V II S. 498. 38 W W V II S. 482. Vgl. auch S. 492. 39 W W V II S. 500. Vgl. ferner S. 486: „aus eigener Elastizität und zwecklos", S. 490: „ganz allein aus freien Stücken tätig", PP I S. 32: „bloß aus eigenem Antriebe tätig". - Zur Problematik von Schopenhauers Auffassung, der Intellekt gehe in ästhetisch-willenloser Einstellung „seinen eigenen Zwecken" nach (WWV II S. 501) und verfolge „ein objektives Interesse" (PP II S. 86), vgl. § 2 und § 12 dieser Abhandlung. 4 0 Vgl. PP II S. 58, 59; WWV I S. 403; W W V II S. 261. 41 W W V II S. 277. 4 2 Vgl. W W V I S. 256; WWV II S. 476; PP II S. 117, 494. 34 35

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in dessen Dienst als „bloßes Werkzeug" 43 aufgeht. Und dies so nachhaltig, daß der Intellekt ohne Willensantrieb „aus eigenen Mitteln gar keiner Tätigkeit fähig" 44 ist. Wie soll Schopenhauers Postulat ästhetischer Freiheit des Intellekts sich gegen die These von einer derart fundamentalen Instrumentalität behaupten können? Und verschärft sich die Problematik angeblicher Autonomie nicht sogar noch, wenn Schopenhauer die Auffassung vertritt, daß der Wille eine solche ephemere Emanzipation des Intellekts nicht allein nicht begünstigt, sondern als „Wurzel des Intellekts [...] sich jeder auf irgend etwas anderes als seine Zwecke gerichteten Tätigkeit desselben" sogar „widersetzt"? 45 Als verfehlt hat demnach die Annahme zu gelten, von der ursprünglich vermuteten Synthesis von Absichtlichkeit und Freiheit in ästhetischer Einstellung zu Erhabenem bleibe nach dem Ausfall ästhetischer Absichtlichkeit immerhin ästhetische Freiheit noch erhalten. Entgegen der vorherigen Erwartung, beide Momente zugleich seien gegenüber Kritik resistent, scheinen sich nun sowohl ästhetische Absichtlichkeit als auch ästhetische Freiheit systemimmanent als Schimäre zu erweisen. Bei genauerem Zusehen wird außerdem ein vermeintlich ästhetisches Selbst suspekt, und zwar in analoger Weise wie bereits die ästhetische Absichtlichkeit. Wenn nämlich Schopenhauer den Willen als „das eigentliche Selbst" 46 bezeichnet und ihn auch mit dem „Bewußtsein des eigenen Selbst" 47 in unmittelbaren Zusammenhang bringt, dann muß es — ungeachtet der problematischen Implikationen — als systemimmanent folgerichtig gelten, daß er hinsichtlich der ästhetisch-willenlosen Einstellung von einem „Akt der Selbstverleugnung" 48 spricht. Und wenn Schopenhauer dem „Bewußtsein von andern Dingen" als der einen Bewußtseinsseite das „Bewußtsein vom eigenen Selbst, welches der Wille ist" 49 , als die andere Seite gegenüberstellt, dann erscheint es — ebenfalls allein unter dem Blickwinkel systemimmanenter Konsistenz — verständlich, daß seines Erachtens das ästhetische Subjekt „des leidigen Selbst entledigt" 50 ist. „Zum reinen, willenlosen Erkennen 43 W W V II S. 276, 2 9 1 , 298. Vgl. auch W W V I S. 403; W W V II S. 277, 285, 297, 514. 44 45

46 47 48 49 5"

W W V II S. 4 9 1 . Vgl. auch S. 275. W W V II S. 491. Zur Problematik ästhetischer Selbstverleugnung vgl. § 6 und § 12 dieser Abhandlung. W W V II S. 475. Vgl. ferner S. 3 0 9 und Kl. Sehr. S. 539. W W V II S. 475. W W V II S. 473. W W V II S. 474. W W V I S. 283. Vgl. auch PP II S. 4 9 1 : „Reines Subjekt des Erkennens werden heißt sich selbst loswerden".

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kommt es also, indem das Bewußtsein anderer Dinge sich so hoch potenziert, daß das Bewußtsein vom eigenen Selbst verschwindet". 51 Angesichts der Einheit von Selbst und Willen erscheint es problematisch, daß Schopenhauer im Kontext des Erhabenen den Begriff ,Selbst' als Gattungsbegriff verwendet und ihn zu willensbezogenem und ästhetisch-willenlosem Selbst als vermeintlichen Artbegriffen spezifiziert. Daß er von einem ästhetischen, also willenlosen Selbst ausgeht, mutet um so erstaunlicher an, als er nicht nur in der „Welt als Wille und Vorstellung", sondern auch in seinen Vorlesungen zur „Metaphysik des Schönen" — nicht weit entfernt übrigens von dem Beleg für die problematische Duplizität des Selbst — grundsätzlich und ohne artkonstituierende Spezifikation das Selbst aus ästhetischer Einstellung eliminiert. 52 Bereits beim gegenwärtigen Stand der Überlegungen zeichnet sich ab, daß der apologetische Ansatz zugunsten des Erhabenen zusehends ins Wanken gerät. Denn schon drei seiner vermeindichen Eckpfeiler, nämlich Selbst, Freiheit und Absichtlichkeit ästhetischer Einstellung, haben sich nachträglich als Stolpersteine erwiesen.

VI. Zu untersuchen bleibt die Uberzeugungskraft weiterer apologetischer Argumente zum Erhabenen. So wird nun der Frage nachzugehen sein, inwieweit die Formulierungen „gewaltsames Losreißen" 53 , „freie bewußte Erhebung über den Willen" 54 die ästhetische Einstellung zu Erhabenem in Abgrenzung von der zu Schönem positiv zu charakterisieren vermögen. Ihre Beantwortung erscheint um so dringlicher angesichts der Problematik von Selbst, Freiheit, Absichtlichkeit des Subjekts in seiner Begegnung mit Ästhetisch-Erhabenem. Angesichts des bereits thematisierten dynamischen Impetus, dessen Notwendigkeit für den Eintritt des Subjekts in ästhetische Einstellung zu Erhabenem Schopenhauer wiederholt betont, überraschen Formulierungen, in de51 W W V II S. 475. Vgl. MS S. 94: Der Schönheit der Natur gelingt es „fast immer [...], uns loszureißen von der Beschäftigung mit unserm leidigen Selbst und dessen Zwecken"; S. 97: für das ästhetische Subjekt postuliert Schopenhauer: „sein eignes Selbst muß aus seinem Bewußtseyn verschwinden". 53 W W V I S. 287. 54 W W V J s. 296.

52

§ 20. Die Problematik der Relation zwischen Schönem und Erhabenem

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nen er ein derartiges Maß an Aktivität erheblich unterbietet: Über das in ästhetischer Kontemplation erhabener Gegenstände befindliche Subjekt sagt Schopenhauer aus, es werde, „bei ihrer Betrachtung weilend, [...] über sich selbst, seine Person, sein Wollen und alles Wollen hinausgehoben". 5 5 Diese passivische Aussage läßt eine frappierende Ubereinstimmung mit Schopenhauers Bemerkungen zum Schönen erkennen. Und mit Bezug auf das Trauerspiel behauptet Schopenhauer, seine Wirkung sei „analog der des dynamisch Erhabenen, indem es wie dieses uns über den Willen und sein Interesse hinaushebt und uns so umstimmt, daß wir am Anblick des ihm geradezu Widerstrebenden Gefallen finden".56 Die Wirkung, die Trauerspiel und Erhabenes in der Natur auf den Kontemplierenden ausüben, scheint — solchen Formulierungen zufolge — der Wirkung schöner Objekte zu entsprechen und hinter ihr allenfalls in quantitativer Hinsicht noch zurückzustehen. Dem Erfordernis spezifischer und damit qualitativer Differenz zwischen den „beiden Arten der ästhetischen Auffassung" 5 7 wird auf diese Weise wohl schwerlich Genüge geleistet. Denn die zitierten Belege eliminieren offenbar den fundamentalen Unterschied zwischen dem aktivistischen Ubergriff schöner Objekte auf lediglich passiv-rezeptiv verharrende Subjekte und einer dynamischen Erhebung von Subjekten, die beim Eintritt in kontemplative Einstellung zu Ästhetisch-Erhabenem die notwendige Aktivität selbst aufbringen müssen. Als weiteres Moment, das auf einen über die Sphäre des Schönen hinausreichenden und das Ästhetische insgesamt betreffenden Primat der aktivierten Objekte hinweisen könnte, läßt sich möglicherweise auch das Faktum interpretieren, daß Schopenhauers Differenzierung zwischen Schönem und Erhabenem letztlich auf spezifischen Objekteigenschaften basiert. Ist es nämlich im Bereich des Schönen das Objekt, von dem Schopenhauer behauptet, es komme dem Kontemplierenden entgegen, so ist es im Felde des Erhabenen ebenfalls das Objekt, das den Eintritt in ästhetische Einstellung durch ein Hindernis sui generis erschwert, nämlich durch sein „ungünstiges, feindliches Verhältnis" 58 zum Willen des Subjekts. Tendenzen zur Nivellierung des zentralen Unterschieds zwischen Schönem und Erhabenem zeichnen sich außerdem dort ab, wo Schopenhauer im Zusammenhang mit dem Erhabenen recht pauschal von einer Abwendung WWV I S. 287. 56 WWV II S. 556. 55

MS S. 103. 58 WWV I S. 296. Vgl. ferner WWV I S. 287 (sogar dreimal) und S. 288. 57

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vom „Interesse des Willens" 5 9 spricht und damit die spezifische Differenz gegenüber dem Schönen vernachlässigt. Und wenn Schopenhauer in einer Landschaftsbeschreibung ein Beispiel für den „Ubergang vom Gefühl des Schönen zu dem des Erhabenen" glaubt gegeben zu haben, weil doch in dem dargestellten Ambiente „schon ein gewisses Erheben über das Interesse des Willens verlangt" 60 ist, dann drängt sich die Frage auf, worin das spezifisch Erhabene, ein feindliches Verhältnis des Objekts zum Willen des Subjekts, hier eigentlich bestehen soll. So wenig scheint Schopenhauer an solchen Stellen die von ihm mehrfach außerordentlich klar exponierten Charakteristika ästhetischer Einstellung gegenüber Erhabenem festzuhalten, daß gerade ihr Spezifisches sich in global-undifferenzierter Beschreibung ästhetischer Kontemplation aufzulösen droht. Dieser Eindruck verstärkt sich noch angesichts der folgenden Aussage: Im Hinblick auf die, wie er meint, wohltätige, beruhigende, erhebende Wirkung des Vollmondes behauptet Schopenhauer: er ist „erhaben, d. h. stimmt uns erhaben, weil er ohne alle Beziehung auf uns dem irdischen Treiben ewig fremd dahinzieht", so daß der Wille aus dem Bewußtsein verschwindet und „es als ein rein erkennendes" 61 zurückläßt. Anders als in den vorangegangenen Textbelegen wird die spezifische Differenz zwischen Schönem und Erhabenem hier nicht bloß nivelliert, vielmehr schlägt im Moment des Wohltätigen, Beruhigenden die feindliche Relation des Objekts zum Willen geradewegs in ihr Gegenteil um. Die Differenz gegenüber den charakteristischen Aspekten ästhetischer Einstellung zu Erhabenem nimmt dadurch an dieser Stelle noch zu. In die Kette der Fragwürdigkeiten reiht sich schließlich auch diejenige ein, daß Schopenhauer im Hinblick auf die Musik gleichsam in einem Atemzug von „ihrer wesentlichen Schönheit, Reinheit und Erhabenheit" 6 2 spricht. Diese parataktische Konstruktion legt die Annahme nahe, daß Schönheit und Erhabenheit hier geradezu synthetisiert werden, so daß von ihrer Opposition als Relikt allein der begriffliche Unterschied noch bewahrt bleibt.

59 w w v II S. 556. f.o W W V I S. 289. '•ι W W V II S. 483. 62

W W V II S. 576 — 577. Ein eher unspezifischer Begriff des Erhabenen zeichnet sich noch in anderen Textstellen ab. Vgl. PP I S. 493, w o Schopenhauer von einem „beschaulichen, genialen, erhabenen Anstrich" vorzüglicher und edler Menschen spricht, und W W V II S. 510, w o von der „erhabenen Einfalt [...] des echten Genies" die Rede ist. Vgl. ferner (ebenfalls zum Genie) HN III S. 3 1 5 , HN IV,1, S. 249.

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VII. Die Tendenzen zur Aufhebung der spezifischen Differenz erreichen ihren Zenit, wenn das Erhabene in Schopenhauers Platonischer Universalität des Schönen vollends aufgeht: Daß „jedes Ding schön" sei, führt Schopenhauer darauf zurück, daß „jedes vorhandene Ding rein objektiv und außer aller Relation betrachtet werden kann [...] und [...] Ausdruck einer Idee ist". 63 Daß diese Expansion des Schönen durch die an Piaton orientierte Ideenlehre Schopenhauers bedingt ist, erhellt aus seiner Behauptung, der Idee sei „als solcher die Schönheit wesentlich" 64 , schön sei demnach dasjenige, was „die Idee seiner Gattung deutlich an den Tag legt". 65 Hat Schopenhauer seine Differenzierung zwischen Schönem und Erhabenem in den zitierten Textbelegen vollständig aus dem Blick verloren? Man könnte diesen Eindruck hier durchaus gewinnen, scheint doch für das Erhabene neben dem Schönen gar keine Existenzmöglichkeit mehr erhalten zu bleiben. VIII. Doch voreilig wäre es, wollte man daraus folgern, die Unmöglichkeit von Erhabenem neben dem Schönen, die sich in den oben zitierten Belegen abzuzeichnen scheint, impliziere per se die Aufhebung seiner Existenz überhaupt. Einer Nachlaßstelle zufolge bleibt nicht neben, wohl aber im Schönen für das Erhabene durchaus noch Platz: „das Erhabne [ist] eine Gattung des Schönen, nämlich das Extrem des Schönen". 66 Wenn Erhabenes sich hier eo ipso als Schönes erweist, dann kann man Schopenhauers Ästhetik mit seiner Theorie des Schönen 67 identifizieren, und zwar ohne daß dadurch eine zur ö W W V I S. 2 9 7 - 2 9 8 . Parallelstelle: MS S. 118. Vgl. auch PP II S. 501, wo Schopenhauer auf diese Textstelle der W W V I rekurriert, indem er behauptet, daß „jedes natürliche Ding schön" ist. Die These in W W V I S. 297 — 298 geht auf ein Manuskript von 1815 zurück: vgl. ΗΝ I S. 250. PP II S. 500. PP II S. 500. M' ΗΝ I S. 45. Vgl. auch S. 46, wo Schopenhauer behauptet, daß „alles Erhabne nur Gattung des Schönen, und beides Eins ist"; vgl. außerdem S. 49: „So viel glaube ich ausgemacht zu haben daß das Schöne mit dem Erhabnen Eins ist". Betont sei, daß diese Aussagen sich in sehr frühen Manuskripten Schopenhauers finden: sie sind 1813 entstanden, also im Jahr seiner Promotion und ein halbes Jahrzehnt vor dem Abschluß seiner W W V I. 67 Dafür spricht auch der Titel „Metaphysik des Schönen", den Schopenhauer für den dritten Teil seiner Vorlesungen gewählt hat; offensichdich zählt das Erhabene mit zum Gegenstandsbereich einer solchen „Metaphysik des Schönen": ihr 9. Kapitel trägt die Uberschrift „Vom Eindruck des Erhabenen".

64 65

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Elimination des Erhabenen führende Verengung ihres Gegenstandsbereichs erfolgt. Anders, als es anfangs schien, hat das Schöne hier nicht mehr als ein lediglich Partikulares gegenüber der Totalität von Ästhetik zu gelten. Die auf den ersten Blick plausibel wirkende Apologie mit ihrer Intention, zumindest die .bessere Hälfte' von Schopenhauers Ästhetik gegenüber kritischen Ansätzen zu rechtfertigen und deren Geltungsbereich auf die Sphäre des Schönen zu beschränken, scheint auf dem Hintergrund der entfalteten Argumente ihre Uberzeugungskraft einzubüßen. Selbst diese vermeintlich ,bessere Hälfte' von Schopenhauers Ästhetik erweist sich nun offenbar als problematisch, sofern sie sich infolge einer Subsumtion des Erhabenen unter das Schöne gar nicht wirklich als besser herausstellen, ja nicht einmal als Hälfte mehr gelten kann. Nach einer Aufhebung der vermeintlichen Partikularität des Schönen, das anfangs noch gemeinsam mit dem ebenfalls Partikularen eines als selbständig konzipierten Erhabenen die Ästhetik zu konstituieren schien, wird die Unterstellung hinfällig, indem man auf Schopenhauers Aussagen über Schönes rekurriere, sei man auch allenfalls zu einer Partikular-Kritik an seiner Theorie des Schönen berechtigt, nicht jedoch an seiner Ästhetik insgesamt. An die Stelle dieser ursprünglichen Annahme lassen Textbelege wie die oben zitierten nun die Einschätzung treten, Schopenhauers Auffassung der SubjektObjekt-Relation im Bereich des Erhabenen sei re vera nicht weniger problematisch als im Terrain des Schönen, ja strenggenommen vielleicht sogar noch mehr: Denn nicht allein hebt Schopenhauer in der zitierten Nachlaßstelle die vermeintliche systematische Gleichrangigkeit von Schönem und Erhabenem auf, indem er Erhabenes als Spezialfall in das Schöne integriert, vielmehr vollzieht er dort noch einen weiteren Schritt, indem er Erhabenes sogar als „das Extrem des Schönen" apostrophiert. Hielte man sich allein an diese Formulierung, so könnte man folgern, das für ästhetische Einstellung zu Schönem charakteristische Subjekt-Objekt-Verhältnis mitsamt der in ihm angelegten Problematik werde im Falle des Erhabenen nicht nur nicht beseitigt, sondern stattdessen geradezu auf die Spitze getrieben. Und das würde bedeuten: ein radikal gesteigertes Entgegenkommen der ästhetischen Objekte, eine forcierte, ja geradezu deterministische Vereinnahmung passiver ästhetischer Subjekte. Im Zuge einer Subsumtion des Erhabenen unter das Schöne also wächst die nur scheinbar in zwei Komponenten gleichen systematischen Ranges sich differenzierende Sphäre des Ästhetischen — hinsichtlich der SubjektObjekt-Relation — letztlich offenbar zusammen zu einer alles Spezifische nivellierenden Einheit von Problematischem.

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IX. So stellt sich abschließend die Frage, ob im Verlauf der problematisierenden Analyse, die insbesondere die ästhetische Subjekt-Objekt-Relation kritisch beleuchtete, auch die eingangs exponierten positiven Impulse aus Schopenhauers Theorie des Erhabenen sich vollends verflüchtigt haben. Sind mithin selbst sie, deren spezifische Relevanz für eine überzeugende Konzeption ästhetischer Einstellung sich gerade durch ihre Abgrenzung von seiner Konzeption des Schönen zu bewähren schien, einer dezidierten Kritik nunmehr restlos zum Opfer gefallen? — Mitnichten. Sowenig ist dies der Fall, daß es — gemäß einer andersgearteten Intention dieses Paragraphen — vielmehr mit Nachdruck klarzustellen gilt: Erst eine kritische Interpretation von Schopenhauers Theorie sowohl des Schönen als auch des Erhabenen, die systemimmanente Inkonsistenzen nicht außer acht läßt, schafft überhaupt die Basis für eine differenzierte Beurteilung und Gewichtung heterogener und miteinander konkurrierender Perspektiven in seiner Ästhetik. Ein Vergleich der disparaten Argumentationsstränge zeigt zweierlei: Erstens: Genau in dem Maße, wie Schopenhauers Ästhetik in den Sog Platonischer Ontologie gerät, droht das Spezifische seiner Konzeption des Erhabenen sich in eine undifferenzierte Totalität des Ästhetischen aufzulösen. Und zwar mit der fatalen Konsequenz, daß problematische Aussagen Schopenhauers, die eine passiv-rezeptive Haltung des ästhetischen Subjekts angesichts des Schönen behaupten, dann tatsächlich als pars pro toto zu lesen wären. Eine solche Deutung müßte also das Refugium vollständig preisgeben, das Schopenhauers Ansätze zu spontaner Aktivität des Subjekts gerade in seiner Theorie des Ästhetisch-Erhabenen finden könnten. Zweitens: Diesen Frei- und Schonraum also, der von der oben skizzierten Kritik an bloßer Rezeptivität des Subjekts weitgehend unangetastet bliebe, gilt es zu bewahren und zu behaupten gegenüber globalen Vereinnahmungstendenzen, die dem Erhabenen seinen eigenen Status neben dem Schönen streitig machen. Deshalb sind solche Ansätze in Schopenhauers Ästhetik zu favorisieren, die eine Degradierung des Erhabenen zur bloßen Spezies des Schönen ausschließen. Denn eine dynamische Eigenaktivität ästhetischer Subjekte ist eben hier, im Felde des Erhabenen, wohl weniger als irgendwo sonst in Schopenhauers Ästhetik der Gefahr ausgesetzt, dem kraftvollen Impetus entgegenkommender Objekte widerstandslos zu erliegen und durch eine Haltung passiver Rezeptivität substituiert zu werden. Kritische Distanz ist also zu wahren gegenüber solchen Textbelegen, in denen Schopenhauer das Erhabene als bloße Komponente unter eine mit

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dem Ästhetischen schlechthin vorschnell zusammenfallende Totalität des Schönen subsumiert, die lediglich interne Differenzierungen noch zuläßt. Einem solchen Ansatz entgegen gilt es, im Rahmen kritischer Rekonstruktion der in Schopenhauers Ästhetik nachweislich auch gegenwärtigen Spontaneitätsmomente 68 unbeirrt festzuhalten an systematischer Eigenständigkeit des Erhabenen als eines ästhetischen Sektors, der sich durch spezifische Charakteristika vom Schönen unterscheidet und neben statt in ihm seinen Platz findet. Mehrere Textstellen in Schopenhauers Ästhetik belegen eine derartige systematische Gleichrangigkeit von Schönem und Erhabenem und implizieren gerade keine Subsumtion des letzteren unter das erstere: Bereits in der Einleitung zu der Passage seiner Ästhetik, in der er seine Konzeption des Schönen und Erhabenen entfaltet, prätendiert Schopenhauer durch „philosophische Betrachtung des Schönen und Erhabenen beide in der Natur und in der Kunst zugleich erörtern" 6 9 zu wollen. Diese Differenzierung kommt noch deutlicher dort zum Ausdruck, wo er Schönes und Erhabenes explizit als „Arten der ästhetischen Auffassung" 70 bezeichnet. Das disjunktive Nebeneinander beider Bereiche erhellt schließlich auch aus Schopenhauers Einordnung der Tragödie innerhalb seiner Ästhetik: „Unser Gefallen am Trauerspiel gehört nicht dem Gefühl des Schönen, sondern dem des Erhabenen an". 7 1 Als Spezies kann das Erhabene demgemäß nur dann gelten, wenn als übergeordnetes Genus nicht etwa das Schöne, sondern das Ästhetische überhaupt fungiert. Verglichen mit der weiter oben belegten Subsumtion des Erhabenen unter das Schöne haben diese Ansätze zu systematischer Gleichstellung von Schönem und Erhabenem die besseren Argumente offenkundig auf ihrer Seite. Denn die These von einem eigenständigen Status des Erhabenen kann die Ansätze zur Spontaneität eines Subjekts konsolidieren, das erst aufgrund autonomer Impulse den Widerstand überwindet, mit dem das Erhabene durch sein feindliches Verhältnis zum Willen des Subjekts dessen Eintritt in ästhetische Kontemplation erschwert. Außerdem läßt sich nur auf der Basis systematischer Gleichrangigkeit von Schönem und Erhabenem jene gravierende Inkonsistenz vermeiden, die das Subsumtionskonstrukt vollends ad absurdum führt: Einerseits nämlich behindert die besagte Feindlichkeit des Erhabenen den Ubergang in ästhetische Einstellung zu ihm erheblich, so daß

68

70 71

Vgl. ζ. B. W W V I S. 270. W W V I S. 279. MS S. 103. WWV II S. 556. Vgl. auch HN III S. 367.

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das Subjekt willenlose Kontemplation durch besondere Anspannung seiner eigenen Kräfte, durch spontan-dynamische Aktivität allererst erringen muß. Andererseits jedoch bemißt Schopenhauer den Grad der Schönheit eines ästhetischen Objekts danach, in welchem Maße es „jene rein objektive Betrachtung erleichtert, ihr entgegenkommt, ja gleichsam dazu zwingt". 72 Vergegenwärtigt man sich auf der Folie dieser offensichtlichen Differenz erneut jene These Schopenhauers, in der er das in die Sphäre des Schönen integrierte Erhabene sogar zum „Extrem des Schönen" 73 avancieren läßt, so ergibt sich ein fundamentaler Widerspruch: Der Erschwerung ästhetischer Einstellung aufgrund der Feindlichkeit erhabener Objekte steht deren Erleichterung qua Schönheit des Erhabenen diametral gegenüber. Dabei verschärft sich die Opposition zwischen diesen Ansätzen genau in dem Maße, wie die Schönheit des Erhabenen sich stufenweise bis zum Zenit steigert. Im Horizont von Schopenhauers Ästhetik erweist sich eine Subsumtion des Erhabenen unter das Schöne als verfehlt. Denn die laut Schopenhauer für das Erhabene gerade konstitutive und typische Widerständigkeit, die dem ästhetischen Subjekt besonderes Engagement abverlangt, ist inkompatibel mit der proportional zum Grade seiner Schönheit zunehmenden Befähigung des Objekts zur Erleichterung ästhetischer Einstellung. Infolgedessen kann eine Subsumtion des Erhabenen unter das Schöne allein auf Kosten seiner spezifischen Charakteristika, ja — präziser — um den allzu hohen Preis ihrer Umkehrung ins genaue Gegenteil erfolgen. Eine systematische Heteronomie des Erhabenen, das dann nur noch eine Komponente innerhalb der expandierten Sphäre des Schönen wäre, müßte letztlich also seine Liquidierung nach sich ziehen. 74 Um diese Konsequenz zu vermeiden, gilt es, entschieden an der in Abschnitt III. vorgestellten Kontrastierung 75 von Schönem und Erhabenem 72 73 74

75

W W V I S. 298. Vgl. Anm. 66. Zu revidieren ist mithin jene am Anfang von Abschnitt VIII. geäußerte Vermutung, die Existenz des Erhabenen lasse sich durchaus retten, sofern es nur i n statt neben dem Schönen piaziert werde. Denn gerade die conditio sine qua non des Erhabenen besteht in der besagten Widerständigkeit, die für das Subjekt eine kontrastive Dynamik, eine „Duplizität" des Bewußtseins beinhaltet. Vgl. die Zitate aus W W V I S. 291 in Anm. 20. Bezogen auf jene Passage, in der Schopenhauer Schönes und Erhabenes mit Nachdruck polarisiert, sei abschließend die folgende spekulative Überlegung angestellt: Könnte nicht vielleicht gerade die Radikalität dieser Abgrenzung zumindest mitverantwortlich sein für die überwiegend rezeptive Haltung, die das ästhetische Subjekt dort Schönem gegenüber an den Tag legt? Geben nicht einige Textstellen Anlaß zu der Vermutung, daß Schopenhauer im Zuge dieser Differenzierung die dynamische Aktivität, durch die er das ästhetisch-erhabene Subjekt charakterisiert, einem in kontemplativer Einstellung zu Schönem befindlichen Subjekt gerade entzieht? Treibt also ebendiese Polarisierung von Schönem und Erhabenem die Problematik seiner Konzeption des Schönen auf die Spitze, so daß eine gewisse Annäherung beider Bereiche — allerdings unter Wahrung ihrer jeweiligen Spezifika und ohne Rückfall in

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festzuhalten. Die dort sich abzeichnenden klaren Konturen des Schönen und des Erhabenen, die zugleich als Grenzen nach außen gegenüber dem jeweiligen Opponenten fungieren, bieten im Rahmen kritischer Rekonstruktion von Schopenhauers Ästhetik eine willkommene Chance, zur eingangs dargestellten Subjekt-Objekt-Problematik ein produktives Gegengewicht zu schaffen. Die systemimmanenten Schwierigkeiten lassen sich so durch einen — seinem Ansatz nach — überzeugenden Gegenentwurf zumindest kompensieren. Bedauerlicherweise hat Schopenhauer dieses Konzept allerdings nicht weit genug entfaltet und es auch in seiner Theorie des Erhabenen von internen Unstimmigkeiten nicht freizuhalten vermocht.

die behandelte Subjekt-Objekt-Problematik — erforderlich wird? — Unter völlig anderen Prämissen als denen, die diesem § 20 zugrundeliegen, unternehmen Wolfgang Welsch und Christine Pries in einem gemeinsam verfaßten Aufsatz den kühnen Versuch, Schopenhauers Konzeption des Erhabenen als „eine ästhetisch gewandete Reprise der alten Metaphysik" (S. 66) zu erweisen. (Vgl. Welsch, Wolfgang und Pries, Christine: Alt für neu. Kritische Bemerkungen zu Schopenhauers traditioneller Auslegung des Erhabenen. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 10 (1988) S. 63 — 69.) Dabei wollen sie zeigen, daß Schopenhauers antiquierte „metaphysische Auslegung des Erhabenen [...] keine unschuldige, sondern eine gefährliche Angelegenheit" (S. 67) ist, sofern im „Duktus des Metaphysisch-Erhabenen [...] Terror ersehnt, betrieben und legitimiert" wird (S. 67). Schopenhauers Konzeption des Erhabenen arbeitet dabei angeblich einer zynisch-distanzierten Weltbetrachtung zu (vgl. S. 68) und wird indirekt auch dafür verantwortlich gemacht, daß die metaphysische Deutung des Erhabenen einerseits „in radikalen Terror", andererseits „in Neutralität und Fatalismus" mündet (S. 68). Die apodiktische Unterstellung, daß nach Schopenhauer „die Welt — zuerst, zuletzt und insgesamt - homogen, also ,schön' sei" (S. 68), mit der Welsch und Pries angesichts nachhaltiger Erfahrung von Heterogenität und Pluralität, von Ungewißheit und Begrenztheit sich von Schopenhauer glauben abgrenzen zu müssen (vgl. S. 68 — 69), entspringt offenbar einer grundlegenden Unkenntnis zentraler Komponenten der radikal-pessimistischen Weltsicht Schopenhauers, der oftmals die Härte der Selbstentzweiung des Willens mit sich und die Unseligkeit der Existenz überhaupt betont (Belegmaterial dazu in § 8 dieser Arbeit). Mehrfach scheint der ohne Begründung gegen Schopenhauer gerichtete Vorwurf „salopper Polemik" (S. 66) bumerangartig die beiden Autoren selbst zu treffen, und zwar um so härter, als sich in ihrem Text auch en detail mehrere eklatante Fehler nachweisen lassen: Schopenhauers „reines willensloses Subjekt des Erkennens" (WWV I S. 287) wird pervertiert zu: „reines Willenssubjekt [sie!] des Erkennens" (S. 64). (Weitere Fehler auf S. 6 4 - 6 5 macht ein Vergleich mit WWV I S. 287, 291 offenkundig.) Immerhin weisen Welsch und Pries zu Recht auf die Bedingtheit und Relativität des Erkennens hin, durch die Schopenhauers (davon absehende) Auffassung des ästhetischen Subjekts als ,ewigen Weltauges' problematisch erscheint (vgl. S. 6 6 - 6 7 ) . Legitim ist ebenfalls die Kritik der Autoren an Tendenzen Schopenhauers, das Erhabene dem Schönen anzunähern und dadurch dessen Spezifika in Frage zu stellen (vgl. S. 68). Im Gesamteindruck überwiegen aber die dogmatisierten Prämissen der Attacken, die Welsch und Pries gegen Schopenhauer richten: die von ihnen apodiktisch behauptete Unvereinbarkeit von Metaphysik und Erhabenem (vgl. S. 67) bedürfte ebenso zumindest des Versuchs einer plausiblen Begründung wie der angeblich durch implizite Affirmation von Seiten Schopenhauers unterstützte „Terror der subjektiven Idee" (S. 68).

§ 20. Die Problematik der Relation zwischen Schönem und Erhabenem

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Im Rahmen einer ästhetischen Konzeption, die bei Schopenhauer zwar durchaus ansetzen kann, sich zugleich aber auch entschieden von ihm distanzieren muß, rückt dann ein ästhetisches Subjekt ins Blickfeld, das aus spontanem Antrieb die Sphäre interessegebundener Bedürftigkeit transzendiert und zu ästhetischer Einstellung aus genuinem Impuls (wenngleich natürlich nicht ohne eine — wie auch immer geartete — ,Beteiligung' des Objekts) selbst sich aufschwingt: als ästhetische Subjektivität, die zwar ihrer lebenspraktischen Interessen sich endedigt, jedoch im Vollbesitz ihrer Intentionalität nach wie vor verbleibt.

§ 21. Der ungeklärte Status des Trauerspiels als Kunst oder Erhabenes I. Die Disjunktion in dieser Uberschrift frappiert: Vollkommen selbstverständlich erscheint doch in Schopenhauers Ästhetik gerade die Synthese der beiden Faktoren, die sich in dieser vermeintlichen Alternative gegenüberstehen. Denn Schopenhauer ordnet das „Gefallen am Trauerspiel" explizit „nicht dem Gefühl des Schönen, sondern dem des Erhabenen" zu. 1 Und wenn er in seiner „Welt als Wille und Vorstellung" eine „nähere philosophische Betrachtung des Schönen und Erhabenen" ankündigt, die „beide in der Natur und in der Kunst zugleich erörtern" soll 2 , dann nimmt er für das Trauerspiel offenbar den Status sowohl von Kunst als auch von Erhabenem in Anspruch. In einer Charakterisierung des Trauerspiels als Kunsterhabenes lassen sich beide Zuordnungen sinnvoll verknüpfen. Ansatzpunkte für eine kritische Infragestellung scheint diese Plazierung der Tragödie um so weniger zu bieten, als das „Gefallen am Trauerspiel" laut Schopenhauer sogar als „der höchste Grad" 3 des Gefühls des Erhabenen zu gelten hat und insofern einen Sonderstatus innerhalb dieses aus den vier Faktoren Kunstschönes, Naturschönes, Kunsterhabenes, Naturerhabenes bestehenden Feldes erhält. Die interne Wertigkeit innerhalb dieser Sphäre erschließt sich dem Leser in folgender Aussage Schopenhauers: „Was im Menschen vorgeht, wann ihn das Schöne, wann ihn das Erhabene rührt, werden wir zunächst betrachten: ob er diese Rührung unmittelbar aus der Natur, aus dem Leben schöpft oder nur durch die Vermittelung der Kunst ihrer teilhaft wird, begründet keinen wesentlichen, sondern nur einen äußerlichen Unterschied". 4 Ein solcher Primat der Differenzierung zwischen Schönem und Erhabenem vor der Unterscheidung zwischen Natur und Kunst setzt ein 1 2 3 4

WWV WWV WWV WWV

II S. 556. I S. 279. II S. 556. Vgl. auch ΗΝ I S. 255: „Das Trauerspiel ist der Gipfel des Erhabenen". I S. 279. Vgl. auch MS S. 87, 89.

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gleichrangiges Nebeneinander von Schönem und Erhabenem voraus und bestätigt somit erneut die am Ende von § 20 postulierte systematische Autonomie des Erhabenen als eines Bereichs, der nicht als bloße Spezies unter das Schöne zu subsumieren ist. Erst auf der Basis einer Koordination von Schönem und Erhabenem (statt einer Subordination des Erhabenen unter das Schöne) sind zusätzliche Unterscheidungen sinnvoll. So kann im Felde des Erhabenen einerseits zwischen Dynamisch-Erhabenem und MathematischErhabenem differenziert werden 5 , andererseits lassen sich Natur-Erhabenes und Kunst-Erhabenes voneinander abgrenzen. Zu Schopenhauers superlativischer Formulierung, in der er das Gefallen am Trauerspiel als höchsten Grad des Gefühls des Erhabenen charakterisiert 6 , findet sich dort ein Analogon, wo er das Drama als „die objektiveste und in mehr als einer Hinsicht vollkommenste, auch schwierigste Gattung der Poesie"7 bezeichnet. „Auf der höchsten und schwierigsten Stufe" des Dramas wird durch Darstellung der „Not des Daseins" „das Tragische beabsichtigt" 8 und tiefe Erschütterung im Zuschauer ausgelöst. Ihren Zenit erreicht diese superlativische Darstellung in einer (wohl singulären) Nachlaßstelle, in der Schopenhauer das Trauerspiel nicht nur (wie in der „Welt als Wille und Vorstellung") zum „Gipfel der Dichtkunst" 9 erhebt, sondern es darüber hinaus gar zum „Gipfel aller Kunst" überhaupt erklärt. 10 Denn das Trauerspiel vermag den „Widerstreit des Willens mit sich selbst [...] auf der höchsten Stufe seiner Objektität" darzustellen und dabei „der schrecklichen Seite des Lebens" in unüberbietbarer Intensität Ausdruck zu verleihen. 11 Die Vorstellung einer Synthese, dergemäß das Trauerspiel als Kunsterhabenes bei Schopenhauer sowohl Kunst als auch Erhabenes in jeweils ausgezeichneter Weise repräsentiert, scheint gerade durch die doppelte Potenzierung, die sich in Schopenhauers superlativischen Formulierungen abzeichnet, bestätigt zu werden. Dennoch lassen sich mehrere Perspektiven entfalten,

Vgl. WWV I S. 292 (mit explizitem Rekurs auf Kants Terminologie). Vgl. WWV II S. 556. Vgl. auch MS S. 210: „Der Eindruck des Trauerspiels gehört eigentlich dem Erhabenen an und zwar mehr als irgend etwas Anderes". 7 WWV I S. 348. 8 PP II S. 518. 9 WWV I S. 353. Hier spricht Schopenhauer vom Trauerspiel als der „höchsten poetischen Leistung". 1 0 ΗΝ I S. 437. Mit der bei Schopenhauer üblichen These von der Musik als höchstrangiger Kunstgattung (vgl. WWV I S. 357, 359, 366; WWV II S. 574, 581) ist diese Aussage nicht kompatibel. 11 WWV I S. 353. 5

6

§ 21. Der ungeklärte Status des Trauerspiels als Kunst oder Erhabenes

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die Schopenhauers Konzeption des Trauerspiels als Kunsterhabenes in Frage stellen und die anfangs so erstaunlich anmutende Disjunktion des Paragraphentitels legitimieren.

II. In dreifacher Hinsicht geraten Kriterien miteinander in Konflikt, nach denen Schopenhauer das Spezifische einerseits von Kunst und andererseits von Erhabenem bestimmt. Verschiedentlich bezeichnet Schopenhauer die Erleichterung der Ideenerkenntnis als den Zweck der Kunst. 12 Seines Erachtens „beantwortet jedes echte und gelungene Kunstwerk auf seine Weise völlig richtig" „die Frage: ,Was ist das Leben?'" 13 und ist dabei als „Erleichterungsmittel" 14 ästhetischer Kontemplation „bemüht, uns das Leben und die Dinge so zu zeigen, wie sie in Wahrheit sind, aber durch den Nebel objektiver und subjektiver Zufälligkeiten hindurch nicht von jedem unmittelbar erfaßt werden können. Diesen Nebel nimmt die Kunst hinweg". 15 Da Schopenhauer diese Funktion für Kunstwerke aller Gattungen postuliert, muß sie eo ipso auch dem Trauerspiel zukommen. Und weil die Tragödie als Art unter das Drama zu subsumieren ist, das Schopenhauer als die „vollkommenste, auch schwierigste Gattung der Poesie" 15 betrachtet, liegt folgende Einschätzung nahe: Verdankt nicht das Drama generell, mithin auch die Tragödie speziell, dieses Prädikat höchster Vollkommenheit wesentlich einem ihr immanenten ästhetischen Potential, durch das sie sich besser als die anderen Künste (mit Ausnahme allenfalls der Musik) dazu eignet, dem Subjekt den Eintritt in ästhetische Kontemplation zu erleichtern? Diese Überlegung scheint durch eine Textstelle bestätigt zu werden, in der Schopenhauer die besondere Bedeutsamkeit des Trauerspiels folgendermaßen zum Ausdruck bringt: „Als der Gipfel der Dichtkunst sowohl in Hinsicht auf die Größe der Wirkung als auf die Schwierigkeit der Leistung ist das Trauerspiel anzusehn und ist dafür anerkannt". 17 Der höchste Rang der Tragödie innerhalb der Dichtungsarten läßt sich durch ein wirkungsästhetisches und ein produktionsästhetisches Argument begründen. Relevant ist im 12 13 14 is 16

WWV wwv WWV WWV WWV

17

W W V I S. 353. Analog: MS S. 208.

II S. 5 2 4 - 5 2 5 , 477; W W V I S. 278, 332, 352. π S. 522. I S. 278, MS S. 87. II S. 522. I S. 348.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

vorliegenden Zusammenhang zunächst nur das erstgenannte. Auch dem Trauerspiel weist Schopenhauer die Aufgabe zu, die allen Künsten gemeinsam ist: Es soll beitragen zur „Entfaltung und Verdeutlichung der im Objekt jeder Kunst sich aussprechenden Idee, des auf jeder Stufe sich objektivierenden Willens". 18 Die Annahme, daß die dem Trauerspiel eigene „Größe der Wirkung" mit der Erleichterungsfunktion von Kunst verknüpft ist, erscheint evident. Und Bestätigung erfährt sie dadurch, daß Schopenhauer im Kontext der Formulierung „Größe der Wirkung" explizit auf Zweck rekurriert. Müßte nicht der Zusammenhang zwischen Wirkung und Funktion von Kunst für das Trauerspiel bedeuten, daß es kraft seiner qualitativen Sonderstellung dem Zweck der Kunst in vorbildlicher Weise gerecht zu werden vermag und gerade deshalb eine besondere „Größe der Wirkung" erzielt? Solange man lediglich den Kunststatus der Tragödie berücksichtigt, erscheint diese Einschätzung durchaus plausibel. Anders jedoch stellt die Situation sich dar, sobald man die Perspektive wechselt und sich auf die zweite Charakterisierung konzentriert, nach welcher der „Eindruck des Trauerspiels" dem Erhabenen zugehörig ist, und dies sogar, wie Schopenhauer meint, „mehr als irgend etwas Anderes". 1 9 Dann nämlich tritt sogleich die erste der angekündigten drei Problemkomponenten in Erscheinung: Bereits in § 20 erwies sich eine spezifische Modifikation der Subjekt-Objekt-Beziehung als Charakteristikum ästhetischer Einstellung gegenüber Erhabenem, und zwar im Unterschied zu einem durch Schönes hervorgerufenen ästhetischen Zustand. Das feindliche Verhältnis erhabener Objekte zum Willen des betrachtenden Subjekts verlangt diesem eine besondere Kraftanstrengung ab. Denn im Falle des Erhabenen kann das Subjekt ästhetische Kontemplation nur dadurch erringen, daß es sich in einem dynamischen Akt „von seinem Willen und dessen Verhältnissen gewaltsam losreißt". 20 Schöne Objekte hingegen erleichtern dem Subjekt die ästhetische Einstellung so nachhaltig, daß es deren Entgegenkommen passiv abwartet und eine ästhetische Wirkung von ihnen weitgehend rezeptiv empfängt. 21 Mit Schopenhauers Auffassung, der Zweck der Kunst bestehe darin, ästhetische Einstellung zu erleichtern, läßt sich Schopenhauers Konzeption is W W V I S. 352. 19 20

21

MS S. 2 1 0 . W W V I S. 287. Erinnert sei in diesem Kontext daran, daß Schopenhauer das in erhabenem Zustand befindliche Subjekt durch „Duplizität seines Bewußtseins" gekennzeichnet sieht: es empfindet sich einerseits als hinfalliges, verletzliches, der Naturmacht hilflos ausgeliefertes Individuum, andererseits jedoch zugleich „als ewiges ruhiges Subjekt des Erkennens [...] frei und fremd allem Wollen und allen Nöten" ( W W V I S. 291). Vgl. dazu ζ. B. W W V I S. 281, 286, 287, 298; W W V II S. 480; PP II S. 503.

§ 21. Der ungeklärte Status des Trauerspiels als Kunst oder Erhabenes

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des Erhabenen wohl schwerlich in Einklang bringen. Der Erleichterung ästhetischer Erkenntnis qua Kunst steht deren Erschwerung durch die spezifische Widerständigkeit qua Erhabenes diametral gegenüber. Und diese Opposition tritt um so deutlicher hervor, als Schopenhauer das Trauerspiel sogar als höchstgradigen Repräsentanten des Erhabenen in Anspruch nimmt. 22 In auffallender Weise ähnelt diese Problematik jener am Ende von § 20 entfalteten Schwierigkeit, nach der die - nur hypothetisch erwogene — Subsumtion von Erhabenem unter das Schöne zu einer gravierenden Inkonsistenz führt: Die Widerständigkeit des Erhabenen, das durch sein feindliches Verhältnis zum Willen des Subjekts dessen Eintritt in ästhetische Einstellung erschwert, erweist sich gemäß § 20 als inkompatibel mit dem Entgegenkommen der schönen Objekte, die Schopenhauer durch ein besonderes Erleichterungspotential ausgestattet sieht. Dabei steigert sich die Diskrepanz zwischen Erschwerung und Erleichterung noch dadurch, daß Schopenhauer einerseits das Erhabene sogar zum „Extrem des Schönen" 23 avancieren läßt und andererseits den Grad der Schönheit eines Objekts ausgerechnet danach bemißt, inwieweit es ästhetische Betrachtung „erleichtert, ihr entgegenkommt, ja gleichsam dazu zwingt". 24 Vermeiden läßt sich diese Inkonsistenz nur durch ein Plädoyer für systematische Gleichrangigkeit von Schönem und Erhabenem. Trotz analoger Problemstruktur unterscheidet sich die Opposition zwischen Erleichterung und Erschwerung ästhetischer Kontemplation durch das Trauerspiel als Kunsterhabenes von jener Konstellation allerdings insofern, als hier (anders als dort in § 20) die Möglichkeit fehlt, diese Problematik durch das Postulat einer systematischen Autonomie beider Bereiche zu vermeiden. Denn die überaus enge Verbindung, die Kunst und Erhabenes im Begriff der Tragödie als des Kunsterhabenen eingehen, verhindert jede Aussicht auf systematische Independenz dieser beiden Komponenten voneinander. Der problematische Status des Trauerspiels als des Kunsterhabenen bleibt also bestehen. In Schopenhauers Ästhetik sind die Charakteristika des Erhabenen mit der Funktion von Kunst offensichtlich unvereinbar. Zu sehr tendiert Schopenhauers klassizistischer Kunstbegriff anscheinend dazu, mit dem Begriff der schönen Kunst zusammenzufallen, als daß sich seine Konzeption eines Vgl. W W V II S. 556, MS S. 210, ΗΝ I S. 255. ΗΝ I S. 45. Belege für Schopenhauers exzeptionelle These von der Einheit von Schönem und Erhabenem finden sich in ΗΝ I S. 46, 49. 24 W W V I S. 298. 22 23

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

autonom neben dem Schönen piazierten Erhabenen bruchlos in diesen Rahmen einfügen ließe. Denn die engen Grenzen dieses Kunstbegriffs würden, wie es scheint, durch das Erhabene sogleich gesprengt. Der von Schopenhauer postulierten Erleichterungsfunktion von Kunst werden erhabene Kunstwerke eo ipso nicht gerecht. Mit dem doppelten Sonderstatus, den Schopenhauer für das Trauerspiel als Kunsterhabenes in Anspruch nimmt, korrespondiert offenbar keine entsprechende Komplexität von Schopenhauers Kunstbegriff. Q u a Widerständigkeit des Erhabenen daraufhin angelegt, die Erleichterungsfunktion von Kunst gerade nicht zu erfüllen, scheint das Trauerspiel aus dem scharf konturierten und eng begrenzten Rahmen der Kunst herauskatapultiert zu werden. Dem auf diese Weise systematisch entwurzelten Trauerspiel droht die Abschiebung in ein undefinierbares Niemandsland jenseits von Natur und Kunst. Und umgekehrt scheint die Widerständigkeit des Erhabenen und die durch sie bedingte ambivalente Haltung des Subjekts, die Schopenhauer als „Duplizität seines Bewußtseins" 25 bezeichnet, ein solches Gewicht zu besitzen, daß innerhalb des Erhabenen für die Kunst mitsamt ihrem Erleichterungsanspruch kein Platz bleibt. Problemlos scheint das Erhabene folglich allein in Gestalt des Naturerhabenen möglich zu sein, sofern es nämlich nur dort als Nichtkunst zu gelten hat, eben: als Natur - ohne konstitutive Erleichterungsfunktion.

III. Die zweite Problemkomponente ist mit dem ersten Problemaspekt auf das engste verknüpft. Denn sie ist bedingt durch die Argumentation, mit der Schopenhauer den Sonderstatus der Kunst gegenüber der Wirklichkeit zu fundieren und ihre Erleich terungsfunktion zu begründen versucht. Einerseits erzielt das Kunstwerk eine besonders deutliche und charakteristische Darstellung der Dinge, indem es Wesentliches exponiert und Unwesentliches aussondert. 26 Anders als in der Realität mit ihrer Vielzahl von störenden und irrelevanten Zufälligkeiten tritt im Kunstwerk als dem Konzentrat des Wesentlichen die Idee hervor, die der Künstler aus der Wirklichkeit herauspräpariert und rein wiedergegeben hat. 27 25

WWV I S. 291.



Vgl. WWV II S. 477. Vgl. WWV I S. 278. Analog WWV I S. 332: Der „Zweck aller K u n s t " ist die „Mitteilung der aufgefaßten Idee [...], welche eben in solcher Vermittelung durch den Geist des Künsders, in der sie von allem Fremdartigen gesäubert und isoliert erscheint, nunmehr auch dem faßlich wird, der schwächere Empfänglichkeit und keine Produktivität hat".

27

§ 21. Der ungeklärte Status des Trauerspiels als Kunst oder Erhabenes

393

Ausschlaggebend für den vorliegenden Kontext ist allerdings erst der zweite Aspekt in Schopenhauers Argumentation: Die Befähigung des Kunstwerks zur Erleichterung der Ideenerkenntnis führt Schopenhauer nämlich andererseits darauf zurück, „daß das zur rein objektiven Auffassung des Wesens der Dinge erforderte gänzliche Schweigen des Willens am sichersten dadurch erreicht wird, daß das angeschaute Objekt selbst gar nicht im Gebiete der Dinge liegt, welche einer Beziehung zum Willen fähig sind, indem es kein Wirkliches, sondern ein bloßes Bild ist". 28 Die These, daß die Idee den Menschen leichter „aus dem Kunstwerk anspricht als aus der Wirklichkeit"29, begründet Schopenhauer in seinen Vorlesungen zur „Metaphysik des Schönen" konkret und ausführlich: „Denn was wir nur im Bilde sehn, oder im Gedicht, oder im aufgeführten Drama, das ist für uns nicht wirklich, es ist daher außer aller Möglichkeit einer Beziehung zu unserm Willen, während die Wirklichkeit immer solcher Beziehung offen steht".30 Statt den Willen des Subjekts zu tangieren oder gar zu erregen, wendet sich das Kunstwerk allein an dessen Erkenntnis.31 Anders hingegen verhält es sich beim „Ergreifen der Idee aus der Wirklichkeit": Das Subjekt muß von seinem Wollen aktiv Abstand nehmen und benötigt dazu „eine besondere Schwungkraft des Intellekts"32, über die höhergradig und dauerhaft nur das Genie verfügt.33 Die grundlegende Differenz hat Schopenhauer in diesen Partien seines Werkes klar und anschaulich herausgearbeitet: Faktizität der Wirklichkeit und Fiktionalität der Kunst stehen einander diametral gegenüber — strikt voneinander geschieden durch das Bestehen oder Fehlen der Möglichkeit, daß die betreffenden Objekte eine Beziehung zum Willen des Subjekts aufweisen. Der unverkennbaren Trennschärfe dieses Kriteriums entspringt aber nicht allein die Opposition von Kunst und Leben, von Bild und Wirklichkeit, von Fiktionalität und Faktizität. Darüber hinaus hat Schopenhauers Abgrenzung zur Folge, daß seine Charakterisierung des Trauerspiels als Kunsterhabenes erneut in zwei disparate Hälften auseinanderfällt. Deren gegensätzliche 28 w w v II S. 477. Analog bereits MS S. 89. Auch im Sinne von W W V II S. 477 hat man eine von Piatons Auffassung erheblich abweichende These Schopenhauers zu verstehen, nach der „das Bild der Idee nähersteht als die Wirklichkeit" (PP II S. 498). Die Ausrichtung seiner Argumentation ist allerdings in PP II eine andere als in W W V II: Die besondere Affinität des Kunstwerks zur Idee führt er darauf zurück, „daß das Kunstwerk das schon durch ein Subjekt hindurchgegangene", also „schon assimilierte" Objekt ist. MS S. 88. MS S. 88. Vgl. auch S. 89. 31 Vgl. MS S. 88. 3 2 Vgl. W W V II S. 477 und MS S. 88. 33 W W V II S. 477. 29

30

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Spezifika lassen erkennen, daß ihre von Schopenhauer vorausgesetzte Synthese im Trauerspiel als Kunsterhabenem systemimmanent gerade nicht gelingen kann. Nach Schopenhauer soll nämlich die Fiktionalität von Kunst wesentlich darin bestehen, daß Kunstwerke eine Beziehung zum menschlichen Willen nicht einmal potentialiter aufweisen. Diese generelle Behauptung gilt natürlich auch für das Trauerspiel speziell — totum etiam pro parte sozusagen. 34 Andersgeartete Tendenzen jedoch ergeben sich für das Trauerspiel aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Erhabenen. Von der vergleichsweise schlichten Struktur ästhetisch-willenloser Kontemplation des Schönen nämlich unterscheidet sich ästhetische Einstellung gegenüber Erhabenem nach Schopenhauers Auffassung durch ein erhöhtes Maß an bewußtseinsimmanenter Komplexität. Schopenhauer bezeichnet diese charakteristische Ambivalenz des Subjekts als „Duplizität seines Bewußtseins". 35 Ihre Entstehung sei zunächst skizziert. Das in bedrohlicher Ubermacht oder unermeßlicher Größe sich manifestierende „feindliche Verhältnis" ästhetisch-erhabener Objekte zum Willen des Subjekts verlangt diesem „ein bewußtes und gewaltsames Losreißen" von einer solchen Konstellation ab, „ein freies von Bewußtsein begleitetes Erheben über den Willen". 36 Erst eine solche besondere Aktivität und kämpferische Dynamik befähigt das Subjekt dazu, in willenlose Kontemplation auch des Erhabenen einzutreten. Die besondere Komplexität des ästhetischen Bewußtseinszustands angesichts erhabener Gegenstände sieht Schopenhauer darin, daß die ästhetische Erhebung, um deren Erhaltung immer wieder von neuem gerungen werden muß, „von einer steten Erinnerung an den Willen begleitet" ist, allerdings „nicht an ein einzelnes, individuelles Wollen wie Furcht oder Wunsch, sondern an das menschliche Wollen überhaupt". 37 Die voluntativen Momente, die im Falle des Erhabenen (mehr oder weniger laVgl. M S S. 88, w o Schopenhauer seine These explizit u. a. auf das Drama bezieht. 35 v r o v I S. 2 9 1 . 36 W W V I S. 287. Vgl. auch S. 296. 37 W W V I S. 288. Anderenfalls würde laut Schopenhauer der „wirklich bewegte individuelle Wille alsbald die Oberhand gewinnen, die Ruhe der Kontemplation unmöglich werden, der Eindruck des Erhabenen verlorengehn", weil das Individuum durch „wirkliche, persönliche Bedrängnis und G e f a h r vom Gegenstande" (a. a. O.) geängstigt, nichts anderes mehr im Sinn hätte, als „sich zu retten". In ΗΝ II S. 2 8 9 gelangt Schopenhauer allerdings zu einer gegenläufigen Einschätzung: „Auch im Augenblick der wirklichen Gefahr und des Untergangs kann unser Bewußtseyn zum Erhabnen emporsteigen. Dies stellt eben das Trauerspiel dar, welches übrigens auch zum Dynamischerhabnen gehört und dies im Zuschauer, obgleich er sicher ist, anregt". 34

§ 21. Der ungeklärte Status des Trauerspiels als Kunst oder Erhabenes

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tent) trotz willenloser Einstellung wirksam sind, rufen in Verbindung mit willenloser Kontemplation die subjektimmanente Komplexität hervor, die Schopenhauer als Spezifikum des Erhabenen in Anspruch nimmt. Diese ambivalente Struktur des ästhetisch-erhabenen Bewußtseins kann sich offenbar fast bis zu einer Art von innerer Zerrissenheit steigern. Subjektinterner Kontrast, Duplizität des Bewußtseins kennzeichnen nach Schopenhauer das „Gefühl des Erhabenen" 38 grundsätzlich und sind daher auch in seinen schwächeren Ausprägungen stets gegenwärtig. In exemplarischen Naturschilderungen von großer Anschaulichkeit beginnt Schopenhauer zunächst mit den niedrigeren Graden des Dynamisch-Erhabenen, ordnet seine Beispielfälle so an, daß sie im Verlauf von fünf Stufen graduell an Intensität gewinnen und führt sie schließlich in besonders expressiver Darstellung zum Zenit. 39 Den „Kampf der empörten Naturkräfte im Großen" erblickt Schopenhauer beispielsweise im Tosen eines mächtigen Wasserfalls oder im Anblick des vom Sturm gepeitschten und aufgewühlten Meeres: Im Erleben derartiger Naturereignisse zeigt sich nach Schopenhauer der „volle Eindruck des Erhabenen". 40 Angesichts gewaltiger Naturspektakel von bedrohlichem Ausmaß empfindet sich der Zuschauer seines Erachtens „zugleich als Individuum", mithin als bedürftige, hinfällige, hilflose, nichtige, ungeheuren Naturmächten ausgelieferte Willenserscheinung, und „zugleich als ewiges ruhiges Subjekt des Erkennens, [...] frei und fremd allem Wollen und allen Nöten", das „ruhig, unerschüttert, nicht mitgetroffen (unconcerned) an eben den Gegenständen, welche dem Willen drohend und furchtbar sind, die Ideen" auffaßt. 41 Der bewußtseinsimmanente Kontrast bestimmt als einheitliches Grundprinzip nach Schopenhauer sämtliche Erscheinungsweisen, Abstufungen und Varianten des Erhabenen. Ambivalenz prägt nicht nur das DynamischErhabene, sondern auch das Mathematisch-Erhabene und erfährt dort allenfalls in sekundärer Hinsicht spezifische Abwandlungen. 42 38 w w v I S. 287. Vgl. W W V I S. 2 8 8 - 2 9 1 und MS S. 1 0 4 - 1 0 8 . "0 W W V I S. 291, MS S. 108. 41 W W V I S. 291. Vgl. auch S. 290, wo Schopenhauer das kontrastive Moment ausdrücklich hervorhebt: „dem Zustand des reinen Erkennens in seiner Ruhe und Allgenugsamkeit [ist] als Kontrast eine Erinnerung an die Abhängigkeit und Armseligkeit des eines steten Treibens bedürftigen Willens beigemischt". Daß Schopenhauer diesen Gegensatz als Charakteristikum ästhetisch-erhabenen Bewußtseins generell postuliert, ihn mithin auch für dessen schwächere Grade in Anspruch nimmt, kann man aus der Tatsache ableiten, daß er die oben zitierte Formulierung selbst bereits zur Beschreibung eines relativ schwachen Grades des Erhabenen verwendet (— genauer gesagt: der zweituntersten von fünf Stufen im Rahmen seiner Beispielfolge). 4 2 Im Vordergrund steht beim Mathematisch-Erhabenen statt hilflosen Ausgeliefertseins des Individuums angesichts existentiell bedrohlich wirkender Naturphänomene dessen Nichtig39

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Was aber haben die vorangegangenen Ausführungen zum Naturerhabenen nun eigentlich mit der Problematik des Trauerspiels zu tun, also mit seinem disjunktiven Status als Kunst oder als Erhabenes? — Im folgenden soll zunächst gezeigt werden, inwiefern sich der Rekurs auf das Naturerhabene für diese Problemstellung als fruchtbar erweist. Schopenhauers Konzeption des Erhabenen erreicht nämlich in seinen Darlegungen zum Naturerhabenen einen besonderen Grad an Luzidität, der wesentlich bedingt ist durch die ausführlichen Beispiele in ihrer lebendigen Anschaulichkeit und in den weitaus knapper gehaltenen Ausführungen zum erhabenen Charakter des Trauerspiels keine Entsprechung findet. Denn im Rahmen seiner Konzeption des Trauerspiels bekommt dessen Abgrenzung von den anderen Dichtungsgattungen größeres Gewicht. Und weil dieser Komplex (gefolgt nur noch von der Musikästhetik) den Schlußteil des dritten Buches von Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung" einnimmt, also im Werkkontext bereits in die Nähe der (für das vierte Buch zentralen) Ethik rückt, ändert sich auch in dieser Hinsicht die Akzentsetzung: Wichtiger als Reflexionen zur Erhabenheit des Trauerspiels wird in diesem Zusammenhang dessen spezifische Brükkenfunktion, die Aufschluß über das Verhältnis zwischen Ästhetik und Ethik gibt. 43 Gerade im Hinblick auf die Erhabenheit des Trauerspiels bietet sich also die Möglichkeit, das hier von Schopenhauer eher nur Angedeutete durch seine ausführlicheren Darlegungen zum Erhabenen in der Natur zu ergänzen, — zumal er die Differenz zwischen Natur und Kunst im Vergleich zu dem Unterschied zwischen Schönem und Erhabenem für lediglich sekundär hält. 44 Die gemeinsame Grundstruktur ästhetischer Einstellung zu Erhabenem in Natur und Kunst überbrückt die hier vergleichsweise unerhebliche Differenz zwischen Natur und Kunst und rechtfertigt entsprechende Analogiebildungen. keit in der Konfrontation mit „der unendlichen G r ö ß e der Welt in Raum und Zeit" ( W W V I S. 292). Als Beispiele nennt Schopenhauer: den nächdichen Sternenhimmel, überdimensionale G r ö ß e architektonischer Gewölbe, hohes Alter kolossaler Ruinen und imposanter Berge (vgl. W W V I S. 2 9 2 - 2 9 3 ) . Die für das Erhabene typische Grundkonstellation allerdings bleibt auch hier erhalten: Einerseits Nichtigkeit, Vergänglichkeit des Individuums als Willenserscheinung, andererseits Bewußtsein „des ewigen Subjekts des reinen Erkennens", das sich als „der notwendige, der bedingende Träger aller Welten und aller Zeiten" weiß, in dem die zuvor beunruhigende „Größe der Welt" nun ruht; die Abhängigkeit des Subjekts „von ihr wird aufgehoben durch ihre Abhängigkeit" von ihm ( W W V I S. 292). 43 44

Vgl. dazu § 22 dieser Abhandlung. Vgl. W W V I S. 279: O b der Mensch die Rührung durch das Schöne und Erhabene „unmittelbar aus der Natur, aus dem Leben schöpft oder nur durch die Vermittelung der Kunst ihrer teilhaft wird, begründet keinen wesentlichen, sondern nur einen äußerlichen Unterschied".

§ 21. Der ungeklärte Status des Trauerspiels als Kunst oder Erhabenes

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Vergegenwärtigt man sich außerdem erneut jene eingangs bereits zitierten Aussagen Schopenhauers, beim Trauerspiel handele es sich um den „Gipfel des Erhabenen" 45 , das „Gefallen am Trauerspiel" sei „der höchste Grad" des Gefühls des Erhabenen 46 , ja es gehöre „dem Erhabenen [...] mehr als irgend etwas Anderes" 47 an, so lassen sich Charakteristika des (exemplarisch an Na' turphänomenen aufgewiesenen) Dynamisch-Erhabenen auf das Trauerspiel übertragen, zumal Schopenhauer auch das Trauerspiel explizit dem Bereich des Dynamisch-Erhabenen zuordnet. 48 Daß der von Schopenhauer beschriebene Kontrast innerhalb des ästhetischen Subjekts, die „Duplizität seines Bewußtseins" 49 , dann nicht nur für das Naturerhabene, sondern gleichfalls für das Kunsterhabene gelten muß, liegt auf der Hand. Die bisherige formal-abstrakte, inhaltlich noch etwas vage Zuordnung des Trauerspiels zum Erhabenen und damit zugleich auch die Analogie zwischen Naturerhabenem und Kunsterhabenem gewinnt Kontur und Plastizität, wenn Schopenhauer seine Behauptung, das Gefallen am Trauerspiel sei „der höchste Grad" des Gefühls des Erhabenen, konkret begründet: „Denn wie wir beim Anblick des Erhabenen in der Natur uns vom Interesse des Willens abwenden, um uns rein anschauend zu verhalten; so wenden wir bei der tragischen Katastrophe uns vom Willen zum Leben selbst ab. Im Trauerspiel nämlich wird die schreckliche Seite des Lebens uns vorgeführt, der Jammer der Menschheit, die Herrschaft des Zufalls und des Irrtums, der Fall des Gerechten, der Triumph der Bösen: also die unserm Willen geradezu widerstrebende Beschaffenheit der Welt wird uns vor Augen gebracht". 50 Die Übereinstimmung mit dem Naturerhabenen, das laut Schopenhauer ja durch „ein ungünstiges, feindliches Verhältnis" zum Willen des kontemplierenden Subjekts gekennzeichnet ist 51 , erhellt aus der folgenden These: „Insofern ist die Wirkung des Trauerspiels analog der des dynamisch Erhabenen, indem es wie dieses uns über den Willen und sein Interesse hinaushebt und uns so umstimmt, daß wir am Anblick des ihm geradezu Widerstrebenden Gefallen finden". 52 ΗΝ I S. 255. 46 w w v II S. 556. 4 7 MS S. 210. 4 8 Vgl. ΗΝ II S. 289 und W W V II S. 556. 49 W W V I S. 291. so W W V II S. 556. Eine Entsprechung findet sich in W W V I S. 353. Vgl. auch MS S. 2 0 8 - 2 1 0 . si W W V I S. 296. Vgl. auch S. 287. 52 W W V II S. 556. Im gleichen Tenor ist auf S. 558 von „Bitterkeit und Wertlosigkeit des Lebens" und - bezogen auf den Zuschauer - von der „Nichtigkeit alles seines Strebens" die Rede. 45

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Der hier zum Ausdruck kommende Kontrast entspricht Schopenhauers Beschreibung des Dynamisch-Erhabenen in der Natur. Von fundamentaler Opposition ist auch Schopenhauers Aussage geprägt, das Trauerspiel stelle zwar die Schrecklichkeit des Lebens dar und entfalte den „Widerstreit des Willens mit sich selbst" zu furchtbarer Intensität 53 , dennoch könne die Tragödie aber eine wohltätige Wirkung hervorbringen „und ein hoher Genuß" für den Zuschauer sein. 54 Eine Duplizität des Bewußtseins wird man demnach für den Rezipienten des Trauerspiels ebenso voraussetzen können wie für den Betrachter von Naturerhabenem. Allerdings tragen Schopenhauers Superlative nicht zu harmonischer Integration des Trauerspiels in den Kontext seiner Ästhetik bei. Betont Schopenhauer nachdrücklich sowohl den Kunststatus als auch die Erhabenheit des Trauerspiels, das als „Gipfel der Dichtkunst" 5 5 und als „der höchste Grad" des Erhabenen 5 6 in doppelter Hinsicht einen singulären Status erhält, so eskaliert zugleich seine Problematik als Kunsterhabenes. Das Trauerspiel beginnt zwischen Kunst und Erhabenem dann nicht allein deshalb zu oszillieren, weil es ästhetische Einstellung qua Kunst erleichtern, sie qua Erhabenes jedoch erschweren muß. Problematisch erscheint die von Schopenhauer vorausgesetzte Synthese von Kunst und Erhabenem in der Konzeption des Trauerspiels als des Kunsterhabenen noch unter einem anderen Aspekt: Wie bereits gesagt, erblickt Schopenhauer den Sonderstatus der Kunst gegenüber ästhetischen Naturphänomenen in ihrer Fiktionalität, die — im Unterschied zur Faktizität des Wirklichen — eine Beziehung zum Willen des Subjekts ausschließt. Andererseits jedoch entsteht die spezifische Ambivalenz des Erhabenen, die Duplizität des ästhetisch-erhabenen Bewußtseins, gerade durch die fortwährende Wirksamkeit einer voluntativen Komponente. In ihrer Struktur gleicht diese zweite Schwierigkeit jener ersten Problemkonstellation mit ihrer Opposition zwischen Erleichterung und Erschwerung ästhetischer Einstellung. Hier wie dort zerbricht die vermeindiche Synthese von Kunst und Erhabenem im Konstrukt des Kunsterhabenen und läßt die Disjunktion eines Entweder-Oder entstehen, die zur Entscheidung für jeweils eine der beiden Möglichkeiten nötigt. Einerseits sollen qua Erhabenheit des Trauerspiels im Rezipienten trotz ästhetischer

53 W W V

I S. 3 5 3 .

54 W W V

II S. 5 5 8 .

55 WWV J s 3 5 3 Weitere Belege am Anfang des vorliegenden § 21. 56 W W V

π

S. 5 5 6 .

§ 21. Der ungeklärte Status des Trauerspiels als Kunst oder Erhabenes

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Einstellung auch voluntative Komponenten fortbestehen, so daß Kontrast, Ambivalenz, Duplizität das Bewußtsein des Subjekts prägen. Andererseits jedoch ist das Trauerspiel qua Kunst von der Normalität lebensweltlichen Eingebundenseins in die Willenssphäre so weit entfernt, daß eine Beziehung zum Willen des Subjekts nach Schopenhauer nicht in Betracht kommt; sie ist mithin nicht nur actualiter, sondern sogar potentialiter ausgeschlossen. Diese beiden Ansätze erweisen sich als unvereinbar; Kunst und Erhabenes lassen sich zu Kunsterhabenem im Rahmen von Schopenhauers Ästhetik folglich nicht synthetisieren. Das Trauerspiel kann also — gemäß Schopenhauers Konzeption — nur entweder Kunstwerk oder Erhabenes sein. Ist es Kunstwerk, dann fehlt ihm die für das Erhabene konstitutive Beziehung zum Willen des Subjekts. Wird es hingegen primär als Erhabenes begriffen, dann verfügt es über voluntative Komponenten und ist gerade deshalb aus der Sphäre der Kunst ausgegrenzt. Nur außerhalb von Schopenhauers Konzeption kann Aussicht auf eine Synthese der (in ihrem Rahmen) inkompatiblen Bereiche und damit auf eine plausible Theorie des Kunsterhabenen bestehen, die eine konsistente Theorie des Trauerspiels einschließt. Die beschriebene zweite systemimmanente Schwierigkeit in Schopenhauers Konzeption des Trauerspiels als des Kunsterhabenen weist nicht nur formal eine Analogie zu jenem zuvor entfalteten Widerspruch auf, sondern steht mit ihm offenkundig auch in einem inhaltlichen Zusammenhang: Gerade weil das Kunstwerk nach Schopenhauer aufgrund seiner Fiktionalität bereits die Möglichkeit von Willensbeziehungen ausschließt, vermag es seiner Funktion, der Erleichterung der Ideenerkenntnis, gerecht zu werden. Besondere Schwungkraft hingegen erfordert der Eintritt in willenlose Kontemplation immer dann, wenn derart günstige Ausgangsvoraussetzungen fehlen. Dies trifft auf Natur respektive Wirklichkeit (im Unterschied zur Kunst) ebenso zu wie auf Erhabenes (im Unterschied zu Schönem). Bei einem Vergleich der vier Bereiche Schönes, Erhabenes, Natur, Kunst im Horizont von Schopenhauers Ästhetik werden folgende Attraktionsverhältnisse sichtbar: Sowohl Erhabenes als auch Natur erschweren den Eintritt in ästhetische Kontemplation und stellen somit erhöhte Anforderungen an die Eigeninitiative des Subjekts, verlangen ihm gesteigerte Aktivität ab. Kunst und Schönes hingegen zeichnen sich durch eine spezifische ästhetische Potenz aus, mit der sie den Ubergang in ästhetischwillenlose Einstellung erleichtern. Analoge Grundstrukturen schaffen eine Affinität zwischen Natur und Erhabenem sowie zwischen Kunst und

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Schönem. Gleichsam einer Art von Wahlverwandtschaft' folgend, tendieren Natur und Erhabenes, Kunst und Schönes in Schopenhauers Ästhetik dazu, eine Verbindung miteinander einzugehen, zu Naturerhabenem und Kunstschönem zu verschmelzen. 57 Während im Kunstschönen die Erleichterungsfunktion von Kunst durch das Entgegenkommen schöner Objekte noch unterstützt, ja womöglich potenziert wird 58 , erweist sich Naturerhabenes in doppelter Hinsicht als widerständig: einerseits durch das Fehlen der kunstspezifischen Erleichter ungspotenz, andererseits durch die Feindlichkeit erhabener Objekte. Naheliegend erscheint somit in Schopenhauers Ästhetik eine Koinzidenz von Erhabenem mit Naturerhabenem. Trotz extremer Gegensätzlichkeit weisen Naturerhabenes und Kunstschönes immerhin ein gemeinsames Charakteristikum auf, und zwar ihre jeweilige Homogenität: Erleichterungspotenz des Kunstschönen, hinderliche Widerständigkeit des Naturerhabenen jeweils pur und daher potenziert. 59 Demgegenüber besteht die Heterogenität von Kunsterhabenem und Naturschönem offenbar in einer Verbindung von rezeptionserleichternden mit rezeptionserschwerenden Qualitäten. Ihren Ursprung hat die Problematik des Trauerspiels als des Kunsterhabenen vermutlich auch in einem klassizistisch verengten und an seinen Rändern verhärteten Kunstbegriff Schopenhauers 60 , der eine komplikationslose Einbeziehung von ästhetischen Sonderfällen wie dem Trauerspiel nicht zuläßt. Von der Problematik des Kunsterhabenen scheint das Naturschöne — trotz seiner Heterogenität — frei zu bleiben, weil Schopenhauer dessen Charakterisierung nicht bis zur Unvereinbarkeit beider Komponenten zugespitzt hat. 57

58

55

60

Eine Tendenz in diese Richtung zeigt — jedenfalls für das Kunstschöne - die folgende (möglicherweise singulare) Textstelle: „Das Leben ist nie schön, sondern nur die Bilder des Lebens sind es, nämlich im verklärenden Spiegel der Kunst oder der Poesie" (WWV II S. 483). Entgegen anderslautenden Aussagen Schopenhauers scheint Schönes hier mit Kunstschönem zu koinzidieren, Naturschönes hingegen aus dem Rahmen dessen, was als Schönes in Betracht kommt, herauszufallen. Sofern nach Schopenhauer ein Objekt um so schöner ist, je mehr es ästhetische Kontemplation erleichtert, ja geradezu erzwingt (vgl. W W V I S. 298), müßte Kunstschönes aufgrund der für Kunst charakteristischen Erleichterungspotenz das Maximum von Schönheit erreichen. Gerade deshalb erscheint der Bereich des Naturerhabenen in Schopenhauers Ästhetik als besonders aussichtsreiches Terrain bei der Suche nach einem Gegenpol zu jenen Belegen für passive Rezeptivität des Subjekts in Schopenhauers Ästhetik: in Gestalt von Eigenaktivität und engagierter Leistungsfähigkeit des ästhetischen Subjekts. Keinen Hehl macht Schopenhauer aus seiner Bevorzugung des Klassischen gegenüber dem Romantischen — jedenfalls im Hinblick auf die Poesie: vgl. W W V II S. 553. Das scheint — dem vorliegenden Kontext zufolge — durchaus kein Zufall zu sein.

§ 21. Der ungeklärte Status des Trauerspiels als Kunst oder Erhabenes

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IV. Nach dem Aufweis von zwei zusammenhängenden Problemkomponenten steht die angekündigte dritte Schwierigkeit noch aus. Sie wird im folgenden zur Sprache kommen. Zurückzugreifen ist zunächst auf Schopenhauers These, das Trauerspiel sei „der Gipfel der Dichtkunst sowohl in Hinsicht auf die Größe der Wirkung als auf die Schwierigkeit der Leistung". 61 Von der doppelten, nämlich wirkungs- und produktionsästhetischen Begründung, die Schopenhauer hier für den besonderen Rang des Trauerspiels gibt, war am Anfang des vorliegenden § 21 zunächst nur die erste Komponente thematisch. Eine verblüffend schlichte, allerdings durchaus einleuchtende Erklärung für die behauptete „Schwierigkeit der Leistung" gibt Schopenhauer in seinen ästhetischen Vorlesungen zur „Metaphysik des Schönen": Der Mensch ist „unter allen Objekten dasjenige", welches „den menschlichen Willen [...] am leichtesten anregt, weil es die stärksten und meisten Beziehungen zu ihm hat [...]: daher gehört der höchste Grad von Genie dazu den Menschen zum Gegenstand seiner willensreinen Auffassung zu machen, also die Idee des Menschen künstlerisch aufzufassen und darzustellen. Darum eben ist es nur das größte Genie dem das Kunstwerk gelingt dessen Gegenstand der Mensch ist, also die Historienmalerei, die Bildhauerei, das Trauerspiel, das Epos". 62 Der Situation des Rezipienten insbesondere von Erhabenem entspricht hier diejenige des Produzenten, und zwar insofern, als in beiden Fällen besondere Schwungkraft und aktive Anstrengung erforderlich sind, um voluntative, die ästhetische Kontemplation beeinträchtigende Faktoren kreativ zu bewältigen. In § 17 wurde dargelegt, inwiefern dieser produktionsästhetische Aspekt als subjektbezogenes Kriterium Schopenhauers Rangskala der Kunstgattungen mitbestimmt. Berücksichtigt man in diesem Kontext außerdem Schopenhauers objektbezogenen Wertungsmaßstab, so gewinnt man zugleich einen Ansatzpunkt, um die dritte Problemdimension seiner Auffassung des Trauerspiels als Kunsterhabenes zu entfalten. Bereits in § 17 wurde Schopenhauers Differenzierung zwischen zwei Komponenten des ästhetischen Wohlgefallens behandelt; aus deren jeweiliήΐ w w v ι s. 353. 62 MS S. 7 3 - 7 4 . Parallelstelle in HN III S. 21. Dem höchsten Grad von Genie stellt Schopenhauer anschließend den niedrigsten Grad gegenüber, der seines Erachtens bereits ausreicht zu willenloser Auffassung der tierischen und erkenntnislosen Natur und deren künsderischer Darstellung in Tier- und Landschaftsmalerei, Stilleben, beschreibender Poesie und Baukunst. Denn deren Beziehungen zum Willen des Künsders hält Schopenhauer für weniger unmittelbar und ausgeprägt (vgl. MS S. 74).

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

gern Primat leitet er eine Rangskala ästhetischer Objekte ab. Nicht das Potential, durch das Objekte den menschlichen Willen affizieren, gibt hier den Ausschlag, entscheidend ist vielmehr die Stufe, die eine ästhetisch aufzufassende und künsderisch darzustellende Idee jeweils auf der Skala der Willensobjektivationen einnimmt. Zunächst sei Schopenhauers Konzeption kurz rekapituliert: Zwar setzt die ästhetische Einstellung seines Erachtens prinzipiell „rein erkennendes Subjekt und erkannte Idee als Objekt zugleich und unzertrennlich". 63 Dennoch dominiert bald die subjektive, bald die objektive Komponente ästhetischen Wohlgefallens, und zwar jeweils abhängig davon, „ob die intuitiv aufgefaßte Idee eine höhere oder niedere Stufe der Objektität des Willens ist". 64 Bei der ästhetischen Auffassung solcher Ideen, die, arm an Bedeutsamkeit, als „niedrige Stufen der Objektität des Willens" 65 auftreten und sich im Anorganischen und Vegetabilischen sowie in der Architektur manifestieren, überwiegt nach Schopenhauer die subjektive Komponente, nämlich „der Genuß des reinen willenlosen Erkennens". 66 Werden hingegen Tiere oder Menschen ästhetisch betrachtet oder künstlerisch dargestellt, so dominiert die andere Komponente des ästhetischen Wohlgefallens: der Genuß objektiver Auffassung der jeweils erkannten Idee. 67 Uber den hohen Rang des Trauerspiels kann schon aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Dichtkunst kein Zweifel bestehen. Denn Schopenhauer erblickt deren Funktion generell in der Darstellung der „Idee des Menschen" 68 als der „allerbedeutsamsten" Idee. 69 Das gilt auch speziell für das Drama. Dem „Widerstreit des Willens mit sich selbst", der in der Sphäre des Menschen „am vollständigsten entfaltet" ist, verleiht das Trauerspiel einen Ausdruck von höchster Intensität.70 Dadurch entspricht es in besonderer Weise Schopenhauers Kriterium, nach dem „die größte Mannigfaltigkeit der Gestalten, Reichtum und tiefe Bedeutsamkeit der Erscheinungen" in den höchst-

63 64 65 66

WWV WWV WWV WWV

I S. j s. IS. I S.

301. Vgl. auch S. 284. 301. 301. 301.

6 7 Vgl. W W V I S. 301. 68 w w V I S. 353. Der „Idee der Menschheit" (WWV I S. 317, 323, 347) ist es laut Schopenhauer wesendich, „daß sie sich in Individuen von eigentümlicher Bedeutsamkeit darstellt", von denen jedes „gewissermaßen die Dignität einer eigenen Idee hat" (WWV I S. 318). (Analog: W W V I S. 353.) 69 W W V I S. 306. Vgl. auch S. 302, wo Schopenhauer als Gegenstand des Dramas die „Idee des vom vollen Erkennen beleuchteten Willens" bezeichnet. 7(1 Vgl. W W V I S. 353. Vgl. auch S. 3 0 1 - 3 0 2 : „in den tragischen Darstellungen" wird der Wille „in seiner Heftigkeit" und Schrecklichkeit, vor allem aber „in seiner Brechung" gezeigt.

§ 21. Der ungeklärte Status des Trauerspiels als Kunst oder Erhabenes

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stufigen Ideen als den „deutlichsten Offenbarungen des Willens" 71 ihren Ursprung haben, so daß der Genuß überwiegend in objektiver Auffassung solcher Ideen besteht. Diesen Primat der objektiven Komponente des ästhetischen Wohlgefallens am Trauerspiel versteht Schopenhauer keineswegs wertneutral. Bezeichnenderweise betont er die Inferiorität der niedrigen Stufen durch ein vorangestelltes pejoratives „nur" noch zusätzlich und negiert für sie damit jene Superiorität höher- und höchststufiger Ideen, deren Darstellung den eminenten Rang des Trauerspiels begründet. 72 Wenn Schopenhauer das Trauerspiel als den Höhepunkt der Poesie betrachtet 73 oder es gar zum „Gipfel aller Kunst" 74 avancieren läßt, dann entspricht der besondere Status dieser Dichtungsgattung offensichdich dem singulären Rang der von ihm dargestellten „allerbedeutsamsten Ideen". 75 Die objektive Komponente des ästhetischen Wohlgefallens scheint beim Trauerspiel also zu dominieren. Um so größer ist dann allerdings das Erstaunen darüber, daß Schopenhauer bei seiner Differenzierung zwischen subjektivem und objektivem Bestandteil des ästhetischen Wohlgefallens das Erhabene mit einem Primat der subjektiven Komponente verknüpft: Nach eigenem Bekunden will Schopenhauer „bei der subjektiven Seite des ästhetischen Wohlgefallens" zunächst noch „verweilen, um deren Betrachtung durch die Erörterung des von ihr allein abhängigen und durch eine Modifikation derselben entstehenden Eindrucks des Erhabenen zu vollenden". 76 Im Hinblick auf die Implikationen, die mit Schopenhauers Unterscheidung zwischen subjektiver und objektiver Komponente des ästhetischen Wohlgefallens verbunden sind, muß diese Zuordnung des Erhabenen zur subjektiven Seite allzu pauschal und — im Falle des Trauerspiels — höchst problematisch erscheinen. Denn nur für den Teilbereich des Naturerhabenen kann diese Verknüpfung Geltung beanspruchen, geht es doch allein hier um jene Ideen des Anorganischen und Vegeta71 72

73

74 75 76

W W V I S. 301. Vgl. W W V I S. 301: „nur niedrige Stufen der Objektität des Willens, daher nicht Erscheinungen von tiefer Bedeutsamkeit und vielsagendem Inhalt". Vgl. W W V I S. 353. Vgl. außerdem PP II S. 518: „Auf der höchsten und schwierigsten Stufe" des Dramas rangiert das Tragische; vorgeführt werden „das schwere Leiden, die Not des Daseins [...] und die Nichtigkeit alles menschlichen Strebens"; tiefe Erschütterung im Zuschauer ist die Folge. ΗΝ I S. 437. W W V I S. 306. WWV I S. 284. Auf diese Zuordnung rekurriert Schopenhauer wenig später: An die Betrachtungen, „welche den subjektiven Teil des ästhetischen Wohlgefallens hervorheben sollen, [...] schließt sich, als unmittelbar damit zusammenhängend", die Erklärung des Gefühls des Erhabenen an (WWV I S. 2 8 5 - 2 8 6 ) .

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

bilischen, die Schopenhauer auf den unteren Rängen seiner Wertungsskala ästhetischer Objekte piaziert. Im Falle des Trauerspiels hingegen entsteht ein Widerspruch zwischen dem Primat der subjektiven Komponente qua Erhabenes und dem Uberwiegen der objektiven Seite aufgrund der für die Tragödie konstitutiven Bezogenheit auf die Idee des Menschen als oberste Stufe der Objektität des Willens. Die Synthese im Begriff des Kunsterhabenen erweist sich also hier unter einem dritten Aspekt als brüchig und zerfällt in konträre Einzelbestandteile. Die pejorative Beurteilung der inferioren Objektitätsstufen läßt sich nicht in Einklang bringen mit dem hohen Rang des Trauerspiels und mit der außerordentlichen Wertschätzung, die Schopenhauer, wie gezeigt, gerade für die künstlerische Gestaltung der Idee des Menschen hegt. Wenn er in der Offenbarung des menschlichen Wesens „das höchste Ziel der Kunst" 77 erblickt und die Tragödie als den „Gipfel der Dichtkunst", ja „aller Kunst" überhaupt bezeichnet 78 , dann ist eine pejorative Einschätzung des Primats der subjektiven Komponente nicht zu erkennen. Ganz im Gegenteil legt diese Konstellation zunächst sogar die Annahme nahe, gerade sofern Schopenhauer einen Primat der subjektiven Komponente voraussetzt, könne er mit .Erhabenem' hier eigentlich nur den Spezialfall des Naturerhabenen gemeint haben. Dafür scheint auch die Tatsache zu sprechen, daß Schopenhauer die zitierte Ankündigung tatsächlich als Uberleitung zu seiner mit lebendig-anschaulichen Naturschilderungen reichlich ausgestatteten Darstellung des Dynamisch-Erhabenen verwendet. Dennoch kann ein solcher Vorschlag, die Textstelle gewissermaßen ,totum pro parte' zu lesen, Erhabenes nämlich einschränkend lediglich als Naturerhabenes aufzufassen, letztlich nicht überzeugen. Denn nicht allein will Schopenhauer durch „philosophische Betrachtung des Schönen und Erhabenen beide in der Natur und in der Kunst zugleich erörtern". 79 Außerdem behauptet Schopenhauer explizit, das Trauerspiel gehöre dem Erhabenen „mehr als irgend etwas Anderes" 80 an, das „Gefallen am Trauerspiel" sei „der höchste Grad" des Gefühls des Erhabenen. 81 Und wenn Schopenhauer das Erhabene des Dramas mit dem Gegensatz zwischen Erkennen und Wollen verbunden sieht 82 , dann zeigt sich die das Erhabene kennzeichnende subjektW W V I S. 298. Vgl. W W V I S. 353 und ΗΝ I S. 437. 7 9 W W V I S. 279. 80 MS S. 210. si w w v II S. 556. 8 2 Vgl. PP II S. 703.

77 78

§ 21. Der ungeklärte Status des Trauerspiels als Kunst oder Erhabenes

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interne Ambivalenz auch in der Kunst. Wie eng Schopenhauer Tragisches und Erhabenes miteinander verknüpft, erhellt auch daraus, daß er „das Tragische" nicht allein zur „höchsten und schwierigsten Stufe" des Dramas erklärt 83 , sondern außerdem sogar im Kontext des Naturerhabenen explizit von tragischer Stimmung spricht. 84 Erst dann, wenn die Erkenntnis sich bis zur Einsicht in „die Nichtigkeit alles Wollens und Strebens" steigert, wird laut Schopenhauer „das Drama eigentlich tragisch, mithin wahrhaft erhaben und erreicht seinen höchsten Zweck". 85 Legt Schopenhauer damit nicht die Auffassung nahe, gerade als das Extrem des Erhabenen müsse das Trauerspiel besonders nachhaltig durch den Primat der subjektiven Komponente bestimmt sein? - Bedingt durch den hohen Rang des Trauerspiels, verschärft sich offenbar auch hier seine Problematik. Erneut wird die Strukturanalogie zum Naturerhabenen sichtbar: Die im Trauerspiel dargestellte, dem Willen des Subjekts „geradezu widerstrebende Beschaffenheit der Welt" 86 steht der willensfreien Ruhe reiner Ideenerkenntnis diametral gegenüber; entsprechend verhält es sich bei der bedrohlich-feindlichen Relation des Naturerhabenen zum Willen des Subjekts. 87 Die besondere Komplexität ästhetischer Einstellung zum Erhabenen in Natur und Kunst scheint zwar — in Gestalt der Duplizität des Bewußtseins — eine voluntativ-reflexive Selbstbeziehung des Subjekts zu beinhalten, so daß Schopenhauers Betonung der subjektiven Komponente insofern durchaus legitim erscheint. Nicht in diesem Ansatz besteht also der dritte Problemfaktor. Die Schwierigkeit entsteht vielmehr dadurch, daß Schopenhauer die subjektive Komponente mit der von ihm behaupteten Inferiorität bestimmter Ideen verknüpft und sie dadurch mit pejorativen Implikationen versieht. Erst so ergibt sich die Alternative zwischen der Superiorität der bei künstlerischer

PP II S. 518. Vgl. W W V I S. 290 in der dritten seiner fünf exemplarischen Naturbeschreibungen zum Dynamisch-Erhabenen. In einer Gegend, die - unter gänzlicher „Abwesenheit des zu unserer Subsistenz nötigen Organischen" - „nur nackte Felsen" zeigt, wird „der Wille schon geradezu beängstigt: die Ode gewinnt einen furchtbaren Charakter; unsere Stimmung wird mehr tragisch: die Erhebung zum reinen Erkennen geschieht mit entschiedenerem Losreißen vom Interesse des Willens". Parallelstelle: MS S. 105 — 106. 8 5 PP II S. 703. 8f> W W V II S. 556. Schopenhauers Formulierung, das Subjekt finde dann „am Anblick des ihm geradezu Widerstrebenden Gefallen" (a. a. O.), erinnert an Kants These von „einem schnellwechselnden Abstoßen und Anziehen eben desselben Objects" bei „der Vorstellung des Erhabenen" (Kritik der Urteilskraft. A A 5 S. 258; analog: Kants Beschreibung der .negativen Lust' auf S. 245). 87 W W V I S. 287, 288. 83

84

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Darstellung des Menschen zum Ausdruck gebrachten Idee einerseits und der Inferiorität solcher Ideen, bei deren Kontemplation seines Erachtens die subjektive Komponente der ästhetischen Einstellung überwiegt.

V. Die dreifache Inkonsistenz in Schopenhauers Konzept des Trauerspiels als des Kunsterhabenen gibt Anlaß zur Kritik an Schopenhauers Kunstbegriff, dessen klassizistische Prägung und harmonisierende Grundtendenz eine Einbeziehung bestimmter Sonderformen des Ästhetischen nicht zuläßt. Die aus der Abgrenzung gegenüber ästhetischen Naturobjekten erwachsene Funktionsbestimmung, nach der die Kunst ästhetische Einstellung zu erleichtern hat, läßt sich nur mit Schopenhauers Konzeption des Schönen problemlos in Einklang bringen. Die im Verlauf des vorliegenden § 21 entfalteten Kompatibilitätsprobleme legen die Absicht nahe, diesen eher traditionellen Kunstbegriff gerade dort, wo er rigide zu werden droht, zugunsten einer flexibleren und dynamischeren — eben ,moderneren' — Konzeption zu verabschieden. Und eine Aufweichung der erstarrten Grenzen eines solchen klassizistischen Kunstbegriffs erlaubt dann eine Expansion der Kunstsphäre, die nicht nur die entfalteten Schwierigkeiten beseitigt, sondern außerdem eine Bereicherung des künstlerischen Spektrums durch neue Facetten ermöglicht. Eine Integration des Erhabenen in Gestalt des Trauerspiels kann so zu einer fruchtbaren (und von systemimmanenten Problemen freien) Ergänzung künstlerischer Gestaltungsmöglichkeiten werden. Wenn nach Schopenhauer der Zweck des Trauerspiels als der „höchsten poetischen Leistung" in der „Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens" besteht 88 , wobei „die unserm Willen geradezu widerstrebende Beschaffenheit der Welt [...] uns vor Augen gebracht" werden soll 89 , dann ist hier bereits angedeutet, was das folgende Zitat expliziert: „Es ist der Widerstreit des Willens mit sich selbst, welcher hier, auf der höchsten Stufe seiner Objektität", also im Bereich des Menschen, „am vollständigsten entfaltet, furchtbar hervortritt". 90 In paradigmatischer Weise bringt nach Schopenhauer also gerade das Trauerspiel das Wesen des Willens, die für ihn charakteristische 88 W W V I S. 353. Analog: W W V II S. 556 und MS S. 208. 89 W W V II S. 556. 90 W W V I S. 353. Parallelstelle MS S. 208.

§ 21. Der ungeklärte Status des Trauerspiels als Kunst oder Erhabenes

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„Entzweiung mit sich selbst" 9 1 , zum Ausdruck. Den unaufhörlichen Kampf der individuellen Willensobjektivationen gegeneinander beschreibt Schopenhauer recht drastisch sogar als Selbstzerfleischung. 92 Vergegenwärtigt man sich, daß es bei ästhetischer Betrachtung nach Schopenhauer in letzter Instanz um die „Selbsterkenntnis" 93 des Willens geht, und zwar trotz der behaupteten Willenlosigkeit 94 , so kann man solchen Widerstreit möglicherweise auch (wenngleich nicht primär) im Sinne des „Antagonismus" 9 5 zwischen Willen und Intellekt interpretieren. Denn ist nicht der im Trauerspiel darzustellende Widerstreit des Willens sowohl intersubjektiv als auch intrasubjektiv wirksam? Auch wenn Schopenhauer mit .Widerstreit' vorrangig den Konflikt einzelner Willenserscheinungen (im Trauerspiel: der Menschen) untereinander bezeichnet: Unübersehbar (wenngleich bei Schopenhauer nicht in dieser Hinsicht thematisch) ist doch auch der Konflikt innerhalb des ,erhabenen' Bewußtseins, das in sich selbst bereits Duplizität oder Kontrast erfährt und auszuhalten hat: in Gestalt der bewußtseinsinternen Ambivalenz von seliger Ruhe der willenlosen Betrachtung einerseits und der voluntativen Selbsterfahrung eines Subjekts andererseits, das sich überwältigenden Mächten hilflos ausgeliefert fühlt. Diese konfliktreiche Komplexität bietet im Rahmen der Schopenhauerschen Wirklichkeitskonzeption besonders günstige Voraussetzungen für eine authentische, realitätsgemäße Gestaltung im Kunstwerk, so daß seine These systemimmanent nachvollziehbar erscheint, das Trauerspiel sei der „Gipfel der Dichtkunst" 9 6 . Wenn tatsächlich ein ambivalenter Bewußtseinszustand des Rezipienten mit dem im Trauerspiel dargestellten „Widerstreit des Willens mit sich selbst" korrespondiert, dann wird der Gegensatz durch eine solche Ubereinstimmung zwischen internen und externen Komponenten noch potenziert und verdichtet. Das Wesen des Willens als des universalen Weltprinzips besteht nach Schopenhauer in Konflikt und Entzweiung. Das tragischambivalente Bewußtsein ist gewissermaßen dessen paradigmatischer Ausdruck. 91

92

WWV I S. 218. In WWV I S. 357 spricht Schopenhauer im Zusammenhang mit dem Willen von „Zwiespalt mit sich selbst", von „Selbstentzweiung und K a m p f ' . D i e Welt beschreibt Schopenhauer als „beständigen K a m p f p l a t z " aller Erscheinungen des Willens, „dessen innerer Widerspruch mit sich selbst dadurch sichtbar wird" (WWV I S. 370). D a z u ausführlicher: WWV I S. 2 1 4 - 2 1 8 . Vgl. WWV I S. 353 und ergänzend S. 227. (Ausführlicher: § 8, Anm. 5.)

μ wwv ι s. 371. 94 95 96

Vgl. § 12 dieser Arbeit. Vgl. WWV II S. 474, 475. WWV I S. 353. Z u den ethischen Implikationen dieser T h e s e vgl. § 22 dieser Arbeit.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Sofern der konfliktbedingte Leidenscharakter des Daseins im Trauerspiel so plastisch zum Ausdruck kommt wie in keiner Kunstgattung sonst 97 , wird hier jene Alternative 98 zwischen beglückender Willenskalmierung durch den illusionär-endastenden Schönheitsschein einerseits und einer von schmerzlichem Realismus geprägten Einsicht in das Wesen der Welt andererseits offenkundig zugunsten der zweiten Möglichkeit entschieden.

97

98

Selbst die von Schopenhauer als höchstrangige Kunstgattung exponierte Musik kann in dieser Hinsicht mit dem Trauerspiel wohl schwerlich konkurrieren. Und auch die Lyrik, in der laut Schopenhauer der Kontrast zwischen voluntativem Affekt und willenlosem Erkennen zum Ausdruck gelangt (vgl. § 10 und § 19 dieser Arbeit), bleibt von jener expressiven Gestaltung der Selbstentzweiung des Willens, die das Trauerspiel ermöglicht, weit entfernt — trotz der beiden gemeinsamen Ambivalenz (vgl. § 10). Sie wurde bereits in § 10 entfaltet und in § 19 im Zusammenhang mit der Lyrik rekapituliert.

§ 22. Das Verhältnis der Ästhetik zur Ethik I. Dieser abschließende Paragraph soll Schopenhauers Ästhetik im Lichte seiner Ethik thematisieren. Einige der in § 10 und § 12 bereits entfalteten Argumente werden hier wieder aufgegriffen und vertieft. Dabei wird allerdings nicht die Absicht verfolgt, Schopenhauers Konzeption der Resignation und Askese als Implikationen der Verneinung des Willens zum Leben als solche detailliert zu untersuchen. Vielmehr steht ausschließlich die Relation der Ästhetik zur Ethik im Vordergrund, und zwar unter der leitenden Fragestellung, welche systematischen Konsequenzen sich aus diesem Verhältnis für den Stellenwert der Ästhetik in Schopenhauers Philosophie ergeben. Behauptet Schopenhauer, dem Genie sei „sein Bilden, Dichten oder Denken Zweckin, und exponiert er global die Mitteilung der Ideenerkenntnis als „einziges Ziel" der Kunst2, ja als den „Zweck aller Kunst"3, so liegt zunächst die Einschätzung nahe, er sei von einer Autonomie der Kunst überzeugt und räume auch deshalb dem Genie in seiner Ästhetik einen exklusiven Rang ein. Noch andere Aussagen könnten — wie es scheint — dazu dienen, die These von der Autonomie der Kunst zu fundieren: Vom infiniten Progreß der Wissenschaft, die bei ihrem Forschen nach Gesetzen und Relationen innerhalb der phänomenalen Sphäre niemals an ein endgültiges Ziel gelangen kann, grenzt Schopenhauer die Kunst ab, die seines Erachtens „überall am Ziel" ist.4 Denn sie isoliert den Gegenstand ihrer Kontemplation, abstrahiert von dessen Einbindung in raumzeitliche oder kausale Beziehungen und läßt das Einzelne zum Repräsentanten des Ganzen werden.5 Sowohl Kunst als auch Philosophie versuchen laut Schopenhauer, „das Problem des Daseins zu lö-

1 2 3 4 5

W W V II S. 496. W W V I S. 265. Vgl. auch MS S. 65: „einziger Zweck". W W V I S. 332, MS S. 182. Analog: W W V I S. 352. W W V I S. 265. Vgl. W W V I S. 265.

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

sen"; das philosophierende oder künstlerisch produktive Subjekt strebt danach, „das wahre Wesen der Dinge, des Lebens, des Daseins zu erfassen". 6 Sofern Schopenhauer behauptet, dies allein habe „Interesse für den Intellekt als solchen", mithin für den von den Zwecken des Willens befreiten Intellekt 7 , liegen Reminiszenzen an jene (in § 5 ausführlich behandelten) Textstellen nahe, denen zufolge der willensindependente Intellekt „aus eigener Kraft" 8 , „aus eigenem Antriebe" 9 nach „eigenen Gesetzen" 10 tätig ist und sich dabei ausschließlich an seinen „eigenen Zwecken" 11 orientiert. Angesichts von Schopenhauers These, die „reine wahre und tiefe Erkenntnis des Wesens der Welt" werde dem Künstler in dem Sinne „Zweck an sich", daß er bei ihr stehenbleibe 12 , bietet sich zunächst folgende Einschätzung an: Die besondere Erkenntnisweise des Künsders korrespondiert mit den Spezifika seines Produkts. Die Selbstgenügsamkeit einer von jedweder Funktionalität freien, mithin selbstzweckhaften Kunst befindet sich offenbar in grundlegender Ubereinstimmung mit dem singulären Status des willensunabhängigen Intellekts, der — vom Dienst des Willens dispensiert und von seiner auf dessen Zwecke bezogenen Instrumentalität befreit — nur seihen „eigenen Zwecken" folgt. Der Autonomie des ästhetischen Intellekts scheint also die Autonomie der Kunst zu entsprechen.

II. Systemimmanent wirkt eine derartige Korrespondenz zwischen dem Wesen der Kunst und der für sie konstitutiven Erkenntnisweise durchaus folgerichtig. Bei näherem Zusehen allerdings zeigt sich, daß sich zwar tatsächlich Ansätze zu einer Übereinstimmung finden lassen — aber nicht mit den besagten Implikationen. Denn in mehreren Passagen der vorliegenden Abhandlung wurde gerade die von Schopenhauer behauptete Autonomie des ästhetischen Intellekts eingehend problematisiert. Die Analysen von § 12, in denen der willensmetaphysische Horizont von Schopenhauers Ästhetik in seiner Bedeutung hervortrat, ließen eine auto6

WWV II S. 521. WWV II S. 521. 8 WWV II S. 500. 9 PP I S. 32. 10 WWV II S. 482, 280. 11 WWV II S. 501, PP II S. 84. 12 WWV I S. 372. 7

§ 22. Das Verhältnis der Ästhetik zur Ethik

411

nome Tätigkeit des vermeintlich willensindependenten Intellekts fragwürdig erscheinen. Entgegen Schopenhauers ästhetikinternen Postulaten kann in diesem Horizont von sogenannten „eigenen Zwecken" 13 eines vom Willensdienst befreiten, angeblich „ganz allein aus freien Stücken" 14 , nur noch nach „eigenen Gesetzen" 15 und „aus eigenem Antrieb" 16 tätigen Intellekts nicht plausiblerweise die Rede sein. Und objektive Interessen und Zwecke sowie ein spezifisch ästhetisches Selbstbewußtsein als Faktoren, die Schopenhauer — wie in § 2 und § 3 gezeigt — trotz der Opposition zwischen ästhetisch-willenloser Objektivität einerseits und dem Bereich von Willen, Absicht, Interessen, Zwecken und Selbstbewußtsein andererseits in Anspruch nimmt, sind — in der Konsequenz der Analysen von § 12 und entgegen den einschlägigen Thesen Schopenhauers — letztlich nicht dem ästhetischen Intellekt zuzuschreiben, sondern dem Willen. Wenn nämlich nach Schopenhauers Auffassung außer dem Willen „nichts daist" 17 und der Intellekt lediglich die Manifestation seines Erkennenwollens ist 18 , das Licht, das er sich auf der höchsten Stufe seiner Objektivation angezündet hat 19 , dann impliziert die Universalität des zum Weltprinzip erhobenen Willens, daß Welterkenntnis und Selbstbewußtsein in letzter Instanz zu einer alles umfassenden Einheit 20 werden. In Schopenhauers monistischer Willensmetaphysik ist der Wille das An-sich sowohl der ihn vollkommen objektivierenden Idee als auch des Einzeldinges und des erkennenden Subjekts.21 Bezeichnend ist Schopenhauers These: Allein im Menschen als der vollkommensten Willenserscheinung „kann der Wille zum völligen Selbstbewußtsein, zum deutlichen und erschöpfenden Erkennen seines eigenen Wesens, wie es sich in der ganzen Welt abspiegelt, gelangen", weil nur der Mensch aufgrund seines hochentwickelten und ausdifferenzierten Erkenntnisvermögens „eine völlig adäquate Wiederholung des Wesens der Welt unter WWV II S. 501, PP II S. 84. 14 WWV II S. 490. is w w v II S. 482, 280. 16 PP II S. 84. Vgl. auch WWV II S. 482 und PP I S. 32. π WWV I S. 227. 18 Vgl. WWV II S. 334: „so gehört das Gehirn und dessen Funktion, das Erkennen, also der Intellekt, mittelbar und sekundär zur Erscheinung des Willens·, auch in ihm objektiviert sich der Wille, und zwar als Wille zur Wahrnehmung der Außenwelt, also als ein Erkennemvollen". 19 Vgl. WWV I S. 223. Analoge Belege finden sich in § 7. 20 Vgl. dazu die Interpretationen in § 12 dieser Arbeit. Aufschlußreich ist beispielsweise Schopenhauers Definition des Genies als „ausgezeichnet klares Bewußtsein von den Dingen und dadurch auch von ihrem Gegensatz, dem eigenen Selbst" (PP II S. 93). 21 Vgl. WWV I S. 259. 13

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

der Form der Vorstellung", mithin „die Auffassung der Ideen" zu leisten vermag. 22 „Aus dem wirklichen Vorhandensein dieses Grades von Erkenntnis geht [...] die Kunst hervor". 2 3 Als Totalität eines Welt und Selbst gänzlich umfassenden und vollends durchwirkenden Naturprinzips ist der Wille als Ding an sich auch in ästhetischer Kontemplation präsent. Sofern sie nach Schopenhauers Auffassung als Ideenschau, als Wesenserkenntnis vollzogen wird, handelt es sich bei ihr in metaphysischem Horizont letztlich um eine Selbsterkenntnis des Willens. 24 In dieser willensmetaphysischen Tiefendimension von Schopenhauers Ästhetik ist das Postulat der Willen-, Interesse- und Zwecklosigkeit dahingehend zu relativieren, daß lediglich die Vordergründigkeit der Erscheinungssphäre und die Jeweiligkeit relationaler Perspektiven mit ihrer Ausrichtung auf die elementaren empirischen Bedürfnisse des individuellen Willens zu transzendieren sind. Erst so wird die spezifisch ästhetische oder philosophische Erkenntnis möglich, die — als Einheit von Welt- und Selbsterkenntnis — auf den Willen in seiner Essenz, mithin auf das Wesen von Dasein und Welt zielt. Ästhetische Objektivität steht — aus übergeordneter Perspektive betrachtet — letztlich also im Dienste einer adäquaten Selbsterkenntnis des Willens, dem Interessen und Zwecke per se (also einschließlich objektiver Interessen und Zwecke) zugeordnet sind. Sein subjektiv-individuelles Interesse an der Befriedigung elementarer Bedürfnisse überschreitet dieser Wille zugunsten einer metaphysischen Orientierung — in Gestalt seines sublimeren objektiven Interesses an der Erkenntnis seines eigenen Wesens. Von einer Autonomie des ästhetischen Intellekts kann in diesem willensmetaphysischen Horizont deshalb nicht die Rede sein, weil er zwar — verglichen mit seinen üblichen Obliegenheiten — andersgeartete Funktionen erfüllt, dabei jedoch in seiner grundsätzlichen Willensdependenz und heteronomen Instrumentalität auch weiterhin verbleibt. Im Dienste sogenannter .objektiver' Zwecke des Willens stehend, leuchtet er als das von diesem hervorgebrachte Licht gleichsam das Panorama der Objektivationen des Willens aus, um ihm die Erkenntnis seines eigenen Wesens zu ermöglichen. 22 w w v i s . 3 9 6 - 3 9 7 . 23 w w v ι s. 397. 24

Vgl. ζ. B. WWV I S. 259: Subjekt und Objekt sind „an sich nicht unterschieden; denn an sich sind sie der Wille, der hier sich selbst erkennt". Vgl. a. a. O. auch den Kontext, ferner WWV I S. 241: „Die einzige Selbsterkenntnis des Willens im Ganzen aber ist die Vorstellung im Ganzen, die gesamte anschauliche Welt. Sie ist seine Objektität, seine Offenbarung, sein Spiegel".

§ 22. Das Verhältnis der Ästhetik zur Ethik

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Selbstzweckstatus und Eigengesetzlichkeit kommen mithin für die ästhetische Erkenntnis des Intellekts25 nicht in Betracht. Ästhetisch-objektive Zwecke und Interessen weisen nur scheinbar auf eine willensunabhängige Tätigkeit des Intellekts hin, sind sie doch letztlich nichts anderes als Manifestationen des universellen, omnipräsenten Willens, der auch in ästhetischem Kontext als Ding an sich kontinuierlich gegenwärtig und wirksam bleibt. Das für Schopenhauers Ästhetik konstitutive Postulat der Willenlosigkeit bezieht sich lediglich auf den individuellen Willen mit seinen subjektiven Zwecken und Interessen, nicht jedoch auf den Willen als universelles Weltprinzip. Schopenhauers Ästhetik der Willenlosigkeit erweist sich mithin in metaphysischem Horizont als eine Ästhetik des Willens!

III. Nicht allein Schopenhauers Thesen zur Autonomie des ästhetischen Intellekts sind irreführend. Auch nähere Untersuchungen zum Status der Kunst zeigen, daß deren vermeintliche Autonomie keineswegs unangefochten bleibt. Seine globale These, der „Zweck aller Kunst" bestehe in der Mitteilung der Ideenerkenntnis26, spezifiziert Schopenhauer in aufschlußreicher Weise: Die Offenbarung des menschlichen Wesens bezeichnet er als „das höchste Ziel der Kunst".27 Und innerhalb dieses Bereichs piaziert Schopenhauer eine weitere Klimax. Für sie ist die Perspektive auf den ethischen Horizont ausschlaggebend. Nachdem die Kunst als Ideenausdruck nach Schopenhauer alle Stufen der Objektität des Willens von den niedrigsten bis zur höchsten durchlaufen hat, endet sie „mit der Darstellung seiner freien Selbstaufhebung durch das eine große Quietiv, welches ihm aufgeht aus der vollkommensten Erkenntnis seines eigenen Wesens".28 Darin besteht nach Schopenhauers Auffassung „der Gipfel aller Kunst".29 Inwiefern die in ästhetischer Ideenschau fundierte Selbsterkenntnis des Willens den Weg zu dessen Selbstaufhebung ebnet, zeigt der Kontext dieser wichtigen These, in dem Schopenhauer diese Konstellation durch die „höch-

Vgl. die im vorangegangenen genannten Belege, in denen von „eigenen Zwecken" (WWV II S. 501, PP II S. 84) und „eigenen Gesetzen" (WWV II S. 482, 280) die Rede ist. 26 W W V I S. 332, MS S. 182. 25

27 WWV ι s . 298.

28 W W V I S. 328. Vgl. auch S. 302. 29 W W V I S. 3 2 7 - 3 2 8 .

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

sten und bewunderungswürdigsten Leistungen der Malerkunst" 30 exemplifiziert: Gemälde dieser Art stellen beispielsweise Menschen dar, die „der ethische Geist des Christentums" erfüllt, die Einstellung also, die — sichtbar in ihren Mienen und vor allem in ihren Augen sich spiegelnd — aus „der vollkommensten Erkenntnis" des ganzen Wesens von Leben und Welt entspringt. 31 Der kontemplative Zugang zur Essenz der Welt ist hier keineswegs bereits der Schlußpunkt, vielmehr wirkt diese Erkenntnis auf den Willen zurück, wird zum ,£uietiv alles Wollens" und läßt sodann jene „vollkommene Resignation" entstehen, die das Christentum wie die indische Weisheit prägt, „das Aufgeben alles Wollens, die Zurückwendung, Aufhebung des Willens und mit ihm des ganzen Wesens dieser Welt, also die Erlösung". 32 Im Rahmen dieser mystisch inspirierten Konzeption erblickt Schopenhauer den Zenit der Kunst offenbar in einer Art von Selbstüberschreitung, im Aufzeigen eines Weges, der ein bloßes Stehenbleiben bei der gewonnenen umfassenden Erkenntnis des Wesens von Leben und Welt gerade ausschließt. Der „Gipfel aller Kunst" wird mithin durch ein Syntheseprodukt erreicht: Die ästhetische Produktivität des Künstlers bietet die Form, in der sich ethische Inhalte darstellen lassen. Signifikanterweise handelt es sich bei den gemalten Figuren, in deren Mienen sich laut Schopenhauer die vollkommenste Erkenntnis spiegelt, vorzugsweise um Heilige, Engel oder Mitglieder der sogenannten ,Heiligen Familie'.33

IV. Um die Implikationen der Beziehung zwischen Ästhetik und Ethik in Schopenhauers Philosophie zu ergründen, ist die Frage zu beantworten, ob Schopenhauers Kunstphilosophie primär durch ein Autonomie-Konzept geprägt ist, oder ob sie letztlich im Horizont ethischer Orientierung eine Instrumentalisierung erfährt und einen eher heteronomen Status erhält. Eine Schlüsselrolle bekommt in diesem Kontext Schopenhauers Auffassung zum Trauerspiel, dessen Sonderstatus bereits in § 10 teilweise thematisch war. Noch vor Beginn der Partie seiner „Welt als Wille und Vorstellung I", in der sich Schopenhauer mit den poetischen Gattungen generell so w w v j s. 327. si w x w I S. 327. 32 w w v I S. 327. 33

Vgl. WWV I S. 327. Der Heilige und seine spezifische Existenzform erhält im 4. Buch der WWV I und WWV II einen hohen Stellenwert.

§ 22. Das Verhältnis der Ästhetik zur Ethik

415

und dem Trauerspiel speziell befaßt, stellt er der christlichen Malerei die tragischen Darstellungen an die Seite, besteht doch eine grundlegende Analogie beider Kunstgattungen darin, daß sie „am vollkommensten das Wesen des Willens offenbaren". 34 Die Tragödie zeigt ihn „in seiner Brechung", die christliche Malerei „sogar in seiner Wendung oder Selbstaufhebung"; beiden ist als Objekt „die Idee des vom vollen Erkennen beleuchteten Willens" gemeinsam. 35 Exponiert Schopenhauer in seinen Ausführungen zum Trauerspiel die „Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens" als den „Zweck dieser höchsten poetischen Leistung" 36 , so deutet sich hier bereits an, was weitere Textstellen bestätigen: Im Unterschied zu sämtlichen anderen Künsten weist Schopenhauer dem Trauerspiel sein genuines Terrain ganz im Grenz- und Vermittlungsbereich zwischen Ästhetik und Ethik zu. Zum „Gipfel der Dichtkunst" 37 avanciert die Tragödie in Schopenhauers Ästhetik dadurch, daß sie durch „Darstellung eines großen Unglücks" 38 den „Widerstreit des Willens mit sich selbst" am „Leiden der Menschheit" exemplarisch veranschaulicht.39 Der Zuschauer, der dabei den Zwiespalt des Willens mit sich selbst auf der obersten Stufe seiner Objektivation in furchtbarer Intensität präsentiert bekommt 40 , wird sich der seinem Willen widerstrebenden Beschaffenheit von Leben und Welt bewußt und fühlt sich zur Abwendung seines Willens vom Leben aufgefordert. 41 Einige prägnante Aussagen Schopenhauers lassen den Sonderstatus, den er gerade der Tragödie als Vermittlungsinstanz zwischen Ästhetik und Ethik zuschreibt, evident werden. Daß sich die Zuschauer „bei der tragischen Katastrophe [...] vom Willen zum Leben selbst" abwenden 42 , entspricht Schopenhauers Postulat: „der tragische Geist" leitet „zur Resignation hin". 43 Nicht nur um eine „eigentümliche Tendenz und Wirkung des Trauerspiels" 44 34 wwv I S. 301. 35 WWV is. 301-302. 3f» WWV I S. 353. 37 WWV I S. 353. 38 WWV I S. 355. 39 WWV I S. 353. Vgl. W W V I S. 357. Vgl. W W V II S. 5 5 6 —557: „Was allem Tragischen [...] den eigentümlichen Schwung zur Erhebung gibt, ist das Aufgehn der Erkenntnis, daß die Welt, das Leben kein wahres Genügen gewähren könne, mithin unserer Anhänglichkeit nicht wert sei"; das Tragische evoziert mithin die Resignation. 42 WWV II S. 556. 43 WWV II S. 557. 44 WWV II S. 558. 40 41

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

geht es Schopenhauer in seinen Darlegungen, vielmehr besteht seines Erachtens in der „Aufforderung zur Abwendung des Willens vom Leben" sogar „der letzte Zweck der absichtlichen Darstellung der Leiden der Menschheit" 45 ; das „Hinwenden zur Resignation" exponiert er als die „letzte Absicht

des Trauerspiels" .A(> Von der autonomen Selbstgenügsamkeit einer Kunst, deren Funktion sich in der Vermittlung der kontemplativ gewonnenen Einsicht in das Wesen von Dasein und Welt bereits erschöpft, ist diese Zweckbestimmung des Trauerspiels weit entfernt. Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht auch die folgende These: „Steigert nun gar die Erkenntnis sich zu dem Punkte, wo ihr die Nichtigkeit alles Wollens und Strebens aufgeht und infolge davon der Wille sich selbst aufhebt; dann erst wird das Drama eigentlich tragisch, mithin wahrhaft erhaben und erreicht seinen höchsten Zweck". 47 Der tragisch-erhabene Charakter des Dramas liegt demnach offenbar in einer Art von Selbsttranszendierung: Es vermittelt nicht nur umfassende Wesenserkenntnis, auf deren Basis dann von ihm unabhängig eine Selbstverneinung des Willens erfolgen könnte, vielmehr besteht in der Hinwendung zum Telos ethischer Resignation die eigentliche Intention, der oberste Zweck dieser poetischen Gattung. Diese teleologische Orientierung beinhaltet offenbar nahezu eine komplexe ästhetisch-ethische Doppelnatur des Trauerspiels, sofern es durch sein spezifisches ästhetisches Potential und durch eine gezielte Auswahl repräsentativer, den Widerstreit des Willens plastisch-drastisch veranschaulichender Wirklichkeitssegmente über den ästhetischen Bereich hinausführt. Keine andere Kunst in Schopenhauers Ästhetik bietet in annähernd vergleichbarer Weise eine Brücke in die Sphäre ethischer Resignation.

V. Zu fragen ist nun nach dem Stellenwert des Trauerspiels im Rahmen der Kunstgattungen: Erhält es lediglich einen exzeptionellen Status, oder kann es als paradigmatisch für Kunst überhaupt auftreten? Für eine Klärung der Relation zwischen Ästhetik und Ethik bei Schopenhauer ist eine Antwort auf diese Frage wichtig. Als aufschlußreich erweist sich ein Vergleich mit Schopenhauers Thesen zum Lustspiel und zur Musik. Seines Erachtens enthält das Lustspiel — in 45 w w v II S. 559. 4f. w w v π s. 562. 47

P P II S. 703. Analog: H N III S. 426.

§ 22. Das Verhältnis der Ästhetik zur Ethik

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radikalem Gegensatz zum Trauerspiel — „die Aufforderung zur fortgesetzten Bejahung des Willens"; zwar bringt es auch Leiden des Menschen zum Ausdruck, allerdings löst es jedwede Negativität schließlich in Freude und Gelingen auf. 48 Sein „Resultat, daß das Leben im ganzen recht gut" sei 49 , steht der im Trauerspiel dargestellten „schrecklichen Seite des Lebens" diametral gegenüber und scheint außerdem mit Schopenhauers Grundüberzeugung inkompatibel zu sein, das Leben sei ein so unseliger und elender Zustand, daß „gänzliches Nichtsein ihm entschieden vorzuziehn wäre". 50 Diese Problematik sucht Schopenhauer allerdings dadurch zu entschärfen, daß er betont, gerade die Darstellung burlesker Züge des Lebens könne einem nachdenklichen Zuschauer den Eindruck vermitteln, solche Wesen wie die von den Protagonisten des Lustspiels repräsentierten seien nur „auf einem Irrwege zum Dasein" gelangt und besser gar nicht vorhanden. 51 Daß Schopenhauers These, der Wille vollziehe auf der Basis seiner Selbsterkenntnis eine „Bejahung oder Verneinung" als einzige „Begebenheit an sich" 52 , keine gleichrangigen Möglichkeiten beinhaltet, deutet sich schon in dieser dunkler eingefarbten Perspektive an, mit der Schopenhauer seine Darlegungen zum Lustspiel in der „Welt als Wille und Vorstellung II" abschließt. Die Musik scheint allerdings dem affirmativen Lustspiel als antiresignative Kunstgattung an die Seite zu treten: „Ebendadurch schmeichelt die Musik sich so in unser Herz, daß sie ihm stets die vollkommene Befriedigung seiner Wünsche vorspiegelt". 53 Durch die Illusionshaltigkeit solcher Vorstellungen ist der affirmative Charakter der Musik mit einem utopischen Moment verknüpft. Die Aufforderung zur Resignation als das eigentliche Telos des Trauerspiels führt — angesichts einer andersartigen Ausrichtung von Lustspiel und Musik — zu der Frage zurück, ob die Charakteristika des Trauerspiels ein hinreichendes Kriterium bieten für eine globale Beurteilung der Relation zwischen Ästhetik und Ethik bei Schopenhauer. Gibt die Funktionsbestimmung des Trauerspiels als einzelner Gattung paradigmatisch Aufschluß über eine Zweckorientierung der Kunst überhaupt? Kann man also im Hinblick auf 48 w W V

II s. 562. 49 w W V II S. 562. so W W V I S. 443, 445. si W W V II S. 562. Vgl. auch Schopenhauers These in ΗΝ I S. 192, „im Einzelnen betrachtet", sei das Leben jedes Menschen ein Lustspiel, „wenn man es im Ganzen übersieht", jedoch ein Trauerspiel (vgl. ferner HN III S. 530). 52 W W V ι s. 264. 53 w w v π s. 584. Vgl. ergänzend auch S. 586. Vgl. ferner S. 365: Musik „als Panakeion [Allheilmittel] aller unserer Leiden".

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

Schopenhauers Thesen zu Absicht und Zweck des Trauerspiels Schlußfolgerungen anstellen, die eine Heteronomie der Kunst generell behaupten, sofern sie grundsätzlich in den Dienst eines ethischen Telos gestellt und dadurch instrumentalisiert ist? Oder handelt es sich beim Trauerspiel lediglich um den exzeptionellen Fall einer Kunstgattung, die sich in den Kontext der anderen Gattungen in Schopenhauers Ästhetik (in dieser Hinsicht 54 ) als einzige nicht bruchlos integrieren läßt, so daß gerade sie nicht repräsentativ für Schopenhauers Kunstkonzeption überhaupt sein kann? — Über diese Alternative ist nicht leicht zu entscheiden. Im folgenden seien einige Aspekte hervorgehoben, die zu einer angemessenen Gesamteinschätzung der Relation zwischen Ästhetik und Ethik bei Schopenhauer beitragen sollen. Als aufschlußreich erweist sich ein zusätzlicher Blick auf den Status des Trauerspiels. Nicht allein hat das „Gefallen am Trauerspiel" laut Schopenhauer als „der höchste Grad" des Gefühls des Erhabenen zu gelten. 55 Außerdem apostrophiert er das Drama generell als „die objektiveste und in mehr als einer Hinsicht vollkommenste, auch schwierigste Gattung der Poesie". 56 „Auf der höchsten und schwierigsten Stufe" des Dramas „wird das Tragische beabsichtigt": die Darstellung von Leiden und Not des Lebens bewirkt im Zuschauer die Einsicht in „die Nichtigkeit alles menschlichen Strebens" und regt ihn zur „Abwendung des Willens vom Leben" an. 57 Diese Charakterisierung des Tragischen korrespondiert mit Schopenhauers These, erst als tragisches erreiche das Drama „seinen höchsten Zweck", und zwar dadurch, daß alles Wollen als nichtig erkannt wird und auf der Basis dieser Einsicht eine Selbstaufhebung des Willens erfolgt. 58 Die Sonderstellung, die das Trauerspiel in der „Welt als Wille und Vorstellung" als „Gipfel der Dichtkunst" 59 erhält, steigert sich in einer Nachlaßstelle zum unüberbietbaren Zenit: Als „Gipfel aller Kunst" 60 hat das Trauerspiel dort In anderer Hinsicht — nämlich qua Subjektivität — stellt auch die Lyrik in Schopenhauers Konzeption der Kunstgattungen einen Ausnahmefall dar: vgl. § 19. 55 W W V II S. 556. Vgl. auch ΗΝ I S. 255: „Das Trauerspiel ist der Gipfel des Erhabenen". 56 w w v ι s. 348. 5 7 PP II S. 518. 5 8 Vgl. PP II S. 703. Hingewiesen sei hier auf eine Ambivalenz: Den Textstellen, nach denen die Aufhebung des Willens zum Leben durch den Willen selbst vollzogen wird (vgl. W W V I S. 393, 447, 457; ΗΝ I S. 231), stehen Belege gegenüber, denen zufolge der Intellekt die Agensfunktion bei der Verneinung des Willens zum Leben übernimmt (vgl. W W V I S. 354, 423; PP II S. 495; HN III S. 426). Die Deutung, die § 12 dieser Abhandlung für das ästhetische Analogon dieser Ambivalenz entwarf, läßt sich auch auf die Ethik übertragen. 59 W W V I S. 353. Hier spricht Schopenhauer vom Trauerspiel als der „höchsten poetischen Leistung". 6 0 ΗΝ I S. 437. 54

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offensichtlich einen singulären Rang inne. Die naheliegende Vermutung, daß ein ethischer Zweck dafür ausschlaggebend ist, wird dadurch bestätigt, daß Schopenhauer das Trauerspiel als „Gipfel der Dichtkunst" gerade auch unter wirkungsästhetischem Aspekt exponiert. 61 Doch wie verhält es sich angesichts dieser Konstellation mit der von allen anderen Künsten sich grundlegend unterscheidenden Musik, die Schopenhauer zur schönsten und mächtigsten Kunst erklärt und sogar auf dem ontologischen Niveau der Ideen piaziert? 62 Müßte nicht infolgedessen auch das mit der Musik — qua Vorspiegelung vollkommener Wunschbefriedigung 63 — verbundene Moment des Illusionär-Scheinhaften eine besondere Bedeutung für Schopenhauers Kunstkonzeption bekommen?

VI. Trauerspiel und Musik, diese beiden in ihrem Wesen so verschiedenen Künste, scheinen dem Dargelegten zufolge genau jenen Konflikt inkompatibler Ansätze zu repräsentieren, der in § 10 und § 12 bereits entfaltet wurde: die ästhetikinterne Ambivalenz von Wahrheit und Illusion, von Enthüllung des Wesens der Welt einerseits und einem realitäts fernen Zauber traumähnlicher Ataraxie andererseits. 64 Während im Trauerspiel der ideenbezogene Erkenntnisanspruch dominiert und die ästhetische Wesenserkenntnis eine 61

62 63 64

Vgl. WWV I S. 353, wo Schopenhauer das Trauerspiel „sowohl in Hinsicht auf die Größe der Wirkung als auf die Schwierigkeit der Leistung" exponiert. Vgl. WWV I S. 357, 359. Vgl. dazu ausführlich § 18. Vgl. WWV II S. 584. Nachdrücklich sei hingewiesen auf eine Fülle signifikanter Textbelege, die in § 12 (Teil III) behandelt werden. — Walter Schulz betont, Kunst beruhe bei Schopenhauer „auf dem Vergessen der wahren Struktur der Welt." (Schulz, Walter: Die problematische Stellung der Kunst in Schopenhauers Philosophie. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Tübingen 1981. S. 4 0 3 - 4 1 5 , darin S. 413.) Zu Recht hebt er allerdings auch den Erkenntnisstatus der Kunst hervor, der sie zur „Vorbereitung auf die Resignation" (S. 410) befähigt. Zwar hält Schulz Schopenhauers Argumentation im Hinblick auf „die formale Sicht der Schönheit als Harmonie" einerseits und die Negativität des Inhalts philosophischer Welterkenntnis andererseits für „nicht eindeutig" (S. 410), gleichwohl exponiert er - vor allem mit Bezug auf die Tragödie - Schopenhauers „Leitidee der Resignation", von der aus dieser „den Bereich der Kunst anvisiert und in bestimmter Hinsicht ,wertend einengt'" (S. 413). Der These von Schulz, daß Schopenhauers Versuche der Vermittlung zwischen den beiden Ansätzen dessen „eminentes Geschick" zur Uberbrückung möglicher Differenzen zeigen (S. 410), kann ich mich jedoch nicht anschließen. Mir erscheinen stattdessen gerade die Brüche besonders eklatant (vgl. dazu § 10 und § 12 dieser Arbeit). (Sehr treffend ist allerdings eine Polarisierung durch Schulz a. a. Ο. S. 408, die ich in § 10 Anm. 55 zitiere.)

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

desillusionierende Einsicht in die Schrecklichkeit von Leben und Welt eröffnet, sieht Schopenhauer mit der Musik die illusionäre Vorstellung einer vollkommenen Befriedigung verbunden. Uberhaupt finden sich in Schopenhauers Ästhetik — auch außerhalb seiner Musikmetaphysik — etliche Begriffe, die eine Illusionshaltigkeit ästhetischer Einstellung zum Ausdruck bringen: ,Traum',,Seligkeit',,wundersamer Zauber', ,verschönerndes Licht', Selbsttäuschung' und ,Illusion'. 65 Unter der Prämisse des Schopenhauerschen Pessimismus verschärft sich die Dualität von Wesenserkenntnis und leidensentrückter Eudämonie in ästhetischer Einstellung zum Konflikt unvereinbarer Perspektiven. Der fundamentale Gegensatz zwischen diesen konkurrierenden Komponenten hat in Schopenhauers Ästhetik systemimmanente Spannungen zur Folge: Zwischen grundlegender Desillusionierung 66 , die einem Erwachen aus der trügerischscheinhaften Traumwelt gleichkommt 67 , und harmonistisch-realitätsferner Illusionsbildung wird man einen Kompromiß wohl schwerlich erwarten dürfen. Bezeichnet Schopenhauer das ästhetische Subjekt metaphorisch als „klares Weltauge" 68 , so scheint dessen Blick zumindest partiell durch trügerische Schleier ästhetischen Scheins verhängt zu sein und deshalb die von Schopenhauer drastisch beschriebene Schrecklichkeit der Realität zu verkennen: die Härte der radikalen Selbstentzweiung des Willens und deren Manifestation in einem, fortwährenden Kampf der individuellen Willensobjektivationen gegeneinander. Von heiter-unbeschwertem Wohlgefallen, von Glücksempfindung, ja Seligkeit ist gerade die desillusionierte Weltsicht, die das Trauerspiel evoziert, weit entfernt. Dennoch verknüpft Schopenhauer diese gegensätzlichen Momente im Trauerspiel unter wirkungsästhetischem Aspekt. Eine Ambivalenz ist die Folge: „Insofern ist die Wirkung des Trauerspiels analog der des dynamisch Erhabenen, indem es wie dieses uns über den Willen und sein Interesse hinaushebt und uns so umstimmt, daß wir am Anblick des ihm geradezu 65



67

68

Von den in § 1 2 zitierten Textstellen seien hier nur wenige Fundorte rekapituliert: W W V I S. 282, 283; W W V II S. 483. Weitere Angaben finden sich in § 12 (Teil III). Walter Schulz (vgl. obige Anm.) hält die Suggestion, „die Welt sei eben doch eine harmonische Ordnung", für „nicht ungefährlich" (S. 413). Zu der aus der indischen Philosophie endehnten Metapher ,Schleier der Maja' vgl. § 1 2 (Teil III). Vgl. dazu W W V II S. 556: „Im Augenblick der tragischen Katastrophe wird uns deudicher als jemals die Uberzeugung, daß das Leben ein schwerer Traum sei, aus dem wir zu erwachen haben." W W V I S. 266. Vgl. auch W W V I S. 282, W W V II S. 479.

§ 22. Das Verhältnis der Ästhetik zur Ethik

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Widerstrebenden Gefallen finden".69 Fast paradox erscheint dieser Kontrast zwischen Nähe und Distanz. Er entspricht der Duplizität des Bewußtseins angesichts des Naturerhabenen. 70 Sofern das Trauerspiel allerdings den höchsten Grad des Erhabenen darstellt 71 , potenziert sich in ihm wohl auch die für das Erhabene nach Schopenhauers Auffassung charakteristische Ambivalenz. Eine Ubereinstimmung zwischen intersubjektiven und intrasubjektiven Konflikten scheint für das Trauerspiel wesentlich zu sein. Denn der in ihm paradigmatisch dargestellte Widerstreit 72 der divergenten Willensbestrebungen verschiedener Individuen spiegelt sich gewissermaßen auch im ambivalenten Bewußtseinszustand des einzelnen Zuschauers wider. Derartige Entsprechungen zwischen internen und externen Kontrasten steigern vermutlich deren Intensität. Dadurch scheinen besonders gute Voraussetzungen für einen realitätsgemäßen Ausdruck des Willens im Trauerspiel gegeben zu sein, so daß der konfliktbedingte Leidenscharakter des Daseins in ihm so authentisch wie wohl in keiner anderen Kunstgattung gestaltet werden kann. 73 Jene Alternative zwischen beglückender Stillstellung des Willensdranges durch einen illusionär-entlastenden Schönheitsschein einerseits und einer von schmerzlichem Realismus geprägten existentiellen Einsicht in das Wesen der Welt andererseits wird hier offenkundig zugunsten der zweiten Möglichkeit entschieden. Und sofern Schopenhauer den einzigen Ursprung der Kunst in der „Erkenntnis der Ideen", „ihr einziges Ziel" in deren Mitteilung erblickt 74 und speziell die Offenbarung des menschlichen Wesens als „das höchste Ziel der Kunst" 75 betrachtet, erweist sich der Erkenntnisanspruch der Kunst — 69

W W V II S. 556. Vgl. ergänzend auch Schopenhauers These, das Trauerspiel stelle zwar die Schrecklichkeit des Lebens dar und entfalte den „Widerstreit des Willens mit sich selbst" in furchtbarer Intensität ( W W V I S. 353), dennoch könne die Tragödie aber wohltätige Wirkungen hervorbringen „und ein hoher Genuß" für den Zuschauer sein ( W W V II S. 558). Eine Duplizität des Bewußtseins ist hier evident. Vgl. ergänzend eine weitere Stelle in W W V II S. 556, in der Schopenhauer die Wirkungen von Naturerhabenem und Tragödie analogisiert. Gemäß HN III S. 571 kommt die ambivalente Wirkung des Trauerspiels dadurch zustande, daß es den angeborenen Irrtum, der Mensch sei da, um glücklich zu sein, erschüttert und durch die Erkenntnis ersetzt, „daß das Leben grade da ist, um schmerzvoll zu seyn, damit es uns verleidet werde und der Wille sich abwende". So entsteht „eine wundervolle Gelassenheit", indem man „die Welt, w o nicht mit seinen Wünschen, doch mit seiner Einsicht in Uebereinstimmung erblickt."

70

Vgl. dazu ζ. B. W W V I S. 291. Eingehender dazu: § 2 0 und § 21 dieser Arbeit. Vgl. W W V II S. 556 und ΗΝ I S. 255. Vgl. ζ. B. W W V I S. 2 1 8 („Entzweiung mit sich selbst"), W W V I S. 353: Selbstzerfleischung. Näheres dazu in § 8. Schopenhauers Auffassung, das Trauerspiel sei der „Gipfel der Dichtkunst", erscheint insofern systemimmanent folgerichtig. W W V I S. 265. W W V I S. 298.

71 72

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

im Vergleich zu der illusionären Verheißung eines Glücks durch Ataraxie offenbar letztlich doch als dominant und das Trauerspiel in dieser Hinsicht tatsächlich als paradigmatisch. Gerade die Charakteristika des Trauerspiels erlauben Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen ästhetischer Kontemplation und ethischer Resignation bei Schopenhauer. Die weiter oben bereits erwogene Hypothese, ästhetische Einstellung werde in Schopenhauers Theorie tendenziell instrumentalisiert, so daß die — qua Erkenntnisanspruch - letztlich ethisch ausgerichtete Kunst heteronome Züge erhalte, läßt sich nicht allein durch die einschlägigen Thesen zu Zweck und Absicht des Trauerspiels begründen. Als aufschlußreich erweist sich auch die Schlußpartie des dritten Buches von Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung I": Die durch ästhetische Kontemplation in ihrem Wesen erkannte Welt als „Spiegel des Willens" begleitet diesen nicht nur „zu seiner Selbsterkenntnis", sondern auch „zur Möglichkeit seiner Erlösung". 76 Zwar behauptet Schopenhauer im Kontext dieser Aussage, „jene reine wahre und tiefe Erkenntnis des Wesens der Welt" sei für den bei ihr stehenbleibenden Künsder „Zweck an sich", während sie dem Heiligen zum „Quietiv des Willens" werde. 77 Doch vorschnell wäre es, von einem derartigen „Zweck an sich" direkt auf eine Autonomie der Kunst schließen zu wollen. Der nur vorübergehenden Erlösung, die auch dem Künsder vergönnt ist, stellt Schopenhauer die dauerhaftere Erlösung des Heiligen in der folgenden These gegenüber: Die Wesenserkenntnis erlöst den Künsder „nicht auf immer, sondern nur auf Augenblicke vom Leben und ist ihm so noch nicht der Weg aus demselben, sondern nur einstweilen ein Trost in demselben; bis seine dadurch gesteigerte Kraft endlich des Spieles müde den Ernst ergreift". 78 W W V I S. 371. Diese Textstelle zeigt deutlich, daß die Möglichkeit einer Instrumentalisierung des Ästhetischen durch das Telos des Ethischen bei Schopenhauer auf dem Erkenntnisstatus des Ästhetischen beruht. Vom Kantischen Ansatz unterscheidet sich diese Konzeption grundlegend (vgl. dazu § 13 dieser Arbeit). 77 W W V I S. 372. Ausführlicher dazu: ΗΝ I S. 2 6 9 - 2 7 0 . Aufschlußreich im Hinblick auf das ethisch geprägte Telos der Kunst sind die Metaphern, mit denen Schopenhauer das Genie in Abgrenzung vom Heiligen zu charakterisieren versucht: vgl. dazu § 14 dieser Abhandlung (darin Abschnitt IX.). 78 W W V I S. 372. - Rudolf Malter betont mit Bezug auf diese Textstelle Schopenhauers Verständnis der ästhetischen Existenz als einer möglichen Vorstufe zur ethischen, wobei eben „die ästhetisch-beschauliche" Existenz „auf die ethisch-resignative [...] vorbereiten kann, nicht muß." (Malter, Rudolf: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991. S. 332.) Schopenhauers Auffassung, daß der Heilige „weder intelligent noch ästhetisch sensibel zu sein" braucht (a. a. O. S. 334), stützt zwar Malters These von der wechselseitigen Unabhängigkeit ästhetischer Beschaulichkeit und ethischer Resignation; deren von ihm hypothetisch erwogene Unvereinbarkeit (vgl. a. a. O.) jedoch müßte gerade das ethische Telos des Trauerspiels ausschließen, das Schopenhauer doch nachweislich behauptet. Auch Martin Seel (S. 291) zitiert die oben angeführte Textstelle 76

§ 22. Das Verhältnis der Ästhetik zur Ethik

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Das über die ästhetische Sphäre hinausweisende Telos des Trauerspiels, zur Selbstaufhebung des Willens anzuregen, also seine Tendenz zur Selbsttranszendierung, wird hier auf die Kunst generell bezogen. Ausgespannt zwischen Schon und Noch-nicht, geprägt durch eine Trostfunktion hic et nunc und doch dem eigentlichen ,Ernst' noch fern, vermag die Kunst die Kraft des Künstlers so weit zu potenzieren, daß er sein bisheriges Terrain überschreiten kann. Es liegt nahe, den von Schopenhauer explizit behaupteten Kausalzusammenhang zwischen dem spezifischen Potential der Kunst und dem gerade „dadurch" eröffneten Weg über sie hinaus im Sinne dessen zu interpretieren, was er expressis verbis als den „höchsten Zweck" 79 und die „letzte Absicht des Trauerspiels"80 bezeichnet: also im Sinne einer Hinwendung zur Resignation. In der Dualität von ,Spiel' und ,Ernst' ist auch der beschriebene Konflikt zwischen dem illusionshaltigen Zauber einer realitätsfernen Eudämonie einerseits und der desillusionierenden Erkenntnis der negativen Verfaßtheit der Existenz andererseits prägnant auf den Begriff gebracht. Dieser Gegensatz wird in letzter Instanz zugunsten des ,Ernstes' entschieden, zu dessen Erlangung das ,Spiel' aber Wesentliches beizutragen hat. 81 Im ethischen Horizont der Resignation allerdings mündet der Ernst der Entsagung als „schmerzliche Selbstüberwindung" 82 letztlich in eine Dimension, die Schopenhauer als „das summum bonum" betrachtet; im Vergleich zu ihm sind „alle erfüllten Wünsche und alles erlangte Glück nur Palliativmittel, nur Anodyna". 83 Der Zustand von Resignation, wahrer Gelassenheit, gänzlicher Willenlosigkeit und freiwilliger Entsagung, der den Willen dauerhaft beschwichtigt 84 , führt zu „unanfechtbarer Ruhe, Seligkeit und Erhaben-

aus WWV I S. 372. Obwohl sich Schopenhauers Tendenz belegen läßt, die ästhetische Kontemplation auf ein ethisches Telos auszurichten, kann Seels allzu radikale These, Schopenhauer interpretiere „die Ästhetik letzdich als einen Teil der Ethik", nicht befürwortet werden. (Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a.M. 1991. S. 290.) Gerade Schopenhauers Differenzierung in der zitierten Aussage (WWV I S. 372) spricht gegen Seels These. 79 PP II S. 703. Analog: WWV II S. 559 („der letzte Zweck"). so WWV II S. 562. 81 Naheliegend erscheint die Vermutung, daß hier Analogien bestehen zu der in § 12 entworfenen Hypothese von einer Selbsttäuschung des nur irrtümlich für autonom sich haltenden ästhetischen Intellekts, der als Instrument im Dienste der Selbsterkenntnis des Willens steht. 82 WWV I S. 457. 83 WWV I S. 494. 84 Vgl. ζ. B. WWV I S. 515, 530. Allerdings weist Schopenhauer auf S. 5 3 1 - 5 3 2 darauf hin, die „Verneinung des Willens zum Leben" müsse „durch steten Kampf immer aufs neue errungen werden".

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C. Einzelaspekte und Spezialprobleme in Schopenhauers Ästhetik

heit". 85 Als Folgen jener Selbstaufhebung des Willens werden tiefer Friede, unerschütterliche Ruhe und Heiterkeit, ja „gänzliche Meeresstille des Gemüts" 8 6 zur Klimax und zum Schlußpunkt von Schopenhauers Philosophie. Eudämonie und Erkenntnis, die in seiner Ästhetik noch miteinander konkurrierten, verschmelzen hier zur Einheit. „Wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden ist ohne gänzliche Verneinung des Willens nicht zu denken". 87 Und die conditio sine qua non dafür besteht in der durch kontemplative Ideenschau erzielten Selbsterkenntnis.

85 W W V I S. 533. Auf S. 529 ist von „innerer Freudigkeit und wahrer Himmelsruhe" die Rede. Aufschlußreich ist diesbezüglich ein antizipatorisches Moment der Kunst: „Das vollkommene Genügen, die finale Beruhigung, der wahre wünschenswerte Zustand stellen sich uns immer nur im Bilde dar, im Kunstwerk, im Gedicht, in der Musik. Freilich könnte man hieraus die Zuversicht schöpfen, daß sie doch irgendwo vorhanden sein müssen" (PP II S. 491). Vgl. auch MS S. 96. 8ή Vgl. W W V I S. 558, 540. 87 W W V I S. 540.

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Personenregister Albert, Κ. 241 Aler, J. 343 Aristoteles 73, 112, 151, 342 Baeumer, Μ. L. 243 Bahr, H.-D. 151 Beckett, S. 295 Benn, G. 295 Bernhard, Th. 295 Bloch, Ε. 151 Blumenberg, Η. 145, 255, 370 Brockhaus, F. Α. 273 Bruno, G. 56 Busch, W 295 Cervantes Saavedra, M. de 25, 49 Cicero 73, 150 Cutrufelli, V. 309 Decher, F. 161, 241, 245, 247, 251 Demokrit 150 Dilthey, W. 215 Diogenes Laertios 150 Dobrileit-Helmich, M. 215, 219, 226 Dörflinger, B. 252 Dürrenmatt, F. 295 Eichendorff, J. v. 302 Eisenlohr, K. 46 Eleaten 56 Empedokles 309 Engelmann, J. 300 Epikur 145, 150, 232 Frauenstädt, J. 273 Freud, S. 125, 278 Gabriel, G. 143 Geliert, C. F. 119 Gerhardt, V. 219, 226, 249 Goedert, G. 248 Goethe, J. W. v. 73, 145, 273, 347, 358

Gründer, K. 243 Gupta, R. K. 125 Haffmans, G. 295 Hebbel, F. 295 Heftrich, U. 2 8 - 2 9 , 46, 223, 226, 2 2 8 - 2 3 1 Heidegger, M. 46, 2 1 5 - 2 2 3 , 226, 227, 230, 263 Heintz, G. 332 Heller, E. 357 Helmer, K. 2 2 - 2 3 , 28 Helvetius, C. A. 309 Henckmann, W 60, 228 Hesse, H. 295 Hoffmann, Ε. Τ. A. 302 Horaz 73 Hübscher, A. 3, 273, 302, 336 Hutcheson, F. 343 Ingenkamp, H. G. 253, 261 Jean Paul 283 Jünger, E. 295 Kamata, Y. 252 Kant, I. 3, 19, 21, 26, 28, 29, 38, 42, 46, 53, 58, 59, 95, 110, 159, 205, 2 1 5 - 2 3 3 , 246, 250, 2 5 2 - 2 5 6 , 2 5 8 - 2 6 0 , 263, 279, 3 0 8 - 3 1 0 , 338, 368, 388, 405, 422 Kaufmann, W. 241 Keller, G. 295 Lange-Eichbaum, W. 73 Leibniz, G. W. 336 Löhneysen, W. v. 3, 13, 70 Lombroso, C. 73 Lütkehaus, L. 125 Malter, R. 59, 61, 196, 225, 259, 300, 422 Mann, Th. 295 Margreiter, R. 158 Marx, K. 143, 151

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Personenregister

Mayer, Ε . v. 227 Mollowitz, G. 84, 209 Moreau (de Tours), J. — J. 73 Morel, Β. A. 73 Morgenstern, C. 295 Most, O. J. 257 Neymeyr, B. 19, 89, 148, 215, 265, 311, 365 Nietzsche, F. 2 1 5 - 2 1 7 , 219, 2 2 7 - 2 5 2 , 2 7 9 - 2 8 3 , 336, 356, 357 Nordau, M. 73 Oehler, C. 162, 251, 336 Paetzold, H. 15, 41 - 4 2 , 46 Piaton 17, 27, 35, 59, 73, 90, 206, 215, 219, 230, 2 5 2 - 2 6 3 , 275, 288, 293, 296, 297, 300, 301, 310, 315, 3 3 7 - 3 4 0 , 342, 379, 381, 393 Pöggeler, O. 73 Pope, A. 73 Pothast, U. 42, 219, 295 Prauss, G. 10, 47, 222, 255, 256, 259 Pries, C. 384 Pyrrhoneer 145 Raabe, W 295 Reiner, H. 150 Rousseau, j . — j . 314

Schelling, F. W 56, 241 Schiller, F. 314, 358 Schmidt, A. 295 Schmidt, J. 73, 162, 260, 302 Schneider, R. 295 Schnitzler, G. 341, 347 Schulz, W. 161, 2 4 5 - 2 4 6 , 2 5 9 - 2 6 0 , 356, 419, 420 Seel, M. 229, 261, 359, 4 2 2 - 4 2 3 Seneca 73, 150 Simmel, G. 161 Sokrates 243 Spierling, V. 3, 314 Spinoza, B. 55, 261 Stendhal 233 Stobaeus 150 Stoiker 118, 150, 151 Strindberg, A. 295 Tieck, L. 302 Tucholsky, K. 295 Wagner, R. 243, 295, 336 Weimer, W. 108 Welsch, W. 384 Wenzel, W 338 Weyers, R. 337, 342, 347, 348 Wieland, C. M. 73