Herkunft bleibt Zukunft: Das Traditionsverständnis in der Philosophie Marcien Towas und Elungu Pene Elungus im Lichte einer These Martin Heideggers [1 ed.] 9783428487240, 9783428087242

»Herkunft bleibt Zukunft«. Martin Heidegger bewährt diese Leitidee im Eingehen auf die abendländische Tradition, näherhi

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Herkunft bleibt Zukunft: Das Traditionsverständnis in der Philosophie Marcien Towas und Elungu Pene Elungus im Lichte einer These Martin Heideggers [1 ed.]
 9783428487240, 9783428087242

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Claude Ozankom · Herkunft bleibt Zukunft

Philosop~heSchrilren

Band26

Herkunft bleibt Zukunft Das Traditionsverständnis in der Philosophie Marcien Towas und Elungu Pene Elungus im Lichte einer These Martin Heideggers

Von

Claude Ozankom

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Ozankom, Claude: Herkunft bleibt Zukunft : das Traditionsverständnis in der Philosophie Marcien Towas und Elungu Pene Elungus im Lichte einer These Martin Heideggers I von Claude Ozankom. Berlin : Duncker & Humblot, 1998 (Philosophische Schriften ; Bd. 26) Zug!.: München, Hochsch. für Philosophie, Diss., 1992 ISBN 3-428-08724-0

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany

© 1998 Duncker &

ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-08724-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Dem Andenken an meine Mutter gewidmet

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 1995 an der Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät S.J. München als Dissertation angenommen. Sie wurde für die Drucklegung überarbeitet. Allen voran möchte ich meinem Lehrer, Herrn Prof. Dr. Gerd Haeffner SJ, danken. Ohne seinen fachlichen Rat und seine persönliche Hilfe wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Mein Dank gilt ferner Herrn Prof. Dr. Peter Ehlen SJ, der das Korreferat erstellte. Herr Hubert Hesse hat sich in dankenswerter Weise zum wiederholten Male bereiterklärt, die Textverarbeitung für die Veröffentlichung einer meiner Arbeiten zu übernehmen. Dem Korbiniansverein der Erzdiözese München und Freising sage ich Dank für die Gewährung eines erheblichen Druckkostenzuschusses. Daß ich diese Arbeit erstellen und zu Ende schreiben konnte, ist nicht zuletzt das Verdienst meiner Freunde und Bekannten, die mich während der Studienjahre unterstützt haben. Zu viele sind es, um sie alle hier namentlich zu erwähnen. Allen gilt mein tief empfundener Dank. Claude Ozankom

Inhaltsverzeichnis Einleitung .......................................................................................................... 15 A. Zwischen Tradition und neuem Anfang: Heideggers Verhältnis zur philosophischen Tradition des Abendlandes .................................... 23 I.

Philosophie im Zeichen des Heute. Zu Heideggers philosophiegeschichtlicher Diagnose .................................................................. 25

II.

Heidegger und die Frage nach der Zeit ............................................ 36 1. Der Primat der Zukunft .............................................................. 38

a) Das Dasein und das herzustellende Werk ............................ 39 b) Das Vorlaufen auf den Tod ................................................. .43

2. Zukünftigkeit und Geschichtlichkeit.. ........................................44 a) Die Geschichtlichkeit des Daseins ......................................45 b) Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit.. .................................... .47 3. Die Geschichtlichkeit des Philosophierens ................................49 III.

Bleibt Herkunft Zukunft? .................................................................51

IV.

Heidegger und die philosophische Tradition .................................... 57 1. Die Destruktion der metaphysischen Tradition ..........................60

2. Exkurs. Beispiel der Destruktion "Sein und Zeit" und die Frage nach der Wahrheit.. ..........................................................62 V.

Die Krise von "Sein und Zeit" und die Kehre ..................................69

VI.

Die Seinsgeschichte .........................................................................73

VII. Anspruch und Kritik dieses Ansatzes ............................................... 78 1. Heidegger und das Lateinisch-Römische ................................... 79

2. Das "Heute" und die Philosophie ............................................... 81 VIII. Heideggers Verhältnis zur Tradition mit einem Blick nach Afrika 83 B. Hermeneutik einer ganzheitlichen Befreiung: Zur Relevanz der afrikanischen Tradition im philosophischen Ansatz Marcien Towas .......................................................................................................... 87 I.

Der "Ort" Towas ............................................................................... 88

Inhaltsverzeichnis

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II.

Schicksal und Kultur: Die Frage nach dem genuin Schwarzafrikanischen ....................................................................................90 l. Das vorkoloniale Afrika und seine Identität ..............................92 a) Blyden und die schwarze Identität ......................................93 b) Senghor und die "Negritude" ............................................... 94

2. Kritik der Apologie der "ame noire" ..........................................95 III.

Zwischen Tradition und Traditionalismus ........................................97 l. Traditionalismus im zeitgenössischen Afrika ......................... .1 02

2. Die Konsequenz dieses Ansatzes: Kritik des Traditionalismus .......................................................................................... 103 IV.

Towa und die Philosophie in Afrika .............................................. 106 l. Zur europäischen Bestimmung des Wesens der Philosophie ..107

2. Towa und die Gestalt einer afrikanischen Philosophie ............ 110 3. Kritik der Ethnophilosophie ..................................................... 119 V.

Anspruch und Kritik dieses Ansatzes ............................................. 123 l. Wissenschaft und Technik als Ideologie .................................. l24

2. Towa und die afrikanische Tradition ....................................... 127

C. Vom Lebenskult zur modernen Rationalität: Zur Interpretation der afrikanischenTradition im Denken Elungu Pene Elungus ........... .l31 I.

Das Erbe der afrikanischen Tradition ............................................. 132 l. Lebensverbundenheit und mythische Sicht der Welt... ............ l33

2. Allgegenwart des Lebens und mythische Interpretation .......... 135 3. Lebensverbundenheit, Gott, Natur, Gesellschaft und Mensch 137 a) Der Mensch ........................................................................ 137 b) Die Gesellschaft ................................................................. 138 c) Die Natur ........................................................................... 139 d) Gott in der afrikanischen Tradition ....................................l41 II.

Leben und Kultur ............................................................................ 143 l. Die "Konnaturalität" der afrikanischen Kulturen .................... 143

2. Der Gemeinschaftscharakter der schwarzafrikanischen Kulturen ......................................................................................... 144 3. Die ethisch-religiöse Dimension .............................................. 145

ill.

Begegnung mit der Rationalität des Westens ................................. 147 l. Die Religionen der Offenbarung ............................................. .147

2. Wissenschaft und wissenschaftlicher Geist ............................. 152

Inhaltsverzeichnis

11

3. Stadt und Staat ......................................................................... 156 4. Zu einer rationalitätsgebundenen Existenz .............................. 158 a) Unterwegs zu einer rationalen Gesellschaft ..................... .159 • Die Ethnophilosophie ...................................................... 162 • Die ideologische Schule ................................................. .165 • Die sogenannte afrikanische "kritische" Philosophie ...... 167 b) "Moralische Revolution" und Afrikas Zukunft ................. 169 IV.

Kritische Würdigung ...................................................................... 171

D. Von der Herkunft zur Zukunft: Der Ansatz einer neuen Hermeneutik der afrikanischen Tradition ........................................................ 179 I.

Rückblick ........................................................................................ l79

II.

Zur Analogie zwischen Heidegger, Towa und Elungu .................. 181 1. Das Bewußtsein einer Krise ..................................................... 181

2. Die Grenzen der Parallelität.. ................................................... 182 III.

Die Zukunft der afrikanischen Tradition ........................................ 184 1. Zum Begriff der Tradition ........................................................ 184 2. Afrikanische Tradition in afrikanischen Sprachen ................. .185

IV.

Zur Rolle des Philosophen im heutigen Afrika .............................. 190 I. Das Wachhalten des kulturellen Gedächtnisses ....................... 191

a) Das Sammeln ..................................................................... 192 b) Das Archivieren ................................................................. 192 c) Die Verwertung ................................................................. 192

2. Die Pflege des Handwerks ....................................................... 193 3. Die Wirkung des Philosophen .................................................. l93

Literaturverzeichnis ...................................................................................... 197 Personenverzeichnis ...................................................................................... 209 Sachverzeichnis ..............................................................................................213

Abkürzungsverzeichnis AED EH EM Fr GA HHF Hlw Hu ID KM N.l N.II PA PLW SuZ

us

VA WhD WM WPh WgM ZSD

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ZSF

= Aus der Erfahrung des Denkens = Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung = Einführung in die Metaphysik = Die Frage nach der Technik = Gesamtausgabe von Martin Heideggers Werken = Hebel - der Hausfreund = Holzwege = Über den Humanismus = Identität und Differenz = Kant und das Problem der Metaphysik = Nietzsche, 1. Band = Nietzsche, 2. Band = Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles = Platons Lehre von der Wahrheit = Sein und Zeit = Unterwegs zur Sprache = Vorträge und Aufsätze = Was heißt Denken? = Was ist Metaphysik? = Was ist das- die Philosophie? = Wegmarken = Zur Sache des Denkens = Zeit und Sein = Zur Seinsfrage

Einleitung Im einem Brief an K. Löwith aus dem Jahr 1921 schreibt Heidegger: "Ich arbeite aus meinem 'Ich bin' und meiner geistigen, überhaupt faktischen Herkunft." 1 In dieser Äußerung klingt zum einen die bleibende Bedeutung der theologischen Studienzeit für den Denkweg Heideggers an. 2 Auf der anderen Seite weist diese Aussage vor allem auf den existentiellen Angelpunkt von Heideggers Philosophieren und auf sein Verhältnis zur Tradition des Abendlandes hin, der auch jedem Eingehen auf andere (kulturell oder geschichtlich anders geartete) Denkmöglichkeiten zugrunde liegen muß, wenn es sich hierbei nicht um eine bloße "intellektuelle Neugier" oder um ein Nachsprechen von vorher oder anderswo Gedachtem handeln soll, womit dem Denken das Eigentliche und Wahre geraubt wird. Die Frage drängt sich auf: Wie muß ein denkerischer Zugang zur Tradition geartet sein, damit die in ihr enthaltene Möglichkeit echter Zukunft transparent gemacht werden kann? Nach Heidegger geht es darum, aus einem durch das Zu-denkende, wie es sich jetzt zuspricht, bestimmten existentiellen Beweggrund heraus sich auf das Werk eines Platon, eines Aristoteles, eines Descartes, eines Kant usw. einzulassen, um die in diesen Ansätzen grundgelegten Daseins- und Denkmöglichkeiten auszuleuchten. Die Zukunft dessen, was ein Denken im "Rücken hat", liegt für Heidegger demnach nicht so sehr im Versuch einer Synthese des Vergangenen mit dem "Heute", als vielmehr darin, sich stets fragend mit der Tradition auseinanderzusetzen. Mit diesem Desiderat eines durch das Fragen bestimmten Umgangs mit der Tradition - womit diese die Möglichkeit echter Zukunft erhält - wird man auf eine Selbstcharakteristik des Heideggerschen Denkens verwiesen, die der Vortrag "Die Frage nach der Technik" folgendermaßen formuliert: "Denn das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens. "3 Wenn infolgedessen der Ansatz einer auf dem Boden des Fragens verstandenen möglichen Zukunft der Herkunft entscheidend zur Grundstruktur des 1 M. Heidegger, Brieflich, zitiert nach K. Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, Stuttgart 1986, 30. 2 Vgl. hierzu neben US, 99 auch H. Ott, Martin Heidegger, Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt a.M./New York 1988, 62-66. 3 M. Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: Ders; VA, 9-40; 40.

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Einleitung

Heideggerschen Philosophierens gehört4, so muß gleichwohl darauf geachtet werden, daß Heideggers Zugang zur Tradition des Abendlandes durch die Empfindung einer tiefen Krise motiviert worden ist. In der Tat: Unter dem Eindruck der durch den Ersten Weltkrieg hervorgerufenen Zerstörungen erlebt Heidegger die zwei Hauptquellen, aus denen die geistige Substanz der abendländischen Zivilisation gespeist wird, nämlich die Philosophie und das Christentum, als erschöpft. Für ihn ergibt sich damit die Forderung, daß sich jeder dieser beiden Stränge, nicht restaurativ, sondern schöpferisch auf den eigenen Ursprung zu besinnen hat. 5 Der so umschriebenen Krise und dem damit verbundenen Postulat einer Rückbesinnung auf die ursprünglichen Erfahrungen der Tradition des Abendlandes entspringt Heideggers Gang ad fontes, den er letztlich aber allein auf die europäische Philosophieüberlieferung beschränkt. Dieser Rückgang zu den Quellen der abendländischen Philosophie ist bei Heidegger durch zwei Hauptmomente charakterisiert: In einem ersten Schritt setzt Heidegger beim Versuch der Destruktion im Sinne eines schrittweise erfolgenden Abbaus der metaphysischen Tradition alles daran, auf die kostbaren Schätze des Ursprungs vorzustoßen. Mit der Erfahrung der geschichtlichen Grundlegung jeden Denkens reift bei Heidegger die Erkenntnis, daß das mit dem Begriff der Destruktion angekündigte Programm nicht zu Ende gebracht werden kann. Infolgedessen sucht er in einem zweiten Schritt das eigene Denken zu vergeschichtlichen, d.h. in die Geschichte des Seins selbst einzufügen, was innerhalb des Heideggerschen Denkens im Begriff der Seinsgeschichte deutlich zum Ausdruck kommt. In einer analogen Situation der Krise, durch die Heidegger geradezu zu seinem philosophischen Ansatz genötigt wurde, scheint mir der moderne afrikanische Intellektuelle zu sein. Tatsächlich wird die geistige Befindlichkeit des zeitgenössischen afrikanischen Denkers durch die Erfahrung einer als tiefgehend empfundenen Krise geprägt. Denn im Zuge einer durch Eroberung und Kolonialisierung bestimmten Begegnung Afrikas mit Europa befindet sich der Intellektuelle in Afrika gleichsam in einer Situation der Orientierungslosigkeit. Denn zum einen ist die afrikanische Überlieferung nicht länger die alleinige Quelle, aus der die moderne Existenz bewältigt werden könnte. Zum anderen aber fühlt sich der zeitgenössische Afrikaner doch nicht dem durch Europa eingeführten modus vivendi ganz zugehörig.

4 Tatsächlich macht das Fragen nicht nur den Denkstil, sondern auch ein wichtiges Thema und letztlich die Denkbewegung von Heideggers Philosophie aus. Vgl. hierzu z.B. G. Haeffner, Heidegger als fragender Denker und als Denker der Frage, in: Tijdschrift voor filosofie en theologie 51 ( 1990) 157-171. 5 Hierher gehört m.E. etwa Heideggers Appell an die Theologie, mehr auf den eigenen Ursprung zu achten und sich der eigenen Aufgabe besser zu stellen. Vgl. hierzu z.B. M. Heidegger, Phänomenologie und Theologie, in: Ders; WgM, 45-77.

Einleitung

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Angesichts dieser Erfahrung, "zwischen zwei Stühlen zu sitzen", legt sich für den afrikanischen Intellektuellen das Befragen der eigenen Tradition auf ihre mögliche Relevanz für die heutige Existenz hin nahe. Dabei zeichnen sich unter den afrikanischen Denkern zwei Haupttendenzen ab. Die eine befaßt sich damit, das Erbe der afrikanischen Tradition auf die Vernünftigkeit ihrer Struktur hin hermeneutisch zu ermitteln. Hier geht es in erster Linie darum, angesichts einer skeptischen bis ablehnenden Haltung seiner Kultur v.a. durch die Kolonisatoren, dem Afrikaner zur menschlichen Dignität zu verhelfen. Zu dieser Funktion kommt ein weiteres Motiv hinzu, nämlich der Versuch, das Denken und die Haltung der Tradition einer von ihr nun entrückten Gegenwart näher zu bringen. Diese Tendenz setzt sich zwar die Auslegung des Gehalts der afrikanischen Tradition zum Ziel, bewegt sich aber außerhalb des gegenwärtigen Kontextes Afrikas. Daraus entsteht die Frage, ob ein solches Vorgehen der heutigen existentiellen Situation des Afrikaners gerecht wird. Deshalb melden sich Stimmen zu Wort, die den Verfechtern dieser Hermeneutik der Tradition eine triigerische, deklamatorische und gegenwartsirrelevante Umgangsform mit der afrikanischen Überlieferung vorwerfen6 Gegen eine solche Art der Beschäftigung mit Afrikas Tradition wird näherhin geltend gemacht, daß sie mit Minderwertigkeitskomplexen gegenüber der europäischen Zivilisation beladen ist und deswegen über eine apologetische und verklärende Darlegung dieser Tradition nicht hinauskommt. Es genügt infolgedessen nicht, von der Weisheit der Welt der Ahnen zu reden ohne ernsthafte Konfrontation mit der zeitgenössischen Wirklichkeit, die in vieler Hinsicht eine Situation der Krise ist, die mit einer hermeneutischen Freilegung des afrikanischen Erbes allein nicht gelöst werden kann. Damit ist man schon beim Anliegen der zweiten kritischen Gruppe angelangt. Diese wird von dem Bemühen geleitet, ausgehend von der Situation des Umbruchs, in der Afrika gegenwärtig steckt, die Frage nach Tradition und Zukunft für das südlich der Sahara gelegene Afrika zu artikulieren. Dabei wird alles daran gesetzt, daß der moderne Afrikaner seine Wurzeln wiederentdeckt, und zwar so, daß er sich gegenüber der Tradition sowie gegenüber der durch Europa repräsentierten Modernität kritisch verhält. Damit soll erreicht werden, daß Afrika ein neuer Lebensatem eingehaucht wird, der weder der 6 Die Kritik kam insbesondere von seitender sogenannten "Anhänger der westlichakademischen Philosophie". Sehr schroff z.B. E. Njoh-Mouelle, Les täches de Ia philosophie aujourd'hui en Afrique, in: Abbia 22 (1969) 41-56; 54: "La täche de Ia philosophie ne saurait consister a aller ehereher dans Je passe des visions du monde qui ont cesse de vivre. Le philosophe qui tient office de conservateur de musee est un pseudo-philosophe, inutile a Ia societe." Weniger schroff, aber in ähnlichem Sinne, merkt M. Towa (Essai sur Ia problematique philosophique dans l'Afrique actuelle, 29f.), daß "amener au jour une authentique philosophie negro-africaine etablirait a coup sfir que nos ancetres ont philosophe, sans pour autant nous dispenser, nous, de philosopher a notre tour. Deterrer une philosophie, ce n'est pas encore philosopher. L'Occident peut se vanter d'une brillante tradition philosophique. Mais I'Occidental qui a reconnu I'existence de cette tradition et qui en a meme saisi Je contenu, n'a pas encore commence aphilosopher." 2 Ounkom

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Einleitung

Vergangenheit um des Schwarzseins willen nachläuft noch die technisch-moderne Zivilisation wie einen Götzen idealisiert?. Es geht demnach darum, zu einer neuen Sicht der Dinge zu gelangen, die von der Erkenntnis ausgeht, daß die Grundlage, auf der die Vorfahren ihre Existenzmöglichkeiten entfalteten, und diejenige, auf der v.a. die modernen Intellektuellen stehen, abgrundtief voneinander getrennt sind. Und statt über diesen Abgrund hinwegzusehen, um eine vermeintliche Kontinuität zu postulieren, gilt es zuallererst, die Diskontinuität zwischen beiden Welten wahrzunehmen. Im Zuge dieses Befundes muß sodann, ausgehend von der Gegenwartssituation, ein selbständiges fragendes Verhältnis zur eigenen Tradition entwickelt werden, das ein Sich-öffnen gegenüber anderen Überlieferungen im allgemeinen und gegenüber der europäischen Tradition im besonderen einschließt. Eben durch solch einen kritisch-selbständigen Umgang mit der eigenen und der fremden Tradition kommt man in ein Denken hinein, das nicht in die Entfremdung, sondern zu einem Weg größerer Freiheit und Befreiung durch Erkenntnis führt. Versucht man nun die angesichtsder als krisenhaftempfundenen Situation hervorgerufene Hermeneutik eines reflektierten Umgangs mit der Tradition zu thematisieren, so wird man freilich nicht umhinkönnen, die diesbezüglich zahlreichen Ansätze im gegenwärtigen Verslehenshorizont auszuleuchten. Aber schon die Interpretation der Zusammenhänge, die sich aus den verschiedenen Darlegungen ergeben, führt über die in dieser Studie gesetzten Grenzen hinaus. Infolgedessen haben die nachstehenden Versuche eine bescheidenere Absicht. Sie wollen verstanden werden als Plädoyer für einen durch das Fragen getragenen, reflektierten Umgang mit der eigenen Überlieferung, der zwar von der Gegenwart her das Erbe der Überlieferung befragt, die Quellen dieser Tradition aber möglichst in ihrer tatsächlichen Vorhandenheit zugänglich macht. Näherhin konzentrieren sich die vorgelegten Überlegungen zum einen auf Texte über die Relation zwischen Herkunft und Zukunft bei Heidegger als einem repräsentativen Vertreter der zeitgenössischen europäischen Philosophie und zum anderen auf die Darlegungen im philosophischen Ansatz von Towa und Elungu8 , in denen das Verhältnis von Tradition und Zukunft thematisiert wird. Anband dieser Ansätze soll gefragt werden, wie in einer jeweiligen Gegenwart die Dimension der Tradition und der Zukunft angemessen aufeinander bezogen werden könnten. Die Hypothese ist dabei, daß sich eine Analogie, zwischen Heideggers Verhältnis der Diskontinuität zur philosophischen Tradition des Abendlandes 7 Vgl. B. Bujo, Afrikanische Theologie in ihrem gesellschaftlichem Kontext, Düsseldorf 1986, 19-20. 8 Beide sind Vertreter jener wenig bekannten Richtung der afrikanischen Philosophie, die einen kritischen Umgang mit der Tradition, verbunden mit einer schöpferischen Aneignung der abendländischen Überlieferung, als einzig zukunftsfähigen Modus des Philosophierens für Afrika vorschlagen.

Einleitung

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und dem Abgrund zwischen der gegenwärtigen existentiellen Situation des afrikanischen Intellektuellen und der Welt seiner Vorfahren ergibt. An Heidegger soll zudem zu zeigen versucht werden, ob und wie ein Dialog zwischen der afrikanischen Gedankenwelt und dem abendländischen Denken über ein bloßes Wissen-wollen hinaus und bei allen Unterschieden möglich und fruchtbar sein könnte. Damit nehme ich das Anliegen von Professor Busia auf, der anläßlich eines Kongresses über die "Bedingung der Möglichkeit" eines eigenständigen afrikanischen Denkens sagte: "Socrate et Platon ne me seront veritablement necessaires que lorsque je pourrai les relier a d'autres elements de pensee et de morale acquis par ma propre societe. "9 Zu dem so formulierten Anliegen eines schöpferischen Aneignens anderer Denktraditionen möchte ich, ausgehend von Heidegger, einen tragfaltigen Lösungsvorschlag unterbreiten, der schon an dieser Stelle wie folgt zusammengefaßt werden kann: Das schöpferische Anknüpfen, ist nicht nur das legitime Bestreben, alles von anderen Erlernte soweit möglich mit dem "Jetzt" der eigenen denkerischen Situation, mit den Elementen des Denkens, des Existenzvollzugs usw. aus der eigenen 'Tradition" in einen fruchtbringenden Dialog zu bringen. Mehr noch: Das ,Anknüpfungsgebot erweist sich letztlich, wie später aufzuzeigen versucht wird, als der "archimedische" Punkt eines jeden Denkens überhaupt. Es handelt sich demnach, wie Kahanga anmerkt, um eine "creation des conditions nouvelles de comprehension de soi. Ce type de comprehension est un style d'exister. Il ne peut en aucun cas, se confondre avec Ia recherche sterile de Ia specificite, qui n'est le plus souvent que 'Ia raison generale de consolation et de justification, le point d'honneur spiritualiste'." 10 Die vier Teile der Studie wurden so konzipiert, daß sie weitgehend unabhängig voneinander gelesen werden können. Das gemeinsame Anliegen aber, das sie verbindet, wird möglicherweise nur im Gesamtkontext einsehbar sein. In groben Zügen kann man es folgendermaßen skizzieren: Wie vielleicht keine andere Wissenschaft lebt die Philosophie von der Beschäftigung der Denker mit dem Zu-denkenden und untereinander. Hierher gehört auch eine Beschäftigung mit der jeweiligen Überlieferung. Letzteres legt sich v.a. in Krisensituationen nahe. Dabei geht es darum, im Horizont des "Heute" das Erbe der Tradition auf die Zukunft hin zu befragen. Leitend bleibt indes die Erfahrung einer tiefen Diskontinuität zwischen dem Boden, auf dem die Tradition steht, und der existentiellen Befindlichkeit des heute denkenden Menschen. Angesichts dieses Kontinuitätsbruchs gilt z.B. Heideggers philosophischer Ansatz dem Versuch eines anfangliehen Denkens, d.h. eines Denkens, das fragend auf den Anfang

9 Prof. Busia, zitiert nach A. N'Daw, Peut-on parler d'une pensee africaine?, in: Presence Africaine 58 (1966), 32-46; 32. IO R. Kahanga, Phenomenologie et vie sapientiale africaine. Apprendre a voir le sens d'une decouverte, in: Problemes de methode en philosophie et sciences humaines en Afrique. Actes de Ia 7eme semaine philosophique de Kinshasa du 24 au 30 avril 1983, Kinshasa 1986, 93-llO; 93.

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hört, näherhin bei den in ihm gegebenen Möglichkeiten ansetzt, um so - trotz der Macht der Tradition - zu einem eigenen Denken zu kommen. Blickt man nun von hier aus auf die Situation des modernen afrikanischen Intellektuellen, so wird man sofort mit der Frage konfrontiert, was Tradition in diesem Falle heißen soll. Tatsächlich ist der moderne Afrikaner nicht nur der eigenen Überlieferung verpflichtet, sondern er ist auch schon immer mit der europäischen Tradition in irgendeiner Weise vertraut. Demnach bedeutet ein angemessenes Verhältnis zur Tradition nichts anderes als die Frage, wie ein Bezug zur eigenen Überlieferung denkerisch artikuliert werden kann, der zugleich das von Europa Erlernte berücksichtigt. Dahinter steht die Grundüberzeugung, daß der oft konstruierte Gegensatz zwischen "Tradition" und "Modernität" in Afrika nicht unversöhnlicher Natur ist. Von daher erscheint es mir sinnvoll, angesichts der faktischen Zugehörigkeit des modernen Afrikaners zu den beiden genannten Überlieferungen, zu einer reflektierten Aneignung von beidem zu gelangen, ohne den Vorzügen der europäischen Zivilisation zu erliegen und ohne die afrikanische Tradition für harmonischer zu erklären als sie möglicherweise tatsächlich war. M.a.W.: In kritischer Absetzung sowohl von einem starren Festhalten an der afrikanischen Tradition wie auch zu einer unkritischen Aufgabe des afrikanischen Erbes zugunsten der europäischen Modernität plädiert diese Arbeit für ein ausgewogen-kritisches Verhältnis zur afrikanischen Tradition, das aber eine ebenso kritische Aufnahme des durch Europa repräsentierten Denkens einschließt in dem Bewußtsein, daß ein Verzicht auf eine dieser Quellen der- sich zugleich sowohl auf dem Boden der Tradition wie auch auf dem Boden der Modernität vollziehenden - Existenz des heutigen Afrikaners nicht gerecht zu werden vermag und diese auf einen Strang reduzieren und dadurch ärmer machen würde. Damit ist zugleich der vorbereitende Charakter dieser Studie skizziert. Sie versteht sich letztlich als Prolegomenon zur Sichtung des Gegenwart-Vergangenheit-Zukunft-Verhältnisses auf das Problem eines eigenständigen Denkens hin, besonders angesichts der geschichtlichen Situation des modernen afrikanischen Intellektuellen. Methodisch wird es im folgenden zunächst um eine Darstellung und Auslegung gehen. Man kann sich nämlich nicht von vornherein auf eine Interpretation verlassen um, darauf bauend, zu einem denkerischen "InBeziehung-Setzen" überzugehen. Denn auch wenn unübersehbar ist, daß das Denken Heideggers nach wie vor nichts von seiner Anziehungskraft verloren hat 11 , so bedeutet dies noch keineswegs, daß die "Problemebene" dieses Philosophierens erschöpfend ausgeleuchtet worden ist.

II Vgl. hierzu etwa die vielen Veranstaltungen und Veröffentlichungen anläßlich des 100. Geburtstags von Martin Heidegger im Jahre 1989, wie z.B. die Tagung der deutschjapanischen Gesellschaft vom 10.-12.1.1989 in München, deren Beiträge im Buch: Th. Buchheim u.a. (Hg.), Destruktion und Übersetzung, Weinheim 1989, der Öffentlichkeit

Einleitung

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So ist auch hier kein Ausweg geeigneter als, im Hinblick auf das Ziel der nachstehenden Darlegungen, selbst einen Schritt in Richtung auf einen denkerischen Zugang zur Philosophie Heideggers zu unternehmen. Die Frage, die m.E. in diesem Zusammenhang grundlegend ist und die das Zugehen und Hören auf Heidegger motiviert, läßt sich allgemein so formulieren: Wie muß eine Beschäftigung mit der Überlieferung angelegt sein, wenn aus dieser Tradition eine Zukunft werden soll? Demnach geht es darum, Heideggers These, daß die geistige Herkunft eines Denkens seine Zukunft bleibt, näher zu untersuchen. Mit der angestrebten Darstellung von Heideggers Versuch, in der philosophischen Tradition des Abendlandes stehend doch noch frei von den Fesseln dieser Tradition zu einem selbständigen Denken vorzudringen- wobei das Verhältnis zwischen Kontinuität und Diskontinuität in bezug auf diese Tradition deutlich zum Tragen kommt-, wird zugleich eine Grundlage für die "Konfrontation" mit der denkerischen Befindlichkeit des afrikanischen Denkers erarbeitet. Dabei wird es insbesondere darum gehen, die Themenkreise Geschichtlichkeit, Destruktion der metaphysischen Tradition sowie Seinsgeschichte auf die leitende Problematik dieser Studie hin auszulegen. Demnach gliedert sich der Aufbau der nachstehenden Überlegungen in vier Hauptteile.

Im ersten Kapitel erfolgt eine Darlegung der Heideggerschen Rezeption der abendländischen Philosophietradition. Dabei soll versucht werden, das "Heute", oder wie Heidegger eigens formuliert: Das Seiende im ganzen "wie es jetzt ist" 12, als Kriterium echten Philosophierens transparent zu machen. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, erweist sich die Untersuchung von Heideggers Nachdenken über die Geschichtlichkeit des Denkens als unentbehrlich. Sodann soll im zweiten Kapitel das Spannungsverhältnis zwischen Kontinuität und Diskontinuität bei Towa untersucht werden. Hierbei soll es vor allem darum gehen, herauszufinden, ob und inwiefern in einem in erster Linie durch die Aufgabe einer ganzheitlichen Befreiung von Schwarzafrika bestimmten philosophischen Ansatz ein Zugang zu der eigenen Tradition gesucht und artikuliert wird. Ähnlich geht es auch im dritten Kapitel darum, Elungus Eingehen auf das geistige Erbe der afrikanischen Tradition zu durchleuchten. Dabei wird auch darauf zu achten sein, wie Elungu, dessen erklärtes Ziel das Bündeln aller verfügbaren Kräfte auf das Programm einer harmonischen und umfassenden Entwicklung Afrikas ist, einen adäquaten Zugang zur und Umgang mit der geistigen Substanz der afrikanischen Überlieferung findet.

zugänglich gemacht worden sind. Zu den neueren Veröffentlichungen, vgl.. z.B. R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München-Wien 1994. 12 ID, 48.

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Einleitung

Im vierten und letzten Kapitel soll überlegt werden, ob von Heidegger im Hinblick auf die Frage nach einem angemessenen Umgang mit der eigenen Tradition etwas zu lernen ist. Freilich steht Heidegger in einer bestimmten (europäischen) Tradition. Sein Denkweg scheint mir aber deshalb auch für Afrikaner interessant zu sein, weil er angesichts der Diskontinuität mit der eigenen Tradition zu den anfangliehen Schätzen dieser Tradition zurückgeht und bis zu den Sprüchen der Vorsokratiker vordringt. Diese gehören der vorplatonischen Denktradition an, die sehr verwandt ist mit Afrikas Weisheitsformen. Es ist m.E. nicht zufällig, daß sich Heidegger zwar nicht für die Lebensweisheit, aber - immerhin - für diese Tradition interessiert. Von hier aus soll dann die mögliche Analogie, zwischen Heidegger einerseits und Towa und Elungu andererseits im Hinblick auf ihre Wege zur je eigenen Tradition näher erläutert werden. Im Anschluß daran soll versucht werden - gemäß der leitenden Problematik dieser Studie - einen Vorschlag für eine der heutigen afrikanischen existentiellen Befindlichkeit angemessene Hermeneutik der Tradition darzulegen.

A. Zwischen Tradition und neuem Anfang: Heideggers Verhältnis zur philosophischen Tradition des Abendlandes Der Ausspruch des Parmenides: "Das Sein ist und das Nichts ist nicht" 1, durchzieht die ganze Geschichte der philosophischen Forschung des Abendlandes. Denn wenn Aristoteles die Frage nach der Bewegung stellt, Augustinus um einen Zeitbegriff ringt, so geschieht dies doch auf der Grundlage der sich in Parmenides' Satz aussprechenden Evidenz. Heideggers philosophisches Schaffen steht in Beziehung zu dieser durch Parmenides inaugurierten Hauptthese. So umschreibt er selbst das Anliegen seines Denkens als Seinsfrage, als Frage nach dem Sinn des Seins. 2 Hiermit ist jene Grundlage angedeutet, auf der sich Heideggers Versuch bewegt, im Gang durch die geistesgeschichtliche Tradition des Abendlandes, um sich ihre Frage schöpferisch anzueignen. Bei diesem Versuch der denkerischen Aneignung setzt sich bei Heidegger die Erkenntnis durch, daß die Voraussetzungen der Leitfrage des Abendlandes höchst fragwürdig sind und daß die Metaphysik einer versiegten Quelle gleichkommt.3 Diese Erkenntnis entspringt bei Heidegger vor allem dem Bemühen um die Rezeption zweier Stränge der abendländischen Philosophie. Tatsächlich sucht Heidegger zum einen, angeregt durch die Lektüre F. Brentanos (des Lehrers E. Husserls!) "Von der mannigfaltigen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles" (1862) zur tragenden Säule der Grundbedeutungen des Seienden bei Aristoteles vorzudringen.4 . Auf der anderen Seite aber zeigt sich Heidegger um das I Parmenides. Lehrgedicht, zitiert nach H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Bd. 1, Berlin 1956, 232. 2 Vgl. SuZ, 2-4. 3 Vgl. G. Haeffner, Heidegger als fragender Denker und Denker des Fragens, in: Tijdschrift voor filosofie en theologie 51(1990) 157-171; 159: "Der Versuch, sich die Tradition der Metaphysik radikal anzueignen, führt zur Erkenntnis, daß sie erschöpft ist." 4 Ein beredtes Zeugnis über Heideggers intensive Auseinandersetzung mit dem Denken Aristoteles'legen v.a. die nun erschienenen Bände 61 und 63 der Gesamtausgabe ab: "Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles", Frankfurt a.M., 1985 und "Ontologie. Hermeneutik der Faktizität", Frankfurt a.M., 1988. Vgl. hierzu auch 0. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1963, 17; H.- G. Gadamer, Die Griechen, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd., 3, Tübingen 1987, 285-296.

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A. Zwischen Tradition und neuem Anfang

Entdecken und Freilegen dessen bemüht, was im Kantischen Denken mitschwingt und noch verborgen ist und entdeckt werden muß. 5 Im Bemühen um die Grundlegung der Metaphysik geht es näherhin darum, herauszufinden, "in welcher Absicht und Weise, in welcher Begrenzung und unter welchen Voraussetzungen sie die konkrete Frage stellt: was ist der Mensch?" 6 , um so dem "Ungesagten" im "Gesagten" in der "Kritik der reinen Vernunft" nachzuspüren. Eben diese Intention, bei Kant einen Kronzeugen für die eigene Leitund Grundfrage zu suchen7, zwingt Heidegger zu einem Unternehmen besonderer Eigenart: Er konzipiert sein "Kantbuch" und damit seine Kantauslegung "als ein denkendes Zwiegespräch zwischen Denkenden.'' 8 Aber gerade in dem Maße, in dem Heidegger alles daran setzt, im Angesicht der Tradition deren Grundtexte auf ihre Grundentscheidungen und Weichenstellungen hin transparent werden zu lassen, wird ihm deren tragende Evidenz, nämlich das zeitlose Sein und die philosophia perennis (im Sinne absoluter Wahrheitserkenntnis) zunehmend fragwürdig. Hierin gründet Heideggers Ablehnung des herkömmlichen Philosophierens, sofern es sich darin erschöpft, das "Überlieferte" weiterzutradieren. Seine Grundüberzeugung ist tatsächlich, daß solch eine Art des Denkensausgedient hat, da sie dem "Heute"-Charakter und somit dem eigentlichen Impuls echten Denkens nicht gerecht wird.9 Demnach erweist sich Heideggers Ablehnung einer Auseinandersetzung mit der die Tradition weiterführenden Philosophie als konsequent. Dahinter steht folgende Überzeugung: Jedes Geschlecht hat sich stets gründlicher auf das "Seiende im Ganzen, wie es jetzt ist" 10, einzulassen. Erst von diesem Grundsatz her ergibt sich die Möglichkeit einer "Zwiesprache" mit den Denkern des Anfangs: Parmenides, Heraklit und Anaximander. Heideggers Ansicht ist zwar, daß man nicht ohne weiteres in der Tradition dieser Philosophen denken kann, da die Grundlagen ihres Philosophierens sich ihm als zutiefst fragwürdig gezeigt haben. Dennoch ist seine Intuition, daß gerade durch das Vorstoßen auf das bei ihnen Ungedachte dem eigenen Denken zu neuen Möglichkeiten verholfen werden kann. Damit ist jener Boden gekennzeichnet, aus dem Heideggers Philosophieren wächst: Die 5 Denn "nie ist das Gesprochene und in keiner Sprache das Gesagte", AED, 21.

KM, 1. 0. Pöggeler hält dies mit folgenden Worten fest: "Was die philosophischen Bestrebungen zu Anfang unseres Jahrhunderts betrifft, so glaubt der junge Heidegger, in der transzendental-logischen Kantinterpretation der Marburger und der süddeutschen Schule die entscheidende Hilfe für die eigene Arbeit finden zu können. " 0. Pöggeler, Der Denkweg M. Heideggers, 23. 8 KM, Vorwort zur 2. Auflage. 9 "Entscheidend ist demnach, das Heute dergestalt in den Ansatz der Analyse zu nehmen, daß hierbei so etwas wie Seinscharakter sichtbar wird. Denn ein solcher muß durchsichtig gemacht werden und als dieser in den Phänomenkreis der Faktizität gestellt werden, ob in dem ansatzweise ergriffenen Seinscharakter das 'Heute' getroffen ist". GA, Bd. 63, 30-31. 6

7

10 ID, 48.

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Erfahrung der Geschichtlichkeit jeden Philosophierens und die dAr)O~ta als "Wahrheit des Seins" sind jene Säulen, auf denen sich das Ringen Heideggers um ein eigenständiges, dem "Heute" verpflichtetes Denken trotz der Macht der Tradition vollzieht. Von dieser Grundsituation gehen die nachstehenden Erörterungen aus. In ihnen soll versucht werden, die beiden Pole von Heideggers Denken in seinem Verhältnis zur philosophischen Tradition des Abendlandes zu untersuchen. Es soll gefragt werden, inwiefern Heideggers Umgang mit der Überlieferung der abendländischen Philosophie eine neue Deutung dieser Philosophie bedeutet und ob dieser Umgang auch Perspektiven eröffnen kann für die Problematik einer angemessenen Rezeption der Tradition im heutigen Afrika. Folgende Hauptgedankenkreise bilden hierbei den Leitfaden der anstehenden Überlegungen: "Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit"; "die Geschichtlichkeit des Denkens"; "Heidegger und die Vergangenheit der abendländischen Philosophie". I. Philosophie im Zeichen des Heute. Zu Heideggers philosophiegeschichtlicher Diagnose Es fehlt im zeitgenössischen Denkhorizont nicht an kulturphilosophischen Zeitdiagnosen. Tatsächlich gibt es zahlreiche Ansätze, die von dem Bemühen geleitet werden, die eigene Gegenwart zu begreifen, um eine zukunftsträchtige Orientierung zu gewinnen. Zu den Publikationen dieser Art gehören m.E., nicht nur aus deutscher Sicht, u.a. Jaspers' Schrift "Die geistige Situation der Zeit" 11 und Spenglers Abhandlung "Der Untergang des Abendlandes" . 12 Heideggers Versuch, ausgehend von einer Hermeneutik der Gegenwart deren Situation transparent zu machen, zeichnet sich demgegenüber durch die Konzentration auf die eine und philosophische Frage nach dem, was gegenwärtig "nottut", aus. 13 Damit hängt folgende Charakterisierung des philosophischen Aktes zusammen: "Philosophie ist die im faktischen Leben selbst seiende Weise

K. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1931 . Spengler, Der Untergang des Abendlandes, 2 Bde., München 1918-1922. Zu den neueren Ansätzen auf diesem Gebiet vgl. u.a. H.-L. Ollig, Philosophische Zeitdiagnose im Zeichen des Postmodemismus. Überlegungen zur jüngsten deutschen Postmoderne-Diskussion, in: Theologie und Philosophie 66 (1991) 338-364; ders., Problematische Gegenwart. Überlegungen zu neueren zeitdiagnostischen Arbeiten, in: Theologie und Philosophie 68 (1993) 561-582. I 3 Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß Heidegger keine kulturphilosophische Aufgabe vorschwebt. Dies unterstreicht er in einem Brief an K. Löwith von 1921: "Ich frisiere meine philosophische Arbeit nicht auf Kulturaufgaben für ein allgemeines Heute." M. Heidegger, zitiert nach K. Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, Stuttgart 1986, 30. II

12 0.

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des Erkennens [... ]sie ist, was sie sein kann, nur als Philosophie ihrer Zeit." 14 Dieser Satz zeigt zwei Grundelernente von Heideggers Philosophieans~tz an, nämlich die Erfahrung der Geschichtlichkeit des Philosophierens und die Erfahrung des faktischen, eigenen Lebens. Daß es sich hier um zwei zentrale Säulen des Heideggerschen Denkgebäudes handelt - die besonders in dem Maße wirksam wurden, in dem er die überlieferte Gestalt der Philosophie des Abendlandes von ihrer Wurzel aufzugreifen, zu problematisieren und zu erneuern versucht-, wird im Verlauf dieser Studie eigens aufgewiesen werden. Als Vorbesinnung hierzu soll zunächst der Imperativ eines dem "Jetzt" verpflichteten Denkens als existentieller Angelpunkt von Heideggers philosophischem Ansatz und seinem Umgang mit der Vergangenheit der Philosophie dargelegt werden. Wie ist das zu denken? Mit seiner Forderung nach der Bindung des Philosophierens an das jeweilige Heute stellt Heidegger jenes Kriterium dar, an dem seiner Grundüberzeugung nach die existentielle Bedeutung, die Lebensnähe, die Echtheit und nicht zuletzt die Relevanz eines Denkansatzes aufgewiesen werden können. Das Postulat eines dem Heute entspringenden Denkens als archimedischer Punkt echter Philosophie hat zwei Hauptrnornente. Erstens: Der Zugang zum "Jetzt "Zu-denkenden führt über die Frage nach der geistigen Bestimmtheit des gegenwärtigen Zeitalters. Aufs engste damit verbunden ist zweitens das Problern eines "der jetzigen Zeit" angemessenen philosophischen Neuanfangs. Die "geistige Situation", in der er um einen eigenständigen und authentischen Denkansatz ringt, ist nach Heidegger v.a. durch die Philosophie im Sinne von "Ontologie" 15 und die Wissenschaften geprägt. 16 Heidegger geht von einem heutigen Bewußtsein aus, das durch das Fragen nach dem Sein, das heißt, nach dem Sinne von "ist", bestimmt wird, wodurch das Augenmerk auf das gelenkt wird, was in der Philosophie "Ontologie" oder auch Metaphysik genannt wird. Zugleich gibt es, in engsten Zusammenhang damit, eine Wiederbelebung der Metaphysik selbst17 , die Heidegger als "Neugier" 18 kennzeichnet. Obwohl Heidegger den metaphysischen Versuchen seiner Zeit lebendige Motive und echte philosophische Arbeit attestiert, so möchte er sie dennoch bekämpfen. Denn diese restaurativen Ansätze sind in gewisser Hinsicht '"Standpunktsphilosophien', insofern und solange sie diese historischen Standpunkte selbst nicht radikal auflockern und zum Problern machen, statt dessen dabei als einem Letzten stehen bleiben, sie zum Leitfaden nehmen und an ihm fortgehend die

14GA 63, 18.

15 GA 63, 106. 16 Vgl. hierzu M.

GA 1, 1-15. 17 18

Heidegger, Das Realitätsproblem in der modernen Philosophie, in:

Vgl. hierzu GA 63, 5. Vgl. GA 63, 106.

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Philosophie weiterzubringen suchen." 19 Damit zusammen hängt auch eine Übernahme und Weitertradierung von Begriffen, Fragestellungen und Lösungsvorschlägen, ohne sie zuvor hinreichend auf ihre Voraussetzungen und Begründungszusammenhänge hin durchleuchtet zu haben. So erklärt es sich, "daß halbklare Erkenntnisse durchscheinen und den Standpunkt selbst für halbklare und unradikale Evidenzansprüche gesichert erscheinen lassen." 20 Diese Vorgehensweise aber ist unhaltbar, denn sie verbaut grundsätzlich den Zugang zu dem, was am Anfang ist. Ebenso wenig vermag sie, aufmerksam zu werden auf das, was heute "Sache" ist. 21 In diesen herkömmlich von der Metaphysik wahrgenommenen Aufgabenbereich dringt nun die Wissenschaft in zuvor kaum gekannten Ausmaßen ein. Denn auch sie beansprucht angesichts ihrer Erfolge, die sie zur eigentlichen Kulturmacht im gegenwärtigen Zeitalter erhoben, auf ihrem Gebiet Antwort zu finden auf die Frage nach dem, was "ist". Damit entsteht eine völlig neue Situation, die für die Philosophie eine echte Herausforderung darstellt. Für Heidegger erhebt sich hierbei die Frage, was Wissenschaft nun eigentlich ist. Sie ist ihm zufolge kein System von Sätzen oder Begründungszusammenhängen, sondern "etwas, worin sich faktisches Dasein mit sich selbst auseinandersetzt. "22 Hierdurch wird deutlich, daß die Philosophie sich nicht als etwas anderes gegenüber der Wissenschaft stellen kann. 23 Denn sie ist selbst eine Gestalt dieser Wissenschaft. Und: Auch wenn sie schlechterdings damit nicht identifiziert werden kann, so ist die Philosophie doch von ihrer geschichtlichen Herkunft her mit der Wissenschaft eng verknüpft. Mehr noch: Sie ist selbst Wissenschaft und ist daher dem Ideal der Wissenschaft verpflichtet, so daß die Frage: "Was ist Wissenschaft?" schließlich in die Frage: "Was ist Philosophie?" mündet. So entsteht von innen her die Frage nach Sinn und Möglichkeit eines Philosophierens, das weder sich selbst aufgeben noch zum bloßen Verwalter der Tradition werden will. Worauf es Heidegger nun ankommt, ist, begreiflich zu machen, daß eine Kontinuität mit der bisherigen Philosophieaufgrund der Verschiedenheit der Lebenssituation nicht mehr gegeben ist. Ein Weiterdenken auf dem Boden des 19 GA

58, 8.

20Ebd. 21 Ähnlich kritisch urteilt Heidegger auch über den Neukantianismus. Dieser entspringt nach seiner Einschätzung einer "zurück-zu-Kant-Bewegung", mit der Absicht, zur Wiederbelebung der Philosophie im zeitgenössischen Verslehenshorizont beitragen zu können. Bei allen echten philosophischen Motiven, die hierbei am Werke sind, ist der Neukantianismus zum einen "Standpunktphilosophie", in dem Sinne, daß hier nicht hinreichend auf die Grundtendenzen und Weichenstellungen des übernommenen Denkens reflektiert wird. Zum anderen aber setzt der Neukantianismus nicht beim Heute an. Es handelt sich um eine "Elfenbeinturmphilosophie", die sich nicht am jeweiligen "Jetzt" entzündet, sondern, scharf formuliert, eine bestimmte Tradition verwaltet. Vgl. GA 58, 6-11. 22 GA63, 72. 23 Zur Situation der Philosophie und der Wissenschaften, vgl. GA 20,§4.

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Herkömmlichen ist deshalb nicht sinnvoll, weil es im Grunde entweder die Neugier zufriedenzustellen oder theoretische Entwürfe hervorzubringen vermag, für eine echte Lebenserhellung jedoch keine bedeutsame Konsequenz hat. Die sich hier anmeldende Frage nach Sinnorientierung kann nach Heidegger aber am ehesten gestellt und beantwortet werden, indem man versucht auf den Ort zu achten, von dem her Philosophie oder Wissenschaft getrieben werden. Damit ist man beim Heideggerschen Ansatz eines Hinhörens auf das Leben selbst angelangt. So gesehen ist Philosophie oder Wissenschaft nichts anderes als eine Weise, das Leben zu führen. Hier geht Heidegger auf eine Auffassung von Philosophie zurück, die - bevor sie eine Art des Wissens bedeutete - so etwas wie Lebensführung bezeichnete. Dies meint seine Bestimmung der Philosophie als "eine sinnvolle und sinnverwirklichende lebendige Tat". 24 Wie kann das Leben - als menschliches, sinnerfülltes Leben - aber in seiner Lebendigkeit erfaßt werden, d.h. von innen her erhellt werden? Damit ist jene Aufgabe gekennzeichnet, der sich Heidegger im Projekt eines Rückgangs hinter den Unterschied von Theorie und Praxis stellt, d.h. auf jene Ebene, auf der Bedeutungen ursprünglich, d.h. vor allem wissenschaftlichen Objektivieren, entspringen. Das Programm der Selbstauslegung des Lebens, wie es sich von selbst her zeigt, wird zum Leitfaden einer Interpretation der Philosophie des Aristoteles25 unter Anwendung der von Husserl inaugurierten phänomenologischen Methode 26 Was genau ist darunter zu verstehen? Heideggers Grundeinsicht ist: "Die Problematik der Philosophie betrifft das Sein des faktischen Lebens. Philosophie ist in dieser Hinsicht prinzipielle Ontologie, so zwar, daß die bestimmten einzelnen welthaften regionalen Ontologien von der Ontologie der Faktizität her Problemgrund und Problemsinn empfangen. Die Problematik der Philosophie betrifft das Sein des faktischen Lebens im jeweiligen Wie des Angesprochen- und Ausgelegtseins. "27 Im Lichte dieser Bestimmung der "Sache des Philosophierens" erweist sich GA I, 406. Das Projekt einer Interpretation der Philosophie des Anstoteies findet seinen ersten Niederschlag in der Programmskizze: "Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Anzeige der hermeneutischen Situation"- im folgenden mit PA wiedergegeben-, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geisteswissenschaften 6 (1989) 237-269. Diese kleine Schrift aus dem Jahre 1922 verfaßte Heidegger im Hinblick auf eine mögliche Berufung nach Marburg. Vgl. hierzu H.-G. Gadamer, Heideggers 'theologische' Jugendschrift, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geisteswissenschaften 6 (1989) 228-234; 228. 26 Tatsächlich stellt die Phänomenologie, deren Grundbuch E. Husserls "Logische Untersuchungen" sind - darin v.a. die 6. Untersuchung - (Tübingen 1913), nach Heidegger jenen echten Neuansatz in der Philosophie seit Anstoteies dar. Vgl. hierzu GA 19, 223f.; GA 20, 30; GA 17, 49ff.; PA, 247. 27 PA, 246-247. 24 25

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die Lebensauslegung in den Denkansätzen als eine unechte und gebrochene Lebensartikulation. Denn "die Philosophie der heutigen Situation bewegt sich zum großen Teil uneigentlich in der griechischen Begrifflichkeit, und zwar in einer solchen, die durch eine Kette von verschiedenartigen Interpretationen hindurchgegangen ist." 28 Da die entsprechenden Grundbegriffe hierbei "ihre ursprünglichen, auf bestimmt erfahrene Gegenstandsregionen bestimmt zugeschnittenen Ausdrucksfunktionen eingebüßt [haben]"29, können diese durch die Überlieferung ihrem ursprünglichen Boden fremd gewordenen Grundbegriffe nicht mehr als unmittelbare Artikulationsmöglichkeiten des Lebens von innen her angesehen werden. Demzufolge ist das heutige philosophische Fragen aufgrund seiner "uneigentlichen Begrifflichkeit" nicht imstande, die Lebendigkeit des Lebens zu erhellen. Sollte das Projekt einer authentischen Lebensauslegung nun Aussicht darauf haben, der ihr gestellten Aufgabe gerecht zu werden, so muß es zuvor die ganze nachgriechische Philosophie von ihrer Wurzel her in Frage stellen. Mit der Erfahrung, daß die jetztigen Begriffe der Philosophie von ihrem Ursprung gleichsam abgeschnitten sind, hängt für Heidegger auch die Einsicht zusammen, daß in ihnen etwas vom Ursprünglichen her noch west, an dem die Suche nach ihrem anfangliehen Boden sich orientieren kann. Denn "bei aller ,Analogisierung und Formalisierung aber, die sie durchgemacht haben, hält sich ein bestimmter Herkunftscharakter durch, sie tragen noch ein Stück echter Tradition ihres ursprünglichen Sinnes bei sich, sofern an ihnen noch die Bedeutungsrichtung auf ihre gegenständliche Quelle nachweisbar wird. "30 Somit ist der erste Beweggrund von Heideggers Rückgang auf Aristoteles darin begründet, daß Aristoteles "die Vollendung und konkrete Ausformung der vorangegangenen Philosophie [ist]; zugleich aber gewinnt Aristoteles in seiner 'Physik' einen prinzipiellen neuen Ansatz, aus dem seine Ontologie und Logik erwachsen, von denen dann die [... ] Geschichte der philosophischen Anthropologie durchsetzt ist."31 Das zweite Element, das die Anstoteies-Interpretation motiviert - und das ist hier zentral -, ist die Überzeugung, daß Aristoteles nicht nur dem Leben nahe ist, sondern auch jener Denker ist, der die Begriffe ausgebildet hat, die zur Erfassung der Lebensstruktur besonders geeignet sind. Aristoteles ist also jener Philosoph, in dessen Texten das Leben unmittelbar und authentisch erfaßt wird. Nach Heidegger zeigt sich das Leben selbst in den Aristotelischen Auslegungen so sehr von innen her, daß Aristoteles als Phänomenologe angesehen werden muß. Dies meint er, wenn er die Philosophie des Aristoteles "eine radikale phänomenologische Anthropologie"32 nennt. Mit dem Vorhaben, ausgehend von der Aristotelischen Anthropologie auf das unmittelbar faktische Leben zu hören, verbindet Heidegger auch das Anliegen, 28 PA, 249. 29Ebd. 30Ebd. 31 PA, 251. 32 Ebd. Vgl. dazu auch GA 17, 6ff.

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einen Zugang zum Anfang des abendländischen Denkens zu finden. Daraus entsteht jedoch keine "Hörigkeit" gegenüber der Tradition. Heideggers Absicht ist vielmehr, aus der Artikulation der Lebensstruktur, wie sie bei Aristoteles seiner Überzeugung nach v.a. in der Rhetorik und Ethik indirekt, aber gerade so deutlich zum Ausdruck kommt33, einen Schritt in Richtung auf ein eigenes, eigenständiges Denken zu tun, in dem das Leben der eigenen Gegenwart wieder unmittelbar und authentisch "spricht". Folgende Äußerung ist in diesem Kontext bedeutsam: "Radikal verstehen, was jeweils eine bestimmte philosophische Forschung in ihrer Situation und für diese in ihre Grundbekümmerung stellte; verstehen, das heißt nicht lediglich zur konstatierenden Kenntnis nehmen, sondern das Verstandene im Sinne der eigensten Situation und für diese ursprünglich wiederholen. Das geschieht aber am allerwenigsten in der Übernahme von Theoremen, Sätzen, Grundbegriffen und Prinzipien und in der irgendwie geleiteten Erneuerung derselben. Verstehende Vorbildnahme, der es um sich selbst geht, wird von Grund aus die Vorbilder in die schärfste Kritik stellen und zu einer möglichen fruchtbaren Gegnerschaft ausbilden. Das faktische Dasein ist, was es ist, immer nur als das eigene, nicht das Überhauptdasein irgendwelcher allgemeiner Menschheit, für die zu sorgen lediglich ein erträumter Auftrag ist. uJ4 Was lehrt dieses Programm? Es dient v.a. der ausführlichen Begründung, warum Heidegger die Bestimmungen der Grundstruktur des Lebens nicht einfach aus der Aristotelischen Fassung des Lebens übernehmen kann. Denn wenn die Philosophie das Sein des jeweils faktischen Lebens "zum thematischen Gegenstand" 35 hat, so sind zur angemessenen Artikulation dieses Lebens in seiner Grundstruktur eigene Grundbegriffe notwendig, damit man der Besonderheit des jeweiligen Lebens gerecht werden kann. Damit wird hervorgehoben, daß man sich die Artikulation der Grundstruktur des Lebens bei Aristoteles nur in einem Prozeß kritischen Fragens aneignen kann. Demnach gilt Heideggers Bemühen, bei aller Vorbildfunktion der Aristotelischen Beschreibungen und Bestimmungen des gelebten Lebens, dem Ziel, in fruchtbare Gegnerschaft zu Aristoteles zu treten, um so zu einer eigenen, dem Heute entspringenden Auslegung des faktischen Lebens vorzustoßen. Die eigene Konzeption der Grundstruktur des faktischen Lebens, der Heidegger nun die ganze Kraft seines Schaffens widmet, kommt zunächst in seinem Ansatz einer "phänomenologischen Hermeneutik der Faktizität" 36 zum Ausdruck. Es handelt sich hier um einen Grundgedanken, der im oben erwähnten Aufsatz "Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles" vorgetragen wird, und der eine Präzisierung in einer Vorlesung aus dem Sommersemester 1923 erfährt, die Heidegger unter dem Titel "Ontologie (Hermeneutik der 33 Vgl. hierzu 34 PA, 239. 35 GA 63, 25. 36 PA, 247.

z.B. PA, 255ff.

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Faktizität)" 37 gehalten hat. Dort heißt es: "Faktizität ist die Bezeichnung für den Seinscharakter 'unseres' 'eigenen' Daseins. Genauer bedeutet der Ausdruck: jeweilig dieses Dasein (Phänomen der 'Jeweiligkeit' vgl. Verweilen, Nichtweglaufen, Da-bei, Da-sein), sofern es seinsmäßig in seinem Seinscharakter 'da' ist. Seinsmäßig dasein besagt: nicht und nie primär als Gegenstand der Anschauung und anschaulicher Bestimmung, der bloßen Kenntnisnahme und Kenntnishabe von ihm, sondern Dasein ist ihm selbst da im Wie seines eigensten Seins."38 Mit dem Begriff der Jeweiligkeit als Präzisierung der Faktizität lenkt Heidegger das Augenmerk auf den Gedanken des Heute im Sinne der eigenen Zeit des faktischen Lebens. Näherhin soll dadurch zum Ausdruck gebracht werden, daß es zur Konstitution des Menschen gehört, zu einer jeweiligen Zeit zu sein. So gesehen bedeutet "Faktizität" die Besonderheit der zeitlichen Situiertheit je eigenen Lebens, die nicht nur kein Gegenstand des feststellenden Denkens ist, sondern das Sein des Daseins zuinnerst ausmacht, sodaß ein (objektivierendes) Verfügen darüber nicht möglich ist. Auch wenn Heidegger in diesem Zusammenhang faktisches Leben mit Dasein gleichsetzt, so zeigt sich doch, daß im letzteren Terminus nicht nur die Grundbewegtheit des Lebens ihren Niederschlag findet, sondern auch, daß hierdurch gleichursprünglich auf so etwas wie "Verweilen", "Nichtweglaufen", "Da" oder "Bei-sein" verwiesen wird. Dasein impliziert demnach neben einem "Nicht-bei-sich-sein" ein "Beisich-sein". Letzteres ist z.B. dann gegeben, wenn das Dasein versucht, der Besonderheit der eigenen Situation nicht auszuweichen, sondern sich dem jetzt Zu-denkenden stellt. Demgegenüber läuft das Dasein vor sich selbst weg, wenn es nicht beim Heute zu verweilen sucht. Ein solches Weglaufen ist z.B. das bloße "Weiterleben" und "Weitermachen" auf dem Boden der oft ungeklärten herkömmlichen Begrifflichkeil und Denkweise. Wichtig in diesem Kontext ist aber, daß es sich beim Vor-sich-selbst-weglaufen oder beim Nicht-bei-sichselbst-sein um die Grundbewegtheit des Lebens selbst handelt: "In allem Sichausdemweggehen ist das Leben faktisch für es selbst da; im 'Wegvonihm' stellt es sich gerade und jagt hinter dem Aufgehen in welthafter Besorgnis her. Das 'Aufgehen in' hat wie jede Bewegtheit der faktischen Zeitlichkeit in ihm selbst eine mehr oder minder ausdrückliche und uneigenstandene Rücksicht auf das, wovor es flieht. "39 Hier meint Heidegger: So wie es im Falle eines "Befangenseins" in der Macht der Tradition durchaus möglich ist, zu einem echten Denken herausgefordert zu werden unter der Voraussetzung, daß man sich der Situation gewahr wird, das Überlieferte radikal problematisiert, damit aus dieser Auseinandersetzung Neues hervorgehen kann, so birgt auch das "Vor-sich-selbst-fliehen" die Möglichkeit authentischen Selbstverhältnisses in sich, sofern man versucht, den verschiedenen Ablenkungen entgegenzusteuern, um so zur Besonderheit der 37 GA 63. 38GA 63, 7. 39 PA, 244.

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eigenen Situation zu finden. Denn "das in der Faktizität selbst zugängliche Sein des Lebens an ihm selbst ist solcher Art, daß es nur auf dem Umwege über die Gegenbewegung gegen das verfallende Sorgen sichtbar und erreichbar wird. Diese Gegenbewegung als Bekümmerung um das Nichtinverlustgeraten des Lebens ist die Weise, in der sich das mögliche ergriffene eigentliche Sein des Lebens zeitigt."40 Demnach kann herausgehoben werden, daß sich die Faktizität in zwei Grundbewegtheiten, nämlich: Im Bei-sich-sein und im Vor-sich-davonlaufen, artikuliert. Eben dieses in der Jeweiligkeil für es selbst zugängliche Sein des Daseins gilt es in der Hermeneutik von innen her zu erhellen und in den eigenen Möglichkeiten hervortreten zu lassen. Denn Hermeneutik bedeutet nach Heidegger "eine bestimmte Einheit des Vollzugs des lpJ17JII~vnv (des Mitteilens), d.h. des zu Begegnung, Sicht, Griff und Begriff bringenden Auslegens der Faktizität." 41 So gesehen geht es in der Hermeneutik um das sich in seiner eigenen, bestirrunten Besonderheit auslegende Dasein.42 Dieser hermeneutische Ansatz kommt in "Sein und Zeit" deutlich zur Geltung, in dem Heidegger sein Progranun einer "existenzialen Analytik des Daseins" unter Anwendung der "phänomenologischen Methode" durchführt. 43 Grundlegend hierin bleibt die Einsicht, daß sich das Leben selbst im Vollzug des Philosophierens artikuliert. Im Gegensatz zu den früheren Abhandlungen, wo prinzipiell vom Leben die Rede ist, stellt Heidegger in seinem Projekt einer Philosophie der sinnorientierten und gelebten Bedeutung den Begriff Dasein deutlich in den Mittelpunkt. Hierzu schreibt er: "Weil die Wesensbestinunung dieses Seienden nicht durch Angabe eines sachhaltigen Was vollzogen werden kann, sein Wesen vielmehr darin liegt, daß es je sein Sein als seiniges zu sein hat, ist der Titel Dasein als reiner Seinsausdruck zur Bezeichnung dieses Seienden gewählt."44 Mit dem Terminus Dasein wird deutlich gemacht, daß der Mensch kein von allem Faktischen unabhängiges "transzendentales Ich" ist, sondern vielmehr je hier, da ist, d.h. in einer bestimmten Situation ist. Letztlich ersetzt "Dasein" gänzlich das Wort Mensch, womit Heidegger seine Zurückhaltung gegenüber der Anthropologie dokumentiert. Tatsächlich sind nach Heidegger die Vor-

40PA, 245. 41 GA 63, 14. 42 In dieselbe Richtung weist auch Heideggers Rede von der sich selbst verstehenden Auslegung als "wachsein des Daseins ftir sich selbst." GA 63, 15. 43 Vgl. SuZ, §7. 44 SuZ, 12. Auch wenn Heideggers Bevorzugung von "Dasein" gegenüber "Leben" in "Sein und Zeit" seinen deutlichen Niederschlag findet, so scheint mir dies eher der Ausgang eines Prozesses zu sein, dessen einschneidenden Schritte etwa in der Vorlesung: "Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs" erkennbar werden. Vgl. GA 20, 193ff. Wichtig in diesem Zusammenhang ist aber, daß Heidegger sich damit kritisch von den "ftihrenden Lebensphilosophen" (Bergson, Dilthey, Nietzsche) absetzt. Vgl. SuZ, 46-48.

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aussetzungen der Anthropologie noch nicht durchleuchtet worden. 45 Hier werden Grundbestimmungen übernommen, ohne sie zuvor auf ihre Fragesituation hin transparent zu machen. Dies wird nach Heidegger etwa an Begriffen wie Person oder animal rationale deutlich, die oft einfachhin übernommen werden, ohne daß sie auf ihren griechisch-christlichen Ursprung hin durchleuchtet und problematisiert werden. 46 Ähnlich distanziert er sich auch vom Humanismus, dessen weltanschauliche Theorie das Wesen des Menschen nicht zu erfassen vermag, dessen Besonderheit weder gewählt wurde noch abgestreift werden kann. 47 Demgegenüber werden Strukturen entfaltet, die das "sich-Bewegen" des Daseins in einer gedeuteten Welt beschreiben und bestimmen. Die erste Struktur des Daseins ist das In-der-Welt-sein. Damit ist kein Vorkommen oder Vorhandensein in einem Raumnamens Welt gemeint. In-derWelt-sein verweist vielmehr darauf, daß Dasein die eigenen Lebensmöglichkeiten in einem je schon durch eine "Umwelt" vorgegebenen Rahmen von Bedeutungen wahrzunehmen hat. Welt ist demnach ein Netz mannigfacher Bedeutungen. Diese Deutung von Welt als Bezugssinn soll zum einen deutlich machen, daß das Dasein nicht als so/us ipse konzipiert wird, als Subjekt oder als ein bei sich seiendes Ich, das objektivierend, d.h. nach dem Modell SubjektObjekt zu den vorhandenen Dingen der Welt in Beziehung tritt. 48 Demgegenüber verweist das In-der-Welt-sein darauf, daß die Welt stets ein vorausgehendes, bezughaftes Deutungsnetz ist, in dem so etwas wie isolierte "Objekte" vorkommen können. 49 In-der-Welt-sein heißt letztlich: Das Dasein ist sorgend auf nichtdaseinsmäßig Seiendes bezogen, das in einer bestimmten Bedeutung, in der Umwelt begegnet. Dieses Seiende, das sich im Besorgen zeigt, "ist dabei nicht Gegenstand eines theoretischen Welt-Erkennens, es ist das Gebrauchte, Hergestellte und dgl." 5 Folgendes Beispiel mag das hier Gemeinte

°

45 Vgl. dazu, 0. Pöggeler, Heidegger und die hermeneutische Philosophie, FreiburgMünchen, 1983, 418: "Heidegger selbst wandte sich freilich der Frage zu, ob nicht die anthropologische Forschung und selbst der Personalismus Husserls und Schelers durch unbedachte metaphysische Vorurteile bestimmt bleiben." 46 Vgl. GA 63, 2lf; SuZ, 47-48. 47 Vgl. Heideggers Antwort auf Sartres "L'Existentialisme est un humanisme", im Brief "Über den Humanismus". 48 Denn mit der Struktur ln-der-Welt-sein soll zum Ausdruck gebracht werden, "daß nicht zunächst 'ist' und auch nie gegeben ist ein bloßes Subjekt ohne Welt. " SuZ, 116. Vgl. hierzu auch SuZ, 46; 320. 49 Heideggers Beschreibung eines Zimmers mit all dem, was es enthält, ist hierzu aufschlußreich: "Schreibzeug, Feder, Tinte, Papier, Unterlage, Tisch, Lampe, Möbel, Fenster, Türen, Zimmer. Diese 'Dinge' zeigen sich nie zunächst für sich, um dann als Summe von Realem ein Zimmer auszufüllen. Das Nächstbegegnende, obzwar nicht thematisch Erfaßte, ist das Zimmer, und dieses wiederum nicht als das 'Zwischen den vier Wändem' in einem geometrischen räumlichen Sinne- sondern als Wohnzeug. Aus ihm heraus zeigt sich die 'Einrichtung', in dieser das jeweilige 'einzelne' Zeug. Vor diesem ist je schon eine Zeugganzheit entdeckt." SuZ, 68-69 so SuZ, 67. 3 Ozankom

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verdeutlichen: Die goldene Taschenuhr, die Hans seinen Freunden gestern präsentiert hat, ist nicht schlechterdings ein "Ding", sondern eben eine Taschenuhr. Damit verbindet er verschiedenes, z.B. daß sie von seinem Urgroßvater stammt, der königlicher Beamter war. Diese Taschenuhr ist für Hans nicht nur ein Zeitinstrument, sondern sie macht ihn zugleich zum stolzen Besitzer von etwas Goldenem, Wertvollem; sie drückt etwas Luxus aus, sie hat ihren Platz in der Westentasche, die zum Anzug gehört, usw. Als solche gehört die Taschenuhr letztlich in eine bestimmte Welt, nämlich in die Lebenswelt des Hans, aus der sie ihre Bedeutung erfährt. Umgekehrt kommt aufgrund dieses sinnhaften Beziehungszusammenhangs die gelebte, d.h. die gedeutete Welt des Hans mit dieser goldenen Taschenuhr zum Ausdruck. Was meint dies genau? Heideggers erklärte Absicht ist es, aufzuzeigen, daß eine theoretische, vom allgemeinen Begriff her konzipierte Deskription der Dinge der Lebenswelt eine Fehlbeschreibung dessen ist, wie diese tatsächlich begegnen, nämlich in der jeweiligen Lebenswelt Demnach gilt es, vor allen theoretischen Konstruktionen und Objektivierungen, die gelebte Bedeutung als konstitutiv für das Sein der Dinge zur Geltung zu bringen. 51 In engstem Zusammenhang damit steht ein zweites, nämlich die Frage nach der Grundlage, auf der dem alltäglichen Sichbewegen des Daseins in der Lebenswelt eine Orientierung erwächst. Dem sich hier anmeldenden Problem der Klärung der Verständlichkeit in der Alltäglichkeit stellt sich Heidegger in der Analyse der konstitutiven Momente des In-Seins: Befindlichkeit, Verstehen und Rede. 1. Die Befindlichkeit ist jenes konstitutive Element, das Aufschluß darüber gibt, wie es dem Dasein jeweils geht. Sie meint Stimmung in einem ursprünglichen Sinne: "Vor aller Psychologie der Stimmungen, die zudem noch völlig brach liegt, gilt es dieses Phänomen als fundamentales Existenzial zu sehen und in seiner Struktur zu umreißen."52 Damit ist jene Weise gemeint, in der sich die Welt erschließt, und zwar als je eigene. Dabei geht es noch keineswegs um ein bewußtes, objektives Wissen. Dennoch handelt es sich hier um jene Weise, in der das Dasein sich selbst in der jeweiligen Situiertheil erschließt. Dahinter steht die Überzeugung, daß die Art und Weise, wie einer sich etwas oder jemandem zuwendet, stets von Stimmungen - z.B. Zuwendung, Abwendung, Interesse, usw. - geprägt ist. 53 Und wenn nach Heidegger "grundsätzlich die primäre 51 Wird nämlich die Bedeutung der gelebten Welt zuliickgewonnen, wie Heidegger es hier anstrebt, "so kann sich das Erkennen nicht mehr nur als Vorstellen eines ständig Vorhandenen verstehen, sondern muß sich an der Umsicht des praktischen Besorgens messen, sich auskennen in den Bewandtnisbezügen und Verweisungszusammenhängen der Welt. Damit ist der Vorrang, den das pure Sehen seit den Anfangen der griechischen Ontologie bis heute im Erkennen hatte, aufgehoben." Vgl. 0. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, 55. Vgl. hierzu Heideggers Analysen der Zuhandenheit, SuZ, § 15. 52 SuZ, 134. 53 Heidegger greift in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die Analysen der Stimmungen, die Aristoteles in seiner "Rhetorik" vorgelegt hat, zurück. Vgl. SuZ, 138.

I. Zu Heideggers philosophiegeschichtlicher Diagnose

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Bedeutung der Welt der bloßen Stimmung überlassen"54 werden muß, so deshalb, weil sie kein irrationales Phänomen darstellt, sondern die grundlegendere, ursprünglichere Weise der Begegnung des Daseins mit Welt, mit daseinsmäßig Seiendem und mit innerweltlich Seienden ist. 55 2. Das Verstehen ist gleichursprünglich mit Befindlichkeit dialektisch als Gegenentwurf zu ihr konzipiert. Dabei meint Verstehen kein rationales Phänomen. Vielmehr besagt Verstehen hier: Sich auskennen in der Welt, sich aufs Leben verstehen, wissen, worauf es in einer Situation ankommt. Wenn Heidegger nun in diesem Zusammenhang einer theoretisierenden Auffassung von Verstehen eine klare Absage erteilt, so möchte er deutlich machen, daß das Verstehen, um das es hier geht, ganz von der Lebenstätigkeit her gesehen wird, in der das Dasein sein In-der-Welt-sein bewältigt. Verstehen ist daher ein Erschließen von etwas in seinem Wozu. 56 So erfährt z.B. ein vom Ertrinken Bedrohter die Schwimmweste als etwas, das ihm Rettung, Leben und Zukunft ermöglicht. Diese Erfassung von etwas in seiner Dienlichkeit, von etwas als etwas, ist das "hermeneutische als", zu dem das "apophantische als" 57 verdeutlichend hinzutreten kann. Denn zunächst wird etwa die Schwimmweste auf ihre Funktion hin verstanden, bevor dies in einer thematischen Auslegung erfaßt wird. Demnach gründet die Struktur "etwas als" in Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff. Eben durch diesen Vor-Charakter erschließt sich ein Sinn: Die Seienden werden verständlich. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß der Sinn keine existenzial-ontologische Verfassung der Dinge ist; "Sinn 'hat' nur das Dasein, sofern die Erschlossenheil des In-der-Welt-seins durch das in ihr entdeckbare Seiende 'erfüllbar' ist." 58 Denn nur Dasein kann etwa im Falle einer unmittelbaren Bedrohung durch Ertrinken die Schwimmweste als Rettungsanker verstehen. Da dieses Gefahrdetsein nicht äußerlich-faktisch ist, sondern auch entsprechend erlebt, d.h. in einem Gestimmtsein erfahren wird, zeigt sich nach Heidegger, wie sehr Verstehen und Befindlichkeit gleichursprünglich zum konstitutiven Sein des Daseins gehören. Das eine gibt es nicht ohne das andere und umgekehrt: "Die Befindlichkeit ist eine der existenzialen Strukturen, in denen sich das Sein des 'Da' hält. Gleichursprünglich mit ihr konstituiert dieses Sein das Verstehen." 59

54 SuZ, 55 Vgl.

138. hierzu SuZ, l37f.: "In der Befindlichkeit liegt existenzial eine erschließende Angewiesenheil auf die Welt, aus der her Angehendes begegnen kann." 56 Das versuchen schon die Umsicht als besondere Sicht in der "Zeuganalyse" und die Rücksicht in der Erörterung von Mitsein aufzuzeigen. Denn "die mit der Erschlossenheit des Da existenzial seiende Sicht ist das Dasein gleichursprünglich nach den gekennzeichneten Grundweisen seines Seins als Umsicht des Besorgens, Rücksicht der Fürsorge, als Sicht auf das Sein als solches, umwillen dessen das Dasein je ist, wie es ist." SuZ, 146. 57 Vgl. hierzu SuZ, 158. 58 SuZ, 151. 59 SuZ, 142. 3•

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3. Die Rede. Sie ist die Artikulation der Struktur des Verstandenen, zunächst im praktischen Zusammenhang und sodann in theoretischer Weise. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, daß die Rede - in gleicher Ursprünglichkeit mit Befindlichkeit und Verstehen- die Weise ist, in der das Dasein sein Sein als Inder-Welt-sein ausspricht: "Die befindliche Verständlichkeit des In-der-Weltseins spricht sich als Rede aus. Das Bedeutungsganze der Verständlichkeit kommt zu Wort ."60 Demnach wird in der Rede kein Besprechen von Themen oder Verstehen von Wörtern mit Inhalten intendiert. Vielmehr wird durch die Rede die Artikulation der Verständlichkeit vollzogen: "Die Rede ist existenzial Sprache, weil das Seiende, dessen Erschlossenheit sie bedeutungsmäßig artikuliert, die Seinsart des Geworfenen auf die 'Welt' angewiesenen In-der-Weltseins hat. "61 So sehr das hier dargelegte Programm einer Philosophie der gelebten Bedeutung Heideggers denkerischen Ansatz beim "Heute" in kritischer Absetzung von der Philosophie seiner Zeit und als Ausgangspunkt seiner Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der abendländischen Philosophie erkennen läßt, so muß auch eingeräumt werden, daß man damit für den Versuch, Heideggers fragenden Rückgang auf die Wurzeln dieser Philosophie auf deren mögliche Aneignung hin zu untersuchen, erst dann zureichend gerüstet ist, wenn die Analysen des Seins des Daseins im Horizont der Zeitlichkeit ihr letztes Fundament suchen. Hierzu sagt Heidegger: "Als Sinn des Seins desjenigen Seienden, das wir Dasein nennen, wird die Zeitlichkeit aufgewiesen. Dieser Nachweis muß sich bewähren in der wiederholten Interpretation der vorläufig aufgezeigten Daseinsstrukturen als Modi der Zeitlichkeit. Aber mit dieser Auslegung des Daseins als Zeitlichkeit ist nicht schon die Antwort auf die leitende Frage gegeben, die nach dem Sinn von Sein überhaupt steht. Wohl aber ist der Boden für die Gewinnung dieser Antwort bereit gestellt. "62 Dies gilt es nun im Hinblick auf die leitende Problematik der vorliegenden Untersuchung näher darzulegen. II. Heidegger und die Frage nach der Zeit

Da "Sein und Zeit" ganz und gar der "Aufklärung des Sinnes vom Sein" im

60 SuZ,

161. Ebd. Diese Artikulation des Bedeutungsganzen der Verständlichkeit geschieht nach Heidegger näherhin in der Mitteilung, im Aussprechen, im Hören und im Schweigen. 62 SuZ, 17. Ein ähnliches Ziel vorfolgt Heidegger auch im Vortrag "Der Begriff der Zeit" (Tübingen 1989, 12) wenn er folgendes heraushebt: "Sollte das menschliche Sein in einem ausgezeichneten Sinne in der Zeit sein, so daß an ihm, was die Zeit ist, ablesbar werden kann, so muß dieses Dasein charakterisiert werden in den Grundstimmungen seines Seins. Es müßte dann gerade sein, daß Zeitlichsein - recht verstanden - die fundamentale Aussage des Daseins hinsichtlich seines Seins sei." 61

II. Heidegger und die Frage nach der Zeit

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Horizont der Zeit gewidmet ist63, gilt es zunächst, Heideggers Begriff der Zeit näher zu kennzeichnen. Dieser Versuch sieht sich von vomherein vor folgende Schwierigkeiten gestellt: Es gibt erstens keine annähernd geschlossene Zeitabhandlung bei Heidegger, wie dies etwa für das vierte Buch der "Physik" des Aristoteles oder auch für das elfte Buch der "Confessiones" des Augustinus der Fall ist. Zweitens vermeidet Heidegger eine ,Anknüpfung sowohl an die traditionellen Zeitbegriffe wie auch an das sogenannte vorphilosophische Zeitverständnis.64 Nichtsdestoweniger läßt sich zusammenfassend herausheben, daß Heidegger unter Zeit keine Jetzt-Punkte oder Jetzt-Erstreckungen meint. Vielmehr bedeutet Zeit bei Heidegger grundsätzlich das Zusammengehen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das hier gemeinte Ineinanderspiel von Vergangensein, Gegenwärtigsein und Zukünftigsein gilt es im Auge zu behalten, wenn verständlich werden soll, daß die Zeit, genauer die Zeitlichkeit der eigentliche Verstehenshorizont des Daseins ist: "Das, von wo aus Dasein überhaupt so etwas wie Sein unausdrücklich versteht und auslegt" 65 , ist die Zeit. "Diese muß als der Horizont alles Seinsverständnisses und jeder Seinsauslegung ans Licht gebracht werden. Um das einsichtig werden zu lassen, bedarf es einer ursprünglicheren Explikation der Zeit als Horizont des Seinsverständnisses aus der Zeitlichkeit, als Sein des seinsverstehenden Daseins. Im Ganzen dieser Aufgabe liegt zugleich die Forderung, den so gewonnenen Begriff der Zeit gegen das vulgäre Zeitverständnis abzugrenzen, das explizit geworden ist in einer Zeitauslegung, wie sie sich im traditionellen Zeitbegriff niedergeschlagen hat, der sich seit Aristoteles bis über Bergson hinaus durchhält. "66 Insofern dieser Text Heideggers den Versuch darstellt, die Grundbegriffe "Seinsfrage", "Daseinsanalytik" und "Zeitlichkeit" auf die komplexe Struktur ihrer Zusammengehörigkeit hin zu durchleuchten, kommt ihm eine besondere 63 So schreibt Heidegger im Vorspruch zu seinem Hauptwerk (SuZ, 1): "So gilt es denn vordem, allererst wieder ein Verständnis für den Sinn dieser Frage zu wecken. Die konkrete Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von 'Sein' ist die Absicht der folgenden Abhandlung. Die Interpretation der Zeit als des möglichen Horizontes eines jeden Seinsverständnisses überhaupt ist vorläufiges Ziel." 64 Vgl. hierzu F.-W. von Herrmann, Subjekt und Dasein. Interpretationen zu "Sein und Zeit", Frankfurt am Main, 21985, 71f. 65 SuZ, 17. So gesehen lenkt die Frage nach der Zeit das Augenmerk auf das Dasein, "wenn mit Dasein gemeint ist das Seiende in seinem Sein, das wir als menschliches Leben kennen; dieses Seiende in der Jeweiligkeit seines Seins, das Seiende, das wir jeder selbst sind, das jeder von uns in der Grundaussage trifft: Ich bin. Die Aussage 'Ich bin' ist die eigentliche Aussage zum Charakter des Daseins des Menschen. Dieses Seiende ist in der Jeweiligkeil als meiniges." Vgl. M. Heidegger, Der Begriff der Zeit, II. 66 SuZ, 17f. V gl. hierzu auch GA 24, 324ff. Damit ist im Grunde Heideggers Programm, das für das Ganze seines Denkens bestimmend blieb, thematisiert: Die Seinsund Zeitfrage gehören, wie sich aus dem Titel seines Hauptwerkes "Sein und Zeit" sehen läßt, aufs engste zusammen. Wie sehr dies für Heideggers Philosophie von zentraler Bedeutung ist, deuten spätere Ausdrücke an wie "anwesen", "bleibendes Weilen", "wesen", "währen" usw., mit denen er immer wieder versucht, das Thema von "Sein und Zeit" näher zu beschreiben.

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Bedeutung zu. Zugleich werden schon hier die Grundtendenzen der Heideggerschen Beschäftigung mit der Frage nach der Zeit ersichtlich: Die Auseinandersetzung mit Aristoteles, die Destruktion des landläufigen Zeitverständnisses und die Rückführung auf seinen Grund, d.h. auf die eigentliche Zeit. Die nachfolgenden Überlegungen gehen von dieser Grundsituation aus. In ihnen soll im Lichte des bisher Gesagten Heideggers Analyse der Zeitlichkeit des Daseins auf das Ziel der vorliegenden Arbeit hin untersucht werden. 1. Der Primat der Zukunft

Die im ersten Abschnitt von "Sein und Zeit" vorherrschende existenziale Analytik des Daseins empfängt im zweiten Teil dieses Werkes ihre ontologische Begründung dadurch, daß der Seinssinn der Sorge in der Zeitlichkeit ausgearbeitet wird, wodurch "das Sein des Daseins in seiner möglichen Eigentlichkeil und Ganzheit existenzial ans Licht gebracht"67 werden soll. Diese Freilegung der Struktureinheit des menschlichen Da-seins ergibt näherhin, daß sich das Dasein in drei Modi der Zeitlichkeit zeitigt, die Heidegger "Ekstasen" nennt: Die Zukunft oder die "Kunft", die Gewesenheil und die Gegenwart.68 Bei näherem Hinsehen fällt aber auf, daß der gewöhnlichen Auffassung, wonach die Zeit von der Vergangenheit in die Zukunft über die Gegenwart "fließt", eine deutliche Absage erteilt wird. Demgegenüber wird der Zukunft ein Primat eingeräumt: "Das primäre Phänomen der ursprünglichen und eigentlichen Zeitlichkeit ist die Zukunft. " 69 Denn das Zukünftige macht es dem Dasein möglich, in der Entschlossenheit zu seiner Möglichkeit vorzulaufen, d.h. ganz und eigentlich zu sein. Mehr noch: Nur dadurch, daß es zunächst und zumeist von der Zukünftigkeil geprägt ist, ist es dem Dasein auch möglich, auf V ergangenes einzugehen und es in der Gegenwart einzuholen. 70 SuZ, 233. Bezieht man dies etwa auf die vorbereitende Fundamentalanalyse, die im Mittelpunkt des ersten Abschnitts von "Sein und Zeit" steht, so ergibt sich folgende Bestimmung: "Das Sich-vorweg gründet in der Zukunft. Das Schon-sein-in[... ] bekundet sich in der Gewesenheit. Das Sein-bei wird ermöglicht im Gegenwärtigen." SuZ, 327. 69 SuZ, 329. Dies unterstreicht Heidegger auch in "Der Begriff der Zeit": "Das Grundphänomen der Zeit ist die Zukunft." Vgl. M. Heidegger, Der Begriff der Zeit, 19. 70 Den so umrissenen Primat der Zukunft formuliert Heidegger auch mit folgenden Worten: "Zukünftigsein gibt Zeit, bildet die Gegenwart aus und läßt die Vergangenheit im Wie ihres Gelebtseins wiederholen." Vgl. M. Heidegger, Der Begriff der Zeit, 19. Die so umrissene Bestimmung der Zeit verweist - bei allen Unterschieden in Sinn und Absicht - auf den Duktus der Analyse der Zeit ("Zeit als Dreiheit" in der Seele; Zeit als "Zerspannung"), die Augustinus im XI. Buch der "Confessiones" gegeben hat: "Doch wie kann lang oder kurz sein, was nicht 'ist'? Die vergangene Zeit ist ja nicht mehr, die 67 68

II. Heidegger und die Frage nach der Zeit

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Heideggers These vom Primat der Zukunft in der Zeitlichkeit des Daseins besagt ein Zweifaches. Erstens: Das Dasein ist zukünftig zunächst und zumeist im Alltag am herzustellenden Werk orientiert. Zweitens: Das Dasein ist zukünftig im Vorlaufen auf den Tod. a) Das Dasein und das herzustellende Werk In seiner Analyse des alltäglichen Verhaltens des Daseins zu den "Dingen" sucht Heidegger die Aufklärung der Frage, wie das Dasein in seiner "Lebenswelt", d.h. im Umgang mit innerweltlich Seienden und mit anderem Dasein, zwar indirekt aber doch ursprünglich und unmittelbar zu sich selbst findet. Den Leitfaden stellt hierbei das Aristotelische Nachdenken über die innere Bewegtheit des Lebens, "über das Seiende im Wie seines Bewegtseins."71 Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang Aristoteles' Begriff der b4py€ta, des Seins im Vollzug, d.h. am-Werk-sein. 72 Worauf es hier ankommt, ist eben das sich Verstehen auf Herstellen. Letzteres wird von Heidegger als die fundamentale Lebenstätigkeit angesehen. Wie ist das zu erklären? In der Alltäglichkeit ist sich das Dasein in der Zeit vorweg, bei dem, woraufhin es lebt, d.h. beim herzustellenden Werk. Und erst durch einen Prozeß der künftige noch nicht [... ] So viel ist jetzt jedenfalls deutlich: weder Künftiges noch Vergangenes 'ist' und man kann nicht im strengen Sinn sagen: Es gibt drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Korrekt sollte man sagen: Es gibt drei Zeiten: Gegenwart von Vergangenem, Gegenwart von Gegenwärtigem und Gegenwart von Zukünftigem. Denn in der Seele sind die drei Zeiten, anderswo sehe ich sie nicht. Gegenwärtig ist Erinnerung an Vergangenes. Gegenwärtig ist Schau von Gegenwärtigem. Gegenwärtig ist Erwartung von Zukünftigem [... ]Aber wie kann das Zukünftige, das noch gar nicht da ist, vermindert oder aufgebraucht werden? Wie kann das Vergangene wachsen, das doch gar nicht mehr da ist? Weshalb, weil nicht deshalb, weil eben im Geiste, der dies wirkt, drei sind? Denn er erinnert sich, er nimmt wahr, er erwartet, so daß das, was er erwartet, durch das hindurch, was er wahrnimmt übergeht in das, woran er sich erinnert. Gewiß, Zukünftiges ist noch nicht. Aber es ist im Geiste Erwartung auf Zukünftiges. Gewiß, Vergangenes ist nicht mehr. Aber es ist im Geiste Erinnerung an Vergangenes. Gewiß, Gegenwart ist ausdehnungslos, denn sie ist Augenblick, nicht mehr. Aber die Wahrnehmung von Gegenwart dauert. Und in dieser Wahrnehmung geschieht dauernd, daß, was erst sein wird, immer schon war. Lang ist also nicht die künftige Zeit, die erst sein wird, sondern lange künftige Zeit ist nur lang sich dehnende Erwartung von Künftigem[...]" Demgegenüber ist der Vorrang der Zukunft bei Heidegger formaler Natur und bedeutet für ihn nichts anderes als den Primat der Zeit überhaupt, womit Heidegger in erster Linie die "Philosophie der Zeitlosigkeit" kritisieren möchte. Vgl. hierzu G. Haeffner, Heidegger über Zeit und Ewigkeit, in: Theologie und Philosophie 64 (1989) 481-517. 1171 Vgl. PA, 251. 72 Vgl. hierzu Aristoteles, Physik, 3. Buch, Kap. 1, 101a10: "Bewegtheit ist der vollendete Akt eines im Vermögen bestehenden Seienden als solchen."

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Loslösung vom angezielten Werk kommt das Dasein zu sich selbst. So gesehen ist das Verhalten des Daseins im Alltag in erster Linie an einem zu erstellenden Werk orientiert, an etwas, das streng genommen noch nicht ist. Aber gerade in der Planung, bei der Suche nach geeignetem Material und in der Durchführung des noch "nicht-seienden" Werkes entwirft sich das Dasein, das grundsätzlich Seinkönnen ist1 3, auf seine Seinsmöglichkeiten hin. Denn eben im Besorgen, d.h. im alltäglichen Umgang mit den Dingen zeigen sich diese, wie sie sind, oder, wie Heidegger es eigens formuliert, in ihrer "Zuhandenheit". Letztere "ist die ontologische kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es 'an sich' ist."74 Demnach erscheint der Prozeß des Herstellens als dazu geeignet, den Rahmen für die Begegnung des Daseins mit sich selber und mit daseinsmäßigem Seiendem zu liefern. Denn "das hergestellte Werk verweist nicht nur auf das Wozu seiner Verwendbarkeit und das Woraus seines Bestehens, in einfachen handwerklichen Zuständen liegt in ihm zugleich auch der Träger des Werkes mit dabei." 75 Und da nach Heidegger Dasein zugleich Mitsein bedeutet, verweist das herzustellende Werk zugleich auf anderes Mit-Dasein. Und mit dem anderen daseinsmäßigen Seienden "begegnet die Welt, in der die Träger und Verbraucher leben, die zugleich die unsere ist. "76 Das herzustellende Werk ist so gesehen nicht nur "in der häuslichen Welt der Werkstatt etwa zuhanden, sondern in der öffentlichen Welt."77 Und wenn sich Heidegger in diesem Zusammenhang gegen die Ontologie der Vorhandenheil wendet, so deshalb, weil für ihn die Gegenwart des herstellenden

Vgl. hierzu Nikolaus von Kues, De possest, Ed. Gabriel, 282-284: "KARDINAL: Du hast die Wurzel unseres Themas erfaßt. Und schau, wie unsere Überlegung in einem Wort zusammengefaSt werden kann: Unterstellen wir, es gebe ein Wort, das in ganz einfacher Bedeutung zusammenfaßt, was diese beiden Worte meinen: 'können' und 'ist' (posse - est). Damit will ich sagen: daß das Können selbst ist (quod ipsum posse est). Und weil, was ist, wirklich (actu) ist, deshalb ist Sein- können (posse esse), insofern es wirklich (actu) sein-können ist (posse esse in actu). Dies wollen wir 'Können-ist' (posset) nennen. In ihm ist alles 'eingefaltet' und es ist ein Name, der Gott recht nahe kommt, wenigstens nach menschlichem Begreifen"[ .. ] JOHANNES: Wie verstehst du das: daß im Können-ist alles 'eingefaltet' ist? BERNHARD: Können schlechthin ist 'jedes Können'[ ... ] JOHANNES: Ja, ganz richtig; denn gäbe es kein Können-ist, dann gäbe es überhaupt nichts ... denn alles, was geworden ist, ist immer im 'Können-ist gewesen'." 74 SuZ, 71. Gerade wegen der anklingenden Nähe zum Kantschen "Ding an sich" muß in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, daß es Heidegger hier darum geht, gleichsam jenseits von "an sich" und "für uns", den Blick für die Sachen, so wie sie konkret begegnen, zu schärfen, um sie besser wahrnehmen zu lernen. 75 Ebd. 73

76 Ebd. Dies gründet ontologisch darin, daß "das Dasein als dieses In-der-Welt-sein in eins damit Mit-einander-sein, mit Anderen sein [ist]: mit Anderen dieselbe Welt dahaben, einander begegnen, miteinander sein in der Weise des Für-einander-seins." Vgl. M. Heidegger, Der Begriff der Zeit, 12. 77

Ebd.

II. Heidegger und die Frage nach der Zeit

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Daseins in das Werk78 Schritt für Schritt mit eingeht. Diese Gegenwart aber ist nur durch ein Zurückkommen des Daseins auf sich selbst vom herzustellenden Werk her, auf das hin Dasein "lebt", möglich. Am entstehenden Werk entwickelt sich, gleichsam als Korrelat, das Ichbewußtsein des Daseins. M.a.W.: Erst durch die Rückkehr aus der Zukunft wird Gegenwart möglich. Diese Beziehung zwischen Dasein, Mitsein und Zuhandenern wird bei Heidegger in "Sein und Zeit" besonders am berühmten Beispiel der Schuhherstellung dargestellt. 79 Gerade dies könnte dazu verleiten, Heidegger der Verherrlichung der vorindustriellen Handwerkerwelt zu bezichtigen, womit eine Kapitulation vor der eigenen, von der Industrialisierung und Technisierung geprägten Welt einherginge80. Ein solcher Vorwurf wäre nicht einmalleicht von der Hand zu weisen. Denn eine Tendenz zum Schlichten, Bäuerlichen ist bei Heidegger nicht wegzuleugnen. Bei näherem Hinsehen wäre dies jedoch ein Mißverständnis. Tatsächlich möchte die Analyse der Alltäglichkeit, wie Heidegger sie in "Sein und Zeit" vornimmt, aufzeigen, daß die Begegnung zwischen Dasein und Zuhandenern am herzustellenden Werk ein "vortheoretisches", noch vor aller Verobjektivierung liegendes, unmittelbares Wissen ist. Näherhin soll die Ontologie der Vorhandenheit kritisiert werden. Denn die "Vorhandenheitsontologie ist falsche Ontologie, da sie statt des Seienden, wie es an sich ist, das Seiende, wie es an 78 Den tiefen, ja konstitutiven Bezug zwischen dem Menschen und seinem Werk versucht auch K. Marx zu erörtern. Nur heißt es bei ihm "Mensch" und "Arbeit". 79 Vgl. SuZ, 70. 80 Mir scheint, daß genau dieses Problern hundert Jahre vor Heidegger eben von K. Marx in seiner Entfremdungstheorie gesehen worden ist. Dort wird ja die Frage gerade auf den Industriearbeiter angewendet, der durch die Arbeitsteilung genau nicht mehr "an seinem Werk er selber werden kann"- und exakt das ist Entfremdung. So gesehen geht es nicht so sehr darum, daß Heidegger ein von der vorindustriellen Gesellschaft von "Grimms Märchen" angetaner Schwarzwälder Waldbauernbub gewesen wäre (in Grimms Märchen, d.h. dem 18. und frühen 19. Jh. kommen dauernd Schuster und andere Handwerksgesellen vor). Entscheidend ist vielmehr, daß Heidegger - zumindest in bezug auf SuZ, 70- das von Marx beschriebene Verhältnis von "Dasein und Zuhandenem" bzw. Werk oder gar "Zeug" nicht als Problem thematisiert. Denn gerade das Verhältnis des Menschen zu seinem Werk (auch im konstitutiven Sinn) hängt von den sozialen Umständen ab (Marx) und - m.E. fundamental - : Es hängt von des Menschen Bewußtseinsgeschichte (Hege!) ab. Denn die Art, wie der Mensch an seinem Werk Mensch wird, hängt zutiefst davon ab, daß auch sein Bewußtsein Geschichte hat. Was Heidegger hier vorzuwerfen ist, das ist nicht nur eine Tendenz zum Bäuerlichen, Schlichten - das würde ihn ehren - sondern daß er seinen eigenen Begriff der Geschichtlichkeit, wie später aufzuzeigen versucht wird, nicht konsequent genug zu Ende denkt, obwohl dazu schon vor ihm einiges gedacht worden war. Das ist einer der Gründe, weshalb Marxisten über Heidegger entweder Lachkrämpfe oder Wutanfälle bekommen und ihn für einen zutiefst "bourgeoisen" Philosophen halten. Und wenn man an seine "Blauäugigkeit" gegenüber den Nationalsozialisten denkt, stellt sich doch noch die Frage, ob sein Denken auch die politische, soziale Dimension des Daseins tatsächlich im Blick behält und nicht "schlechte" politische Da-seins - Philosophie ist?

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sich nicht ist, betrachtet."81 Damit aufs engste verbunden wird auch eine "Depotenzierung" des "Theorie-Ideals" angestrebt, wie dies etwa in der Philosophie Husserls deutlich zum Tragen kommt. Demnach "kann sich das Erkennen nicht mehr nur als Vorstellen eines ständig Vorhandenen verstehen, sondern muß sich an der Umsicht des praktischen Besorgens messen, sich auskennen in den Bewandtnisbezügen und Verweisungszusammenhängen der Welt. Damit ist der Vorrang, den das pure Sehen seit den Anfangen der griechischen Ontologie bis heute im Erkennen hatte, aufgehoben." 82 Fragt man von hier aus nach dem tiefsten Sinn der Analyse der Zuhandenheit, so läßt sich herausheben, daß es letztlich um die Freilegung der Zeitlichkeit des Daseins geht. Gerade am Beispiel des entstehenden Werkes soll aufgewiesen werden, daß Dasein sich zunächst und zumeist bei der Herstellung des Werkes als sich selbst vor aller Vergegenständlichung versteht. 83 Dieses Verstehen aber ist nur von der grundlegenden Zukünftigkeil des Daseins her möglich: Dem Entwerfen, von zu realisierenden Werken und dem Engagement hierfür liegt ein Stimmungshaftes In-anspruch-genommen-sein von zukünftigen Möglichkeiten zugrunde. Das heißt, alles Erreichen-wollen, alles Herstellen wird von dem, was noch nicht ist, vom Zukünftigen bestimmt. Eben dieses noch nicht Seiende im Sinne von dem, was man erreichen will, prägt den Zugang zur Gegenwart: Das Gegenwärtige zeigt sich im Lichte seiner Eignung oder Unbrauchbarkeit in bezug auf durchzuführende Projekte. Kurzum: Die Gegenwart des in Erscheinung Tretenden ist von der Zukünftigkeil des herzustellenden Werkes her abhängig, wodurch der Primat der Zukunft dokumentiert wird. Und erst von diesem, durch das praktisch herzustellende Werk ermöglichte zukünftige Verstehen kann das Dasein auf seine Gegenwart und Vergangenheit zurückkommen und sie verstehen. Dennoch: Das durch das herzustellende Werk gewonnene "Ichbewußtsein" des Daseins ist nach Heidegger ein vorläufiges.S4 Dessen Subjekt ist, heideggerisch formuliert, das Man: "Keiner ist in der Alltäglichkeit er selbst."85 Damit ist aber kein negatives Urteil über die Weise, wie sich das alltägliche Dasein zunächst und zumeist versteht, gegeben. Denn wenn man mit Heidegger darin übereinstimmt, daß in der Durchschnittlichkeit der alltäglichen Existenz keine Reflexion auf das Ich und das Selbst gegeben ist, so muß man mit ihm auch einräumen, daß das Dasein sich selbst dennoch hat.S6

81 W. Franzen, Von der Existenzialontologie zur Seinsgeschichte. Eine Untersuchung über die Entwicklung der Philosophie Martin Heideggers, Meisenheim 1975, 30. 82 0. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, 55. 83 "Das alltägliche Dasein versteht sich aber zunächst und zumeist aus dem her, was es zu besorgen pflegt. 'Man ist das', was man betreibt." SuZ, 239. 84 Denn "durchschnittlich ist die Auslegung des Daseins von der Alltäglichkeit beherrscht, von dem, was man über das Dasein und das menschliche Leben überlieferter Weise meint, vom Man, von der Tradition", M. Heidegger, Der Begriff der Zeit, 14. 85 M. Heidegger, Der Begriff der Zeit, 13. 86 Vgl. hierzu W. Biemel, Martin Heidegger, Reinbek 1973, 44: "Bei der Frage,

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b) Das Vorlaufen auf den Tod Aus der bisherigen hermeneutischen Daseinsanalytik geht hervor, daß das Dasein durch das herzustellende Werk nur indirekt, nicht eigentlich auf sich selbst hin bewußt wird. Demgegenüber gibt es eine angemessenere Weise, in der das Dasein tiefer und ursprünglicher zu seinem "Ichbewußtsein" vordringen kann. Diese Weise, persönlicher und eigentlicher seiner selbst bewußt zu werden, erblickt Heidegger im "Vorlaufen auf den Tod": "Die Selbstauslegung des Daseins, die jede andere Aussage an Gewißheit und Eigentlichkeit überragt, ist die Auslegung auf seinen Tod, die unbestimmte Gewißheit der eigensten Möglichkeit des Zu-Ende-seins." 87 Tatsächlich stellt der existenziale Begriff vom Tod jenen Ansatzpunkt dar, mit dem Heidegger die Möglichkeit eines echten Zugangs des Da-seins zu sich selbst freizulegen versucht: Indem der vom Seinkönnen her existierende Mensch auf den Tod als seine eigenste Möglichkeit vorläuft, kommt er auf sich selbst zu.88 Mit dem "Auf-sich-zukommen" im Zukommen des Todes ist nach Heideggers Überzeugung aber der ursprüngliche und echte Begriff der Zukunft gegeben. Und durch diese Zu-kunft wird so etwas wie "Selbstverständnis" möglich. Denn wenn Verstehen ein Entwerfen auf die eigenen Seinsmöglichkeiten, ein Erschließen des eigenen Sein-Könnens ist, so geschieht dies doch so, indem das Verstehen aus der Zukunft auf das Vorliegende zurückkommt: "Dem entwerfenden Sichverstehen in einer existentiellen Möglichkeit liegt die Zukunft zugrunde als Auf-sich-kommen aus der jeweiligen Möglichkeit, als welche je das Dasein existiert. Zukunft ermöglicht ontologisch ein Seiendes, das so ist, daß es verstehend in seinem Sein-können existiert." 89 Diese eigentliche Weise des Sichverstehensaus der Zukunft gibt Heidegger mit dem Begriff "Vorlaufen" an. So gesehen ist das Vorlaufen nichts anderes als jene Weise, in der das Dasein sich selbst in der Entschlossenheit erschließt und als Sein-können seine Existenz entfaltet. Mit diesem durch das Vorlaufen bewovon die Analyse des Daseins ausgehen soll, entscheidet sich Heidegger für die Durchschnittlichkeit und Alltäglichkeit, also die Seinsweise, die wir zunächst und zumeist antreffen bzw. selbst sind. In diesem durchschnittlichen Dasein sollen die Strukturen freigelegt werden, die für jegliches Dasein Geltung haben, das eigentliche sowohl wie das uneigentliche." Vgl. hierzu auch M. Heidegger, Der Begriff der Zeit, 14. 87 M. Heidegger, Der Begriff der Zeit, 16. 88 Hierbei handelt es sich näherhin um "ein Vorlaufen des Daseins zu seinem Vorbei als einer in der Gewißheit und völliger Unbestimmtheit bevorstehenden äußersten Möglichkeit seiner Selbst. Dasein als menschliches Leben ist primär Möglichsein, das Sein der Möglichkeit des Gewissens und dabei unbestimmten Vorbei." Vgl. M. Heidegger, Der Begriff der Zeit, 17. 89 SuZ, 336. Vgl. auch M. Heidegger, Der Begriff der Zeit, 18-19: "Das Dasein ist eigentlich bei ihm selbst, es ist wahrhaft existent, wenn es sich in diesem Vorlaufen hält. Dieses Vorlaufen ist nichts anderes als die eigentliche und einzige Zukunft des eigenen Daseins. Im Vorlaufen ist das Dasein seine Zukunft, so zwar, daß es in diesem Zukünftigsein auf seine Vergangenheit und Gegenwart zurückkommt."

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stimmte Verstehen ist nun die Hinwendung zur Gegenwart und zur Vergangenheit mitgegeben: "Zum Vorlaufen der Entschlossenheit gehört eine Gegenwart, gemäß der ein Entschluß die Situation erschließt. In der Entschlossenheit ist die Gegenwart aus der Zerstreuung in das nächst Besorgte nicht nur zurückgeholt, sondern wird in der Zukunft und in der Gewesenheit gehalten."90 Daß Verstehen kein bloßes Betrachten des Vorgegebenen in seiner Gegenwärtigkeil ist, zeigt Heidegger auf, indem er den "Augenblick" als die eigentliche Gegenwart herausstellt. Der Augenblick hat aber mit einem "Jetztpunkt" nichts gemein. Er ist vielmehr eine "Ekstase", womit die erschlossene "Entrückung" des Daseins gemeint ist, aufgrunddessen es den Dingen im alltäglichen Leben begegnet. Demgegenüber wird das Verstehen zugleich durch ein Zu-kommen auf das eigenste Sein-können, ein Zurückholen vor sich selbst gekennzeichnet, das das Gewesene charakterisiert. Diese durch das Verstehen bestimmte Gewesenheit nennt Heidegger "Wiederholung". Denn durch das Verstehen erschließt sich das Dasein selbst, indem es im Vorlaufen das Gewesene behält. Also macht es die Gewesenheil möglich, "daß das Dasein entschlossen das Seiende, das es schon ist, übernehmen kann. Im Vorlaufen holt sich das Dasein wieder in das eigenste Seinkönnen vor." 91 Wenn nun aus dem bisher Erörterten hervorgeht, daß dem Dasein durch ein Zu-kommen ein Verhältnis zu sich selbst und ein Selbstverständnis möglich wird, so muß auch festgehalten werden, daß in dieser Zukunft durch die in der eigentlichen Gewesenheil grundgelegte Wiederholung ein Verhältnis zu Vergangenern im Sinne von Tradition mitgegeben ist. 2. Zukünftigkeil und Gescbichtlichkeit

Als Ergebnis des vorhergehenden Abschnitts kann festgehalten werden, daß der Seinssinn des Daseins in der Zeitlichkeit gründet. Diese erwies sich letztlich als ein "Auf-sich-zu-kommen" des Daseins im entstehenden Werk und in eigentlicher und ausgezeichneter Weise im Vorlaufen auf den Tod. In diesem "Zu-kommen" gibt es so etwas wie ein Verhältnis des Da-seins zu Gewesenem, d.h. ein Selbstverständnis, in dem das Dasein von der Zukunft her auf das Gewesene zurückkommt und es übernimmt. Im folgenden geht es um einen weiteren Zugang zur Zukünftigkeil des Daseins, nämlich als Bedingung der Möglichkeit von Geschichtlichkeit.92 Zunächst soll versucht werden, Heideggers Begriff der Geschichtlichkeil zu 90 SuZ, 338. 91 SuZ, 339. 92 Den Leitfaden der Überlegungen bilden hierbei Heideggers Analysen über Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit (SuZ, §§72-77).

II. Heidegger und die Frage nach der Zeit

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erklären, um so zeigen zu können, daß diese in der Zeitlichkeit des Daseins verwurzelt ist. Der Versuch, Heideggers Bestimmung des Zusammenhangs von Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit im Hinblick auf das leitende Thema der vorliegenden Untersuchung darzulegen, orientiert sich an folgendem Zitat aus "Sein und Zeit": "Der existenziale Entwurf der Geschichtlichkeit des Daseins bringt nur zur Enthüllung, was eingehüllt in der Zeitigung der Zeitlichkeit schon liegt. Entsprechend der Verwurzelung der Geschichtlichkeit in der Sorge existiert das Dasein je als eigentlich oder uneigentlich geschichtliches. " 93 Dieser Text bringt Heideggers Ansicht zum Ausdruck, wonach die Geschichtlichkeit nur von der Zeitlichkeit her zu sehen und zu verstehen sei. Dies meint er, wenn er desweiteren unterstreicht, daß "nur eigentliche Zeitlichkeit, die zugleich endlich ist, so etwas wie Schicksal möglich, das heißt eigentliche Geschichtlichkeit möglich [macht]." 94 Daher läßt sich schon an dieser Stelle der Erörterungen folgendes festhalten : Heidegger sieht Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit in einem Abhängigkeitsverhältnis, wobei erstere von letzterer abhängig ist. a) Die Geschichtlichkeit des Daseins Zurückblickend auf die existenzial-ontologische Interpretation der Zeitlichkeit als ursprüngliche Bedingung der Möglichkeit des eigentlichen Ganzseinkönnens des Daseins fragt Heidegger, ob und inwiefern durch die Erörterung der Zeitlichkeit das Ganzseinkönnen des Daseins hinreichend ans Licht gebracht worden sei. 95 Näherhin stellt er heraus, daß diese bisherige Aufhellung der Ganzheit des Daseins gerade mit Rücksicht auf dessen "Sein zum Ende" eigentlich einseitig gewesen ist. Denn zum einen wurde das Verhältnis des Daseins zu seinem Anfang nicht thematisiert, und zum anderen wurde der Zusammenhang zwischen dem Sein des Daseins zum Anfang und zu seinem Ende nicht hinreichend erläutert. Der ontologische Boden zur Analyse des erfragten Zusammenhangs ist die Untersuchung der dem Dasein spezifischen Bewegtheit, die Heidegger mit dem Begriff "Erstreckung" angibt. Er selbst drückt dies wie folgt aus: "Die spezifische Bewegtheit des erstreckten Sicherstreckens nennen wir das Geschehen des Daseins. Die Frage nach dem 'Zusammenhang' des Daseins ist das ontologische Problem seines Geschehens. Die Freilegung der Geschehensstruktur und ihrer existenzial-zeitlichen Möglichkeitsbedingungen bedeutet die Gewinnung eines ontologischen Verständ-

SuZ, 376. SuZ, 385. 95 Vgl. hierzu SuZ, 373: "Sonach blieb die bisherige Orientierung der Analytik bei aller Tendenz auf das existierende Ganzsein und trotz der genuinen Explikation des eigentlichen und uneigentlichen Seins zum Tode 'einseitig'." 93 94

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nisses der Geschichtlichkeit. "96 Wie ist nun diese Geschichtlichkeil zu denken? Heidegger bestimmt sie ganz vom Geschehenscharakter des Daseins als "Auf-sich-zu-kommen" her. Dahinter steht folgender Gedankengang: Das Dasein zeigt sich in seinem entschlossenen Entwurf in die Geworfenheil als ein "Sicherstrecken". Diese Erstreckung ist die Seinsstruktur des Daseins, in der sich dieses zwischen Geburt und Tod sein Sein-können als Ganz-Sein entfaltet. Eben in diesem Geschehen des Sich-erstreckens in seiner Geworfenheil und im Zugehen auf sein Ende ist das Dasein geschichtlich. So betrachtet ist Geschichtlichkeil die Seinsbeschaffenheit des Menschen, durch die er im Modus des Daseins existierend von seiner ankommenden und ausständigen Zu-kunft her auf sich zurückkommt, um seine Seinsmöglichkeiten zu übernehmen - und das heißt auch die gewesenen Möglichkeiten -, damit er sich verstehend in Beziehung zu sich selbst treten kann. Daß aus dieser vom Zu-kommen bestimmten Geschichtlichkeit so etwas wie "Selbstverhältnis" und "Selbstverständnis" für das Dasein gegeben ist, hat Heidegger den Vorwurf eingebracht, es gehe dem Dasein im Grunde nur um sich selbst.97 Demgegenüber ist Dasein nach Heidegger zutiefst "Mitsein".98 Von diesem Seinscharakter her ist das Dasein nicht nur geschichtlich, sondern auch mitgeschichtlich. Letzteres wird besonders am Begriff der Teilnahme am Geschick der Gemeinschaft deutlich herausgehoben. Denn "das schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit seiner Generation macht das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus."99 Daraus ergibt sich folgendes: Wenn das Dasein zum einen geschichtlich ist, indem es im Vorlaufen auf sich zukommt, so ist es zum anderen durch dieses Zurückkommen auf seine Faktizität in seiner In-derWelt-sein-Struktur auf die Welt und auf die anderen verwiesen. Das so bestimmte "Angewiesen-sein" bedeutet letztlich, daß das Dasein im entschlossenen Zurückkommen auf sich selbst nicht nur die eigenen, sondern auch die jeweiligen faktischen Seinsmöglichkeiten und d.h. auch die der Gemeinschaft als Erbe übernehmen kann. 100 Hierbei erweist sich die "Wiederholung" als der angemessene hermeneutische Schlüssel zu diesem Erbe. Diese Zugangsart zu den Seinsmöglichkeiten der Gemeinschaft grenzt Heidegger jedoch von einem bio96 SuZ,

375. Vgl. hierzu z.B. G. Bauer, Geschichtlichkeit. Wege und Irrwege eines Begriffs, Berlin 1963, 121. 98 Dieses "Mitsein ist die existenzialontologische Kennzeichnung des Daseins, das mit anderen in der Welt ist." SuZ, 120. 99 SuZ, 385. 100 An dieser Stelle sei auf die "Analyse der noch erhaltenen Altertümer" hingewiesen. An ihnen zeigt Heidegger auf, wie sehr das Dasein an ein Miteinander gebunden ist. Denn durch ihre Zeughaftigkeit verweisen die Altertümer auf anderes Dasein. Hierbei hebt Heidegger hervor, daß diese Altertümer nichts Vergangenes, sondern Da-gewesenes sind. Vgl. SuZ, 385ff. 97

II. Heidegger und die Frage nach der Zeit

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ßen Übernehmen ab. Vielmehr geht es in der Wiederholung darum, daß das Dasein auf die faktischen Möglichkeiten der Gemeinschaft zurückkommt, in dem es das, was sich von heute aus gesehen als das bloß Vergangene 101 erweist, widerruft. 102 Von hier aus läßt sich nun folgendes herausheben: Das Geschichtliche wird bei Heidegger als eine Seinsbestimmung des von der Zu-kunft her auf die Faktizität zurückkommenden Daseins verstanden. Dieses Geschichtliche ist näherhin durch die Gewesenheit bestimmt. Gerade durch die in der Gewesenheit als Zeitigungsmodus des Daseins gegebene Möglichkeit von Wiederholung, Erwiderung und Widerruf ist also eine Stellungnahme gegeben zu der Weise, in der nach Heidegger eine angemessene Beschäftigung mit dem durch die Überlieferung Tradierten möglich ist. 103 b) Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit In den bisherigen Erörterungen ist immer schon von der Beziehung zwischen Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit die Rede gewesen. Denn obwohl im Vordergrund meiner Überlegungen der Versuch einer Klärung des Heideggerschen Geschichtlichkeitsbegriffes steht, ist das doch gemäß Heidegger in der Weise geschehen, daß die Zeitlichkeit je schon mitgegeben war. In der Weise, wie die Gewesenheit als Zeitigungsmodus in den Mittelpunkt der Erläuterungen gerückt wird, ergibt sich zugleich der Bezug zur Zeitlichkeit. Auf dem so gekennzeichneten Boden stehen auch die nachfolgenden Überlegungen. Sie werden in erster Linie von dem Versuch geleitet, Heideggers Zusammenschau der Beziehung zwischen Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit näher zu bestimmen, um im Anschluß daran die Frage zu erörtern, ob und wie diese Verhältnisbestimmung dazu geeignet ist, dem Nachdenken über die Geschichte zu einer tieferen Fundierung zu verhelfen. Vorausgeschickt sei folgende Textstelle aus Heideggers Hauptwerk: "Die 101 Vgl. ebd. Heidegger unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gewesenheit. Diese ist der eigentliche Zeitigungsmodus des Daseins, während jene dem uneigentlichen, nicht-daseinsmäßigen Seienden zukommt. Denn "Vergangenheit bleibt so lange einer Gegenwart verschlossen, als diese, das Dasein selbst, nicht geschichtlich ist. Das Dasein ist aber geschichtlich an ihm selbst, sofern es seine Möglichkeit ist. Im Zukünftigsein ist das Dasein seine Vergangenheit; es kommt darauf zurück im Wie." M. Heidegger, Der Begriff der Zeit, 25. 102 Dies unterstreicht auch G. Bauer, wenn er (etwas überspitzt) heraushebt: " 'Eigentlich geschichtlich' ist nur, wer völlig entschlossen, sich selbst .treu, kritisch gegenüber der Vergangenheit und der Öffentlichkeit, 'schicksalhaft-augenblicklich' lebt und sich nicht aus dem Vorhandenen, aus 'Geschäften' und 'Vorfällen', aus der 'Weltgeschichte' versteht", G. Bauer, Geschichtlichkeit, 122. 103 Tatsächlich ist die Vergangenheit im Sinne von eigentlicher Geschichtlichkeil "alles andere denn vorbei. Sie ist etwas, worauf ich immer wieder zurückkommen kann." Vgl. M. Heidegger, Der Begriff der Zeit, 25.

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Analyse der Geschichtlichkeil des Daseins versucht zu zeigen, daß dieses Seiende nicht 'zeitlich' ist, weil es 'in der Geschichte steht', sondern daß es umgekehrt geschichtlich nur existiert und existieren kann, weil es im Grunde seines Seins zeitlich ist."104 Dieser Text bringt Heideggers Grundansicht zum Ausdruck, wonach die Geschichtlichkeil nur von der Zeitlichkeit her zu sehen und zu verstehen ist. Dies unterstreicht er, wenn er, wie oben angemerkt, des weiter(!n festhält, daß nur eigentliche Zeitlichkeit eigentliche Geschichtlichkeil ermöglicht. 105 Daraus ergibt sich folgendes: Indem Heidegger die Geschichtlichkeit als Seinsverfassung der Existenz in der Zeitlichkeit als deren Einheits- und Seinssinn ontologisch gründet 106 , besteht zwischen Geschichtlichkeil und Zeitlichkeit ein Verhältnis der Abhängigkeit. So gesehen erscheinen Heideggers Erörterungen über die Geschichtlichkeit gleichsam als eine "Regionalontologie"107 zu den Überlegungen über die Zeitlichkeit. Und wenn Geschichtlichkeil demnach eine nähere Umschreibung der Zeitlichkeit ist, so stellt sich nun die Frage, ob und wie ein solcher Begriff der Geschichtlichkeil dazu geeignet sein kann, eine angemessenere, tiefere Sicht der Geschichte zu ermöglichen. Im Lichte des bisher Gesagten läßt sich festhalten, daß für Heidegger die Frage nach der Geschichte erst dann gestellt und zureichend erhellt werden kann, wenn das Nachdenken die Geschichtlichkeil in die Zeitlichkeit als ihren eigentlichen Ursprung zurückgeführt hat: "Wie Geschichte möglicher Gegenstand der Historie werden kann, das läßt sich nur aus der Seinsart des Geschichtlichen, aus der Geschichtlichkeit und ihrer Verwurzelung in der Zeitlichkeit entnehmen." 108 Heidegger behauptet hier: Auch wenn die Geschichtlichkeit des Daseins unter dem Aspekt des Gewesenen in den Blick rückt, so geschieht dies nur aufgrundder als einheitliches Phänomen der "gewesend-gegenwärtigen Zukunft" verstandenen Zeitlichkeit. Letztere wird aber durch das Zu-kommen bestimmt, so daß auch die Geschichtlichkeit als Bedingung der Möglichkeit eines Zugangs zur Geschichte unter dem Diktat der Zukunft steht. 109 Durch diese Ausrichtung auf die Zukunft 110 verliert die Geschichte aber nicht 104 SuZ, 376. 105 Vgl. SuZ, 385. 106 Vgl. SuZ, 404. 107 Der Terminus "Regionalontologie" wird im Hinblick auf das Gesamtgefüge der von Heidegger angestrebten Fundamentalontologie gebraucht. 108 SuZ, 375. 109 Man ist an dieser Stelle versucht zu sagen: Hier zeigt sich Heidegger ganz in der Tradition des Christentums, in dem der gekommene Christus in ausgezeichneter Weise der zukünftige Herr ist. Vgl. hierzu K. Lehmann, Christliche Geschichtserfahrung und ontologische Frage beimjungen Heidegger, in: Philos. Jahrb. 74 (1966/67), 126-153. 110 Hierher gehört etwa die folgende Aussage: "Die Zugangsmöglichkeit zur Geschichte gründet in der Möglichkeit, nach der es eine Gegenwart jeweils versteht, zukünftig zu sein. "Vgl. M. Heidegger, Der Begriff der Zeit, 26.

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an EigenständigkeiL Heidegger meint hier nicht, daß das Überlieferte nicht in seiner eigenen Gestalt interessant ist. Vielmehr meint Heidegger ganz formal: Wenn ich nicht auf-mich-zu-käme, hätte ich mich nicht als den so oder so schon Bestimmten. Gewesenheit (als Resultat des Vergangenen) kann nur aufgeschlossen sein im Licht der Zu-kunft. Das schließt nicht aus, sondern ein, daß der Inhalt des Gewesenen schon festliegt. Es kann also nicht behauptet werden, daß Heideggers Begriff der Geschichtlichkeit nicht geschichtsbegründend sei, weil "ihr die Kontinuität, die Bindung an die Tatsachen" 111 fehle. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist hingegen die Frage nach der Konsequenz, die nach Heidegger aus der oben gezeigten Bestimmung vom Verhältnis zwischen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeil für das eigene Denken erwächst. Dies gilt es nun näher zu untersuchen. 3. Die Geschichtlichkeit des Philosophierens

Dadurch, daß das Dasein wesenhaft aus dem Zukünftigen eigentlich seiend ist, ergibt sich auch die Forderung, das Denken stets aus der Zukunft zu gestalten, damit es für das "Heute" relevant sein kann. Von diesem Zukünftigen her muß das Dasein stets auf sich zurückkommen, um so hart wie möglich "am Winde der Sache" bleibend 112, seine Faktizität, d.h. die Fraglichkeil des "Jetzt" zu befragen. 113 So gesehen ist Heideggers "Theorie" der Geschichtlichkeit letztlich auf den Akt des Philosophierens selbst hin konstruiert. Und da letzteres - in der Gestalt der Metaphysik - mit der Grundbestimmung des Abendlandes zuinnerst verbunden ist 114, konzentriert sich das angestrebte geschichtliche Philosophieren auf die europäische Philosophie.115 Wie soll nun dieses geschichtliche Denken gedacht werden? G. Bauer, Geschichtlichkeit, 125. AED, ll. 113 Denn "philosophische Forschung ist ihrem Seinscharakter nach etwas, was eine 'Zeit' - sofern sie nicht lediglich bildungsmäßig darum besorgt ist - sich nie von einer anderen erborgen kann; aber auch etwas, das - so es sich und seinen möglichen Leistungssinn im menschlichen Dasein verstanden hat - nie mit dem Anspruch wird auftreten wollen, kommenden Zeiten die Last und die Bekümmerung radikalen Fragens abnehmen zu dürfen und zu können." PA, 238. Vgl. hierzu auch Anm. 9. 114 Die Geschichte Europas ist nach Heidegger in ihrem Wesen derart durch die Philosophie bestimmt, daß der Ausdruck "europäische Philosophie" im Grunde einer Tautologie gleichkommt. Vgl. Wph, 7. 115 Die hier nur kurz angedeutete Begrenzung des geschichtlichen Denkens auf die Philosophie des Abendlandes kommt bei Heidegger vollends zum Durchbruch in seinem Verhältnis zur Vergangenheit der europäischen Philosophie, wie unten zu zeigen 111 112

4 Ozankom

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Folgender Gedankengang ist hierbei grundlegend: Wer sich auf den Weg des Denkens begibt, muß - vorausgesetzt, er will den Impulsen des Denkens gerecht werden - möglichst aus dem jeweiligen "Heute" heraus philosophieren. Denn, indem das Denken dem Jetzt nicht ausweicht, sondern sich stets aus der eigenen existentiellen Fraglichkeil her den Seins- und Denkmöglichkeiten zuwendet, eröffnet sich für den betreffenden Philosophen die Möglichkeit echten Denkens. 116 Mit der Forderung nach einem dem jeweiligen "Jetzt" entspringenden Denken soll gewährleistet werden, daß das Gedachte auch für das "Heute" relevant wird. Desweiteren soll auch vermieden werden, daß der Denker in eine "Ungleichzeitigkeit" gerät zwischen seinen theoretischen Entwürfen und seiner existentiellen Situation.117 Der Antrieb, dem Impuls des Denkens möglichst treu zu bleiben und der Neugier des "Pseudodenkens" zu entkommen, bedeutet nach Heidegger, daß der Philosoph eigentlich ganz von vorne, d.h. neu beginnen muß. Dieses Herausstellen des neuen Anfangs impliziert jedoch keinen völligen Ausschluß der überlieferten Denksysteme. Denn es ist durchaus denkbar und legitim, daß jemand sich etwa bei Platon, Aristoteles, Descartes, Kant oder Hegel Anregungen sucht. Worauf es hier nun ankommt, ist, daß der Denker, der sich z.B. auf Hegel oder Platon einläßt, ein kritisches Bewußtsein entwickeln muß. Denn auch die großen Entwürfe der Philosophie in der Vergangenheit sind aus ihrem einmaligen und unvertauschbaren geschichtlichen Horizont entstanden: Sie gehören in eine ganz bestimme L".eit hinein. Dies zeigt sich etwa schon daran, daß, wer z.B. zu einem wirklich fundierten Verständnis des Hegeischen Denkgebäudes vordringen möchte, bald feststellen wird, daß das angestrebte Verstehen einen "Gang ad fontes", d.h. einen Rückgang zu der von Hegel aufgenommenen Problematik voraussetzt. Und selbst wenn man davon ausgeht, daß ein sachbezogenes Gespräch mit den Denkern der Vergangenheit möglich ist, da sie oft doch Probleme namhaft gemacht und Lösungsansätze angeboten haben, auf die man heute durchaus zurückgreifen kann, so bleiben diese Fragen und Antworten doch noch - von der Warte der Philosophie als ganzer her - in einen bestimmten geschichtlichen

versucht wird. 116 Mit dem Herausstellen des der jeweiligen Faktizität entspringenden Denkens setzt Heidegger das geschichtliche Philosophieren nicht zuletzt vom historischen und systematisch-wissenschaftlichen Bewußtsein ab. Das historische Bewußtsein zeichnet sich durch die Konstruktion von Zeitordnungen aus, die das Vergangene beobachtbar machen. Demgegenüber ist das systematisch-wissenschaftliche Bewußtsein darauf angelegt, durch Ortszuweisung dem Erkannten in einem Ordnungsganzen einen Platz zuzuweisen. Vgl. GA49, §3. 117 Hier klingt eine Befürchtung an, daß philosophische Entwürfe keine Relevanz für die jeweilige Gegenwart haben könnten, sofern sie isoliert, d.h. nicht im Gespräch mit den beherrschenden Themen der Zeit konzipiert werden.

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Horizont eingebettet, d.h. nicht überzeitlich. 118 Dahinter steht folgende Einsicht: Es gibt keine überzeitliche Geltung dieser oder jener philosophischen Theorien, ebensowenig, wie es eine ewige Wahrheit gibt.ll9 Sein und Wahrheit müssen also stets von neuem bedacht werden. So gesehen erwächst aus Heideggers Bestimmung der Geschichtlichkeit des Denkens die Forderung nach einem dem "Heute" näherkommenden und kritischen Verhältnis mit dem Überlieferten. Ein bloßes Nachsprechen ist demnach dem schon Gedachten zutiefst untreu und unangemessen. 120 Diesem Grundsatz gehorcht auch Heideggers Beschäftigung mit der philosophischen Vergangenheit des Abendlandes, wie sie in der Geschichte der Metaphysik als Ort der Seinsvergessenheit greifbar wird. 121 Bevor nun die Frage nach dem hier angedeuteten Verhältnis zur Tradition geklärt wird, soll versucht werden, das Verhältnis zwischen Herkunft und Zukunft im Denken Heideggers näher zu bestimmen.

111. Bleibt Herkunft Zukunft? Heideggers Bestimmung des Verhältnisses von Herkunft und Zukunft ist bekannt: "Herkunft aber bleibt stets Zukunft." 122 Dieser Bestimmungsversuch läßt sich in mehrfacher Weise näher kennzeichnen:

118 Natürlich kann man auch heute in der Tradition Kants oder Thomas' philosophieren, d.h. sich dem Anliegen eines dieser Denker verpflichtet fühlen. Allein, dies kann man als heutiger Mensch nicht so in Angriff nehmen, als würde man unter den existentiellen Bedingungen eines Kant oder eines Thomas stehen. Ebenso schlägt auch jener Versuch fehl, der darauf angelegt ist, die schwächeren Seiten dieser Philosophien durch Ausleihe synkretistisch auszugleichen. Denn dadurch entsteht ein künstliches Gebilde, dessen verschiedene Teile nicht ineinander zu greifen vermögen. Heideggers Grundhaltung ist demgegenüber die Demut, die Bescheidenheit eines Denkens, das sich auf das jeweils zu Denkende beschränkt und sich von diesem in Anspruch nehmen läßt. 119 "Und es ist ein naiver und noch kein philosophischer Boden, wenn philosophische Untersuchung meint, für alle Ewigkeit die Wahrheit erreicht zu haben, statt zu verstehen, daß sie nur dazu da ist, damit eine neue Nähe nicht willkürlichen sondern sachlichen Fortgangs möglich wird." GA 21,280. Vgl. hierzu auch SuZ, 226f. 120 An dieser Stelle der Erörterungen sei angemerkt, daß auch ein dem "Heute" verpflichtetes Lesen der Überlieferung, wie es Heidegger vorschwebt, nicht zeitlos ist. Denn v.a. in Zeiten von Umbrüchen, wie Heidegger es für die eigene Denksituation geltend macht, drängt sich diese Form des Umgangs mit der Vergangenheit als die angemessene auf. Dies soll an einem anderen Ort eigens diskutiert werden. 121 Heideggers Überzeugung ist nämlich, daß das, was der Mensch in seinem Wesen ist, heute erst dann zur Sprache gebracht werden kann, wenn hinreichend geklärt ist, was Sein überhaupt heißt. 122M. Heidegger im "Gespräch über die Sprache", in: US, 83-155; 96. 4*

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1. Bezieht man diese Äußerung auf das Dasein, so leuchtet die in ihr zum Ausdruck gebrachte These ein, sofern sie auf das bereits dargelegte Ineinanderspiel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft abhebt. Demnach geht es um den Primat des Zukünftigen, von dem her das Dasein auf Vergangenes zurückkommen und es in die Gegenwart übersetzen, einholen kann. 2. Ebenso legitim ist die Übertragung dieses Diktums auf das Individuelle, wie dies an Heidegger selbst aufgezeigt werden kann. Heidegger stammt aus einer katholischen Familie. Seine Schulzeit verbrachte er in den Gymnasialkonvikten in Konstanz und Freiburg. Nach dem Abitur führte sein Weg zunächst in das Noviziat der Gesellschaft Jesu in FeldkirchTisis und dann nach Freiburg, wo er zwei Jahre lang katholische Theologie studierte, um dann zur Philosophie überzuwechseln 123 , der er sein Hauptinteresse und die ganze Kraft seines Schaffens widmete. Nach der Habilitation (1915) wirkte er mit Vorlesungen "aus dem Gebiet der katholischen Philosophie" bei der Ausbildung der Freiburger Theologen mit.' 24 Und als er am 26. Mai 1976 verstarb, wurde er, auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin, nach dem katholischen Ritus begraben. Die Begräbnisfeier nahm sein Neffe vor. Die Grabrede hielt der Freiburger Theologe B. Wehe, der wie Heidegger aus Meßkirch stammte. Infolgedessen kann man mit einem gewissen Recht behaupten, daß das Leben Heideggers einen im christlichen Sinne religiösen Abschluß fand. Diese v.a. am Anfang und amEndeseines Lebens deutlich zum Vorschein kommende "Religiosität" fand auch einen deutlichen Niederschlag in der ersten Phase von Heideggers akademischer Lehrtätigkeit Dabei ist alles darauf angelegt, den Glauben der Herkunft für die Zukunft mächtiger sprechen zu lassen. So schreibt Heidegger in seinem Antrag an das Freiburger Domkapitel vom 13. Dezember 1915: "Der gehorsamst Unterzeichnete glaubt in etwa wenigstens hochwürdigstem erzbischöflichen Domkapitel für sein wertvollesVertrauen dadurch stets danken zu können, daß er seine wissenschaftliche Lebensarbeit einstellt auf die Flüssigmachung des in der Scholastik niedergelegten Gedankengutes für den geistigen Kampf der Zukunft um das christlich-katholische 123 Über die Hintergründe dieses Wechsels, Vgl. H. Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, 67-70; R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München-Wien 1994, 58-74. Aus dem theologischen Studium hatte er derart entscheidende Impulse für das eigene Denken bekommen, daß er rückblickend festhalten kann: "Ohne diese theologische Herkunft wäre ich nie auf den Weg des Denkens gekommen." US, 96. Ein anderes ist damit verbunden: Zu den beiden Männem, von denen er richtungsweisende Anregungen für "die eigene akademische Lehrtätigkeit" erhalten hat, zählt er neben dem Kunsthistoriker Wilhelm Vöge den Professor für systematische Theologie Carl Braig, den letzten "aus der Überlieferung der Tübinger spekulativen Schule, die durch die Auseinandersetzung mit Hege! und SeheHing der katholischen Theologie Rang und Weite gab." M. Heidegger, Frühe Schriften, GA, 1, 57. 124 Vgl. B. Casper, Martin Heidegger und die Theologische Fakultät Freiburg 19091923, in: R. Bäumer/K.S. Frank/H. Ott (Hg.), Kirche am Oberrhein. Beiträge zur Geschichte der Bistümer Konstanz und Freiburg, Freiburg 1980, 534-541; 538-541.

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LebensideaL" 125 So gilt etwa die Vorlesung "Einleitung in die Phänomenologie der Religion" aus dem Wintersemester 1920/21 der Hermeneutik der "faktischen Lebenserfahrung" 126 , wie sie in den Paulinischen Briefen zum Ausdruck kommt. Den Leitfaden stellt hierbei I Thess 4,13f., wo Paulus die Hoffnung thematisiert, auf die das christliche Leben gegründet ist, nämlich die Hoffnung auf die Wiederkunft des Herrn. Eigens verweist Heidegger darauf, daß es hier keine Zeitangaben in bezug auf die Parusie gibt. 127 Mehr noch: Paulus lehnt jede ausdrückliche Zeitangabe ab; er gibt keine "chronologischen", sondern "kairologischen" Zeitcharaktere an. Es kommt nun darauf an, deutlich zu machen, daß der Kairos in die Entscheidung stellt. Denn die kairologischen Bestimmungen sind nicht auf Berechnung und Meistern der Zeit aus; sie gehören vielmehr "in die Vollzugsgeschichte des Lebens, die nicht objektiviert werden kann." 128 Die genuin urchristliche Lebenserfahrung ist, darauf weist Heidegger hin, eine faktisch-historische, da sie nicht auf den Gehaltssinn, sondern auf den Vollzugssinn das Gewicht legt.129 Ähnlich gilt auch Heideggers Bemühen in der Vorlesung "Augustinus und der Neuplatonismus" vom Sommersemester 1921 130 dem Aufweis, daß Augustinus aus der faktischen Lebenserfahrung denkt. Letztere wurde aber durch die Übertragung in neuplatonische Begriffe verfälscht: Augustinus denkt wohl von der dem faktischen Leben zugehörigen Unruhe heraus, "doch im Quietismus der fruitio Dei, die dem Neuplatonismus entstammt, verfehlt er die faktische Lebenserfahrung des Urchristentums und wird sich selbst untreu. "131 Nach Heideggers Einschätzung meint Augustinus die Begrifflichkeil des Platonismus auf die christliche Botschaft hin fruchtbar machen zu können, leitet dabei aber eine Entwicklung ein, die in Patristik und Scholastik ihren Höhepunkt erreicht und die Übernahme des griechisch-metaphysischen Gedankenguts im Lichte von Röm 1,20 begünstigt. Dort heißt es: "Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit" 132 125 Zitiert nach H. Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, 80. 126 M. Heidegger, "Einleitung in die Phänomenologie der Religion, in: Ders., Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, 3-65. 127 Vgl. GA 60, 98-105. 128 0. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, 39. Vgl. GA 60, 104: " 'Die christliche Religiosität lebt die Zeitlichkeit.' Es ist eine Zeit ohne eigene Ordnung und feste Stellen etc. Von irgendeinem objektiven Begriff der Zeit her kann man unmöglich diese Zeitlichkeit treffen." 129 Heidegger spricht in diesem Zusammenhang von der "Struktur der christlichen Lebenserfahrung, die in ihrem 'Was' und 'Wie' immer vom Vollzugszusammenhang abhängig ist." GA 60, 101. 130M. Heidegger, Augustinus und der Neuplatonismus, in: Ders., Phänomenologie des religiösen Lebens, GA, 157-299. 131 0. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, 39. Vgl. GA 60, 271-272. 132 Vgl. GA 60, 281.

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Diese patristisch-scholastische Auslegung hält Luther z.B. für ein grobes Mißverständnis dessen, was in dieser Stelle gemeint ist. Daher weist Heidegger im Zusammenhang der Vorlesung "Augustinus und der Neuplatonismus" auf die 19. und 20. These der Heidelberger Disputation von 1518 hin, in der Luther zum Ausdruck bringt, daß der wahre Theologe nicht der ist, der alles daran setzt, Gottes unsichtbares Wesen an seinen Werken wahrzunehmen und zu verstehen, sondern jener, der das, was Gottes Wesen in der Welt ist, als in Kreuz und Leiden dargestellt zu begreifen sucht. 133 In dieser Theologie des Kreuzes gelingt es Luther, die faktische Lebenserfahrung des Urchristentums zurückzuholen. Für Heidegger trifft dies aber nur auf den jungen Luther zu, da der späte Luther der Macht der Tradition wieder verfiel. 134 ; Was in diesen Vorlesungen deutlich wird, ist Heideggers Ringen um eine angemessene Interpretation der christlichen Lebenserfahrung. 135 Dieses Anliegen stand so sehr im Mittelpunkt seiner damaligen Forschung, daß Husserl ihn als den "Religionsphänomenologen innerhalb seiner Schule" 136 bezeichnete. Die Auseinandersetzung mit "dem Glauben der Herkunft" begleitete Heidegger, freilich in gewandelter Form, auch nach seinem Bruch mit dem "System des Katholizismus". 137 Was genau ist darunter zu verstehen? Durch die im Zusammenhang mit dem Kriegsdienst ( 1917-18) erfolgte Unterbrechung der Lehrtätigkeit ergab sich bei Heidegger eine Klärung der eigenen Position, die er in einem Brief an E. Krebs folgendermaßen darlegt: "Erkenntnistheoretische Einsichten, übergreifend auf die Theorie des geschichtlichen Erkennens, haben mir das System des Katholizismus problematisch u. unannehmbar gemacht." 138 Die Loslösung von der katholischen Kirche führt bei Heidegger zu einer Klärung seines christlichen Glaubensbegriffs. So unterschei133 Vgl. M. Luther, Ausgewählte Werke, hrsg. v. H. Borehen u. G. Merz, München 1963, Bd. I, 325. Vgl. hierzu auch GA 60, 281-282. 134 Vgl. GA 60,281-282. 135 In diesem Sinne verstand sich Heidegger Anfang der zwanziger Jahre als Theologe, sofern es ihm darum ging, die historisch-faktische christliche Lebenserfahrung begrifflich auszulegen. So bezeichnete er sich in einem Brief an K. Löwith vorn 19.8.1921 als "christlicher Theologe" (sie!), Vgl. K. Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, 30. 136 Th. Kisiel, War der frühere Heidegger tatsächlich ein "christlicher Theologe"?, in: A.M. Gethrnann-Siefert (Hg.), Philosophie und Poesie. Otto Pöggeler zum 60. Geburtstag, Bd. 2, Stuttgart 1988, 59-75; 66. 137 H. Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, 106. 138 M. Heidegger Brief an E. Krebs vorn 9. Januar 1919. Dieser Brief wurde zum erstenmal in B. Caspers Aufsatz "Martin Heidegger und die Theologische Fakultät Freiburg 1909-1923" abgedruckt. Hier zitiere ich ihn nach H. Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, 106. Bei näherem Hinsehen handelt es sich nicht um einen plötzlichen Bruch, sondern, wie H. Ott es aufgezeigt hat, um einen langwierigen Prozeß der Loslösung von der katholischen Kirche. Vgl. H. Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, 106-127.

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det er in Anlehnung an Nietzsche im Aufsatz "Nietzsches Wort 'Gott ist tot' "139 zwischen "Christentum" und "Christlichkeit". Während dieses "die geschichtliche, weltpolitische Erscheinung der Kirche und ihres Machtanspruchs innerhalb der Gestaltung des abendländischen Menschentums und seiner neuzeitlichen Kultur" 140 meint, ist die Christlichkeit die Nachfolge Christi des einzelnen Menschen in seinem Leben, auch wenn sie eigentlich nur "einmal und für kurze Zeit vor der Abfassung der Evangelien und vor der Missionspropaganda des Paulus bestand." 141 Neben dem sich anmeldenden Einfluß Nietzsches wurde für Heidegger auch die Begegnung mit dem Denken Overbecks bedeutsam, des Freundes Nietzsches, in dessen Schrift "Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie" (1873) er die eigene Erfahrung der Unangemessenheit der griechischen Begrifflichkeit für die Auslegung wiederzufinden meinte. 142 Den Bekundungen echter Christlichkeit zollte Heidegger seine Hochschätzung. 143 Vom "Christentum" aber distanzierte er sich zum Teil in feindschaftlieber Gesinnung, wie dies im Falle der katholischen Zentrumspartei deutlich wird. 144Hinter all dem aber steht die Grundüberzeugung, daß das Christentum seine "geschichtsbildende Kraft eingebüßt [hat]." 145 Infolgedessen wird die Neustiftung einer Quelle notwendig, aus der das Abendland gespeist wird. Hierauf möchte Heideggers Denken vorbereiten, und darin liegt auch der Grund seines Rückgangs zu den Anfangen der abendländischen Philosophie. 146 Als Heidegger nun in der Abkehr von Theologie und Metaphysik die einzig angemessene Weise zu philosophieren sieht, legt er dies nicht als atheistische Emanzipation, sondern als eine Art bescheidenere Grundhaltung aus. So schreibt er etwa im Brief an E. Krebs aus dem Jahr 1919: "Ich glaube, den inneren Beruf zur Philosophie zu haben u. durch seine Erfüllung in Forschung und Lehre für die ewige Bestimmung des inneren Menschen - u. nur dafür das in meinen Kräften Stehende zu leisten u. so mein Dasein u. Wirken vor Gott zu rechtfertigen." 147

139 140 141

Hlw, 205-263.

IDw, 215.

Ebd. Vgl. hierzu, H.-G. Gadamer, Die religiöse Dimension, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, 308-319; G. Haeffner, Christsein im Denken, in: Theologie und Philosophie 68 (1993) 1-24, 7; Th. Kisiel, War der frühe Heidegger tatsächlich ein "christlicher Theologe"?, in: Philosophie und Poesie, 75. 143 Hierher gehört seine Hochachtung, freilich aus der Ferne, gegenüber der "katholischen Kirche und ihren Gütern". Vgl. M. Heidegger, Brief an E. Blochmann 22.6.32, 39f.; 52. 144 "Was hat das Zentrum als katholische Kulturmacht in den letzten Jahrzehnten wirklich geschaffen? den Liberalismus gefördert u. allgemeine Nivellierung." M. Heidegger, Brief an E. Blochmann, 22.6.32, 52. 145 N.II, 144. Vgl. hierzu auch M. Heidegger, Brief an E. Blochmann, 30.3.33, 60. 146 Vgl. G. Haeffner, Christsein im Denken, 8f. 147 M. Heidegger, Brief an E. Krebs, zitiert nach H. Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, 107. Vgl. hierzu auch N.I, 352-353: "Nur ein sehr 142

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A. Zwischen Tradition und neuem Anfang

Später, nämlich in den dreißger Jahren, sucht diese Religiosität ihre Sprache in der Begegnung mit Hölderlin zu finden. Tatsächlich stimmt Heidegger mit Hölderlin darin überein, daß das gegenwärtige Zeitalter vom "Fehl Gottes" 148 geprägt ist, daß sich Gott demjetzigen Verslehenshorizont entzieht. Aber es gibt dennoch Spuren des Göttlichen, des Heiligen. 149 Diesem gilt es - da die herkömmlichen Zugangsweisen versagt haben - andenkend entgegenzudenken, nicht nur als dem Gewesenen, sondern auch als dem Kommenden. Demnach bleibt das Religiöse, das Heideggers Herkunft bestimmt hat, prägend - freilich nicht mehr in derselben Weise- für seinen ganzen Denkweg. In diesem Sinne ist Herkunft Zukunft. 3. Diese Sicht ist einleuchtend, wenn es darum geht, sich die mögliche Einheit eines individuellen Lebensweges vor Augen zu führen. Es ist aber fraglich, sie auf die Entwicklung ganzer Völker und Kulturen zu übertragen. Auf keinen Fall darf diese Sicht jedem Denken als Regel aufoktroyiert werden. Was ist damit gemeint? Zunächst ist darauf zu achten, daß diese Losung auf Umbruchsituationen hinweist. Tatsächlich kann es in Zeiten der Krise sinnvoll und ratsam sein, auf die Vergangenheit zu schauen, um sich dort Anregungen zur Lösung der anstehenden Probleme zu holen. Hiervon ist jene Geisteshaltung zu unterscheiden, für welche die Vorbildfunktion der Vergangenheit schlechterdings in einer Art Legitimität des Älteren liegt. So suchte man z.B. im Zeitalter der Renaissance die Erneuerung der abendländischen Kultur durch eine Wiederbelebung der Antike zu erreichen. Aber wie schon die mit dem Namen C. Perrault (1628-1703) verbundene "querelle des Anciens et des Modernes" 150 zeigt, gibt es so etwas wie ein "Pathos" des Neuen, das dadurch zum Ausdruck kommt, daß jedes Zeitalter durchaus imstande ist, etwas Neues hervorzubringen - und dies auch tut -, das keineswegs nur eine Wiederholung des Dagewesenen ist. Dabei zeigt sich, daß die verschiedenen Kulturen und Völker durch Anleihe und Übernahme des anderswo Erfundenen die jeweilige Situation zu bewältigen suchen. Eine bindende Vorbildfunktion des Älteren, die der Renaissance vorschwebte, ist nicht mehr gegeben: Die Vergangenheit spielt in vielen Bereichen kaum noch eine Rolle. Blickt man nun von hier aus auf die geistige Situation des afrikanischen Intellektuellen, so wird die Übertragung von Heideggers Losung auf das Denken erst recht fraglich. Denn der Afrikaner, der sich z.B. auf die abendländische Philosophie einläßt, ist in diesem Sinne europäisch geprägt. Will dieser nun dem Antrieb des jeweiligen Heute entspringenden Denkens gerecht werden, kurzatmiges Denken wird aus dem Willen zur Entgöttlichung des Seienden den Willen zur Gottlosigkeit herauslesen, wogegen das wahrhaft metaphysische Denken in der äußersten Entgöttlichung, die sich keinen Schlupfwinkel mehr gestattet und sich nicht selbst vernebelt, einen Weg ahnt, auf dem allein, wenn überhaupt noch einmal in der Geschichte der Menschen, die Götter begegnen." 148 EH, 28. 149 Vgl. ebd. 150 Vgl. Encyclopaedia Universalis, Bd. 17, 888-889.

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so muß er auch die eigene Situation Afrikas in sein denkerisches Bemühen aufnehmen. Dies beinhaltet selbstverständlich auch ein Eingehen auf eine, wie auch immer geartete, Vergangenheit Afrikas. Demnach kann nicht sinnvoll postuliert werden, daß Herkunft auch Zukunft sei. Vielmehr muß von einer Pluralität der Herkünfte die Rede sein. Denn selbst die europäische Kultur ist nicht ausschließlich von der griechischen Philosophie geprägt, wie Heidegger es behauptet. Damit ist ein Zweifaches gemeint. Zum einen gibt es neben der griechischen auch zumindest die römische Wurzel des Abendlandes, wie später noch eigens aufzuzeigen versucht wird. Zum anderen aber ist das "Wesen" Europas keineswegs nur philosophischer Natur. Denn zu den Säulen der europäischen Kultur gehören ebenso Religion, Verwaltung, Eroberungszüge, Rechtssysteme, usw ... Heidegger, der in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts alles daran setzte, die Lebendigkeit der christlichen Lebenserfahrung auszulegen, konzentriert sich, nachdem ihm das Christentum fraglich geworden war, nur noch auf das Griechische. Diese Reduzierung der Wurzeln der europäischen Kultur auf die griechische Philosophie ist m.E. eine einseitige Sicht, die dem tatsächlichen Befund nicht gerecht wird. Denn die Wurzeln Europas liegen nicht nur in Athen, sondern auch in Jerusalem und in Rom.

IV. Heidegger und die philosophische Tradition Faßt man die verschiedenen Bedeutungen des Terminus "Tradition" zusammen, so kann man diesen Begriff letztlich auf zwei Grundbestimmungen zurückführen. In der einen Form meint Tradition das Überlieferte, den Bestand, das Traditum. In der anderen Bedeutung verweist der Ausdruck Tradition auf den Akt des Überlieferns. Beide Aspekte gehören aufs engste zusammen und verweisen aufeinander. 151 Dies zeigt sich etwa daran, daß der Tradierungsprozeß sowohl einen Inhalt als auch einen Akt - unter Beteiligung eines Rezipienten - voraussetzt. Blickt man nun von hier aus auf Heideggers Sicht der Tradition, so läßt sich folgendes herausheben: Heideggers Begriff der Tradition bezieht sich ausschließlich auf jenen Strang der abendländischen Überlieferung, der in der europäischen Philosophie im Sinne von Metaphysik namhaft gemacht werden kann.152 151 Auf diese beiden Aspekte lassen sich - etwas vereinfachend und vergröbernd gesagt - die vielen Bedeutungen des Begriffes Tradition zurückführen, nämlich Tradition als Übergeben von etwas; Tradition im Sinne von einem gegebenen, von Generation zu Generation weiterüberlieferten Erbe in Religion, Kultur, Wissenschaft; Tradition als Weitergabe von Sitten, Normen, usw. Vgl. A. Lalande, Vocabulaire technique et critique de Ia philosophie, 141983 Paris, 1140f.; P. Foulquie, Dictionnaire de la Iangue philosophique, 41982 Paris, 733. 152 Von dieser Begrenzung her bleibt Heideggers Verhältnis zur Tradition letztlich im

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Die Beschränkung auf die Metaphysik entspringt Heideggers Bestimmung des eigenen Philosophieansatzes unter dem Zeichen der Seinsfrage. Eben dieses Fragen nach dem Sein entwickelt den Durchblick zur Tradition. Folgende Überlegungen sind hier maßgebend: Dasein ist wesenhaft geschichtlich. Es gehört also zum Dasein immer schon seine Vergangenheit. Denn "das Dasein ist in seiner jeweiligen Weise zu sein und sonach auch mit dem ihm zugehörigen Seinsverständnis in eine überkommene Daseinsauslegung hinein - und in ihr aufgewachsen. Aus dieser her versteht es sich zunächst und im gewissen Umkreis ständig. Dieses Verständnis erschließt die Möglichkeit seines Seins und regelt sie." 153 Wenn Dasein sich nun durch das Seinsverständnis auszeichnet, so ist dieses Seinsverständnis selbst geschichtlich. Die Geschichte dieses Seinsverständnisses hat sich niedergeschlagen in der philosophischen Überlieferung. Eben diese Tradition wirkt im Seinsverständnis des Daseins. Und wer nach dem Dasein als seinsverstehendem Seienden fragt, muß notwendig auch die Geschichte des Seinsverständnisses, d.h. die philosophische Tradition in die Erörterungen einbeziehen. Dies unterstreicht Heidegger mit folgenden Worten: "Die Ausarbeitung der Seinsfrage muß so aus dem eigensten Seinssinn des Fragens selbst als eines geschichtlichen die Anweisung vernehmen, seiner Geschichte nachzufragen, d.h. historisch zu werden, um sich in der positiven Aneignung der Vergangenheit in den vollen Besitz der eigentlichen Fragemöglichkeiten zu bringen." 154 Wie mächtig die Tradition ist und wie sehr sie zuweilen einen echten Zugang zu den in ihr gegebenen Denk- und Seinsmöglichkeiten erschwert, erfährt Heidegger beim Versuch, sich die "philosophischen Schätze" der Überlieferung anzueignen. Dies meint er, wenn er festhält, daß die "zur Herrschaft kommende Tradition zunächst und zumeist das, was sie 'übergibt', so wenig zugänglich [macht], daß sie es vielmehr verdeckt. Sie überantwortet das Überkommene der Selbstverständlichkeit und verlegt den Zugang zu den ursprünglichen 'Quellen', daraus die überlieferten Kategorien und Begriffe z.T. in echter Weise geschöpft wurden." 155 Hieraus kann nun ein Verhältnis zur Tradition erwachsen, in dem innerphilosophischen Gespräch stecken. So finden bei ihm z.B. die alten germanischen Mythen und Epen keine Beachtung, es sei denn durch die Vermittlung von Hölderlins Gedichten. 153

154

SuZ, 20. SuZ, 20f.

155 SuZ, 21. Die hier erkannte Macht der Tradition bewertet Heidegger letztlich negativ, insofern sie dem Vergessen der Herkunft ihrer Grundbegriffe und Theorien Vorschub leistet, indem sie als selbstverständlich und evident hingestellt werden, womit der Rückgang auf den entsprechenden geschichtlichen Horizont als überflüssig erscheint. Die Folge eines solchen Vorgangs ist nunmehr ein Inventarisieren des überlieferten Materials: "Die Tradition entwurzelt die Geschichtlichkeit des Daseins so weit, daß es sich nur noch im Interesse an der Vielgestaltigkeit möglicher Typen, Richtungen, Standpunkte des Philosophierens in den entlegensten und fremdesten Kulturen bewegt und mit diesem Interesse die eigene Bodenlosigkeit zu verhüllen sucht. Die Folge ist, daß das Dasein bei allem historischen Interesse und allem Eifer für eine philologisch 'sachliche' Interpretation die elementaren Bedingungen nicht mehr versteht, die einen

IV. Heidegger und die philosophische Tradition

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alles darauf angelegt ist, den Lehrbestand von Meinungen und Standpunkten weiterzugeben. Auf diese Weise überliefert, tritt das in der Vergangenheit Gedachte beruhigend an die Stelle ursprünglichen Denkens, anstau daß es dieses Denken vermittelt und neu in die "Unruhe" versetzt. 156 Dies meint Heidegger, wenn er etwa von einer "entwurzelten griechischen Ontologie" spricht, die die Philosophie nach seiner Überzeugung bis heute beherrscht. Demgegenüber gilt es ein neues, angemessenes Verhältnis zur Tradition aufzubauen. Grundlegend hierbei ist, daß man zunächst zwischen fruchtbarer und toter Tradition unterscheidet. Ersteres ist jene Tradition, die von Generation zu Generation als befruchtend und interessant erachtet worden ist 157, die auch heute noch relevant ist. Letzteres ist eine erschöpfte, wirkungslose Überlieferung. Und während das Weiterentwickeln einer erschöpften Tradition eine sterile Repetition darstellt, setzt Heidegger alles darauf, ein solches Verhältnis zur Überlieferung zu finden, durch das die Überlieferung wieder befruchtend wirkt. Den einzig adäquaten Umgang mit der so charakterisierten Tradition erblickt Heidegger in einem Neuanfang. Dieser beinhaltet ein Zweifaches. In einem ersten Schritt bedeutet echter Bezug zur Tradition eine Aufarbeitung des Überlieferten als solchen, wie dies im Heideggerschen Projekt der Destruktion greifbar wird. Später aber reift bei Heidegger die Einsicht, daß das von ihm angestrebte angemessene Verhältnis zur Tradition nur über den Weg eines "Vergeschichtlichens" des eigenen Denkens gelingen kann. Mit letzterem ist jener Boden gekennzeichnet, dem Heideggers Rede von der Seinsgeschichte entspringt, mit der er - nachdem das Unternehmen einer Destruktion aus später zu nennenden Gründen nicht zum erhofften Erfolg geführt hatte- den eigenen Denkansatz in das Geschehen der Wahrheit des Seins selbst einfügen lassen möchte, wodurch sein Umgang mit der Geschichte der Philosophie eine neue Orientierung erfahrt. Diese beiden Zugangsweisen zur Vergangenheit der abendländischen Philosophie prägen die Grundfiguren seines Denkens vor und nach der Kehre: Während die Destruktion das Grundmotiv des frühen Heidegger darstellt, mit Hilfe der Phänomenologie die ganze europäische Philosophie auf ihre Grundvoraussetzungen hin transparent zu machen und zu problematisieren, entpositiven Rückgang zur Vergangenheit im Sinne einer produktiven Aneignung ihrer allein ermöglichen." Ebd. 156 Denn "wahre Schätzung der Tradition hat ihren Grund in der Geschichtlichkeit des Daseins selbst, d.h. in der ursprünglichen Treue des Daseins zu ihm selbst. Treue: Das Herankommen an das und Behalten dessen, was als ergriffene und erkämpfte Angelegenheit die Existenz in Atem hält." GA 21, 18. 157 Die befruchtend-lebendige Tradition umschreibt Heidegger mit dem Bild "etwas im Rücken haben": "Jede philosophische Problematik hat etwas im Rücken, das sie selbst und trotz ihrer höchsten Durchsichtigkeit nicht erreicht, denn die Durchsichtigkeit hat sie daher, daß sie um jene Voraussetzung nicht weiß." Vgl. GA 21, 280. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, daß Heidegger bei der Auseinandersetzung mit der Tradition die Stränge gegeneinander ausspielt: die Griechen gegen den Neukantianismus, diesen gegen Kant, usw.

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A. Zwischen Tradition und neuem Anfang

spricht der Versuch eines Vergeschiehtlichens des eigenen Philosophieansatzes im Sinne eines Aufgreifens eines Geschickes dem Grundakkord des "wesentlichen Denkens", das sich- nach der Kehre- ganz vom Sein in Anspruch nehmen läßt, d.h. dem Sein entgegen zu denken sucht. Diese Grundfiguren des Heideggerschen Umgangs mit der Tradition gilt es nun eigens zu thematisieren. 1. Die Destruktion der metaphysischen Tradition

Der sechste Paragraph von "Sein und Zeit" ist umschrieben: "Die Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie" . 158 Hier wird das Programm des zweiten Teils von "Sein und Zeit" entworfen, der bekanntlich ausblieb. Obwohl dieser Teil nicht erschienen ist, beschreibt der Inhalt dieses Paragraphen Heideggers Verhältnis zur Tradition in den Schriften um "Sein und Zeit". Dies meint Gadamer, wenn er zurückblickend auf Heideggers Schaffen vor der Kehre folgendes festhält "Das Stichwort, unter dem Heidegger damals an die Tradition der Metaphysik heranging, hieß Destruktion." 159 Näherhin handelt es sich um eine Art Prolegomena zu einer Behandlungs- oder Aneignungsweise der Traditon der abendländischen Philosophie. Wie ist dies nun genauer zu kennzeichnen? Heidegger schreibt hierzu: "Diese Aufgabe verstehen wir als die am Leitfaden der Seinsfrage sich vollziehende Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die ursprünglichen Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden." 160 Daß der Begriff Destruktion nicht ganz glücklich gewählt ist und daher zu Mißverständnissen führen kann, räumt auch Heidegger selbst ein. Demgegenüber schärft er ein, daß dies nicht negativ, etwa im Sinne einer bloßen "Abschüttelung der ontologischen Tradition" 161 zu verstehen sei. Destruktion ist nicht in Anlehnung etwa an das englische "destruction" oder an das französische "destruction" im Sinne von Zerstörung auszulegen. Vielmehr geht es bei der Heidegger vorschwebenden Destruktion um einen schrittweise erfolgenden Abbau der überlagerten Schichten der Überlieferung, damit das, was verdeckt ist, wieder frei zugänglich werden kann. 162 Das Ziel dieses Unternehmens ist, SuZ, 19. H.-G. Gadamer, Die Geschichte der Philosophie, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, 297-307; 299. Wie sehr die Destruktion das Denken Heideggers in dieser Phase bestimmt, kann man rein formal der Häufigkeit entnehmen, mit der dieser Begriff in GA 63 und GA 49 gebraucht wird. 160 SuZ, 22. 158 159

161 Ebd.

Ein Bild, das das hier Angezielte zu veranschaulichen helfen kann, ist z.B. die Arbeit eines Kunstrestaurators, der schrittweise die übereinanderliegenden Farbschichten 162

IV. Heidegger und die philosophische Tradition

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genau genommen, die Begriffe der Philosophie auf ihren jeweiligen Horizont hin transparent zu machen. Es geht demnach darum, eine kritische Distanz zu den überlieferten Entwürfen und Grundbegriffen dahingehend zu entwickeln, daß man sich bewußt macht, daß die meisten philosophischen Kategorien, mit denen umgegangen wird, zunächst einmal in einem bestimmten Zeit- und Denkhorizont beheimatet und daher keine unwandelbaren Begriffe sind, die oft nicht nur kritiklos, sondern z.T. selbstverständlich weiter tradiert werden. Das durch die Destruktion angezielte kritische Verhältnis zur Tradition bedeutet aber keine bloße Loslösung von der Überlieferung. 163 Vielmehr zielt die Destruktion darauf ab, die Geschichtlichkeit der Grundbegriffe der Metaphysik freizulegen, womit - gleichsam als Korrelat dazu - der Sinn für die Geschichtlichkeit im allgemeinen und für das geschichtliche Denken im besonderen gefördert werden soll. Im Klartext heißt dies: Durch einen Schritt zurück im Sinne eines Ganges durch die Geschichte der ontologischen Begrifflichkeit will Heidegger zum ursprünglichen Ort ihrer Entstehung gelangen. Damit soll erreicht werden, daß der Kontext und die Sprache dieser Entstehung namhaft gemacht werden. Dies soll dazu führen, daß die Grundbegriffe der Ontologie ihre ursprüngliche Lebendigkeit und Kraft wieder erlangen, vermittels derer sie wieder "mächtiger sprechen" können. Mit aufs engste damit verbunden ist aber auch, daß die Destruktion dafür zu sorgen hat, daß die Versäumnisse und Überwucherungen der Metaphysik näher gekennzeichnet werden. Infolgedessen zielt die Aufgabe der Destruktion letztlich darauf ab, daß die Geschichte der Ontologie in ihren Grenzen transparent und verstehbar wird. Denn von seiner Grenze her ist ein jegliches, was es ist. 164 Mit dieser Betonung von Kontext, Horizont und Grenze der jeweiligen philosophischen Grundbegriffe will Heidegger nicht etwa die kreativen Denker der Tradition treffen. Die ganze Kraft seines "Kampfes" gilt vielmehr jenen Menschen, die heute die "Anstrengung des Begriffs" 165 scheuen und die überlieferten Begriffe nicht nur einfach übernehmen, weil sie sie nun einmal gehört und gelernt haben, sondern gerade bei aller Unkenntnis ihres lebendigen und semantischen Kontextes weiter tradieren. Das so umschriebene Anliegen durchzieht im Grunde genommen Heideggers ganzes Schaffen. 166 Freilich handelt es sich hierbei um ein Verhältnis sui geneabbaut, damit die originale Tünche zum Vorschein kommt. Ähnlich verhält es sich mit dem Märchenmotiv der Schatzsuche, bei der alle "Ungeheuer" aus dem Weg geräumt werden müssen, bevor die ersehnten Schätze zugänglich werden. 163 Denn eine bloße Ablösung ist zum einen eine naive Banalität. Zum anderen, und das ist hier das Entscheidende, ist eine einfache Negation der Tradition der beste Weg, stärker in ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihr zu geraten, so wie uns die Erfahrung lehrt, daß ein Gegner Hegels z.B. immer schon von diesem abhängig ist. Und: Haß ist nun einmal ein Gefühl, das genauso bindet wie etwa die Zuneigung. 164 Vgl. die Todesanalyse, SuZ, §46ff. 165 In Anlehnung an Hege!. 166 Tatsächlich steht dieses Anliegen im Mittelpunkt der Heideggerschen

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A. Zwischen Tradition und neuem Anfang

ris. Denn es geht Heidegger nicht um ein Erforschen oder Weitergeben dessen, was früher gedacht wurde. 167 Vielmehr möchte er zu einer Aneignung der ursprünglichen Erfahrungen gelangen, die die anfangliehen Denker zum Denken genötigt haben. Damit ist jene Grundlage gekennzeichnet, von der her Heidegger die Zwiesprache mit den "Denkern des Anfangs" sucht. Gerade beim Versuch, zum anfangliehen Denken vorzustoßen, ergibt sich für Heidegger die Erfahrung, daß mit dem Begriff der dA.r]OEta am Anfang der Philosophie das eigentlich mögliche Zu-denkende gegeben ist. Und da er dies im Gespräch mit der Tradition in den Mittelpunkt seines eigenen Denkens rückt, soll nun im Lichte des bisher Erörterten seine Auseinandersetzung mit dem traditionellen Wahrheitsbegriff- ausgehend von "Sein und Zeit", dem repräsentativen Werk des frühen Heidegger- zur Verdeutlichung des Anliegens der Destruktion im Sinne von Prolegomena zu jeder Aneignung der philosophischen Vergangenheit zusammenfassend dargelegt werden. 2. Exkurs. Beispiel der Destruktion: "Sein und Zeit" und die Frage nach der Wahrheit

Die vorliegende Analyse gilt dem Versuch, herauszuarbeiten, ob und wie Heidegger - mit Rücksicht auf die von ihm vorgelegte Idee der Destruktion - im Durchgang durch die Geschichte des Wahrheitsbegriffes zu einem ursprünglicheren und angemesseneren Verständnis der Wahrheit vordringt. Wie bereits im Paragraphen 7b, in dem von der Wahrheit als dA.l]OEta die Rede ist 168, wendet sich Heidegger selbigem Thema im Paragraphen 44 zu.l 69 Hierbei greift er auf das herkömmlich-geläufige Wahrheitsverständnis als "adaequatio rei et intellectus" zurück170, um dessen ontologische Fundamente aufzuzeigen. So fragt er: "Was meint überhaupt der Terminus Übereinstimmung?" 171 Wenn man die Übereinstimmung im weitesten Sinne als die Beziehung verstehen will, so bedeutet dies nicht, daß jede Beziehung Übereinstimmung sei. Interpretationen zu Platon, Aristoteles, Kant, Hege!, Nietzsche, usw. Ebenso wird auch seine Beschäftigung mit den Vorsokratikern von derselben Motivation geleitet. 167 Das ist das Anliegen jedes großen Philosophen, selbst wenn er (wie auch Heidegger, der es dazu noch erkennt) tief eben in dieser Tradition steht. Vgl. hierzu Thomas v. Aquin, Kommentar zu Aristoteles' De caelo et mundo", Buch I, Lesung 22 (Parma - Ausgabe 19; 58): "Studium philosophiae non est hoc, quod sciatur, quid homines senserint, sed qualiter se habeat veritas rerum." Zu deutsch: "Ziel des Studiums ist es nicht (nur) zu erfahren, was Menschen einmal gemeint haben, sondern wie es stehe um die Wahrheit der Dinge." 168 Vgl. SuZ, 32-34. 169 SuZ, 212-230. 170 Vgl. SuZ, 214. 171 SuZ, 215.

IV. Heidegger und die philosophische Tradition

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Denn Übereinstimmung ist eine solche Beziehung, in der Gleichheit vorliegt. Aber nicht jede Art von Gleichheit ist diejenige Übereinstimmung, die mit "Wahrheit" gemeint ist. Denn man kann beispielsweise die Zahl 12 mit 7 + 5 als übereinstimmend angeben: Sie sind von der Quantität her gleich. M.a.W.: "Gleichheit ist eine Weise der Übereinstimmung." 172 Wichtig im Zusammenhang von "Wahrheit" aber ist, daß die Beziehungsglieder auf etwas anderes, auf ein gewisses "im Hinblick worauf' bezogen werden, aufgrund dessen die Übereinstimmung aufgewiesen werden kann. Wie ist dies aber im Falle von "intellectus und res"? Intellectus besagt bekanntlich psychischer, realer Akt, während res Sachverhalt - ein ideales Seiendes meint. 173 Wie soll aber die "Beziehung zwischen ideal Seiendem und real Vorhandenem ontologisch gefaßt werden" 174 ? Für Heidegger geht es hierbei letztlich darum, die Seinsart des Erkennens zu klären. Ein solches Unternehmen aber kann nur dann gelingen, wenn das Phänomen der Wahrheit, das dem Problem der Erkenntnis zugrundeliegt, hinreichend durchleuchtet wird. In der Tat: Im Erkennen wird die Wahrheit phänomenal ausdrücklich und zwar dann, wenn sich das Erkennen als wahres ausweist. Gerade in diesem sich als wahres ausweisenden Erkennen kann die Übereinstimmungsbeziehungzur Genüge ans Licht gebracht werden. 175 So führt die Analyse nun zur Erörterung der Aussage als des für die abendländische Tradition wesensgemäßen Ortes der Wahrheit hin. "Aussagen ist ein Sein zum Ding selbst" 176 sagt Heidegger. Dies bedeutet: 172

Etxl.

Angesichts der riesigen Bemühungen des Thomas und des ganzen Mittelalters um diesen Begriff und dessen vielfacher Bedeutung scheint mir das nicht hinreichend zu sein. "Intellectus" ist nicht nur ein "realer Akt", sondern auch das in diesem Akt Gedachte, nämlich "propositio" oder "iudicium". Im Bereich der rectitudo, von der Heidegger spricht, geht es ausschließlich um die Übereinstimmung von Sätzen und Sachverhalten. Intellectus meint gerade beides (und damit natürlich deren Zusammenhang): die Offenheit des Seienden (die transzendentale Wahrheit) und daraus folgend die Möglichkeit der Übereinstimmung von Sätzen und Sachverhalten (die logische Wahrheit). 174 SuZ, 216. 175 SuZ, 217. 176 SuZ, 218. Vgl. hierzu Aristoteles, Lehre vom Satz (rr~pl lp~€v~ta.ry0€ta gesehen worden, aufgeben. Vgl. anders E. Tugendhat, Heideggers Idee von der Wahrheit, in: 0. Pöggeler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Berlin- Köln, 1969,286-297, 294; ders., Der Wahrheitsbegriffbei Husserl und Heidegger, Berlin 1967, 337f; L.B. Puntel, Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie. Eine kritisch-systematische Darstellung, Darmstadt 1978, 19.

V. Die Krise von "Sein und Zeit" und die Kehre

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V. Die Krise von "Sein und Zeit" und die Kehre Im Februar 1927 erschien in dem von E. Husserl herausgegebenen "Jahrbuch für Phänomenologie und phänomenologische Forschung" (Nr. 8) "Sein und Zeit" Erste Hälfte" 198 (zugleich als Druck, Halle 1927). Dieses Werk machte Heidegger schlagartig berühmt. Dennoch konnte kurz darauf das darin initierte Projekt nicht weiter geführt werden. Folgende Gründe können hierfür zusammenfassend geltend gemacht werden: In "Sein und Zeit" suchte Heidegger mit Hilfe der Phänomenologie die Grundvoraussetzung der abendländischen Philosophie, nämlich die Gegenwart als wesentlichen Sinn von Sein, in Frage zu stellen. 199 Der damit verbundene Versuch, die Frage nach dem Sinn des Seins überhaupt- ausgehend von einer gründlichen Hermeneutik des Daseins- von neuemundursprünglicher zu stellen, blieb aber im Einflußbereich der transzendentalphilosophischen Denkschemata - die in der Hauptsache von Kant, Hege! und Fichte geprägt wurden verhaftet, insofern Heidegger nicht nur das Sein des Daseins in der Zeitlichkeit gründet, sondern auch das Sein selbst im Horizont der Zeit ungeschichtlich, d.h. zeitlos gültig auszulegen versuchte. So konnte das in "Sein und Zeit" Intendierte nicht zum Durchbruch kommen. Vielmehr blieb es nicht zuletzt durch die Begrifflichkeit der Transzendentalphilosophie geradezu verdeckt. Denn, wenn die phänomenologische Methode, deren sich Heidegger bedient, dazu helfen soll, das menschliche Leben in seinen verschiedenen Bezügen un verstellt zu beschreiben, so ereignet sich bei der Durchführung dieses Vorhabens Eigentümliches: Dieses Leben, das in seiner Faktizität zum Vorschein kommen soll, wird verobjektiviert, d.h. vergegenständlicht, indem versucht wird, die Lebendigkeit des Lebens begrifflich, d.h. theoretisch zu erfassen und darzustellen. Damit aufs engste verbunden ist die Frage, ob und inwiefern es Heidegger, der alles daran setzt, das Philosophieren als einen zuhöchst geschichtlichen Akt zu verstehen, gelingt, eine systematische Philosophie, wie dies aus "Sein und Zeit" hervorgeht, zu präsentieren. Die Einsicht in diesen "Selbstwiderspruch" nötigt Heidegger zu einem neuartigen Vorgehen, das dadurch greifbar wird, daß er sein Denken nicht mehr als eine Freilegung von zeitlos gültigen Strukturen menschlichen Daseins versteht, wie dies noch in "Sein und Zeit" der Fall ist. Vielmehr reift bei ihm die Erkenntnis, daß die einzige Möglichkeit. das eigene Denken ursprünglicher anzusetzen, über den Weg eines Ernstnehmens des Geschichtlichen im Sinne eines "Vergeschichtlichens" des eigenen Ansatzes geht. Dies zeigt sich v.a. daran, daß

198 Geplant waren zwei Teile mit je drei Abschnitten. Selbst die veröffentlichte Hälfte blieb auf zwei Drittel des geplanten Umfangs beschränkt. 199 Vgl. hierzu ZSF, 21:" 'Sein' besagt seit der Frühzeit des Griechentums bis in die Spätzeit unseres Jahrhunderts: Anwesen."

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A. Zwischen Tradition und neuern Anfang

Heidegger sein Denken nun zunehmend und grundsätzlicher als Aufgreifen eines Geschicks versteht. Damit verändert sich zugleich seine Sicht der philosophischen Überlieferung: Stand sein Umgang mit der Tradition bislang unter dem Zeichen der Destruktion als Aufzeigen der geschichtlichen, aber zu Unrecht universalisierten Wahrheit der vergangeneo ontologischen Entwürfe, so fügt sich das Denken des späten Heidegger - trotz ungebrochener kritischer Wachsamkeit - in die Geschichte der Philosophie als Geschichte des Seins selbst ein. 200 Mit der Erkenntnis, daß durch den in "Sein und Zeit" eingeschlagenen Weg das dort versuchte Denken das erhoffte Ziel nicht erreichen konnte, verbunden mit der Einsicht, daß der einzige Weg, diesem Denkentreu und angemessen zu philosophieren, über dessen Vergeschichtlichung führt, ereignet sich bei Heidegger die sogenannte "Kehre". Der Terminus "Kehre" 201 taucht bei Heidegger zum erstenmal im Brief "Über den Humanismus" 202 auf und bedeutet im Grunde genommen ein Zweifaches: Zum einen bezeichnet er eine mögliche "Wende im Sein selbst" und somit in der Seinsgeschichte, was später zu klären sein wird; zum anderen aber wird damit die Umkehrung, d.h. ein Wandel im Heideggerschen Denkweg charakterisiert. Im ersten Sinne drückt die Kehre die von Heidegger als möglich und doch 200 Folgende Einsicht bleibt für Heidegger von nun an leitend: Durch den Gang "ad fontes" soll die Vergangenheit des philosophischen Denkens dadurch Zukunft werden, daß auf das Ungedachte im Gedachten geachtet wird. Ein solches Unternehmen kann aber nur dann gelingen, wenn man eben in diese Vergangenheit der Philosophie eintaucht. Gerade beim Versuch, zu diesem Ungedachten im Gedachten vorzustoßen, erfährt Heidegger die "Quellen" der abendländischen Philosophie als versiegt. Damit ist jener Boden gekennzeichnet, auf dem Heideggers Beschäftigung mit den Vorsokratikern steht, auf die er sich in zunehmendem Maße einläßt, in der Hoffnung, zu den Anfängen des abendländischen Denkens gelangen zu können. 201 Wenn auch historische und philologisch-bibliographische Gesichtspunkte eine genaue Datierung erschweren, so gilt für die Heidegger-Literatur als sicher, daß die Kehre gegen 1930 einsetzte. Demnach kann man den Zeitraum zwischen dem Erscheinen von "Sein und Zeit" 1927 und dem Jahre 1930 als eine Art "Latenzperiode" bezeichnen. So erscheint gleichsam im Fahrwasser von "Sein und Zeit" im Jahre 1929, ursprünglich ausgearbeitet als erster Abschnitt des geplanten zweiten Teils von "Sein und Zeit", das Buch "Kant und das Problern der Metaphysik". Demgegenüber stellen die Freiburger Antrittsvorlesung "Was ist Metaphysik?" und die Abhandlung "Vorn Wesen des Grundes" schon einen wesentlichen Übergang im Heideggerschen Denken dar, stehen aber doch noch, freilich mit gewissem Vorbehalt, nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich ganz im Lichte von "Sein und Zeit". Ebenso geben (vgl. hierzu Vorwort zum ersten Nietzsche-Band) die Vorträge "Platons Lehre von der Wahrheit" und "Vorn Wesen der Wahrheit" einen gewissen Einblick in die Kehre. 202 "Hier kehrt sich das Ganze um" (Hu, 19). Damit war zunächst die Umkehrung gemeint, die in "Sein und Zeit"- von "Sein und Zeit" in "Zeit und Sein" -hätte stattfinden sollen, die aber nicht durchgeführt werden konnte, da "das Denken im zureichenden Sagen dieser Kehre versagte." Ebd.

V. Die Krise von "Sein und Zeit" und die Kehre

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noch ausstehend erachtete Wende von der Seinsvergessenheit zu einer neuen, eigentlichen und ursprünglichen Wahrheit des Seins aus. So gesehen ist die Kehre vor allem ein Ereignis im Sein selbst und damit unabhängig von jeglicher menschlicher Einflußnahme. Dies setzt aber voraus, daß der Mensch auf diese Selbstmitteilung des Seins aufmerksam wird und, mehr noch, in der Hoffnung, in der Erwartung dieser Ankunft des Seins lebt. In diesem Zusammenhang schreibt sich Heidegger die Aufgabe zu, dieses Aufmerksam-werden zu wecken, dem Sein gleichsam den Weg zu bereiten. Damit aufs engste verbunden ist die Forderung nach der Überwindung, genauer, nach der Verwindung der Metaphysik auf ihren Grund hin und somit auch der Versuch, zum eigentlichen, wesentlichen und anfänglichen Denken im Sinne des Denkens von Sein vorzudringen. Demnach bedeutet Kehre eine Wende im Denkweg, die Heidegger selbst eingeräumt hat: "Ich habe einen frühen Standpunkt verlassen, nicht um dagegen einen anderen einzutauschen, sondern weil auch der vormalige Standort nur ein Aufenthalt war in einem Unterwegs. "203 Damit ist nichts anderes als jenes "Ereignis der Kehre" gekennzeichnet, dessen Charakterisierung im Brief "Über den Humanismus" wie folgt ausfällt: "Die Kehre ist nicht eine Änderung des Standpunktes von "'Sein und Zeit'" sondern in ihr gelangt das versuchte Denken erst in die Ortschaft der Dimension, aus der 'Sein und Zeit' erfahren ist, und zwar erfahren aus der Grunderfahrung der Seinsvergessenheit "204 Diese Aussage ist insofern von entscheidender Bedeutung, als sie das für Heideggers Selbstinterpretation typische Bestreben ausdrückt, eine Kontinuität zwischen der frühen und der späten Phase seines eigenen Denkens herauszustellen. Zum anderen aber klingt hier an, daß das Denken von "Sein und Zeit" noch nicht am Ziel war und somit dahin geführt werden mußte. Dies konnte offenbar erst in der Kehre geschehen. Die so umschriebene Kehre hat in der philosophischen Forschung zu zahlreichen Deutungen Anlaß gegeben. Auffällig hierbei ist, daß die Interpreten entsprechend ihrem Anliegen und je nachdem, was sie vom Heideggerschen Ansatz halten, zu verschiedenen Schlüssen kommen. So versuchen viele, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen, aufzuzeigen, daß die Kehre keinen Bruch in der Entwicklung des Heideggerschen Denkens darstellt (so z.B. 0. Pöggeler, M. Müller, W. Richardson, usw.). Anders sieht es aus, wenn man zu Heideggers Grundanliegen und zum damit verbundenen Gedanken der "Ankunft" oder "Selbstmitteilung" des Seins keinen Zugang findet. Denn dann erscheint die ganze Kehre und die Bemühung Heideggers, den eigenen Denkweg auf das Sein hin auszulegen, als ein Bruch, ein totales Aufgeben des früheren zugunsten eines anderen Ansatzes (vgl. hierzu v.a. A. De Waelhens, K. Löwith).205

US, 98. Hu, 19. 205 Diesen Umstand hat J. Grondin wohl vor Augen, wenn er grob polarisierend und verallgemeinernd die Interpreten der Kehre in drei Gruppen aufteilt: "Certains mettent 203 204

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A. Zwischen Tradition und neuem Anfang

Was soll man nun von all diesem halten? Ist es dahingehend zu verstehen, daß Heidegger gleichsam einen Plan seines Denkens von Anfang an klar vor Augen hatte? Wenn ja, dann wird die Rede von der Kehre mit einem Mal gegenstandslos. Auch wenn man davon ausgeht, daß sich Heidegger in seinem Denken von Anfang um die Aufklärung der Seinsfrage bemüht hat, so bedeutet dies noch lange nicht, daß die damit verbundenen "Suchwege" vorprogrammiert gewesen sind. Er selbst gibt, so hieß es oben, einen tatsächlichen Wandel auf diesem "Unterwegs zum Sein" zu, obwohl das "Strittige" stets das eine und selbe geblieben ist. In Anbetracht dieser Sachverhalte scheint mir jene Auffassung angemessen, die von einer spiralförmigen (und nicht gradlinigen) Entwicklung des Heideggerschen Denkens ausgeht, das stets unterwegs zum selben Ziel, d.h. zum Sein ist. 206 Man kann also festhalten, daß es Heidegger vor und nach der Kehre um dasselbe geht. 207 Dennoch: Mit zunehmender Einsicht in die Geschichtlichkeit der Philosophie zeigt sich der spätere Heidegger bestrebt. das eigene Denken in bezug auf das Sein zu relativieren. Leitend bleibt diesbezüglich die Erfahrung, daß das Sein sich immer wieder verschieden zu denken gibt. Die so umschriebene Erkenntnis hat nun Auswirkung auf Heideggers Verhältnis zur Vergangenheit der abendländischen Philosophie: Anstattauf das von ihm als Sein identifizierte Bleibende der europäischen Tradition durch Abbau der verdeckenden Schichten zurückzugehen, sucht Heidegger nun das eigene Denken eben in das Geschehen des sich je verschieden selbstmitteilenden Seins einzufügen. Eben dies ist jene Grundlage, die Heideggers Rede von l'accent sur Ia continuite (Ia 'droite' heideggerienne, pourrait-on dire, disposee i't accepter de fa~on non critique Ia reinterpretation ontologisante, donc resolument anti-subjectiviste des existentiaux de Etre et le temps dans les ecrits posterieurs i't 1937), d'autres n'y voient que rupture (Ia 'gauche' heideggerienne, celle qui s'eloigne le plus de l'orthodoxie en mettant en doute Ia lecture jugee trop harrnonisante que Heidegger propose de Ia Kehre), tandisque d'autres, ceux du centre, plus pres de Ia verite, constatent, sans effacer les ambiguites, l'approfondissement ou Ia poursuite d'une seule et meme question sousdes titres et des imperatifs differents." Vgl. J. Grondin, Le toumant dans Ia pensee de Martin Heidegger, Paris 1987, 13. Eine Zusammenschau der verschiedenen Kehre-Auslegungen bietet A. Rosales, Heideggers Kehre im Lichte ihrer Interpretationen, in: D. Papenfuss/0. Pöggeler (Hg.), Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd.1, Frankfurt a.M. 1991, 118-140. 206 Vgl. hierzu etwa G. Haeffner, Heideggers Begriff der Metaphysik, 102. 207 "Die Kehre ist demnach", wie A. Rosales anmerkt, "Wandlung und Beharrlichkeit zumal. Aber man darf diese Beharrlichkeit desselben Standpuktes nicht so interpretieren, als ob Heidegger, im wissenden Besitz eines festen Kernes, die Wandlung von 'akzidentellen' Thesen vorausgeplant hätte." Vgl. A. Rosales, Zum Problem der Kehre im Denken Heideggers, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 38 (1984) 241-262; 257. Vgl. hierzu auch F.-W. von Herrmann, Das Ende der Metaphysik und der andere Anfang des Denkens. Zu Heideggers 'Kehre', in: Freiburger Universitätsblätter 104 (1989) 47-60.

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der Seinsgeschichte erwächst und die seinen Umgang mit der Überlieferung nach der Kehre kennzeichnet. VI. Die Seinsgeschichte Der vor allem in den Schriften um "Sein und Zeit" unternommene Versuch, die Destruktion als Rückgang zu den Quellen des metaphysischen Denkens durchzuführen, konnte nicht zu Ende gebracht werden. Mit der Einsicht in das Mißlingen dieses Ansatzes erwies sich eine andere, neuartige Zugangsart zur Tradition als notwendig. Eben darin liegt das Motiv des seinsgeschichtlichen Ansatzes, der das Verhältnis des späteren Heidegger mit der Vergangenheit der europäischen Philosophie kennzeichnet. Fragt man nun, wie diese seinsgeschichtliche Besinnung zu deuten sei, so wird man zunächst einmal auf Heideggers Gedanken der grundsätzlich geschichtlichen Bestimmung jeden Philosophierens verwiesen: Seine Überzeugung ist, so hieß es oben, daß jede Philosophie in einen partikulären zeitlichen Horizont gehört, genauer, daß sie nicht zeitlos gültig, sondern geschichtlich ist. Während dieses klare Bewußtsein der "begrenzten" Geltung der philosophischen Systeme Hege! zu einer aus der Auseinandersetzung mit der transzendentalen Reflexion hervorgegangenen Synthese nötigt und Dilthey das Problem der Vielheit der vergangenen Entwürfe der Philosophie durch das Beschreiben und Typologisieren der verschiedenen Standpunkte zu lösen versucht, wird Heidegger auf den Geschichtscharakter der zu denkenden Sache selbst im Sinne von Seinsgeschichte aufmerksam: "Die Geschichte ist die Geschichte des Seins." 208 Diesen Satz will Heidegger nicht im herkömmlichen Sinne verstanden wissen, da das Sein keine Geschichte hat, so wie man etwa davon spricht, daß diese oder jene Stadt auf eine lange Geschichte zurückblicken kann. 209 So gesehen soll die Geschichte des Seins nicht im Lichte eines Verlaufs oder Prozesses gedacht werden210 , sondern es handelt sich beim Geschehen der Seinsgeschichte um einen Geschehenscharakter sui generis: "Das Geschehen der Geschichtewest als das Geschick der Wahrheit des Seins aus diesem [ ... ] Zum Geschick kommt das Sein, indem Es, das Sein, sich gibt. Das aber sagt, geschickhaft gedacht: Es gibt sich und versagt sich zumal. "211 Diese Aussage ist 208 N.II, 28. 209 Vgl. ZSD, 8. 210 Vgl. hierzu Hu,

26: "Die Geschichte geschieht nicht zuerst als Geschehen. Und dieses ist nicht Vergehen." 211 Hu, 26. Vgl. hierzu auch WW, 28: "Die Rückführung der inneren Möglichkeit der Richtigkeit einer Aussage auf die ek-sistente Freiheit des Seinlassens als ihren 'Grund', insgleichen die Vordeutung auf den Wesensanfang dieses Grundes in der Verbergung und der Irre, möchten darauf hinzeigen, daß das Wesen der Wahrheit nicht das leere 'Generelle' einer 'abstrakten' Allgemeinheit ist, sondern das sich verbergende Einzige der

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A. Zwischen Tradition und neuem Anfang

insofern bedeutsam, als sie im Begriff "Geschick" Heideggers Lösungsvorschlag für den geschichtlichen Charakter der philosophischen Leistungen darstellt. 212 Zugleich ist "Geschick" jenes Wort, in dem der geänderte, neuartige Umgang Heideggers mit der durch die Philosophie repräsentierten Tradition des Abendlandes greifbar wird. Der Begriff "Geschick" 213 meint zunächst, daß die Sache selbst, d.h. das Sein aus dem "Ereignis" die Initiative ergreift und sich mitteilt. Mit dem Ereignis wird man auf jenes Urgeschehen verwiesen, hinter das nicht mehr zurückgegangen werden kann, von dem man lediglich sagen kann: "Das Ereignis ereignet. "214 Infolgedessen ist das Ereignis ein Letztes, das auf nichts anderes zurückzuführen ist. Es ist der "Zuwurf des sich lichtenden Seins" 215 , aus dem das Sein seine Herkunft hat. Ereignis besagt: Das sich selbst mitteilende Sein hat keine andere Erklärung als es selbst. Es ist "Ergebnis" im Sinne von reinem Geschenk. Dieses Geschick des Seins selbst bedeutet sodann, daß der jeweilige Denker die Fähigkeit zu hören entwickeln soll und die Bereitschaft, dem sich Zusprechenden zu entsprechen. 216 Daß es nun beim Versuch, dem Sein in seiner Wahrheit zu antworten, immer wieder zu falschen Lösungen und zu Scheinwegen kommen kann, liegt für Heidegger nicht primär an der Unfahigkeit der Denker, sondern v.a. am Sein selbst, insofern sich dieses dem Denkenden zugleich verbirgt und entbirgt. Angesichts des verbergend-entbergenden Charakters des sich selbstmitteilenden Seins faßt Heidegger die Geschichtlichkeil der vergangenen philosophischen Systeme so auf, daß sich in ihnen das Sein selbst in irgendeiner Weise zugeschickt hat. Von hier aus erscheint sein Umgang mit diesen Entwürfen der Philosophie der Vergangenheit in einem ganz anderen Licht: Heideggers Ansatz einmaligen Geschichte der Entbergung des 'Sinnes' dessen, was wir das Sein nennen und seit langem nur als das Seiende im Ganzen zu bedenken gewohnt sind." 212 Mit dem Begriff Geschick soll im Hinblick auf die Problematik der relativen Gültigkeit der philosophischen Standpunkte ein Zweifaches zur Sprache gebracht werden: Zum einen soll auf ihre tatsächlich geschichtliche Bedeutung hingewiesen werden. Zum anderen kommt dadurch ein Hauch von "Unberechenbarkeit" zum Ausdruck, da die Wahrheit nicht durch Hinzuziehen anderer Systeme oder deren Elemente gewährleistet werden kann. Die so angedeutete Beliebigkeil ist aber positiv am besten so zu verstehen, daß man das Geschick begreift als etwas, das auf eine persönliche Berufung abhebt, die für Außenstehende nicht nachvollziehbar, für den Betroffenen aber durchaus einsichtig und verpflichtend ist. 213 Heidegger ersetzt ihn gelegentlich durch den Ausdruck "Schickung". 214 ZSD, 24. 215 Vgl. F.-W. von Herrmann, Das Ende der Metaphysik und der andere Anfang des Denkens. Zu Heideggers 'Kehre', 51. 216 So gesehen legt das Geschick so etwas wie Korrelativität zwischen Sein und Mensch nahe. Das Sein ist gewissermaßen nicht etwas für sich, sondern ist nur in der Zuwendung. Das Menschenwesen beruht dementsprechend "darauf, daß es jeweils so oder so in der Zuwendung währt und wohnt." ZSF, 27.

VI. Die Seinsgeschichte

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wird nun von dem Bemühen geleitet, eine Sensibilität für das sich in ihnen geschichtlich zur Sprache Kommende zu entwickeln, um so dem in der Geschichte sich gebenden Sein entgegen zu denken. Dabei geht es nicht um das Einfügen in eine zurückblickend betrachtete Geschichte, sondern um das Entsprechen, nämlich dem selbigen Zuspruch der Wahrheit. Denn die Geschichte des Seins ist die der Metaphysik: Heidegger, dem das "Sein" fraglich geworden ist, gehört nicht mehr in diese Geschichte, die "zu Ende" ist. So sucht er einen "anderen Anfang", dessen Zentralwort nicht mehr Sein, sondern Ereignis ist. 217 Wenn man nun daran erinnern kann, daß Heidegger den gewöhnlichen Begriff der Geschichte im Sinne eines ablaufenden Prozesses eigentlich für das Sein nicht gelten lassen möchte, so muß man doch andererseits einräumen, daß sich die Geschichte des Seins in einem gewissen Sinne als eine Folge von Epochen denken läßt, die weder als gänzlich zufällig noch als notwendig errechnet werden können. 218 Und wenn Heidegger dazu tendiert, die Geschichte des Seins als durch "Folgen" konstituiert zu betrachten, so verweist er zugleich darauf, daß hierbei so etwas wie Notwendigkeit der Folgen festzustellen sei. In diesem Sinne läßt sich z.B. "sagen, daß die Seinsvergessenheit die Geschichte der sich steigernden Seinsvergessenheit ist. Zwischen den epochalen Seinswandlungen und dem Entzug läßt sich ein Verhältnis sehen, das aber nicht das einer Kausalität ist. Es läßt sich sagen, daß, je weiter man von der Frühe des abendländischen Denkens, von der d,\rf8~ta abrückt, je weiter diese in die Vergessenheit gerät, desto deutlicher das Wissen, das Bewußtsein hervortritt und so das Sein sich entzieht. "2 19 Im Lichte dieses sich in seinem Geschick mitteilend-entziehenden Seins steht nun die Rezeption der philosophischen Texte in der Philosophie des späten Heidegger. Dabei offenbart sich ein Doppeltes: Zum einen geht Heidegger - geschichtssplittemd, wie oben aufgezeigt - davon aus, daß die Philosophie das Zentrum der Geschichte des Abendlandes ist. 220 Aufs engste damit verbunden ist zum anderen der Hinweis, daß das Sein in seiner Geschichte nur "im Wort der wesentlichen Denker zur Sprache" 221 kommt. Demnach setzt Heidegger alles daran, durch Interpretation dieser wesentlichen Worte die Geschichte des Seins zu rekonstruieren. 222 Den Beginn dieser Seinsgeschichte erblickt Heidegger im griechischen Denken: "In dem, was wir das Griechische nennen, liegt, epochal gedacht, der

Vgl. hierzu GA 65, Teil I. Vorblick. Vgl. ZSD, 9. 219 ZSD, 56. Vgl. hierzu WW, 26. 220 Vgl. WPh, 7. 221 Hu, 26. 222 Zur Darstellung der gesamten Seinsgeschichte bei Heidegger siehe 0 . Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers; 0. Laffourciere, Le destin de Ia pensee et "La mort de Dieu" selon Heidegger, Den Haag 1968; G. Haeffner, Heideggers Begriff der Metaphysik. 217 218

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Beginn der Epoche des Seins. "223 Dieser mit dem Aufkommen der Idee des Seins verbundene Einschnitt in der Geschichte setzt in "der Frühe der Frühzeit des Abendlandes" 224 , nämlich bei Anaximander ein. 225 Während dieser und mit ihm Heraklit und Parmenides die großen Denker am Anfang der europäischen Geschichte sind, da sie in ihrem Denken dem Wesen des Seins in seiner Wahrheit noch nahestehen, setzt bald eine Entwicklung ein durch den "Schritt zur Philosophie" 226, die das Denken von der ursprünglichen Erfahrung des Seins in seiner Wahrheit wegführt. Letzteres wird zuerst bei Platon greifbar.227 Dies versucht Heidegger nicht zuletzt im Vortrag "Platons Lehre von der Wahrheit" darzustellen. 228 Wenn von der Seinsgeschichte in diesem Vortrag dem Worte nach nicht die Rede ist, so ist leicht ersichtlich, daß hierin die Philosophie als Stätte der Seinsvergessenheit dadurch vor das geistige Auge gebracht werden soll, daß gezeigt wird, wie die Metaphysik bei Platon von der ursprünglichen Erfahrung der Wahrheit des Seins abrückt. Dies zeigt sich nach Heidegger darin, daß die dkr]8Eta im Hinblick darauf bedacht wird, wie sie das Sich-Zeigen des Erscheinenden in seinem Aussehen (l8€a) und seiner Sichtbarkeit dieses Sich-Zeigenden (El&Js-) ermöglicht. Eben dies ist jener Vorgang des "Herrwerdens der t8{a über die dt\7]8cta. "229 Infolgedessen wird der Grundzug der Wahrheit als Unverborgenheit zur op06TTJs-, zur Richtigkeit des "Blickens und des Vernehmens". Dies nennt Aristoteles das "im erscheinen-lassenden Sagen entbergend an das Verborgene sich halten." 230 Und da dieses "sich daranhaltende Übereinkommen mit dem Unverborgenen griechisch OJ10{(J)ULS', d.h. das "entbergende Entsprechen", welches das Unverborgene ausspricht, genannt wird, sagt Heidegger: "Dieses Entsprechen nimmt und hält das Unverborgene als das, was es ist." 231 Auch wenn er meint, daß das "entbergende Entsprechen" sich hier noch im Wesensbereich des Seins in seiner Unverborgenheit hält und vollzieht, so räumt Hlw. 334. Hlw. 323. 225 Der Spruch des Anaximander ist nach Heideggers Einschätzung "der älteste Spruch des abendländischen Denkens." Hlw, 317. 226 "Das Denken des Seins[ .. )begreift sich seit Platon als 'Philosophie' und erhält später den Titel 'Metaphysik'." WW, 26. 227 Vgl. WPh, 15. 228 Diese Platon-Interpretation ist umstritten. Vgl. hierzu u.a. W.A. Galston, Heidegger's Plato: A Critique of "Plato's Doctrine of Thruth", in: The Philosophical Forum 13 (1981/82) 271-348; J. Grondin, L'aletheia entre Platon et Heidegger, in: Revue de metaphysique et de Morale 87 (1982) 551-556; R. Hahn, Truth (Aletheia) in the Context of Heidegger's Critique of Plato and Tradition, in: Southwest Philosophical Studies 4 (1979) 51-57; J. Philippousis, Heidegger and Plato's Notion of Truth, in: Dialogue 15 (1976) 502-504. 229 PLW, in: WgM, 227. 230 GA 54, 72. 231 Ebd. 223 224

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er gleichwohl ein, daß die Of.J.o{wats- im Sinne von übereinkommendem Entsprechen im griechischen Denken zunehmend in den Vordergrund tritt. Mit der Philosophie des Aristoteles geht für Heidegger die erste Phase der Seinsgeschichte in seiner griechischen Ausprägung zu Ende. 232 Heideggers Hochschätzung für diese erste Periode der Philosophiegeschichte kontrastiert deutlich mit seiner Einstufung der darauffolgenden Epoche: Die Zeitspanne zwischen Aristoteles (Philosophie der Griechen) und Descartes (Philosophie der Neuzeit). 233 Tatsächlich scheinen Rom und das Mittelalter nur die Rolle einer Zwischenzeit zu erfüllen, in der sich außer der Übersetzung der griechischen Worte ins Lateinische seinsgeschichtlich nichts besonderes tat: "Das römische Denken übernimmt die griechischen Wörter ohne die entsprechende gleichursprüngliche Erfahrung dessen, was sie sagen, ohne das griechische Wort. Die Bodenlosigkeit des abendländischen Denkens beginnt mit dem Übersetzen. "23 4 Heidegger behauptet hier: Auch wenn mit Platon und Aristoteles ein Einschnitt im Denken des Seins einsetzt, so bewegen sich beide Philosophen dennoch im Wesen der von den anfangliehen Denkern erfahrenen Wahrheit des Seins. Demgegenüber ereignet sich durch die Übersetzung der griechischen Worte ins Lateinische eine Übertragung des ursprünglich griechisch Gedachten ohne den dazugehörenden Erfahrungsbereich. Mehr noch: Durch das Übersetzen ins Lateinische wird das schon bei Platon und Aristoteles vom ursprünglichen Erfahrungsboden abgeschnittene Denken übertragen, womit der Prozeß der Seinsvergessenheit neuen Auftrieb erhält. Diese Entwicklung wird im Mittelalter nur noch verstärkt, da zum einen über Rom das "bodenlose" Denken übernommen wurde und da sich zum anderen die Denker in zunehmendem Maße der Theologie verpflichtet fühlten. Mit Descartes beginnt dann die zweite Epoche der Seinsgeschichte, nämlich die Neuzeit. Diese wird von der Frage nach dem sicheren, gesicherten und sich selbst sichernden Gebrauch der ratio bestimmt. 235 Die so umschriebene neuzeitliche Metaphysik wird in der Hauptsache durch Leibniz, Kant, Schelling, Fichte, Hege! und Nietzsche repräsentiert. Letzterem kommt bei Heidegger die

Vgl. EM, 12. Wie wenig das lateinische Rom und das christliche Mittelalter bei Heidegger Beachtung finden, kommt auch bei einigen seiner Interpreten deutlich zum Vorschein. 0 . Laffourciere z.B., - Le destin de Ia pensee et Ia mort de Dieu - hat in der Darstellung der Zeitspanne zwischen Anstoteies und Descartes bei Heidegger nicht mehr als I 0 Seiten. W. Richardson, -Heidegger: Through Phenomenology to Thought- sieht sich sogar dazu genötigt, von Aristoteles gleich zu Descartes überzugehen. 234 Hlw, 7. 235 Dies wird nach Heidegger am deutlichsten durch das Beispiel Descartes', der bekanntlich nach dem rechten Gebrauch der Vernunft, d.h. des Vermögens zu urteilen, fragt. Diese Frage nach dem rechten Gebrauch der Vernunft entspringt dem Willen zur Sicherung der Sicherheit, in der nach Heidegger der Mensch "inmitten des Seienden auf sich gestellt stehend, sich bringen muß und will." GA 54, 76. 232 233

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Stellung des letzten Denkers der Metaphysik zu236 , in dessen Philosophie sie zur Vollendung anhebt. Die im Denken Nietzsches beginnende Vollendung der Metaphysik kommt zum Durchbruch in der gegenwärtigen Epoche der Seinsgeschichte. Diese zeichnet sich dadurch aus, daß die durch Descartes vorbereitete und im Ansatz Kants radikalisierte Tendenz zur Vergegenständlichung für das technisch-wissenschaftliche Weltverhältnis unverzichtbar wird. Dieser Hang zur Verobjektivierung ist aber nicht auf Unzulänglichkeiten seitens der Wissenschaftler zurückzuführen. Vielmehr erwächst der Impuls, das Seiende zu vergegenständlichen, dem verbergend-entbergenden Seinsgeschick selber.237 Heideggers Augenmerk gilt daher der Frage, ob "das Einst der Frühe des Geschicks dann als das Einst zur Letzte (taxaTov) [käme], d.h. zum Abschied des bislang verhüllten Geschickes des Seins. "238 Damit soll angedeutet werden, daß die Kehre von der Vergessenheit des Seins zu dessen Wahrheit nur vom Sein selbst erfolgen kann. Ob es nun wirklich zu dieser Kehre kommen wird, ist im Grunde nur Gegenstand der Hoffnung. 239 Durch sein Denken versucht Heidegger eine Sensibilität, eine Bereitschaft für diese seinsgeschichtliche Kehre zu wecken. Eben in dieser Vorbereitung der Kehre vom Enteignis in das Ereignis des Seins, das durch das Zu-kommende des Gewesenen geprägt ist, besteht Heideggers Umgang mit dem Zu-denkenden der Überlieferung, wie dies aus der Seinsgeschichte hervorgeht.

VII. Anspruch und Kritik dieses Ansatzes Nach der Darlegung von Heideggers Denken in seinem Verhältnis zur abendländischen Philosophietradition im Lichte der Destruktion und der Seinsgeschichte stellt sich nun die Frage nach Sinn und Anspruch dieses Ansatzes. So unvermeidlich es ist, diese Frage zu stellen, so schwer ist es auch, sie in angemessener Weise zu beantworten. Denn zum einen hat Heideggers Philosophieren wie kein anderer Denkansatz im zeitgenössischen Verslehenshorizont zu Polarisierungen Anlaß gegeben. 240 Vgl. N.l. 464. Warum das Geschehen der Entbergung nun gleichzeitig Verbergung mit sich bringt, läßt sich nach Heidegger dadurch erklären, daß jede Entbergung endlich (perspektivisch) ist. 238 Hlw. 323. 239 M.a.W.: Ob "dem Menschen versagt sein könnte, in ein ursprüngliches Entbergen einzukehren und so den Zuspruch einer anfänglichen Wahrheit zu erfahren"(TK, 28), muß hier offen bleiben. 240 Von seinen Gegnern wird Heidegger in erster Linie ein fast schon an Irrationalismus grenzender Mangel an philosophischer Strenge vorgeworfen. Vgl. hierzu etwa T. Adomo, Jargon der E~entlichkeit, Frankfurt a.M. 1973; H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1975; M. Farber, Heidegger on the Essence of Truth, in: 236 237

VII. Anspruch und Kritik dieses Ansatzes

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Zum anderen hat nicht zuletzt Heidegger selbst immer wieder darauf hingewiesen, daß er kein Philosoph sei 241 und daß es ihm nicht darauf ankomme, ein in sich ruhendes philosophisches System zu entwickeln. Sein Anliegen bestehe vielmehr darin, "unterwegs im Wegfeld der Seinsfrage" zu verweilen, um so geglücktenfalls dem Sein eine "Stätte" für seine Selbstmitteilung zu bereiten. Mit diesem Hinweis soll kein Urteil über Heideggers Philosophie vorweggenommen werden. Denn ein solches Urteil müßte, um angemessen zu sein, Heideggers gesamtes Schaffen im Blick haben und zugleich die ganze Heidegger-Literatur zusammenschauen können. Abgesehen davon, daß selbst solch ein Verfahren nicht mit letzter Sicherheit über den möglichen "Wahrheitsgehalt" von Heideggers Denken befinden könnte, würde ein solches Vorhaben den hier gesteckten Rahmen bei weitem sprengen. So sollen die folgenden Bemerkungen in erster Linie auf die Schwierigkeiten aufmerksam machen, die eine Auseinandersetzung mit Heidegger mit sich bringt, ohne den Anspruch aufgeben zu wollen, einen Zugang zu Heideggers Frage gerade im Lichte ihrer möglichen Aporien zu suchen. So sollen nun zwei Fragenkreise erörtert werden, mit dem Ziel, die Probleme und Schwierigkeiten zu behandeln, mit denen sich die Untersuchung von Heideggers Verhältnis zur philosophischen Tradition im Horizont der Frage nach der Wahrheit besonders konfrontiert sieht. 1. Heidegger und das Lateinisch-Römische

Heidegger hat, wie die vorangehenden Überlegungen darzulegen versuchten, ein klares Bewußtsein davon, daß die Philosophie in ihrer metaphysischen Philosophy and Phenomenological Research 18 (1957/58) 523-532. Diese Tendenz wird in jüngster Zeit dadurch auf die Spitze getrieben, daß man das Denken Heideggers aufgrundseiner politischen Verstrickungen als eine gefährliche Ideologie auslegt. Vgl. hierzu v.a. V. Farias, Heidegger et Je nazisme, Paris 1987. Demgegenüber wurde Heideggers Philosophieren von seinen "Befürwortem" teils als der originellste, teils als der wichtigste Denksatz der zeitgenössischen Philosophie gesehen. Vgl. Hierzu z.B. M. Müller, Existenzphilosophie im Leben der Gegenwart, Heidelberg 31964; 0. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers. 241 Vgl. hierzu M. Heidegger, Briefan K. Löwith vom 19.8.1921, in: H. G. Gadamer (Hg.), Die Frage Martin Heideggers, Heidelberg 1969, 39: "[ ... ]ist zu sagen, daß ich kein Philosoph bin, und ich bilde mir nicht ein, auch etwas Vergleichbares zu machen." Oder, ders; in: H.G. Gadamer (Hg.), Die Frage Martin Heideggers, 37, Brief an K. Löwith vom 26.3.1924: "Es entsteht der Schein, als sollte durch [meine] Kritik etwas dem Negierten entsprechend Inhaltliches entgegen gestellt werden. Und als sei die Arbeit etwas für Schule, Richtung, Fortführung, Ergänzung. Die Arbeit ist beschränkt einmalig und kann nur von mir gemacht werden - aus der Einmaligkeit dieser Konstellation der Bedingungen." Ähnlich äußert sich Heidegger in einem Gespräch mit R. Wisser, in: R. Wisser (Hg.), Martin Heidegger im Gespräch, Freiburg-München 1970, 77.

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A. Zwischen Tradition und neuem Anfang

Gestalt die Grundbestimmung des Abendlandes ausmacht. Blickt man nun von hier aus auf die Interpretationen, die Heidegger von dieser Philosophie konstruiert, so sticht ins Auge, wie verschieden die Autoren und Epochen dieser philosophischen Vergangenheit Beachtung finden. Tatsächlich stößt man im Verlauf von Heiddegers Lektüre der Texte der Geschichte der Philosophie viel auf Anaximander, Heraklit und Parmenides, gefolgt von Platon, aber v.a. von Aristoteles. Desweiteren erfahren Descartes, Leibniz und SeheHing eine gebührende Aufmerksamkeit. Ebenso werden Kant, Hegel und Nietzsche ziemlich ausführlich interpretiert. Demgegenüber finden die Denker zwischen Aristoteles und Descartes kaum Beachtung. Am auffälligsten in dieser philosophiegeschichtlichen Auslegung ist, daß das lateinische Rom, aber auch das christliche Mittelalter fast gänzlich fehlen. Von einer ausgewogenen Darstellung der europäischen Philosophie kann daher eigentlich nicht die Rede sein. Dieses Unbehagen bleibt auch dann bestehen, wenn man • im Hinblick auf den ontologischen Horizont von Heideggers Fragen - geltend macht, daß es ihm nicht darum geht, die ganze Geschichte der Philosophie qua Metaphysik möglichst umfassend darzustellen, sondern vielmehr, im Lichte des Seinsgesc.;hicks, die Einheit der Geschichte der Metaphysik als durch ihren Anfang und Ende bestimmt zu begreifen. Denn im Duktus dieser Konstruktion ist die lateinische Welt- und mit ihr das christliche Mittelalterallenfalls als "Zwischenzeit" interessant, in der es zu keinem eigenständigen Denken gekommen ist. Gegen Heidegger muß zunächst hervorgehoben werden, wie wichtig der Beitrag des lateinischen Roms in der Weitergabe des griechischen Gedankenguts gewesen ist. Mehr noch: Ohne diesen Beitrag wäre uns der Zugang zur griechischen Welt nicht in der heute gekannten Weise möglich gewesen.242Und daß die lateinische Welt nicht imstande gewesen sei, eigenständig, d.h. ausgehend vom römischen Dasein zu denken, entspringt nur Heideggers eigener Sicht der Geschichte der Philosophie, die durch eine Vorliebe zum Griechischen bestimmt ist. 243 Heideggers Überzeugung ist nämlich, daß die griechische Sprache die Griechen zum Denken geradezu beflügelte, während das Lateinische vielmehr zur Herrschaft, zur Organisation und staatlicher Machtausübung befähigte. 244 Diese Sicht schlägt sich auch in 242 Wie sehr Rom für die europäische Kultur von entscheidender Bedeutung ist, zeigt in unseren Tagen z.B. der Versuch R. Bragues, in dem alles darauf angelegt ist, die nun angestrebte Vereinigung Europas im Lichte einer Besinnung auf das gemeinsame römische Erbe voranzutreiben. Vgl. R. Brague, Europe, Ia voie romaine, Paris 1992. Vgl. hierzu auch G. Haeffner, Auf der Römer~traße nach Europa, in: Stimmen der Zeit 210 ( 1992) 495-500.

243 Vgl. H. W. Petzet, Auf einen Stern zugehen. Begegnungen und Gespräche mit Martin Heidegger 1929-1976, Frankfurt a.M. 1983, 168-174. 244 Vgl. GA 54, 58: "Der für die Entfaltung des römischenfalsumdas Maß gebende Wesensbereich ist der des 'Imperiums' und des 'Imperialen'. Wir fassen hier diese Worte in ihrem strengen und ursprünglichen Sinne. 'Imperium' heißt der 'Befehl'. Wir verstehen

VII. Anspruch und Kritik dieses Ansatzes

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Heideggers Einschätzung der romanischen Sprachen nieder. 245 Demgegenüber erblickt Heidegger in den Deutschen die eigentlichen Nachfolger der Griechen.246 Denn sie sind in einer Sprache beheimatet, die sie philosophiefaltig macht. Wie dies aber konkret begründet werden soll, darüber schweigt sich Heidegger aus. 2. Das "Heute" und die Philosophie Wenn Heidegger Philosophie wesentlich als Philosophie ihrer Zeit bestimmt247, so macht er damit geltend, daß das Denken jeweils die Faktizität des "Jetzt" zu befragen hat. Nur so kann echtes Denken geschehen, das zugleich für das "Heute" relevant ist. Dieser Imperativ der Ausrichtung am "Heute" erweist sich besonders in Umbruchsituationen als geradezu unausweichlich. In solch einer Situation der Krise wähnt sich Heidegger am Beginn seines philosophischen Weges. Tatsächlich ergibt sich bei Heidegger- vornehmlich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg -die Erfahrung, daß die geistige Substanz des Abendlandes leer ist. Näherhin erlebt Heidegger die beiden Quellen, aus denen die europäische Kultur gespeist wird, nämlich das Christentum und die Philosophie, als erschöpft. Für Heidegger ergibt sich nun die Forderung, daß beide Stränge der geistigen Substanz des Abendlandes sich je auf eigene Weise schöpferisch - und nicht restaurativ - auf die eigenen Ursprünge besinnen müssen, wenn sie wieder "mächtiger sprechen" sollen. Auf die Philosophie bezogen bedeutet dies eigentlich einen Neuanfang, eine neue Art des Umgangs mit dem Überlieferten, die sich dadurch auszeichnet, daß der Denker stets aus der eigenen, heutigen, existentiellen Fraglichkeit auf die Möglichkeiten der Tradition zurückkommt, d.h. sich diese anzueignen sucht. Besonders in Umbruchssituationen kann man demnach deutlich spüren, daß das Interesse an der Tradition eindeutig von der Motivation geleitet wird, die Urkunden der Tradition auf ihre Bedeutung für die Bewältigung der gegenwär-

hier das Wort 'Befehl' allerdings in seiner späteren, nämlich römisch-romanischen Bedeutung." Vgl. hierzu auch GA 55, 20. 245 Nicht besser schneiden die angelsächsischen Sprachen ab. Auch sie sind nach Heideggers Einschätzung nicht fahig zur Philosophie. Ihre Stärke ist eher das Technischwissenschaftliche, auf deren Herkunft aus der Philosophie Heidegger paradoxerweise wiederholt hinweist. Vgl. hierzu "Nur ein Gott kann uns retten". Martin Heidegger im Gespräch mit Rudolf Augstein und Georg Wolff, in: Der Spiegel, 30. Jahrgang, Nr. 23 vom 31. Mai 1976, wiederabgedruckt in: G. Neske/E. Kettering (Hg.), Antwort. Manin Heidegger im Gespräch, Pfullingen 1988, 81-114. 246 Vgl. ebd. 247 Denn "philosophische Forschung [ist) der explizite Vollzug einer Grundbewegtheit des faktischen Lebens." PA, 239; Vgl. dazu auch GA 63, 18. 6 Ozankom

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A. Zwischen Tradition und neuem Anfang

tigen Aufgaben hin zu befragen.248 Durch sein Postulat der Beschäftigung mit der Tradition von der Gegenwart her undangesichtsder Gründe, die z.B. in Krisensituation den existentiell motivierten Rückgang auf die Tradition rechtfertigen, gelingt es Heidegger aufzuzeigen, daß jede Beschäftigung mit der Überlieferung grundsätzlich auf das Heute zugeschnitten bleibt. Denn nur aus meiner gegenwärtigen existentiellen Befindlichkeit kann ich auf Vergangenes zurückkommen, auch wenn die Stoßrichtung eine ganz andere ist. Denn es geht unter krisenhaften Bedingungen v.a. um ein existenzielles Interesse an der Tradition im Hinblick auf ihre mögliche Relevanz für die anstehenden Fragen249 Gegen Heidegger muß jedoch festgehalten werden, daß das Postulat eines dem Heute verpflichteten Denkens nicht auf das "Philosophische" reduziert werden kann. Denn eine Analyse dessen, was "Jetzt" ist, kann erst dann hinreichend fundiert sein, wenn sie möglichst alles, was die geistige Situation bestimmt, reflektiert. Eben dies wurde von Heidegger vernachlässigt. Diese Einseitigkeit im Denken zeigt sich schon daran, daß das Dasein in "Sein und Zeit" ziemlich monologisch konzipiert wird. Vollends unverständlich wirkt da-

248 Dieses Zugehen auf die Quellen der Tradition vom "Heute" her wurde bei anderen zeitgenössischen Denkern zur Maxime jeder Beschäftigung mit der Vergangenheit erhoben. Dies ist eindeutig der Fall z. B. bei E. Troeltsch, für den das Verstehen der Gegenwart das Ziel einer jeden ernsthaften Auseinandersetzung mit der Historie ist. Denn "sie ist eben die Gesamtlebenserfahrung unseres Geschlechtes, so gut und so weit wir uns ihrer zu erinnern und so gut und so nah wie wir sie auf unser eigenes Dasein zu beziehen vermögen. Stillschweigend arbeitet jede geschichtliche Forschung mit diesem Koeffizienten." Vgl. E. Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, Aalen 1963, 6. 249 Der Versuch, durch Interpretation der Geschichte zu verstehen, wo man heute steht, schließt das objektiv-historische Sammeln und Darstellen der Fakten nicht aus, sondern setzt es voraus. Demnach krankt die Kritik einer an der Gegenwart ausgerichteten Beschäftigung mit der Vergangenheit m.E. daran, daß zwischen beiden Ebenen nicht unterschieden wird. Dies scheint mir bei der Auseinandersetzung mit E. Troeltschs These einer Interpretation der Vergangenheit um der Gegenwart willen der Fall zu sein. Die Kritik kam hier v.a. von der sogenannten "Fachhistorie". So kritisiert etwa B. Schmeidler , Zur Psychologie des Historikers und zur Lage der Historie in der Gegenwart, in: Preußische Jahrbücher 202 (1925), 219-239; 304-327, daß "diese Sätze ebenso wie Troeltschs eigene historiographische Praxis rundweg abzulehnen [sind]" , 231; denn "sie sind in Wahrheit nichts als ein charakteristischer und adäquater Ausdruck des modernen schaffenslustigen Geistes und von dem einfachsten Verständnis für die grundlegenden Vorgänge wahrhaft historischen Schaffens himmelweit entfernt", 232. SehrneidleT schwebt demgegenüber das Ideal der pietätsvollen Historiker, die das vergangene Leben "um seiner selbst willen" (308ff.) lieben, vor. Ähnlich weist auch F. Meinecke darauf hin, daß Troeltsch der historischen Wissenschaft eine Aufgabe zuweist, die sie mit praktischen Zielen belastet und ihre "Bemühung um die reine Wahrheit" gefährden. Vgl. hierzu, F. Meinecke, Ernst Troeltsch und das Problem des Historismus, in: Deutsche Nation 1923; später, ders., Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, hrsg. v. E. Kessel, Stuttgart 1959, 367-378.

VIII. Heideggers Verhältnis zur Tradition mit einem Blick nach Afrika

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her Heideggers späterer Versuch, Dasein mit dem Begriff "Volk" zu ersetzen, ohne sich zuvor Rechenschaft darüber zugeben, was damit genau gemeint sein soll_250 Im Hinblick auf die Situation der afrikanischen Philosophie führt dies m.E. zu folgenden Konsequenzen: Mit Heidegger wird der afrikanische Intellektuelle sich darum bemühen, aus der eigenen Situiertheil heraus zu denken. Dies bedeutet, daß er den Drang nach schnellen Ergebnissen zügeln muß, um das "Heute" geduldig und gründlich analysieren zu können. Erst im Ausgang eines solchen Prozesses vermag er Ergebnisse und Wirkung zu zeitigen, die die jetzige Befindlichkeit der Afrikaner widerspiegelt und Lösungsvorschläge anbietet. Gegen Heidegger wird der afrikanische Philosoph sein Denken keineswegs auf ein vermeintlich "reines Philosophieren" reduzieren dürfen. Vielmehr wird er darauf aus sein, das, was relevant ist für die Situation Afrikas, in seine Reflexion aufzunehmen. Mit dem Erweitern des Forschungsfeldes ergibt sich ein Philosophieren, das den Akzent auf die Motivation setzt und interdisziplinär vorgeht.

VIII. Heideggers Verhältnis zur Tradition mit einem Blick nach Afrika Was ist aus Heideggers Denken, wie dies die voranstehenden Überlegungen darzulegen versuchten, für die zeitgenössische Problematik eines möglichst eigenständigen Philosophierens in Afrika gewonnen? Genauer: Welches Interesse hat für einen Afrikaner die Auseinandersetzung mit dem Denken Heideggers in seinem Verhältnis zur philosophischen Tradition? An dieser Stelle ist zunächst vorwegzunehmen, daß das Wirken Heideggers im heutigen Afrika durch den ausgezeichneten Rang seines Denkens durchaus spürbar ist. Denn wie alle "Denkmäler" der Philosophie wird auch Heidegger in Afrika rezipiert. 251 Dabei wird insbesondere seinem Hauptwerk "Sein und Zeit", das von der Wirkungsgeschichte her in die Nähe von Kants "Kritik der reinen 250 Vgl. hierzu SuZ, 384. 0. Pöggeler (Philosophie und Politik bei Heidegger, München 2 1974, 17) ist daher zuzustimmen, wenn er diesbezüglich zu folgender Einschätzung kommt: "Unvermittelt wird das Schicksal des Einzelnen bezogen auf ein übergreifendes Geschehen und ebenso unvermittelt die maßgebliche übergreifende Gemeinschaft als Volk angesprochen." 251 Nichtsdestoweniger wird man hier einräumen müssen, daß im Vergleich zu anderen Denkern wie Marx und sogar Sartre Heidegger mit erheblicher Verzögerung in Afrika rezipiert worden ist. Denn während etwa K. Marx durch das früh einsetzende Programm eines afrikanischen Weges des Sozialismus (vgl. v.a. Senghor und Nyerere) und durch den "Consciencisme" (vgl. N'krumah) in Afrika verhältnismäßig früh bekannt wurde und während J.P. Sartre durch Vorworte zu zahlreichen Werken von afrikanischen Denkern dem afrikanischen Publikum vertraut wurde, fand Heidegger erst im Zusammenhang mit P. Ricoeur und H.-G. Gadamer Eingang bei den Afrikanern, die in erster Linie an hermeneutischen Impulsen interessiert waren. 6*

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A. Zwischen Tradition und neuem Anfang

Vernunft" gehört, ein großes Gewicht zugeschrieben. Versucht man nun die Aktualität Heideggers für das südlich der Sahara gelegene Afrika einzuschätzen, so fallt ein Zweifaches auf: Zum einen wird die Beschäftigung mit Heidegger von einer kritisch-ablehnenden Haltung geprägt, die in der Hauptsache auf Heideggers vermeintlichem "Eurozentrismus" und seinen Äußerungen über den Universalismus der europäischen Kultur beruhen.252 Bei näherem Hinsehen handelt es sich hierbei um ein Mißverständnis der Heideggerschen Position. Denn daß Heidegger neben der europäischen Tradition der Philosophie keine andere verwertet, ist m. E. - anders als bei Hegel - kein Zeichen seiner Geringschätzung. Es ist vielmehr erstens ein Zeichen seiner Selbstbeschränkung253 , die nicht zuletzt durch die Unkenntnis anderer Sprachen begründet ist.254 Zweitens will Heidegger die anderen zum Selbstdenken mit ihren eigenen Mitteln, nach seinem formalen Vorbild, ermuntern, nicht zur Nachahmung. M.a.W.: Philosophie ist nach Heidegger nicht die im auserwählten Kontinent "Europa" stattgefundene Inkarnation der in sich universalen Vernunft. Sein Anliegen ist eher, herauszufinden, wie eine Kommunikation zwischen Denkern ganz verschiedener Kulturen möglich sein soll. Aber de facto studierten nur mehrere Japaner bei ihm und sonst keine Angehörigen anderer, nicht-europäischer Kulturen. Manche Japaner empfanden eine Nähe Heideggers zum Zen-Buddhismus. Umgekehrt ließ er sich selber nicht darauf ein. Er erhebt also keinen universalen Geltungsanspruch für das europäische Denken. Gleichwohlläßt sich fragen, warum er sich nicht für außer-europäische Philosophien interessierte, obwohl er die Krise der Wissenschaftstradition als tiefgehend empfand. Die Frage, warum er nicht nach außen geht, sondern die europäische Linie der Rückfrage hinter das unbefragt Vorausgesetzte fortführt (wie dies schon z.B. bei Descartes und Kant der Fall war) ist durchaus berechtigt. Dabei hat der Rückgang zu den älteren Schichten der Geschichte nicht den Sinn einer Renaissance, sondern einer Verfremdung der ganzen Tradition im Dienst eines Neuanfangs, die - wie oben aufzuweisen versucht wurde - durch "Welt" und "Zeitlichkeit" gegeben ist. Auf der anderen Seite aber gibt es in Afrika verschiedene Versuche denkerischer Aneignung von Heideggers Ansatz. Hierbei werden v .a. folgende Themenfelder als besonders wichtig für eine fruchtbare Begegnung mit Heidegger angesehen: Die Heideggersche Rede von der Eigentlichkeil und

252 Vgl. hierzu z.B. M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans I'Afrique actuelle, Yaounde 21979, 13f. 253 Vgl. M. Heidegger Brief an K. Löwith aus dem Jahre 1924: "Die Arbeit ist beschränkt einmalig und kann nur von mir gemacht werden - aus der Einmaligkeit dieser Konstellation der Bedingungen", zitiert nach K. Löwith, Gesammelte Schriften, Bd. 8,

277.

254 Vgl. hierzu Heideggers Gespräch mit dem Mönch aus Bangkok, in: H. W. Petzet, auf einen Stern zugehen, 175-192.

VIII. Heideggers Verhältnis zur Tradition mit einem Blick nach Afrika

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Uneigentlichkeit, seine Theorie der Zeit und seine Wendung zur Dichtung 255. Hinter all dem aber steht letztlich die Grundüberzeugung, daß Heideggers hermeneutischer Ansatz das geeignete Instrumentarium sei zur Erarbeitung eines "authentischen" Denkens, das bei den Grundbedingungen des eigenen In-derWelt-seins ansetzt. 256 Mit Rücksicht auf die leitende Problematik der vorliegenden Arbeit soll nun ein weiteres Feld möglicher denkerischer Aneignung in den Mittelpunkt gerückt werden, nämlich Heideggers Verhältnis zur Tradition.257 Denn ungeachtet von deren "Sitz im Leben" könnte es denkbar sein, daß Heideggers Überlegungen zu Destruktion und Seinsgeschichte gerade der Problematik eines möglichst angemessenen Umgangs mit der Tradition für den afrikanischen Intellektuellen den Weg weisen. Tatsächlich ist mit dem oben abschließenden Hinweis auf diskussionswürdige Punkte in Heideggers Umgang mit der Vergangenheit der Philosophie noch nicht darüber entschieden, ob dieser Denkansatz nicht doch noch eine Dimension aufzeigt, die gerade für den afrikanischen Denker von Bedeutung sein könnte. Eine Relevanz der Heideggerschen Ausführungen zum Traditionsverständnis im Lichte von Destruktion und seinsgeschichtlicher Besinnung für den afrikanischen Intellektuellen ist m.E. im Grundtenor dieses Ganges "ad fontes" zu suchen. Denn gerade hier tut sich eine Dimension im Heideggerschen Denken auf, die, bei allen Unterschieden, in die Nähe der Situation des afrikanischen Denkers gebracht werden kann. In der Tat: So wie Heidegger die Erfahrung macht, daß das überlieferte Gedankengut nicht einfachhin übernommen werden kann, sondern auf seine geschichtlichen Voraussetzungen hin transparent gemacht werden muß, so kann sich auch der Denker im heutigen Afrika nicht auf ein vorhandenes Gedankengut verlassen, das er nur zu übernehmen braucht. Auch letzterem bleibt nichts anderes übrig, als einen Zugang zur eigenen 255 Vgl. u.a. 0. Ugirashebuja, Le Iangage poetique, in: Langage et philosophie. Actes de Ia 4e semaine philosophique de Kinshasa, Kinshasa 1977, 325-332. 256 Vgl. hierzu z.B. 0. Okolo, Tradition et destinee. Essai sur Ia philosophie hermeneutique de P. Ricoeur, M. Heidegger et H.G. Gadamer, Lubumbashi 1979; ders., Pour une philosophie de Ia culture et du developpement. Recherehes d'hermeneutique et de praxis africaines, Kinshasa 1986; J. Kinyongo, Essai sur Ia fondation epistemologique d'une philosophie hermeneutique: Le cas de Ia discursivite, in: Presence Africaine 109 (1979) 11f., ders., Le Zaireenquete de son authenticite. Essai de philosophie africaine, in: Cahiers philosophiques africains 7-8 (1975) 5f. Ngoma-Binda, Pour une orientation authentique de Ia philosophie en Afrique: L'hermeneutique, in: Zaire-Afrique 17 (1977) 143f. 0. Nkombe, Metaphore et metonymie dans !es symboles paremio1ogiques, Kinshasa 1979; F: Eboussi-Boulaga, La crise du Muntu, authenticite africaine et philosophie, Paris 1977; M. Phoba, Authenticite, philosophie, developpement, in: Revue philosophique de Kinshasa 1 (1983) 81f. usw. 257 Einen luziden Versuch, Heideggers Anregungen für die Vermittlung zwischen Tradition und Rationalität in Afrika fruchtbar zu machen, stellt m.E. v.a. Okolos hermeneutischer Ansatz dar. Vgl. hierzu 0 . Okolo, La tradition comme mediation et symbole du sacre, Kinshasa 1987; ders., Tradition et avenir, Louvain-La-Neuve 1987.

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A. Zwischen Tradition und neuem Anfang

Tradition zu suchen, um sich deren Wahrheit anzueignen. Eben von diesem so angedeuteten existentiellen Angelpunkt des Denkens scheint wiederum eine Parallelität zwischen Heidegger und dem Afrikaner auf: Dieser wie jener bemühen sich in einer durch Kontinuität und Diskontinuität geprägten denkerischen Befindlichkeit immer wieder darum, die jeweilige "Weisheitstradtion" mächtiger sprechen zu lassen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist v.a. die Rolle, die Heidegger der Sprache zuschreibt. Denn wenn "sich im Wesen und Walten der Sprache jedesmal ein Schicksal entscheidet" 258, so scheint mir bei der Frage nach einem möglichst eigenständigen afrikanischen Denken - nicht zuletzt im Verhältnis zur Tradition- ein Nachdenken über die Sprache dieses Denkens unbedingt dazu zugehören.259 Ob und wie dies einen entscheideneo Beitrag zu einer angemessenen Weise des Umgangs mit der jeweiligen Tradition darstellt, soll im Anschluß an die Erörterungen von Towas und Elungus Verhältnis zur eigenen Überlieferung näher erläutert werden.

VA, 50. Der auf Englisch oder Französich denkende Afrikaner könnte hier in die Nähe des mittelalterlichen Mönches gerückt werden, der Latein sprach. Demgegenüber scheint mir, daß man die einheimischen Sprachen unbedingt aufwerten muß, wenn man die schöpferische Tätigkeit der Afrikaner fördern will. Denn dadurch wird die Grundlage bereitgestellt, auf der die Reflexionsfahigkeit die eigene existenzielle Situation in das eigene Denken besser und direkter einbeziehen kann. Näherhin schwebt mir im Falle der afrikanischen Sprachen jene "Dramatik" der Literaturwerdung der deutschen Sprache, an der M. Luther und Meister Eckhardt entscheidend beteiligt waren, vor. 258

259

B. Hermeneutik einer ganzheitlichen Befreiung: Zur Relevanz der afrikanischen Tradition im philosophischen Ansatz Marcien Towas Das Werk von Towa1 zählt gegenwärtig zu den viel beachteten und anspruchsvollen philosophischen Ansätzen im heutigen Afrika. Aufgrund der Vielfalt von Anknüpfungs- und Abgrenzungspositionen ist dieses philosophische Programm schwer auf einen Nenner zu bringen: Impulse der Hegeischen Philosophie, Rezeption von Cesaire unter Berücksichtigung des "consciencisme" N'krumahs sind gleichwohl die wichtigsten Eckpfeiler. Demgegenüber bilden die Auseinandersetzung mit dem "Eurozentrismus" einiger Denker2 sowie die Kritik der "Ethnophilosophie" und der "Negritude" Senghorscher Prägung ein zentrales Anliegen von Towas Philosophie. 3 Die explizite Thematisierung der Frage nach einem angemessenen Verständnis der Tradition spielt darin eine vergleichsweise bescheidene Rolle. Denn auch wenn Towa einräumt, daß das V ergangene das Gegenwärtige entscheidend prägt\ so gilt die ganze Kraft seines Schaffens in erster Linie der Hermeneutik der gegenwärtigen existentiellen Situation des modernen Afrikaners, verbunden mit einem Engagement für die Befreiung und die Entwicklung des südlich der Sahara gelegenen Afrikas. Und da er davon überzeugt ist, daß die Philosophie so etwas wie das Zentrum und die Kraft einer jeden Kultur darstellt, geht er der

1 Towa wurde in Endama (Kamerun) geboren. Er studierte Philosophie, Psychologie und Pädagogik in Caen, London, Moskau und Paris. Nach der Promotion zum Doktor der Philosophie mit einer Arbeit über die "Poesie de Ia negritude: Approche structuraliste", wirkte er mehrere Jahre an der "Ecole normale superieure" von Yaounde (Kamerun). In seiner "these de doctorat d'Etat" befaßte er sich mit dem Thema "ldentite et transcendance: examen d'un dilemme de Ia pensee africaine moderne". M. Towa ist nach verschiedenen Dozenturen ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität von Yaounde. 2 Die wichtigsten Gesprächspartner Towas sind - wie spätere Ausführungen es aufzuzeigen versuchen - Hege! und Heidegger. 3 Daß die Kritik der Ethnophilosophie und der Negritude a Ia Senghor ein zentrales Anliegen Towas darstellt, soll an einem späteren Ort eigens erörtert werden. 4 Dies bekräftigt er mit folgenden Worten: "Je passe subsiste dans le present en ceci que notre situation presente resulte du passe. Ce que nous sommes en propre, notre essence, provient de notre passe. U reside le fondement du fait que Je passe constitue une dimension ineluctable de tout ce qui peut etre entrepris dans Je present." M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans l'afrique actuelle, Yaounde 21979,49.

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8. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

Frage nach, ob und unter welchen Voraussetzungen sie dem Prozeß des "Wachund Bewußtwerdens" in Afrika den unentbehrlichen Halt geben könnte. 5 Eben im Lichte der so angedeuteten denkerischen Grundlage wird das Problem eines adäquaten Verhältnisses zur eigenen Überlieferung in der nahezu gesamten Bandbreite seines Ansatzes verhandelt, insofern es Towa immer wieder darum geht, die Rolle der Tradition mit Blick auf die Bewältigung der heute in Afrika anstehenden Aufgaben zu untersuchen. Über all dem aber steht - das zeigen die im Rahmen der vorliegenden Arbeit untersuchten Veröffentlichungen besonders eindrucksvoll - Towas Ringen um die Grundlegung eines wissenschaftlich fundierten Philosophierens in Afrika.6 Um das soeben angedeutete Programm geht es im folgenden. Im Brennpunkt der Erörterungen steht die Frage, ob und inwiefern Towa ein dem existentiellen Angelpunkt des Denkens gemäßer Zugang zur Tradition in bezug auf Afrika gelingt. Demnach vollzieht sich der Gang der Überlegungen in folgenden Schritten: 1. Der "Ort" Towas; 2. Schicksal und Kultur; 3. zwischen Tradition und Traditionalismus; 4. Towa und die Philosophie in Afrika; 5. Anspruch und Kritik dieses Ansatzes.

I. Der "Ort" Towas Towa, dem der Zugang zur Philosophie durch eine Arbeit über Hege! und Bergson7 eröffnet wurde, entwirft seinen philosophischen Ansatz v.a. in der Auseinandersetzung mit der akademischen Philosophie des Westens. 8 Einfluß 5 Vgl. hierzu z.B. folgende repräsentative Äußerung: "... notre dessein principal devrait etre de parvenir aune saisie et aune expression philosophiques de notre 'etredans-le-monde' actuel et a une deterrnination de Ia mani~re de prendre en charge et de l'inflechir dans une direction definie." M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans l'Afrique actuelle, 35. 6 Vgl. u.a. M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans l'Afrique actuelle; ders., L' Idee d'une philosophie negro-africaine, Yaounde 1979. 7 Tatsächlich erwarb M. Towa im Juni 1960 seinen "D.E.S." in Philosophie mit einer Arbeit über: "Hege! et Bergson". 8 Man kann - leicht verallgemeinernd - die afrikanische Philosophie in zwei Hauptgruppen aufteilen: Die Ethnophilosophie und die akademische Philosophie westlicher Prägung. Neben diesen beiden Haupttendenzen gibt es auch eine hermeneutische Schule, die sich der Interpretation der afrikanischen Sprichwörter, Mythen, usw. widmet. Dennoch kann man diese Philosophieschule, je nachdem, ob sie etwa in den Sprichwörtern ein Denken voraussetzt, das es nur noch offenzulegen gilt, oder ob sie die Interpretation der existentiellen Befindlichkeit des Afrikaners heute zum Ziel setzt, zu einer der Hauptgruppen zählen. Als Repräsentanten der Ethnophilosophie kann man neben deren "Begründer" P. Tempels, A. Kagame, V. Mulago zählen. Zu den Anhängern der westlich-akademischen Philosophie gehören M. Towa, P. Hountondji, P.E. Elungu, F. Eboussi-Boulaga, usw. Die hermeneutische Schule wird v.a. durch 0 . Nkombe, N. Tshiamalenga, 0. Okelo vertreten.

I. Der "Ort" Towas

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auf ihn behielten aber auch die Begegnung mit der "Negritude"9 und mit dem "consciencisme." 10 Sucht man nun Towas Rezeption der europäischen Philosophie auf ihre Bedeutung für den eigenen Denkansatz hin zu durchleuchten, so kann festgehalten werden, daß es ihm nicht um Wiederaufnahme oder Wiederholung der Themen und Weichenstellungen dieser Philosophie geht, sondern vielmehr um das Freilegen und Entdecken dessen, was nicht nur im Mittelpunkt dieser Philosophie steht, sondern auch zum Teil unthematisch mitschwingt, für die Problematik eines verantwortbaren Philosophierens in Afrika - in dessen Lichte die Frage nach dem Stellenwert der Tradition für die existentielle Befindlichkeit des modernen Afrikaners bei Towa gestellt wird - fruchtbar zu machen. 11 Eben beim Ansatz, im Abendland gleichsam Fürsprecher für die Sache des Denkens auch für Afrika zu suchen 12 , stößt Towa auf die Gestalt der Philosophie Hegels. Näherhin konzentriert sich Towa beim Versuch, den entscheidenden Gehalt des Hegeischen Denkgebäudes transparent werden zu lassen, ganz auf dessen Bestimmung der Philosophie als "Denken des Denkens" 13 ,

9 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß es sich bei der Negritude um eine Bewegung handelt, die im Paris der dreißiger Jahre in der Hauptsache durch A. Cesaire, L.S. Senghor und L. Damas aus der Taufe gehoben wurde. Was Towa anbelangt, so kann hier festgehalten werden, daß er in zwei entgegengesetzten Richtungen in der Tradition der Negritude steht. Tatsächlich versucht er -in positiver Hinsicht - Impulse aus dem Werk A. Cesaires zu holen, dessen kämpferische Stoßrichtung für das Ziel einer umfassenden Befreiung Afrikas er in den eigenen Ansatz fruchtbringend aufnehmen möchte. Demgegenüber läßt er geradezu keine Gelegenheit aus, um das Denken L.S. Senghors, wie später aufzuzeigen versucht wird, als eine gefährliche "Biologisierung" des Kulturellen aufzuweisen, die für die Entwicklung Afrikas von keinem Nutzen sein kann. 10 In den sechziger Jahren begründete der ghanaische Denker Kwame N'krumah den "consciencisme". Dieser Denkrichtung schrieb er die Aufgabe zu, eine philosophische Begrifflichkeil zu erarbeiten, die die Schwarzafrikaner dazu befähigen würde, sich Elemente aus dem Abendland und Orient in adäquater Weise anzueignen. Vgl. K. N'kwame, Le Consciencisme, Paris 1964, 20. In diesem Denkansatz meint Towa den Willen zu erkennen, ein philosophisch fundiertes Programm der Befreiung Afrikas politisch Wirklichkeit werden zu lassen. II Wie sehr Towa aus der Philosophie europäischen Zuschnitts für das Projekt einer Befreiung durch Erkenntnis in Afrika Nutzen ziehen will, zeigt folgende Äußerung: "S'il est vrai que Ia philosophie europeenne moderne se preoccupe essentiellement de developper l'emprise de l'homme sur le milieu physique et humain par Ia mectiation d'un savoir rigoureux, scientifique et libre, alors elle pourrait bien constituer le domaine privilegie de Ia culture europeenne qu'il importe d'explorer avec soin afin de percer le secret de Ia victoire de l'Europe sur nous et par Ia meme de decouvrir Ia voie de notre Iiberation." M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans l'Afrique actuelle, 67. 12 Ähnlich suchte etwa Heidegger bei Kant einen Kronzeugen für die von ihm gestellte Frage nach dem Sein. Vgl. hierzu KM, Vorwort zur vierten Auflage. 13 G.W.F. Hege!, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II (G.W.F. Hege!, Werke in 20 Bänden, Bd. 19), Frankfurt a.M. 1971, 163.

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

d.h. jenes Denken, das sich selbst zum Objekt hat, das Allgemeine, das sich selbst zum Inhalt hat. Die Philosophie ist, so gesehen, gleichbedeutend mit dem Denken überhaupt, sofern dieses das Fundament aller menschlichen Aktivitäten oder jene Quelle ist, der alles Menschliche entspringt. 14 Zugleich setzt die so gekennzeichnete Philosophie die Bereitschaft und den Willen zur schonungslosen Kritik der philosophischen Tradition und des kulturellen Erbes voraus. Mit Rücksicht auf die Situation Afrikas bedeutet dies, daß die Fähigkeit zur gründlichen Kritik Dreh- und Angelpunkt von Towas Umgang mit der eigenen Überlieferung und für seine Beurteilung der afrikanischen Philosophieentwürfe wird, bevor die Frage nach einer afrikanischen Philosophie und nach ihrem möglichen Beitrag zur Entwicklung des Kontinents gestellt werden kann. Diesem Desiderat gehorchen im Grunde genommen auch Towas Auseinandersetzung mit der Ethnophilosophie sowie seine Kritik der Negritude.

II. Schicksal und Kultur: Die Frage nach dem genuin Schwarzafrikanischen Im folgenden geht es darum, das geistige Klima näher zu bestimmen, in dell) der afrikanische Denker seine Existenz vollzieht. Dieser Schritt ist deshalb notwendig, weil sich Towas Erörterungen des Begriffs der Tradition ganz auf der Grundlage einer Krise vollzieht, auf die viele afrikanische Autoren mit dem Versuch einer Aufwertung der eigenen Überlieferung reagieren, die nach Towa dem Postulat eines kritisch-angemessenen Umgangs mit der eigenen Vergangenheit nicht gerecht wird. Tatsächlich kann man beim Versuch, die geistige Befindlichkeit des modernen afrikanischen Intellektuellen auf einen Nenner zu bringen, sie am ehesten als eine durch eine tiefe Krise bestimmte Situation kennzeichnen. Diese Krise wurde in der Hauptsache durch die Begegnung Afrikas mit Europa hervorgerufen.15

14 Die so bestimmte Philosophie ist nach Hege! das Monopol des Abendlandes. Man findet sie weder bei den Indianern noch bei den Afrikanern. Die Konsequenz des Hegeischen Ansatzes teilt Towa nicht. Dies meint er, wenn er herausstellt: "Nous retenons en somme Ia definition hegelienne de Ia philosophie, sans pour autant endosser les consequences que Hege! en tire, mais qui n'en decoulent pas necessairement." M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans l'Afrique actuelle, 67, Anm. 13. 15 Vgl. hierzu 0. Bimwenyi, Discours theologique africain. Probleme des fondements, Paris 1981, 369: "La civilisation occidentale marquee par Ia rationahte scientifique et technique a envahi l'Afrique [... ] Cette affirmationdes changements sociaux et culturels intervenus ou en cours dans l'Afrique subsaharienne a sa part, importante, de verite." Vgl. hierzu auch M. Towa, Identite et transcendance, 4: "Ce qui caracterise avant tout nos rapports actuels avec l'occident, c'est Ia dependance. Celle-ci n'est pas seulement econornique et politique, elle a un caractere global et affecte aussi Ia sphere culturelle et ideologique... "

II. Schicksal und Kultur: Die Frage nach dem genuin Schwarzafrikanischen

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In der Tat: Seit dem mit der Eroberung Afrikas verbundenen "Kulturschock" durchlebt der afrikanische Intellektuelle eine Zeit der Krise. Die Welt, in der er sein Dasein entfaltet, kann nicht mehr einfachhin mit den herkömmlichen Mustern interpretiert und bewältigt werden. Daraus erwächst eine oft nicht offen zugegebene Situation der Hilflosigkeit und der geistig-kulturellen Orientierungslosigkeit. Denn losgelöst von den Wurzeln der traditionellen Gesellschaft steht der moderne Afrikaner zwischen zwei Welten, der traditionellen und der neuen, denen er gleichermaßen nicht voll angehört und daher fremd ist. Er steht gleichsam zwischen Vergangenheit und Zukunft, ohne zwischen beiden zufriedenstellend vermitteln zu können. 16 Es handelt sich um eine Krise, die, durch ein Zusammenspiel von Ausbeutung und Anpassung begünstigt, letztlich zu einem Verlust von Selbstwertgefühl und Selbstbewußtsein geführt hat, verbunden mit einer Preisgabe der traditionellen Werte zugunsten des in erster Linie von Europa neu Eingeführten. Diese mit der Erfahrung der Krise verbundene Erfahrung faßt Towa folgendermaßen zusammen: "Die erste Erfahrung des kolonisierten Schwarzen nach dem Zusammenbruch seiner herkömmlichen Weltordnung war ein Bestaunen des siegreichen Westens: Davon fasziniert, hatte der Schwarze bald nur einen Wunsch, nämlich seiner besiegten und entwerteten Welt zu entkommen, um sich der neuen Welt zuwenden zu können, die er zunächst zwar in einer globalen Ununterschiedenheit als unklar, ohne Konturen und Formen, dennoch als funkelnd wahrnahm. Dies war der erste Schritt zur Assimilierung, der Anfang der Illusion, daß die Okzidentalität. sei sie nur erduldet, dem Schwarzen seine verlorene Menschenwürde zurückerstatten würde." 17 Nach der Phase der grenzenlosen Bewunderung für das Europäische - in der die Nachahmung der Europäer das oberste Gebot der Stunde zu sein schien wurde der Afrikaner doch noch gewahr, daß auch die Zivilisation des Weißen ihre Schwachstellen und Tücken hat. Mehr noch: Nachdem der Prozeß der Assimilierung nicht den gewünschten Effekt gezeitigt hatte und dem Schwarzafrikaner klar wurde, daß er nie ein Europäer werden sondern - bei aller Bemühung, dem Europäer in allem gleich zu werden - von diesem nicht als ebenbürtig respektiert und angenommen werden würde, setzte ein Prozeß des Nachdenkens über die eigene Identität ein, dessen erklärtes Ziel die Rückbesinnung auf die eigene Tradition war, um diese in ihrem oft nicht klar definierten Wahren und Eigentlichen vor dem Verschwinden und vor einer als bedrohlich empfundenen "Verwestlichung" zu bewahren. 18

16 Vgl. hierzu J. Mbiti: "La tension entre ces deux moments n'est cause [... ] ni d'harmonie ni de force creatrice." J. Mbiti, Religions et Philosophie africaines. Etudes et documents africains, Yaounde 1972, 227. 17M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans l'Afrique actuelle, 23f. (Übersetzung des Verfassers. Im folgenden mit "Übers. d. V." abgekürzt). 18M. Towa ist daher zuzustimmen, wenn er zusammenfassend die "Ideologien" der Dritten Welt im allgemeinen und die Ideologien Schwarzafrikas im besonderen als durch

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

Fragt man nun, welche kulturellen Elemente das genuin Afrikanische auszeichnen und wie diese nun konkret vor einer vermeintlichen Auflösung im Zuge einer angeblich zunehmenden Europäisierung der Weltzivilisation geschützt werden können, so wird man auf das vorkoloniale Afrika zurückverwiesen, wobei die Rettung der Kulturen Afrikas, wenn schon nicht in einer Wiederherstellung der vorkolonialen Werte, so doch zumindest in einem Festhalten am Heutigen gesehen wird. Der so angestrebte Gang "ad fontes" ist in zweifacher Hinsicht problematisch. Erstens läßt sich das typisch Afrikanische vor der Begegnung mit Buropa nicht mehr eindeutig ermitteln. Zweitens birgt die oft als Lösung aller Probleme im zeitgenössischen Afrika empfohlene restaurative Wiedereinführung vom vermeintlich Vorkolonialafrikanischen die Gefahr in sich, den Blick vom Heute abzulenken und gerade dadurch die globale Abhängigkeit des Kontinents zu besiegeln. Letzteres hat Towa wohl vor Augen, wenn er vorsichtig heraushebt: "Das Bewahren unserer Kulturen in ihrem gegenwärtigen Stand käme dem Versuch gleich, ihren Verfall und ihre Abhängigkeit zu besiegeln." 19 1. Das vorkoloniale Afrika und seine Identität

Die erste Schwierigkeit, der sich jeder stellen muß, der dem ursprünglich Afrikanischen gleichsam zu seinen Rechten verhelfen will, ist die Frage, wie dies näher gekennzeichnet werden kann. In der Tat: Afrika ist ein derart alter und großer Kontinent, der dazu von verschiedenen Epochen und Kulturgestalten geprägt worden ist, daß es weder möglich noch sinnvoll ist, diese Form der Kultur oder jene Epoche als repräsentativ für ganz Afrika zu postulieren. Näherhin geht es darum, angesichts des kulturellen Reichtums, den die Tradition Afrikas aufweist, zuallererst die Kriterien anzugeben 20, mit denen das Wesentliche vom Kontingenten unterschieden werden kann, damit die Frage nach dem eigenen Selbst Afrikas angemessen gestellt und beantwortet werden kann. Einen Zugang zu dem genuin Afrikanischen sucht Towa nicht direkt, sondern indirekt, nämlich im Nachdenken über den Begriff der schwarzen Identität im Denken E. W. Blydens und L. S. Senghors. Diese Vorgehensweise ist zum einen deshalb gewählt, weil beide Autoren einen nachhaltigen Einfluß auf die zeitgenössischen Theorien über die afrikanische Identität ausgeübt haben und zum anderen, weil eine Zusammenschau und eine Diskussion der verschiedenen

das Thema "Identität" gekennzeichnet ansieht. Vgl. M. Towa, Identite et transcendance,

4.

19M. Towa, ldentite et transcendance, 4, (Übers. d. V.). Vgl. hierzu, M. Towa, ldentite et transcendance, 5: II "se pose ici Ia question du critere de distinction entre ce qui est accessoire et ce qui est essentiell dans Ia foisonnante riebesse des traditions culturelles africaines." 20

II. Schicksal und Kultur: Die Frage nach dem genuin Schwarzafrikanischen

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Identitätstheorien und ihre Anwendbarkeit auf das moderne Afrika von Towa als nicht zweckmäßig eingeschätzt wird. 21 a) Blyden und die schwarze Identität E. W. Blyden (1832 - 1912) gehört nach Towas Einschätzung zu den wichtigsten afrikanischen Denkern der vorkolonialen Zeit. Mehr noch: "Seine Werke und zahlreiche Aufsätze, die in den angesehensten Zeitschriften in England und in den U.S.A. veröffentlicht wurden, machten ihn zur ersten modernen afrikanischen Persönlichkeit von internationalem Rang und zum Wortführer einer Rasse." 22 Versucht man nun das Werk Blydens auf sein leitendes Motiv hin zu befragen, so steht immer wieder, neben Themen wie der Widerlegung des vermeintlich angeborenen Minderwertig-seins des Schwarzen, dem Versuch einer Relativierung des Ethisch-religiösen oder der Frage nach dem Warum der Kolonialisierung Afrikas, der Wille zur Apologie der schwarzen Seele in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Diese "äme noire" (schwarze Seele), die das Proprium des schwarzen Menschen ausmachen soll, ist bei näherem Hinsehen aber nichts anderes als ein nicht definiertes Ganzes, das sich aus Institutionen, religiösen Einstellungen, Sitten, Gebräuchen, Gewohnheiten usw. zusammensetzt. Es geht also um die Quintessenz der afrikanischen Tradition, die Blyden wieder rehabilitieren und aufwerten möchte. Auf diese als "äme noire" bestimmte Tradition muß sich der Afrikaner nun besinnen, um sie wieder "mächtiger" sprechen zu lassen und schützen zu können. Dies unterstreicht Towa, wenn er festhält, daß "Blydens Ansatz Themen wie Differenz und Identität, Erhaltung des eigenen Wesens in der Differenz in adäquater Weise zur Geltung bringt." 23 Neben der oben bereits angedeuteten Schwierigkeit, daß keine Epoche oder Kultur in der Geschichte Afrikas als das eigentlich typisch Afrikanische hinge21 "Nous avons pense qu'en exposant avec quelque precision Ia conception blydienne et Ia conception senghorienne de l'identite, nous respecterions mieux I'objectivite historique qu'en faisant appel a toutes !es Oeuvres ou il est question de cette notion. Cette demiere methode Iaisserait Je champ libre a l'arbitraire et a Ia confusion. Le choix de Blyden peut se justifier par l'anciennete relative et l'ampleur de son oeuvre et de ses vues. Quant a l'oeuvre de Senghor nous l'avons choisie en raison de ses pn!tentions philosophiques qui amenent l'auteur a pousser sa doctrine jusqu'a ses consequences extremes, et aussi en raison du röle important de Ia personnaHte meme de Senghor dans Je contexte africain actuel." M. Towa, ldentite et transcendance, 6. 22M. Towa, ldentite et transcendance, 20, (Übers. d. V.). Blydens Werk gilt nach Towa als eine Art "Negritude" des 19. Jahrhunderts: "Aiors que Ia traite des Negres et l'esclavage en Amerique etaient encore d'actualite, Blyden, servi par une vaste erudition a developpe avec une remarquable ampleur et profondeur tous les themes essentiels de ce qui, pres d'un siede plus tard, devait s'imposer sous le nom de negritude." M. Towa, Identite et transcendance, 18. 23M. Towa, Identite et transcendance, 51, (Übers. d. V.).

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

stellt werden kann, birgt die These der "äme noire" die Gefahr in sich, die Tradition zu einer unbeweglichen Entität zu deklarieren, wobei das Verhältnis zwischen Rasse und Kultur ungeklärt bleibt. Eben in diesem Verständnis der Tradition als etwas für immer Feststehendes sieht Towa die Versuchung vieler Afrikaner, das Heil in der Vergangenheit zu suchen, während über die Lösung der anstehenden Probleme - zu der eine schöpferische Hermeneutik der Tradition ihren Beitrag leisten könnte- nicht hinreichend reflektiert wird. 24 Dieses Verständnis der Tradition, der eine Identität entspringt, die dem Afrikaner zu allen Zeiten eignet, liegt nach Towa auch bei L. S. Senghor vor. b) Senghor und die "Negritude" In seinem Buch mit dem Titel: "Leopold Sedar Senghor, Negritude ou Servitude", versucht Towa exemplarisch vor Augen zu führen, wie sehr das Verlangen einer Stärkung des Selbstwertgefühls mit verklärtem Blick auf die afrikanische Weltanschauung dem afrikanischen Denker den Weg zur Philosophie im Sinne von Befreiung durch Erkenntnis erschweren kann. Infolgedessen sucht Towa das Werk Senghors auf seine Voraussetzungen und Grundtendenzen hin zu durchleuchten. Hierbei wird Towa von der Intuition geleitet, das Werk Senghors weise eine denkerische Verwandtschaft mit den Thesen Levy-Bruhls, Gobineaus, Tempels, usw. auf. Towa fühlt sich zu dieser Annahme deswegen berechtigt, weil die Gedichte Senghors - mit zwei Ausnahmen, nämlich "A l'appel de Ia race de Saba" und "Perceur de tarn-tarn"eine ethnozentrische Stoßrichtung aufweisen. Folgender Gedankengang ist für die Argumentation Towas entscheidend: Wenn Senghor angesichtsdes verhöhnten Schwarzen zu Vergebung, Liebe, Versöhnung und Frieden einlädt - statt zum notfalls gewaltättigen Befreiungsschlag der Schwarzen aufzurufen - so meint er damit, auf genuin afrikanische Werte zu setzen. Mehr noch: Aus diesen vermeintlich zutiefst afrikanischen Idealen meint Senghor eine Identität zwischen der schwarzen Kultur und der schwarzen Rasse postulieren zu können. Die Frage, die sich daher bei Towa aufdrängt, lautet: Was ist nun mit diesem Herausstellen des spezifisch Schwarzen gewonnen? Genauer: Welche Beziehung gibt es denn zwischen dem Biologischen (schwarzer Rasse) und dem Kulturellen (schwarzer Kultur)? Mit diesem Fragenkreis wird letztlich darauf abgezielt, Senghors Thesen, wonach der Schwarze durch die Fähigkeit zur Emotion geprägt ist, zu widerlegen. Denn offenbar handelt es sich hierbei um eine Biologisierung des Kulturellen, d.h. um eine Verwechslung zwischen dem Biologischen und dem 24 Vgl. hierzu M. Towa, ldentite et transcendance, 330: "La doctrine des genies nationaux, de l'iime des peuples repose generalement sur Ia reduction du culturel au nature!. Elle consiste a figer, a perenniser des traits culturels donnes, alors que tout trait culturel est toujours contigent et transitoire."

II. Schicksal und Kultur: Die Frage nach dem genuin Schwarzafrikanischen

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Kulturellen. Tatsächlich verficht Senghor die These, daß die Emotion des Schwarzen kein bloß kulturelles Phänomen ist. Vielmehr mache sie im Zusammenspiel von Rasse, Lebensraum und Überlieferung das Spezifikum des schwarzen Menschen aus. Allein diese These Senghors kann durch nichts wissenschaftlich fundiert begründet werden. Denn es gibt keine Anhaltspunkte, die für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Biologischen und dem Kulturellen geltend gemacht werden, wie dies von Senghor intendiert wird. 25 Folgt man aber demgegenüber Senghors Behauptungen, die die kulturellen Errungenschaften der Schwarzen auf deren Emotionalität zurückführen, so ergeben sich folgenschwere Konsequenzen: Wissenschaft, Technik, kurzum die ratio, sind das Monopol der Europäer. Die sich hier anmeldende Schwierigkeit scheint Senghor nicht als schwerwiegend genug einzuschätzen. Sonst würde er den schwarzen Menschen nicht einfachhin dazu einladen, sich auf eine m.E. einer Selbstaufgabe gleichkommenden Weise der Welt der Technik anzupassen, indem er den Führungsanspruch der Europäer akzeptiert und anerkennt in der Hoffnung, daß es eines Tages keine Rassen mehr gibt, sondern nur noch eine Rasse, die der "Mischlinge". Die Sichtweise des Schicksals der Schwarzen wirft eine wichtige Frage auf, auf die Senghor aber nicht eingeht: Was wird nun der Beitrag des Schwarzen beim Zusammentreffen des Gebens und Nehmens sein, das Senghor vorschwebt, da der Schwarze unfähig zur ratio ist? Dies bestätigt Towa, wenn er über beide Autoren schreibt: Blyden und Senghor sind "Spiritualisten. Sie halten den Schwarzen in einer unveränderbaren Identität gefangen." 26 2. Kritik der Apologie der "äme noire"

"In Wirklichkeit", so Towa, "ist die schwarze Seele oder die schwarze Essenz nur ein anderes Etikett, das auf einen kontingenten Stand der afrikanischen Kulturen in einer bestimmten Phase ihrer Entwicklung geklebt wird." 27 In diesem vernichtenden Urteil kommt die Quintessenz der Kritik Towas an der These der "äme noire" zur Sprache. Hierin ist alles darauf angelegt, diese These in erster Linie als ein Festhalten an kulturellen Elementen einer bestimm-

44.

25

Vgl. M. Towa, Civilisation industrielle et negritude, in: Abbia 19 (1968) 31-45; 43-

26 M. Towa, ldentite et transcendance, 116, (Übers. d. V.). Demgegenüber muß dennoch festgehalten werden, daß Blyden vornehmlich theologisch argumentiert, während Senghor in erster Linie ein Dichter ist: "Senghor est d'abord un poete et grammairien. Mais depuis une quinzaine d'annees il ne publie plus de poesie, alors que Ia publication des textes en prose se fait a une cadence acceleree." M. Towa, Identite et transcendance, 162. 27M. Towa, Identite et transcendance, 197, (Übers. d. V.).

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

ten Epoche der Geschichte Afrikas aufzuzeigen, verbunden mit dem Ruf "Back to the roots", das die Orientierung nach rückwärts mancher Denkansätze bei afrikanischen Autoren erklären könnte. Zum anderen aber ist dieses starre Verständnis nicht dazu geeignet, einen Beitrag zur angestrebten ganzheitlichen Entwicklung Afrikas zu leisten. Wie kann dies nun gedacht werden? Ausgangspunkt ist folgende Überlegung: Die Identitätskrise, die in Afrika v .a. bei den Intellektuellen zu beobachten ist und der u.a. Blyden und Senghor durch das Heraustellen der "äme noire" als das Wesentliche der afrikanischen Tradition zu begegnen suchen, ist nur ein Indiz für die Krise, die alle Dimensionen des Daseins der modernen Afrikaner berührt. Die einzige angemessene Konsequenz, die sich angesichts dieser Krise nahelegt, ist die Suche nach Lösungsansätzen, die ähnlich wie die Krise selbst umfassend sein sollten. Anders ausgedrückt: Indem der Akzent nur auf einen Aspekt dieser Krise gesetzt wird, geht der Blick für die Dimension der Sachlage verloren. Und indem man aus der "äme noire" als Quintessenz der afrikanischen Tradition eine "statische", unbewegliche Entität macht, verbaut man sich die Möglichkeit eines schöpferischen Umgangs mit dem eigenen kulturellen Erbe. Denn nur eine dynamisch-schöpferische Zugangsweise zur Überlieferung wird dem "Unterwegs-Charakter" einer jeden Kultur gerecht und bietet die Möglichkeit zur Innovation. Dies gilt nicht zuletzt für die afrikanischen Kulturen, wie Towa anmerkt: "Die Authentizität der schwarzen Kulturen wird vielmehr durch ihren Reichtum, ihre Entwicklungsfähigkeit und ihre Verletzbarkeit, auch in der Begegnung mit Europa, als durch ihre vorgebliche Einheit und Unveränderbarkeit dokumentiert. Durch die Verletzbarkeit unserer Kulturen zeigt sich ihr geschichtlicher und zutiefst menschlicher Charakter. "28 Jede Kultur entspringt demnach einem schöpferischen Prozeß, in dem die verschiedenen Elemente verändert, umgewandelt, angepaßt, neugeschaffen und weiter tradiert werden, so daß eine Erstarrung dieser Elemente ein Auseinanderklaffen zwischen dem Tradierten und den Erfordernissen des jeweils konkreten Lebens nach sich zieht. Bedenkt man demgegenüber, daß der Mensch sich durch seine Fähigkeit zur Anpassung auszeichnet, so erweisen sich die verschiedenen tradierten Elemente der Kultur als jene Instrumente, derer er sich zu bedienen hat, um seine Existenz menschenwürdig und situationsgerecht zu gestalten. Demzufolge würde eine Festlegung auf eine bestimmte Gestalt oder Epoche der Kultur dem grundsätzlich auf Bewegung, Veränderung angelegten Charakter der ÜberliefertenElemente der Kultur widersprechen.29

28M. Towa, ldentite et transcendance, 352, (Übers. d. V.). 29 "Poser en principe Ia culture constituee, intellectuelle ou pratique, comme immuable, entraine son inadaptation au milieu, Ia condamne a tourner a vide, a se scleroser et a disparaltre rapidement ou lentement." M. Towa, ldentite et transcendance, 522.

III. Zwischen Tradition und Traditionalismus

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Es zeigt sich also: Jede Tradition (und die aus ihr hervorgehende Kultur) entwickelt sich, indem alte Erscheinungen durch andere, neue Synthesen ersetzt werden, in denen ältere Elemente durchaus wiedergefunden werden können. Es geht demnach darum, Neues zum Teil aus dem Alten zu entwerfen, um so den Anforderungen des Heute gerecht zu werden. Eben in diesem immer wieder neu zu unternehmenden Versuch, schöpferisch mit dem Vergangenen umzugehen, wird man den Initiatoren der Kulturen und den Stiftern der Traditionen gerecht. Denn diese haben die Traditionen so angelegt, daß die nächsten Generationen wiederum Schöpfer werden können und dem empfangenen Erbe Neues hinzufügen können. Mit Rücksicht auf die Situation von Schwarzafrika bedeutet dies, daß neue Synthesen unbedingt gefunden werden müssen, indem man sowohl in der eigenen Überlieferung als auch in den durch die Begegnung mit Europa eröffneten Möglichkeiten nach den geeigneten Mitteln Ausschau hält. Dies meint wohl Towa, wenn er immer wieder die Notwendigkeit einer Revolutionierung der Traditionen Afrikas anspricht. Näherhin geht es darum, diese Traditionen dem Heute gerecht werden zu lassen, damit sie eine Überlebenschance bekommen. Ein solches Unternehmen kann aber nur dann gelingen, wenn die Völker Afrikas zum einen frei hierüber entscheiden können und zum anderen aus ihrem Erbe nur jene Elemente berücksichtigen, die dazu geeignet sind, zu ihrer ganzheitlichen Befreiung einen positiven Beitrag zu leisten: "Unser Hauptanliegen ist ein autonomes Afrika, das die notwendigen Maßnahmen über die Gesamtheit seiner wesentlichen Aktivitätsbereiche selbständig entwirft und durchführt."30 111. Zwischen Tradition und Traditionalismus Towas Überlegungen zum Traditionsbegriff vollziehen sich im Spannungsfeld zwischen der Kritik der Negritude und Ethnophilosophie und der Frage nach der Relevanz der Tradition für die in Afrika anstehende Aufgabe einer Befreiung durch Erkenntnis. Denn als die Kolonialherren die Kulturen Afrikas für minderwertig erklärten, sahen sich viele afrikanische Intellektuelle zu Rehabilitierungsversuchen genötigt. Letzteres meint Towa wohl, wenn er schreibt: " Auf die theoretische und praktische Negation ihrer Kulturen durch die Kolonialherren reagierten die afrikanischen Intellektuellen damit, daß sie mit Nachdruck die Wirklichkeit und Originalität der schwarzen Zivilisation beteuerten."31 Dem damit verbundenen Willen, sich selbst und den anderen Menschen zu beweisen, daß man wohl über eine eigene wertvolle Kultur verfügt, entspringen, bei allen Unterschieden zwi-

Towa, ldentite et transcendance, 608, (Übers. d. V.). Towa, Les conflits entre traditionalismes: recherche d'une solution, in: Recherche, Pedagogie et Culture 9 (1982), 30-36; 30, (Übers. d. V.). 30M. 31M.

7 Ozankom

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

sehen den Autoren, die meisten Theorien über die afrikanische Zivilisation von der Negritude bis zum Panafrikanismus. Allein, wenn es schon auf der Ebene der einzelnen Individuen kaum möglich ist, die Begriffe "Seele", "Geist", "Genius", "Selbst", usw., die bei all diesen Denkversuchen im Vordergrund stehen, zu präzisieren, so wird dies um so problematischer, sobald man sich anschickt, diese Begriffe auf Völker, Nationen oder Rassen zu übertragen. Um die hier anklingenden Schwierigkeiten klären zu können, empfiehlt Towa zuallererst, den Begriff Tradition - im Unterschied zu Traditionalismus - sorgfaltig zu untersuchen. Damit soll ein Zweifaches geleistet werden. Erstens sollen die Mißverständnisse, mit denen die Diskussion um Bewegungen wie "negritude", "identite africaine", usw. behaftet sind, abgebaut werden. Zum anderen aber soll die Frage nach dem angemessenen Verhältnis zum eigenen kulturellen Erbe näher erörtert werden. 32 Was bedeutet Tradition? Hierzu schreibt Towa: "Tradition ist sowohl die bestehende Kultur wie auch der Akt, diese Kultur weiterzugeben. "33 Aus dieser Definition entnimmt man, daß Tradition formal den Akt des Überlieferns selbst und materiell das Gesamte, den Inhalt des Überlieferten meint. Über dieser Bestimmung der Tradition als Akt des Tradierens und als Gesamtheit der tatsächlich überlieferten kulturellen Elemente steht nach Towa aber die Erkenntnis, daß die Bestandteile jeder Tradition ihren Ursprung in der schöpferischen Tätigkeit des Menschen haben. Hierin besteht der Ertrag seines Nachdenkens über "Kultur" und "Natur" im Sinne vom Ganzen der angeborenen Instinkte: Während Instinkte gleichsam im Organismus angelegt sind, so daß er sie auf natürliche Weise zu bedienen vermag, muß der Mensch, um seine Existenzmöglichkeiten entfalten und sein Überleben gewährleisten zu können, nicht primär auf seinen Instinkt als vielmehr auf seinen Verstand zurückgreifen, um adäquate Lösungen der anstehenden Probleme zu finden und neu auftretende Situationen zu meistern. Das Gesamte dieser Lösungen und Möglichkeiten, nämlich soziale Institutionen, technische Errungenschaften, Gewohnheiten, Sprachen, usw. machen die Kultur einer Gesellschaft aus und werden von 32 "II nous a semble que J'emploi des termes 'tradition' et 'traditionalisme' pourrait contribuer a dissiper !es confusions qui obscurcissent !es debats sur Ia negritude, l'identite, le droit a Ia difference, etc. [... ] Or ce que ces mots visent n'est rien d'autre, a nos yeux que Ja tradition. Cette derniere est a distinguer soigneusement du traditionalisme qui est une absolutisation de Ja tradition. La distinction entre tradition et traditionalisme nous permettra, du moins l'esperons-nous, de marquer plus clairement ce que nous combattons depuis longtemps deja dans Ia negritude et ses succedanes [... ] et de reduire !es malentendus a propos de notre attitude a J'egard de l'heritage culturel des peuples noirs." M. Towa, Les conflits entre traditionalismes: recherche d'une solution,

31.

33

M. Towa, Les conflits entre traditionalismes: recherche d'une solution, 32, (Übers.

d. V.).

III. Zwischen Tradition und Traditionalismus

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Generation zu Generation per Nachahmung oder in der Erziehung weitergegeben. Eben durch diese Tradition im Sinne eines Ganzen, das überliefert wird34, ist es den Menschen einer späteren Generation möglich, aus den Erfahrungen, Überlegungen und Bemühungen früherer Generationen Nutzen zu ziehen. Dabei profitieren die nachkommenden Generationen näherhin von der Risikofreudigkeit, von der Opferbereitschaft und von der Experimentierfreudigkeil älterer Generationen, da die Schaffung neuer Institutionen, Überzeugungen, Werte, usw. einem kraftraubenden Unternehmen entspringt. Towa bringt dies wie folgt auf den Punkt: "Das, was Generationen von Menschen Talent, Genie, heroischen Mut und Mühe abverlangt hat, wird zu einem Gut, das die Kinder nach ihrer Geburt erwartet." 35 Hierdurch wird letztlich geltend gemacht, daß sich der Mensch qua animal rationale nicht nur durch seine Fähigkeit Neues hervorzubringen, auszeichnet, sondern auch durch den Willen, bereits zur Verfügung stehende Möglichkeiten zu übernehmen und weiterzugeben, was zwar in erster Linie für den engen Rahmen der eigenen Kultur gilt, auf diesen aber nicht beschränkt bleiben muß. Auf dieser Grundlage müßte es sogar jedem Menschen möglich sein, Zugang zum Erbe anderer Kulturkreise, d.h. letztlich zum Erbe einer zunehmend zusammenrückenden Menschheit zu suchen und zu finden. So erklärt es sich, daß der Europäer von arabischen Erfindungen vornehmlich in Form von arabischen Zahlen profitieren kann, während der Japaner aus dem technischen Fortschritt des Westens, wie dies etwa in der Automobilindustrie deutlich zu Tage tritt, erfolgreich Kapital zu schlagen vermag. Daraus folgt: Die Menschheit wäre wohl nicht das, was sie heute ist, wenn jede Generation, jedes Volk immer bei Null ansetzen und nur von den ureigensten Errungenschaften leben müßte.36 Wenn demnach eine Grundverwiesenheil des Menschen auf die Tradition geltend gemacht werden kann, da jeder Mensch in einer Gesellschaft situiert ist, die auf dem Boden einer bestimmten Tradition steht, so muß die Tradition Towa meint hier weniger die formale als vielmehr die inhaltlich-materielle Seite der Tradition, wie dies seine Rede von "Ia culture constituee" nahelegt-als etwas zutiefst Lebendig-bewegliches begriffen werden. Folgende Überlegung ist hier bedeutsam: Die Tradition im Sinne des Ganzen der überlieferten kulturellen Elemente entspringt der Dynamik der Wechselbeziehung zwischen Mensch und Lebensraum. Der Mensch verändert sich ständig, was wiederum nicht ohne Einfluß auf seine Umwelt bleibt. So ist es etwa mit dem Bauern, der sich verän34 Denn wie Towa anmerkt, "Ia tradition, c'est l'action de transmeHre cet acquis et l'acquis lui-meme." M . Towa, ebd. 35 Ebd. 36 M. Towa ist daher m.E. zuzustimmen, wenn er festhält "Un individu condamne a ne compter que sur lui-meme, prive des acquis et de Ia collaboration de Ia societe, serait promptement rectuit a l'impuissance. L'appauvrissement de l'humanite dans son ensemble serait de meme ordre si les generations vivantes ne disposaient pas du patrimoine accumule par Ies morts." Ebd. 7*

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

dert, indem er seine Felder bestellt und diese dadurch einem Prozeß der Veränderung unterwirft. Ähnlich ist es auch auf Gesellschaftsebene. Denn je schöpferischer eine Gesellschaft in verschiedener Hinsicht ist, desto mehr verändert sie ihr Lebensmilieu. Diese auf dem Gebiet des Kulturellen im weitesten Sinne des Wortes hervorgebrachten Leistungen verdankt der Mensch letztlich seiner Fähigkeit zum Denken. Denn durch das Denken versucht der Mensch Probleme wahrzunehmen, Lösungen zu entwerfen, diese gegebenenfalls zu modifizieren, bis sie die anstehenden Probleme meistern helfen. Der Mensch wird, so gesehen, immer wieder zu einem innovativen Verhalten genötigt. Das damit verbundene Hervorbringen kultureller Leistungen, durch die die Tradition entsteht und geschieht, ist ein Prozeß von Umwandlung, die wiederum oft Veränderungen nach sich zieht: "Verwandeln bedeutet in der Tat neue Situationen, neue Zusammenhänge zu schaffen, die andere Anpassungen und Veränderungen erfordern [... ] Jede große Tradition erwächst einer großen Revolution. Letzterer entspringt eine neue Welt, die neue Probleme hervorbringt, welche wiederum nach neuen Lösungen heischen. "37 Von dieser durch den dynamischen Charakter ihres Entstehens und Geschehens bestimmten Tradition muß der Traditionalismus unterschieden werden, der eintritt, wenn die Überlieferung zum Erstarren kommt: "Traditionalismus ist ein Erstarren der Tradition. "38 Wie kommt es dazu? Der erste Fall einer "Immobilisierung" der Tradition liegt etwa dann vor, wenn versucht wird, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Rasse und Kultur oder Welt zu postulieren. Denn die Lebenswelt ist zwar veränderlich, aber zwischen dem Veränderungsprozeß der natürlichen Begebenheiten und den kulturellen Wandlungen gibt es einen wesenhaften Unterschied: Die Kultur ist einem wesentlich schnelleren Wandlungsprozeß unterworfen als etwa die Rasse oder das Klima, so daß im Vergleich zum Veränderungsrhythmus der Kultur die Natur als ziemlich unbeweglich erscheint. Wer infolgedessen versucht, die Kultur zur Natur zu machen, zwingt sie zur Erstarrung. Ein weiteres Beispiel von Immobilisierung der Tradition liegt auch dann vor, wenn ein Absolutheitsanspruch mit einer Tradition verbunden wird. Das ist v.a. 37 Ebd. Die hier angesprochene Fähigkeit zur Innovation ist aber vom bloßen Verlangen nach dem Neuen zu unterscheiden. Tatsächlich sind manche Menschen so sehr nach dem Neuen, Modischen aus, daß das Altbewährte zum Antiquierten abgestempelt wird (bis es eines Tages wieder zur Mode wird). Hierzu gehören paradoxerweise auch Phänomene wie "Back to the roots" oder manche Formen der Renaissance. Denn auch hier wird man oft nur vom Bemühen geleitet, weg vom Überholten hin zum Neuen, woher letzteres auch kommen mag. Hierher gehört auch, zumindest teilweise, folgender in Afrika zu beobachtender Umstand: Während die Landbevölkerung in der Regel nach den Früchten der westlichen Kultur verlangt, tendieren viele Gebildete dazu, die traditionelle Welt verklärt zu sehen. 38 M. Towa, Les conflits des traditionalismes: recherche d'une solution, 33, (Übers. d.

V.).

III. Zwischen Tradition und Traditionalismus

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dann der Fall, wenn eine Tradition als perfekt hingestellt wird: "Die Behauptung, daß eine bestimmte Tradition vollkommen ist, stellt den Versuch dar, diese Tradition jeder Veränderung zu entziehen und sie dadurch als überzeitlich anzusehen. " 39 Denn was perfekt ist, bedarf keiner Veränderung. Es muß vielmehr als solches geschützt und beibehalten werden. Dem Versuch, einer Tradition absolute Geltung zu verschaffen, wird oft dadurch Nachdruck verliehen, indem man auf deren göttlichen Ursprung hinweist: Gesetze, Gewohnheiten, Glaubensüberzeugungen usw. sind als das Werk eines vollkommenen "Urhebers" auch vollkommen. Dieses Festhalten an einer bestimmten Form einer Kultur zieht die Gefahr der Erstarrung des Schöpfers dieser Kultur, d.h. des Menschen selbst, nach sich. Denn wenn der Mensch seine Institutionen, seine Gesetze, seine Gewohnheiten u.ä. nicht mehr situationsgerecht zu verändern vermag, so führt dies zur Passivität. Mit aufs engste damit verbunden ist auch eine Tendenz zur Intoleranz: Wer die eigene Kultur als die vollkommenste einstuft, wird nicht selten dazu neigen, diese nicht nur als Maßstab für alles andere anzulegen, sondern überdies die anderen Kulturen als minderwertig einzuschätzen. Es ist daher nur folgerichtig, wenn versucht wird, anderen Menschen die als perfekt eingestufte eigene Kultur zu oktroyieren. 40 Diese Verabsolutierung (oder Immobilisierung) der Tradition kommt einer Rückführung der Kultur auf die Ebene des Instinkts insofern gleich, als sie der schöpferischen Tätigkeit des Menschen - der alle kulturellen Erscheinungen letztlich entspringen - nicht Rechnung trägt. Daraus könnte sogar eine Biologisierung der schöpferischen Fähigkeit des Menschen einhergehen, da der Mensch unter diesen Voraussetzungen nunmehr als Instinktwesen angesehen wird. Ein biologisch begründetes Verständnis des Kulturellen führt dazu, daß kulturelle Leistungen in engstem Zusammenhang mit einer Rasse gesehen werden. Die Überlegenheit einer Kultur bedeutet demnach die Überlegenheit der Rasse, die sie hervorgebracht hat. Hierin liegen die Wurzeln des rassistischen Traditionalismus, der die Menschen, sofern sie einer vermeintlich minderwertigen Kultur angehören, dazu nötigt, nicht nur einen Kulturwechsel vorzunehmen, sondern auch dazu, sich in die durch eine hochwertige Kultur angeblich ausgezeichnete Rasse integrieren zu lassen. 41

39Ebd.

"Poser une tradition comme parfaite, sainte, divine, c'est Ia situer au-dessus de toutes les autres et meme les poser comme nulles et sans valeur aucune, et comme vouees a disparaitre devant Ia tradition parfaite, a moins de les figer dans leur abaissement et leur nullite." Ebd. 41 Ähnlich verhält es sich mit dem religiösen Traditionalismus, dessen Absolutheitsanspruch die anderen Religionen zu Götzendiensten erklärt und deren Anhängern die Konversion als Bedingung der Möglichkeit einer Aufnahme in das Reich der Erwählten nahelegt Nach Towa sind das Judentum und das Christentum und der 40

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

1. Traditionalismus im zeitgenössischen Afrika

Am Ende einer Zusammenschau verschiedener Überlegungen über die schwarzafrikanische Kultur kommt Towa zu dem Schluß, daß diese Kultur gegenwärtig traditionalistisch ausgelegt wird, auch wenn diese Sichtweise von den meisten Autoren noch nicht hinreichend wahrgenommen, geschweige denn zur Genüge in Frage gestellt worden ist. Dieser Befund läßt sich, wie oben angedeutet, am ehesten durch einen geschichtlichen Rückblick erläutern: Nachdem der Rassismus der Kolonialära den Schwarzen die Fähigkeit zur Kultur abgesprochen hatte, bestand die Gegenreaktion vieler schwarzafrikanischer Denker darin, den Beweis des Gegenteils zu erbringen, d.h. die Wirklichkeit einer schwarzen Kultur darzulegen. Dieser Aufgabe stellte sich etwa eine Bewegung, die unter dem Namen "Negritude" im Paris der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts entstand.42 Während der Kolonialherr, gleichsam von einer hohen Meinung von Kultur geleitet, dem Schwarzen selbige absprach, setzten die afrikanischen Intellektuellen alles daran, die Würde des Schwarzen zu bekräftigen, indem sie ihn als Schöpfer großartiger Kulturen darzustellen versuchten. Das ist in der Hauptsache jenes Ziel, das von Autoren wie Blyden, Cesaire, Diop, usw. verfolgt wird. Hierher gehört auch das Bemühen Senghors, wobei sein Ansatz der Negritude paradoxerweise die Sicht mancher Kolonialisten zu bestätigen scheint. Wie kommt es dazu? Bekanntlich ist die Kultur der Schwarzen nach Senghor ein Produkt der schwarzen Rasse. Dabei erweist sich der Schwarze als ein wesentlich instinktiver, passiver und von Emotionsfähigkeit geprägter Mensch im Gegensatz zum Weißen, der in erster Linie intelligent und aktiv sei. So erklärt es sich, daß dieser die Wissenschaft, die Technik und die Industrialisierung begründet und gefördert hat, womit er die Welt nicht nur revolutionieren, sondern auch erobern konnte. Demnach ist der Unterschied, der zwischen den verschiedenen schwarzen und weißen Völkern existiert, auch der Unterschied zwischen den jeweiligen Rassen. Anders formuliert: Der Weiße ist aufgrundseiner Rasse intelligent und aktiv. Demgegenüber bleibt dem Schwarzen - da dies in seiner Rasse nicht grundgelegt ist- keine andere Möglichkeit, als emotionsbeladen, passiv, usw. zu Islam - dessen heiliges Buch, der Koran, nach Towas Einschätzung intoleranter und dogmatischer ist - ausgezeichnete Beispiele von Traditionalismus in theologischer Hinsicht. Towa hat hierbei v.a. das Verhalten jener christlichen Missionare vor Augen, das sich durch eine ablehnende Haltung gegenüber allem Religiösen in Afrika auszeichnete. Diese schroffe Ablehnung entsprang wohl der Überzeugung, Anhänger der einzig wahren und gottgewollten Religion zu sein. Allen Andersglaubenden blieb von daher nur eine Möglichkeit: die Bekehrung zum Christentum. Vgl. M. Towa, Les conflits entre traditionalismes: recherche d'une solution, 33. 42 Vgl. hierzu Anm. 9.

III. Zwischen Tradition und Traditionalismus

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sein. Es zeigt sich also, daß Intelligenz, Emotionalität, Aktivität oder Passivität für Senghor die Eigenschaften der jeweiligen Rassen sind und somit die Kulturen bestimmen, die aus ihnen hervorgehen. Bei näherem Hinsehen aber erweist sich der Ansatz Senghors als weit entfernt davon, eine Widerlegung des Rassismus der Kolonialära zu sein. Im Gegenteil: Dieser Ansatz kommt sogar in die Nähe einer Bestätigung der These, die eine Minderwertigkeit der Kulturen Afrikas postuliert. Tatsächlich ist, insofern er in seinen Schriften immer wieder die Thesen Gobineaus, Levy-Bruhls, usw. - angeblich um den eigenen Ansatz zu untennauern - aufgreift, eine Nähe zwischen den Ideen des rassistischen Kolonialismus und der Negritude a Ia Senghor nicht wegzuleugnen. Mehr noch: Indern Senghor wie eben diese Theoretiker der Überlegenheit der weißen Rasse, den Schwarzen Ratio und Unternehmungsgeist abspricht, stellt er sie letztlich auf dieselbe Stufe mit den Tieren und erklärt sie somit für kulturunfähig. Und indem er als Korrelat hierzu dem Weißen das Monopol von Rationalität und schöpferischem Geist einräumt, billigt er ilun auch das Monopol der eigentlichen Kultur zu. Die mit dem "Senghorisrnus" verbundenen Schwierigkeiten treten noch deutlicher zutage, wenn man sich die Frage stellt, ob und wie Senghor angesichts der durch die Kolonialära hervorgegangenen Unterbrechung die Überlieferung der afrikanischen Werte mit Blick auf die neue Situation fördern oder vorantreiben will. Hier muß festgehalten werden, daß es Senghor und den Verfechtern seiner Ideen noch nicht gelungen ist, die anstehende Aufgabe einer angemessenen Rezeption der eigenen Tradition in Angriff zu nehmen, und zwar so, daß der Kontakt mit der Tradition Afrikas diese zum Leben befähigen würde, nämlich in Schulen, Universitäten und in der Öffentlichkeit. Demgegenüber bevorzugt man die seltene Gelegenheit eines Festivals, um die Apologie der Tradition vorzustellen, die im Grunde genommen niemand ernsthaft etwas angeht und oft ohne konkrete Konsequenzen bleibt.Towa ist daher zuzustimmen, wenn er anmerkt, daß "sobald das Fest zu Ende ist, die Mehrheit der Teilneluner zur kolonialen Tradition zurückfindet, die sich durch die Verachtung der afrikanischen Kulturen sowie durch Angleichung, Verteidigung der Francophonie, des Lateinunterrichts ebenso wie durch eine Ablehnung eines Schulunterrichts in den einheimischen Sprachen auszeichnet. "43 2. Die Konsequenz dieses Ansatzes: Kritik des Traditionalismus

Faßt man Towas Erläuterungen über den Traditionalismus zusammen, so kommt man zu dem Schluß, daß jeder Traditionalismus, welcher Art auch immer, im Hinblick auf ein angemessenes Verständnis der Tradition, deren Ursprung in der schöpferischen Tätigkeit des Menschen liegt, abzulehnen ist. 43

M. Towa, Les conflits entre traditionalismes: recherche d'une solution, 34, (Übers.

d. V.).

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, daß das Absolutsetzen einer Tradition, verbunden mit ihrer Immobilisierung, den sich inuner wieder verändernden Lebensumständen der Menschen nicht gerecht zu werden vermag. Es gilt also zu bedenken, daß die Welt, in der der Mensch seine Existenz entfaltet, veränderlich ist ebenso wie die sozio-historischen Rahmenbedingungen. Demnach wird der Mensch inuner wieder vor veränderte Voraussetzungen gestellt werden, die nach Umgangsformen heischen, die das Überlieferte nicht ohne weiteres bieten kann. Die hierzu notwendigen innovativen Fähigkeiten konunen aber dann zum Erliegen, sobald der Traditionalismus den Siegeszug angetreten hat. Denn einer absoluten, vollkommenen Tradition kann logischerweise nicht Neues hinzugefügt werden. Folgender Gesichtspunkt ist hier wesentlich: Der Traditionalismus schließt nicht nur andere Traditionen aus, sondern tendiert dazu, sogar bestinunte Elemente der eigenen kulturellen Tradition zu unterdrücken, sofern sie mit dem bisher Etablierten nicht in Einklang zu bringen sind. Dabei wird aber übersehen, daß eine Tradition kein homogenes, sondern oft ein äußerst heterogenes Gebilde ist, das verschiedene, zum Teil gegenläufige Strömungen aufweisen kann. Diesen Umstand übersieht der Traditionalismus, indem er einige Aspekte in Absehung anderer verabsolutiert. Hierher gehört u.a. der Ansatz Senghors, insofern dieser vom Reichtum der afrikanischen Tradition nur noch die Kunst, die Emotion und die Religion herausstellt, während andere wesentliche Aspekte selbiger Tradition kaum Beachtung finden. So gesehen kann man folgern, daß Senghor die afrikanische Tradition trotz gegenteiliger Beteuerungen nicht zur Geltung bringt, sondern sie vielmehr auf einige klischeehafte Elemente reduziert. Demgegenüber aber gilt es, damit das Wesen der Tradition- in Abwehr jeden Traditionalismus' - auf den Begriff gebracht werden kann, die Rolle des Menschen in seiner innovativen Kraft am Ursprung jeder Tradition in den Mittelpunkt zu rücken und richtig einzuschätzen. Towa drückt dies so aus: "Der Schöpfer aller Traditionen (auch der religiösen Traditionen) ist der Mensch, der daher über alle Traditionen gestellt werden muß [ ...] Das Bestinunende, d.h. das Absolute im Bereich der Kultur ist der Mensch, der als Schöpfer jeglicher Tradition seine unerschöpfliche Kreativität bekunden muß: Er muß mögliche Lösungen von Problemen entwerfen, Entscheidungen treffen, das Beschlossene durchführen und sich so der Frucht seiner Bemühungen erfreuen."44 Diese Äußerung ist insofern bedeutsam, weil sie die Quintessenz von Towas Verständnis der Tradition am eindringlichsten zum Ausdruck bringt. Denn indem er die Tradition als menschliche Schöpfung verstanden wissen möchte, zielt er doch darauf ab, den Urheber dieses Werkes und nicht das Werk selbst in den Vordergrund zu stellen. Damit soll nahegelegt werden, daß der Mensch 44 M. Towa, Les conflits entre traditionalismes: recherche d'une solution, 36, (Übers.

d. V.).

III. Zwischen Tradition und Traditionalismus

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(qua Schöpfer aller Traditionen) letztlich über der Tradition steht und daß die Tradition für sich genommen, wie ehrwürdig sie auch sein mag, ein Zusammenspiel offener Elemente ist, die Ansehen und Bedeutung nur mit Bezug auf die jeweiligen Bedürfnisse der Menschen erhalten. Eben in diesem an der schöpferischen Kraft des Menschen orientierten Verständnis von Tradition gründet auch Towas Vorschlag für ein Kriterium, nach dem bestimmte Aspekte einer Tradition als erhaltenswert zu gelten haben. Tatsächlich sind für ihn jene Elemente der eigenen Tradition oder der fremden Überlieferung zu erhalten und gegebenenfalls in die eigene Tradition aufzunehmen, die dafür geeignet sind, die jeweils anstehenden Aufgaben lösen zu helfen. Dies drückt er wie folgt aus: "Nicht das Faktum, daß etwas in der Bibel oder im Koran geschrieben steht, noch die Tatsache, zur afrikanischen Kultur zu gehören, verleiht einer Tradition einen Wert, sondern einzig und allein, die Fähigkeit, Antwort zu geben auf die jeweils gegenwärtigen Bedürfnisse und Erwartungen, seien sie materieller, politischer oder ästhetischer Natur."45 Mit der von ihm geltend gemachten prinzipiellen Offenheit der Traditionen ergibt sich für Towa letztlich die Chance, möglichst ohne vorgefertigtes Urteil an andere Traditionen heranzutreten, denn Traditionen oder Stränge derselben, die für die einen wertvoll sind, können für andere unbedeutend sein und umgekehrt. Diese Zugangsweise führt schließlich zu einer grundsätzlichen Offenheit allen Traditionen gegenüber. Die Bedingung der Möglichkeit eines solchen Verhaltens ist die Relativierung einer jeden Tradition im Hinblick auf den Menschen als deren Schöpfer: "Vor keiner Tradition braucht sich der Mensch ganz klein zu machen oder gar sich zu verleugnen. Vielmehr muß er in allen Traditionen sein eigenes Werk erkennen und sich über sie stellen."46 Damit soll nicht jener Tendenz Vorschub geleistet werden, die darauf aus ist, die kulturellen Leistungen anderer Menschen nicht gebührend zu würdigen. Demgegenüber gilt es wahrzunehmen, daß menschliche Errungenschaften gesellschaftlich verschieden ausfallen. Man muß demnach diese Leistungen nach bestem Wissen honorieren, ohne je aus den Augen zu verlieren, daß sie, großartig oder nicht, menschliche Werke sind und von daher prinzipiell jedem Menschen offenstehen. Diese von Towa angestrebte "offene", universal angelegte Zugangsart zu jeder Tradition bedeutet letztlich, daß das Eintreten für diese oder jene Überlieferung (oder Teile davon) nicht mehr von Gefühl und Zufall geleitet werden soll, sondern vielmehr im Ausgang einer kritischen Auseinandersetzung zu stehen hat, womit er dem Rationalen im Menschen den Vorrang einräumt. Bedenkt man zudem, daß das Kriterium, nach dem eine Tradition als erhaltenswert angesehen wird oder Anleihe bei einer anderen zu tätigen hat, jeweils in deren Fähigkeit zur Lösung der anstehenden Probleme liegt, so erweist sich dieses Kriterium nun als ein bewußtes und reflektiertes Eingehen auf eine be-

45

Ebd.

46Ebd.

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

stimmte Tradition oder auf einige Aspekte davon, das sich letztlich "im rauhen Wind" der Realität zu bewähren hat: "Das überlegte Engagement [...] ist durch die Entsprechung der Lebenserfordernisse bedingt. Es kann vielleicht ohne Wehmut offen in Frage gestellt werden, sobald das Leben dies erfordert." 47 Blickt man im Lichte des bisher Erörterten auf die Situation des zeitgenössischen Schwarzafrika, so muß man zunächst einmal festhalten, daß die herkömmlichen Traditionen nicht mehr die ihnen zugedachte Rolle erfüllen. Sie zerbröckeln vielmehr im Zuge der Begegnung mit der Kolonisation, verbunden mit dem Umstand, daß es Afrika noch nicht gelungen ist, eine der neuen Situation angemessene Antwort zu finden. Damit das Unternehmen einer Rehabilitierung der Tradition im Hinblick auf das "Heute" Afrikas in die rechten Bahnen gelenkt werden kann, muß Afrika zunächst die "historische Initiative" ergreifen können. Dieses bedeutet im Grunde genommen eine Kampfansage gegen all jene, die von außen wie auch von innen die Afrikaner nicht selbständig die wesentlichen Entscheidungen für eine ganzheitliche Entwicklung des Kontinents treffen lassen. Einem solchen Ziel kann man sich nach Towa aber am ehesten nähern, indem man das Bewußtsein der betroffenen Menschen für den heute notwendigen Wandel schärft: "Das Wiederbeleben von traditionellen Kulturelementen, die als positiv angesehen werden (Sprachen, Kunst, usw.), hängt von der Umkehrung des gegenwärtigen Kräfteverhältnisses ab zu Ungunsten jener Innen -und Außenmächte, die für die Knechtung durch solche Traditionalismen eintreten, welche unseren eigentlichen Hauptinteressen fremd oder entgegengesetzt sind. Anders ausgedrückt: Unsere bestehende Kultur muß gemäß dem Imperativ einer revolutionären Veränderung unserer gegenwärtigen Existenzbedingungen als Neokolonisierten von Grund auf einer Umwälzung unterzogen und so umstrukturiert werden."48

IV. Towa und die Philosophie in Afrika Die voranstehenden Erläuterungen von Towas Begriff der Tradition waren von dem Bemühen geleitet, diese im Lichte der schöpferisch-innovativen Schaffenskraft des Menschen darzulegen. Näherhin konnte herausgehoben werden, daß eine Überlieferung für sich genommen "neutral" ist und - qua menschliches Werk- jedem Menschen im Prinzip offensteht Mit diesem Traditionsverständnis ergab sich zugleich ein Lösungsvorschlag für die Frage nach den Kriterien eines angemessenen Umgangs mit der Tradition. Demnach ist eine Tradition - unabhängig davon, ob es sich um die eigene oder um eine fremde Tradition handelt - ganz oder zumindest in einigen ihrer Aspekte erhaltenswert, sofern sie einen möglichen Beitrag zur Bewältigung der anstehenden Probleme zu leisten vermag. 47 48

Ebd. Ebd.

IV. Towa und die Philosophie in Afrika

107

Dieser Hintergrund wirft ein bezeichnendes Licht auf Towas Ringen um ein vor dem Forum der Vernunft verantwortbares Philosophieren im modernen Afrika: Es ist der Versuch, Zugang zu einer in ihrer metaphysischen Gestalt vornehmlich im Abendland zur Blüte gekommenen, aber der ganzen Menschheit zur Verfügung stehenden Tradition, zu verschaffen. Alles ist darauf angelegt, die Philosophie als Hintergrundverständnis von Europas gegenwärtiger Machtstellung darzulegen, verbunden mit der Frage, ob und wie sie für die Bewältigung der in Afrika anstehenden Aufgaben Relevanz hat. Bevor aber näher auf die Gestalt der Philosophie, die Towa für Afrika vorschwebt, eingegangen werden kann, soll nun, zusammengefaßt gemäß Towa, Heideggers These einer abendländischen Grundbestimmung der Philosophie erörtert werden. 49 Towas Überzeugung ist nämlich, daß die faktische Entstehung der Philosophie im abendländischen Raum, vornehmlich in der Gestalt der Metaphysik, ein historisches Faktum ist. Da aber die Philosophie als Werk der menschlichen schöpferischen Tätigkeit wie alle anderen Früchte der menschlichen Kreativität jedem Menschen prinzipiell offensteht, gibt es keine ontologische Wesensverwiesenheit der Philosophie auf das Abendland. l. Zur europäischen Bestimmung des Wesens der Philosophie

Im "Essai sur Ia philosophie dans I'Afrique actuelle" schreibt Towa: "Die Philosophie war, geschichtlich betrachtet, der Nährboden der wissenschaftlichtechnischen Welt [...] Es ist nämlich ein und dasselbe Vermögen, das in der Wissenschaft und in der Philosophie am Werk ist: Die Vernunft. Vernunft, Wissenschaft und Philosophie (als Entfaltungsbereiche der Vernunft) stellen das dar, was die Ideologen des europäischen Imperialismus nur schwer mit anderen Zivilisationen zu teilen bereit waren. "50 In dieser Äußerung hält Towa ein Zweifaches fest: Zum einen thematisiert er die oft postulierte denkerische Überlegenheit Europas. In engstem Zusammenhang damit steht zweitens die nicht selten bis zur Skepsis gehende Zurückhaltung mancher Europäer gegenüber der Leistungsfähigkeit im Denken anderer Kulturen. Hierher gehört etwa der Versuch Levy-Bruhls, der alles daran setzt, die vermeintliche vorlogisehe und mythische Mentalität der "primitiven .. Völker von der logisch-aufgeklärten Mentalität der zivilisierten Europäer zu unterscheiden.51 Und als der belgisehe Franziskaner P. Tempels sein Buch über 49 Vgl. hierzu meine Stellungnahme in dieser Studie, 119ff. 50 M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans l'Afrique actuelle, 7, (Übers. d. V.). 51 Neben den Afrikanern zählt Levy-Bruhl auch die Australier, die Ureinwohner Amerikas und die Altägypter zu den primitiven (im abwertenden Sinne) Völkern. Demgegenüber zeigt er sich bemüht, China und Indien aufgrund der dort hervorgebrachten Leistungen v.a. in Astronomie, Physik, Algebra, usw. respektvoller zu begegnen. Gleichwohl räumt er aber auch hierbei ein • daß weder die Chinesen noch die

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

die Philosophie der Bantu52 der wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorstellte, sah z.B. G. Gusdorf die Exklusivität und das Monopol des europäischen Denkens derart gefahrdet, daß er sich geradezu postwendend anschickte, die Verhältnisse gleichsam wieder zurechtzurücken. 53 Und aufgrund einer Konstruktion einer Opposition zwischen dem homo philosophicus und dem homo mythicus kommt Gusdorf zu dem bemerkenswerten Schluß, daß es außerhalb der durch Socrates inaugurierten Philosophie nur mythisches Denken und kein echtes Philosophieren geben kann. Diese, hier nur kurz skizzierten und ähnlichen Ansätze, die darauf aus sind, die Nicht-Europäer für denkunfahig zu erklären, gilt es im Auge zu behalten, wenn man gegenwärtig einen Zugang zur Frage nach der Existenz eines genuin afrikanischen Philosophierens finden soll. Tatsächlich kann man sich oft des Eindrucks nicht erwehren, daß die ganze Diskussion um Sinn und Möglichkeit einer eigenständigen Philosophie in Afrika mit dem nicht selten unthematischen und verdeckten Ziel gefochten wird, die These einer "Unfähigkeit zur Philosophie" der Nicht-Europäer im allgemeinen und der Afrikaner im besonderen zu widerlegen. Daß und wie sehr das angedeutete Anliegen die philosophischen Entwürfe im subsaharischen Afrika wirklich entscheidend bestimmt, versucht auch Towa ausgehend von einer Diskussion über Heideggers These des zuinnerst europäi"schen Wesens der Philosophie, aufzuzeigen. Im Buch "Was ist das- die Philosophie?", dem ein Vortrag zugrundeliegt, der im August 1955 in Cerisy-la-Salle in der Normandie gehalten wurde, hebt Heidegger heraus, daß die Philosophie in ihrem Wesen griechisch-europäisch sei. Als Korrelat hierzu ergibt sich die These, das Abendland habe eine philosophische Grundlegung. Heidegger unterstreicht dies mit folgenden Worten: "Das Wort tf>tA.oaoifJ{a sagt uns, daß die Philosophie etwas ist, was erstmals die Existenz des Griechentums bestimmt."54 Mehr noch: Die Philosophie, die ursprünglich das In-der-Welt-sein des Griechentums prägte, bestimmt auch die Grundzüge der abendländischen Zivilisation 55 dergestalt, daß die Äußerung: "Die Philosophie ist in ihrem Wesen griechisch, nichts anderes [sagt] als: Das Inder im Bereich von Naturwissenschaften zu Leistungen höchsten Ranges fähig waren. Letzteres blieb der euopäischen Zivilisation vorbehalten. 52 P. Tempels, La philosophie bantoue, Paris 31965. 53 Vgl. G. Gusdorf, Versune metaphysique, Bd. 1, Paris 1954: "La crise est ouverte, et l'on peut se demander oll l'on s'arretera sur le chemin de Ia desintegration. Le concept de philosophie tend a designer tres generalement toute image du monde et toute sagesse humaine [... ] quels qu'en soient les elements et les modalites. Le droit a Ia philosophie devient un des droits de l'homme, en dehors de toute question de longitude, de Iatitude et de couleur de peau." 54 WP, 6. Die hier anklingende exklusive Rolle des Griechentums am Anfang der Philosophie hebt Heidegger wie folgt heraus: "Die Philosophie ist im Ursprung ihres Wesens von der Art, daß sie zuerst das Griechentum, und nur dieses in Anspruch genommen hat, um sich zu entfalten." WP, 7. 55 Vgl. ebd.

IV. Towa und die Philosophie in Afrika

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Abendland und Europa, und nur sie, sind in ihrem ionersten Geschichtsgang ursprünglich 'philosophisch'. "56 Und wenn Heidegger von hier aus die Möglichkeit von "Weltgeschichte" erst von dieser philosophischen Bestimmung der abendländischen Geschichte her sieht, so deshalb, weil er hierbei die Entstehung und Verbreitung der Wissenschaften vor Augen hat, die aus der Philosophie hervorgegangen sind, in der der ionerste Geschichtsgang der europäischen Zivilisation gründet. Für Heidegger bedeutet dies näherhin, daß die Wissenschaften das Schicksal der gesamten Menschheit gerade aufgrund dieses philosophischen Ursprungs prägen. Diese spezifische Prägung der Weltgeschichte durch die in ihrem Ursprung philosophisch bestimmten Wissenschaften läßt sich am Beispiel der Rede vom "Atomzeitalter" als Weltzeitalter dokumentieren. Denn wenn die Wissenschaften die Atomenergie als jene Macht vorstellen, die dem gegenwärtigen Zeitalter ihre Prägung gibt, so verweist Heidegger darauf, daß es diese Wissenschaften nie gegeben hätte, "wenn ihnen nicht die Philosophie vorherund vorausgegangen wäre."57 Es zeigt sich also, daß Heidegger das Wesen von Philosophie und Wissenschaften exklusivistisch auf Europa bezieht. Von dieser theoretischen Grundposition wird auch die Atomenergie als alleinige europäische Errungenschaft zur Bestimmung der Weltgeschichte charakterisiert. Aufgrund dieser und ähnlicher Gedanken, die wiederholt vorgetragen wurden 58 , reiht Towa Heidegger in die Schar derer, die den Nicht-Europäern die Fähigkeit zur Philosophie absprechen, ein.59 Dieses Programm einer Gleichsetzung von Philosophie und Abendland liegt auch dem philosophischen Ansatz Hegels zugrunde, in dessen Tradition sich Heideggers Versuch einerneuen Bestimmung der Gestalt der Philosophie letztlich vollzieht.60 Während er die Heideggersche These einer Identität zwischen Philosophie und geschichtlichem Grundzug Europas als bloße Behauptung abzutun versucht, bleibt unverständlich, warum bei Towa jede Kritik für das Hegeische Postulat 56

Ebd.

57 WP, 8.

58 Vgl. neben WhD auch US.

59 Vgl. M. Towa, Essai sur Ia problematique dans I'Afrique actuelle, 13-15. Offenbar mit Ausnahme Japans wie man dies den entsprechenden Stellen aus US entnehmen kann. 60 An dieser Stelle sei auf einen Unterschied hingewiesen, der m.E. beim Hegelianer Towa nicht die entsprechende Aufmerksamkeit gefunden hat: Während Hegels Begriff der Philosophie einer hierarchisierenden Interpretation der Philosophie zugrundeliegt, setzt Heidegger alles daran, aufzuzeigen, daß zum einen alle Philosophien ihre einmalige Größe haben und zum anderen, daß im Anfänglichen, vornehmlich in der Gestalt der griechischen Philosophie das Eigentliche und Wesentliche der Philosophie grundgelegt ist. Mit diesem Versuch der Rehabilitierung des Anfänglichen öffnet Heidegger eigentlich eine Tür für andere "Philosophien", die nicht unbedingt mit den Hegetsehen Maßstäben zu messen sind.

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa:

einer abendländischen Grundbestimmung des Wesens der Philosophie völlig ausbleibt. Um so verwunderlicher ist Towas Behauptung, daß Hegels Grundlegung der Philosophie als Monopol des Abendlandes einer durchdachteren und stringenteren "Theorie" des Wesens der Philosophie entspringt.6 ' 2. Towa und die Gestalt einer afrikanischen Philosophie

Mit der Bestimmung der Philosophie - im Anschluß an Hege! - als "Denken des Denkens" sucht Towa herauszustellen, daß die Philosophie auch in Afrika jene strenge Wissenschaft bleiben soll, die im Abendland geboren und entwickelt wurde. Ein eigenständig afrikanisches Philosophieren kann demnach nur dann gelingen, wenn sich die Denker der Anstrengung des Begriffs stellen, die trügerische Einfachheit der Traditionalismen überwinden und das "Geheimnis Europas" 62 in das eigene Denken aufnehmen. Letzteres unterstreicht Towa, indem er festhält "Nur eine Beseitigung der traditionellen Idole wird es möglich machen, den Geist Europas, das Geheimnis seiner Macht und seines Sieges über uns anzunehmen und sich zu eigen zu machen [ ...] Dieses Hauptziel müßte unsere denkerischen Bemühungen leiten." 63 Kurzum: Afrikas Zugang zur Philosophie soll nicht nur um der Erkenntnis willen geschehen, sondern wird auch vom Bemühen geleitet, Europas Geheimnis zu lüften und dies für die eigene Situation fruchtbar zu machen. 64 Was ist aber Philosophie? Hierzu schreibt Towa: "Philosophie beginnt mit der Entscheidung das philosophische und kulturelle Erbe einer lückenlosen Kritik zu unterziehen. Denn keine Gegebenheit, keine noch so ehrwürdige Idee 61 Dies meint M. Towa, wenn er festhält: "Hegel aussi fait de Ia pensee et de Ia philosophie Je monopole de l'occident. Mais il procede plus methodiquement et plus rationnellement; il deduit Je monopole philosophique de l'occident de l'essence de Ia philosophie, ainsi que l'essence de Ia culture occidentale et celle des cultures non occidentales qu'il s'efforce de determiner avec sa profondeur couturniere." Vgl. M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans I'Afrique actuelle, 15. 62 M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans I'Afrique actuelle, 56, (Übers. d. V.). 63 M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans I'Afrique actuelle, 52f., (Übers d. V.). 64 "Dans notre quete du secret de Ia puissance europeenne, il semble donc bien que c'est Ia philosophie de I'Europe qu'il convient d'interroger. Mais en interrogeant Ia philosophie europeenne, nous ne chercherons pas comme l'ethno-philosophie a en elargir le concept pour pouvoir revendiquer aussi une phi1osophie. Nous sommes en quete de quelque chose qui nous manque, et non de ce que nous aurions deja. Nous laisserons a Ia philosophie sa signification Ia plus rigoureuse." M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans I'Afrique actuelle, 59. Vgl. hierzu auch E. Njoh-Mouelle, Jalons li, 8: "Les Africains devraient songer a porter Ia guerre dans Je champs des autres en se specialisant a leur tour dans !es problemes et questionsdes autres; car, et c'est cela qui ne nous apparait pas assez clair en Afrique, Ia science est une arme."

IV. Towa und die Philosophie in Afrika

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kann von einem Philosophen gelten gelassen werden, bevor er sie kritisch hinterfragt hat. "65 In dieser Äußerung macht Towa geltend, daß die Philosophie auch mit Blick auf die geistige Situation Afrikas kritisch, rational und reflexionsbezogen zu sein hat. Im Klartext bedeutet dies, daß ein bloßes Ausgraben "vergangener Altertümer", die für die existentielle Befindlichkeit des modernen Afrikas keine Bedeutung mehr besitzen, den afrikanischen Intellektuellen nicht dazu befähigt, in den Akt des Philosophierens hineinzukommen. Demgegenüber kann dem afrikanischen Intellektuellen der Einstieg in die Philosophie am ehesten dann glücken, wenn zuvor hinreichend geklärt ist, was im heutigen Afrika nicht nur wahrgenommen, sondern auch überwunden werden muß, damit eine Befreiung Afrikas durch Erkenntnis möglich wird. Towa schwebt im Grunde genommen eine Philosophie vor, die sich am "Heute" der existentiellen Verfaßtheit Afrikas entzündet. Damit zielt er darauf ab, das nach Rückwärts-gewandt-sein mancher Denkversuche, verbunden mit einer Tendenz zur Verklärung der Vergangenheit Afrikas, zu überwinden. Ebenso soll das Ernstnehmen der Gegenwart die Philosophie dazu verpflichten, nach Möglichkeit am Programm der umfassenden Entwicklung mitzuwirken. Dieser Beitrag der Philosophie zur Bewältigung der Probleme Afrikas wird deshalb als wesentlich eingestuft, weil davon ausgegangen wird, daß die Wissenschaft und mit ihr die Technik als Bedingung der Möglichkeit von Europas Machtmonopol ihre Wurzeln in der Philosophie haben. Tatsächlich weist die Wissenschaft nach Towa eine innige Verbindung mit der Philosophie auf. Damit wird nicht in erster Linie auf das Hervorgehen aller Wissenschaften aus dem Nährboden der Philosophie abgehoben. Vielmehr soll hier jener Umstand geltend gemacht werden, daß die Philosophie mit der Wissenschaft verbunden ist, sofern sie kraft einer wissenschaftlichen Methodik und getragen von der Forderung nach Rationalität, den Übergang von Mythos zum Logos, von der traditionellen Weisheit zur verantworteten Philosophie bewerkstelligt. Eben auf diesem Hintergrund kritisiert Towa manche philosophischen Ansätze wie dies besonders an der Gestalt der Ethnophilosophie zu zeigen sein wird - bei denen es letztlich darum geht, die durch die Ethnologie freigelegten Elemente der afrikanischen Tradition zur Philosophie zu erheben: "Statt ihnen gegenüber eine Haltung wissenschaftlicher Distanz zu bewahren, billigen ihnen die Autoren, die auf eine spezifische afrikanische Philosophie aus sind, im Hinblick auf Wahrheit und Aktion eine normative Gültigkeit zu."66 Im Gegensatz hierzu fordert Towa den afrikanischen Denker dazu auf, sich den nicht-afrikanischen Traditionen im allgemeinen und der europäischen Tradition im besonderen zu öffnen, um sie auf das Geheimnis ihrer Macht hin transparent werden zu lassen. Das erklärte Ziel eines solchen Ansatzes ist die Aneignung und Beherrschung 65 M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans l'Afrique actuelle, 30, (Übers. d. V.). 66 M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans l'Afrique actuelle, 31, (Übers. d. V.).

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

dieser Tradition, die den Afrikaner in die Lage versetzen sollte, die eigene Existenz in Freiheit und Würde zu gestalten. Das tiefe Geheimnis der Erfolge der abendländischen Tradition ist nach Towa letztlich das, was Europa von den anderen Kulturkreisen unterscheidet: "Das Geheimnis Europas besteht in dem, was es von uns und allen anderen Zivilisationen unterscheidet, denen es Niederlagen zugefügt hat."67 Den Hinweis auf den tiefen Grund der Leistungsfähigkeit Europas geben bei näherem Hinsehen die Europäer selbst, indem sie Philosophie und Wissenschaft als die tragende Säule ihrer Tradition angeben: "Wissenschaft als Machtprinzip, Notwendigkeit einer Freiheit des Denkens und der Freiheit überhaupt im Hinblick auf eine Entfaltung der Wissenschaft und (indirekt) der Macht. Diese zwei Themenbereiche sind charakteristisch für die Philosophie Europas in der Phase des Übergangs zur Modernität und haben eine eindeutige Verbindung mit unserem Geschick: Die Ankunft eines mächtigen, eigenständigen und freien Afrikas in einer wirklich befreiten Welt." 68 Nach Towa verdanktEuropaseine Stärke seiner philosophisch-wissenschaftlichen Grundbestimmung. Da also das Geheimnis der europäischen Stärke in Philosophie und Wissenschaft liegt, führt der Weg Afrikas zur Freiheit und Entwicklung über die Aneignung beider Säulen der abendländischen Tradition: "Es ist in höchstem Maße wichtig, daß Afrika dieses Geheimnis der Macht Europas deutlich identifiziert, es energisch beherrscht, um sich zu erhalten und als autonome politische und kulturelle Entität zu entfalten. "69 Diese Hochschätzung von Philosophie und Wissenschaft rührt für Towa letztlich daher, daß beide gleichsam in einem immerwährenden Zusammenspiel dazu beigetragen haben (vgl. Europa) und beitragen werden (mit Blick auf Afrika), das Leben menschenwürdig zu gestalten. Die notwendige Verbindung zwischen Philosophie und Wissenschaft für eine adäquate Existenzgestaltung sieht Towa darin begründet, daß die Philosophie immer wieder durch konkrete wissenschaftliche Fragestellungen zu Theoriebildungen höchsten Ranges genötigt wurde. Damit soll nichts anderes als das Faktum zum Ausdruck gebracht werden, daß sich die Philosophie zu aller Zeit im Gespräch mit der jeweiligen wissenschaftlichen Aktualität entwickelt hat.7° Für Towa bedeutet dies näher67 M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans I'Afrique actuelle, 56, (Übers. d. V.). 68 M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans I'Afrique actuelle, 59, (Übers. d. V.). Ähnlich heißt auch bei P. Hountondji: "Nous devons, en vue de notre Iiberation effective, prendre en charge Ia science et Ia technologie europeennes, et pour y parvenir, il faut commencer par mettre en oeuvre Je concept europeen de philosophie inseparable de cette science et de cette technologie, en developpant, par rapport a nos realites actuelles, une pensee critique et libre... " 69 M. Towa, Civilisation industrielle et negritude, in: Abbia 19 (1968), 44, (Übers. d.

V.).

70 Vgl. hierzu P. Hountondji, Le mythe de Ia philosophie spontanee, in: Cahiers Philosophiques Africains 1 (1972), 107-142.

IV. Towa und die Philosophie in Afrika

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hin, daß die Philosophie jene Wissenschaft ist, die dem Wunsch der Menschen nach Erkenntnis und Befreiung am ehesten entgegenkommt: "Die Bestimmung der Philosophie als Weltweisheit sowie ihre enge Verbindung mit der Wissenschaft dienen dem Ziel [ ... ] durch Wissenschaft und Philosophie den Menschen in den Stand zu setzen, nicht nur die Welt besser zu kennen, sondern auch seine Herrschaft über sie zu erweitern, um sie zu seinen Gunsten zu gestalten und sich dadurch von der Not zu befreien."71 Es kann demnach festgehalten werden, daß Towa mit seiner Frage nach dem Eigentlichen und Wahren der europäischen Stärke die Entfaltung einer philosophisch-wissenschaftlichen Tradition im zeitgenössichen Afrika ermöglichen und fördern möchte. Ein solcher Prozeß kann aber nur im Dialog, in der Diskussion und in der Kontroverse mit anderen Denkern geschehen. Dabei setzt Towa in erster Linie auf die Vernunft im Sinne von kritischem Vermögen des Menschen. 72 Denn die Philosophie als freie Tätigkeit des Menschen ist nichts anderes als die Suche nach dem Guten und nach der Wahrheit. Und eben diese durch Erkenntnis gewonnene Wahrheit ist "das Eigentum aller selbstbewußten Vernunft." 73 Diese Vernunft in ihrem Selbstbewußtsein macht letztlich das Eigentliche von Philosophie und Wissenschaft aus. Ihre Entfaltung bedeutet für den afrikanischen Denker nichts anderes als Freiheit und Befreiung durch Philosophie und Wissenschaft. Damit dies nun gelingt, regt Towa das Studium der Geschichte der Philosophie als Spiegelbild der europäischen Geschichte an. Denn nur so kann dargelegt werden, daß es sich bei der Geschichte Europas um eine Geschichte handelt, die dialektisch grundgelegt ist, die nicht durch eine lineare Abfolge von Begebenheiten, sondern vielmehr durch revolutionsartige Ereignisse gekennzeichnet ist. Die so verstandene Geschichte der Philosophie ist grundsätzlich offen. Gerade hierin wird man auf die Verbindung zwischen Philosophie und Wissenschaft verwiesen: "Die erste Voraussetzung, zur Philosophie als Geschichte ist demnach die Geschichte der Wissenschaft. "74 Mit diesem Hinweis auf das Aufeinander-verwiesensein von Philosophie und Wissenschaft soll ein Weg angezeigt werden, worauf die Kräfte im modernen Afrika gebündelt werden müssen, wenn hier ein substantieller Wandel vonstatten gehen soll: Es muß mit Hilfe von Philosophie und Wissenschaft alles daran gesetzt werden, eine Bewußtseinsänderung zu bewirken, deren Rationalität ein echtes Philosophieren in Afrika entfalten kann. Dadurch wird wieder die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß die mit Wissenschaft und Technologie eng "verwandte" Philosophie das Geheimnis der Macht Europas ist. Als 71 M. Towa, Essai sur Ia probh~matique philosophique dans l'Afrique actuelle, 67, (Übers. d. V.). 72 Vgl. M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans l'Afrique actuelle, 32: Le philosophe "sait son absolu et entend le demontrer pardes arguments. II fait appel aIa raison, aIa pensee critique et non aIa peur ou aIa confiance." 73 G. W. F. Heget, Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. J. Hofmeister, Harnburg 61952, 65. 74 P. Hountondji, Revolution dans Ia philosophie, in: Pourquoi Ia philosophie en Afrique, Lubumbashi 1973, 26-34; 33, (Übers. d. V.). 8 Ozankom

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

solche kann sie auch in Afrika ein neues Denken einleiten, das den schwarzen Kontinent von seinen unzähligen Problemen befreien könnte.7 5 Von hier aus erscheint das Studium der Geschichte der Philosophie als unverzichtbar. Zum einen weil der denkerische Horizont des modernen Afrikaners zutiefst von europäischen Mustern und Inhalten geprägt ist. Zum anderen aber, und das ist hier wesentlich, soll der Boden für die notwendige kritische Aneignung der europäischen Philosophie bereitet werden. Dies meint auch P. Hountondji, wenn er festhält "Jede ordentlich ausgearbeitete Philosophie [... ] kann sich nur entwickeln, wenn sie ihre eigene Geschichte reflektiert. Alle neuen Denker stützen sich auf ihre Vorläufer, genau wie sie auch an ihre Zeitgenossen anknüpfen oder sie widerlegen, um so das philosophische Erbe ihrer Zeit zu bereichern."76 Neben diesem Ansatz eines Zugangs zu den Quellen der europäischen Philosophie mit der Absicht ihrer Fruchtbarmachung für die Situation Afrikas erweist sich die Kenntnis der eigenen afrikanischen Geschichte ebenfalls als unverzichtbar. Näherhin geht es darum, das Gewesene möglichst wirklichkeitsnahe zu rekonstruieren, damit die möglichen Gründe z.B. für die Niederlage und die Demütigung Afrikas namhaft gemacht werden können, aber auch, damit das Erhaltenswerte, Zukunftfähige zur Geltung gebracht werden kann. Demnach geht es hier um ein Desiderat einer Geschichtsschreibung von innen her: "Es geht darum, unsere Geschichte als die Geschichte unserer eigenen Gesellschaft und nicht als die Geschichte von abenteuerlustigen Europäern niederzuschreiben."77 Hierbei kommt es nach Towa v .a. darauf an, diese Geschichte als einen Prozeß zu begreifen und darzulegen, der nicht zu Ende gegangen ist. Eben im Lichte dieses dynamischen Verständnisses der Geschichte kann die afrikanische Welt lebendig bleiben, nämlich indem sie den mit der Geschichte verbundenen Wandel ernst nimmt. Dahinter steht folgender Gedanke: Der prozeßhafte Charakter der Geschichte, die alle Ebenen des menschlichen Lebens umfaßt, ist letztlich die Frucht menschlichen Handelns. Denn der Mensch ist wie kein anderes Lebewesen mit der Fähigkeit ausgestattet, Initiative zu ergreifen, den Gang der Geschichte zu gestalten. Mit Blick auf Afrika bedeutet dies, daß der Afrikaner Subjekt seiner Geschichte werden muß, indem er die Initiative ergreift, seine Tradition in ihrer bisherigen Form aufzugeben, um sie den Anforderungen des Heute anzupassen: "Indem es mit der eigenen Essenz und Vergangenheit bricht, muß das 'Selbst' danach streben, wie der andere, dem anderen ähnlich zu werden. Dadurch wird das Selbst nicht mehr kolonisierbar durch den anderen. Es handelt sich dabei um die notwendige Vermittlung, die 75 Vgl. hierzu M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans l'Afrique actuelle, 68: "Parce que Ia philosophie europeenne, en raison de sa parente etroite avec Ia science et Ia technologie, semble etre l'origine de Ia puissance europenne, elle nous aidera a operer Ia revolution des mentaliles qui conditionne l'edification de notre propre puissance... " 76 P. Hountondji, Afrikanische Philosophie: Realität oder Mythos, 65. 77 K. N'Krumah, zitiert nach M. Towa, Consciencisme (hommage a Kwame N'Krumah) in: Presence Africaine 85 (1973), 148-177; 156, (Übers. d. V.).

IV. Towa und die Philosophie in Afrika

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zu einer echten Selbstbehauptung unseres Daseins in der gegenwärtigen Welt führen kann." 78 Kurzum: Towa verweist den afrikanischen Denker auf den beweglichen und turbulenten Charakter der Geschichte: Nur hier hat er sich fern von Spekulationen und Ideologien zu bewähren. Oberstes Ziel ist dabei die Bewältigung der anstehenden Aufgaben kraft eines wissenschaftlich fundierten Umgangs mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Hierzu soll die Philosophie, sofern sie kein bloß spekulatives Unternehmen ist, sondern sich an der je existentiellen Befindlichkeit entzündet, ihren Beitrag leisten. Damit ist man aber zugleich bei der Frage nach der möglichen Aufgabe der Philosophie angelangtangesichtsvon Elend, Krieg und Unterdrückung, usw. im südlich von der Sahara gelegenen Afrika. Eine Äußerung Towas ist hierzu aufschlußreich: "Das Denken ist das Denken einer sozialen Wirklichkeit, die es begreifen und verändern will. Es ist zugleich das Denken über die Umwelt, mit der der Mensch in inniger Beziehung steht."79 Hiermit macht Towa nicht zuletzt mit Bezug auf die Situation Afrikas geltend, daß der Philosoph weder neutral noch gleichgültig dem Schicksal seines Kontinents gegenüber sein kann. Und wenn nach ihm die meisten Philosophien von der existentiellen Motivation geleitet waren, zur Lösung der Probleme ihres Zeitalters beizutragen80, so gilt es um so mehr für den modernen afrikanischen Intellektuellen. Infolgedessen schreibt Towa dem Philosophen die Aufgabe zu, nicht nur Einfluß auf die ganzheitliche Entwicklung Afrikas zu nehmen, sondern v.a. an dieser Entwicklung ernsthaft mitzuarbeiten. In sozio-ökonomischer Hinsicht erweist sich das Engagement des Philosophen als ein Eintreten für eine von Forschung, Wissenschaft und Technologie ermöglichte Verbesserung der Lebensbedingungen im heutigen Afrika. Diese "Idee der Entwicklung mit Hilfe der Wissenschaft"81 bedeutet nichts anderes als ein Fruchtbarmachen dessen, was den gegenwärtigen Entwicklungsstand Europas ermöglicht hat, nämlich Wissenschaft und Technologie, die jene Elemente sind, die Europas Einzug in das Industriezeitalter eingeleitet haben, wie K. Kabanda treffend sagt: "In der Tat sind die Rätsel oder Geheimnisse der Welt mit Hilfe des Fortschritts von Wissenschaft und Technik 78 M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans l'Afrique actuelle, 42, (Übers. d. V.). 79 M. Towa, Identite et transcendance, 471, (Übers. d. V.). 80 Dies meint er, wenn er schreibt: "Quand on sait que Ia vocation philosophique de Platon a ete determim~e par Ies preoccupations politiques, on ne s'etonne plus que ses dialogues !es plus importants, Ia Republique et Ies Lois, soient des dialogues politiques." M. Towa, Identite et transcendance, 454. Mehr noch: "La dependance de Ia pensee a l'egard de Ia pratique sociale apparait plus visiblement encore dans !es temps modernes. La partie Ia plus significative de Ia production intellectuelle europeenne moderne n'est comprehensible que par reference a Ia revolution bourgeoise et a Ia revolution proletarienne, soit qu'elle Ies defende ou !es combatte." M. Towa, Identite et transcendance, 455. 81 J. Ladriere, Science, Technologie et culture (Vorlesungstext), Leuven 1974, 228.

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

gelüftet worden. Dadurch hat der Wissenschaftler eine breitere Einsicht in die Vorgänge und Gesetze bekommen, die die Welt bestimmen und denen der Mensch des vorwissenschaftliehen Zeitalters mit Fatalismus ausgeliefert war. "82 Wenn Wissenschaft und Technologie Entwicklung und Industrialisierung möglich machen und wenn dies zudem historisch gesehen zunächst in Europa in besonderer Form zur Blüte gekommen ist, so bedeutet dies nicht, daß es sich hier um ein Monopol Europas handelt. Vielmehr stehen Wissenschaft und Technik- qua menschliche Leistungen -jedem dazu fähigen Menschen offen. Demnach gibt es für das Heil Afrikas keinen geeigneteren Weg, als sich dieses Geheimnisses von Europas Stärke auf die eigenen Zwecke hin zu bemächtigen. Näherhin geht es darum, sich nicht so sehr in Wissenschaft und Technik schulen zu lassen, als vielmehr aus beidem Kapital für Afrika zu schlagen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß Wissenschaft und Technik jene "Geheimwaffen" sind, ohne die die viel besprochene ganzheitliche Befreiung Afrikas nicht möglich ist. Und wenn Towa, wie oben ausgeführt, die Aufgabe der Philosophie in Afrika in erster Linie darin sieht, den Afrikaner in einen Lemprozeß hineinzunehmen, an dessen Ausgang eine von Technik und Wissenschaft durchdrungene Verbesserung der Existenzgrundlage stehen soll, muß hierzu eine entsprechende geistige Einstellung gehören. Es ist eben die Aufgabe des Philosophen, die geistige Bereitschaft für einen Prozeß des Umdenkens zu wecken und zu fördern: "Die Masse der Frauen und Männer auf ein ertragreiches Leben und auf ihre Rolle als aktive Bürger vozubereiten. Denn indem er in besonderer Weise am gemeinsamen Werk, an gemeinschaftlichen Anstrengungen im ökonomischen, künstlerischen und geistigen Bereich teilnimmt, schreibt der afrikanische Mensch an seiner eigenen Geschichte mit. "83 Die hier angedeutete "Erziehungsaufgabe", die der Intellektuelle gegenüber den Volksmassen wahrzunehmen hat, kann aber nur dann gelingen, wenn er den notwendigen Kontakt mit der Wirklichkeit dieser Menschen sucht und pflegt, ohne dabei den Blick für Grundtendenzen und Entwicklungen in anderen Gesellschaften zu verlieren. Ohne die Rolle des Intellektuellen geringzuschätzen, kommt es demnach v.a. darauf an, die Volksmassen für die geistige Umkehr zu gewinnen. Denn sie sind ja letztlich die eigentlichen "Macher" der erhofften Modernisierung. Towa drückt dies so aus: "Unser kulturelles Schicksal sowie unsere wirtschaftspolitische Bestimmung hängt von den afrikanischen Volksmassen ab, die wesentlich weniger angepaßt sind, als die kleine Bourgeoisie, die sie regiert. Ihre Mitwirkung im Prozeß radikaler Veränderung, die die aktuelle Situation erfordert, würde jenes Feuer entfachen, in dem alle toten Elemente unserer Kultur verbrennen würden, während das Lebendige dieser

82 K. Kabanda, La problematique de l'etre africain, 83 E. Njoh-Mouelle, Jalons II, 23, (Übers. d. V.).

9, (Übers. d. V.).

IV. Towa und die Philosophie in Afrika

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Kulturen sich reinigen würde, so daß eine Bewegung nach vorne entstehen könnte." 84 Demnach schwebt Towa gleichsam eine Philosophie der Volkserziehung vor, die den Intellektuellen dazu befähigen soll, die Volksmenge für ihre Aufgabe im Prozeß der Entwicklung und Modernisierung der Gesellschaft zu rüsten. Bekanntlich kann ein solcher Prozeß nur gelingen, wenn er vom Volk selbst getragen wird, d.h. wenn es in Freiheit seine Schaffenskraft, seinen Willen und seine Kreativität in den Dienst der Ankunft einer "besseren Lebens weit" für den einzelnen, aber auch für die Gemeinschaft stellt. Infolgedessen geht es nicht darum, die Volksmassen zu unterjochen, sondern als aktive Subjekte der angestrebten Veränderungen ernst zu nehmen. Dies meint u.a. Hountondji, wenn er anmerkt: " Wir werden die Einheit im Denken unserer Völker nicht durch Gummiknüpel realisieren. Vielmehr werden wir dies nur dann erreichen, wenn wir allen und jedem einzelnen das Recht auf eigene Meinung, auf Irrtum und auf Kritik zubilligen. "85 Mit diesem Akzent auf Kritik, Initiative und Kreativität soll der Afrikaner nicht nur an seine Menschenwürde erinnert werden, sondern er soll sie auch im Unterwegs-sein zu einer besseren Welt leben und ausüben können. 86 Über diesem Modell von Fortschritt und Entwicklung, das Towa vorschwebt, steht die Freiheit als conditio sine qua non seiner Realisierung. Dieses Desiderat bedeutet für den Afrikaner, zusammenfassend gesagt, die Freiheit, unter verschiedenen Möglichkeiten auszuwählen und das Gewählte auf eigene Ziele hin zu verwirklichen. Mit diesem Willen zur Freiheit stößt man sodann auf jenes Prinzip, das die Philosophie im allgemeinen auszeichnet und das es im Projekt einer ganzheitlichen Befreiung Afrikas anzustreben gilt: "Die Freiheit, die eines der wesentlichen Prinzipien der europäischen Philosophie ausmacht, begegnet dem tiefen Sinn unseres Projekts, nämlich ein freies Afrika in einer befreiten WeJt."87 Eben im Lichte dieser Freiheit soll jedes Kulturgut unter Absehung seiner Herkunft gemäß den vorrangigen Bedürfnissen Afrikas in den Prozeß einer ganzheitlichen Entwicklung aufgenommen und dadurch Bestandteil der afrika84 M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophlque dans I'Afrique actuelle, 51, (Übers. d. V.). 85 P. Hountondji, Sur Ia philosophie africaine. Critique de l'ethnophilosophie, Paris 1977, 256, (Übers. d.V.). 86 Vgl. hierzu E. Njoh-Mouelle, De Ia mediocrite a l'excellence, 110: "Dans le contexte humain oll vivre c'est combattre Ia misere,l'ignorance ou Ia maladie, oll regnent Ia violence et Ia domination, ce sont des sujets humains qu'il faut transformer coercitivement en leur faisant prendre conscience de leur dignite d'agents createurs, de leur pouvoir d'action, de leurs responsabilites dans les transformations de leur milieu." 87 M. Towa, Essai sur Ia problematique phllosophlque dans I'Afrique actuelle, 68, (Übers. d. V.); vgl. hierzu auch ders., Identite et transcendance, 608: "Notre dessein fondamentat sera une Afrique auto-centree ayant en elle-meme son centre de conception, de decision et de realisation pour Ia totalite de ses spheres d'activite essentielles."

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

nischen Kulturen werden: "Im Hinblick auf unsere wesentlichen Ziele sind alle Traditionen und Kulturen, die fremden wie die eigenen, die Materialien, die wir uns aneignen werden, sofern sie unseren eigenen Zielen dienlich sind." 88 Wenn demnach eine ganzheitliche Befreiung Afrikas das Gebot der Stunde ist und wenn diese Aufgabe vornehmlich mit Hilfe von Technik und Wissenschaft europäischer Provenienz zu bewältigen ist, so stellt sich doch noch die Frage, was aus dem traditionellen afrikanischen Gedankengut im Hinblick auf dieses Projekt erhaltenswert sein soll. Zunächst muß hervorgehoben werden, daß, wenn für Towa der Weg Afrikas ins Industriezeitalter zweifellos tiefgehende Veränderungen mit sich bringt, dies für ihn in keinsterWeise einen Bruch mit der eigenen Überlieferung bedeutet. 89 Das wichtigste Element der Kontinuität - trotz Diskontinuität - zwischen Gestern und Heute sind die afrikanischen Sprachen, die Vehikel und Stütze der afrikanischen nationalen Kulturen sind. Und während Wissenschaft und Technik einem Universalisierungsprozeß gleichkommen, indem sie die Afrikaner gleichsam am Allgemeingut der Menschheit teilnehmen lassen, ereignet sich z.B. durch das Pflegen der eigenen Sprachen ein Prozeß der Partikularisierung. Hier wird der Blick auf die kulturellen Elemente Afrikas gelenkt, die nach Towas Einschätzung weder durch Wissenschaft noch Technik depotenziert werden können. 90 Das Pflegen dieser Sprachen bedeutet eine Vergegenwärtigung der jeweiligen Situation und der eigenen Herkunft sowie ein Eintreten in einen Dialog mit dem Gros der Bevölkerung, die das eigentliche Subjekt der Entwicklung ist. 91 M. Towa, ldentite et transcendance, 15, (Übers. d. V.). Towa drückt dies so aus: "L'industrialisation implique certes une transformation profonde de Ia societe et de sa culture. Neanmoins cette transformation, aussi radicale qu'on Ia suppose, n'&luivaut pas a une coupure absolue avec Ie passe." M. Towa, Civilisation industrielle et negritude, 32. Ähnlich heißt es auch bei Njoh-Mouelle: "La philosophie vient de ce qu'il y a un desir d'autre chose, d'une autre organisation de Ia societe, et ce desir ne peut pas s'affranchir des vieilles formes sociales." E. Njoh-Mouelle, Jalons, I, 75. 90 Dies meint Towa, wenn er von der Schöpfungstätigkeit als einen Prozeß in zwei Richtungen spricht: "La creation s'effectue en un double processus d'universalisation et un processus de particularisation. Le premier est essentiellement theorique, le second pratique." M. Towa, Identite et transcendance, 531. 91 Es ist daher nicht nur bedauerlich, sondern auch der Sache unangemessen, wenn man in Afrika immer wieder darauf stoßen muß, daß die Kommunikation zwischen Elite und Volk in Fremdsprachen Englisch, Fränzösisch, usw. geschieht, die die meisten Menschen aber nicht beherrschen. Dies meint wohl Towa, wenn er das Groteske an dieser Situation wie folgt schildert: "En Afrique et surtout en Afrique 'francophone', Ia situation est ä peine croyable: de nombreux politiciens se font un devoir de ne s'adresser aux populations qu'en fran~ais. Et c'est ainsi qu'on peut assister ä des sc~nes d'une inconcevable absurdite: un politicien ou un administratreur haranguant en fran~ais, avec le secours d'un interpr~te, un public parlant Ia meme Iangue que l'orateur." M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans l'Afrique actuelle, 50. Vgl. hierzu auch P. 88 89

IV. Towa und die Philosophie in Afrika

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Demgegenüber muß hier betont werden, daß die Volksmengen als eigentliche Akteure des angestrebten Wandels in Afrika unbedingt in ihren eigenen Sprachen angesprochen werden müssen, damit gewährleistet werden kann, daß die Information die Zielgruppen tatsächlich erreicht. Bedenkt man zudem, daß Towas Projekt einer ganzheitlichen Befreiung ein selbständiges Afrika als oberstes Ziel anvisiert, das von außen nur das annimmt, was es in Hinblick auf die eigenen Bedürfnisse braucht - und nicht schon selber besitzt - so bedeutet das Erhalten und Fördern der eigenen Sprache eine Aufwertung der eigenen kulturellen Tradition: "Sich vornehmen, aus Afrika eine autonome kulturelle Entität zu machen[ ... ] hat kein anderes Ziel, als ein freies Afrika zu wollen, das von außen nur das nimmt, was es von innen her braucht oder wirklich schätzt. "92 Kurzum, über das Praktisch-kommunikative hinaus stellen die Sprachen die Möglichkeit einer Rückbesinnung auf das eigene Selbst dar. Hierin liegt der tiefe Grund dafür, daß Towa neben seiner Lehrtätigkeit ein Zentrum zur Erforschung und Förderung der einheimischen Sprachen in Kamerun leitet. 3. Kritik der Ethnophilosophie

Man kann, grob polarisierend und leicht verallgemeinernd, Towa zu jenen Denkern zählen, deren Schaffenskraft darauf angelegt ist, das Vorhandensein einer genuin afrikanischen Philosophie in Frage zu stellen. Es geht Towa darum, jener Tendenz den Kampf anzusagen, die mit den Mitteln der Ethnologie oder Anthropologie aus den kulturellen Elementen wie Sprichwörtern, Mythen, Riten, Praktiken, Gewohnheiten, usw. eine afrikanische Philosophie herauszudestillieren versuchen. Dahinter steht der oft nicht zugegebene Versuch mancher Autoren, die Schwarzafrikaner zu rehabilitieren, sie in einem besseren Licht erscheinen zu lassen und ihnen eine Dignität zu attestieren, die ihnen seitens der Kolonialherren abgesprochen wurde. Von hier aus erklärt es sich, daß viele Studien über das alte Afrika den Zug eines geistigen Zurückholens eines verlorenen Paradieses bekommen. Bei aller Legitimität dieser Ansätze, die nicht selten den Versuch einer Rückgewinnung eines verlorenen Stolzes darstellen, müßte man zunächst tiefer und gründlicher das im zeitgenössischen Afrika "Zu-denkende" erblicken und inständiger auf die damit gegebenen Möglichkeiten achten: Ohne den Gang "ad fontes" geringzuschätzen, darf sich die Aufgabe der Philosophie in Afrika nicht darin erschöpfen, das Vergangene zum Leben zu erwecken. Dies meintE. Njoh-Mouelle, Hountondji, Charabia et mauvaise conscience, 30: "Aucun systeme d'education, aucun projet de deve1oppement culture1 n'a de chances de reussir dans l'Afrique d'aujourd'hui, s'il ne commence par resoudre le problerne linguistique." 92 M. Towa, Civilisation industrielle et negritude, 44, (Übers. d. V.).

120

B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

wenn er feststellt: " Die Aufgabe der Philosophie kann nicht darin bestehen, in der Vergangenheit nach Weltanschauungen zu suchen, die längst aufgehört haben zu existieren, denn der Philosoph, der als Museumswächter fungiert, ist ein Pseudophilosoph, der für die Gesellschaft von keinem Nutzen ist."93 Was besagt Ethnophilosophie? Wie später aufzuzeigen versucht wird, ist der Ausdruck Ethnophilosophie eine Wortschöpfung, die erst in den sechziger Jahren Eingang gefunden hatte in die Diskussion über die Bedingungen der Möglichkeit eines möglichst eigenständigen Philosophierens in Afrika, während man mit der damit verbundenen Realität in Anthropologie und Ethnologie bereits bestens vertraut war. Hierher gehören Termini wie Ethnogeschichte, Ethnopsychologie, Ethnomusik, Ethnographie, usw. 94 Demgegenüber wurden die Versuche einer philosophischen Hermeneutik des traditionellen afrikanischen Gedankenguts mit dem Ausdruck "philosophie ethnologique" wiedergegeben.95 In derselben Weise verwendet auch F. Eboussi-Boulaga diesen Terminus in seinem Aufsatz "Le Bantou problematique. "96 In derselben Tradition befindet sich auch A. Doutreloux, wenn er die afrikanische Weltanschauung mit "ethno-philosophie" angibt. 97 Der in der Diskussion um Sinn und Möglichkeit einer afrikanischen Philosophie unter dem Stichwort "Ethnophilosophie" äußerst umstrittene Denkansatz wurde durch die Arbeit des belgiseben Missionars P. Tempels, inauguriert: Tempels veröffentlichte im Jahre 1945 ein Buch mit dem Titel "La philosophie bantoue". 98 Darin war alles darauf angelegt, aufzuzeigen, daß die Schwarzen nicht jene Wilden sind, für die sie von den Europäern und den Kolonialherren gehalten werden, sondern daß sie durchaus eine - wenn auch implizite und natürliche - Philosophie aufweisen99, nach der sie ihr Denken und Handeln ausrichten. Um diese "unbewußte" Philosophie ans Licht zu bringen, befragte Tempels die Gebräuche, die Riten, die Sprichwörter der im Südosten Zaires lebenden Baluba, dehnte seine Ergebnisse aber auf die Bantu und 93 E. Njoh-Mouelle, Jalons, Recherche d'une mentalit~ neuve, Yaound~ 1970, 87, (Übers. d. V.). 94 Vgl. hierzu G. Van Bulck, Le Se congres des sciences anthropologiques et ethnologiques, in: Zaire 10 (1956), 965-983. 95 Vgl. hierzu etwa E. Possoz's Vorwort zu PI. Tempels' "La philosophie bantoue". 96 F. Eboussi-Boulags, Le Bantou probl~matique, in: Pr~sence Africaine 66 (1968), 4-

48.

97 Vgl. A. Doutreloux, P~r~grinations d'une science. Notes sur Je Troisieme S~minaire international africain, in: Zaire 14 (1960), 549-554. 98 P. Tempels, La philosophie bantoue, Elisabethville 1945. Diesem Buch ging eine ganze Reihe von Artikten und Aufsätzen in verschiedenen Zeitschriften voraus. 99 Vgl. hierzu folgende Äußerung: "... dans ses devinettes comme dans ses fables et ses proverbes, Je Noir nous Iivre inconsciemment une image naturelle, fidele et authentique de ce qu'il est et de ce qu'il pense intimement." P. Tempels, zitiert nach A. J. Smet, La conception de Ia philosophie dans l'oeuvre du Pere Tempels, maschinengeschriebener Text, Kinshasa 1970, 13.

IV. Towa und die Philosophie in Afrika

121

°

Schwarzafrikaner im allgemeinen aus. 10 Für die begriffliche Auslegung bediente er sich der Kategorien der scholastischen Philsophie. So wies der Inhalt seiner Abhandlung folgende Gliederung auf: "Bantu-Ontologie", "BantuErkenntnistheorie", "Bantu-Psychologie" und "Bantu-Ethik". Dem gewichtigen Stellenwert des Seinsbegriffs in seiner philosophischen Schulbildung entspricht die zentrale Rolle der Lebenskraft in der Bantu-Weltanschauung. Von dieser Dominanz der Lebenskraft her werden die Stellung der Ahnen, die Schöpferrolle Gottes, die Verehrung des Häuptlings und der Ältesten begreiflich.101 Tempels "Bantu-Philosophie" erhielt ein starkes Echo sowohl seitens der Europäer (Bachelard 102, Camus 103, Marcel 104 , usw.) wie auch bei den Afrikanern (Mulagol05, Lufuluabol06 , Makarakiza 107 , usw.). Hierher gehört- als einer der ersten und bedeutendsten Fortführungsversuche der Anregungen Tempels' - A. Kagames Studie "La Philosophie Bantu-rwandaise de l'Etre" . 108 In kritischer Absetzung von Tempels begrenzt Kagame seine Aussagen auf das Gebiet des heutigen Rwanda, dessen Sprache er auf ihre Struktur hin auszuleuchten sucht. Die damit verbundene Darstellung einer "Bantu-Ruanda" Philosophie erfolgt nicht im Lichte des Terminus "Kraft" wie bei Tempels, sondern im Horizont des Seinsbegriffs. Wie Tempels aber orientiert er sich an den Kategorien der scholastischen Schulphilosophie.

100 Dieser Aufgabe stellt sich Tempels bald nach seiner Ankunft im damaligen Belgisch-Kongo im Jahre 1933. Schon 1938 erwähnt er eine Sammlung von ca. 1500 Sprichwörtern, die er bei den "Baluba" zusammengetragen hatte. Die Ergebnisse seiner Analysen wollte Tempels dennoch nicht auf diese Volksgruppe beschränken. 101 Vgl. B. Bujo, Afrikanische Theologie in ihrem gesellschaftliche Kontext, Düsseldorf 1986, 22-42. 102 G. Bachelard u.a., Temoignages sur "Ia Philosophie bantoue" du Pere Tempels, in: Presence Africaine 7(1949) 252-278. 103 A. Camus u.a., Temoignages sur "La Philosophis bantoue du Pere Tempels. in: Presence Africaine 7 (1949) 252-278. 104 G. Marcel, u.a. Temoignages sur "La Philosophie bantoue" du Pere Tempels, in: Presence Mricaine 7 (1949) 252-278. 105 V. Mu1ago, Dialectique existentielle des Bantous, in: Recherehes et debats 24 (1958) 146-171. 106 F.M. Lufuluabo, Versune theodicee bantoue, Leuven 1962. 107 Mak:arakiza, A., La dialectique des Barundi, Brüssel 1959. 108 A. Kagame, La philosophie Bantu-rwandaise de I'Etre, Brüssel 1956. Vgl. hierzu auch ders., L'ethno-philosophie des Bantu, in: R. Klibansky (Hg.), La philosophie contemporaine. Chronique, Florenz 1971, 120-140; ders., La phi1osophie bantoue comparee, Paris 1976.

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa:

Neben Kagame gibt es eine ganze Reihe von afrikanischen Denkern, die sich in der Tradition Tempels' bewegen. Zu diesen zählen beispielsweise B. J. Fouda 109 , A. N'Daw 110, usw. Meinten diese Autoren, in der Ethnophilosophie eine echte und für Afrika angemessene Form der Philosophie gefunden zu haben, so wurde dies v.a. durch F. Eboussi-Boulaga 111 , M. Towa und P. Hountondji im Hinblick auf die Frage nach dem status quaestionis der Philosophie im zeitgenössischen Afrika zunehmend in Frage gestellt. 112 Versucht man nun im Lichte des bisher Erörterten eine Antwort zu finden auf die eingangs gestellte Frage, wie die Ethnophilosophie zu verstehen sei, so kann man sich dieser so annähern: Die Ethnophilosophie ist, formal gesehen, zuallererst ein aus Ethnologie und Philosophie zusammengesetzter Begriff. Bezeichnend für die Ethnophilosophie ist der Umstand, daß hier der Philosophiebegriff offenbar dahingehend verallgemeinert wird, daß dieser dazu fähig wird, auch die kulturellen Elemente Afrikas in sich aufzunehmen. Infolgedessen ist Philosophie kaum noch von Soziologie oder Kulturwissenschaft zu unterscheiden. 113 Eben gegen diese Vermischung der Grenzen zwischen den Wissenschaften und den damit verbundenen Versuch, die Weltanschauung der Afrikaner zu einer Philosophie sui generis zu deklarieren, wendet sich Towa. Sein Verständnis der Philosophie nötigt ihn zu einer kritisch-negativen Bestimmung dessen, was Ethnophilosophie meint: "Die Ethnophilosophie legt in objektiver Weise Anschauungen, Mythen, Riten dar. Urplötzlich wird diese objektive Darstellung zu einem metaphysischen Glaubensbekenntnis, ohne dabei Sorge Vgl. B. J. Fouda, La philosophie negro-africaine. Diss. phil. Lilie 1967. A. N'Daw, Peut-on parler d'une philosophie africaine, in: Presence Africaine 58 (1966) 32-46. 111 Vgl. F. Eboussi-Boulaga, Le Bantou problematique, in Presence Africaine 66 (1968) 4-40; Ders., La crise du Muntu. Authenticite africaine et philosophie, Paris 1977. 112 Diese Rolle Towas und Hountondjis bei der Diskussion über die Ethnophilosophie hat A.J. Smet wohl vor Augen, wenn er festhält "II est inutile de rappeler ici Ia fortune reservee au terme 'ethno-philosophie' depuis M. Towa et P. Hountondji". Vgl. A. J. Smet, Histoire de Ia philosophie africaine, in: La philosophie africaine. Actes de Ia lere semaine philosophique de Kinshasa, Kinshasa 1977, 47-68; 56. P. Hountondji hält sich und M. Towa für die Schöpfer des Ausdrucks Ethnophilosophie. So schreibt er: "Ethnophilosophie: essai de reconstitution de Ia 'vision du monde' hypothetique d'un peuple. J'ai forge ce neologisme dans mes 'Remarques sur Ia philosophie africaine contemporaine' deja citees (Diogene no 71). Colncidence heureuse: Le camerounais Marcien Towa Je forgeait au meme moment dans son remarquable Essai sur Ia problematique philosophique dans l'Afrique actuelle..." Vgl. hierzu P. Hountondji, Le mythe de Ia philosophie spontanee, in: Cahiers phi1osophiques africains 1 (1972), 107142; 130, Anm. So gesehen handelt es sich hier wohl um eine denkerische Verwandschaft, die beide Autoren gleichsam zum selben Zeitpunkt zum Nachdenken über dasselbe Thema nötigte. 113 Vgl. hierzu M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans I'Afrique actuelle, 26. 109 110

V. Anspruch und Kritik dieses Ansatzes

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dafür zu tragen, weder die europäische Philosophie zu widerlegen, noch das Eintreten für das afrikanische Denken zu begründen. So gesehen verrät die Ethnophilosophie zugleich die Ethnologie und die Philosophie." 114 Anders ausgedrückt: Die Ethnophilosophie stellt nach Towa nicht nur eine d~ d..Uo yiPo~ dar, sondern versucht auch noch, längst Vergangenes ins Heute zurückzuholen, ohne sich von der dabei notwendigen Anstrengung des Begriffs leiten zu lassen. Die einzige ersichtliche Motivation einer solchen Rekonstruktion scheint daher der ideologisch begründete Versuch einer Rehabilitierung der afrikanischen Vergangenheit, die der Sache der Philosophie aber in keinsterWeise dienlich sein kann. Daher das vernichtende Urteil Towas: "Die Ethnophilosophie, so wie sie bisher praktiziert wurde, stellt oft nur einen Weg der geringsten Anstrengung dar, die sich von den Ideen, Techniken und Vorgehensweisen der Ethnologie und des philosophischen Diskurses samt dessen Lehren und Werten im Namen der Afrikanität dispensiert. "115 J1€Tdßaat~

Ein derart der Vermischung von Philosophie und Ethnologie entspringender und der Ideologie der Rehabilitierung Afrikas verschriebener Denkansatz führt zu keinem echten Philosophieren und muß nach Towa überwunden werden, wenn eine echte Philosophie in Afrika möglich sein soll und einen wie auch immer gearteten Beitrag zur ganzheitlichen Befreiung Afrikas leisten soll. Damit ist jene Grundlage gekennzeichnet, der Towas Kritik der Ethnophilosophie entstammt. V. Anspruch und Kritik dieses Ansatzes

Towas Hauptaugenmerk gilt - das belegen die diesem Abschnitt zugrundeliegenden Veröffentlichungen - dem Projekt einer umfassenden Befreiung und Modemisierung des südlich von der Sahara gelegenen Afrikas. Da er nun davon überzeugt ist, daß Philosophie und Wissenschaft das Geheimnis der Stärke Europas sind, versucht er zu eruieren, ob und wie dies auch im gegenwärtigen Verstehenshorizont dem Prozeß des Wach- und Bewußtwerdens in Afrika den unentbehrlichen Halt geben könnte. Die Frage nach der angemessenen Interpretation der eigenen Tradition spielt hierbei eine verhältnismäßig bescheidene Rolle und wird im Horizont eines 114 M. Towa, Essai sur la problematique philosophique dans l'Afrique actuelle, 31, (Übers. d. V.). 115 M. Towa, Essai sur la problematique philosophique dans l'Afrique actuelle, 32, (Übers. d. V.). Ähnlich urteilt auch P. Hountondji: "Weil [die Ethnophilosophie] sich auf eine imaginäre Einmütigkeit bezieht, einen Text interpretiert, der nirgendwo existiert und daher stets neu erfunden werden muß, ist sie eine Wissenschaft ohne Objekt, eine 'verwirrte Sprache', die sich auf nichts bezieht, ein Diskurs, der keine Referenz hat, weshalb er nie falsifiziert werden kann." Vgl. P. Hountondji, Afrikanische Philosophie: Mythos und Realität, Berlin 1993,64.

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B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

formalen Kriteriums artikuliert, wonach diese Tradition, nur sofern sie einen Beitrag zur Modemisierung Afrikas zu leisten vermag, als beachtens- und erhaltenswert zu gelten hat. Die geradezu inflationäre Hochschätzung von Wissenschaft und Technik. verbunden mit der Funktionalisierung von Philosophie und Tradition auf die angestrebte ganzheitliche Entwicklung Afrikas hin, wirft Fragen auf, von denen zwei nun näher erörtert werden sollen, die, wie mir scheint, im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Towa mit Blick auf die gegenwärtige Situation Afrikas besondere Aufmerksamkeit verdienen. 1. Wissenschaft und Technik als Ideologie

Eine Grundüberzeugung Towas ist, daß der Grund für die Niederlage Schwarzafrikas gegenüber seinen Eroberern materieller Art ist. Demnach muß sich der Afrikaner des Geheimnisses der Stärke Europas, Philosophie, Wissenschaft und Technik, bemächtigen, wenn er die Selbstbestimmung erlangen will: "Der Wille, wir selbst zu sein, unser eigenes Schicksal in die Hände zu nehmen, stellt uns vor die Notwendigkeit, uns selber aus der Tiefe heraus ZJ.l verändern, unser eigenes Sein aufzukündigen, um der andere zu werden. Diese Notwendigkeit bringt uns vor den Ausgangspunkt unserer Auseinandersetzung mit dem Westen zurück, vor eine Epoche, in der wir mit Leidenschaft darum bemüht waren, das Gleichgewicht der Kräfte durch ein Herrwerden über das Geheimnis des Siegers wiederherzustellen." 11 6 Bei aller Legitimität dieses Anliegens muß dennoch festgehalten werden, daß die von Towa postulierte Verbindung von Philosophie, Wissenschaft und Technik gänzlich undifferenziert bleibt. Denn zwar gibt es eine enge Verbindung von Philosophie und Wissenschaft, aber nicht zwischen Wissenschaft und Technik. Diese kommen erst im 18. und 19. Jahrhundert zusammen und sind auch heute zum Teil recht unabhängig voneinander. Und in dem Maße, in dem sich die Technik auf eine wissenschaftliche Basis stellt, d.h. die Naturwissenschaft sich teilweise der Technik zur Verfiißung stellt, löst sich die Verbindung von Philosophie und Naturwissenschaft: Es werden zwei ganz verschiedene Geistesbereiche. So besteht heute z.B. eine Hauptaufgabe der Philosophie darin, den szientistischen Schein aufzuklären. Ebenso undifferenziert ist m.E. Towas Zurückführung der Übermacht Europas auf die Wissenschaften. Denn erstens werden diese erst ab dem 19. und voll im 20. Jahrhundert bestimmend. Vorher waren sie eher esoterische Angelegenheit von ganz wenigen Gelehrten ohne Einfluß. Ebenso wichtige Faktoren der Stärke Europas sind: Die Organisation von Herrschaft und Recht, das wirtschaftliche Unternehmertum freier Städte bzw. freier Schichten; die 116 M. Towa, Essai sur Ia probh!matique philosophique dans I'Afrique actuelle, 39, (Übers. d. V.).

V. Anspruch und Kritik dieses Ansatzes

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lange Tradition des Handwerks und des Schulwesens; die z.T. brutalen Methoden der Industrialisierung im 19. Jahrhundert; die Herausbildung einer zuverlässigen Beamtenschaft, usw. Von hier aus erweist sich auch die These, die Philosophie sei das Herz der europäischen Kultur - eine beliebte Konstruktion bei manchen Philosophen wie Heget und Heidegger - als eine Übertreibung, die der historischen Realität nicht standhält. Damit hängt ein anderes zusammen: Zum Begriff der Philosophie gehört eine engere und eine weitere Sicht. Faßt man den engeren Begriff ins Auge, so muß man einräumen, daß die Philosophie ein griechisches Produkt ist. Mir scheint aber, daß man ganz gut ohne diese Form der Philosophie leben kann, wie z.B. die überaus erfolgreichen Römer, Chinesen usw. und dabei doch auch eine Art von Philosophie im weiteren Sinne des Wortes haben kann. Ob die Philosophie in ihrem engeren, europäisch geprägten Sinne in Afrika fremd ist oder nicht, haben m.E. die afrikanischen Philosophen heute schon dahingehend entschieden, daß sie in dieser Form - zwar nicht als strenge Metaphysiker, sondern nachmetaphysisch - denken. 117 Dabei scheint mir die von Towa favorisierte Sicht, die Philosophie zur Machtsteigerung oder Befreiung zu instrumentalisieren, als nicht sinnvoll. Denn erstens ist die Philosophie zur angestrebten Machsteigerung nicht nützlich, es sei denn in ihrer Verfallsform als Ideologie oder Propaganda. Bei einer Instrumentalisierung der Philosophie bleibt zweitens das Augenmerk auf das zu überwindende geliebt-gehaßte Vorbild fixiert. Darüber hinaus muß jeder, der wie Towa den durch Wissenschaft und Technik ermöglichten Fortschritt angemessen einschätzt, zugleich auf deren nicht minder vorhandene Zwiespältigkeit aufmerksam machen. So scheint er z.B. -wie im übrigen viele Verfechter der Technisierung als dem einzig möglichen Weg zur ganzheitlichen Befreiung der Menschen in Afrika- nicht gewahr zu werden, wie selbige Technik und Wissenschaft nicht selten geistige Armut nach sich ziehen. 118 Tatsächlich wird das materielle Überangebot mancherorts von Verhaltensmöglichkeiten wie blankem Materialismus und Hohn gegenüber den Nicht-begüterten begleitet. Dies meint 0. Bimwenyi, wenn er zurückgreifend auf ein Gespräch mit P. Antoine die These, wonach die Technik den Menschen zu einem höherem Menschen macht, wie folgt entkräftet: "Die Hoffnung, daß der Mensch den Gipfel seiner Entwicklungsmöglichkeiten durch Technologie und Berechnen jemals erreichen könnte, wird durch keine Fakten belegt." 119 117 V gl. zu diesem Passus und zu r Frage nach der möglichen Rolle der Philosophie im afrikanischen Kontext, das vierte Kapitel dieser Abhandlung. 118 Vgl. W. Barrett, Irrational Man, London 1961. 119 0. Bimwenyi, Discours n6gro-africain. Probleme des fondements, 297. In dieselbe Richtung argumentiert auch B. Bujo: L'occident "se d6bat aredonner l'äme a un monde qui perd de plus en plus Ia vraie humanit6. II veut, curieusement, retrouver les 616ments 'primitifs' abandonnes au nom du progres socio-technique. D6sormais on pense que I' 'irrationnel' est souvent le lieu privilegie ou I' 'homme' retrouve son humanit6 menac6e par les progres techniques." B. Bujo, Des pretres noirs s'interrogent". Unetheologie issue de Ia negritude?, in: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft 46 (1990), 286-297; 292.

126

B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

Demgegenüber nimmt man in Europa nun Versuche wahr, die darauf aus sind, Elemente aus anderen Kulturen vornehmlich in Erziehung und Unterricht zu integrieren, um den jüngeren Generationen die Möglichkeit einer Existenz zu geben, die nicht nur auf Werten der Technik und Wissenschaft basiert. 120 0. Bimwenyi warnt daher mit Recht vor Begriffen wie "Wissenschaft", "Technik", "Universalität". 121 Denn ihr Gebrauch wird oft von einem fast ins Magische gehenden Prestige begleitet, das dazu verleitet, über ihre Widersprüche nicht mehr zu reflektieren: "Die fortschreitende 'Rationalisierung' der Gesellschaft hängt mit der Institutionalisierung des wissenschaftlichen und des technischen Fortschritts zusammen. In dem Maße, in dem Technik und Wissenschaft die institutionalisierten Bereiche der Gesellschaft durchdringen und dadurch die Institutionen selbst verwandeln, werden die alten Legimitationen abgebaut. Säkularisierung und 'Entzauberung' der handlungsorientierten Weltbilder, der kulturellen Überlieferung insgesamt, ist die Kehrseite einer wachsenden Rationalität des gesellschaftlichen Handelns." 122 Hiermit wird auf die "Phagozytose" von kulturellen, religiösen und moralischen Elementen durch Technik und Wissenschaft hingewiesen, was letztlich zur "Technokratie" mit den dazugehörenden verwaltungstechnischen und manipulativen Methoden führt 123 , womit der Mensch Gefahr läuft, Gefangener des eigenen Werkes zu werden: "Die wissenschaftliche Methode, die zu stets wirksamer werdender Naturbeherrschung führte, lieferte dann auch die reinen Begriffe wie die Instrumente zur stets wirksamer werdenden Herrschaft des Menschen über den Menschen vermittels der Naturbeherrschung." 124 So gesehen ist die Technik kein bloßes Instrument. Sie ist "jeweils ein geschichtlich-gesellschaftliches Projekt; in ihr ist projektiert, was eine Gesellschaft und die sie beherrschende Interessen mit den Menschen und den Dingen zu machen gedenken. Ein solcher Zweck der Herrschaft ist material und gehört insofern zur Form der technischen Vernunft selbst." 125 Wenn nach Towa Technik und Wissenschaft universalistisch angelegt sind, sofern sie jedem dazu fähigen Menschen prinzipiell offenstehen, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Technik, sofern sie zur umfassenden 120 Vgl. hierzu B. Bujo, ebd.: "On assiste a un effort, bien qu'encore timide, a integrer dans des cours de religion les elements issus de cultures non-occidentales afin d'orienter l'ectucation de Ia generation future dans une autre direction plutöt que de tout centrer sur Ia modernite techno-europeenne. On esp~re parvenir par Ia precisement a corriger Ia qualite de Ia vie par l'emprunt de l'esprit culturel non occidental." 121 Vgl. 0. Bimwenyi, Discours theologique africain, 299. 122 J. Habermas, Technik und Wissenschaft als 'Ideologie', Frankfurt a.M. 21969,48. 123 Vgl. J.R. Ladmiral, Vorwort zur französischen Übersetzung von J. Habermas', Technik und Wissenschaft als 'Ideologie' (La technique et Ia science comme ideologie), Paris 1973, VIII. 124 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortschrittlichen Jndustriegesellschaft, in Ders., Schriften, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1989,

173.

125 H. Marcuse, Indistrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers, in: Ders., Schriften, Bd. 8, 78-99; 97.

V. Anspruch und Kritik dieses Ansatzes

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Form der materiellen Produktion wird, eine ganze Kultur umschreibt, eine geschichtliche Totalität d.h. eine Welt entwirft.l 26 Die Vermittlung der Technik bedeutet also zugleich die Übernahme der damit verbundenen Kultur. Mit Blick auf Afrika bedeutet dies folgendes: Die Einführung von Wissenschaft und Technik ist überfällig. Dabei muß aber darauf geachtet werden, daß die "wissenschfatlich-technische Kultur" den Bedürfnissen und Realitäten des jeweiligen Kontexts gerecht wird, um jedem Ausverkauf Afrikas den Riegel vorzuschieben. 2. Towa und die afrikanische Tradition

Bei der Suche nach Wegen und Mitteln, um den Prozeß einer harmonischen und ganzheitlichen Modernisierung Afrikas zu fördern, fällt Towas Blick wie selbstverständlich auch auf die eigene Tradition. Seine Forderung nach einer objektiven Untersuchung dieser Tradition kontrastiert jedoch mit der formalen Bewertung selbiger Tradition, je nachdem, ob und wie sie bei der Bewältigung der gegenwärtigen Aufgaben von Bedeutung sein kann. Auffällig in diesem Zusammenhang ist nicht nur die funktionalistische Sicht, in der die Tradition als erhaltenswert oder nicht gelten soll, sondern auch die Tatsache, daß Towas Begriff der Tradition undifferenziert bleibt. Tatsächlich kann sich Tradition auf ganz verschiedene Inhalte beziehen, nämlich auf Einstellungen, Gewohnheiten, Wissen bezüglich des sozialen Umgangs, der Techniken des 'Brot'-Erwerbs, des Feierns und Gestaltens, der Gottesverehrung, der Herrschaftsformen, der Beziehungen zu anderen politischen Gebilden, der Weise der Erinnerung und Planung, der Erholung, usw. Traditionen wirken zudem meistens automatisch nach dem Motto, "weil es immer so üblich war" - und zwar auch dann, wenn man den Eindruck hat, viele eigene Traditionen würden aufgegeben und durch andere, importierte ersetzt. Vieles bleibt doch, gerade im Schutze der Fixierung des Bewußtseins auf das Neue. Denn die Rezeption des Neuen geschieht ja auf eine durch die typischen Traditionen des Rezeptors bestimmte Weise. Blickt man von hier aus auf Towas Bestimmungsversuch der afrikanischen Tradition, so muß man einräumen, daß diese Tradition inhaltsleer bleibt. Man wird demnach folgern dürfen, daß Towa im Grunde kein besonderes Interesse für die afrikanische Tradition hegt. Damit hebelt er aber das von ihm Anvisierte aus den Angeln, insofern als - aufgrund der konkreten Situiertheil jeden Unternehmens - das Projekt einer umfassenden Entwicklung m.E. nur mit Rücksicht auf die lebendige Tradition Afrikas gelingen kann. Wie ist dies zu denken? Ein Verzicht auf die Tradition- da wo sie noch lebendig ist- wäre im Falle Afrikas ein Selbstmord, eine Katastrophe, die das Gedächtnis der Völker auslöschen würde. Da der Mensch dazu tendiert, sein aktuelles Wissen mit dem 126

Vgl. H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, 169.

128

B. Zur Relevanz der afrikanischen Tradition bei Marcien Towa

Vergangenen in Verbindung zu bringen, um ihm so ein Fundament zu geben, tut er dies, indem er sich auf die Tradition stützt, die in erster Linie das Werk vergangener Generationen ist. Im Hinblick auf die Schaffenskraft bedeutet dies eine Erleichterung und ein Bündeln der Kräfte auf ein bestimmtes Ziel, die sonst nicht möglich wäre, wenn jeder immer wieder von vorne anfangen müßte: "Ein Volk, das von der eigenen Vergangenheit oder Gegenwart das nicht wahr haben will, was es bestimmt, begibt sich in einen Zustand der Verdrängung (... ) Ein Zeichen, daß ein Volk gesund ist, besteht in seiner Fähigkeit, sich zu seinen Fehlern zu bekennen, ohne die Miene zu verziehen.'' 127 Es ist daher wesentlich, daß die afrikanischen Denker in den Fluß der eigenen Tradition tauchen, damit sie befähigt werden, die Gegenwart zu gestalten und die Zukunft vorzubereiten. Mehr noch: Dieses Ernstnehmen der eigenen Tradition wird aus Afrika jenen Kontinent machen, der mit sich selbst versöhnt ist. Und wenn manche Denker hierauf behaupten könnten, daß das Studium der eigenen Tradition einem Zeitverlust gleichkommt angesichts der dringlicheren Aufgaben und Probleme, die heute gelöst werden müssen, so darf man dennoch nicht aus den Augen verlieren, daß die Würde und das Selbstbewußtsein eines jeden Menschen nicht zuletzt davon abhängen, wie sehr er in seiner Tradition zu Hause ist. Die viel besprochene Modernität bedeutet demnach keineswegs einen Schlußstrich mit den lebendigen Strängen der Tradition. Vielmehr geht es darum, das Neue in das Alte harmonisch zu integrieren. Und "diese Integrationsfähigkeit neuer Elemente setzt aber ein integrierendes Milieu voraus, das nichts anderes ist als die Gesellschaft, die sich auf ihre Vergangenheit besinnt. Dabei kommt es nicht auf die toten, sondern auf die lebendigen Elemente dieser Vergangenheit an. Letztere muß aber hinreichend erforscht werden, damit sich das ganze Volk in ihr wiedererkennen kann.''~ 28 Der Mensch lebt immer in einer Tradition, in der er sich befindet, der er angehört, so daß er oft über die Tradition zu einem Verständnis seines Selbst und der Welt gelangen kann. Wenn man von hier aus mit Towa darin übereinstimmen kann, daß der moderne Afrikaner seine Existenz in einer Situation der Krise entfaltet, so muß man aber auch hinzufügen, daß ihn die Bewältigung der damit verbundenen Aufgaben auch über eine Wiederaufnahme der Seins- und Denkmöglichkeiten führt, die die Tradition anbietet: "Indem er die Auslegung des Daseins, die ihm überleifert wurde, eigens wiederaufnimmt, verwirklicht und bestimmt er sich selbst [ ... ]; Dieses Licht, das die Tradition auf den Menschen wirft, macht es möglich, den anderen zu verstehen. Der Mensch wird von seinem Ursprung her in die Tradition eingeschlossen. Er ist ein Teil von ihr. So ist er auch imstande,

127 T. Laburthe u.a., Initiation africaine. Supph~ment de philosophie et de sociologie il l'usage de l'Afrique noire, Yaounde 1971, 33, (Übers. d. V.). 128 C.A. Diop, Nations negres et cultures, 11f., (Übers. d. V.).

V. Anspruch und Kritik dieses Ansatzes

129

das, was ihm überliefert wird zu verstehen [... ] Die Tradition überliefert die 'Sache' des Denkens."i29 Es zeigt sich also: Neben dem Integrieren wichtiger Elemente aus anderen Traditionen - wie etwa Wissenschaft und Technik - muß der afrikanische Intellektuelle sich der Aufgabe stellen, die Tiefen der eigenen Tradition zu untersuchen, um das Lebendige davon zu erhalten und in den Prozeß der Modemisierung aufzunehmen. Hierbei wird es nicht zuletzt darauf ankommen, Kreativität und kritischen Geist in den Dienst eines modernen, dennoch in der eigenen Tradition wurzelnden Afrikas zu stellen. Wie dies aussehen könnte, soll im Schlußteil dieser Arbeit skizziert werden.

129 Th. Nkeramihigo, Pensee africaine (Vorlesungstext), Kinshasa 1976-1977, 62, (Übers. d. V.). 9 Ozankom

C. Vom Lebenskult zur modernen Rationalität: Zur Interpretation der afrikanischenTradition im Denken Elungu Pene Elungus Elungus Überlegungen zur Tradition zielen in die von Towa gewiesene Richtung. Wie diesem geht es auch Elungu 1 um die Relevanz der Überlieferung im Prozeß einer möglichst umfassenden Befreiung Afrikas. Der Beitrag zur Problematik einer angemessenen Interpretation der afrikanischen Tradition, den Elungu im Lichte seiner Kritik der ethnologisierenden und ideologisierenden Tendenzen in der zeitgenössischen Philosophie in Afrika formuliert hat, ließe sich auf folgende Formel bringen: Unterwegs zu einem modernen Afrika gilt es alle denkbaren Kräfte auf dieses eine Ziel zu bündeln. In diesem Zusammenhang muß auch geklärt werden, ob und wie die eigene Tradition das angestrebte Ziel erreichen hilft. 2 Wesentlich für Elungus Projekt eines durch Erkenntnis befreiten Afrikas ist ein durch die Philosophie akademisch-europäischer Provenienz3 begünstigter Paradigmenwechsel von Afrikas geistigem Klima, den man plakativ so formulieren kann: Weg von einer traditionellen Verwurzdung im unmittelbaren Leben, hin zu einer in der Rationalität gründenden modernen Existenz. Diesem Wandel möchte Elungu mit einer an Radikalität kaum mehr zu überbietenden Konsequenz den Boden bereiten. Dies wird v.a. in seinem Ansatz einer Bestimmung des Tragischen am Konflikt zwischen Tradition und ModerI Elungu Pene Elungu wurde in Munge (Zaire) geboren. Er studierte Literaturwissenschaft, Philosophie und Politikwissenschaft in Aix-en-Provence und Paris (Frankreich). Nach der Promotion zum Doktor der Philosophie und der Literaturwissenschaft wirkte er mehrere Jahre zunächst als Vize-Rektor der Universität Lovanium in Kinshasa und der staatlichen Universität Zaires. Nach Dozenturen in Lubumbashi und Kisangani (Zaire) ist Elungu heute Professor der Philosophie in Abidjan (Elfenbeinküste) und Kinshasa. 2 Zu diesem Zweck ruft Elungu zu einer kritischen Aufmerksamkeit sowohl gegenüber der eigenen Tradition wie auch gegenüber dem modernen Ausland auf. So lautet seine Maxime: "Demeurer critique a l'egard de tout ce qui est donne: traditions, apports et influences exterieures, a Ia lumiere de ce qui dans Je discours - analyses et discussions - determine notre situation fondamentale et notre projet essentiel." E.P. Elungu, L'eveil philosophique africain, Paris 1984, l53f., (Übers. d. V.). 3 Tatsächlich kommt Elungu im Anschluß an eine Erörterung dessen, was die Philosophie im Hinblick auf Afrika zu sein hat, zu folgendem Schluß: "Teile nous semble etre Ia definition de Ia philosophie que nous croyons tirer de l'experience occidentale. Elle est, on Je devine bien, essentiellement contenue tout entiere dans ces deux mots: science et liberte ou, si l'on pretere, liberte dans Ia science et par Ia science." Vgl. E.P. Elungu, L'eveil philosophique africain, 145. 9*

132

C. Vom Lebenskult zur modernen Rationalität

nität im zeitgenössischen Afrika spürbar. Hierbei verlegt er den "metaphysischen" Ort der traditionellen Kulturen Afrikas in das Leben, um das sich die ganze Existenz dreht. Dieser Lebensverbundenheir' wohnen zwei Hauptaspekte inne: Einheit und Verschiedenheit. Diese wird von einem ausgeprägten Ausgerichtet-sein am Vergangenen gekennzeichnet, das die angedeutete Einheit des Lebens als Ausdruck einer alles umfassenden Permanenz erscheinen läßt, wie man es den zahlreichen Mythen und religiösen Riten Schwarzafrikas entnehmen kann. Eben in dieser mythisch-religiösen Sicht eines alles beherrschenden "Lebenskults" liegt nach Elungus Einschätzung das Wesen der afrikanischen Tradition im Unterschied zur modernen europäischen Rationalität. Infolgedessen fordert er die Afrikaner zu einem reflektierten Umgang mit den tragenden Säulen ihrer Tradition auf, damit eine sich auf dem Boden der Rationalität europäischer Prägung vollziehende Existenz - als die einzig zukunftsfähige Existenzmöglichkeit - auch in Afrika zu entwickeln beginnt. Aufs Ganze gesehen aber wird man Elungus Anliegen wohl dadurch am besten gerecht, daß man es nicht im Sinne einer radikalen Trennung von afrikanischer Tradition und moderner Rationalität interpretiert, sondern als Versuch, unter der Voraussetzung, einer Priorität einer ganzheitlich angelegten Befreiung des südlich von der Sahara gelegenen Afrikas auch den hierzu möglichen Beitrag des eigenen kulturellen Erbes kritisch zu ermitteln. Um diese Hermeneutik der afrikanischen Tradition, verbunden mit der Frage nach deren Stellenwert für das Geschick des modernen Afrikas, geht es in den nachstehenden Überlegungen. Folgende Haupteile bilden hierbei den Gang der Erörterungen: I. Das Erbe der afrikanischen Tradition; 2. Leben und Kultur; 3. Die Begegnung Afrikas mit der Rationalität des Westens; 4. Zu einer rationalitätsverpflichteten Existenz; 5. Kritische Würdigung.

I. Das Erbe der afrikanischen Tradition Versucht man das Motiv zu erhellen, das Elungu zu seinem philosophischen Ansatz gebracht hat, so kann man dieses als die Empfindung einer sehr tief gehenden Krise der schwarzafrikanischen Kultur näher kennzeichnen, die v.a. in der Philosophie artikuliert wird. Dies hat Elungu wohl vor Augen, wenn er im Gang durch die jüngste Geschichte Afrikas festhält, daß "die Philosophie in Afrika aus dem Bewußtsein einer Krise heraus geboren wurde, welche einem Konflikt der Kulturen entsprang, der den Afrikaner als einen Menschen zeigt, der innerlich geteilt, unsicher in bezugauf den einzuschlagenden Weg ist, der Freiheit und Menschenwürde in der neuen Weltordnung gewährleisten und fe4 Elungu zieht diesbezüglich den Ausdruck "culte de Ia vie" vor, wie man es dem Titel seiner "These de doctorat d'etat" entnehmen kann: "Du culte de Ia vie a Ia vie de Ia raison".

I. Das Erbe der afrikanischen Tradition

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stigen könnte.''5 Es handelt sich näherhin um die Empfindung, daß die eigene getstlge Substanz Afrikas unter der Belastung von Sklaverei, Kolonialherrschaft und Neokolonialismus sich als wenig widerstandsfahig erwiesen hat. Um diese Erfahrung nachzuvollziehen und einen Weg aus der daraus resultierenden Krise zu suchen, muß sich der afrikanische Intellektuelle - nach Elungu - zuallererst auf die Quelle besinnen, aus der Afrika lebt. Denn nur so kann man einerseits die tragenden Säulen dieser Kultur namhaft machen und andererseits die Bedingung der Möglichkeit ihrer Integration in das Programm eines auf Rationalität gründenden Existenzvollzugs im modernen Afrika eruieren. Damit ist jene Aufgabe gekennzeichnet, der Elungus Hermeneutik der afrikanischen Tradition entspringt. 1. Lebensverbundenheit und mythische Sicht der Welt

In einer ersten Annäherung versteht Elungu den Terminus "Tradition" formal sowohl als das, was überliefert wird, sowie den Vorgang des Überlieferos selbst. So bestimmt, erweist sich die Tradition näherhin als die Gesamtheitjener Elemente, die eine Kultur konstituieren und die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Von hier aus mündet Elungus Bestimmung dessen, was die afrikanische Tradition ist6 , in die Frage nach jener Quelle, aus der die wesentlichen Bausteine dieser Überlieferung7 gespeist werden.

5 E. P. Elungu, La Iiberation africaine et Je problerne de Ia philosophie, in: Philosophie et Iiberation (Actes de Ia 2eme semaine philosophique de Kinshasa), Kinshasa 1977, 33-42; 36, (Übers. d. V.). Die angesprochene Krise wird nach Elungu besonders bei den sogenannten "europäisierten" Afrikanern deutlich spürbar: "Ces urbanises, ces 'occidentalises' que nous sommes, constituons actuellement Ia conscience dechiree de l'Afrique moderne, sentant parfois au niveau le plus profond l'ecartement que provoquent les valeurs en contradiction dans notre vie de chaque jour." Vgl. E.P. Elungu, La philosophie, condition du developpement en Afrique aujourd'hui, in: Presence Africaine 103 (1977), 3-18; 14. 6 Es ließe sich an dieser Stelle fragen, ob man mit Blick auf die Situation des heutigen Afrikas- nicht zuletzt aufgrundder Vielheit der Volksgruppen und der Verschiedenheit neu entstandener Staaten - nicht auf sinnvolle Weise unterschiedliche Traditionen postulieren müßte. Dieses Umstandes ist sich auch Elungu bewußt. Demgegenüber hebt er auf den Kern ab, der allen Kulturen des südlich von der Sahara gelegenen Afrikas gemeinsam ist, so daß für ihn von einer afrikanischen Tradition durchaus die Rede sein kann: "II ya sans doute plusieurs traditions africaines, telles du moins qu'elles vivent et se transmettent [...) Pourtant un fond commun de culture les parcourt toutes [... ] C'est ce fond de culture commun que nous designons lorsque nous parlons au singulier de tradition africaine." P.E. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, Paris 1987,

5.

7 Hierunter versteht Elungu v.a. die Lebenswelt, die materiellen Leistungen, die Weltanschauung, die Riten, die Mythen, usw."Vgl. E. P. Elungu, Tradition africaine et

134

C. Vom Lebenskult zur modernen Rationalität

Diese entscheidende Kraft, die das geistige Erbe Afrikas bestimmt, ist nach Elungus Einschätzung letztlich das im afrikanischen Kontext alles beherrschende Leben: "Der traditionelle Mensch ist[ ... ] dem Leben verbunden. Diese Verbundenheit mit dem gelebten, konkreten Leben geht hin bis zur Ablehnung des Todes. "8 Diese Äußerung ist insofern nicht neu, als sie auf eines der wesentlichen Ergebnisse der Beschäftigung mit dem traditionellen Afrika abhebt, nämlich die Erkenntnis, daß das Leben das Fundament der afrikanischen Anthropozentrik darstellt. 9 Wichtig in diesem Zusammenhang ist aber, daß von vomherein darauf geachtet wird, daß das Leben keine spekulativerfaßte Entität, sondern etwas Inkarniertes ist. Denn es durchdringt alle Bereiche des gesellschaftlichen Seins: "Es gibt keinen Raum für eine mögliche theoretische Erforschung des Lebens. Demgegenüber erfahrt man das Leben und nimmt teil an ihm durch Sinne und Riten, Gefühle und Emotionen, Fantasie und Mythen." 10 Das so verstandene Leben hat seinen ausgezeichneten Ort im gesellschaftlich-politischen Gefüge. Damit ist jener Gedanke gemeint, daß sich das Leben in einer hierarchisch-partizipativen Ordnung vollzieht: Das Leben ist ein Teilnehmen. Es wird aber über verschiedene "Instanzen" vermittelt. Es handelt sich näherhin um eine Hierarchie im Weitergeben und Unterhalten des Lebens, die bei den Gründem der Volksgruppen anhebt. Von diesen fließt das Leben über die Ältesten zu den jüngeren Eltern und weiter bis hin zu den Allerjüngsten in der Gesellschaft. So gesehen empfangen Familie und politische Macht, die im traditionellen Afrika wesentlich von der Familie abhängig ist, letzte Daseinsberechtigung ganz vom Leben her: Die politische Herrschaft, auch dort, wo sie sich mit Macht und Herrlichkeit behauptet und durchsetzt, scheint nicht über die Familienstruktur hinauszugehen, welche sie trägt und bestimmt; die Herrschaft scheint ihre tiefste Daseinsberechtigung im Leben, Überleben und Fortbestand der Familie und des Clans zu haben. Denn die politische Macht war moderne, 11. E. P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 17, (Übers. d. V.). Daß das Leben jenes oberste Prinzip ist, worin das geistige Erbe der Schwarzafrikaner besteht, ist für Elungu zunächst eine Arbeitshypothese, die aber im Laufe seiner Untersuchungen ohne nähere Begründung als Evidenz hingestellt wird. Hierbei stützt er sich, gleichsam stellvertretend für ganz Schwarzafrika, auf das Studium des modus vivendi der Volksgruppen, die in der Region um das Becken des Zaire-Flusses angesiedelt sind. Vgl. E. P. Elungu, Tradition africaine et rationalit~ moderne, 9ff. 9 Tatsächlich haben viele Studien aufgezeigt, daß das Leben für die Afrikaner von entscheidender Bedeutung ist. Vgl. hierzu z.B. B. Bujo, Afrikanische Theologie in ihrem gesellschaftlichen Kontext, 21 : "Wenn von Befreiungsdimension gesprochen wird, muß man von der Lebensvorstellung innerhalb der afrikanischen Sippengemeinschaften ausgehen. Das Leben ist so zentral, daß es als sakral bezeichnet werden muß." Ähnlich hält auch D. Zahan, (Religion, spritualit~ et pensee africaines, Paris 1965, 62), fest: "Le problerne de Ia vie [... ] constitue en Afrique Ia base du sentiment religieux et Je fond inconscient de Ia r~flexion philosophique." 10 E. P. Elungu, Tradition africaine et rationalit~ moderne, 26, (Übers. d. V.). rationalit~

8

I. Das Erbe der afrikanischen Tradition

135

in den traditionellen Gesellschaften selten staatlicher Natur im strengen Sinne des Wortes; sie war immer an die Familie gebunden. 11 Allein, diese Konzeption des Lebens beschränkt sich nicht auf das Biologische. Vielmehr ist der hier intendierte Lebensbegriff umfassend 12 und erstreckt sich auf das Leben in einem mannigfachen Sinn. Wesentlich in diesem Zusammenhang ist aber, daß das im Mittelpunkt der afrikanischen Gedankenwelt stehende Leben, indem es jegliche von ihm abgekoppelte Aktivität auszuschließen scheint, keine denkerische Durchdringung der Welt 13, sondern nur eine mythisch-religiöse Annäherung nahelegt Hierin liegt nach Elungu die entscheidende Schwäche des geistigen Erbes Afrikas 14 . 2. Allgegenwart des Lebens und mythische Interpretation

Die von verschiedenen Autoren postulierte Allgegenwart des Lebens für den Afrikaner 15 wurde nach Elungu, so hieß es oben, nicht theoretisch erfaßt. Demgegenüber wurde v .a. im vorkolonialen Afrika alles daran gesetzt, dieses Leben in vielerlei Hinsicht möglichst konkret zu erfahren und zu erklären 16 . Diese existentiell-konkrete Zugangsart zum Leben entspringt beim näheren Hinsehen dem grundsätzlich mythisch geprägten Umgang des traditionellen Afrikaners mit der ganzen Wirklichkeit. Eben im Lichte dieser mythischen Vgl. E. P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 14, (Übers. d. V.). Dieses Leben ist so umfassend angelegt, daß es sowohl die Welt der Lebenden wie auch die Welt der Toten umfaßt. Mehr noch: durch den "Lebenskult", durch das Weitergeben des Lebens sollen Individuen und Gesellschaft unsterblich sein, da die Vorstellung vorherrschend ist, daß der Mensch nicht nur von dieser in jene Welt hinüberwechselt, sondern auch in seinen Nachkommen weiterlebt Elungu (Tradition africaine et rationaHte moderne, 21) spricht in diesem Zusammenhang von "desir d'etemite, devenu affirmation d'immortalite collective et personnelle." 13 Vgl. hierzu E. P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 24: "Tout est vie; tout est donc tout, mais comment? En fait on ne Je sait pas tres bien, c'est Ia Iimite du discours, mais on Je voit; l'origine et Ia fin de l'homme, c'est l'eau, Je trou, Je marais, Je serpent, Je ver, l'arbre sacre, l'oiseau. Dans ce contexte, nous pouvons dire qu'il n'y a vraiment pas d'au-del~ de Ia vie ou plutöt que Ia vie est l'au-del~ du discours (de Ia nostalgie et des espoirs que permet Ia separation du Iogos). Elle en est aussi l'en d~a. Que Ia vie soit l'en d~a du discours; tout Je monde ~ mon avis, est pret ~ en convenir, mais il me parait etre Je propre des cultures africaines traditionnelles de trouver, dans Ia vie aussi, l'au-del~ du discours." 14 Vgl. E. P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 22, (Übers. d. V.). 15 Vgl. hierzu Anm. 12. 16 "A notre avis, c'est cette interpretation dynamique constamment sensuelle, emotive et imaginaire a propos de Ia vie elle-meme, qui fait que Ia vie ne prend jamais de distance par rapport ~ elle-meme, car elle est d'emblee apprehendee comme ce qui unit l'homme ~ lui-meme et a tout ce qui existe, c'est eile qui fait que l'activite intellectuelle se developpant dans ce climat est foreerneut mythique." E. P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 27, (Übers. d. V.). II

12 In der Tat:

136

C. Vom Lebenskult zur modernen Rationalität

Sicht der Welt erscheint dem Afrikaner das Leben nicht als etwas primär Menschliches, sondern als etwas, das sowohl Menschen als auch allen anderen Wesen zukommt. 17 Mit diesem mythischen Verständnis des Lebens soll geltend gemacht werden, daß jede Interpretation dessen, was Leben ist, nicht so sehr eine Funktion des Lebens als vielmehr das Leben selbst, ein Teilnehmen an der Natur ist. Denn, wie Elungu anmerkt, es ist dem Leben "nicht möglich, sich selbst oder dem Rest der Welt zu entziehen, um sich zu definieren; seine Natur besteht darin, sich einfügen zu lassen, teilzunehmen, in Verbindung zu stehen mit allem Existierenden, sich nicht abzusondern. Deshalb gibt es keine Definition von sich selbst [ ... ] Denn es ist, nicht nur konkret gesehen, sondern auch in seinem Wesen, unbestirrunbar."18 Diese mythische Sichtweise hebt Elungu nun von der objektivierenden Denkart ab. Denn: "Die mythische Sicht der Welt ist das einheitsstiftende Leben, das sogar zum Bewußtsein vordringt, daß es eine Kraft ist, die auf Einheit aus ist" 19 die objektivierende Denkweise ist demgegenüber "wie ein Schwert, das schneidet, unterscheidet, trennt und analysiert." 20 Betrachtet man den so geltend gemachten Unterschied zwischen beiden Denkarten, verbunden mit Elungus Gedanken einer konstitutiven Zusammengehörigkeit von mythischen Deutungsmustern und Leben, so zeigt sich z.B., daß die traditionelle afrikanische Raum- und Zeitvorstellung zutiefst mythisch ist: "So wie Raum und alle räumliche Wirklichkeit werden Zeit und alle zeitliche Realität stets auf das konkrete Leben zurückgeführt [ ... ] Dieses Leben selbst aber ist ein Mythos und zwar ein Mythos, der sich als absolut versteht und der, statt sich in die Zeit einzureihen, diese und den Raum aufhebt und die Dauer außer Kraft setzt. "21 Mit diesem durch die mythische Sichtweise gekennzeichneten Leben ist 17 Dies meint auch Elungu (Tradition africaine et rationalite moderne, 26), wenn er folgendes heraushebt: "La vie apprehendee au niveau de l'experience personneile est beaucoupplus pen,;ue, eprouvee, imaginee comme etant unemateriaHte (un corps), une force (une action efficace), trait d'union, unissant les etres les uns aux autres." 18 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 30, (Übers. d. V.). Verdeutlichend fügt Elungu hinzu: "L'intelligence ici est mythique, eile est eile-meme Ia vie unifiant, se haussant a Ia conscience qu'elle est une force unificatrice; cette intelligence n'est pas une intelligence-epee, qui coupe, qui distingue, differencie, analyse. Cette intelligence mythique s'appuie constamment sur le vivant, le corps lui-meme, sur les sens dont il est le siege, sur les sentiments et emotions, sur les concepts eux-memes, le tout integre par l'imagination creatrice qui subsume toutes ces perceptions, ces emotions, ces pensees dans un recit - le mythe - qui raconte ce que deja l'on sent et eprouve, et que l'imagination prolonge hors des lirnites du corps-soi, vers le milieu ambiant, le rnilieu cosrnique tout entier." E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 29. 19 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 29, (Übers. d. V.). 20Ebd. 21 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 31, (Übers. d. V.).

I. Das Erbe der afrikanischen Tradition

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letztlich jener hermeneutische Schlüssel angegeben, mit dem ein Zugang zu Natur, Mensch, Gott, usw. im traditionellen afrikanischen Gedankengut möglich ist.22 3. Lebensverbundenheit, Gott, Natur, Gesellschaft und Mensch

Im folgenden geht es darum, Elungus These einer prinzipiellen Lebensverbundenheit des Afrikaners an einigen wesentlichen Themen der afrikanischen "Weltanschauung" zu exemplifizieren. An diesen Themen soll sich also zeigen, wie sehr ein "Lebenskult" im Mittelpunkt des afrikanischen geistigen Erbes steht. Dadurch wird zugleich das Ziel verfolgt, einen Boden vorzubereiten, auf dem die Frage nach der Zukunftsfähigkeit dieses durch eine Lebensverbundenheit bestimmten Erbes, im modernen Afrika geklärt werden kann. a) Der Mensch Aus dem bisher Erörterten geht hevor, daß das Leben nach der afrikanischen Tradition jene Quelle ist, aus der alles gespeist wird. Dieses Leben wird aber nicht nur als ein Ganzes, sondern auch als eine Verschiedenheit oder Mannigfaltigkeit erfahren. Denn wenn sich der traditionelle Afrikaner in seinem Leben zunächst als eine Einheit erlebt und sich durch sein Leben in einem alles einenden Beziehungsgefüge mit dem Kosmos, den Vorfahren, der Natur und Gott aufgehoben fühlt, so wird er durch verschiedene Erfahrungen wie etwa Emotionen, Träume, Empfindungen, usw. der Mannigfaltigkeit des Lebens gewahr. Letzteres wird nicht zuletzt dadurch dokumentiert, daß bei vielen afrikanischen Völkern die Vorstellung vorherrschend ist, daß der Mensch zumindest aus zwei Grundelementen besteht. So heißt es etwa bei den "Tetela" in Zaire, daß der Mensch zwei Bestandteile aufweist: I. Leib (Demba) 2. Oloki ("Doppelgänger") oder Edium ("Seele") Demgegenüber setzt sich der Mensch bei den "Kongos" ebenfalls in Zaire aus folgenden wesentlichen Elementen zusammen:

1. Nitu (Körper) 22 Elungu drückt dies so aus: "La vie ainsi comprise est au centre absolu (duquel on ne peut sortir ni meme s'abstraire) de l'ordre de l'univers, de l'ordre social et de l'ordre religieux. Cet univers synthetique, ou Ia vie n'est pas rnise en question, est l'univers de Ia tradition dornine par Je mythe. C'est par cet univers, par ce mythe que l'homme noir traditionnel se definit ou rnieux s'apprehende, apprehende sa societe clanique, son entourage nature), sa reference ä Dieu." E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 33.

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C. Vom Lebenskult zur modernen Rationalität

2. Menga (Blut) 3. Moyo (Seele) 4. Mfumu kutu (Doppelgänger) Wer nun angesichts der genannten Beispiele die Unterschiede bei der Vorstellung der Zusammensetzung des Menschen hervorheben möchte, dem muß in Erinnerung gerufen werden, daß es hier über all diese Unterschiede hinweg darum geht, festzuhalten, daß der traditionelle Afrikaner um die Mannigfaltigkeit des Lebens weiß. Elungu betont dies mit Nachdruck: Was aber überall gleich bleibt, ist die Pluralität und die Mannifaltigkeit der gelebten Erfahrungen, die alle im konkreten Leben gründen und durch es getragen werden, wodurch zum Ausdruck kommt, daß der Mensch das Ganze verschiedener Erfahrungen ist, deren Fundament das Leben selbst ist. 23 Dieser Mensch, der Mannifaltigkeit und Verschiedenheit durch diverse Lebensäußerungen, Empfindungen, Aktivitäten und Erlebnisse in Zeit und Raum erfährt, wird aber grundsätzlich an eine Einheit verwiesen, die darin gründet, daß das Leben selbst, sofern es letztlich mythisch vorgestellt wird, doch eine Totalität ist: "Obwohl der Mensch geteilt ist und demnach aufgrund seiner Erfahrungen sogar eine Pluralität aufweist, wird er gleichzeitig in mythischer Weise auf die Ebene der Einheit und des Fortbestands des Ganzen erho~ ben, welches das Leben ist, an dem er teilnimmt. "24 b) Die Gesellschaft Der Grundeinsicht, wonach der einzelne Mensch bei aller Verschiedenheit des Erlebten durch das Mythische stets auf das Leben selbst als einheitsstiftendes Ganzes zurückgebunden wird, entspringt auch das traditionelle Verständnis der Gesellschaft in Afrika. Tatsächlich gründet auch die Gesellschaft als jener ausgezeichnete Ort, an dem der Mensch in der Gemeinschaft mit anderen Menschen seine Lebensmöglichkeiten am besten entfalten kann, letztlich in den mythisch gedeuteten Lebensaktivitäten: "Die Auffassung der Gesellschaft [...] beruht auf Sinneserfahrung und Mythos zugleich."25 Diese Gesellschaft ist zunächst einmal die Gemeinschaft all derer, die durch Blutsverwandschaft miteinander verbunden sind. So gesehen wird das Augenmerk hier zunächst auf alle Lebenden gelenkt, die von ein und demselben Vorfahren abstammen. 26 In diesem Zusammenhang erfährt sich der einzelne Mensch gleichsam als das Glied einer Kette, die durch Empfangen und WeiterVgl. E.P. Elungu, Tradition africaine et rationahte moderne, 38, (Übers. d. V.). E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 39, (Übers. d. V.). 25 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationahte moderne, 40, (Übers. d. V.). 26 "La societe est ainsi avant tout l'experience, le fait de vivre avec !es siens, !es proches parents. La societe, c'est essentiellement Ia famille, l'ensemble des membres issus des memes ancetres, du meme ancetre fondateur." Ebd. 23

24

I. Das Erbe der afrikanischen Tradition

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geben des Lebens bestimmt ist: Das Leben, das er selbst empfangen hat, muß der einzelne Mensch wiederum weiterleiten. Dieses nun auf die konkret lebenden Menschen zugeschnittene Verständnis der Gesellschaft wird aber durch die permanent mythische Sicht der Welt über die Grenzen des Todes hinaus so ausgedehnt, daß sie letztlich die sichtbare und die unsichtbare Welt miteinander verbindet. Infolgedessen werden Vorfahren, Älteste, Erwachsene, Jugendliche und Kinder als zu ein und derselben Gesellschaft gehörend dargestellt, sofern sie miteinander verwandt sind. 27 Eine Schlüsselfigur in der so umrissenen Gesellschaft stellt der Clan-Chef dar. Elungu hält dies wie folgt fest: "Er steht am Ende einer Serie. Und von der mythischen Denkweise her wird er gleichsam automatisch als Symbol des Lebens verstanden und als ein verbindendes Element zwischen Lebenden und Toten vorgestellt. 28 In der Tat: Der "Chef' ist hier jene Person, die sowohl durch ein kluges Regieren wie auch durch bestimmte Zeremonien das Leben der ihm anvertrauten Gemeinschaft unterstützen und schützen kann, ebenso wie er das Zusammenwachsen der Gesellschaft zu einer harmonischen Einheit, verbunden mit dem Zusammenhalt unter den einzelnen Mitgliedern, fördern muß. Demnach kann man festhalten, daß im Mittelpunkt der traditionellen Gesellschaft Afrikas das Leben steht. Konkret bedeutet dies, daß sich die Gesellschaft aus Mitgliedern zusammensetzt, die dieses Leben von gemeinsamen Vorfahren bekommen haben. Zu dieser im Band der Verwandtschaft gründenden Gesellschaft gehören sowohl die lebenden wie auch die verstorbenen Mitglieder. Auffällig in diesem Zusammenhang ist aber, daß die Gesellschaft, bei aller Offenheit für das Jenseits, aufgrundihrer Clan-Verfaßtheit nach außen, d.h. für Clan-Fremde, verschlossen ist. Tatsächlich scheint der Fremde faktisch gesehen hier eine Bedrohung für das Leben des Clans darzustellen, die nicht zuletzt dadurch gebannt werden sollte, daß man z.B. in den Krieg gegen andere Clans gezogen ist. Dies meint Elungu, wenn er anmerkt, daß "die Öffnung dieser Gesellschaften im Grunde genommen die Öffnung des Clan-Menschen gegenüber dem ist, was existiert und lebt. Die Öffnung des Lebens gegenüber allem, was Leben ist, geschieht durch die mythisierende Kraft, die das Leben selbst ist. "29 c) Die Natur Befaßt man sich nun im Lichte des bisher Gesagten mit der traditionellen 27 Dieses Verbinden von Diesseits und Jenseits leistet der Vorstellung Vorschub, daß der Clan im Grunde genommen "ewig" bestehen bleibt, da einerseits der Tod als Heimgang zu den Ahnen dargelegt wird, während andererseits die Vorfahren durch ihre Nachkommen weiterhin am Leben sind. 28 Vgl. E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 43, (Übers. d. V.). 29 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 45, (Übers. d. V.).

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C. Vom Lebenskult zur modernen Rationalität

afrikanischen Sicht von der Welt. so wird man gewahr, daß ein Zugang zu ihr wiederum über das Leben führt. Denn, wie Elungu es selbst formuliert, "in der afrikanischen Tradition [... ] begreift sich der Mensch im Lichte des Lebens; er existiert auf dieses Leben hin, zu dessen Verstärkung, Aufblühen und Expandieren er beizutragen sucht. Zu dieser Sicht des Menschen gehört eine Auffassung der Gesellschaft, die das Leben selbst in seinem natürlichen Expansionsprozeß strukturiert und hierarchisch organisiert[ ... ]. Diese Sicht der Clangesellschaft wiederum ist mit einem entsprechenden Verständnis der Natur verbunden. "30 Diese vom Leben zutiefst geprägte Sicht der Welt gilt es zu beachten, wenn ein Zugang zum traditionellen afrikanischen Verständnis von Natur gesucht wird. Denn viele Interpreten haben hierbei immer wieder versucht, ausgehend von einer philosophischen Definition der Natur, aus der afrikanischen Tradition einen Begriff der Natur herauszukristallisieren. Bei aller Legitimität eines solchen Vorgehens - jeder Denker geht bekanntlich mit einem gewissen Vorverständnis an die ihm sich stellenden Fragen heran - muß doch noch beachtet werden, daß dieser Blick von außen nicht darauf angelegt war, die Natur aus der Sicht der Afrikaner zu deuten. Vielmehr wurde, oft aufgrundwissenschaftlich motivierter Vorentscheidungen, schematisiert und kategorisiert. So konnte z.B. C. R. de Brosses behaupten, daß für die Afrikane~ die Natur die Gesamtheit von Lebewesen, Mineralien, Tieren und Pflanzen ist. Aus diesen beseelten und nicht beseelten Seienden habe der Afrikaner kultwürdige Seiende, Götter und Fetische gemacht.31 Schon hier erscheint der Ausdruck Fetischismus, der in der Ethnologie selbst heutzutage noch nicht ausgedient hat.32 Demgegenüber muß geltend gemacht werden, daß der traditionelle Afrikaner gleichsam in einer Symbiose mit der Natur und nicht getrennt von ihr zu leben pflegte. Dies meint Elungu, wenn er unterstreicht, daß "die Geisteshaltung, von der der traditionelle Afrikaner ausgeht, darin besteht, das eigene Leben als Ort der Integration aller erlebten Erfahrungen zu verstehen, wo alles aufgenommen wird, um daraus eine einzige Erfahrung zu machen. " 33 Der vorkoloniale Afrikaner versucht im Horizont des Lebens, alles in ein und dasselbe Ganze zu integrieren. Von hier aus wird ersichtlich, daß er - auch wenn dies den Anschein haben mag- nicht so sehr bestimmte Elemente der Natur verherrlicht als vielmehr versucht, vermittels eines mythisch-symbolischen Zusammenschauens, das Leben als Bindeglied zwischen allem Existierenden zu sehen. Hierzu 30 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 47, (Übers. d. V.). 31 Vgl. C. R. de Brosses, Du culte des dieux fetiches ou parallele de l'ancienne religion d'Egypte avec Ia religion actuelle de Ia Negritie, zitiert nach E. Evans-Pritchard, Theories of Primitive Religion, Oxford 1965. 32 Der Terminus Fetischismus meint den Besitz und den Kult von Gegenständen, die als Verkörperung der Geister angesehen werden. Diesen Objekten werden magische Kräfte zugeschrieben. 33 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 48, (Übers. d. V.).

I. Das Erbe der afrikanischen Tradition

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schreibt Elungu: "Es ist gut möglich, daß der traditionelle Schwarze andere, nicht-menschliche Phänomene verehrt. Dies jedoch nicht deshalb, weil diese Phänomene natürlich und dem Menschen überlegen sind, sondern nur, sofern sie in die konkrete menschliche Erfahrung durch die mythische Denkweise integriert werden können und so zur symbolischen Ausdrucksform des Lebens, zur Ausdrucksmöglichkeit dessen werden, was ein beseeltes oder lebloses Seiendes mit dem Menschen verbindet. "34 Diese Äußerung ist insofern bedeutsam, weil sie zum einen auf die eminente Wichtigkeit des Symbolischen in der Beziehung des Menschen zur Natur abhebt. 35 Zum anderen wird hier geltend gemacht, daß die symbolische Deutung der ganzen Realität die alltägliche Erfahrung in ein umfassenderes Ganzes integriert, in das die Ambivalenz des Lebens selbst hineingenommen wird: "Das gelebte Leben stellt sich in seiner Gesamtheit und in der alltäglichen Erfahrung als notwendig zweipolig dar: Es gibt einerseits den Pol des Lebens, der Kraft, der fortschreitenden Verstärkung und der Schöpfung und andererseits den Pol der Verminderung des Lebens, der Mühe, der Gewalttätigkeit, des Leidens, des Altwerdens und des Todes. "36 Auf der Grundlage dieser Bipolarität erweist sich das Leben letztlich als konfliktbeladenes Paradoxon37 • Im Lichte dieses paradoxalen Charakters des Lebens erscheint die Ambivalenz der Natur selbst. Denn sie kann das Leben nicht nur fördern, sondern auch vernichten. Entscheidend in diesem Zusanunenhang ist jedoch, daß wie das Leben, von dem her alles gesehen und gedeutet wird- die Natur in der afrikanischen traditionellen Sicht nicht konzeptualisiert wird. d) Gott in der afrikanischen Tradition Ein wesentliches Ergebnis der Untersuchung der traditionellen Religionen Afrikas im zeitgenössischen Jahrhundert ist die Erkenntnis, daß der Glaube an Gott in Schwarzafrika noch vor Ankunft der europäischen Missionare gegeben 34 E.P.

Elungu; Tradition africaine et rationahte moderne, 48f., (Übers. d. V.).

35 Vgl. hierzu E.P. Elungu, Tradition africaine et rationahte moderne, 49: "C'est Ia

pensee mythifiante qui contere a ces etres leur qualite essentielle de symbole de l'unique necessaire, leur venerabilite. La pensee mythifiante, plus imaginative que conceptuelle, transforme, a travers Ia grille de l'experience vecue forcement individuelle et collective, ces etres en symboles ayant, au-dela de leur sens empirique ou technique, une signification metaphysique et rehgieuse." 36 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationahte moderne, 53, (Übers. d. V.). 37 Vgl. E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 54: La vie, "de par Je contenu conflictuel de ses actes, apparait necessairement comme paradoxale, comme Ia necessaire colncidence des opposes traduisant banalement ce qui semble etre Ia Ioi de Ia vie: pour vivre, il faut detruire Ia vie et c'est par Ia que se renouvelle et se perpetue Ia

vie.

11

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C. Vom Lebenskult zur modernen Rationalität

war.38 Demgegenüber ist nach Elungu das, was die verschiedenen Volksgruppen Gott nennen, keineswegs eine deutlich definierte Gestalt. 39 Grundlegend hierbei ist aber, daß dieser Gott in der Hauptsache als unsichtbar gilt und als solcher die höchste Realität ist. Fragt man nun, was "höchstes Wesen" eigentlich besagt, so zeigt sich, daß höchstes Wesen soviel wie "Schöpfer", Ursprung aller Dinge bedeutet. Da der Ausdruck Schöpfer bei vielen afrikanischen Völkern nach Elungu im Horizont der Zeugung gesehen wird, erweist sich der Schöpfergott letztlich als der Vater, als der Gott der Väter. 40 Diese Idee eines unsichtbaren Gott-Vaters kann aber nach Elungu nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich hier um ein durch die mythische Aktivität des Menschen als unsichtbar gedeutetes Wesen handelt, das von Menschen eigentlich nicht zu trennen sei. Denn "am Ausgangs- und im Mittelpunkt steht der Mensch mit seinen Gefühlen, Emotionen, Glaubensüberzeugungen und Vorstellungen. Alles wird so sehr auf den Menschen hin gesehen und ausgelegt, daß die Idee vorn Unsichtbaren, dort wo sie vorhanden ist, von Körper und Fantasie vermenschlicht wird."4 ' Damit möchte Elungu geltend machen, daß der vorkoloniale Afrikaner durch religiöse Riten und deren mythische Interpretation keineswegs nach Gott als transzendentem Wesen Ausschau hält, in dem er die Erfüllung seiner Sehnsüchte finden kann. Vielmehr sucht er, gerade durch Mythen und Riten, die ja Bestandteile der alltäglichen Zeremonien sind, in Einklang mit der Natur, den Vorfahren und Gott so zu leben, daß er hierbei die Fülle des Lebens erlangt. So gesehen handelt es sich beim traditionellen Afrikaner um eine Spiritualität, die weniger kontemplativ als vielmehr im direkten Dienst des Lebens in der konkreten, alltäglichen Existenz steht. Hierin liegt nach Elungu der Grund dafür, daß es im traditionellen afrikanischen Raum keine "akademisch-wissenschaftliche" Theologie gibt. Mit diesem Hinweis auf das Leben wird man erneut auf den archimedischen Punkt verwiesen, von dem her und zu dem hin alles in der afrikanischen 38 Vgl. z.B. B. Bujo, Afrikanische Theologie im ihrem gesellschaftlichen Kontext, 21: "In der afrikanischen Religion wird Gott - lange bevor das Christentum kam - als Ursprung aller Lebewesen, insbesondere des menschlichen, betrachtet." 39 Er drückt dies wie folgt aus: "L'idee de Dieu chez nos peuples etait loin d'etre une idee claire et distincte. Cette idee n'est meme pas une idee, un concept ou un ensemble de concepts apropos de Dieu." E.P. Elungu, Tradition africaine et rationahte moderne, 66, (Übers. d. V.). 40 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß sich bei verhältnismäßig kleinen, isolierten Völkern die Idee eines Gott-Vaters kaum von der Vorstellung des ClanBegründers unterscheidet. Hierzu merkt Elungu an, daß "Ia distance ici creee par le mythe n'est pas suffisante pour que chez eux Dieu apparaisse comme distinct et, surtout, comme separe de Ia vie du clan." E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne,

63.

41

E.P. Elungu, Tradition africaine et rationahte moderne, 66, (Übers. d. V.).

II. Leben und Kultur

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Tradition seinen Sinn erhält. Dies meint Elungu, wenn er zusammenfassend zu folgender Einschätzung kommt: Alle Vorstellungen der Tradition über Gesellschaft, Natur und Gott sind ein- und dieselbe Grundüberzeugung, in der der Bindung an das Leben im allgemeinen und an das eigene Leben im besonderen als verbindendes Element der wichtige Rang des Sakralen zugeschrieben wird. 42 II. Leben und Kultur Das wesentliche Ergebnis von Elungus Beschäftigung mit der afrikanischen Tradition ist die Erkenntnis, daß das Leben die Quintessenz dieser Tradition ist. Näherhin konnte herausgehoben werden, daß dieses Leben den einzelnen Menschen in ein soziales Gefüge integriert, in dem er seine Existenzmöglichkeiten am besten entfalten kann. 43 Wie ist aber die Beziehung zwischen diesem Leben einerseits und der Kultur als Ausdruck des Lebens andererseits zu denken? Damit ist man bei der Frage nach den wesentlichen Zügen der durch das Leben bestimmten traditionellen Kulturen Afrikas angelangt. Diese sind in der Hauptsache "natürlich", gemeinschaftsorientiert und ethisch-religiös geprägt. 1. Die "Konnaturalität" der afrikanischen Kulturen

Augangspunkt ist hier folgende Äußerung von Elungu: "Die Natur bedeutet in diesem Kontext die Natur der Dinge, d.h. das Leben."44 Wenn Elungu in diesem Zusammenhang mit dem Ausdruck "Natur" nichts anderes als das Leben nennen möchte, so wird hiermit erneut auf die Erfahrung abgehoben, daß im traditionellen Afrika alles um das Leben kreist. Tatsächlich ist jede Aktivität darauf ausgerichtet, das Leben in jeder Hinsicht zu unterstützen und zu fördern. Diese prinzipielle Indienstnahme durch das Leben setzt schon im biologischen Bereich an: Jeder erwachsene Mensch hat die Pflicht, das empfangene Leben weiterzugeben. Infolgedessen kann das Leben viele Menschen zu einer Gemeinschaft derer zusammenführen, die durch Abstammung miteinander verwandt sind. Diese Erfahrung eines Zusammengehörens durch das Band der Verwandtschaft - an deren Ursprung ein oft mythisch legitimierter Urahn stehen kann - konstituiert den Boden, auf Vgl. E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 70. "C'est en fait cette experience socio-individuelle qui est l'experience fondamentale que les gestes, les emotions, les Sentiments, les pensees ainsi que l'imagination mythifiante deterrninent, en revetant necessairement un caractere a Ia fois individuel et collectif, bref communautaire." E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 70f. 44 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 71, (Übers. d. V.). 42 43

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C. Vom Lebenskult zur modernen Rationalität

dem Individuum und Gesellschaft stehen. Diese Grundlage kann nun durch soziale Beziehungen, Heiraten, politische Handlungen und arbeitstechnische Maßnahmen zu einem größeren Rahmen erweitert werden. Aber auch hier geschieht alles vom Leben her oder auf das Leben hin. Deshalb unterstreicht Elungu: "Das, was der Mensch konzipiert und durchführt, geschieht im Horizont des Lebens, so wie es entsteht, sich strukturiert und entfaltet. So erklärt es sich z.B., daß das Ökonomische das Leben nicht bestimmt. Und die Arbeit, weit davon entfernt, durch Aufgaben- und Rollenverteilung das Unterscheidungsmerkmal zwischen den Menschen auszumachen, gehorcht der Unterscheidung, die das Leben durch seine Entstehung und Ausfaltung unter den Menschen, d.h. unter den Geschlechtern mit sich bringt."45 Kurzum: in politischer, ökonomischer und religiöser Hinsicht ist alles am Leben ausgerichtet. Diese Allgegenwärtigkeit des Lebens sowohl als terminus a quo wie auch als terminus ad quem von allem menschlichen Unternehmen macht die "Natürlichkeit" der vorkolonialen Kulturen Afrikas aus. 2. Der Gemeinschaftscharakter der schwarzafrikanischen Kulturen

Wenn nun das Leben im traditionellen Afrika als Bindeglied verstanden wird, so kann sein tiefster Ausdruck weder im einzelnen Menschen noch in der Gesellschaft als Zusammenkunft der Menschen gesucht werden. Vor diesem Hintergrund erweisen sich Individualismus und Kollektivismus zur Erklärung des Zusammenhalts in der afrikanischen Gesellschaft als unzureichend. Denn vor jeder Individuum- und Gesellschaftswerdung gibt es eine ursprünglichere Verbindung, die den einzelnen Menschen und die Gesellschaft trägt und zusammenführt: Es gibt eine ursprüngliche Synthese, die die aufeinander verwiesenen Individuen und die Gesellschaft immer wieder in Übereinstimmung bringt, nämlich das Leben, das jedem Individuum in Verbindung mit der Lebensquelle und den anderen Lebenden geschenkt wird. 46 Dank dieser durch das Leben selbst ermöglichten steten Verbindung des Einzelnen mit seinen Mitmenschen erweist sich der traditionelle Afrikaner jenseits von Individualismus und Kollektivismus - als ein Gemeinschaftswesen: "Der schwarze Mensch ist weder Kollektivist noch Individualist. Er ist vielmehr gemeinschaftsgebunden. "47 Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß das Individuum sein Leben nur als Teilhaben am Leben anderer versteht und entfaltet. Dies bedeutet zwar nicht, daß jede Aufgabe gemeinsam in Angriff genommen werden muß, sondern daß jede Initiative und Spezialisierung letztlich im Namen der Gemeinschaft 45 46 47

E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 72, (Übers. d. V.). Vgl. E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 76. E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 77, (Übers. d. V.).

II. Leben und Kultur

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entwickelt und ausgeführt wird. Dies bringt Elungu wie folgt auf den Punkt: "Es wird im Lichte dieses Kontextes ersichtlich, weshalb einige spezialisierte Berufe, statt eine gesellschaftliche Trennung heraufzubeschwören, diese mögliche Spaltung in ein Werkzeug der Solidarität urnzumünzen vermochten." 48 Das Beispiel der sogenannten Hexerei ist hier aufschlußreich: Die Hexerei wird im traditionellen Afrika als die Erfahrung des Bösen schlechthin gesehen; sie ist das absolute Gegenteil zum Leben. Dennoch kann sie vermittels religiöser Riten und Zeremonien der Gemeinschaft zugute kommen. Dies sieht so aus: Gegen die Hexerei eines bestimmten Menschen kann sich die Gemeinschaft durch einen "Gegenhexenmeister" nicht nur zur Wehr setzen, sondern auch durch entsprechende Handlungen aus der Hexerei Nutzen ziehen. Im Klartext bedeutet dies, daß jede Fachkompetenz, die sich der einzelne Mensch aneignet, letztlich dem Leben der Gemeinschaft zu dienen hat, an dem der einzelne ja partizipiert.49 3. Die ethisch-religiöse Dimension

Der traditionelle Afrikaner kann nicht, so hieß es oben, von der Gemeinschaft getrennt, verstanden werden. Diese konstitutive Zugehörigkeit des Individuums zu einer Gemeinschaft macht einen wesentlichen Zug der afrikanischen Kulturen aus. Fragt man nun von hier aus, worin die Kultur, die im afrikanischen Raum die "Natur" gleichsam zu verlängern und vervollständigen scheint, besteht, so wird man auf die ethisch-religiöse Dimension als den wesentlichen Charakter der afrikanischen vorkolonialen Kulturen verwiesen. Tatsächlich stellt das Ethischreligiöse für Elungu jenen Ort dar, von dem her alle Aspekte des Gemeinschaftslebens im traditionellen Afrika ihren tiefen Sinn erhalten und von dem aus die Kultur letztlich als das Leben selbst in seiner sozialen Dimension begriffen werden muß. Er schreibt: "Diese ethisch-religiöse Ordnung erscheint zunächst als ein Ganzes, welches wiederum als ewig, als ein Ziel an sich gilt. "50 Mehr noch: "Dieses 'Ganze-ewig-Ziel-an-sich' gründet eine metaphysische Ordnung, der gegenüber sich alles andere als relativ ausnimmt. Gerade gegen48 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationahte moderne, 78, (Übers. d. V.). 49 Elungu drückt es folgendermaßen aus: "Ces connaissances, qui elevent

et distinguent l'individu et Je specialisent en quelque sorte (et cette specialisation peut atteindre de hauts niveaux) n'isolent jamais l'individu. Au contraire, elles l'inserent dans une communaute vitale parce qu'elles sont, en fin de compte, destinees ll transformer les gestes specialises en actes rituels - magiques ou non - de celebration du culte qui corrobore Ia cohesion sociale, Ia consubstantialite de l'individu au groupe. Tous ces gestes collectifs et individuels circonscrivent Ia sphere d'une culture eminemment et fondamentalement communautaire." E.P. Elungu, Tradition africaine et rationahte moderne, 83. 50 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 84, (Übers. d. V.). 10 Ozankom

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C. Vom Lebenskult zur modernen Rationalität

über diesem Relativen stellt sich das Absolute, das das 'Ganze-ewig-Ziel-ansich' ist, als Handlungsnorm dar. Die Metaphysik ruft demnach die Ethik hervor, welche in der Verpflichtung besteht, die Gesamtheit der geforderten Handlungen und der zu beachtenden Verbote zu erfüllen, damit das Leben der Gesellschaft verlängert und beständig gemacht werden kann." 51 Die so umschriebene einzig gültige Moralordnung wird durch Vergangenheitsbezogenheil und Totalitarismus näher bestimmt. Wie ist dies zu verstehen? Mit dem Begriff des Totalitarismus wird darauf abgehoben, daß die Moralordnung ein einziges Ganzes ist. Es ist die soziale Ordnung im Sinne von strukturierter und hierarchisch organisierter Ordnung, in der das Individuum einen ihm zugewiesenen Platz hat. In einer auf diese Weise organisierten Gesellschaft richtet sich das Verhalten des Einzelnen wie das der Gesellschaft nach der genannten einzigen Moralordnung, die nicht nur beachtet, sondern darüber hinaus auch geschützt und weitergegeben werden muß. Damit ist aber zugleich gesagt, daß die Vorstellung eines individuellen Gewissens als Quelle der Moral gänzlich unbekannt ist. 52 Mit diesem Totalitarismus geht eine Vergangenheitsbezogenheil einher, die dadurch zum Ausdruck kommt, daß die als ein Ganzes empfundene Moralordnung sich letztlich als die ethische Vorgabe der Vorfahren erweist: "Die Orientierung an der Vergangenheit bedeutet, daß die moralische Ordnung, die bis jetzt fortbesteht, und die die Lebenden zu beachten und an ihre Nachkommen zu überliefern haben, die Wertordnung der Vorfahren ist. Infolgedessen orientiert sich das daraus entspringende Handeln sowie die damit verbundene Kultur nicht an einer Zukunft, deren Ankunft vorbereitet werden soll, sondern an der Vergangenheit, die man sich aneignen soll."53 Diese durch Vergangenheitsbezogenheit und Ganzheitscharakter bestimmte ethische Ordnung verweist wiederum auf die Religion als umgreifendes Gefüge, wobei alles so angelegt ist, daß das Religiöse alles Ethische gleichsam weiterführt und ihm die letzte Fundierung verleiht. Mit diesem Ineinander von Ethischem und Religiösem ist nach Elungu jene Grundlage genannt, auf der alle kulturellen Leistungen des traditionellen Afrikas in den Dienst dieses Lebens gestellt werden: "Die ethisch-religiöse Ordnung ist durch das Leben geschaffen worden; sie ist der Kult, den das Leben sich selbst auf sein immerwährendes Bestehen hin zollt."54

51

Ebd.

52 Vgl. E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 85: "Le totaHtarisme

souHgne l'absence de conscience individuelle comme source de l'ordre moral et comme derniere instance legitime." 53 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 86, (Übers. d. V.). 54 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 86f., (Übers. d. V.).

III. Begegnung mit der Rationalität des Westens

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Man kann demnach letztlich von einer gewissen Vorherrschaft des Religiösen in den traditionellen Kulturen Afrikas sprechen, dessen Hauptelemente Riten und Mythen - vornehmlich mündlich vorgetragen und weiter tradiert wurden. Elungu drückt dies wie folgt aus: "Es stimmt, daß diese religiösen Praktiken, die die Riten und Mythen darstellen, Elemente der Verbindung mit Gott und Welt, Systeme von Gesten und Erzählungen bei jenen Völkern bilden können und sogar gebildet haben, bei denen sie Werkzeuge für das Leben waren. Diese Systeme ritueller Gesten und mythischer Erzählungen bekamen durch die Überlieferung von Generation zu Generation eine Beständigkeit." 55 Im Klartext bedeutet dies, daß auch die durch direktes Vortragen, Hören, Vollziehen und Teilnahme weitergegebenen Mythen und Riten- im Sinne von religiösen Elementen par excellence - dem einen Ziel, nämlich dem Leben, dienten. Zusammenfassend läßt sich daher festhalten: Das Erbe der Tradition Afrikas besteht nach Elungus Einschätzung in einem "Lebenskult". Damit soll geltend gemacht werden, daß das Leben jene Quelle ist, aus der die traditionellen Kulturen Afrikas in vielerlei Weise gespeist werden und auf die hin sie ihre Existenzmöglichkeiten entfalten: Alles soll dem gelebten Leben in all seinen Facetten in der Praxis dienen, es schützen und verlängern.

111. Begegnung mit der Rationalität des Westens Die bisherigen Erläuterungen waren von dem Bemühen geleitet, das wesentliche Erbe der afrikanischen Tradition gemäß Elungu zu kennzeichnen. Als wichtigste Quelle, an die diese Tradition zurückgebunden war, konnte das Leben namhaft gemacht werden. Da die durch das Leben als wichtigsten Motor getragenen Kulturen Afrikas durch die Begegnung mit Europa vor der Gefahr stehen, depotenziert zu werden, empfiehlt es sich, die wichtigsten Elemente der westlichen Tradition näher zu bestimmen, bevor die Frage angeschnitten wird, ob und wie die afrikanischen Kulturen unter den Voraussetzungen einer durch Europa geprägten Welt zukunftsfähig sein könnten. Folgende Elemente charakterisieren nach Elungu die durch Europa repräsentierte Kultur: Die Theologie der Offenbarung, die Wissenschaft, das Wort (speziell das geschriebene Wort) und das Stadtleben verbunden mit Veränderungen in der Gesellschaft als Lebensmilieu par excellence. l. Die Religionen der Offenbarung

1980 beging die katholische Kirche Zaires das hundertjährige Jubiläum der Evangelisierung des Landes. Genau genommen handelt es sich hierbei um eine 55 !O•

E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 88, (Übers. d. V.).

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C. Vom Lebenskult zur modernen Rationalität

zweite Welle der Missionierung. Denn schon im 16. und 17. Jahrhundert hatten portugiesische und italienische Ordensleute versucht, dem Christentum an der Atlantikküste im damaligen Königreich Kongo eine Heimat zu bereiten. Ähnlich konnte auch der Islam fast zeitgleich im Osten des Landes erste Erfolge verbuchen. Nachdem beide Unternehmungen (d.h. des Christentums und des Islams) trotz anfänglichem Enthusiasmus zu keinen tiefgehenden Bekehrungen führten, wurde die mit der im 19. Jahrhundert einsetzenden Kolonialisierung anhebende christliche Evangelisierung so erfolgreich durchgeführt, daß man heutzutage, statistisch gesehen, von einer Bekehrung der Bevölkerung- weg von den traditionellen Religionen, hin zum Christentum - sprechen kann. Tatsächlich machen, neuen statischen Angaben zufolge, die Katholiken 40 bis 50%, die Protestanten 20 bis 25% und die Kimbanguisten 56 10 bis 15% der Bevölkerung Zaires aus. Da immerhin etwa 80 % der Gesamtbevölkerung den christlichen Religionsgemeinschaften angehören, drängt sich in philosophischer Hinsicht die Frage nach deren eigentlichen Einfluß auf die afrikanischen Kulturen auf. Dies meint Elungu, wenn er anmerkt: "Wir betrachten diese Offenbarungsreligionen im allgemeinen vom Standpunkt des Philosophen her, d.h. aus der Perspektive dessen, was in religiöser Sicht erforderlich ist, damit ein philosophisches Bewußtsein in unseren zeitgenössischen Gesellschaften geboren werden kann, welches sie dazu befähigen kann, alle wichtigen Elemente, mögen sie alt oder neu, modern oder traditionell sein, zu integrieren ."57 Was heißt aber "geoffenbarte" Religion? Elungu sucht dies anband von Gottesvorstellung, Eschatologie und Ethik zu bestimmen.

a) Die Offenbarungsreligionen zeichnen sich durch eine originale Gottesvorstellung aus. Gott selbst ergreift die Initiative und geht auf die Menschen zu. 58 Dieser sich den Menschen selbstmitteilende Gott ist eine transzendente Realität. Diese Vorstellung eines welttranszendenten Gottes ist nach Elungu für den traditionellen Afrikaner völlig neu. Denn die Religionen des vorkolonialen Afrikas kennen keinen Gott, der von der Welt völlig getrennt ist und der in aller Freiheit den Menschen seinen Willen und so sich selbst mitteilt. 56 Die Kimbanguisten stellen eine jener christlichen Gemeinschaften dar, die mangemeinhin "afrikanische unabhängigen Kirchen" nennt. Der "Kimbanguismus" geht auf Sirnon Kimbangu zurück, der in den 50er Jahren die "Kirche Jesu Christi auf Erden durch den Propheten Sirnon Kimbangu" in Zaire gründete. Die Kimbanguisten sind seit geraumer Zeit Mitglied des Ökumenischen Rates der Kirchen. 57 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 96, (Übers. d. V.). 58 Dieu "se presente des l'abord comme une realite, unepersonne separee du monde et des hommes, trancendante a eux mais qui, la premiere, prend l'initiative de se communiquer aux hommes, de se reveler a eux, d'entrer en dialogue avec eux." E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 97, (Übers. d. V.).

III. Begegnung mit der Rationalität des Westens

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Diese Offenbarung Gottes erfolgt in der Regel nicht direkt, sondern Gott bedient sich der Vermittlung prophetischer Gestalten. So ist es etwa im Judentum und im Islam. Demgegenüber hat sich Gott im Christentum - nachdem er durch die Propheten zu den Menschen gesprochen hatte - durch seinen eigenen Sohn, den Prophetenpar excellence, endgültig und in unüberbietbarer Weise kundgetan. 59 Nun steht das vermeintliche Fehlen einer Transzendenz Gottes, das Elungu für das traditionelle Afrika postuliert, im Kontrast zur Erfahrung, daß diese Vorstellung in Afrika offenbar auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Zwei Erklärungsansätze werden hierfür von Elungu favorisiert. Zum einen wurde ein transzendenter Gott von den Afrikanern deshalb angenommen, weil er nicht nur transzendent, sondern auch ein fürsorgender Gott ist und letztlich als der sich um alles und jeden sorgende Vater vom traditionellen Afrikaner bejaht werden kann. Zum anderen, und das ist hier wesentlich, ist die grundsätzlich mythische Deutungsweise der afrikanischen Tradition für die verhältnismäßig reibungslose Annahme eines transzendenten Gottes ausschlaggebend: Die Vorstellung eines weltentrückten Gottes scheint der afrikanischen Vorstellung von Gott als einem einsamen, fernen Wesen entgegenzukommen. Demgegenüber macht Elungu geltend, daß, streng genommen, die religiöse Initiative in den traditionellen afrikanischen Religionen grundsätzlich bei den Menschen liegt. Denn es ist der Mensch, der den Kontakt zu Gott sucht, um sein Leben und das ihm Anvertraute hic et nunc zu fördern und zu schützen. Ebenso kann die afrikanische Vorstellung eines Lebens nach dem Tod nur bedingt mit dem christlichen Glauben an die Auferstehung in Verbindung gebracht werden. "So begegnet beispielsweise der christliche Glaube an das Weiterleben, an die Auferstehung der Toten unserem herkömmlichen Glauben an das Weiterleben der Seele und der Vorfahren und erfüllt ihn jedoch nur auf der Ebene des Gefühlsmäßigen und des Mythischen. Auf der Ebene des begrifflichen, klaren und eindeutigen Denkens, können beide Glaubensarten nur in einen Gegensatz zueinander treten."60 Näherhin soll damit artikuliert werden, daß, während im christlichen Kontext der Mensch sich als sterblich weiß - wobei der Tod nach Elungus Einschätzung den Sinn eines vernichtenden Verschwindens hat - der traditionelle Afrikaner den Tod als Übergang in einen anderen Lebensmodus erfährt, in die Welt der Ahnen, wodurch der Zusammenhalt zwischen Lebenden und Toten spürbar wird: Die Vorfahren wachen über ihre Nachkommen, während diese durch bestimmte rituelle Vollzüge ebenso am Leben der Ahnen partizipieren. 59 An dieser Stelle sei angemerkt, daß Elungu ein zumindest nicht repräsentatives Verständnis des Christentums darlegt. So wird bei ihm die Inkarnation mit dem damit verbundenen Ernstnehmen des Menschlichen kaum in Betracht gezogen. Ebenso blendet er die zeitgenössischen Ansätze in Theologie und Religionswissenschaft völlig aus. 60 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalit~ moderne, 99, (Übers. d. V.). Gegen Elungu muß hervorgehoben werden, daß er hier einen Rationalismus wiedergibt. Diese Sicht ist aber keine Charakteristik der christlichen Religion.

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Mit dem Gedanken eines von Welt und Mensch getrennten Gottes leistet die Offenbarungsreligion wiederum der Vorstellung Vorschub, wonach der Mensch selbst nicht in Einheit mit sich und der Welt lebt, im Gegensatz zu dem, was die afrikanische Tradition nahelegt Dies unterstreicht Elungu, wenn er anmerkt: Getrennt von Gott, der ihm in Güte zugleich nahe geworden ist, wird der Mensch durch seine göttliche Berufung von der Welt getrennt. Denn durch Gottes Gnade und Ruf ist der Mensch nicht in der Welt. Und wenn die Welt gebrochen und in drei unterschiedliche Realitäten, nämlich Gott, Welt und Natur geteilt ist, so erscheint der Mensch als in Natur und Übematur aufgeteilt; er ist so gesehen gezwungen, zwei sich widerstreitende Leben zu führen, das natürliche Leben und das Leben der Gnade.61 Neben der Vorstellung eines jenseitigen Gottes, zu der ein bestimmtes Menschenbild gehört, wohnt den Offenbarungsreligionen ein Begriff der Zeit inne, der aufgrund seiner eschatologischen Ausrichtung dem traditionell afrikanischen Zeitverstehen geradezu entgegengesetzt ist. In der Tat: die traditionellen afrikanischen Religionen sind nach Elungu grundsätzlich mythisch geformt. In ihnen spielt der im Clan lebende Mensch die entscheidende Rolle. Infolgedessen liegt der tiefste Sinn der Religion darin, das Leben des Menschen zu fördern, zu intensivieren und letztlich zu "verewigen". Dabei kommt den Mythen die Aufgabe zu, den einzelnen Menschen in die Einheit der Clan-Gemeinschaft so zu integrieren, daß die aus der Zukunft kommende, durch die Gegenwart in die Vergangenheit fließende Zeit gleichsam als außer Kraft gesetzt gelten kann. Folgender Gedankengang ist hier bedeutsam: Der traditionelle Afrikaner lebt in einer Gegenwart, die in der Hauptsache von der Vergangenheit geprägt ist, in der die Vorfahren gelebt haben und von der her sie weiterhin Einfluß auf das Leben ihrer Nachkommen nehmen können. Dem entspricht das Bemühen der jüngeren Generationen, stets im Einklang mit den von den Ahnen überlieferten Werten zu leben, damit auch die je gegenwärtigen Generationen das Leben in Fülle haben. Erst im Lichte dieser in die Gegenwart reaktualisierten Vergangenheit schimmert so etwas wie Zukunftsdimension durch: Der traditionelle Afrikaner ist nicht nur jener Mensch, der in der Gegenwart lebt. Seine Religion ermöglicht ihm ein Leben, in dem er die Vergangenheit und die Vorboten der Zukunft im Jetzt aufleben lassen kann. 62 Demgegenüber scheint z.B. das Christentum trotz seiner geschichtlichen Gründung zutiefst zukunftsorientiert durch die Hoffnung auf das post mortem zu erlangende Paradies und durch die freudige Erwartung der Wiederkunft des Herrn zu sein. Denn, wie Elungu anmerkt, "der Christ ist jener Mensch, der in 61 Vgl. E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 102. In diesem Zusammenhang möchte ich hervorheben, daß das Zukunftsthema im Christentum wesentlich komplizierter ist. Die hier von Elungu vorgenommene Gegenüberstellung scheint mir zudem undifferenziert und der komplexen Struktur des christlichen Zukunftsverständnisses nicht angemessen zu sein. 62 Vgl. E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 107, (Übers. d. V.).

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der Erwartung der Wiederkunft Christi lebt, der ihn von den Toten auferwecken und ihm dem verheißenen Lohn geben wird. Denn warten schließt ein mit Gottes Gnade engagiertes Handeln in der diesseitigen Welt ein, um später Zugang in die jenseitige Welt zu finden. "63 Allein, diese Vorstellung einer Zukunft, die nicht nur weit weg ist, sondern auch das Ende der Geschichte mit der damit verbundenen Idee eines Weltgerichts darstellt, ist etwas ganz Neues und stellt einen Gegensatz zum afrikanischen "Zeitdenken" dar. Denn in der afrikanischen Tradition gehören Irdisches und Jenseitiges aufs engste zusanunen. Deswegen können etwa mögliche Bedrohungen und Bestrafungen - bei Mißachtung der Gebote - nicht auf sich warten lassen, sondern haben unverzüglich hier auf Erden zu erfolgen. Auch wenn die Christen unter den Afrikanern die echte Bedeutung der eschatologischen Verheißungen ihres Glaubens64 in ihrer Tiefe noch nicht erfaßt haben, zeigt sich aber, daß ihnen durch die Begegnung mit dem Christentum ein Zugang zur christlichen Zukunftsdimension der menschlichen Existenz zuzuwachsen beginnt. Elungu bringt dies so auf den Begriff: "Bei den Afrikanern, die sich zu diesen Religionen bekehrt haben, bekommt die Zukunft eine Bedeutung, die ihr in unseren traditionellen Gesellschaften nicht zukam. Und, auch ohne den genuin religiösen Gehalt, bedeutet diese Zukunftsauffassung eine wirkliche Revolution. "65 Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, daß mit der allmählichen Übernahme der in der Hauptsache durch die Begegnung mit dem Christentum zu Tage getretenen Dimension der Zukunft ein möglicher Zugang zu der in Afrika allbeherrschenden Frage nach einer ganzheitlichen Entwicklung gegeben ist. Der zentrale Gedanke ist hierbei, daß der für die Zukunft sensibel gewordene Mensch sich nicht mehr nur mit dem je aktuell Erreichten identifizieren wird, das es nur noch zu schützen gilt, sondern sich vielmehr als ein zu realisierendes Projekt verstehen wird. Dieses Projekt kann am besten realisiert werden, indem alle nur erdenklichen Kräfte mit Blick auf die Zukunft gebündelt werden. Hierzu gehört nach Elungu nicht zuletzt die Notwendigkeit, die Clans als den eigentlichen Ort der Entfaltung der eigenen Existenz in einen größeren Rahmen zu stellen. Dieser Blick - weg von der Clan-zentrierten Lebensweise, hin zu größeren Entitäten - bedeutet letztlich das Aufgeben der auf die eigene 63 Ebd. 64 J. Mbiti

hebt in diesem Zusammenhang hervor, daß viele Afrikaner die christliche Eschatologie als die Zusage einer in naher Zukunft stattfindenden Belohnung mit materiellen Gütern ausgelegt haben. Diesem Mißverständnis verdanken seiner Einschätzung nach viele sogenannte "afrikanische unabhängige Kirchen" ihre Entstehung. Vgl. J. Mbiti, New Testament Eschatology in African Background, London, 1971. Bei aller Richtigkeit dieser Beobachtung darf man m.E. nicht außer acht lassen, wie sehr die Rede von der Eschatologie nicht nur in den Anfängen der Kirche oft mit Mißverständnissen und Unklarheiten begleitet war. Vgl. hierzu z.B. die Problematik der Parusieverzögerung im Neuen Testament. 65 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 108f, (Übers. d. V.).

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Volksgruppe zugeschnittenen Ethiken zugunsten einer universalen Ethik, wie dies z.B. in den Offenbarungsreligionen zum Tragen kommt. Denn "eine solche Moral ist pluralistisch, personal und universal angelegt. Sie erfordert von den traditionellen Religionen die Befreiung des Individuums von der Clan-Totalität. Das befreite Individuum wird nicht nur zum Ausgangs- und Mittelpunkt des moralischen Lebens, sondern auch zu einem seiner Ziele, die von den Zielen der Gesellschaft verschieden sind. •>66 Auch wenn der heutige Afrikaner trotz einem zunehmend deutlich werdenden Abschied von der ethischen Ordnung seiner Ahnen seine Existenzmöglichkeiten noch nicht ganz im Lichte einer neuen, universalen Ethik wahrzunehmen vermag - da eine zumindest affektive Bindung an die Welt der Vorfahren noch stark genug zu sein scheint- so muß doch festgehalten werden, daß die "Offenbarungsreligionen" durch Gottesbild, Zeitdenken und ethische Vorstellungen den ursprünglich auf die jeweilige Volksgruppe begrenzten Raum der traditionellen afrikanischen Lebenswelt gesprengt haben. Damit aufs engste verbunden ist die Entstehung einer "pluralistisch-universal" ausgerichteten neuen Gesellschaftsordnung. Diese Entwicklung wird auch von anderen "Säulen" der abendländischen Zivilisation gefördert, wie im folgenden zu zeigen versucht wird. 2. Wissenschaft und wissenschaftlicher Geist

Zu den wesentlichen Säulen der europäischen Zivilisation, die in der Begegnung mit Schwarzafrika die traditionellen Kulturen nicht nur in Frage gestellt, sondern bis zu einem gewissen Grad zerstört haben, gehört neben dem Christentum die Wissenschaft (und der damit verbundene wissenschaftliche Geist). 67 Tatsächlich erweist sich der rationalistische Geist, der aus Wissenschaft und Technik hervorgeht, als dem Geist der afrikanischen Tradition entgegengesetzt. Und um den tiefen Grund dieses scheinbar unversöhnlichen Gegensatzes zu erhellen und die damit gegebene Möglichkeit eines Umdenkens bei den heutigen Afrikanern zu eruieren, konzentriert Elungu seine Untersuchung von Wissenschaft und wissenschaftlichem Geist auf folgende Grundelemente: Den Gegensatz Mensch/Natur und die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt; die Entdeckung des Wortes als Maß der Dinge oder die Autonomie der Diskursivität; der Primat des Technischen gegenüber der 66 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 113, (Übers. d. V.). 67 Auch wenn nach Elungu Religion und Wissenschaft zu jenen Kräften zu

zählen sind, die die afrikanischen Kulturen zerstört haben, so muß man nach seiner Einschätzung der Wissenschaft in diesem Prozeß bei weitem das größere Gewicht zuschreiben: "Par rapport a nos cultures traditionnelles, Ia science et l'esprit scientifique joueront autant, sinon plus, que Ia revelation, Je meme röle de destruction, de demembrement de l'unite fondamentale de la vision du monde qui caracterisait ces cultures." E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 117, (Übers. d. V.).

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Moral. Im Gegensatz zu den afrikanischen Kulturen, in denen der Mensch in Harmonie mit der Natur lebt, führt die Wissenschaft - wie schon die Offenbarungsreligionen - eine deutliche Trennung zwischen Mensch und Natur ein. Wie Elungu anmerkt, stellt uns die Wissenschaft vor "das gleiche Schauspiel einer geteilten Welt, in der der Mensch der Welt gegenübersteht. Aber da die Wissenschaft Gott nicht kennt - bestenfalls betrachtet sie ihn als eine große Hypothese - ist ihr Ausgangspunkt nicht Gott oder die Offenbarung. Deshalb sucht sie die Einheit der Welt, des Menschen und der Natur nicht in Gott. Ihr Ausgangspunkt ist vielmehr ihr Problem, nämlich: Der Mensch ist nicht die Natur, er ist der Natur überlegen. "68 Daraus folgt: Durch die Wissenschaft setzt sich der Mensch über die Natur, die nun nicht nur begriffen, sondern auch beherrscht werden soll. Das angestrebte Herr-sein über die Natur setzt aber voraus, daß sich der Mensch bewußt wird, daß er nicht die Natur, sondern etwas anderes als sie ist und ihr gegenübersteht. Die in der Entwicklung der Menschheit zu beobachtende Tendenz, zwischen Mensch und Natur zu trennen, wird vom wissenschaftlichen Geist, geradezu gefordert: "Der wissenschaftliche Geist besteht in der Forderung, daß der Mensch frei werden soll. Am Anfang verbindet sich dieser Geist mit einer Haltung, die den Menschen dazu führt, sich zurückzuziehen, sich vom Rest der Welt zu distanzieren, um sich selbst zu finden.'-69 In dieser Äußerung wird zunächst auf den wissenschaftlichen Geist als jenen Motor abgehoben, kraft dessen der Mensch im Prozeß einer Bewußtwerdung der Unterschiedenheil zwischen sich und der Natur die Entwicklung der Subjekt-Objekt-Denkart v.a. in der Neuzeit eingeleitet hat, was seither als zentrale Bestimmung aller Wissenschaft angesehen wird. 70 Hierzu gehört aber auch die Erkenntnis, daß der vom wissenschaftlichen Impetus geleitete Mensch sich nicht nur als Subjekt - und letztlich dem Objekt überlegen - versteht, sondern sich zum Maß aller Dinge erhebt. Dies geschieht vornehmlich in einer "Rückkehr zu sich selbst", d.h. in der Reflexion, so daß diese im Grunde genommen als der archimedische Punkt jeder Erkenntnissuche gelten kann. 71 Da 68 E.P. Elungu, Tradition africaine et 69 E.P. Elungu, Tradition africaine et 70 Vgl. hierzu E.P. Elungu, Tradition

rationalite moderne, 119, (Übers. d. V.). rationalite moderne, 120, (Übers. d. V.). africaine et rationalite moderne, 122: "La pensee occidentale, profondement marquee par Ia science, tout en essayant parfois de Ia depasser, n'en fait vraiment pas table rase. Elle part toujours de Ia distinction sujet-objet avec Ia conscience que cette distinction implique Ia specificite de l'humain, le pouvoir qu'a I'homme de conquerir, connaitre et meme comprendre a partir du sujet qu'il est, et le sujet lui-meme et l'objet." 71 Elungu unterstreicht dies wie folgt: "Peu importe les idees que l'on s'est faites sur ce qui constitue en l'homme Ia specificite humaine, sur ce qui en lui est Ia mesure de luimeme comme de ce qui existe; ce qui nous parait important ici, c'est non seulement Ia conviction que l'homme est un etre specifique, separe de Ia nature et superieur aelle,

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das Bewußtsein, durch Reflexion zu gesicherten Erkenntnissen zu gelangen, sich in der Sprache vollzieht und ausdrückt, bekommt die diskursive Rede eine Autonomie, insofern sie der Ausfluß der schöpferischen Aktivität des Menschen ist. Elungu formuliert dies wie folgt: "Die Bewegung, durch die der Mensch sich von dem löst, was er nicht selber ist und durch die er das Bewußtsein erlangt, ein besonderes Seiendes zu sein, hat in der Geschichte des Westens zur Entdeckung des Wortes als Maß der Dinge und zur Autonomie der Rede geführt. In der Tat: Das Originelle ist hier die Entdeckung des Wortes nicht als einer Möglichkeit unter vielen anderen, sondern als das spezifisch menschliche Vermögen." 72 Diese Autonomie der Rede als menschlicher Aktivität, die jeweils etwas Spezifisches zum Ausdruck bringt, gründet nach Elungu im wissenschaftlichen Geist, sofern die Rede den Gegensatz Mensch-Natur, Subjekt-Objekt widerspiegelt. 73 Demnach ist die Sprache jener Ort, an dem der im Lichte der Wissenschaft eingeleitete Dialog zwischen Natur und Mensch festgehalten wird. Denn, wie Elungu anmerkt, "der Logos wird durch die Wissenschaft zum Dialogos und die Zwiesprache zwischen Mensch und Natur ist im Grunde nichts anderes als die Wissenschaft selbst. In diesem Zwiegespräch geht der Mensch von der Beobachtung aus, die ihn dazu befähigt, auf die Natur zu hören und kehrt zu sich zurück und formuliert die Idee, zu der er vorgedrungen ist als Hypothese, von der aus er die Phase des Experimentierens einleiten kann, durch die er die Natur befragt, bevor die Antworten der Natur verifiziert werden können."74 Eben durch diesen wissenschaftlichen Umgang mit der Natur unterstreicht der Mensch seine Überlegenheit gegenüber der Natur. Und da die Hypothese hierbei die zu suchende Wahrheit gemäß den Gesetzen der formalen Logik formuliert, erhält die formale Wahrheit einen Vorrang vor der materiellen Wahrheit: Jene wird daher die conditio sine qua non von dieser, was am deutlichsten in der Technik als praktischer Anwendung der Wissenschaft zum Ausdruck kommt. 75 Dabei ist alles darauf angelegt, einerseits die Phänomene der Natur durch Gesetze zu erklären; andererseits soll auch die Reihenfolge in der menschlichen Aktivität erklärt werden. Mit dieser der Technik entspringenden Art, die Welt zu verstehen und zu erklären, steht man in einem deutlichen Gegensatz zur global angelegten Sicht der Welt des vorkolonialen Afrikaners: "Menschliches Handeln stellte sich für ihn immer als ein umfassendes Ganzes mais aussi Ia volonte de rentrer en cet homme, de trouver en lui ce qui nous permettra de mesurer ce qui est et partant de Je connaitre. C'est ce retour sur soi, consideree comme point de depart, centre et mesure de toute connaissance qui constitue [... ] 'I' etement forme!' de toute Ia philosophie au sens strict ou nous l'observons dans son histoire occidentale." E. P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 121. 72 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 124, (Übers. d. V.). 73 Vgl. E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 128f., (Übers. d. V.). 74 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 130, (Übers. d. V.). 75 Vgl. hierzu E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 131, (Übers. d. V.).

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dar. Ein Wort, eine Geste, eine Tanzbewegung, eine in genauen Kenntnissen gründende Aktivität, wie z.B. das Handwerk eines Schmieds, scheinen eine gewisse metaphysische Wirksamkeit anzuzielen. Die Verstärkung des Lebens, des Zusammenhalts innerhalb des Clans durch Teilnahme an den Kräften des Universums." 76 Alle Aktivitäten des Menschen gehorchen im traditionellen Verstehenshorizont Afrikas ein und demselben Ziel, nämlich dem Dienst am Leben Eben zur Verwirklichung dieses einen Zieles soll eine ethische Ordnung beitragen, in die alle menschlichen Unternehmungen eingebettet sind. 77 Dieses Verständnis der Moral als Einheit und Harmonie der Gesamtheit menschlichen Tuns wurde nach Elungus Einschätzung durch die durch Wissenschaft und Technik begünstigte pluralistisch-unabhängige Sicht der verschiedenen menschlichen Tätigkeiten depotenziert. 78 Aus dieserneuen Sicht der menschlichen Tätigkeiten gingen schließlich die oft postulierte prinzipielle Selbständigkeit und der Primat der Technik gegenüber der Moral hervor. Dies bedeutet nichts anderes als die Ankunft einer neuen Weltordnung, in der der Prozeß der Loslösung von der herkömmlichen Moral letztlich dazu führt, daß sich der Mensch nun an einer vermeintlich von der Rationalität geprägten Moralordnung orientiert, durch die er seine Freiheit anders wahrnimmt und seine Verantwortung gegenüber sich selbst und der Gesellschaft gerecht zu werden sucht. In dieser rational begründeten Moral kommt nach Elungu deutlich zum Vorschein, daß sich der Mensch dem wissenschaftlichen Geist verpflichtet hat, als jenem Motor, mit dessen Hilfe die Weltzusammenhänge am besten erklärt, die Natur arn effizientesten verstanden und die Gesellschaft am adäquatesten organisiert werden kann. Diese Grundtendenz läßt sich auch im heutigen Afrika beobachten. Tatsächlich verliert die traditionelle, mythische, alles umfassende moralische Ordnung an Gewicht zugunsten einer rational-technischen Erklärung der Welt und Organisation der Arbeitswelt Hierher gehört auch der Umstand, daß die Freiheit des Menschen nach und nach - zumindest im Prinzip - als oberstes Menschenrecht verstanden wird: [Der Mensch] "ist dabei, einerseits sich selbst als frei, vernünftig und als Ursprung seiner Handlungen zu verstehen und andererseits die Natur zum Objekt, zum freundlichen und wohlwollenden

76 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte 77 E1ungu bringt dies folgendermaßen auf den

moderne, 133, (Übers. d. V.). Punkt: "L'ordre moral est englobant, total et final: il tient tout ensemble et exprime Je tout de Ia societe et sert de point d'arrivee, c'est-a-dire de fin et de point de convergence a tout ce qui est et se fait dans Ia societe." E.P. Elungu, Tradition africaine et rationahte moderne, 134, (Übers. d. V.). 78 "La parcellisation des activites ou actions humaines cree chez l'homme plusieurs fonctions, plusieurs metiers, plusieurs specialisations. Ces actions et activites specialisees, poursuivant des fins egalement specialisees, detruisent l'unite et l'harrnonie qui reposaient dans ces societes sur !'ordre moral unique." E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 135.

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Gesprächspartner zu verwandeln."79 3. Stadt und Staat

Die Begegnung Afrikas mit Europa hat einen tiefen Einschnitt in die gesellschaftliche Verfaßtheit des Lebens im vorkolonialen Afrika nach sich gezogen. Denn stellte die vornehmlich in Clans organisierte Gesellschaft den Ort par excellence dar, an dem der Mensch seine Existenz zu vollziehen hatte, so entstanden im Zuge der Einführung von Stadt und Staat durch die anhebende Kolonialisierung neue Lebenseinheiten. Diese aufeinander verweisenden Entitäten waren als Stütze der imperialistischen Machtansprüche der Kolonialherren konzipiert. Tatsächlich sollte die auf der Berliner KongoKonferenz beschlossene Aufteilung Afrikas in Staaten dazu dienen, den Einflußbereich der jeweiligen Metropolen zu mehren.S0 Mit der Einführung der Städte waren auch jene neuen Plattformen gegeben, auf denen das Regieren der Kolonien organisiert und durchgeführt wurde. Denn die Stadt im kolonialen Afrika ist in der Hauptsache der Wohnort der Kolonialverwaltung und der Wirtschaftskräfte mit der dazugehörenden Konzentration der Dienstleistungen. Damit aufs engste verbunden ist auch die Tatsache, daß die Stadt zum Existenzmilieu jener Einheimischen wird, die ihre ursprüngliche Heimat verlassen haben, um sich in den Städten in den Produktionsprozeß eingliedern zu lassen.81 Der Wichtigkeit dieser Städte für die Verwaltung der Kolonien und für die wirtschaftlichen Interessen der jeweiligen Metropolen entspricht ihr auffallend künstlicher Charakter. Tatsächlich ist die Stadt, so wie sie in Afrika eingeführt wurde, keine natürliche Erscheinung. Mehr noch: Sie stellt für keinen ihrer Bewohner den "natürlichen" Lebensort dar. Dies kann man daher, zumindest zum Teil, als eine mögliche Erklärung für die diversen Probleme ins Feld führen, mit denen viele Städte sich besonders heutzutage konfrontiert sehen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist aber, daß das Ökonomische, d.h. die E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 139, (Übers. d. V.). Vgl. G . Königk, Die Berliner Kongo-Konferenz 1884-1885. Ein Beitrag zur Kolonialpolitik Bismarcks, Essen 1938, 6; H. Mayer/R. Weiss, Afrika den Europäern! Voin der Berliner Kongokonferenz 1884 ins Afrika der neuen Kolonisation, Wuppertal 1984,68. 81 Vgl. hierzu E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 143f.. : Les "centres administratifs et economiques oll toutes !es fonctions sociales, etatiques s'accomplissent polarisees par Ia fonction principale, economique, ne cesseront d'etre des accapareurs d'hommes. Vite ils se transforment en villes,lieu de residence des agents de !'Etat et des societes economiques, lieu aussi de travail des hommes arraches a leur milieu clanique, coutumier, pour devenir des agents de production. Les villes des agents de l'Etat et des societes vont vite grossir gräce a l'apport incessant de Ia main d'oeuvre venue des villages s'agglutiner autour des villes... " 79

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gewinnbringende Produktionstätigkeit, letztlich den tiefsten Grund für die Entstehung und den Stellenwert der Städte darstellt. Diesem Ziel dient der ganze koloniale Verwaltungsapparat. Ebenso werden die Einheimischen von der Aussicht einer gebührend entlohnten Arbeit angelockt. Elungu ist daher zuzustimmen, wenn er festhält, daß die Städte des modernen Afrikas ihre Entstehung und Entwicklung der an der Gewinnmaximierung ausgerichteten und bezahlten Arbeit zu verdanken haben.S2 Demnach wird man sagen dürfen, daß, abgesehen davon, daß die Arbeit in den neu entstandenen Städten mit Hilfe von Wissenschaft und Technik europäischer Provenienz83 abgewickelt wird, die Kolonialherrschaft mit dem auf die produktive Arbeit zugeschnittenen Modus vivendi in der Stadt v.a. ein Organisationsprinzip inauguriert, das mit der traditionell afrikanischen Gesellschaftsstruktur im Kontrast steht: Hier wurde das Zusammenleben im Horizont der Blutsverwandschaft organisiert, dort führt der Arbeitsvertrag die Menschen zusammen. Auch wenn Elungus Beobachtung durchaus korrekt ist, daß der sich hier anmeldende Gegensatz zwischen einer durch die Arbeit organisierten Welt und einer sich als Clangemeinschaft verstehenden Gesellschaft in der Kolonialzeit entstand, so muß dennoch hinzugefügt werden, daß dieser Gegensatz auch im zeitgenössischen Afrika nichts von seiner Bedeutung eingebüßt hat und durch die Gegenüberstellung von Stadtleben und Existenz auf dem Land sogar optisch überschaubar ist. Dabei kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß in ein und demselben Land oft zwei Welten geradezu unvermittelt nebeneinander stehen84: Clangesellschaft der Dörfer

Verwestlichte Stadtgesellschaft

- Gesellschaft gründet in Blutsverbindung Verwandschaft

- Gesellschaft basiert auf Arbeit und Vertrag

- integrierte Gesellschaft

- geteilte, konfliktreiche Gesellschal

- Gesellschaft geteilt in Altersklassen

- Gesellschaft aus sozialen Klassen

- Leben und Überleben der Gesellschaft ist oberstes Gebot

- Gesellschaft, in der die Macht der Konsumgüter tonangebend ist

82 Vgl. hierzu E.P. E1ungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 144f: "C'est donc 1e travail productif et remunerateur [... ] qui prelude ainsi a Ia constitution, a l'essor de nos villes. C'est donc ce travail et tout ce qui lui est lie qui fait l'essence et Ia substance de ce nouveau genre de societe. La societe urbaine, comme Ia societe etatique, plus englobante, est une societe constituee et fondee par Je travail [... ] Je pouvoir politique, etatique, est reste lie au monde economique du travail productif, qui engendre !es villes." 83 Im Gegensatz zur gleichsam direkten, natürlichen, lebensdienenden Ausrichtung im vorkolonialen Afrika. 84 Vgl. hierzu E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 151 .

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C. Vom Lebenskult zur modernen Rationalität

Wenn man nun diesen hier zusammenfassend dargestellten Gegensatz zwischen beiden Lebensmodi mit Elungu dialektisch resümiert und die traditionelle Clangemeinschaft als These, die moderne, städtisch-verwestlichte Gesellschaft als Antithese und Staat-Nation als Synthese bezeichnet, in der These und Antithese miteinander existieren und einander bekämpfen85 , so muß man gleichwohl einräumen, daß der Prozeß der sogenannten "Europäisierung" des südlich von der Sahara gelegenen Afrikas unaufhaltsam scheint. Dies wird in einer ersten Annäherung z.B . darin sichtbar, daß auch in Afrika eine Konsumgesellschaft im Entstehen begriffen ist, in der alles auf der Grundlage von produktiver Arbeit und Vertrag organisiert wird. Dies hat nicht selten zur Folge, daß sich viele Menschen im gegenwärtigen Afrika zwischen zwei Welten hin und her gezerrt fühlen, sofern beide Lebenshaltungen noch zu keiner gelungenen integrativen Symbiose überführt worden sind. Dieser Konflikt ist aber v.a. bei Intellektuellen und Stadtbewohnern am deutlichsten spürbar, die dem direkten Einfluß eines Lebens nach europäischem Muster (das sich etwa in Religion, Technik, Wissenschaft, Produktivität, usw. niederschlägt) ausgesetzt sind. Zu diesen Menschen zählt sich Elungu selbst: "Wir wollen uns auf die Seite der Verwestlichten stellen, bei denen die Trennung und das Bewußtsein dieser Trennung folgendes Problem hervorruft: auf wen oder auf was soll man nun zurückgreifen? Welches Fundament sollen wir unseren nationalen Unternehmungen, unseren Gesellschaftsprojekten geben, damit unser Überleben gewährleistet, unsere Identität bekräftigt und unsere Persönlichkeit entfaltet werden können?"86 Der Lösungsansatz Elungus zum Problem der "gespaltenen" geistigen Befindlichkeit der intellektuell-europäisierten Afrikaner geht nun dahin, das Erbe der eigenen Tradition aufzugeben, um eine in der Rationalität gründende Existenz als einzig möglichen, dem Heute angemessenen Ausweg zu adoptieren. 4. Zu einer rationalitätsgebundenen Existenz

Elungus anspruchsvolle Programm einer ganzheitlichen Entwicklung zielt im Grunde genommen auf einen totalen Umschwung ab, der die bisherigen materiellen, geistigen und moralischen Handlungsmuster und Denkprinzipien in neue, rationale Grundsätze überführen soll. Ein solches Unternehmen kann nach Elungu aber nur dann gelingen, wenn ein entsprechendes philosophisch-geistiges Klima Tritt faßt. 87

85 Vgl. ebd. 86 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalit~ moderne, 152, (Übers. d. V.). 87 Vgl. E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalit~ moderne, 154: "Ce changement est un changement de vie, un changement substantiel, moral et m~taphysique. II y a une ~mergence nouvelle, qualitativement autre. C'est cette emergence nouvelle, Ia naissance

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a) Unterwegs zu einer rationalen Gesellschaft Da Elungus Vision eines der ratio verpflichteten Gesellschaftsmodells auf der Grundüberzeugung beruht, daß Europa die auf Rationalität angelegte Struktur seiner Zivilisation letztlich der Philosophie zu verdanken hat, setzt er nun alles daran, die Entwicklung eines philosophischen Geistes in Afrika voranzutreiben. Damit soll eine Veränderung des geistigen Klimas in die Wege geleitet werden, weg von einer mythologisch geprägten Sicht der Welt und hin zu einer rationalen Weltdeutung. Davon legt nach Elungus Einschätzung die Geschichte Europas ein beredtes Zeugnis ab. Er faßt dies in einer ersten Annäherung wie folgt zusammen: "Diese Veränderung ereignete sich in Altgriechenland durch den Übergang von der mythischen Sichtweise der Kosmologien zur philosophischen Denkart der Anthropologien; im Westen entsprang diese Veränderung dem Übergang von den mittelalterlichen theozentrischen Systemen zu den anthropozentrischen Auffassungen des modernen Zeitalters. "88 Ein ähnlicher "Kurswechsel" läßt sich auch im zeitgenössischen Afrika beobachten, obwohl Elungus Modell einer rationalen Gesellschaft noch nicht Wirklichkeit geworden ist. Festzuhalten bleibt aber die Tatsache, daß angesichts der vielen Umwälzungen, die das moderne Leben nach sich zieht, ein Umdenken zugunsten eines rationaleren modus vivendi in Afrika eingesetzt hat. 89 Eben in der Existenzbewältigung auf rationaler Basis besteht nach Elungu der tiefste Sinn des philosophischen Geistes. Dieser "Geist" wird näherhin charakterisiert als jene reflektierte Haltung, die jedem Versuch, etwas anderes als den nach sich selbst fragenden Menschen zur höchsten Realität zu erheben, eine Absage erteilt: Die philosophische Existenz setzt als einzige, erste Wirklichkeit den Menschen, seine Fähigkeit, Fragen zu stellen, zu forschen, zu entdecken und Neues zu schöpfen voraus. 90 Eine rationale Existenz bedeutet demnach das Bewußtsein und die Erfahrung, den Primat des Menschen zu erkennen und zu bejahen ebenso wie sein Begrenztsein zu akzeptieren. Damit ist jener Boden gekennzeichnet, auf dessen Grundlage die Freiheit des Menschen kulturstiftend Verschiedenes hervorbringt, wobei das Verhältnis zwischen Mensch und Natur in angemessener Weise bestimmt werden kann. Denn "die schöpferische Freiheit bedeutet, daß alles, mit Einschluß des Menschen selbst, potentielles Werk des Menschen ist. Er leistet alles, verändert die Natur im Sinne des unmittelbar Gegebenen und verändert dabei die Gesellschaft und sich selbst. Die Natur wird durch den Menschen mit Hilfe der Kultur überstiegen. Die Kultur aber ist die Frucht, das Ergebnis der chez nous de ce que l'occident heritier de Ia Grece a pu appeler philosophie, ce que l'on peut caracteriser en tennesplus etroits de primaute de Ia raison." 88 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 155, (Übers. d. V.). 89 Vgl. E.P. Elungu, Eveil philosophique africain, 129. 90 Vgl. E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 155.

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schöpferischen Freiheit des Menschen; sie ist zugleich ein langer und indirekter Weg auf Sein und Wahrheit hin, wobei die Natur zum Teil als deren Offenbarung gilt." 91 Mit diesem Insistieren auf das Beherrschen der Natur durch den Menschen möchte Elungu erreichen, daß der Übergang von einem mythologisch dominierten zu einem rationalen Weltbild im konkreten Leben des afrikanischen Kontinents endlich Fuß zu fassen beginnt.92 Hält man nun gemäß Elungu fest, daß der philosophische Geist sich durch Wissenschaft, technische Arbeitsweise, juristische und moralische Bestimmungen auszeichnet, wie das etwa in Europa der Fall ist, so stellt sich jetzt doch noch die Frage, was eine rationale Existenzweise im Zusammenhang mit Afrika bedeuten soll. Für Elungu bedeutet dies vor allem eine Absage seitens des modernen Afrikaners an den traditionellen "Kult", an das Leben, verbunden mit der mythischen Sicht der Welt. Demgegenüber soll sich der Afrikaner als schöpferische Freiheit begreifen lernen und sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Mehr noch, dieser Lösungsvorschlag empfiehlt im Klartext einen Verzicht auf das geistige Erbe der afrikanischen Tradition zugunsten einer Übernahme der rationalen Wirklichkeitsauffassung Europas. Bei näherem Hinsehen wird man gewahr, daß diese Übernahme nicht nur unvermeidlich ist, sondern daß das Organisieren des Lebens nach dem rationalen Muster im Grunde genommem schon mit der Begegnung mit Europa faktisch begonnen hat: Das vernunftgemäße Leben im zeitgenössichen Afrika deutet sich zweifelsohne zunächst in den materiellen Veränderungen an; damit sind jene Umwälzungen gemeint, die die westlichen Errungenschaften (Wissenschaften, Techniken) für das private und soziale Leben der Afrikaner gebracht haben, verbunden mit den entsprechenden Reaktionen auf diese Veränderungen.93 Stimmt man nun mit Elungu darin überein, daß der Einfluß des europäischen Weltbildes auf das Leben der Afrikaner deutlich zu spüren ist, so muß man gleichwohl einräumen, daß die damit verbundenen Veränderungen oft als von außen bewirkte Innovationen angesehen werden. Denn geht man davon aus, daß Rationalität und Technik die Struktur der westlichen Zivilisation von innen prägen, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß man sich in Afrika ihre Mechanismen und, was hier wesentlich ist, ihren Geist noch nicht von innen zu eigen gemacht hat. Dies erklärt die zum Teil heftigen Versuche mancher Afrikaner, die sogenannte "westliche" Rationalität im Namen einer oft nicht näher definierten afrikanischen Identität zu bekämpfen. Damit wird man letztlich auf jene tiefe geistige Zerrissenheit verwiesen94, mit der sich der Afrikaner- v.a. 91 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalit~ moderne, 157. 92 Vgl. E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalit~ moderne, 158, (Übers. d. V.). 93 Vgl. E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalit~ moderne, 161. 94 Elungu ist daher zuzustimmen, wenn er festhält "L'Afrique d'aujourd'hui [...] est Ia

crois~e des chemins. Sous !es coups des sciences occidentales, l'homme africain traditionnel se trouve d~racin~ de son univers mythique qui se brise chaque jour d'avantage. La vision du monde global qui s'articulait autour de Ia vie concrete, concretement v~cue,

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aber der afrikanische Intellektuelle - heute konfrontiert sieht und die manche Denker dadurch zu lösen versuchen, daß sie, die unvermeidbare Anleihe bei den europäischen Errungenschaften ausschließlich auf den rein materiellen Bereich beschränken. Abgesehen davon, daß sich der Einfluß Europas auf Afrika nicht auf das bloß Materielle zurücknehmen läßt, so darf man nicht übersehen, daß eine zureichende Beurteilung des Beitrags der von Europa übernommenen Errungenschaften für die Entwicklung Afrikas am ehesten dann vorgenommen werden kann, wenn der geistige Boden, auf dem diese Errungenschaften stehen, in fundierter Weise transparent gemacht worden ist. Deshalb fordert Elungu eine geistig-materielle, allumfassende Umkehrung, eine revolution spirituelle: "Diese bedeutet für den Afrikaner ein schmerzhaftes Losreißen, nicht nur vom materiellen, kulturellen und sozialen Rahmen seiner Umwelt, sondern auch von der geistigen Grundlage seines Seins und seiner ldentität."95 Elungu geht es hierbei um einen freiwilligen, bewußten Verzicht auf ein starres Festhalten am Überkommenen zugunsten einer mit Hilfe der europäischen Rationalität zu entwerfenden neuen Identität. Denn nur so kann der Afrikaner fahig werden, seine gegenwärtige Situation klar zu erkennen, den Geist der abendländischen Zivilisation zu durchschauen und sich eine menschenwürdige Zukunft zu ermöglichen. Demnach erweist sich die von Elungu angestrebte "revolution spirituelle" letztlich als der Weg vom mythischen zum philosophischen Bewußtsein.96 Von diesem Übergang zeugen nach Elungus Einschätzung die philosophischen Ansätze der zeitgenössischen Denker in Afrika. Aus ihren Werken meint Elungu erkennen zu können, daß der moderne Afrikaner nicht mehr in der Kontinuität mit der Tradition lebt, sondern angesichts der heute gegebenen Voraussetzungen seine Existenz zu überdenken und neu zu bestimmen versucht.97 qui se transmettait de generation en generation, s'effrite; Ia vie, comme un tout, s'etale dans le temps objectif qui n'est plus en harrnonie avec le temps vecu du clan et de l'individu dans le clan; elle se disperse dans l'espace plus vaste que celui oil elle se deroulait dans les limites du territoire clanique.. " E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 159. 95 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 164, (Übers. d. V.). 96 "La revolution sprituelle, en un mot, c'est operer ce passage d'une conscience mythique, fondamentalement apaisee parce qu'en harmonie avec l'univers, a Ia conscience philosophique, conflictuelle, malheureuse et toujours en quete de repos." E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite, 168. 97 Vgl. hierzu, E.P. Elungu, Tradition africaine et rationaHte moderne, 169: "Que Ia philosophie prenne Ia forme contestable du discours ethnologique, ideologique et critique, ce qui est certain, c'est que toutes ces formes du discours sont nees chez des auteurs africains a partir de Ia conscience de crise occasionnee par l'ecroulement du monde traditionnel, de ses verites et de ses valeurs. Que l'on essaie de restituer cet univers traditionnel, ou que l'on essaie de tabler sur ses debris pour refaire, avec l'aide des moyens nouveaux, de s'appuyer sur l'esprit nouveau, tout confiant en Ia raison et en son pouvoir, pour se faire des nouvelles raisons de vivre dans ce monde nouveau, tout II Ozankom

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Wie ist das zu verstehen? Im Gang durch die afrikanische "Philosophie-Literatur" stellt Elungu heraus, daß die philosophischen Ansätze in Afrika in drei Schulrichtungen aufgeteilt werden können, nämlich a) die Ethnophilosophie, b) die ideologische Schule und c) die kritische Philosophie. Ohne den nachstehenden Überlegungen vorzugreifen, kann schon an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß Elungu nur die kritische Philosophie für geeignet hält, ein dem "Heute" angemessenes Philosophieren zu ermöglichen (verbunden mit einem effektiven Beitrag zur Lösung der immensen, in Afrika anstehenden Probleme). Tatsächlich meint er erkennen zu können, daß die kritische Philosophie jenem Geist verpflichtet ist, der die Geburt einer rationalen Geisteshaltung in Europa bewirkt hat. • Die Ethnophilosophie Den Ausgang der Überlegungen bildet hier folgendes Zitat: "Unter allen Denkrichtungen der afrikanischen Philosophie ist sicherlich jene Bewegung die älteste und reichste an Werken, die den Ansatz der Ethnographen und Ethnologen fortführt, in ihrem Bemühen, ein spezifisches Verständnis des Afrikaners zu erlangen. "98 Diese Äußerung ist insofern bedeutsam, als sie Elungus Einschätzung der Ethnophilosophie zusammenfassend zum Ausdruck bringt. Demnach stellt die Ethnophilosophie nicht nur die ersten und am weitesten verbreiteten Philosophieansätze in Afrika dar99 sondern ist v .a. ein aus Ethnologie und Philosophie hervorgegangener Denkversuch, der letztlich weder der einen noch der anderen von beiden Wissenschaften zugeschrieben werden kann. 100 cela temoigne d'une chose: l'homme africain qui se Iivre il de telles quetes est dejil separe de sa culture; il ne Ia connait plus directement, immediatement, il doute d'elle, de son actualite, de sa survie, de son efficacite. La conscience de division et de doute qu'accompagne Jedesir de refaire l'unite par Ia voie de determinations abstraites positives (i.e. il partir des donnees) que celle-ci soient politiques, morales ou purement conceptuelles, habite ainsi deja chacun de ces penseurs." 98 E.P. Elungu, Eveil philosophique africain, 13, (Übers. d. V.). 99 Auch wenn es an dieser Stelle nicht möglich ist, die reiche Literatur dieser Schule vorzustellen, so sei es doch erlaubt, ihre markantesten Vertreter namhaft zu machen, nämlich P. Tempels und A. Kagame, "Les auteurs !es plus symptomatiques d'une teile discipline, ceux qui l'ont definie dans sa structure, dans son orientation et dans sa methode; ceux qui ont fait Je plus de bruit et qui, par !es reactions positives ou negatives qu'ils ont provoquees, ont contribue il en preciser le contour et aen determiner Ia problematique. " E. P. Elungu, Eveil philosophique africain, 16. 100 L'ethnolophilosophie "est restee mi-scientifique, mi-philosophique. Une teile discipline hybride est ainsi nee que l'on a baptisee de differentes far;ons." E.P. Elungu, Eveil philosophique africain, 15. Vgl. hierzu auch V. Brelsford, The Philosophy of the

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Zunächst ist nach Elungu festzuhalten, daß die "Ethnophilosophen" sich an ontologischen Philosophiemodellen orientieren, denen sie ihr begriffliches Instrumentarium entnehmen. 101 Dabei fällt besonders auf, daß diese philosophischen Ansätze ihren Inhalt stets als Totalitäten im Wechselspiel mit anderen Totalitäten verstehen. So wird etwa versucht, die "ame bantoue" in Beziehung mit der umfassenden Gesellschaftsstruktur der traditionellen Gesellschaft zu erklären.102 So gesehen handelt es sich hier um eine Philosophie im allgemeinen Sinne des Wortes, die zu sehr an Ethnologie oder Soziologie gebunden bleibt, deren Ergebnisse nun mit Hilfe philosophischer Begrifflichkeit interpretiert werden.t03 Zu der Bindung an die Ethnologie und dem Verlust der exklusiven Bestimmung der Philosophie kommt eine "dogmatische" Haltung der Ethnophilosophen hinzu, die darin besteht, daß das kritische Moment, das dem spezifisch philosophischen Geist innewohnt, abgelehnt wird. Tatsächlich wird die kritische Philosophie von verschiedenen Autoren als westlicher Import zurückgewiesen. Demgegenüber soll versucht werden, den afrikanischen Menschen in seiner Umwelt, Moral, Spiritualität, usw. zu verstehen. Zu dem hier angestrebten Verständnis scheint der kritische Geist eher hinderlich als hilfreich zu sein. 104 Hinter all dem steht seitens vieler afrikanischer Autoren savage, in: Nada 15 (1938), 62-65; P. Radin, Primitive man as philosopher, LondonNew York 1927; M. Rousseau, La Philosophie des Negres, in: Musee vivant 4 (1948), 912. 101 So orientiert sich z.B. P. Tempels am Philosophieverständnis der Scholastik, wie es die Struktur seiner "Bantu Philosophie" durchscheinen läßt. Ähnlich orientiert sich A. Kagame in seiner "Philosophie bantu-rwandaise de l'etre" an der aristotelischen Begrifflichkeit. 102 "La recherche et Ia decouverte de /'ame bantoue, de Ia sagesse bantoue, c'est en meme temps Ia recherche et Ia decouverte de l'homme, de sa vision du monde et de son Dieu." E.P. Elungu, Eveil philosophique africain, 51. 103 Hierher gehört nach Elungu auch die sogenannte hermeneutische Philosophie in Afrika, sofern sie in den Symbolen, Sprichwörtern der Kultur ein Denken voraussetzt, das es durch Interpretation nur noch freizulegen gilt: "Meme Ia philosophie, con~ue comme hermeneutique, c'est-a-dire comme reflexion sur !es symboles d'une culture donnee, symboles a interpreter de fa~on a en decouvrir le sens cache, reste une sorte d'ethno-philosophie dans Ia mesure, tout au moins, oll elle presuppose l'engagement prealable et conscient dans une culture consideree comme un 'systeme de pensees et pratiques' dont il ne s'agit plus que de reveler le sens." Ebd. 104 Diese skeptische Haltung gegenüber dem betont kritischen Geist meint Elungu v.a. bei Theologen angetroffen zu haben, die die Kritik als ungeeignet für einen angemessenen Umgang mit Glaubensthemen halten: "Pour les auteurs religieux, missionaires ou pretres, tels Tempels, Mulago, Baholcen, l'esprit critique de Ia civilisation occidentale n'est pas l'esprit proprice a Ia foi; au Contraire il tue Ia foi, Ia foi aux valeurs transcendantes de l'existence materielle. Cette meme civilisation, de par son ideologie, investissant les forces rationnelles dans Ia production des biens materiels en vue de Ia jouissance de plus en plus raffinee de l'existence, attache l'homme au monde, II•

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letztlich das oft nicht offen zugegebene Mißtrauen gegenüber der europäischen Zivilisation, die Afrika kolonisiert hat und nun durch neokolonialistische Absichten den ganzen Erdkreis zu beherrschen sucht. Infolgedessen muß die Philosophie westlicher Prägung abgelehnt werden, zumindest jene, die unmittelbar an den europäischen kritischen und technischen Geist gebunden ist. Im Kontrast hierzu soll das originäre und spezifisch Afrikanische wieder in den Mittelpunkt der Bemühungen gerückt werden. Diesem Ziel soll nun die Suche nach der afrikanischen Seele, Weisheit, Kunst. Religion, usw. dienen. Infolgedessen "sieht alles so aus, als wären die afrikanischen Denker und ihre ausländischen Gesinnungsgenossen gegenüber dem Westen, der entschlossen ist, sich zunehemend durch Logik. Technik und Gesellschaftskampf zu definieren, im Hinblick auf den tatsächlichen Einfluß des Westens über Afrika Illusionen aufgesessen und würden daher versuchen, Afrika anband von Kunst, Religion, einer sozialen und kosmischen Harmonie, kurzum im Lichte des Sakralen zu bestimmen, das sie fern vonjeder Diskussion halten wollen." 105 Ein solches Vorgehen ist nach Elungu in zweifacher Hinsicht problematisch. Denn zum einen verzichtet der Philosoph hierbei auf ein persönliches Denken zugunsten einer Darstellung eines wie auch immer gearteten Kollektivdenkens. Zum anderen aber wird gleichzeitig der Versuch unternommen, Vergangenes auszugraben. Damit aufs engste verbunden ist ein Bündeln der Kräfte auf eine oft verklärt gesehene Vergangenheit, statt alles darauf zu setzen, die Zukunft durch die Bewältigung der heute anstehenden Aufgaben vorzubereiten.106 Mit Blick auf die leitende Problematik dieser Arbeit kann man aber festhalten, daß die Ethnophilosophie in der Hauptsache einen Versuch darstellt, die Tradition Afrikas wieder mächtiger sprechen zu lassen. Die Frage nach der Relevanz dieser Tradition für die Zukunft Afrikas wird dennoch nicht hinreichend gestellt, geschweige denn gelöst. Und angesichts dessen, daß diese Tradition in ihren wesentlichen Elementen für das aktuelle Leben nicht mehr tonangebend ist und auf die Bewältigung der anstehenden Aufgaben hin noch nicht transparent gemacht worden ist, besteht der einzige Verdienst der Ethnophilosophen darin, einen Zugang zur Vergangenheit Afrikas möglich gemacht zu haben.

etouffe son desir d'etemite." E.P. Elungu, Eveil philosophique africain, 52. 105 E.P. Elungu, Eveil philosophique africain, 53, (Übers. d. V.). 106 Denn so sehr es wichtig ist, die Geschichte zu kennen, um daraus die sich eventuell aufdrängenden Schlüsse zu ziehen, zielt Elungus Stellungnahme darauf ab, die ausschließliche Orientierung am Vergangenen, wie dies in der Ethnophilosophie oft der Fall ist, zu kritisieren: Diese Vergangenheit war nicht so herrlich und so stark. Damit ist die Frage nach ihrem möglichen Beitrag für die Lösung der heute anstehenden Probleme noch nicht entschieden.

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• Die ideologische Schule Unter Ideologie versteht Elungu ein Denkgebäude, das sich der Verwirklichung eines systematisch-philosophisch eruierten Ideals vom Guten und Wahren in der Gesellschaft verschrieben hat. Wesentlich hierbei ist, daß die Gesellschaft zum Ausgang und Ziel der philosophischen Reflexion erhoben wird. Demnach ist die Ideologie nichts anderes als die soziale Verwirklichung der Philosophie im Dienst an den Menschen. Folgende Elemente zeichnen die so umrissene Ideologie aus: - Die materiellen und historischen Bedingungen, die für die Existenz einer Gesellschaft bestimmend sind, verbunden mit der Gesamtheit allen verfügbaren wissenschaftlichen und technischen Wissens, sowohl in theoretischer Hinsicht (z.B. durch öffentliche Diskussionen) wie auch in praktischer Hinsicht (z.B. kulturelle Errungenschaften) werden in den Mittelpunkt des Interesses gestellt. - Auf einer zweiten Ebene müssen Regeln, Gesetze sowie eine Priorität der Werte bestimmt werden. -Schließlich muß der Wert aller Werte, das nicht mehr diskutierbare, "sakrosankte" Ideal klar gekennzeichnet werden. Nähert man sich Afrika von dieser Kennzeichnung her, so fällt auf, daß es hier keine ideologischen Bewegungen stricto sensu gibt. Dies liegt zum einen darin, daß die afrikanischen Ideologien durch den Kontakt mit der Widerstandsbewegung und dem Befreiungskampf der Schwarzamerikaner entstanden sind. 107 Denn trotz der Analogie, zwischen beiden Ausgangspositionen - hier und dort geht es darum, den Schwarzen zu befreien und ihm seine menschliche Würde zurückzugeben - sind die Rahmenbedingungen denkbar verschieden. So war z.B. das Leben der Schwarzamerikaner seit langem, bei aller affektiven Sehnsucht mancher Denker, nach Elungu nicht mehr vom afrikanischen Kulturgut geprägt. Losgelöst von der afrikanischen Clanstruktur waren die Schwarzamerikaner indes vielmehr in den Produktions- und Arbeitsprozeß eingebunden. Und auch wenn sie eher am Rande der Gesellschaft angesiedelt wurden, erlangten sie dennoch den Bürgerstatus, der - zumindest offiziell durch die Verfassung garantiert war. Auf dieser Grundlage erweist sich ihr ideologischer Kampf als ein Ringen um mehr Freiheit und echte Menschenwürde. Ganz anders ist nach Elungu die Situation in Afrika: Trotz der durch die Kolonialherrschaft hervorgerufenen Umwälzungen ist der Prozeß der Loslösung vom herkömmlichen Sozialgefüge sowie die Einbindung in die europäisch-mo107 Tatsächlich erhielt der Kampf der Schwarzen für ihre Freiheit seine ideologische Systematisierung in den U.S.A. Hier setzten sich v.a. Du Bois, Garvey und Price-Mars für die Befreiung der Schwarzen ein. Ihre Denkanstöße fielen bei der in Amerika und Europa weilenden afrikanischen Elite auf fruchtbaren Boden, die fortan alles daran setzte, die empfangenen Ideen zunächst für den Kampf Afrikas um die Unabhängigkeit und später für eine möglichst umfassende Entwicklung fruchtbar zu machen.

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derne Arbeitsstruktur, verbunden mit der Aneignung des dahinterstehenden Geistes, nicht gegeben: Die Mehrheit der afrikanischen Bevölkerung war für die auf Freiheit und Einheit ihrer Rasse gründende Ideologie - nach schwarzamerikanischem Muster - noch nicht vorbereitet. Demnach bleibt diese Ideologie in Afrika zunächst das Monopol einer kleinen Elite, die mit der ideologischen Bewegung in erster Linie während ihres Studienaufenthalts in Amerika oder Europa in Berührung gekommen war. 108 Und als solche gibt es die Ideologie in Afrika nur im oben erwähnten dritten Sinne, d.h. sofern hier die Werte, die eine Gesellschaft zum Ziel erhoben hat, formuliert werden, nämlich die Befreiung und die Einheit der Schwarzen. Ein Blick in die materielle Befindlichkeit läßt demgegenüber erkennen, daß allein der Status des Kolonisiertseins den gemeinsamen Nenner darstellt. Im Kontrast hierzu fehlt jedes Wissen um die gesamte afrikanische Gesellschaft sowie ein Programm, das deutlich dem Willen nach Selbstbestimmung entsprungen ist und in dem politische, moralische und ökonomische Ziele formuliert sind. Nichtsdestoweniger begann die ideologische Bewegung, v.a. in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, Tritt zu fassen. Oberstes Ziel war hier die Bündelung der Kräfte, um die Befreiung vom Joch des Kolonialismus zu bewirken. Nach der Unabhängigkeit der meisten afrikanischen Staaten trat die Ambivalenz der ideologischen Bewegungen in Afrika deutlich zu tage. Denn nach dem Kampf gegen die Kolonialherrschaft, übernahm man die von ihr geschaffenen Strukturen. So wurden u.a. die Staaten-Nationen in ihren kolonialen Grenzen übernommen, der Verwaltungsapparat und der wirtschaftliche Kreislauf beibehalten, um der traditionell durch Clans garantierten Einheit eine neue Basis zu verleihen. Infolgedessen ist die Nation "im heutigen Afrika der Staat. Nationalismus und Staatsturn sind deckungsgleich. Der Nationalismus ist gegen die traditionellen Strukturen gerichtet, die er außer Kraft zu setzen sucht und er versteht die Einheit Afrikas als durch die jetzigen Grenzen der Staaten gegeben."109 Im Gegensatz hierzu wird, um den Willen zur Unabhängigkeit von außen zu dokumentieren und die eigene Originalität hervorzuheben, allzu gerne auf die Tradition zurückgegriffen. HO 108 Das ist z.B. bei K. N'krumah eindeutig der Fall. Denn der Initiator des "consciencisme" hatte mehrere Jahre in den U.S.A. studiert, wo er insbesondere Du Bois und Garvey kennenlemte, mit deren Ideen er den Schwarzafrikanern zu mehr Dignität verhelfen wollte. Ähnlich verdankt Senghor seine Theorie der Negritude den Anregungen Cesaires, mit dem er in Paris zusammen studierte. 109 E.P. Elungu, Eveil philosophique africain, 68, (Übers. d. V.). 110 Nach Elungus Einschätzung geschieht dieser Rückgriff auf die Tradition v.a. seitens der Regierenden, um die eigene Inkompetenz zu verschleiern, wobei ein echter Zugang zur selbigen Tradition im Horizont ihrer hermeneutischen Übersetzung ins Heute kaum in Betracht kommt: "L'invocation de Ia tradition, le recours aux civilisations de nos ancetres se fait en faveur des decisions improvisees mais qui, dans leur inspiration fondamentale, n'ont comme effet que d'enterrer de plus en plus profondement cette Afrique des ancetres." Ebd. So postuliert z.B. J. Nyerere, daß "wein Africa have no more need of

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Zu diesem ambivalenten Charakter der ideologischen Bewegung in Afrika kommt ein Grundsätzliches hinzu. Denn geht man, wie Elungu es tut, davon aus, daß die Ideologie ein philosophisches Unternehmen ist, das vom Bemühen geleitet wird, ein wissenschaftlich fundiertes Wissen durch begrifflich-theoretische Diskussionen in ein umfassendes Programm zu integrieren, um eine neue Gesellschaftsordnung entstehen zu lassen, die durch angemessene politische Maßnahmen der Freiheit und Einheit sowie dem Wohle aller Mitglieder der Gesellschaft dient, so muß eingeräumt werden, daß die so umrissene Ideologie mit Blick auf Afrika noch nicht zu ihrer vollen Geltung gekommen ist. Denn trotz der Formulierung der zu erreichenden Ziele krankt die ideologische Bewegung daran, daß die begriffliche Klärung unzureichend bleibt. Ebenso werden theoretische, öffentliche und allgemeine Diskussionen mit erstaunlicher Radikalität vermieden. Demgegenüber nimmt ein gewisser Pragmatismus ein deutliches Übergewichtangesichts der dringenden Probleme sozialer, ökonomischer und politischer Art ein. Damit einher geht ein Fehlen aller Philosophie, wodurch die Ideologie von einer rationalen, gesellschaftsgebundenen Suche nach Befreiung und Gleichheit zu einem bloßen praktischen "Willen zur Freiheit" und zu einem "Willen zur Macht" wird. Das ist aber in doppelter Hinsicht problematisch. Zum einen bringt das Verfahren einer Ausschaltung der zur Ideologiefindung konstitutiven philosophischen Reflexion die Gefahr mit sich, daß der Pragmatismus zu einem nicht hinreichend durchleuchteten Programm depotenziert wird. Hierher gehört der nicht selten zu beobachtende Versuch, das oft nicht mehr in seinem "Sitz im Leben" erfaßte Gedankengut der Überlieferung wieder mächtiger sprechen zu lassen. Damit aufs engste verbunden ist zweitens die Tendenz, das Überlieferte als praktischen Motor zur Bündelung der Kräfte auf bestimmte Projekte zu benutzen. Aber anstatt durch Reflexion zu neuen Erkenntnissen zu kommen, wird hierbei an die Affektivität, an die gefühlsmäßige Verbindung der Menschen mit ihrer Tradition, appelliert. Eine mögliche Konsequenz dieses Ansatzes ist die Entstehung von Gesellschaftsstrukturen, die nicht so sehr im Dienst der Befreiung stehen und auf das Wohl aller hin ausgerichtet sind, als vielmehr der Stärkung der Machtansprüche der Regierenden dienen. Dies meint Towa, wenn er pointiert herausstellt: "Ein einziger Mensch ist frei und entscheidet nach Gutdünken über alles."iil • Die sogenannte afrikanische "kritische" Philosophie In den sechziger Jahren entstand in Afrika eine philosophische Richtung, die being 'converted' to socialism than we have been 'thought' Democracy. Both are rooted in our own past - in the traditional society which produced us. Modern African Socialism can draw from its traditional heritage the recognition of society as an extension of the basic farnily unit." Zitiert nach E. P. Elungu, Eveil philosophique africain, 105. 111 M. Towa, Essai sur Ia problematique philosophique dans l'Afrique actuelle, 112, (Übers. d. V.). ·

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sich durch eine besonders "kritische" Einstellung auszeichnet. Dabei geht es den Denkern dieser philosophischen Richtung nicht so sehr darum, eine spezifisch afrikanische Philosophie zu entwickeln als vielmehr darum, eine Philosophie zu entfalten, die vor dem wissenschaftlichen Philosophiebegriff bestehen kann. 112 Bevor das angestrebte Programm einer Philosophie stricto sensu verwirklicht werden kann, werden die bisher vorherrschenden Ansätze der afrikanischen Philosophie, weil philosophisch unzureichend fundiert, zurückgewiesen. Näherhin werden Ethnophilosophie und ideologischer Philosophie der Vorwurf gemacht, eine nicht um sich selbst wissende Philosophie zu sein. Denn Ethnophilosophen und Ideologen klammern sich selbst aus dem Prozeß des Denkens aus, indem sie alles daran setzen, das Denken einer vergangenen Gesellschaft "auszugraben" und darzustellen. Für die kritische Philosophie ist Philosophie ein zutiefst persönlicher und bewußter Akt: "Philosoph zu sein bedeutet zuallererst, sich auf ein Leben einzulassen, das sich der freien Suche nach der Wahrheit verschrieben hat; dabei geht es weniger darum, diese Wahrheit zu beschauen, als sie zur Sprache kommen zu lassen. Denn das philosophische Engarnent ist ein Engagement für die Rede als der Ort der Wahrheit" . 113 Daraus geht hervor, daß die kritischen Philosophen das Wesen der Philosophie im diskursiven Denken sehen. Demnach werden Mythen und Ideologien als philosophisch nicht fundiert angesehen, sofern sie nicht kritisch und rational durchleuchtet werden. Denn ein persönliches und bewußtes Engagement im kritisch-rationalen Akt des Philosophierens setzt voraus, daß keine Ideen und Mythen von vomherein als evident und wahr akzeptiert werden dürfen. 114 Dadurch soll vermieden werden, daß die Philosophie zur bloßen Dienerin von Religion und Politik wird, wie dies für die kritische Philosophie bei der Ethnophilosophie und in der ideologischen Philosophie der Fall ist 115. Demgegenüber soll die Autonomie der Vernunft betont und zur Geltung gebracht werden. Deshalb zeichnen sich die Vertreter der kritischen Philosophie durch einen Rationalismus aus, mit dessen Hilfe sie die Philosophie als Philosophie Wirklichkeit werden lassen wollen. Die Ankunft der so angestrebten Philosophie - verbunden mit der Aneignung der europäischen Universitätsphilosophie- setzt einen Verzicht auf die traditio112 Vgl. hierzu Elungu, Eveil philosophique africain, 114: "II y a de plus en plus de voix africaines qui commencent ä reflechir de fa~on originale sur Ia nature de Ia philosophie et sur sa destination." 113 E.P. Elungu, Eveil philosophique africain, 144, (Übers. d. V.). 114 Denn ein solches Vorgehen würde sonst zu einem Dogmatismus führen, der v.a. P. Tempels vorgeworfen wurde, der eine "Bantu-Philosophie" entwickelte, in der kein Bantusubjekt engagiert ist. Vgl. hierzu F. Crahay, Le decollage conceptuel: condition d'une philosophie bantoue, in: Diogene 52 (1965), 61-84. 115 Vgl. hierzu z.B. E.P. Elungu, Eveil philosophique africain, 119: "Les philosophies ethnologiques ou meme ideologiques finissent par reduire Ia philosophie en Ia subordonnant inconditionnellement ou ä Ia religion ou ä Ia politique, en faisant la servante de Ia foi ou de Ia conviction et souvent, helas de l'opportunisme politique."

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nelle afrikanische Weltsicht voraus, in der die Rationalität nach Elungu nicht zum Durchbruch kommen konnte. !16 Damit ist eine Entscheidung über den Stellenwert der afrikanischen Tradition in dieser Philosophie getroffen: Die Tradition gilt, da sie durch eine mythische Sicht der Welt geprägt ist, gleichsam als negative Folie, die für die Aufgabe einer wissenschaftlich fundierten Philosophie nicht von großem Nutzen sein kann. Und mit diesem Abschied von der Tradition soll der Blick auf das Heute und die Zukunft gelenkt werden. Denn in ihnen soll jenes philosophische Bewußtsein zum Durchbruch kommen, in dessen Horizont allein eine Lösung der anstehenden Aufgaben in Angriff genommen werden kann. 117 Es geht darum, mit Hilfe eines neuen philosophischen Bewußtseins eine geistige Veränderung zu bewirken als Keimboden für eine umfassende Entwicklung. Diese "geistige Revolution" ist nach Elungu aber nur möglich, wenn gleichzeitig eine "moralische Revolution" stattfindet. b) "Moralische Revolution" und Afrikas Zukunft Versucht man nun Elungus Rede von einer moralischen Revolution näher zu bestimmen, so kann man diese am ehesten als einen Prozeß von Übersetzung und praktischer Umsetzung jener neuen Haltungen kennzeichnen, die durch den neuen philosophisch-rationalen Geist möglich werden. So gesehen ist die moralische Revolution nichts anderes als eine rationale Existenz in concreto. Dies hebt Elungu so heraus: "Diese Revolution besteht im Grunde im ständigen und beständigen Rückgriff auf die Vernunft, d.h. auf die Autonomie menschlichen Handelns, welche stets in der Autonomie der Rede, im immerwährenden Verzicht auf das Absolute gründet, das sich der Mensch dennoch wünscht und 116 Elungu drückt dies so aus: "C'est qu'en effet, Ia raison discursive en oeuvre dans nos civilisations subordonnees au mythe, est subsum~e par lui comme par sa finalit~. car le refus de rupture va de pair avec l'adoption du Iangage du mythe, seul alors susceptible par l'imagination surtout, de mattriser la totalit~." E.P. Elungu, Eveil philosophique africain, 148. Gegen Elungu möchte ich aber geltend machen, daß Kritik keineswegs einen Verzicht auf die herkömmliche Weltsicht bedeutet, sondern vielmehr einen kritischen Umgang mit ihr bedeutet. 117 Das neue philosophische Bewußtsein, das mit der kritischen Philosophie in Afrika Einzug halten soll, kann man den anderen genannten philosophischen Richtungen nicht gänzlich absprechen. Es ist in ihnen durchaus am Werk, dennoch nicht auf dieselbe Weise. Dies hebt Elungu folgendermaßen heraus: "Bien sfir, cette conscience philosophique n'est pas ~galement accentuee, cet esprit philosophique, cet esprit scientifique nouveau n'est pas chez tous ~galement fort, partout ~galement d~terminant. S'il anime les philosophies dites ethnologiques, s'il est en oeuvre dans les philosophies a base id~ologique, c'est dans les philosophies fondamentalement critiques qu'il s'accomplit. Parce qu'ici l'homme divis6, limit6, doutant et s'eprouvant en mSme temps un pouvoir illimite de recreer Ia v6rit6, recourt a l'autonomie de sa pens6e, c'est-a-dire a lui-mSme, plutöt qu'a une r6alite autre, dans son desir d'etemit6 et d'union fondamentale qui lui fait defaut." E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalit6 moderne, 169f.

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auf dessen Suche er oft ist. Nach dem Absoluten aus zu sein, es im Lichte menschlicher Autonomie zu suchen - die ganz im Zeichen von Trennung, Begrenzung und Endlichkeit steht - ist der tiefe Ausdruck dieser ständigen Revolution, von diesem offenen Rationalismus, von den dramatischen Bedingungen menschlicher Existenz."118 Im Lichte dieser moralischen Revolution erweist sich die große Herausforderung Afrikas der Gegenwart und der Zukunft, nämlich das Projekt einer möglichst ganzheitlichen Entwicklung als ein Programm, das nur auf rationaler Basis in Angriff genommen und zu einem guten Ende geführt werden kann. Mit diesem Bestehen auf ein rationales Durchdringen der gesamten Existenz wird man auf das Desiderat der Autonomie der menschlichen Vernunft im Rahmen der in Afrika zu lösenden Probleme verwiesen. Damit soll nicht etwa dem Vorurteil Vorschub geleistet werden, daß die Rationalität den traditionelle Afrikanern gänzlich fehlte. Denn im vorkolonialen Afrika wurden die meisten Tätigkeiten durchaus rational begleitet. Dabei wurde der Rationalität aber kein eigenes Gewicht zugeschrieben, sondern sie wurde, wie die anderen Dimensionen menschlichen Könnens, in den Dienst des Lebens gestellt. 119 Demgegenüber besteht die angestrebte moralische Revolution darin, alles mit der Vernunft zu durchdringen. 120 Damit soll eine Geisteshaltung vorbereitet werden, auf deren Boden die Entstehung einer modernen afrikanischen Gesellschaft vorangetrieben werden kann: "Es ist unbedingt notwendig, sich auf dem Weg der Modernisierung in allem und überall der Vernunft zu bedienen. Die Vernunft bedeutet die wissenschaftliche, rationale Organisation der Existenz, der wissenschaftliche Geist, der letztlich derselbe wie der philosophische Geist ist." 121 Hiermit wird man auf Elungus Vorstellung von der Zukunft Afrikas aufmerksam: Sie besteht nicht darin, mit Blick auf die Vergangenheit in der Tradition die Lösung für die anstehenden Aufgaben zu suchen. Vielmehr muß sich der moderne Afrikaner im Horizont eines "offenen Rationalismus"

118 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 171, (Übers. d. V.). 119 Dies meint Elungu, wenn er schreibt: "Si nous avons affirme que Ia raison mythico-religieuse est celle de !'ordre traditionnel, ce n'etait pas pour denier au Noir traditionne1, a Ia suite de beaucoup d'ethnologues et d'observateurs etrangers, les vertus de Ia raison discursive, pour confiner toute sa vie dans l'emotion. Mais c'etait pour souligner le fait important de Ia subordination de cette raison discursive positive qui opere dans !es limites de l'espace-temps, pardes mesures, des determinations positives, a Ia raison qui par !es mythes a construit tout un univers hors de l'espace-temps, univers auquel par Je mythe et Je rite, est constamment ramenee l'action positive de Ia raison discursive comme a son demier fondement, restituant son ultime expJication." E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 172. 120 "La revolution morale consiste en ce que 1e point de depart, c'est Ia raison; le chemin a suivre ainsi que le point d'arrivee c'est toujours Ia raison." E.P. Elungu, Tradition aficaine et rationalite moderne, 177. 121 E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalite moderne, 179, (Übers. d. V.).

IV. Kritische Würdigung

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Wissenschaft und Technik, das Geheimnis der Stärke der europäischen Zivilisation aneignen. Zur Verwirklichung dieses Zieles sollen moderne Ausbildungsmöglichkeiten herangezogen werden. In diesem Zusammenhang spricht Elungu davon, daß die Erziehung, verstanden als Heranführung an die neuen Ideen, Fakten, Prinzipien und an die neue Geisteshaltung, gründlich sein muß." 122 Von der so verstandenen Ausbildung v.a. der jüngeren Generationen verspricht man sich die Ankunft einer demokratischen und entwickelten Gesellschaft, die, frei von jeglicher folkloristischen Abhängigkeit gegenüber der eigenen Tradition, die ganze Kraft ihres Schaffens in den Dienst der Modemisierung stellt. Es handelt sich, so gesehen, letztlich um einen Abschied von der afrikanischen Tradition zugunsten des europäischen Verständnisses der Modernität. Hierzu ist folgende Äußerung Elungus aufschlußreich: "Man könnte sich aber fragen, ob die Revolution, die wir ftir Schwarzafrika propagieren, in erster Linie nicht in einem Verzicht auf das traditionelle Afrika und in einer Bekehrung durch die Wissenschaft und Technik zum neuen Geist besteht, der wissenschaftlich-philosophischer Geist ist, der vom Westen gekommen ist. Wir glauben tatsächlich, daß sie darin besteht und bestehen muß." 123

IV. Kritische Würdigung Sucht man die voranstehenden Überlegungen auf einen Punkt zu bringen, so kann man festhalten, daß es Elungu letztlich um die Ankunft einer neuen, modernen und auf der Grundlage der Rationalität, wie dies seiner Einschätzung nach v.a. in den abendländischen Kulturen zum Tragen kommt, funktionierenden Gesellschaft geht. Das Desiderat einer so bestimmten Gesellschaft entspringt bei Elungu dem Studium des geistigen Erbes Afrikas, an dessen Ausgang die Feststellung getroffen wird, daß diese Tradition durch die Begegnung mit Europa zutiefst depotenziert ist und für die Zukunft Afrikas nichts mehr hergibt. Demnach plädiert Elungu für die notwendige Übernahme von Wissenschaft und Technik und für die Aneignung der dahinter stehenden Geisteshaltung. Im Kontrast dazu hat die afrikanische Tradition ftir Elungu dennoch einen Stellenwert, nämlich sofern man in ihr die eigene Geschichte lernen und die Gründe ftir manches Verhalten der Afrikaner verstehen kann. Für die Herausforderung aber, die eine harmonische und umfassende Befreiung darstellt, ist diese Tradition von keinem großen Nutzen. Elungus Ansatz, besonders seine hier dargelegten Ausführungen über den Stellenwert der afrikanischen Tradition, sind in vielerlei Hinsicht befragbar und kritisierbar. So scheinen mir z.B. die von ihm ins Auge gefassten Grundmerkmale der europäischen Tradition, nämlich Philosophie, Wissenschaft, Technik und Christentum - im Gegensatz zur afrikanischen

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E.P. Elungu, Tradition africaine et rationalit~ moderne, 180, (Übers. d. V.). Ebd.

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C. Vom Lebenskult zur modernen Rationalität

Überlieferung - weder repräsentativ noch differenziert dargelegt zu sein. 124 Damit aufs engste verbunden sind der fast schon inflationäre und ungeklärte Gebrauch von Schlüsselbegriffen wie Rationalität, Autonomie der Vernunft sowie seine verkürzte Sicht des Christentums. Es fällt zudem auf, daß Fragen nach dem, was aus der afrikanischen Tradition zukunftsfahig ist 125, von Elungu ausgeblendet werden. Es ist tatsächlich bedenklich, daß diese Fragen in einem Denkansatz fehlen, der den Anspruch erhebt, ausgehend von der eigenen Tradition, die Zukunft Afrikas zu skizzieren. Es mag zwar sein, daß diese Fragen deshalb nicht die entsprechende Aufmerksamkeit finden, weil ihre Bearbeitung einen enormen Kraftaufwand verlangt, den er der dringenden Aufgabe der philosophischen Bodenbereitung für die Ankunft eines befreiten und entwickelten schwarzen Kontinents widmen möchte. Gerade hierdurch scheint mir aber eine Funktionalisierung, verbunden mit einer Überschätzung der Rolle der Philosophie vorzuliegen, die Elungu sonst den Ethnophilosophen und den ideologischen Philosophen ankreidet. Denn hatte er gegenüber diesen philosophischen Richtungen eine Funktionalisierung der Philosophie durch eine zu enge Bindung an Religion und Politik ausgeschlossen, so wird die Philosophie bei ihm selbst im Kampf gegen das mythisch-religiöse Weltbild der Tradition un~ gegen die Unterentwicklung funktionalisiert, damit die Ankunft einer rationalen Gesellschaftsordnung beschleunigt werden kann, auf deren Grundlage Armut und Abhängigkeit bekämpft werden können. Demnach verzweckt Elungu die Philosophie nicht nur für den Kampf um ein modernes Afrika, sondern er versteht sie letztlich als den inneren Sinn einer Existenz, die im Einsatz für eine rational funktionierende Gesellschaft die eigene Tradition aufgeben möchte. Kann eine solche Existenz aber wirklich realisiert werden als Desiderat der Philosophie? Ist die Philosophie hier noch jener persönliche und bewußte Akt des Philosophierens, auf den es Elungu ankommt? Ist die rational organisierte Gesellschaft eo ipso eine philosophische Gesellschaft? Neben diesem Fragenkreis möchte ich v.a. zwei Themen erwähnen, die m.E. von Elungu nicht richtig gesehen worden sind. Zum einen erweist sich Elungus Versuch, die traditionelle afrikanische Sicht der Welt als durch und durch mythologisch bestimmt aufzuzeigen, als problematisch. Äußerst umstritten in diesem Zusammenhang ist die Frage, ob Elungu diesem mythischen Denkhorizont gerecht wird. 126 Denn bei aller Richtigkeit eines vom Desiderat der Modernisierung Afrikas her motivierten Eintretens für einen rationalen modus vivendi kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Vgl. diesbezüglich meine Stellungnahme zuM. Towa in dieser Studie, §2.5. Als besonders zukunftsfähig scheinen mir, wie später aufzuzeigen versucht wird, die afrikanischen Sprachen zu sein. 126 Vgl. zu diesem Passus meine Ausführungen in meiner Studie "Gott und Gegenstand. Martin Heideggers Objektivierungsverdikt und seine theologische Rezeption bei Rudolf Bultmann und Heinrich Ott, München - Paderborn - Wien - Zürich, 1994, 164-166. 124 125

IV. Kritische Würdigung

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daß Elungu den Denkhorizont des vorkolonialen Afrikaners vom europäischwissenschaftlichen Denken her, dem sich der moderne Intellektuelle in Afrika in zunehmendem Maße verpflichtet fühlt, betrachtet und Sichtweisen von diesem in jenes hineinträgt. Elungu würde hier darauf verweisen, daß das moderne wissenschaftliche Denken, von dem er ausgeht, eben das Denken des modernen, europäisierten afrikanischen Denkers ist, in dem er gezwungen ist, wahrzunehmen und gegebenenfalls zu urteilen. Allein, dies befreit den modernen Afrikaner nicht von der Pflicht, die traditionelle afrikanische Vorstellungsweise in deren eigenem Rahmen zu betrachten und ihr so gerecht zu werden. Hinzu kommt die Tatsache, daß Elungu die wissenschaftlich moderne Denkweise keiner Kritik unterzieht und den sogenannten modernen Menschen dadurch eigentlich nur einseitig sieht. Denn kann man heute wirklich behaupten, daß der Mensch nur wissenschaftlich mit seinen Mitmenschen und der Welt umgeht? Hier scheint mir Elungu in der Tradition "der falschen Aufklärung als vermeintlicher Vollendung des Bescheidwissens mit rationalen Mitteln" 127zu stehen die K. Jaspers gegen R. Bultmann geltend gemacht hat . Die neuerliche Zuwendung zur Frage nach Sinn und Wesen des Mythos steht im Zusammenhang einer allgemeinen Kritik des szientistischen Scheins, die im zeitgenössischen Denkhorizont u.a. mit dem Namen und dem Werk Heideggers verbunden ist. Tatsächlich kann man hervorheben, daß sich Heidegger der Wissenschaft gegenüber zurückhaltender und manchmal äußerst kritisch zeigt. Und eben weil er die wissenschftlich-objektivierende "Sicht" der Welt für nicht angemessen für das Ganze der Wirklichkeit hält, kann er sogar, um diese zu überwinden, gerade auf die Kategorie des Mythos zurückgreifen.128 Tatsächlich gehört der Mythos für Heidegger zu jenem anfangliehen Denken, in dem das Sein als Hintergrundverständnis der Wirklichkeit ganz in der Unverborgenheit ans Licht kommt. So schreibt er: "Mythos heißt: das sagende Wort. Sagen ist für die Griechen: offenbar machen, erscheinen lassen, nämlich das Scheinen und das im Scheinen, in seiner Epiphanie Wesende. Mythos ist das Wesende in seiner Sage: das Scheinende in der Unverborgenheit seines Anspruchs. Der JliXJos" ist der alles Menschenwesen zuvor und von Grund aus angehende Anspruch, der an das Scheinende, an das Wesende denken läßt. A6ro.s- sagt dasselbe; JliXJos" und .A6ro.s- treten keineswegs, wie die landläufige Philosophiehistorie meint, durch die Philosophie als solche in einen Gegensatz, sondern gerade die frühen Denker der Griechen (Parmenides, Frgm. 8) gebrauchen J1V0os- und .A6yos- in derselben Bedeutung; JliXJos" und .A6ro.s- treten erst dort aus- und gegeneinander, wo weder JliJOos" noch .A6ros- ihr anfangliebes Wesen halten können. Dies ist bei Platon schon geschehen. Es ist ein auf dem Grunde des Platonismus vom neuzeitlichen Rationalismus übernommenes Vorurteil der Historie und der Philologie, zu

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K. Jaspers.IR. Bultmann, Die Frage der Entmythologisierung, München 1954, 39.

Vgl. G. Noller, Existenz und Sein. Die Überwindung des Subjekt-Objektschemas in der Philosophie Heideggers und in der Theologie der Entmythologisierung, München 1962, 90f.

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C. Vom Lebenskult zur modernen Rationalität

meinen, der 11 iXJos" sei durch den ,\6yos- zerstört worden." 129 Aus dieser Schilderung der Heideggerschen Mythosauslegung ergibt sich, daß die mythologische Sprache, in der sich die afrikanische Tradition ausdrückt, diese nicht obsolet macht, sondern nach einer angemessenen Hermeneutik verlangt, zu der der moderne Mensch aufgrund seiner rationalistischen Weltsicht oft nicht mehr imstande ist. 130 Worauf es hierbei ankommt, ist aber zu begreifen, daß Mythen nicht als überholte Vorstellungsweisen - wie Elungu es tut abgetan werden. Vielmehr geht es darum, vor allem die Aussagekraft und die Vielfalt ihrer Bilder hervorzuheben. M . Eliade bringt dies wie folgt auf den Punkt: "Die Fähigkeit und der Auftrag der Bilder besteht darin, all das in Erscheinung treten zu lassen, was sich dem Begriffverschließt." 131 Neben diesem pauschalen und undifferenzierten Verzicht auf das Mythologische scheint mir auch Elungus Unterschätzung der Vitalität der durch die Begegnung mit Europa vermeintlich obsolet gewordenen afrikanischen Tradition besonders problematisch zu sein. Dies liegt darin, daß er kaum zwischen den verschiedenen Dimensionen dieser Überlieferung unterscheidet. Denn wie 0 . Bimwenyi aufgezeigt hat, weist eine Tradition verschiedene Ebenen auf, die grundsätzlich aber auf folgende drei zurückgeführt werden könWhD, 6f. Denn wie M. Eliade, (Images et symboles, 12; 31), anmerkt, "on est en train de comprendre aujourd'hui une chose que Je XIXe siede ne pouvait meme pas pressentir: que Je symbole, Je mythe, l'image appartiennent a Ia substance de Ia vie spirituelle, qu'on peut les camoufler, les mutiler, les degrader, mais qu'on ne les extirperajamais. [...] Les mythes se degradent et les symboles se secularisent, mais ils ne disparaissent jamais, fOtce dans Ia plus positiviste des civilisations, celle du XIXe siede. Les symboles et les mythes viennent de trop loin: ils font partie de l'etre humain et il est impossible de ne pas les retrouver dans n'importe quellesituationexistentielle de l'homme en cosmos." Die positive Bedeutung des Mythos unterstreicht auch W.F. Otto: "Mit Mythos ist ursprünglich das wahre Wort, die unbedingt gültige Rede gemeint, die Rede von dem, was ist". Vgl. W.F. Otto, Die Sprache des Mythos, in: K. Kerenyi (Hg.), Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos, Darmstadt 1982, 279-289; 285. Ähnlich bekräftigt auch 0. Marquard (Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1987, 95; 94): "Es geht nicht ohne Mythen [... ] Denn Mythen sind, wo sie nicht kontermythisch umfunktioniert werden, eben keine Vorstufe und Prothesen der Wahrheit, sondern die mythische Technik- das Erzählen von Geschichten - ist wesentlich etwas anderes, nämlich die Kunst, die (nicht etwa fehlende, sondern) vorhandene Wahrheit unserer Lebensbegabung zu bringen." 131 M. Eliade, Imageset symboles, 24, (Übers. d. V.). Geht man demnach davon aus, daß die Gesamtheit der Wirklichkeit sich nicht erschöpfend darstellen läßt und daß man hierzu nicht zuletzt auf die Aussagen der Mythen angewiesen ist, so geht es nicht an, alles Mythologische - wie dies bei Elungu der Fall ist - pauschal abzulehnen. Vielmehr muß alles daran gesetzt werden, das Mythologische, nicht zuletzt im Hinblick auf die afrikanische Tradition, angemessen zu interpretieren. Näherhin geht es um ein Verständnis der Idee oder des Mythos als funktioneller Stütze einer Absicht, als Maßgabe oder als Symbol einer geistigen Erfahrung, die auf Wirklichem beruht. Vgl. H. Dumery, Critique et religion, in: Revue de Metaphysique et deMorale 59 (1954) 435453; 442. 129

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nen: I. die Ebene der Morphologie, auf der sich Veränderungen ziemlich leicht und schnell ereignen ( hier handelt es sich u.a. um Kleidungen, Demographie, Kommunikationsmittel, usw.); 2. die Ebene der Institutionen, auf der es nur sehr langsam zu Veränderungen kommt: Hier geht es v .a. um verwandtschaftliche, politische und sozio-ökonomische Strukturen und schließlich 3. die Ebene von fundamentalen sinngebenden Instanzen, auf der Veränderungen kaum noch feststellbar sind. Hierher gehören z.B. die verschiedenen Lehren über Gott, Welt, Mensch und deren Verhältnisse.132 Im Lichte dieser Unterscheidung läßt sich der Erweis der Lebendigkeit der afrikanischen Tradition auf verschiedenen Ebenen - nicht nur bei der Landbevölkerung - trotz Begegnung mit Europa leicht erbringen. 133 Im folgenden soll, um die Vitalität der afrikanischen Überlieferung zu vergegenwärtigen, das Beispiel der traditionellen afrikanischen Religionen in den Mittelpunkt der Überlegungen gerückt werden.134 Tatsächlich haben verschiedene Studien in den letzten Jahrzehnten aufgezeigt, wie sehr die afrikanischen Religionen nicht nur nicht tot, sondern im Gegenteil äußerst lebendig sind. 135 Nicht von ungefähr stellen sie z.B. bei den Vgl. hierzu 0. Bimwenyi, Discours theologique africain, 283-290. 133 Man denke hier z.B. an die Bindung an die Verwandschaft, die selbst bei "verwestlichten" Afrikanern noch von großer Bedeutung ist. 134 Über die Frage, ob man von den afrikanischen Religionen (Plural) oder von der afrikanischen Religion (Singular) sprechen soll, herrscht nach wie vor kein Konsens unter den Wissenschaftlern. Für die Pluralität der traditionellen afrikanischen Religionen tritt z.B. L.V. Thomas ein. So schreibt er: "Si tant est d'ailleurs que l'on puisse parler de I'Afrique, tant est grande sa diversite: le monde religieux du forestier n'est pas celui du paysan de Ia savanne [... ], le lagunaire et le nomade n'ont pas Ia meme mythologie de l'eau. Autre Ia religion du paysan attache asa terre, a ses bosquets et a ses marigots, autre celle du pasteur qui va sans reläche a Ia suite de son troupeau et dont toute Ia richesse, toute Ia symbolique aussi se fondent sur l'existence de ce troupeau [... ] Autant d'univers differents dont il serait grave de meconnaitre Ia singularite et dont notre analyse doit tenir compte." L.V. Thomas u.a., Les religions d'Afrique Noire. Textes et traditions sacrees, Paris 1969, Vorwort. Demgegenüber ziehen die Kongresse von Abidjan (1961), Cotonou (1970) und von K.inshasa (1978) den Ausdruck "afrikanische Religion" vor, um zu dokumentieren, daß trotz der Unterschiede auf morphologischer Ebene der Kern derselbe ist. Vgl. hierzu Colloque sur les Religions, 5-12 avril 1961, Paris 1962; Les religions africaines comme source de valeurs et de civilisations, Cotonou, 16-22 aofit 1970, Paris 1972; Religions Africaines et Christianisme. Colloque international de Kinshasa du 9-14 janvier 1978, K.inshasa 1980. Je nachdem, ob man den Akzent auf den letzlieh gemeinsamen Kern oder auf die verschiedenen Erscheinungsformen setzt, wird man m.E. von Religionen oder Religion sprechen dürfen. 135 Vgl. hierzu neben den oben zitierten Kongressen, R. Bastide, [Religions] Negroamericaines, in: Encyclopaedia Universalis, Bd. ll, Paris 1971, 644f.; ders., L'homme africain a travers sa religion traditionnelle, in: Presence Africaine 40 (1962), 32-43; H.V. Beier, Les anciennes religions africaines et le monde moderne, in: Pn!sence Africaine 41 132

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Schwarzen der Diaspora die wichtigste Stütze für die eigene Identität dar. Das Beispiel Brasiliens ist hierzu sehr aufschlußreich, wie R. Vachon anmerkt: " Brasilien ist so tief von der afrikanischen Kultur durchtränkt, daß man behaupten kann, daß diese Kultur eine Dimension der brasilianischen Identität ausmacht. "136 Ein beredtes Zeugnis für die Lebendigkeit der afrikanischen Religion in Brasilien 137 gibt z.B. der Candomble-Kult. Gemäß dem jetzigen Befund wurde dieser Kult, der aus dem Volk der Yoruba im heutigen Nigeria stammt, etwa um das Jahr 1715 durch drei Frauen (Iya Adeta, Iya Aka und lya Nasso Oya) in der Bahia-Region, in Brasilien propagiert. Nach der Auskunft von F. de l'Espinay bestätigen 80 % der Brasilien-Besucher aus dem Yoruba-Land die Übereinstimmung zwischen diesem Kult und der Religiosität im eigenen Land. Und umgekehrt werden die Bahia-Schwarzen bei ihrem Aufenthalt in Nigeria aufgrund ihres religiösen Verhaltens als volle Mitglieder der Gemeinschaft der Yoruba erkannt und akzeptiert. Mehr noch: Durch diesen Kult konnten sich die damaligen Sklaven selbst erkennen und das Gedächtnis an ihre Überlieferung wach halten und ihre Identität bewahren.I38 (1962), 129-136; P.H. Gulliver, Tradition and Transition in east Africa. Studies of the Tribai Element in the Modem Era, London 1969. 136 R. Vachon, "Presentation", in: Revue Monchanin, numero special sur Le Bresil Africain et autochtone I, 13 (1980) 2-3. Ähnlich äußert sich auch F. de L'Espinay: "Je parle de religion africaine. Iei on dit: 'cutte afro-bresilien'. Mais je parle de Ia religion et pas seulement d'un cutte; de religion africaine parce que son origine est africaine et non bresilienne (... ]. Je parle de religion africaine au singulier, parce que je me refere non aux derives de cette religion mais a celle qui est venue d'Afrique et est encore pratiquee avec une authenticite reconnue, malgre le temps ecoule, l'eloignement de Ia terre-m~re et aussi un certain syncretisme africain, fruit des circonstances de l'esclavage. Cette religion est africaine et pour les Africains. Le Blanc peut y adherer, mais il est normal qu'il s'y sente etranger et jamais totalement integre." F. de L'Espinay, Eglise et Religion Africaine du Candomble au Bresil, in: Revue Monchanin, 13 (1980) 6-26; 6. 137 Vgl. hierzu F. de L'Espinay, Eglise et Religion Africaine du Candomble au Bresil, in: Revue monchanin 13 (1980) 4-26; 6, : "La religion africaine s'entete a demeurer vivante et meme a s'intensifier, au pont d'influencer le monde blanc et de lui offrir une base de depart pour Ia recherche d'une nouvelle religion." 138 Vgl. F. de L'Espinay, ebd. Nichtsdestoweniger muß an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß sich die Aktualität der afrikanischen Tradition in Brasilien nicht auf den Bereich des Religiösen begrenzen läßt. Vgl. R. Vachon, Dialogue avec F. de l'Espinay, in: Revue Monchanin 13 (1980) 27-29; 28: "Au Bresil, Ia religion africaine a survecu, dit-on. Mais l'Afrique ne separe pas religion et politique, religion et economie. Aussi ai-je difficulte a croire que Ia religion africaine puisse subsister sans certaines au moins de ses dimensions politiques et econorniques (... ] Le Conseil des anciens, elements d'organisation politique, n'est-il pas encore present, dans le terreiro de Balbino, par exemple? (... ] Etle caractere rural de vos villes? Et l'architecture africaine des maisons? Et le temps africain et l'organisation sociale bresilienne? Le sens de Ia fete ne vient-il pas en grande partie de l'Afrique? Ce serait dommage, de ne reconnaitre qu'une survivance religieuse africaine au Bresil et passer a cöte du patrimoine politique et economique

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Blickt man von hier aus auf das moderne Afrika, so lassen sich auch da verschiedene Beispiele der Lebendigkeit der einheimischen Religionen namhaft machen. So werden z.B. die Kinder vor ihrer Abfahrt in die Fremde gesegnet. Ähnlich wird auch in besonderen Fällen an die Ahnen appelliert. Vor allem haben die Elemente der traditionellen Religionen Eingang gefunden in die Strukturen und Religiosität der sogenannten afrikanischen Unabhängigen Kirchen. 139 Diese Anwesenheit der afrikanischen Religionen im modernen Afrika, die sich nicht an einem Kult festmachen läßt, da Religion traditionell keinen Sonderbereich darstellt, sondern zum faktischen Leben selbst gehör, kann man in Anlehnung an T. K. M. Buakasa folgendermaßen zusammenfassen: Die afrikanische Religion existiert nirgends, aber sie ist überall [... ]. Sie ist überall auf dem Land und in der Stadt, bei juristischen Prozessen sowie in den richterlichen Abkommen. Sie existiert sogar in den Verhaltensweisen von Christen, Muslimen, Atheisten oder Gleichgültigen. Damit soll hervorgehoben werden, daß diese Präsenz in erster Linie latent, d.h. verborgen und ungedacht ist. Sie wirkt dennoch zersetzend und tendiert dazu, den Ereignissen, ihr Diktat zu oktroyieren. 140

propre et original aux Africains. Patrimoine qui, certes, a du subir !es pires assauts destructeurs au plan institutionnel et morphologique, mais qui est peut-etre beaucoup plus vivant que !es Blancs (et !es Noirs eux-memes) n'osent croire et le penser, au niveau de Ia culture profonde." 139 So werden z.B. bei den Kimbanguisten (Zaire) statt Wein und Brot einheimische Produkte, nämlich Bananenkekse und Honig, zur Feier des Abendmahls genommen. vgl. M. Zola, Eglise HHH 140Vgl. T.K.M Buakasa, L'impact de Ia Religion africaine sur l'Afrique d'aujord'hui. Latence et patience, in: Cahiers des Religions Africaines, 12 (1978), 21-32. 12 Ozankom

D. Von der Herkunft zu1r Zukunft: Der Ansatz einer neuen Hermeneutik der afrikanischen Tradition Das Ziel dieser Studie bestand darin, einerseits einen Zugang zu Heideggers Verständnis der abendländischen Philosophietradition zu eröffnen und andererseits den Bemühungen Towas und Elungus um einen reflektierten Umgang mit der eigenen Tradition Rechnung zu tragen. Dieser Ansatz sollte des weiteren darauf vorbereiten, die Möglichkeit einer neuen Hermeneutik der afrikanischen Tradition vorzuschlagen. Bevor die Gestalt dieser Hermeneutik näher gekennzeichnet werden kann, soll nun das zusammengetragen werden, was sich im bisherigen Verlauf der Studie als wichtiges Ergebnis herauskristallisiert hat. I. Rückblick

Im Lichte des Anliegens dieser Arbeit wurde zunächst versucht, Heideggers Verhältnis zur philosophischen Tradition des Abendlandes, ausgehend von seiner Erörterung der Destruktion und der Seinsgeschichte, darzulegen. Dabei konnte herausgehoben werden, daß Heideggers Versuch, denkend in die Nähe des Seins in seiner Wahrheit zu gelangen, das in der Vergangenheit der abendländischen Philosophie "west", ihn zu zwei verschiedenen Formen des Umgangs mit dieser Überlieferung nötigte. Tatsächlich suchte Heidegger vornehmlich in den Schriften bis "Sein und Zeit" mit Hilfe der Destruktion im Sinne eines schrittweise erfolgenden Abbaus der metaphysischen Tradition zu den anfänglichen Schätzen der M~taphysik vorzustoßen. Nachdem die durch den Begriff der Destruktion repräsentierte Zugangsart zur abendländischen Philosophietradition nicht zu Ende geführt werden konnte, erwies sich für Heidegger ein neuer, andersartiger Ansatz als notwendig, der im Terminus Seinsgeschichte greifbar wird. Heideggers Bemühen gilt hiernach dem Versuch, das eigene Denkeilt zu vergeschichtlichen, d.h. in das Geschehen des Seinsgeschicks selbst einzufügen. Von hier aus versucht Heidegger die Vergangenheit der europäischen Philosophie zu wiederholen.'

1 An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, daß die m.E. beachtliche und wohl für das afrikanische Denken durchaus anreg,~nde Position Heideggers in seinem Verhältnis zur abendländischen Philosophieüberlieferung keine volle Zustimmung zu Heideggerschen Thesen zur Philosophiegeschichte b