Sterben und Tod: Medizinische Aspekte [Reprint 2021 ed.] 9783112565186, 9783112565179

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Sterben und Tod: Medizinische Aspekte [Reprint 2021 ed.]
 9783112565186, 9783112565179

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G ü n t e r Baust Sterben und T o d Medizinische Aspekte

Abbildung auf dem Einband: Ferdinand Hodler, Zur Seite gesunkener Kopf der sterbenden Valentine Godet-Darel, 1915 Privatbesitz, Kunstmuseum Basel Mit freundlicher Genehmigung der Öffentlichen Kunstsammlung Basel

Günter Baust

Sterben und Tod Medizinische Aspekte

Mit 45 Abbildungen

Akademie-Verlag Berlin 1988

Prof. Dr. sc. med. Günter Baust Direktor der Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie der Martin-Luther-Universität Halle —Wittenberg

I S B N 3-05-500491-4 Erschienen im Akademie-Verlag, Berlin, D D R - 1 0 8 6 Berlin, Leipziger Straße 3 - 4 © Akademie-Verlag Berlin 1988 Lizenznummer: 202 . 100/498/88 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: V E B Druckhaus „Maxim G o r k i " , 7400 Altenburg Lektor: Christiane Grunow Einbandgestaltung und Layout: Ralf Michaelis L S V 2095 Bestellnummer: 763 808 7 (9106)

02000

Vorwort

In den letzten zwei Jahrzehnten hat das Nachdenken über Sterben und Tod eine überraschende Aktualität erfahren. Jahrhundertelang waren Stillstand von Atmung und Kreislauf Beginn des Sterbens mit nachfolgendem Eintritt des Todes. Mit dem zunehmenden Einfluß der Naturwissenschaften und der Technik auf die Medizin entstanden neue wissenschaftliche Erkenntnisse und lebenserhaltende Therapiemethoden, die eine Revision dieser traditionellen Ansicht über das Sterben und den Tod notwendig machen. Die Erfolge auf dem Gebiet der kardiopulmonalen Reanimation, der Intensivmedizin, des temporären Ersatzes lebenswichtiger Organe durch technische Apparaturen und der Organtransplantation versetzen uns unter definierten Bedingungen in die Lage, das Sterben und damit den unzeitigen Tod abzuwenden. Die Monographie soll die Komplexität und Differenziertheit des ärztlichen Denkens, der ärztlichen Entscheidung und des verantwortlichen ärztlichen Handelns in diesem neu entstandenen Grenzbereich zwischen Sterben und Tod deutlicher machen. Gleichzeitig soll sie dazu beitragen, bewährte therapeutische Strategien zur Abwendung eines vorzeitigen Sterbens aufzuzeigen sowie spezielle Begriffe und Definitionen des disziplinären Bereichs und der interdisziplinären kooperativen Behandlungsmethoden aus der Sicht des Klinikers verständlich zu machen. Selbstverständlich konnten dabei nur einige spezifische Teilgebiete aus der Gesamtproblematik berücksichtigt werden, die aus dem eigenen sowie den angrenzenden Fachbereichen stammen. Auf die Besonderheiten des Sterbens

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und des Todes zu Beginn des menschlichen Lebens wurde bewußt nicht eingegangen. Diese gleichfalls aktuelle Thematik mit ihrer eigenen Spezifik sollte im Kompetenzbereich der Fachexperten bleiben. Die zunehmenden Erfolge auf dem Gebiet der Organtransplantation waren Anlaß, diese neue Behandlungsstrategie zur Erhaltung und Bewahrung des Lebens mit aufzunehmen, da sie in den Grenzbereich zwischen Sterben und Tod gehört. Die Monographie soll aber auch reflektieren, daß sich medizinische Laienkreise zunehmend mit der Problematik Sterben und Tod befassen. Passagen aus der Fachliteratur, die von ihr aus nicht medizinischen Zeitungen und aus der Belletristik übernommen wurden, demonstrieren das eindrucksvoll. Diese meist überzeichneten oder verzerrt dargestellten Grenzsituationen ärztlichen Handelns sollten von uns nicht übersehen werden. Häufig spekulieren sie mit Ambivalenzen, die unbewußt oder unbeabsichtigt bewährte Therapiemethoden in Mißkredit bringen können. Die moderne Medizin mit ihren fast unbegrenzten Möglichkeiten stößt zunehmend auf Grenzen ihrer Gesamtverantwortung gegenüber dem Menschen und auf die des ärztlichen Bewahrungsauftrags. Bei den dargelegten Gedanken und Ansichten zu dieser problemreichen Thematik bleiben viele entstandene Fragen unbeantwortet, gleichzeitig entstehen neue, da der eigentliche Klärungsprozeß erst begonnen hat. Ethische, psychologische sowie juristische Aspekte wurden mit der begrenzten Fachkompetenz des Klinikers, so weit sie erwähnt werden mußten, integriert und dargestellt. Die Monographie soll nicht nur den Dialog unter Ärzten und Vertretern ihnen nahestehender Fachdisziplinen fördern. Sie will gleichzeitig auf das zunehmende gesellschaftliche Interesse an dieser Problematik aufmerksam machen und zur weiteren wissenschaftlichen Klärung noch ungenügend gelöster Details sowie zu kritischen Erwiderungen anregen. Es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Stelle der Lektorin des Akademie-Verlages, Frau Christiane GRUNOW, für ihre

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Anregung zu dieser Monographie und die konstruktive Zusammenarbeit bei der Entstehung des Manuskriptes bis zur Abgabe zu danken. Den Herren Professoren E. L. G R A U L , R . GÜRTLER, B. SCHNEEWEISS sowie Herrn Dozent U . KÖRNER gebührt mein aufrichtiger Dank für die wertvollen kritischen Bemerkungen und vorgeschlagenen Korrekturen, die weitgehend in das Manuskript eingearbeitet wurden. Schließlich möchte ich mich auch bei meiner Sekretärin, Frau Gisela LÜDEMANN, für die notwendigen technischen und Schreibarbeiten herzlich bedanken.

Günter

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BAUST

Inhalt

1. Kapitel Einführung und historische Aspekte

10

2. Kapitel Das Sterben aus medizinischer Sicht 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.6.1. 2.6.2. 2.6.3. 2.6.4. 2.7.

Einige Ursachen des zunehmenden Interesses an der Sterbeproblematik Das Sterben aus medizinischer Sicht Die Definition des Sterbens Das prozeßhafte Sterben eines vitalen Organs . . Der Arzt und der sterbende Mensch Die verschiedenen Formen des Sterbens . . . . Das altersbedingte Sterben Das Sterben an einer prognostisch infausten Erkrankung Das akute, krankheitsbedingte oder durch äußere Gewalt verursachte Sterben Das postreanimative Phänomen Phasen-Einteilung des Sterbens

21 21 27 28 29 36 39 40 49 52 54 57

3. Kapitel

3.1. 3.2. 3.3.

Medizinische Methoden zur Abwendung des Sterbens

68

Die Reanimatologie Die Indikation für eine Reanimation Die gegenwärtigen Grenzen der Reanimation . .

68 81 85

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3.4. 3.5. 3.6. 3.7.

Die Reanimation und der Ersatz eines vitalen Organs 95 Die Reanimation — im Interesse des Patienten? 119 Die Intensivmedizin im Grenzbereich zwischen Leben und Tod 126 Die Grenzen der Intensivmedizin 133 4. Kapitel Sterben und Tod in der modernen Medizin

4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5.

. .144

Definitionen des Todes 144 Der prozeßhafte Ablauf des Todes 148 Der Hirntod 154 Der Hirntod und die Organextransplantation . . 164 Der verdrängte Tod 169 Literatur

177

Glossar

186

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1. Kapitel Einführung und historische Aspekte

Seit die Menschheit existiert, gehören Sterben und Tod zu den großen Rätseln, die bisher als unlösbar galten. Über Jahrtausende versuchten Ärzte, Philosophen und Theologen dieses naturwissenschaftliche Phänomen zu ergründen, um eine zufriedenstellende Antwort auf die vielfältigen damit im Zusammenhang stehenden Fragen der Menschheit zu finden. Aus der Furcht vor dem Tod entstand der Glaube an die Unsterblichkeit. Bereits die Ägypter wandten ungewöhnlich viel Zeit und Kraft daran, den Tod zu bestreiten. Schon im ägyptischen „Totenbuch", das um 3500 v. u. Z. entstand, wird die Reise der menschlichen Seele in die Ewigkeit als gesicherte Tatsache beschrieben, eine Auffassung, die sich bis zur Gegenwart in verschiedenen Teilen der Welt behaupten konnte. Der damit verbundene Glaube an die Unsterblichkeit der Seele war möglicherweise bereits eine Reaktion auf die entstandene Furcht, der Tod sei die vollständige Vernichtung des Lebens (A. WILSON, 1956). In dem leider nur fragmentarisch erhaltenen babylonischen Gilgamesch-Epos, das etwa 2000 v. u. Z. entstand, werden die Taten und Schicksale des Königs Gilgamesch von Uruk beschrieben. Es wird als das älteste Dokument angesehen, in dem die Unvermeidlichkeit des Todes dargestellt wird. Während Gilgamesch um seinen Freund Engidu trauert, erkennt er plötzlich, daß ihm dasselbe schreckliche Schicksal bevorsteht: „Was ist das nur für ein Schlaf, der dich gepackt hat? Du bist verdüstert und hörst mich nicht\ Werd' ich nicht, sterb ich, sein wie auch Engidu? Harm hielt Einzug in meinem Gemüte, Todesfurcht überkam mich." (A. SCHOTT, 1958). Gilgameschs Erfahrung geht über die Entdeckung der 10

Unvermeidlichkeit des Todes hinaus, und es werden Hinweise über dessen Endgültigkeit deutlich. Etwa um 1200 v. u. Z. entstanden die ersten Zweifel an den alten Jenseltsvorstellungen, an dem Weiterleben als Erlösung und als Belohnung für die demütige Geduld der Menschen auf Erden. Im Jahre 600 v. u. Z. begann das Philosophieren über das Sterben und den Tod in den klemasiatischen Kolonien Griechenlands. Auch die Griechen waren sich der Unsicherheit des Lebens und der ständigen Drohung des Todes schmerzhaft bewußt. Sie vertraten die Ansicht, daß alle menschlichen Mühen nur ein kurzes Zwischenspiel seien, das endgültig doch scheitern werde. Die Griechen waren als lebensfreudige Menschen bekannt, sie empfanden die Welt schön und lebenswert, dagegen den Tod als etwas Schreckliches. Das konnte auch mit den traditionellen Todesvorstellungen nicht beschwichtigt werden. Der T o d wurde nicht als ein friedlicher Schlaf, nicht als ein besseres und glücklicheres Leben im Jenseits verstanden. Vielmehr bestand die Auffassung, daß die Toten zu blutleeren Schatten würden und ewig ruhelos die Unterwelt durchwandern müßten. (E. H A M I L T O N , 1923). Mit P Y T H A G O R A S ( 5 7 2 — 4 7 9 v. u. Z.) gelangte die orphische Todesvorstellung in die Philosophie. Nach dieser Lehre war die Seele göttlichen Ursprungs. Die Seele mußte eine Seelenwanderung, eine Reinigung im Kreislauf der Geburten durchlaufen, um sich danach schließlich wieder mit dem Göttlichen zu vereinen. Der älteste überlieferte Text der jonischen Philosophie, die sich eindringlich mit dem T o d beschäftigte, war das Fragment des A N A X I M A N D E R ( 6 1 0 bis 546 v. u. Z.), das von der Vergänglichkeit der Dinge handelt. Der Philosoph H E R A K L I T (533 —475 v. u. Z.) war von der tiefgreifenden, sichtbaren und schrecklichen Veränderung des Menschen im Tod stark beeindruckt, so daß er sie zum wesentlichen Charakteristikum aller Wirklichkeit erklärte (O. GIGON: Untersuchungen zu Heraklit, Leipzig 1935, S. 94). Er versuchte, den T o d als ein notwendiges Ereignis annehmbar zu machen. Da alles m Fluß bleibt und sich wandelt, kann der Tod nichts Endgültiges sein. In dem Bericht des X E N O P H O N weist S O K R A T E S (469 bis

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399 v . u . Z . ) auf die Natürlichkeit des Todes hin: „Wißt ihr nicht, daß ich schon vor längerer Zeit, seit ich geboren wurde, von der Natur v(um Tode verurteilt bin?" (E. Bux, 1956). Schließlich beschrieb E P I K U R (341 —270 v. u. Z.), der den Materialismus DEMOKRITS übernommen hatte, den Tod wie folgt: „Das schauerlichste Übel, also der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr. Er geht also iveder die Lebenden an, noch die Toten; denn die einen berührt er nicht und die anderen existieren nicht mehr" (J. CHORON, 1963). Für E P I K U R waren die Götter längst in Pension gegangen (H. SCHIPPERGES, 1976). Die verschiedenen philosophischen Auffassungen über das Sterben und den Tod, von der Antike bis in unsere heutige Zeit, reflektieren, mit welcher Hartnäckigkeit und Unnahbarkeit sich dieses menschliche Phänomen der wissenschaftlichen Interpretation verschloß, so daß die erwartete Aufklärung für viele Menschen auch heute noch eine Aporie geblieben ist. Für den Arzt waren das Sterben und der Tod nur so weit von Bedeutung, daß mit dem Auftreten von Symptomen dieser letzten Phase des Lebens seine ärztliche Pflicht endete. Historische Überlieferungen berichten uniform, daß die ärztliche Behandlung eines Kranken stets zu dem Zeitpunkt endete, wo sich seine Erkrankung als unheilbar erwies oder Zeichen des Sterbens sichtbar wurden. Nach H O M E R (8. Jahrhundert v. u. Z.) besitzt der Mensch eine „Atem-Seele" bestehend aus thymos, dem sterblichen Geist und psyche, der unsterblichen Seele. Der thymos zerfiel mit dem Tod und dem Zerfall der Körperorgane. Die psyche dagegen galt als das unsterbliche Lebensprinzip, als Quelle der individuellen Lebenskraft. Sie befand sich im Kopf des Lebenden und verließ den Körper im Tod. Noch im 15. Jahrhundert wurde die psyche als ein kleines naturalistisches Abbild des Sterbenden dargestellt. (R. B. ONIANS, 1 9 5 1 ) .

Im Eid der Hinduärzte ( 7 . - 6 . Jahrhundert v. u. Z.), der zu den ältesten überlieferten Bekenntnissen der Medizin überhaupt gehört, heißt es: „Menschen, die den König hassen

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oder die der König haßt oder die vom Volk gehaßt werden oder die das Volk hassen, sollen keine Behandlung bekommen. Ebenso jene, die völlig unnormal sind, verderbt, von elendem Charakter und Betragen, jene, die ihrer Ehre nicht gerecht wurden, jene, die kurz vor dem Tode sind und ebenso sollen Frauen, die ohne Wertung und Begleitung ihrer Ehemänner oder ihrer Bewacher sind, keine Behandlung empfangen." ( J . K L E E B E R G , 1 9 7 9 ) . Auch im Eid des HIPPOKRATES (460—377 v. u. Z.) wird man vergebens nach Pflichten suchen, die dem Arzt für die Betreuung Sterbender auferlegt waren. Erst in der Epoche der Aufklärung wurde diese traditionelle religiöse Auffassung über das Sterben und den Tod verdrängt und erstmals einer wissenschaftlichen Betrachtung zugängig gemacht. Im 16. Jahrhundert wird der Tod nicht mehr als Übergang in eine andere Welt gesehen, sondern als Ende des Lebens. Der Tod ist nicht mehr Ziel des Lebens, sondern sein Ende. Michel DE MONTAIGNE ( 1 5 3 3 — 1 5 9 2 ) erfuhr aus den Schriften der antiken Philosophen vor allem von CICERO und SENECA, daß die Philosophie lehrte, das Sterben und den Tod nicht zu fürchten: „Philosophieren heißt sterben lernen." Von SENECA ( 4 — 6 5 n. u. Z . ) , dem Lehrer Neros, stammt die berühmte Anweisung zur Überwindung der Todesfurcht: „Denke stets an den Tod, um ihn nie %ur fürchten." In seinem Dialog „über die Kürze des Lebens" bemerkte er: „Nur deshalb scheint das Leben so kuriveil die Menschen es so führen, als könnten sie ewig leben." ( O . FLAKE, 1 9 0 8 ) . In Fortsetzung der Gedanken von SENECA resümiert MONTAIGNE: „ D i e Nützlichkeit des Lebens liegt nicht in seiner Länge, sondern in seiner Anwendung ...es liegt in eurem Willen, nicht in der Anzahl der Jahre, daß ihr hinlänglich gelebt habt." Damit entstand ein Wandel in der Einstellung zum Sterben und zum Tod — die Kunst zu sterben „ars morriendi" — besser, das Sterben zu einem heilsamen Tod. Nach D E S C A R T E S (1596—1650), der sich auch mit medizinischen Problemsituationen beschäftigte, müßte es möglich sein, die Lebensdauer des Menschen durch bessere Kenntnis seines Körpers und richtige Ernährung mindestens auf ein paar Jahrzehnte zu verlängern. Diesen sehnsüchtigen Gedanken nach einer

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Johannes De Castua: Ausschnitt aus einem Totentanz (Werner B L O C H : Der Arzt und der Tod. In Bildern aus sechs Jahrhunderten, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart) Baseler Totentanz (Werner BLOCH: Der Arzt und der Tod. In Bildern aus sechs Jahrhunderten, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart)

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Verlängerung des Lebens gab er jedoch bald auf. In einem Buch „Über die Leidenschaft der Seele" schrieb er: „Derart habe ich statt der Mittel, das Leben erhalten, ein anderes sehr viel leichteres und sicheres gefunden, nämlich den Tod nicht fürchten." (DESCARTES starb im Alter von 53 Jahren). ( M . BENSE, 1949). SPINOZA (1632—1767) lehnte den Tod als Gegenstand philosophischer Überlegungen ab und war selbst in keiner Weise über menschliche Sterblichkeit betroffen. In dem 67. Lehrsatz aus seiner „Ethik" heißt es: „Der freie Mensch denkt an nichts weniger als an den Tod; und seine Weisheit ist nicht ein Nachsinnen über den Tod, sondern ein Nachsinnen über das Leben." Im 15. bis in das 17. Jahrhundert bedrohten Sterben und Tod auf Grund von Hungersnöten, Kriegen sowie Seuchen die Menschen. In diesen drei Jahrhunderten wütete mehr als ein Jahrhundert die Pest und forderte ihre Opfer. Die „Kunst des heilsamen Sterbens" verdrängte in diesem Säkulum die Kunst des rechten Lebens. Die Hoffnung auf einen guten Tod wurde zur besonderen Kunst, zu einer neuen Weisheit des Lebens.

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Mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, wurden die ersten Bemühungen bekannt, mit lebenserhaltenden Maßnahmen gegen den Tod vorzugehen. Aus der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts stammt ein Erlaß von Maria-Theresia, in dem gefordert wurde, Sterbende erst dann aufzugeben, wenn sie mit Tabakklistiren oder Tabakrauch nicht mehr erweckbar waren. In London und Amsterdam kam es in den Jahren 1774 und 1777 zur Gründung der ersten Gesellschaften für Lebensrettung. Von D. G. H E N Z L E R erschien im Jahre 1770 das erste Lehrbuch über Methoden der Lebensrettung. Die im gleichen Jahr bekannt gewordene Entdeckung des Sauerstoffs schaffte die Voraussetzung für seine Anwendung in der Medizin. Erste Versuche, mit Hilfe eines Blasebalgs die Atmung eines Menschen im Notfall zu unterstützen, stammen bereits aus dem Jahre 1714. o p t i m a craemüdi «Jmago mortis

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ccLxim

Hans Holbein: „Imagines mortis" (Werner BLOCH: Der Arzt und der Tod. In Bildern aus sechs Jahrhunderten, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart)

Michael Wohlgemuth in Hartmann Schedels Weltchronik (Werner BLOCH: Der Arzt und der Tod. In Bildern aus sechs Jahrhunderten, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart)

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Von Franz Xaver BICHAT erschien 1800 das erste Lehrbuch einer Philosophie des Sterbens. Eigentlich begann erst im 18. Jahrhundert eine wissenschaftlich orientierte Forschung über das Wesen und die biologischen Grundlagen des Sterbens und des Todes. Bis dahin war die Angst vor dem Scheintod und dem damit verbundenen Lebendigbegrabenwerden in der Bevölkerung weit verbreitet. Wie LEOPOLD (1982) recherchierte, erkannten zahlreiche medizinische Fakultäten — darunter auch die hallesche — sowie medizinische Akademien die zunehmende Gefahr, daß Scheintote für tot gehalten und lebendig begraben wurden. Aus den Überlieferungen ist bekannt, daß der deutsche Chirurg D I E F F E N B A C H testamentarisch festlegte, daß nach seinem eingetretenen Tod 2 Ärzte bei ihm solange wachen sollten, bis die Fäulnis seines Leichnams eingetreten sei. Zeichen der Fäulnis waren zu dieser Zeit die einzigen sicheren Kriterien des eingetretenen Todes. B R Ü H L E R beschrieb in seinem 1754 erschienenen Buch „Abhandlung von der Ungewißheit des Kennzeichen des Todes und dem Mißbrauche, der mit übereilten Beerdigungen und Einbalsamierungen vorgeht" die damaligen Handlungen und Sitten in einer anschaulichen Form. Er forderte die Festlegung eindeutiger Todeszeichen und die Einrichtung von Leichenhäusern. Im Jahre 1776 konnte in London das erste Leichenhaus seinem Zweck übergeben werden. In Deutschland entstand auf Drängen von H U F E L A N D 1792 in Weimar das erste derartige Gebäude. So wurde in der Mitte des 18. Jahrhunderts dem Arzt die Zuständigkeit für das Sterben sowie für die objektive Feststellung des Todes übertragen. In der 2. Hälfte dieses Jahrhunderts setzte sich die Forderung einer Leichenschau durch. Die Beerdigung eines Toten durfte erst 3 Tage nach der ärztlichen Feststellung des Todes stattfinden. Aus dieser Zeit stammen die ersten verbindlichen Todeszeichen und ihre Definition, die für die Feststellung und Dokumentation des eingetretenen Todes zur Pflicht wurden. Mit H U F E L A N D und den Ärzten seiner Zeit erfuhr der ärztliche Bewahrungsauftrag eine humanitäre Erweiterung. H U F E L A N D S hohe ethische Auffassung vom Arztsein und seine humanitäre

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Zimmerscher Totentanz: „ A r z t und Tod" (Werner BLOCH: Der A r z t und der Tod. In Bildern aus sechs Jahrhunderten, Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart)

Gesinnung sind in seinen Bekenntnissen festgeschrieben. Sie haben bis zum heutigen Tag ihre volle Gültigkeit behalten: „Nicht nur heilen, sondern auch bei unheilbarer Krankheit das Leben erhalten und die Leiden erleichtern, ist die Pflicht und ein großes Verdienst des Arztes. Nie die Hoffnung, nie den Mut verlieren. Hoffnung erzeugt Ideen, erhebt den Geist ^u neuen Einsichten ... und kann selbst das unmöglich scheinende möglich machen. Wer nicht mehr h o f f t , denkt auch nicht mehr, Apathie und Geisteslähmung sind die unausbleiblichen Folgen, und der Kranke muß notwendig sterben, weil der Helfer schon gestorben ist." ( K L E E B E R G , 1979).

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Es war somit das große Verdienst HUFELANDS, daß er den unheilbar Kranken und den Sterbenden erstmalig in den ärztlichen Bewahrungsauftrag einschloß. Damit wurde das Interesse weiter geweckt, die Problematik des Sterbens und des Todes wissenschaftlich zu untersuchen. Wie die kurzen Auszüge der Geschichte, insbesondere der Kulturgeschichte der Menschheit reflektieren, waren sich die Menschen der verschiedenen Epochen stets der Tatsache bewußt, daß der Tod am Ende eines jeden Lebens steht. Es fehlen jedoch in keinem Jahrhundert an Bemühungen und Bekenntnissen, diese unabdingbare Tatsache zu negieren, indem Vorstellungen verkündet wurden, die ein Weiterleben nach dem Tod zum Inhalt hatten. So haben die mannigfaltigen geistigen Strömungen unserer Kulturgeschichte die Einstellung zum Sterben und zum Tod bis zum heutigen Tag mitgeformt. Aus der kurzen historischen Darstellung geht aber auch hervor, daß seit Menschengedenken bis etwa zur Mitte unseres Jahrhunderts der Verlauf des prozeßhaften Sterbens durch ärztliches Handeln nicht beeinflußt werden konnte, wenn wir von geringfügigen verzögernden und lindernden Maßnahmen absehen. Nach STRÖKER (1975) fehlt es uns nicht an Erkenntnissen, warum wir sterben müssen, vielmehr ermangele es uns an der Einsicht in die Gründe dafür, warum der Tod nicht auch nicht sein könne. Deshalb ist im Todesbewußtsein, wie es aktuell gegenwärtig ist und nicht verdrängt gehalten wird, stets eine Unruhe des Fragens und des Suchens, die an kein Ende gelangt.

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2. Kapitel Das Sterben aus medi2inischer Sicht

2.1.

Einige Ursachen des zunehmenden Interesses an der Sterbeproblematik In den letzten zwei Jahrzehnten hat das Interesse an dem Phänomen Sterben und Tod in der Medizin sowie in naturwissenschaftlichen Disziplinen aber auch generell in einem bisher nie gekannten Maße zugenommen. In diesem kurzen Zeitabschnitt ist die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen, die sich speziell mit dem Thema Sterben und Tod befassen, stark gestiegen. Nach FULTON ( 1 9 7 7 ) erschienen in der Zeit von 1 8 4 5 bis 1 9 7 5 über Sterben und Tod 3 8 0 0 angloamerikanische Publikationen. 90% dieser wissenschaftlichen Beiträge stammen allein aus der Zeit zwischen 1964 und 1975. Das neu entstandene Interesse und die wiedererlangte Aktualität für diese Thematik haben verschiedene Ursachen, und es gibt nicht wenige Ansätze für eine Deutung. Natürlich müssen als auslösende Ursachen in erster Linie die enorm gewachsenen Möglichkeiten der Lebensbewahrung und Lebensverlängerung der modernen Medizin gesehen werden. Die schon jetzt erreichte Perfektion der Informations- und Datenvermittlung erlaubt es, hervorragende Ergebnisse der Medizin akustisch und optisch in wenigen Sekunden in fast alle Länder der Welt zu vermitteln. Erfolge auf den Gebieten der Organtransplantation, des technischen Organersatzes, der Reanimation oder Intensivmedizin lösen bei immer mehr Menschen große Erwartungen und Hoffnungen aus. Sie sind zu einem modernen Mythos unserer Zeit geworden, der den Tod als immer mehr auf-

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schiebbar und eines Tages sogar als vermeidlich erscheinen läßt. Das zunehmende Interesse der Menschen an den Erfolgen der Medizin wird in unterschiedlicher Weise von persönlichen Erwartungen an die Medizin motiviert und getragen. Es entstehen Wunschvorstellungen für das eigene Leben, für die Lebensqualität sowie die Lebensdauer, ob und wie z. B. bei einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder bei einem Unfall sowie bei spürbaren Zeichen des endenden Lebens diese phantastischen lebenserhaltenden und lebensverlängernden Methoden wirksam werden könnten. Damit werden gleichzeitig Zweifel und Unsicherheit ausgelöst, da die Frage unvermeidlich ist: Was geschieht mit mir, wenn diese Hilfe aus irgendwelchen Gründen zu spät kommt, wenn die Methode versagt oder wenn sie auf Grund einer fortgeschrittenen Erkrankung nicht mehr indiziert oder zumutbar ist. Neue, nicht verdrängbare Gedanken zwingen somit zur Fortsetzung dieses Monologs, der nicht selten für den Fragenden in einer Aporie endet und zur Fortsetzung der gedanklichen Auseinandersetzung auffordert. Diese Gedanken sind sicher eine wesentliche Ursache des zunehmenden Interesses an dem Dialog mit der Problematik Sterben und Tod. Eigene Erfahrungen, bevorzugt bei Patienten, die sich einer komplizierten Herzoperation, einer Nierentransplantation oder einer intensivtherapeutischen Behandlung unterziehen müssen, bestätigen diese Ansicht. PROKOP ( 1 9 8 1 ) stellt in diesem Zusammenhang die berechtigte Frage: „Gibt es für das gewachsene Interesse an der Sterbeproblematik eine zentrale Ursache?" Er sieht in dem weltweiten Ansteigen des Verbrauchs von Alkohol und Drogen einen Zusammenhang. Sein Resümee zu dieser Problematik: Die Zunahme des Interesses am Tod und am Sterben sei vielfach rein quantitativer Natur, und es sei ein Trend der Zeit, daß man alles wissen will oder soll und überall mitreden kann. In dem Entstehen immer weiterer Wissensgebiete, wie der Genetik, der Kybernetik, der Steuerungstechnik und der Molekularbiologie wächst das verstärkte Aufkommen von nicht erwarteten Erziehungszielen, die sich in Oberflächlichkeit, Halbbildung, Präpotenz und Arroganz äußern. 22

Dadurch gehe das Wissen in die Breite. Und was zu sehr in die Breite geht, kann nicht in die Tiefe gehen. Randgebiete, wie Sterben und Tod, würden somit oft durch vereinfachtes Schablonendenken abgedeckt — wenigstens von Laien, die mit der Pathophysiologie des Sterbens nicht vertraut sind. Den verschiedenen Ansichten zu dieser Thematik soll noch ein weiterer Gedanke zugefügt werden, da er durchaus der Mentalität der genannten Generation entspricht. H A R T MANN (1979) sieht den eigentlichen Grund für die Aktualisierung des menschlichen Sterbens in den jüngsten Ereignissen unserer Geschichte. Nach seiner Ansicht versuchte die Generation, die den opferreichen 2. Weltkrieg erlebt hat, seine schmerzlichen Auswirkungen zunächst zu verdrängen, um den Wiederaufbau des zerstörten Landes bewerkstelligen zu können. Nun hat diese Generation inzwischen das Sterbealter erreicht und wird sich plötzlich einer lückenhaften Vorbereitung auf diese Tatsache bewußt. Dieser Umstand führt zu einer ängstlichen Hektik, die sich in den letzten 30 Jahren vorwiegend organisatorischer und technischer Mittel bedient, um dem Sterben beizukommen. Diese Einschätzung enthält in vieler Hinsicht beachtenswerte Gedanken, die der Realität entsprechen. Wesentliche Impulse für das weltweite medizinische Interesse und der damit verbundenen Enttarnung des Tabus Sterben gingen von der Ärztin Elisabeth K Ü B L E R - R O S S (1977) aus. Die namhafte in der Schweiz geborene und in Amerika lebende Psychiaterin hat mit ihrem epochemachenden Buch „Interview mit Sterbenden" sowie weiteren Veröffentlichungen wie „Verstehen, was Sterbende sagen wollen" und „Was können wir noch tun", die alle zu Bestsellern wurden, die Problematik des Sterbens wissenschaftlich und populärwissenschaftlich auf eine dialogfähige Grundlage bringen können. Frau K Ü B L E R - R O S S untersuchte und explorierte tausende erfolgreiche reanimierte Patienten und veröffentlichte ihre Erfahrungen sowie eigene Schlußfolgerungen. Sie beschrieb 1972 erstmalig die aus ihren Untersuchungen abgeleiteten „5 Phasen des Sterbens", die wesentliche Grundzüge für eine humanitäre Betreuung

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Sterbender enthalten. Die als Sterbehelferin weltbekannte Ärztin vertritt die Hypothese, daß der Eintritt in das Leben nach dem Tode für sie nicht eine Frage des Glaubens, sondern des Wissens sei. Ihre Hypothese begründet sie allerdings mit sehr rudimentären Grundlagen, da nach ihrer Ansicht der gegenwärtige Stand der Wissenschaft nicht ausreicht, um den erforderlichen wissenschaftlichen Beweis antreten zu können. Unabhängig von K Ü B L E R - R O S S stellte der amerikanische Psychiater Raymond A. M O O D Y ( 1 9 7 7 ) bei über 3 0 0 reanimierten Patienten gleiche Untersuchungen an und veröffentlichte seine Ergebnisse 1977 unter dem anspruchsvollen Titel: „Life after Life". Das im Rowohlt Verlag ins Deutsche übersetzte Buch erschien unter dem großzügig übersetzten Titel „Leben nach dem Tod" und dem Untertitel: „Die Erforschung einer unerklärten Erfahrung". Der Umschlagentwurf von Werner R E B H U H N entstand unter Verwendung des Gemäldes „Licht und Form: Der Morgen nach der Sintflut" von William TÜRNER/Tate-Gallery, London. Auf diesen Titel wird in einem späteren Kapitel noch eingegangen. Leider wird die deutsche Übersetzung des Titels dem Inhalt des Buches nicht gerecht, da zwischen dem „Leben nach dem Leben" und dem „Leben nach dem Tode" ein wesentlicher Unterschied in der Interpretation besteht. — Bis 1981 erreichte die Veröffentlichung die 14. Auflage mit 2 5 6 0 0 0 Exemplaren! Die keineswegs kritiklos von Ärzten und vielen Interessenten aufgenommene Darstellung der Sterbeproblematik und eine Vielzahl daraus resultierender Erwiderungen, Bestätigungen und Ablehnungen sorgte für eine schnelle Verbreitung. In der DDR sind in den letzten Jahren gleichfalls wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Aufsätze und Bücher über diese Thematik erschienen. H A H N und THOM legten in ihrer Veröffentlichung „Sinnvolle Lebensbewahrung — humanes Sterben" unsere philosophisch-medizinische Position zu dieser Problematik fest. B L U M E N T H A L - B A R B Y erzielte mit seinem Buch „Betreuung Sterbender" eine große Resonanz bei Ärzten sowie allen Mitarbeitern, die sich mit schwerkranken Patienten und Sterbenden tagtäglich be24

fassen müssen. Gleichzeitig erschienen eine Fülle von anspruchsvollen belletristischen Beiträgen, die von den bekannten Autoren Christa WOLF, Maxie W A N D E R U. a. stammen. Die Reihe läßt sich im deutschsprachigen Schrifttum mit dem Österreicher Thomas BERNHARD „Der Atem" und mit dem Schweizer W . M. DIGGELMANN weiter fortsetzen. Jeder dieser Autoren hat das Phänomen Sterben und Tod mit viel Sensibilität dargestellt und einen großen Leserkreis gefunden. Hervorzuheben ist besonders das Buch von dem Schweizer Schriftsteller Walter Matthias DIGGELMANN „Schatten, Tagebuch einer Krankheit", — eine Autobiographie seiner Krebserkrankung. Er beschreibt, ohne zu klagen, sehr realistisch das aussichtslose Wettrennen mit dem Sterben, selbst dann noch, als es sich längst gegen ihn entschieden hat. DIGGELMANN kämpft gegen die Todesangst, gegen seine Zweifel. Schließlich ist er in der Lage, das Unabwendbare anzunehmen, von dem er weiß, daß Spuren bleiben werden, die es sinnvoll machen. Dagegen verläuft in Christa W O L F S Roman „Nachdenken über Christa T.", in dem sie über das Leben und Sterben ihrer Freundin schreibt, das Sterben anders. Ähnlich wie in Simone DE BEAVOIRS Roman „Ein sanfter Tod" (1965), in dem sich die Tochter um die Mutter bemüht und sie in dem Glauben beläßt, daß ihre Krankheit heilbar ist, wird auch bei Christa T. das Sterben zum Problem. Der Sterbenden wird nicht die Möglichkeit gegeben, den entsprechenden Rat und die Hilfe von den Lebenden zu erfahren, da sie selbst nicht vorbereitet sind. Aus diesen wenigen Beispielen sollten Eindrücke gewonnen werden, wie die Problematik des Sterbens und des Todes in der Literatur zunehmend die Menschen erreicht. Zielstrebig nahm die Wissenschaft die Herausforderung an, und es entstanden neue Wissenschaftsdisziplinen, wie die Reanimatologie und die Thanatologie (Thanatos war in der griechischen Mythologie der Tod, daraus leitet sich der Begriff = Sterbeforschung ab). Beide Grenzgebiete befassen sich mit der anspruchsvollen Aufgabe, die pathophysiologischen Gesetzmäßigkeiten des Sterbens und des Todes weiter zu erforschen. 25

Wir verfügen gegenwärtig bereits - über wichtige neue Erkenntnisse und Erfahrungen, die den Arzt in die Lage versetzen, unter definierten Bedingungen das begonnene Sterben eines Patienten aufzuhalten und rückgängig zu machen, somit das Leben dieses Menschen zu erhalten. Das Sterben und der Tod sind auf der Grundlage wissenschaftlich begründeter Möglichkeiten pharmakologisch und mit Hilfe der medizinischen Technik manipulierbar geworden. Somit haben etwa seit der Mitte unseres Jahrhunderts bisher gültige Zeichen des beginnenden Sterbens, wie der Stillstand von Atmung und Herzschlag oder die länger anhaltende Bewußtlosigkeit mit Areflexie, unter bestimmten Bedingungen ihre bisherige Bedeutung und Unabwendbarkeit verloren. Sie sind unter definierten klinischen Symptomen zu wichtigen diagnostischen und prognostischen Kriterien einer möglichen lebenserhaltenden Therapie geworden. So mußten der Tod und das Sterben neu definiert werden. W. A. NEGOWSKI bezeichnete Anfang der 80er Jahre den Tod als „... eine kurzzeitige Erscheinung als auch einen zeitlich ausgedehnten Prozeß. Er ist — um B e g r i f f e der Philosophie zu gebrauchen — Sprung und Kontinuität zugleich. Zwischen Leben und Tod liegt eine bestimmte Zeitspanne, da das Leben bereits zu Ende, der Tod aber noch nicht eingetreten ist." NEGOWSKI bezieht sich mit der „bestimmten Zeitspanne" auf den prozeßhaften Ablauf des Sterbens, in dem das „Leben" bereits erloschen ist, da das Bewußtsein fehlt, die Atmung und die Herzkreislauffunktion sistieren und keine cerebralen Reflexe mehr auslösbar sind. Der gegenwärtige Wissensstand und die klinischen Erfahrungen konnten diesen gesetzmäßigen biologischen Ablauf weiter präzisieren. Das Sterben gilt nunmehr als die letzte Phase des Lebens und gehört somit in den Bewahrungsauftrag des Arztes. Da der Tod, wie NEGOWSKI definiert, „ ... noch nicht eingetreten ist", besteht in diesem Grenzbereich zwischen Leben und Tod unter bestimmten Bedingungen noch die Möglichkeit der Abwendung des zu erwartenden Todes mit dem Ziel, den Sterbevorgang aufzuhalten und rückgängig zu machen (W. NEGOWSKI, 1983). So sind das Sterben und der Tod unter den Bedingungen 26

der Reanimation, der Intensivmedizin und Thanatologie in eine neue Dimension ärztlichen Handelns getreten. Das Sterben und der Tod sind damit ein zwar generell nicht verhinderbares aber unter bestimmten Bedingungen zu einem in immer größerem Maße beeinflußbaren Ereignis geworden.

2.2.

Das Sterben aus medizinischer Sicht Untersuchungen zum Beginn des menschlichen Lebens und des Sterbens sind in den letzten Jahrzehnten zu einer verantwortungsvollen Forschungskonzeption der Naturwissenschaften und der Medizin geworden. Das Neue in diesem anspruchsvollen Vorhaben liegt darin begründet, daß neben der Analyse des Abschlusses biologischer Entwicklungsprozesse auch deren prozeßhafter Ablauf bis zu diesem Stadium wissenschaftlich untersucht wird. Das immer tiefere Eindringen in die physiologischen und pathophysiologischen Gesetzmäßigkeiten der Geburt, des Sterbens und des Todes inspirierten zu einem weiteren kühneren Vordringen in die noch unbekannten biologischen Gesetzmäßigkeiten, die den Beginn menschlichen Lebens und dessen Ende einleiten. Traditionelle Grenzen ärztlichen Handelns sind nicht nur transparenter, sondern sogar verschiebbar geworden. Sie haben große Erwartungen und Hoffnungen, aber auch Unsicherheit und Zweifel nicht nur bei Ärzten sondern gleichermaßen bei vielen Menschen ausgelöst. Die Geburt und der Tod sind für jeden Menschen eigentlich die faszinierenden großen Ereignisse in einer absoluten Einmaligkeit für sein Leben. Doch kein Mensch wird jemals den Beginn oder das Ende seines Lebens „bewußt erleben". Er ist anwesend in Abwesenheit, wie es L A N D S B E R G ( 1 9 7 3 ) einst treffend formulierte. Der Mensch kann lediglich den Vorgang der Geburt oder den des Sterbens und des Todes eines anderen Menschen beobachten, miterleben und daraus Vorstellungen und Zusammenhänge ableiten, um auf dieser Grundlage eine eigene Beziehung und Haltung begründen 27

zu können (Claude B R U A I R E , 1982). Wie die Geburt und sogar die ersten Jahre des Lebens für jeden Menschen lediglich aus Berichten der Eltern und Familienangehörigen sowie aus Bildern verständlich und erlebbar gemacht werden können, bleibt auch der Tod sein Geheimnis, über das er selbst niemals zu berichten vermag. Neue wissenschaftliche Untersuchungen und zunehmende klinische Erfahrungen der letzten Jahre bestätigen die viel verbreitete Annahme, daß der Beginn des Sterbens von dem Betroffenen in irgendeiner Weise geahnt oder verspürt wird. Es ist eine — vielleicht sogar vorprogrammierte — Vorahnung, die Unsicherheit und Erwartung gleichermaßen auslöst. Es muß eine Art Grübeln über das unbekannte Kommende sein, das bald in einen erlösenden Schlaf übergeht. Doch bereits dieser beginnende Schlaf wird genauso wenig bewußt, wie jeder abendliche Schlaf im Leben, auf den man oft verzweifelt wartet, jedoch niemals bewußt wahrnimmt, wenn er eintritt. So simpel diese Erklärung auch erscheinen mag, sie enthält wichtige Grundzüge für weitere Untersuchungen und Betrachtungen.

2.3. Die Definition des Sterbens Die Definition des beginnenden Sterbens oder des beginnenden oder bereits schon begonnenen Todes und die Unterscheidung beider prozeßhafter Abläufe sind nach klinischen Symptomen ein schwieriges Unterfangen. Die klinische Diagnostik des funktionellen Ausfalls einer vitalen Funktion und die damit notwendige Entscheidung des Arztes bezüglich seines weiteren Handelns sind nur im Zusammenhang mit der Anamnese des Patienten, der bestehenden Erkrankung, der momentanen Therapie und der Prognose bedeutsam. Nach JACOB ( 1 9 8 2 ) entzieht sich der so häufig gebrauchte Begriff des Sterbens einer genauen Definition, wie sie in der Medizin sonst üblich ist. Man könnte zwar allgemein von e'ner Übergangsphase vom Leben zum Tod sprechen, aber schon die Feststellung des Beginns und das Ende des

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Sterbens lassen mehrere Betrachtungsweisen zu. Der Autor kommt zu der Ansicht, daß der Bezug auf die Wahrnehmung durch den Sterbenden sehr wesentlich die Schwierigkeiten einer Definition des Beginns der Sterbephase erleichtert. Die klinisch-biologisch orientierte Definition geht davon aus, daß das Sterben erst mit dem Aufhören lebenswichtiger Funktionsabläufe des Organismus beginnt. In den „Richtlinien für die Sterbehilfe" der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (1976) heißt es: „Ein Sterbender ist ein Kranker oder Verletzter, bei dem der Ar^t auf Grund einer Reihe klinischer Zeichen s>ur Überzeugung kommt, daß die Krankheit irreversibel oder die traumatische Schädigung injaust verläuft und der Tod in kurzer Zeit eintreten wird. In solchen Fällen kann der Ar%t auf weitere, technisch eventuell noch mögliche Maßnahmen vernichten." Der Kommentar dazu sagt aus, daß der von einer tödlichen Krankheit oder von. einer lebensgefährlichen äußeren Gewalteinwirkung betroffene Mensch nicht notwendigerweise ein Sterbender ist. Er ist ein in Todesgefahr schwebender Mensch, und es versteht sich von selbst, daß stets die Lebenserhaltung und wenn möglich die Heilung anzustreben sind. In solchen Fällen hat der Arzt diejenigen Hilfsmittel einzusetzen, die ihm zur Verfügung stehen und geboten erscheinen. 2.4. Das prozeßhafte Sterben eines vitalen Organs Was ist das eigentlich, das Sterben? Wann und wie beginnt es? Unter welchen Voraussetzungen ist es noch aufhaltbar und rückgängig zu machen, also reversibel? Welche Symptome reflektieren die Irreversibilität dieses Vorgangs, so daß der Tod unvermeidbar wird und jede aggressive Therapie nur noch in sinnloser Weise das Sterben verlängert? Viele Jahrhunderte existierte die Vorstellung, der Tod nehme während des Sterbens seinen Einzug in den Organismus, in den Körper des moriturus durch 4 Atrien: Hirn, Herz, Lunge und Blut (W. DOERR, 1978). Diese 4 Atrien 29

haben ihre ursprüngliche Bedeutung behalten, ihre Funktionen werden heute als vitale bezeichnet, und eine entsprechende funktionelle oder morphologische Störung kann die Sterbephase einleiten. Der menschliche Organismus verfügt über 5 vitale Funktionen: das Zentralnervensystem, das Herzkreislaufsystem, die Lunge, den Metabolismus (Leber, Nieren, Pankreas, Milz, Gastrointestinaltrakt) und die Temperaturregulation. Seit einigen Jahren wird zunehmend eine 6. Funktion mit einbezogen, die als Vitalfunktion mit der Bezeichnung „menschliche Seele" umschrieben wird. Sie repräsentiert die psychosomatische Funktion des Menschen, die bisher in ihrer Bedeutung verkannt wurde. Jedes dieser Organe oder Organsysteme können bei einer fortschreitenden Insuffizienz den prozeßhaften Ablauf des Sterbens einleiten. Die Folgen des funktionellen Ausfalls des einen Organs bedingen in unterschiedlicher Weise die Beeinträchtigung der anderen und stören zunehmend die Homoiostase. Als häufigste Ursache kommt es z. B. infolge eines Herzinfarktes oder einer entsprechenden kardialen Störung zu einer zunehmenden Insuffizienz der Pumpleistung des Herzens. Sie führt zu einer Beeinflussung der Durchblutung des Gehirns und der Lunge sowie des Herzens selbst und schränkt seine Funktion ein. Unmittelbar mit dem Nachlassen der Pumpleistung des Herzens setzen Kompensationsmöglichkeiten ein. Zum Beispiel gleicht die Lunge durch eine Hyperventilation die zunehmende Hypoxämie und Hypercarbie aus. Die infarktbedingte Herzinsuffizienz führt zu einer weiteren Verminderung der Myokarddurchblutung mit allen daraus resultierenden metabolischen Folgen. Sie belasten den Energiehaushalt und reduzieren weiter die Leistung. Entsprechend dem Ausmaß der verminderten Perfusionsleistung des Herzens und der damit eintretenden Schocksymptomatik kommt es zu einer Minderperfusion des Gehirns sobald die Autoregulation dieses Organs nicht mehr wirksam werden kann.

Diese genannten pathophysiologischen Vorgänge verlaufen nach eigenen Gesetzmäßigkeiten. Grundsätzlich werden bei jeder Verminderung des Herzzeitvolumens entsprechende Regelmechanismen ausgelöst, die als Notfallregulation ein Kompensationsprogramm wirksam werden lassen. Es ist 30

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Funktionskreise mit Vitalfunktionen (Heidelberger Taschenbücher, AHNEFELD: Sekunden entscheiden. Notfallmedizinische Sofortmaßnahmen. 2., neubearb. u. erw. Aufl. 1981, Springer Verlag, Berlin-West)

die Schocksymptomatik, die nunmehr nach einem eigenen pathophysiologischen Programm abläuft. Am Beispiel des Funktionszustandes der Niere soll diese sinnvolle Regulationsmöglichkeit verdeutlicht werden. Jeder Blut- oder Volumenverlust oder jede kardial bedingte Verminderung des Herzzeitvolumens lösen nach einer limitierten Zeit kompensatorisch eine Kreislaufzentralisation aus. Mit dieser Umverteilung oder besser Konzentration der noch vorhandenen Blutmenge in die Funktionsbereiche der lebenswichtigen Organe — Gehirn, Herz, Lunge und Leber — können diese Organe noch eine weitere Zeit ihre Funktion aufrechterhalten. Bleibt in dieser Zeit eine unterstützende Therapie aus, bricht diese Notfallregulation je nach Ausmaß der Ursache und der Schwere des Zustandes bald zusammen. Es kommt zur Dekompensation des Schocks, die zum Exitus letalis führt. Der Gastrointestinaltrakt und die Nieren liegen nicht in dem zentralisierten Anteil der veränderten Hämodynamik, da ihre Funktion in dieser lebensbedrohlichen Situation

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nicht von Bedeutung ist. Der Funktionsstoffwechsel dieser Organe wird weitgehend gedrosselt ohne daß dadurch die Gefahr einer morphologischen Schädigung besteht. Dieser Sicherheitsmechanismus ist für alle vitalen Organe im Prinzip einheitlich programmiert und beruht auf folgendem Prinzip: Jedes Organ verfügt über einen Erhaltungs- und einen Funktionsstoffwechsel. Der Erhaltungsstoffwechsel verläuft weitgehend autonom und sorgt für die Lebens- und Regenerationsfähigkeit des Organs. Dagegen ist der Funktionsstoffwechsel als eigentlicher Leistungsstoffwechsel des Organs wesentlich von dem Erhaltungs- oder Grundstoffwechsel abhängig. Seine Steuerung erfolgt maßgeblich über die aktuelle Perfusionsrate und den Blutdruck, die wiederum über das Zentralnervensystem und das Herz gesteuert werden. Eine erforderliche höhere Leistung wird in erster Linie durch eine größere Perfusionsrate erzielt. Sobald es zu einer eingeschränkten Perfusionsrate, z. B. auf Grund einer Schocksymptomatik kommt, wird z. B. bei der Niere zunächst der Funktionsstoffwechsel gedrosselt. Dies kann zum völligen Versagen der Funktion führen. Der nunmehr eingetretene Zustand wird mit der klinischen Diagnose „Niere im Schock" charakterisiert. Das heißt konkret, der Funktionsstoffwechsel sistiert, und damit ist jegliche Filtrations- und Resorptionsleistung der Niere erloschen. Als klinische Symptomatik entsteht eine Oligurie, die bald in eine Anurie übergeht. Dieser pathophysiologische Zustand ist noch reversibel und könnte auch mit dem „klinischen Tod" der Niere gleichgesetzt werden. Der Erhaltungsstoffwechsel der Niere bleibt auf Grund einer veränderten Regelung der Perfusion noch voll erhalten. Erfolgt in dieser Phase, in der Kompensationsphase des Schocks, keine entsprechende Therapie, d. h. bleibt in diesem konkreten Fall eine unterstützende Therapie durch Volumenzufuhr und kreislaufstützende Maßnahmen aus, kommt es schließlich auch zur Einschränkung des Erhaltungsstoffwechsels der Niere. Damit verliert dieses Organ seine Vitalitäts- und Regenerationsleistung, und es kommt zur Nekrose der Zellstruktur. Dieser Zustand führt zu einer völligen Zerstörung des Nierenparenchyms und wird klinisch mit der

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Diagnose „Schockniere" bezeichnet, die wiederum mit dem Begriff „biologischer Tod der Niere" identisch ist. Anhand dieser Schilderung der Pathophysiologie des prozeßhaften „Sterbens" eines vitalen Organs läßt sich der komplizierte Ablauf dieses Vorgangs bis zum Organtod verständlich machen. Es soll ein Versuch sein, vom Detail, d. h. von einem vitalen Organ auf das Ganze, auf den T o d des Organismus, zu schließen. Nach den gleichen pathophysiologischen Gesetzmäßigkeiten verläuft das funktionelle und morphologische Sterben des Gehirns. Die auf Sauerstoffmangel sehr empfindlich reagierenden Hirnzellen, besonders des Cortex, stellen ihren Funktionsstoffwechsel nach einem Durchblutungsstopp bereits innerhalb weniger Sekunden ein. Es bricht bei einem Herzstillstand oder bei einer extremen Minderperfusion des Gehirns nach kurzer Zeit der Funktionsstoffwechsel des Gehirns zusammen, und es kommt zur Bewußtlosigkeit des Betroffenen (klinischer Tod des Gehirns). Der Erhaltungsstoffwechsel wird davon zunächst nicht beeinflußt. Der Metabolismus der Hirnzellen läuft normal weiter und erhält die Vitalität der Zellen. In der Folgezeit werden die Sauerstoff- und Energiereserven des in den Kapillaren sistierenden Blutes verbraucht. Nach spätestens 5 Minuten ist diese Möglichkeit erschöpft, und es beginnt eine zunehmende Nekrose der einzelnen Zellverbände, die irreversible Zerstörung der Zellstruktur (biologischer Tod des Gehirns). Dieser Vorgang ist nach etwa 7 Minuten so weit fortgeschritten, daß der totale Tod des Gehirns nicht mehr aufhaltbar ist. Gelingt in dieser Phase noch eine Reanimation, muß mit einem erheblichen irreversiblen Ausfall cerebraler Funktionen gerechnet werden. Auch das Herz als vitales Organ unterliegt diesem prozeßhaften Ablauf. Eine Minderdurchblutung des Herzens führt zunächst zu funktionellen Störungen in der Perfusion und der Erzeugung des Drucks. Sie werden klinisch als Rhythmusstörungen oder abnehmende Auswurfleistung (low Output) wirksam. Hält dieser Zustand über eine definierte Zeit an, da eine entsprechende Therapie ausbleibt, sistiert der Funktionsstoffwechsel des Herzens, und es kommt zum

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Herzstillstand. Dieser pathophysiologische Zustand kann unter bestimmten Kriterien reversibel sein, vorausgesetzt, daß zeit- und situationsgerechte wirksame Reanimationsmaßnahmen eingeleitet werden. Bleibt diese Therapie aus, wird im Laufe einer limitierten Zeit, die als Wiederbelebungszeit bezeichnet wird, auch der Erhaltungsstoffwechsel betroffen und es kommt zu einer irreversiblen Zerstörung der Zellstruktur des Herzens. Schließlich verläuft nach dem gleichen Muster der reversible, später irreversible Ausfall der Leber. Der Funktionszustand der Leber läßt sich auf Grund der enormen Vielfalt ihres Leistungsvermögens schon frühzeitig mit sehr sensiblen diagnostischen Methoden erfassen. Ihre beiden wichtigen Funktionsbereiche — Synthese und Konjugation — erlauben eine recht präzise Diagnostik über ihr nachlassendes Leistungsvermögen. Als Folge einer Schocksymptomatik wird zuerst die Syntheseleistung eingeschränkt, später aufgehoben. Als diagnostische Parameter kann die nachlassende Syntheseleistung der Gerinnungsfaktoren labormäßig nachgewiesen werden. Erst dann folgt die Störung im Konjugationsbereich, die schließlich den Zusammenbruch der Leberfunktion (hepatisches Koma) einleitet. Sobald die Synthese- und Konjugationsleistung sistieren, ist der Funktionsstoffwechsel reversibel ausgefallen. Dagegen bleibt der Erhaltungsstoffwechsel, auch Basisstoffwechsel genannt, suffizient. Erst wenn die mangelnde Perfusion unverändert anhält, wird der Erhaltungsstoffwechsel von der Minderdurchblutung betroffen. Damit beginnt die Zerstörung der Zellen des Leberparenchyms. Die vitalen Organe — Lunge, Leber und Niere — verfügen über eine enorme Regenerationsfähigkeit. Die Leber ist z. B. bis zu einem Ausfall von etwa 80% ihrer Struktur noch in der Lage, annähernd physiologische Leistungen zu erzielen. Sie verfügt über eine enorme physiologische Reserve. Erst wenn diese zerstört ist, wird die nun noch funktionsfähige biologische Reserve, also der restliche Anteil von 20%, von der Nekrose betroffen. Damit treten alle Symptome eines manifesten K o m a hepaticum auf, und es kommt zum totalen Ausfall, zum irreversiblen T o d der Leber.

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Die klinische Symptomatik wird also wesentlich von der physiologischen Reserve eines Organs bestimmt. Sie kann lange Zeit kompensatorisch einen normalen Stoffwechsel aufrechterhalten, so daß die immer weitergreifende Zellnekrose längere Zeit klinisch unauffällig bleibt. Dieser prozeßhafte Ablauf ist für die Diagnostik, Therapie und Prognostik von großer Bedeutung und nimmt besonders in Grenzbereichen zwischen Sterben und Tod einen wichtigen Stellenwert ein. Aus den zunächst vereinfacht dargestellten pathophysiologischen Vorgängen ist ein einheitliches Paradigma des programmierten Sterbens eines vitalen Organs erkennbar, das in seinen Grundzügen für den Sterbeprozeß des gesamten Organismus zutrifft. Jedoch verläuft dieser Vorgang viel differenzierter, da die Autonomie der vitalen Organe, ihre Integration in den Ablauf des Metabolismus und ihr ständiges Zusammenwirken nach physiologischen Gesetzmäßigkeiten ablaufen, die das Leben überhaupt gewährleisten. Die Physiologie und Pathophysiologie des Zusammenwirkens der Organe beruhen generell auf einem förderalistischen Prinzip, dem sich die autonomen Organe und Organsysteme entsprechend des zentral vorgegebenen Programms unterordnen. Dieses förderalistische Prinzip wird jedoch aufgehoben, sobald Störungen auftreten, die mit Hilfe körpereigener Kompensationsmöglichkeiten nicht mehr ausgeglichen werden können. Es sind meist lebensbedrohliche Erkrankungen oder Traumata, die den Organismus in seiner Funktion und Integration erheblich stören und belasten. An die Stelle des physiologischen Programms tritt nunmehr ein Notfallprogramm, das nur auf das Überleben des Organismus gerichtet ist. Dieses Ersatzprogramm wird von einer „physiologischen Hierarchie" der vitalen Organe bestimmt. Es hat das Ziel, die Autonomie bestimmter Organe und ihr Leistungsvermögen als einen potenten Faktor für die Überwindung der Lebensgefahr zu nutzen (z. B. Schocksymptomatik). Das Herz, die Lunge und das Gehirn sind jene vitalen Organe, die den obersten Platz in der Hierarchie einnehmen. Sie sind eigentlich in ihrer Wertigkeit gleich, da sie sich gegenseitig bedingen. Der Ausfall des einen Organs führt

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nach einer kurzen Zeit zum Ausfall der beiden anderen. Sie können deshalb das Überleben des Organismus nur dann erzielen, wenn sie nach einem gemeinsamen Programm ihre spezifischen Leistungen wirksam werden lassen. Das profunde Verständnis für die spezifische Pathophysiologie des Sterbens eines Teils des Organismus, in diesem Fall eines Organs, und der Gesamtheit, also des Organismus selbst, bilden die Grundlagen für die sensible Diagnostik, Therapie und Prognostik im Grenzbereich zwischen Sterben und Tod. Das ist ein schwieriger Entscheidungsprozeß, der komplizierte Fragen aufwirft, wie: die Indikation einer Reanimation oder den Entschluß zu einer risikoreichen Operation, um die bedrohliche Lebensgefahr abzuwenden. Die Entscheidung kann aber sogar die Einstellung einer lebenserhaltenden Therapie beinhalten, wenn sich herausgestellt hat, daß das begonnene Sterben nicht mehr aufhaltbar ist und jede Fortsetzung der Behandlung eine sinnlose Verlängerung dieses Vorgangs bedeutet. 2.5. Der Arzt und der sterbende Mensch Sterben ist ein individuelles Ereignis des Lebens, das jeder Mensch eines Tages als Person und als Persönlichkeit annehmen muß. Er erlebt es auf seine intime Weise, verkraftet oder erduldet es und setzt sich in unterschiedlicher Art damit auseinander. Sterben ist aber nicht nur ein individuelles sondern gleichzeitig ein soziales, also gesellschaftliches, zwischenmenschliches Geschehen, da es differenziert die Beziehungen der Menschen zueinander unmittelbar betrifft. Die Bezugsperson des Sterbenden: der Arzt, die Schwester und die nächsten Angehörigen, darüber hinaus aber auch der Ort des Sterbens, das Alter des Sterbenden, seine Krankheit und seine innere Einstellung, also seine Haltung zum Sterben, sind wesentliche Begleitumstände, die jene letzten Stunden des Sterbenden beeinflussen. Ärztliches Handeln soll menschliches Leben bewahren und erhalten sowie Schmerzen und Qualen lindern. Im neu

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entstandenen Grenzbereich zwischen Sterben und Tod hat der Arzt häufiger zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten abzuwägen. Angesichts des kurz bevorstehenden Todes eines Patienten kann eine Lebensverlängerung um jeden Preis nicht prinzipiell das Ziel ärztlichen Handelns sein. Bei dieser Entscheidungsfindung müssen neben fachlichen Kriterien und Erfahrungswerten gleichfalls ethische Normen hinzugezogen werden, um eine adäquate Entscheidung im konkreten Fall treffen zu können. Obwohl in den letzten Jahren erfreulicherweise der offene Dialog über das Sterben immer mehr Menschen erreichte, überwiegt gegenwärtig noch immer die Berichterstattung über den Sterbenden. Doch der eigentliche Dialog mit dem Sterbenden, auf den der Sterbende nicht verzichten will und der Arzt nicht verzichten sollte, eigentlich nicht verzichten darf, beginnt sich nur mühsam durchzusetzen. Die Gründe für dieses Phänomen sind derart vielschichtig und tiefgreifend — aber auch anspruchsvoll, wenn man sie zu analysieren versucht. Diese Problematik ist inzwischen zu einer Herausforderung für den Arzt geworden. Der Versuch einer Klärung vom Standpunkt des klinisch tätigen Arztes muß bei dem eigentlichen Subjekt und Objekt als wissenschaftlicher Gegenstand, dem Sterbenden als Patient, beginnen. Jeder Arzt behandelt in der ihm vergönnten Zeit seines Lebens Tausende von Menschen. Er erwirbt ihr Vertrauen, befreit sie von ihren Schmerzen, heilt ihre Leiden und bewahrt oder verlängert ihr Leben. Bleibt trotz alledem der erwartete Erfolg aus, obwohl er sein ganzes Wissen und Können, seine Erfahrung und seine Persönlichkeit eingesetzt hat, wird ihm bewußt, daß auch das ärztliche Handeln seine Grenzen hat. Es sind Grenzen, die von dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand aber auch von seinem Können festgelegt werden und die er kennen und anerkennen muß. Der junge, meist noch unerfahrene Arzt, sieht häufig in dem unvermeidbaren Tod seines Patienten eine persönliche Niederlage, ein Versagen, das mit einem Schuldgefühl einhergeht. Es stimmt ihn lange Zeit nachdenklich und macht ihn unsicher. Das obligatorische Gespräch mit den nächsten Angehörigen, in dem die Mitteilung über den

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eingetretenen Tod des Patienten erfolgen soll, wird von diesen Eindrücken getragen. Es enthält erfahrungsgemäß die klischeehafte Aufzählung, was alles für den Patienten getan wurde und daß trotz ... (jetzt folgt in der Regel ein nicht endender Katalog von bewährten Behandlungsmethoden) der Tod bedauerlicher Weise eingetreten ist. — Doch auch erfahrene Ärzte bemühen sich selten um eine konkrete und verständliche Darstellung der tatsächlichen Ursachen des eingetretenen Todes. Im Grunde genommen hat die Mitteilung des eingetretenen Todes fast immer den Anschein eines Schuldbekenntnisses, als hätte der Arzt versagt, obwohl doch jeder Arzt weiß, daß irgendwann eine Krankheit trotz moderner Behandlungsmethoden ihren gesetzmäßigen Lauf nimmt. Jeder Mensch weiß, daß sein Leben mit dem Tod abschließt. Er weiß gleichfalls von der Unheilbarkeit verschiedener schwerer Krankheiten und warum der Arzt in diesen Situationen oft nur noch in der Lage ist, lediglich das Sterben für einige Wochen oder Monate hinauszuschieben und dabei gleichzeitig die Leiden zu lindern. Warum sollte deshalb diese unabdingbare Wahrheit mit einem fragwürdigen Alibi verdeckt werden? Über diese Problematik wird nur wenig wissenschaftlich polemisiert und selbst anläßlich von Kongressen wird man nur vereinzelt entsprechende Themen finden. Auf diesem Gebiet scheinen noch sehr viel Unsicherheit und viele Zweifel vorhanden zu sein, so daß diese Problematik bewußt als unsichtbarer Schatten der Erfolgsmeldungen aus der modernen Medizin zurückgedrängt wird. Wovon müssen wir ausgehen? Das Sterben eines Patienten ist der letzte Abschnitt seines Lebens und dieses endende Leben gehört uneingeschränkt in den Bewahrungsauftrag, also in die Pflicht des Arztes. Die Behandlung und Betreuung der Sterbenden sind zweifellos die verantwortungsvollsten und schwierigsten Aufgaben des Arztes. Es gibt eigentlich kaum eine physisch und psychisch anspruchsvollere und trotz alledem dankbarere ärztliche Aufgabe und Herausforderung, als die humanitäre Betreuung Sterbender. — Wer Sterbende behandeln und betreuen will, muß eine 38

Haltung zu sich selbst und eine Einstellung zum eigenen Tod haben (JACOB, 1 9 8 2 ) . An dieser grundlegenden Voraussetzung kommt kein Arzt vorbei, wenn er über den Sterbenden und mit dem Sterbenden sprechen will. Erst dann helfen zunehmend gewonnene Erfahrungen, um tiefer in die gesamte Problematik eindringen zu können. Ein Arzt muß wissen: Was geht in einem Sterbenden vor? Wann ahnt oder spürt er die ersten Symptome des nun offenbar unwiderruflich begonnenen Sterbens? Was sind das für Symptome? Verfügt jeder Mensch über die notwendige Fähigkeit und Sensibilität, diese Symptome rechtzeitig zu erkennen und sie zu deuten? Wie lange dauert das Sterben? Wird es dabei Schmerzen und Qualen geben? Derartige Fragen und viele andere treten auf und suchen oft vergeblich nach einer zufriedenstellenden Antwort.

2.6.

Die verschiedenen Formen des Sterbens Obgleich das prozeßhafte Sterben bei jedem Menschen nach einem einheitlichen Paradigma abläuft, werden die Ursachen, die diesen Vorgang einleiten, meist zum bestimmenden Faktor für die spezifische Psychologie des Sterbens eines jeden Menschen. Jeder Versuch, das Sterben als einen einheitlichen Vorgang anzusehen, würde deshalb eine völlige Verkennung der Realität bedeuten. Prinzipiell lassen sich 3 markante Einteilungen nach ursächlichen Zusammenhängen unterscheiden. Als häufigste Ursache führt eine fortschreitende altersbedingte Funktionseinschränkung vitaler Organe, die das „physiologische Sterben" einleitet, zum Tod. Es ist der vielzitierte Alterstod, auf den die meisten Menschen hoffen, wenn sie sich mit der Endlichkeit des Lebens abgefunden haben. Zunehmend wird durch moderne Diagnostik die Polymorbidität zur Ursache der Funktionseinschränkung vitaler Organe, die das „pathophysiologische Sterben" einleitet. Beide Formen des altersbedingten Sterbens haben ihre eigene, spezifische Psychologie. 39

Die nächste Gruppe umfaßt Sterbende, bei denen eine oder mehrere vitale Funktionen auf Grund einer prognostisch infausten Krankheit allmählich versagen. Es sind Menschen der verschiedensten Altersgruppen, die meist mit der Prognose ihrer Krankheit vertraut sind und sich "mit ihr psychisch identifizieren. Das akute Versagen einer oder mehrerer vitaler Funktionen bei uneingeschränkter Gesundheit charakterisiert die dritte und letzte Gruppe. Dieser Zustand tritt vorwiegend nach schweren Traumata (durch Verkehrsunfall oder andere plötzliche mechanische Gewalteinwirkungen), durch Vergiftungen, direkte massive Zerstörungen von vitalen Funktionsbereichen durch Schußeinwirkungen, das Sterben durch Ertrinken oder durch Inhalation toxischer Gase ein. Bei diesen schweren Verletzungen oder lebensbedrohlichen Einwirkungen von außen kann das Sterben unmittelbar am Ort des Ereignisses eintreten, ohne daß vor dem Eintreten der Bewußtlosigkeit die sehnlich erwartete Hilfe eintritt. Deshalb kann gerade diese Form des Sterbens grausam sein. 2.6.1.

Das altersbedirigte Sterben Die meisten Menschen hoffen auf ein kurzes, schmerzfreies Sterben am Ende eines sinnerfüllten Lebens — den altersbedingten Tod. Der alte Mensch verfügt meist über die entsprechende Lebensweisheit und hat sich mit der Tatsache abgefunden, daß sein Leben langsam zu Ende geht. Er hat sein Leben vollbracht und lebt nun mit verschiedenen Altersleiden, die zunehmend seine Lebensqualität einschränken und deshalb das nahende Ende ahnen lassen. Der alte Mensch bereitet sich somit bewußt auf den letzten Abschnitt seines Lebens vor. Er spürt, daß der Alterungsprozeß rascher und spürbarer fortschreitet. Bis zu diesem Lebensalter, das von Mensch zu Mensch recht erheblichen Schwankungen unterliegt, ist der Organismus weitgehend in der Lage, die zunehmenden altersbedingten pathophysiologischen Verän-

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derungen zu kompensieren. Diese Anpassungsfähigkeit ist jedoch nicht unbegrenzt. Vermag der Organismus sie nicht mehr länger aufrechtzuerhalten, kommt es zur Dekompensation. Es ist meist ein lebenswichtiger Funktionsbereich, vorwiegend das Herzkreislaufsystem, das bei alten Menschen insuffizient wird. In unserem Lande nehmen die Hypertonie, die ischämische Herzkrankheit, zerebrovaskuläre Erkrankungen und Krankheiten der Arterien, Arteriolen und Kapillaren mit über 80% den Hauptteil der Sterbefälle ein (G. E. WIESNER, 1982). Wird diese beginnende Organinsuffizienz rechtzeitig diagnostiziert, kann sie mit Hilfe einer wirkungsvollen pharmakologischen Therapie längere Zeit kompensiert werden. Erst wenn trotz der bewährten Therapie die erforderlichen Leistungen des Vitalorgans nicht mehr aufrechterhalten werden können, kommt es erneut zu einem funktionellen Zusammenbruch, der in das Sterben überleitet. Eine altersbedingte Umwandlung der Organstrukturen bewirkt also die zunehmende Funktionseinschränkung. Sie erfaßt über das langsame Sterben eines vitalen Organs bald weitere Funktionsbereiche, um dann unaufhaltsam auf den ganzen Organismus überzugreifen. Daraus ergibt sich die berechtigte Frage, welche Lebenserwartung hat überhaupt ein Mensch. Die Grenzen des menschlichen Lebens konnten gerade in dem letzten Jahrhundert erheblich zu Gunsten eines längeren Lebens verschoben werden. Während zur Jahrhundertwende, um 1900, die mittlere Lebenserwartung der Männer bei 45, der Frauen bei 48 Jahren lag, konnten sie schon 50 Jahre später auf 64 bei Männern und 68 Jahre bei Frauen erhöht werden. Legt man für diese statistische Erhebung die letzten 100 Jahre zugrunde, ist die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung der Deutschen zwischen 1971 und 1980 bei den weiblichen Neugeborenen von 38 auf 77 Jahre und bei den männlichen von 36 auf 70 Jahre gestiegen. Der Anteil der 60jährigen und älteren Frauen erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 12 auf 24%, der Anteil der Männer von 11 auf 19% (A. W. v. E I F F , 1984). Zweifellos hat die moderne Medizin einen wesentlichen Anteil an dieser erfolgreichen Entwicklung. Die Tatsache,

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daß die wissenschaftliche Entwicklung der Medizin speziell in dem endenden letzten Jahrhundert einen enormen Fortschritt in der Erhaltung und der Verlängerung des Lebens erzielen konnte, hat große Erwartungen in der Öffentlichkeit ausgelöst. Ein nicht geringer Anteil der jetzt lebenden Generation neigt zu der kaum erfüllbaren Annahme und Hoffnung, daß die eigene Lebenserwartung vielleicht schon zwischen 80 und 100 Jahren liegen könnte — wenn die erfolgreiche Entwicklung in der Medizin weiter anhält. Zwischen 90 und 100 Jahren nähert sich das menschliche Leben seiner biologischen Schranke, die nach dem gegenwärtigen Erkenntnis stand zunächst generell nicht überschritten wird. Doch wie und wann tritt dieses unvermeidbare Sterben im fortgeschrittenen Alter auf und welchen physiologischen Gesetzmäßigkeiten folgt es? Prinzipiell tritt das physiologische Sterben dann ein, wenn das Zusammenwirken der gekoppelten biologischen Systeme nicht mehr funktioniert. Die zunehmende funktionelle Insuffizienz wird von einer Hierarchie verschiedener Prozesse b e s t i m m t ( M . LINDAUER, 1 9 8 2 ) .

Der Mensch ist, wie alle lebenden Organismen, biologischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen. Gegenwärtig wird das biologisch erreichbare Alter auf 130 Jahre geschätzt. Es hat sich in dem geschichtlich überschaubaren Zeitraum im Gegensatz zum durchschnittlichen Lebensalter in den letzten 100000 Jahren nur um 14 Jahre Zuwachs verändert (HAHN, H. P., 1979). Verschiedene Ergebnisse und Erkennt-

nisse aus der Altersforschung bestätigen die These, daß das Erreichen eines bestimmten Alters und damit das Sterben und der Tod genetisch bedingt sind. Erfreulicherweise ist das Interesse an dem Phänomen Biologie und Physiologie des Alterns in den letzten Jahren wieder deutlich gewachsen. Wesentliche Impulse gingen von neuen Forschungsergebnissen der Reanimatologie und Intensivmedizin aus. Das Aufhaltenkönnen des begonnenen Sterbens eines Menschen und das erfolgreiche Rückgängigmachen dieses Prozesses brachten neue Ergebnisse über morphologische und funktionelle Zusammenhänge, die bestimmte Abläufe des altersbedingten Sterbens präzisieren

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helfen. Doch von welchen biologischen Gesetzmäßigkeiten wird der Prozeß des Alterns bestimmt und zu welchem Zeitpunkt wird das unabdingbare Sterben eingeleitet? Der namhafte Gerontologe M. BÜRGER definierte 1960: „Altern ist jede irreversible Veränderung der Substan% als Funktion der Zeit". BÜRGER sah in den zunehmenden Störungen der Kapillarpermeabilität eine wesentliche Ursache für den Prozeß des Alterns. H. SELYE (1962) bezeichnete die Summe aller Abnutzungserscheinungen, die ein Individuum im Laufe seines Lebens erfährt, als physiologische Kriterien des Alterns. In der Änderung der Viskosität der Grundsubstanz und der Struktur der Makromoleküle (zelluläre und molekulare Basis) vermuten G. SCHALLOCK und F. VERZARR (1965) die Ursache des Alterns. Weitere Hypothesen lassen erkennen, wie multifaktoriell doch offenbar der gesamte Prozeß des Alterns abzulaufen scheint. So wies WARTHIN bereits 1929 auf die Zunahme autoimmuner Reaktionsabläufe als Faktor des Alterns hin. COMFORT (1979) begründet das Altern als einen Vorgang, der in enger Beziehung zur genetisch und artspezifisch festgelegten Lebensdauer steht. H. J. CURTIS (1968) bestätigt diese Ansicht und bemerkte: ,,Die genetische Komponente des Alterns sei so gut fundiert, daß sie keiner weiteren Klärung bedürfe."' — Damit wird die weit verbreitete Ansicht bestätigt: Das sicherste Mittel, ein hohes Alter zu erreichen, sei, Großeltern auszuwählen, die sehr lange gelebt haben. — Wie alle Lebewesen besitzt auch der Mensch ein genetisches Programm für den Ablauf und für die Dauer des Lebens bis zum Sterben und zum Tod. Genau wie die Zeit der Entwicklung, also die verschiedenen Etappen des Wachstums bis zu seinem Abschluß oder der Beginn der Pupertät physiologisch determiniert sind, muß auch ein Programm existieren, in dem die Abläufe im Greisenalter bis zum Sterben festgelegt sind. Es wäre somit nicht gerechtfertigt, das Greisenalter nur auf pathologische Ursachen zurückzuführen. Die veränderten klinischen und labormäßig erfaßbaren typischen Abweichungen des alten Menschen von sogenannten Normalwerten sind physiologische Daten

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seines Alters. Auch das Neugeborene und der Säugling haben ihre spezifischen Parameter, die offenbar für dieses Lebensalter spezifisch sind. Nach SACHER (1965) kennzeichnen Fehlleistungen der hormonellen Störungen und der damit eintretende Zusammenbruch der Homöostase den physiologischen Tod. L I N D A U E R warf 1982 die berechtigte Frage auf, ob es den physiologischen „normalen" Tod wirklich gibt. Er begründet diese Zweifel damit, daß die Anpassungsfähigkeit des Menschen an wechselnde Umweltbedingungen mit zunehmendem Alter abnimmt. Dies führe zu vielerlei Krankheiten, die letztlich das Sterben einleiten. L I N D A U E R resümiert: „ Jeder Ar%t weiß, daß die allermeisten Menschen nicht an „normalen" Processen der Altersschwäche sterben, sondern an Krankheiten, für die der Organismus mit zunehmendem Alter immer anfälliger wird. Die Frage bleibt vorerst o f f e n , ob der Tod durch altersbedingte Krankheit für die Menschen die natürliche Entwicklung bedeutet und ob in der gesamten übrigen Tierwelt der echte physiologische Tod durch Altersschwäche die Regel ist." Altern ist aber gleichzeitig ein individueller Prozeß, der von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich verläuft. Er scheint wegen seiner großen Vulnerabilität von Umweltbedingungen besonders abhängig und beeinflußbar zu sein. Für die Schaffung optimaler Umweltbedingungen, die dem alten Menschen zumindest die Alternative bieten, vital, aktiv und produktiv, also erfolgreich zu bleiben, fehlen uns noch wesentliche Erkenntnisse und Erfahrungen. Nach B A L T E S und W A H L (1945) wurden nur 39% der im Jahr 1900 Geborenen 65 Jahre alt. Das Alter als eine Lebensstufe hat für viele Menschen erst eine kurze Geschichte. 1980 werden voraussichtlich etwa 72% der Geborenen 65 Jahre- alt und älter werden. Die Autoren relativieren die Abbauhypothese, die besagt, daß die meisten biologischen Funktionen mit dem fortschreitenden Alter einem Abbau unterliegen. Sie begründen ihre Ansicht mit den Ergebnissen von Längsschnittuntersuchungen an gesunden alten Menschen. So wies die Studie von JOHN H O P K I N S aus, daß wichtige biologische Funktionen bei einem

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75jährigen genauso gut wie die eines 25jährigen und umgekehrt, die eines 25jährigen ebenso schlecht sein können, wie die eines durchschnittlich 75jährigen. Die zugrunde gelegten Vergleichsdaten beziehen sich vorwiegend auf vitale Funktionen wie z. B. die Nieren. Es besteht also durchaus eine individuelle Variabilität. Biologische Dysfunktionen können somit in jedem Alter lebensbedrohliche Zustände auslösen, die das Sterben einleiten. Sie sind nicht für den alten Menschen, sondern für jeden Menschen, bei dem das Sterben begonnen hat, die Regel. BALTES und W A H L kamen zu der wichtigen Erkenntnis, daß alte Menschen die Gruppe mit den größten Unterschiedlichkeiten darstellen. Sie verfügen über große latente Reserven und Potentiale, die wegen einer häufig behindernden, meist wenig stimulierenden und optimierenden Umwelt nicht in genügender Weise genutzt werden können. Das ist eine wichtige Erkenntnis, die nicht nur als wissenschaftliche Konzeption für die Gerontologie gesehen werden darf, sondern für die gesamte Medizin sowie andere Wissenschaftszweige, die sich mit dem Leben des Menschen befassen und auseinandersetzen. Am Schluß dieser verschiedenen Ergebnisse von Untersuchungen sowie Auffassungen zu dem Prozeß des Alterns, die keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sei noch die Ansicht von DOERR (1978) erwähnt. Nach seinen Vorstellungen ist der zweite Hauptsatz der Wärmelehre die Ursache dafür, daß uns weder ein ewiges, noch auf die Dauer störungsfreies Leben beschieden ist. Er sieht in der Entropie den Logarithmus der Wahrscheinlichkeit und damit die Zusammenhänge, daß Krankheit der wahrscheinlichere, Gesundheit der weniger wahrscheinliche Fall sind. Mit der gebotenen Zurückhaltung und Wertung kann anhand der wenigen bisher erforschten Ursachen des Alterns die Komplexität dieses Vorgangs als sicher gelten. Altern ist ein multifaktorieller Prozeß, der bei jedem Individuum nach einem genetischen Programm abläuft und zusätzlich durch die eigene Lebensweise und -qualität sowie durch Umweltfaktoren positiv oder negativ beeinflußt werden kann. In diesem Zusammenhang sei nochmals LINDAUER zitiert, der die Behauptung, ob Langlebigkeit neben der

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artspezifisch festgesetzten Norm eine intraspezifische genetische Grundlage hat, bestreitet. Er vermutet, daß die erbliche „Fitness" uns in die Lage versetzt, daß wir uns den vorteilhaften und mißlichen Ereignissen der Umwelt anzupassen vermögen. Er führt als Beispiel die erworbene Widerstandskraft gegen Krankheiten und eine stets positive Einstellung in allen Lebenslagen an, was wesentlich dazu beiträgt, mit Störfaktoren der Umwelt fertig zu werden. Doch nicht nur die Umweltfaktoren beeinflussen die Dauer unseres Lebens. Nicht wenige Menschen verkürzen ihr Leben durch eine Krankheit, die ihre Ursache in einer naturwidrigen Lebensweise hat. Durch falsche Ernährungsgewohnheiten, durch Genußmittelabusus, Medikamentenabhängigkeit und infolge einer mangelnden oder zu hohen körperlichen oder seelischen Belastung entstehen im Laufe des Lebens krankhafte Veränderungen, die im Alter manifest werden. Sie werden als Zivilisationskrankheiten bezeichnet, die wesentlich langsamer verlaufen als die früher vorherrschenden Infektionskrankheiten. Ihre sehr spät auftretende klinische Symptomatik belastet oft den Sterbevorgang. Programmmäßig soll es offenbar im Organismus zu einer gleichzeitigen Abnutzung und Alterung aller Organe kommen, so daß der Vorgang des Sterbens als ein Zusammenbruch des gesamten Funktionsgefüges vitaler Organe eintritt. Es überwiegen jedoch die Insuffizienz oder der Ausfall einer spezifischen Organfunktion auf Grund erheblicher Verschleißerscheinungen als Ausdruck einer chronischen Schädigung durch eine unphysiologische jahrzehntelange Belastung. Dadurch wird der ablaufende Sterbevorgang disharmonisch und verändert auch die Psyche des Sterbenden in unterschiedlicher Weise. Deshalb sterben die meisten Menschen tatsächlich nicht an der sogenannten Altersschwäche, sondern an Krankheiten, die während des Lebens entstehen und sich im Alter als lebensbedrohlich manifestieren. Gegenwärtig stehen in der Krankheitsskala noch immer die Herzkreislauferkrankungen des alten Menschen an oberster Stelle. Verschiedene Cardiaca, Antihypertensiva, Diuretica, der künstliche Ersatz der Mitral- oder Aortenklappe, der aortokoronare Bypas oder die Implantation eines Herz46

Schrittmachers sind wirksame und erfolgreiche Therapiemaßnahmen, die längst zur Routine geworden sind. Sie können nicht nur eine Verlängerung des Lebens bewirken, sondern auch die Lebensqualität in unterschiedlichem Maße erhöhen. Mit diesen wirksamen qualitativen und quantitativen Methoden in der Fürsorge und Behandlung alter Menschen hat das Verhalten des sterbenden Patienten einen Wandel erfahren. Unverkennbar löst das zunehmende Vertrauen des alten Menschen zur modernen Medizin mit ihren fast unbegrenzten Möglichkeiten für die Bewahrung und Verlängerung des Lebens große Hoffnungen aus, daß der behandelnde Arzt für jede eintretende Krise nöch eine wirksame Therapie einleiten kann. Diese berechtigte Hoffnung motiviert den alten Menschen zunehmend zu einer stärkeren Lebensbejahung. Es ist immer wieder erstaunlich, was z. B. ein Herzschrittmacher bei einem geriatrischen Patienten an neuer Lebensqualität auszulösen vermag. Eine damit erreichbare Verbesserung der Perfusion des Gehirns sowie anderer Organe bewirken fast immer eine erhöhte Vitalität des alten Menschen. Die gestörte physiologische Integrität der Hämodynamik des Organismus, wie sie z. B. auf Grund eines AV-Blocks eintritt, kann durch einen Herzschrittmacher wieder weitgehend normalisiert werden. Der Schrittmacher funktioniert autonom und gibt seine Impulse nach einem festen Programm ab. Das funktionelle Zusammenspiel zwischen Bios und Technik stellt eine moderne Therapiemethode dar, die immer häufiger genutzt wird. Der zeitweilige Einsatz einer Herzlungenmaschine oder einer künstlichen Niere sowie die permanente Implantation einer Herzklappe sind bekannte Beispiele. Es darf dabei jedoch nicht vergessen werden, daß z. B. bei einem noch funktionstüchtigen implantierten künstlichen Herz, welches ungestört nach seinem programmierten Rhythmus die Hämodynamik des Organismus aufrechterhält, erhebliche Widersprüche auftreten können. Das künstliche Herz wird seine Funktion aufrechterhalten — auch dann noch, wenn der Mensch bereits gestorben ist. Unter „gestorben ist" versteht sich der eingetretene irre-

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Todesursachen

in

Kardiovaskuläre

den

USA 989,400

Erkrankungen

Krebs

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Unfälle

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Chronisch obstruktive Pneumonien

Anzahl der Todesfalle (in Tausenden)

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und Influenza

Andere Ursachen

Quelle:

Lungenkronkh.

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1986 Heart Facts, herausgegeben

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388,780

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400

600

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1000

von der American Heort Association,

1985

Todesursachen in den U S A (Aus: Münch, med. Wschr. 128 (1986), Nr. 7, S. 13, Artikel: Todesursachen 1986: Kardiovaskuläre Erkrankungen weiter an der Spitze)

versible Tod. Das künstliche Herz würde seine Tätigkeit erst dann einstellen, wenn es auf Grund eines mechanischen oder elektronischen Defekts stehenbleibt oder durch Menschenhand abgeschaltet wird. Wir wissen allerdings noch sehr wenig darüber, wie sich dieses biologische und technische Zusammenspiel auf den Sterbenden auswirkt, wenn seine physiologischen Lebensvorgänge irreversibel zu versagen beginnen und die Technik weiter funktioniert. Wie wirkt sich jene lebenserhaltende Therapie auf die Psychologie des Sterbenden aus, wenn sie nicht mehr indiziert ist? Wird der Betroffene nicht in grausamer Weise am Sterben gehindert, so daß ein mögliches physiologisches programmiertes Sterben nicht wirksam werden kann? Welche unphysiologischen, technisch manipulierten Phänomene können dadurch entstehen? Eine biologische Zelle kann sich jederzeit weigern, auf einen Reiz zu reagieren, um sich zu erhalten. Ein technisches Gerät dagegen arbeitet nach einem festen Programm ohne Rücksicht darauf, wie sein biologisches Erfolgsorgan diese Impulse verarbeitet. Bei anderen Patienten wird oft eine pharmakologische

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Polypragmasie unvermeidbar, wenn funktionelle Einschränkungen vitaler Organe substituiert werden müssen. Da es sich bei dieser Pharmakotherapie vorwiegend um aggressiv wirkende Medikamente handelt, kann das spezifische altersbedingte Programm der physiologischen Funktionen unter dieser Therapie in unterschiedlicher Weise manipuliert und in seinem Ablauf verändert werden. Bestimmte aggressive Pharmaka, die hin und wieder in Verkennung der Realität als ultima ratio bei einem Sterbenden verordnet werden, um eventuell doch noch für eine begrenzte Zeit das Sterben aufzuhalten, können eine ähnliche Störung des programmierten Sterbens verursachen. Sie lösen bisher unbekannte klinische und psychische Symptome aus und verunsichern den Patienten sowie den Arzt gleichermaßen. Diese Fragen sind gegenwärtig noch nicht ausreichend analysiert und beantwortet, obwohl gerade derartige Praktiken immer großzügiger in der Klinik Anwendung finden. 2.6.2. Das Sterben an einer prognostisch infausten Erkrankung Das beginnende Sterben an einer infausten Krankheit ist an kein bestimmtes Lebensalter gebunden. Schon mit der Geburt besteht in allen Lebensabschnitten eines Menschen statistisch die Möglichkeit, von einem malignen Tumor oder von einer malignen generalisierten Erkrankung befallen zu werden. Tritt die maligne Erkrankung erst im hohen Alter auf, verläuft sie erfahrungsgemäß sehr langsam und in ihrer Symptomatik weniger aggressiv. Der alte Mensch sieht in dieser Krankheit häufig die schicksalhaft begonnene letzte Phase seines Lebens, da er bald spürt, daß ihm die Kraft fehlt, mit der ihn immer stärker überwältigenden Krankheit fertig zu werden. Jene Zusammenhänge sollte der Arzt kennen, um bei der Entscheidungsfindung für die Berechtigung oder Sinnlosigkeit einer Therapie im konkreten Fall adäquat urteilen zu können. Es müssen gerade in 49

solchen Situationen die Grenzen des ärztlichen Handelns erkannt und eingehalten werden. Der zu einer Entscheidung gezwungene Arzt sollte deshalb nicht nur die Kausalität sondern auch die Finalität seines geplanten Handelns in die Entscheidung mit einbeziehen. Jenes finale Denken besagt, daß er die physische und psychische Belastbarkeit seines Patienten einzuschätzen versucht, ob er der mit der Therapie verbundenen Belastung gewachsen ist. Denn oft ist der Tod am Ende stärker als alle pharmakologischen und technischen Methoden, die nur bei einer präzise gestellten Indikation der Bewahrung des Lebens dienen. Das Auftreten einer malignen Erkrankung im Säuglingsund Kleinkindsalter löst in erster Linie bei den Eltern und Angehörigen eine schwere psychische und physische Belastung aus. Den betroffenen kleinen Patienten wird diese Problematik in ihrem Ausmaß nur selten bewußt. Meist erzielt man mit einer liebevollen menschlichen Zuwendung sowie einer angemessenen Pharmakotherapie nicht nur einen erträglichen Verlauf der Erkrankung, sondern auch ein humanes Terminalstadium, das frei von Schmerzen und Qualen allmählich in das Sterben überleitet. Ohne die Krebserkrankungen als hartes Schicksal eines Menschen in den verschiedenen Altersstufen einer Wertung unterziehen zu wollen, lehrt der klinische Alltag: Am schwersten sind Menschen in den besten Lebensjahren von diesem schrecklichen Ereignis betroffen. Es sind Menschen, die mitten im Leben stehen und plötzlich völlig unvorbereitet erfahren müssen, daß ihre geplanten Wünsche und Ziele für ihr Leben nun nicht mehr verwirklicht werden können, da ihr Leben eine unfaßbare Kürzung und Veränderung erfahren wird. Sie haben ihr Leben erst begonnen und dürfen es nicht nach ihren Vorstellungen weiterführen, eine schmerzliche, wenn nicht die schmerzlichste Erfahrung überhaupt, die ein Mensch machen muß. Die differenzierte Betrachtung dieser spezifischen Krankheitsgruppe soll die Ansicht bestärken, daß Krebskranke mit ihrem besonderen Schicksal einer einfühlsamen Behandlung bedürfen. Nur wenn der behandelnde Arzt den Krebskranken als Persönlichkeit, mit seiner Krankheit 50

und Prognose, in seiner Haltung zu seiner Krankheit und zu seinem noch verbleibenden Leben verstanden hat, d. h. jene damit für diesen Patienten entstandene neue Mentalität in der Behandlung zu nutzen versteht, kann er seiner schweren Aufgabe und seiner humanitären Pflicht gerecht werden. Während die meisten Sterbenden auf Grund ihres Alters oder ihrer fortgeschrittenen Krankheit spüren, daß ihr Leben zu Ende zu gehen scheint, beobachten wir bei Krebskranken ein anderes Verhalten. Der gesamte Vorgang des Sterbens läuft in einem Zeitlupentempo ab, so daß der Betroffene die Möglichkeit hat, sich längere Zeit mit diesem Gedanken auseinanderzusetzen. Bestimmend für die Haltung Krebskranker und für ihre Einstellung ist die Diagnose, die sie irgendwann, zunächst in der gebotenen angemessenen Form, doch bald in ihrer ganzen Härte erfahren. Bis zu dem Zeitpunkt, wo der Betroffene dieses harte Urteil erfährt, achtet er sehr aufmerksam auf die kleinen Nuancen, die aus den oft divergierenden Informationen und Gesprächen der behandelnden Ärzte, Schwestern und Angehörigen zu entnehmen sind. Sie verunsichern ihn zunächst, da er sie wegen ihrer Vielfalt nicht recht zu deuten vermag. In diesem Zusammenhang sei auf das sehr feine Gespür für seelische Präsenz, emotionale Offenheit und Zuwendung dieser Krankengruppe hingewiesen (Hj. MATTERN, 1985). Im Geiste der erwähnten Prinzipien ist es z. B. unärztlich und anmaßend, auf die Frage des Krebskranken nach seiner noch zu hoffenden Lebenschance ein zeitliches Limit von Tagen, Wochen oder Monaten anzugeben. Diesbezüglich sollte sich jeder Arzt niemals festlegen, sondern die Grenzen seiner prognostischen Fähigkeiten eingestehen. Er würde in unzumutbarer Weise die letzte verbliebene Hoffnung des Patienten zerstören. Nicht wenige Patienten haben jene vorgegebene Zeit erheblich überschritten, andere sterben schon vor dem genannten Termin, da sie dieses Zeitlimit nicht verkraften konnten — einige haben sogar ihre behandelnden Ärzte überlebt! — Dies alles weist darauf hin, daß für den Krebskranken das Sterben beginnt, sobald er die volle Aufklärung über seine Erkrankung erfahren hat. Dieser Zustand wird zunächst 51

von einer schwer verdrängbaren Angst und Hoffnungslosigkeit begleitet. Jeder Arzt sollte sich deshalb stets bewußt sein, welches Gewicht der Mitteilung einer Prognose, manchmal schon einer Diagnose, zukommen kann und wann und in welcher Form er sie dem Patienten erläutert. Die allgemeingültige Ansicht, nicht die Diagnose, sondern die Prognose sei für den Patienten der entscheidende Faktor, trifft für den Krebskranken nicht mehr generell zu. Dieser Wandel resultiert aus der weit verbreiteten Ansicht: Krebs bedeutet gleichzeitig Tod, es sei nur eine Frage der Zeit, wie lange das Sterben durch entsprechende medizinische Maßnahmen wirksam verdrängt werden kann. — Alle bisher erzielten hervorragenden Erfolge der Medizin auf diesem Gebiet, die mit Hilfe verschiedener wirksamer Therapiemethoden erzielt werden konnten, haben diese weit verbreitete Ansicht der Öffentlichkeit noch nicht korrigieren können. Das hat verschiedene Gründe. Ein Grund besteht sicher darin, daß in der Medizin gegenwärtig bevorzugt spektakuläre erfolgreiche Einzelergebnisse viel intensiver und schneller verbreitet und von der Öffentlichkeit gewertet werden als Ergebnisse, die mit einem nicht geringeren Aufwand, jedoch erst im Laufe von Monaten oder Jahren ihren Erfolg beweisen konnten. Eine geglückte Reanimation oder Herztransplantation werden weit höher gewertet als eine nicht weniger aufwendige Fünfjahresheilung eines Krebskranken, wobei für die Frage nach der „Zeit danach" des Reanimierten oder Herztransplantierten, wie seine Lebensqualität aussehen wird, selten das gleiche öffentliche Interesse besteht. 2.6.3. Das akute, krankheitsbedingte oder durch äußere Gewalt verursachte Sterben Im Gegensatz zu dem zeitlupenartig ablaufenden alters- oder krebsbedingten Sterben überwiegt bei dem gewaltsam bedingten akuten Sterben ein unphysiologisch schneller Verlauf. Das unzeitige Sterben durch äußere Gewalt oder durch den 52

akuten krankheitsbedingten Ausfall der Funktion des Herzens oder der Lunge kann ähnlich dem Sterben durch eine Krebserkrankung in jedem Lebensalter einen Menschen plötzlich betreffen. Die multifaktoriellen Ursachen, die Lokalisation und Schwere der Erkrankung oder der Verletzung, das Alter des Betroffenen sowie die Wirksamkeit der zeitund situationsgerechten Hilfe — oder ihr Ausbleiben — bestimmen in unterschiedlicher Weise den Verlauf des Sterbens. Ist die Schädigung so massiv, daß sie mit dem Leben nicht mehr vereinbar ist, beginnt das Sterben unmittelbar mit dem Ereignis. Bei dem Betroffenen tritt bereits nach wenigen Sekunden eine zunehmende Bewußtseinstrübung ein, ohne von dem eigentlichen Sterbevorgang etwas wahrzunehmen. Ist die Schwere des Schadens jedoch noch mit dem Leben vereinbar, kann der Organismus durch eine ausgelöste Notfallreaktion — z. B. durch die Kreislaufzentralisation im Schock — für eine limitierte Zeit den Beginn oder Fortgang des Sterbens hinausschieben. Das betrifft auch Menschen, bei denen auf Grund einer akuten Erkrankung der Tod ohne jegliche Vorzeichen plötzlich eintritt. Eine tödliche Schußverletzung oder der akute unmittelbar tödlich verlaufende Herzinfarkt sind typische Beispiele. Das Sterben beginnt unmittelbar nach dem Ereignis und leitet nach wenigen Minuten in den irreversiblen Tod über. Über die spezifische Psychologie dieses schnellen Sterbevorgangs fehlt es nicht an unterschiedlichen Interpretationen. Ein Vorgriff auf Kapitel 3 soll die komplizierten Zusammenhänge transparenter machen. In der Terminologie der modernen Medizin haben sich zwei wichtige neue Begriffe durchgesetzt: der klinische Tod und der biologische Tod. Obwohl der Terminus Tod bisher das irreversible Ende eines Lebens bedeutete, entstand mit den zunehmenden Erfolgen der Reanimation und Intensivmedizin dieses neue Begriffspaar. Der klinische Tod ist die noch reversible Vorstufe des irreversiblen biologischen Todes. Er ist gleichzeitig eine zuverlässige Diagnose für objektivierbare Kriterien des begonnenen Sterbens. Unter Berücksichtigung der Ursache — in der Regel ist es der Ausfall einer der lebenswichtigen

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Funktionen Herz, Lunge oder Gehirn — und der Prognose für den Betroffenen erfolgt die Entscheidung des Arztes für sein situationsgerechtes Handeln. Besteht im konkreten Fall eine Chance, das begonnene Sterben aufzuhalten und rückgängig zu machen, ist eine Reanimation indiziert. Sind dagegen zuverlässige objektive klinische Symptome nachweisbar, die eine Reanimation sinnlos erscheinen lassen, ist der Arzt nicht mehr verpflichtet, zu reanimieren. Er hat die schwierige Aufgabe, eine adäquate Sterbebetreuung einzuleiten. Die beiden Termini des Todes, die den prozeßhaften Ablauf des Sterbens reflektieren, haben sich in der Medizin bewährt. In der Öffentlichkeit existieren jedoch unterschiedliche Auffassungen und Auslegungen über die Tatsache, daß es verschiedene Formen des Todes gibt. Sie lassen sich etwa mit folgender gedanklicher Assoziation zusammenfassen: Der Tod ist nicht mehr unabdingbar, es gibt verschiedene Formen des Todes. Der endgültige Tod tritt erst nach mehreren Vorstufen des Todes ein. Wer bereits tot war und durch eine erfolgreiche Reanimation wieder zum Leben zurückgerufen werden konnte, hat den Tod erlebt und kann über seine Erscheinungsformen berichten.

2.6.4.

Das postreanimative Phänomen Die retrograde Amnesie als pathophysiologisches Phänomen unterstützt die Auffassung, daß nach einer erfolglosen Reanimation der Sterbende die verbleibende Zeit bis zum Tod niemals bewußt wahrnimmt. Es fehlt in den letzten Jahren nicht an der spekulativen Darstellung subjektiver Erlebnisse über die erfolgreiche Reanimation und die Zeit danach. Sie stammen von Patienten, die klinisch tot waren und später darüber berichteten. MOULDON ( 1 9 5 1 ) , OWEN ( 1 9 7 5 ) , KÜBLER-ROSS ( 1 9 7 7 ) und MOODY ( 1 9 7 7 ) schrieben detailliert über diese als „out of body experience" bekannt gewordene Imagination. Es sind unterschiedliche Erlebnisse, von denen die Betroffenen nach erfolgreicher Reanimation

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in farbenprächtigen, phantasievollen Schilderungen berichteten. Sie enthalten ein gemeinsames Phänomen: Alle Betroffenen haben mit dem eingetretenen Tod ihren Körper verlassen und sich selbst und ihr Verhalten außerhalb ihres Körpers betrachtet. Viele Versuche einer Klärung dieses Phänomens beruhen auf phantastischen Deutungen. Offenbar sind unsere gegenwärtigen Methoden noch nicht umfassend genug, um eine wissenschaftlich begründete Klärung dieses Phänomens zu finden. Doch es gibt genügend Details aus klinischen und experimentellen Beobachtungen und Untersuchungen, die eine Annäherung an eine wissenschaftliche Interpretation erlauben. Es sei an dieser Stelle O . PROKOP zitiert, da seine Gedanken viele weiterführende sachliche Argumente enthalten. Seine berechtigte Frage: „Doch tun wir hingegen nicht so, als wäre der Sterbende uns ein normaler Gesprächspartner, für den man all das nicht erwägen müßte, wenn man versuchen will, hinter das Subjektive sehen?" Er weist auf das Zusammenwirken von Stoffen wie das Adrenalin, Adrenochrom, auf die Endorphine, die Enkephaline, die Anoxie, das Aceton, die Urämie hin, deren Interaktionen mit pathophysiologisch faßbaren Substraten bald dieses, bald jenes Bild eines Sterbenden verursachen können. Dazu zählen weiterhin das Dopamin, das Acetylcholin, das Serotonin und das Dimethyltrypsin des Aminosäurestoffwechsels, die den Vorgang des Sterbens mitbestimmen. Diese Darstellungen von „bereits Verstorbenen" sind Reminiszenzen von Menschen, die erfolgreich wiederbelebt worden sind, die dem Tod nahe gewesen waren oder unter potenten halluzinogenen Drogen standen oder kurz vor dem eintretenden Tod noch ihre Eindrücke geschildert haben. In der Anästhesiologie sind bei vielen Hypnotika derartige Nebenwirkungen bekannt. Sie sind entweder das Ergebnis einer spezifischen Wirkung auf ein bestimmtes Hirnareal oder das einer akuten Störung der geordneten Potentiale in einem Gebiet der Wahrnehmung. 55

Nach PROKOP hat das erlebte Phänomen des Verlassens des eigenen Körpers und die damit möglich gewordene Betrachtung des eigenen Körpers von außen das Entzücken der Parapsychologen erweckt. „Sie sehen schon förmlich die Seele perisprit oder „PSI" wirken." PROKOP weist noch auf ein besonders subjektives Sterbeerlebnis hin, das als Zeitraffererlebnis (Quick motion pictures) bekannt geworden ist. Auf dieses Zeitrafferphänomen wies erstmals der Schweizer Professor der Geologie H E I M im Jahre 1892 hin, da er es selbst bei einem Absturz erfahren hatte. Während des Sturzes erlebte er in wenigen Sekunden die wichtigsten Etappen seines Lebens. — Von einer ähnlichen „Panoramaschau" berichten vereinzelt Patienten, die aus einer bestimmten Narkose aufwachen oder Epileptiker unmittelbar nach dem Anfall. Anfang der 70er Jahre häuften sich sensationelle Berichte von klinisch Toten nach erfolgreicher Reanimation in den verschiedenen Medien. Der französische Filmschauspieler Daniel Gelin schilderte nach einer schweren Herzattacke, als er auf der Intensivtherapiestation sein Bewußtsein wiedererlangte, folgendes Erlebnis: „Ich schwebte plötzlich durch das Zimmer und bewegte mich wie ein Schatten zu dem Gerät, das meinen Herzschlag aufzuzeichnen hatte. Mit Erschrecken stellte ich fest, daß die Nadel sich nicht bewegte und mein Herz zum Stillstand gekommen war." Die Schweizerin Gertrud Stäbler stellte ihr Sterbeerlebnis wie folgt dar: Sie sah sich als nackten geschlechtslosen Körper auf einer Phantasiepflanze. Derartige subjektive halluzinatorische Erlebnisse und „Doppelgängererlebnisse" sind in der Neurologie und Psychiatrie nichts Besonderes: Kranke mit Hirntumoren glauben sich „gedoppelt" und fühlen sich neben sich im Bett liegen (PROKOP, 1983). Im klinischen Alltag der Anästesiologie sind solche abnorme Schilderungen durchaus bekannt. Als überzeugendes Beispiel gilt der sogenannte Rückatmungsversuch, der unter entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen auf freiwilliger Grundlage erfolgt, um künftigen Anästesiologen die Symptome des zunehmenden Sauerstoffmangels und des Kohlendioxidanstiegs darstellen zu können. Der allmählich eintretende Sauerstoffmangel — er

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ist normalerweise mit einem C0 2 -Anstieg verbunden — führt zunächst zu einer entsprechenden kardiopulmonalen Kompensationsregulation (Tachykardie und Tachypnoe). Danach tritt spürbar eine Euphorie ein, die mit unterschiedlichen Halluzinationen einhergeht. Zu diesem Zeitpunkt muß spätestens der Versuch aus Sicherheitsgründen abgebrochen werden. Diese Erkenntnis sowie die gegenwärtig noch nicht ausreichend erforschten Wirkungen einer notwendigen pharmakologischen Polypragmasie während und nach einer Reanimation auf das Zerebrum enthalten genügend Details, die für eine weitere Analyse und Interpretation der geschilderten Erlebnisse von Patienten nach einer erfolgreichen Reanimation bedeutsam sind. So hat die moderne Medizin erfolgreich begonnen, die verschiedenen Formen des Sterbens zu analysieren mit dem Ziel, ihre psychischen und pathophysiologischen Gesetzmäßigkeiten weiter zu ergründen. Da jeder prozeßhafte Ablauf des Sterbens eines Menschen zum Leben gehört, ist die Qualität des Sterbens auch immer eine Qualität des Lebens (F. J. ILLHARDT, 1985).

2.7. Phasen-Einteilung des Sterbens In den letzten 10 — 15 Jahren haben Wissenschaftler begonnen, den Verlauf des Sterbeprozesses des Menschen weiter zu erforschen. Da die physiologischen Gesetzmäßigkeiten des prozeßhaften Ablaufs des Sterbens immer präziser erkannt und interpretiert werden können, konzentriert sich das wissenschaftliche Interesse verstärkt auf die Psychologie des Sterbenden. Es fehlt nicht an tragfähigen empirischen Ansätzen, diesen zutiefst menschlichen Vorgang weiter transparent zu machen. Seit 1972 haben die von E. KÜBLER-ROSS vorgeschlagenen 5 Phasen des Sterbens diese gesamte Problematik aktualisiert. Sie enthalten wesentliche elementare Verhaltensweisen, vor57

wiegend von sterbenden Krebskranken, die durchaus geeignet sind, weiter untersucht und entwickelt zu werden. Frau K Ü B L E R - R O S S leitete aus Interviews, die sie mit „schwerkranken und todeskranken Patienten" geführt hat, folgende 5 Phasen ab, die für diesen letzten Abschnitt des Lebens charakteristisch sind: 1. Phase (Isolierung): Das Nichtwahrhabenwollen, der. Versuch der Isolierung, der Schock und die Ratlosigkeit. „Nicht ich!" 2. Phase (Zorn): Geprägt von Zorn und Aggressionen als Zeichen der Auseinandersetzung mit dem unausweichbaren Schicksal. „Warum gerade ich?". 3. Phase (Verhandeln): Verhandeln zwischen Gewißheit und imaginären Vorstellungen. Suchen nach möglichem Ausweichen. „Vielleicht ich doch nicht!" 4. Phase (Depression): Depression und Verzweiflung. Lösung aus dem sozialen Gefüge. „Was bedeutet das für mich?" 5. Phase (Zustimmung): Einwilligung in das Sterben, sich verabschieden wollen. „Ja, wenn es sein muß, ich kann!". Jeder erfahrene Arzt erkennt in diesen Phasen charakteristische Verhaltensweisen von Sterbenden wieder. Mit dieser Phaseneinteilung hat sich international eine breite Diskussion entwickelt, die nicht nur Zustimmung sondern auch wichtige kritische Hinweise aufzeigt. Einmütigkeit besteht offenbar darin: Jeder Schematismus, jeder Versuch einer klischeehaften Darstellung des Sterbevorgangs würde zu einer unerlaubten Versimplifizierung führen, die Widerspruch geradezu herausfordert. (BLUMENTHAL-BARBY 1982). Die Kritik konzentriert sich hauptsächlich auf bestimmte Details der aufgestellten Phasen; die verschiedenen Hinweise begründen immer wieder die Einmaligkeit des Sterbevorgangs eines jeden Menschen. Doch sollte bei der großen Vollkommenheit des menschlichen Organismus nicht auch für die letzte Phase des Lebens ein einheitliches Paradigma ablaufen? Frau K Ü B L E R Ross's Plädoyer, das sie für Lebende beim Sterben in ihren 5 Phasen formulierte, ist ein lang erwarteter Beginn für eine 58

bisher tabuisierte Forschungskonzeption. Hierin liegt ihr anerkannter weltweiter Erfolg. Sie bemühte sich zu beweisen, daß es, ähnlich wie bei der Geburt oder bei einer schweren Krankheit, bestimmte Verhaltensmuster bei jedem Menschen gibt, die lediglich in unterschiedlichem Maße von der Persönlichkeit des Sterbenden variiert werden. In der wissenschaftlichen Polemik wird die Gefahr des Schablonendenkens, das sich nach PROKOP in die Wissenschaft einschleiche und zu einer starken Vereinfachung des Vorgangs führt, vordergründig herausgestellt. Die Phasen enthalten zu viel Konstruktionen und Versuche, den individuellen Ablauf des Sterbens in eine einfache unerlaubte Form zu zwängen. Diese und weitere Fakten erfordern notwendigerweise ein tieferes Eindringen in die Psychologie des Sterbens. Gehen wir davon aus, daß der Mensch über ein genetisches Programm verfügt, welches ihn in die Lage versetzt, auf seine Umwelt zu reagieren. SELYE beschreibt drei Möglichkeiten, die anwendbar sind, wenn der Mensch sich z. B. mit einem Mitmenschen auseinandersetzen muß. 1. Die syntoxische Abwehrmaßnahme: man ignoriert den Gegner, findet sich mit ihm ab, ohne auch nur einen Versuch zum Angriff zu unternehmen. 2. Die katatoxische Abwehrmaßnahme: hier kommt es zum Angriff und zum Kampf mit dem Gegner. 3. Die Fluchtreaktion: man findet sich mit dem Gegner weder ab, noch vernichtet man ihn, sondern ergreift die Flucht. Diese Art der Einfachheit und der Gleichförmigkeit charakterisieren nach SELYE alle großen Naturgesetze. Deshalb lassen sich ähnliche Vergleiche mit den großen Gesetzen anstellen, denen alle Formen des Lebens unterliegen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, das instinktive Verhalten, stimmungsanregende Impulse innerer oder äußerer Herkunft in typischer Weise zu beantworten. Es sind zweckmäßige, einfache Reaktionen oder mehrere Reaktionsvarianten auf bestimmte Impulse, die angeboren und deshalb bei jedem Menschen vorhanden sind. Durch Lernvorgänge und

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Erfahrungswerte werden im Laufe des Lebens die eine oder andere typische Reaktionsweise zur dominierenden und zu einem bestimmenden Wesenszug eines jeden Menschen. Wird der Mensch von einem harten ungewöhnlichen Schicksalsschlag getroffen, laufen offenbar instinktiv die verschiedensten Verhaltensmuster willkürlich, ungeordnet oder nach einem bestimmten Muster ab, bis die Einsicht überwiegt, das unabwendbare Schicksal anzunehmen. In dem bereits erwähnten „Tagebuch einer Krankheit" von D I G G E L (S. 2 5 ) lassen sich z. B. die 5 Phasen von K Ü B L E R - R O S S einschließlich entsprechender überbrückender Verhaltensweisen unverkennbar nachweisen. In D I G G E L M A N N S Tagebuch kann man folgende Bekenntnisse lesen: „Dieses Nachdenken über das Warum, Wieso, dieses warum ich ?" „ Warum muß ich auch das noch auf mich nehmen ?" — Seite 11: „ Warum mußte auch das noch gesehen? Warum gerade ich?" Seite 15: „Hier Zum ersten mal rebelliere ich, beschimpfe meinen Hausarzt und äußere den Verdacht, daß irgendetwas mit meinem Nervensystem nicht in Ordnung ist." Diese Äußerungen könnte man durchaus der ersten und zweiten Phase von K Ü B L E R - R O S S zuordnen. Auf Seite 3 6 vermerkt der Autor: „Ich frage, ob eine Operation der Lunge notwendig sei. Ich stelle fest — und das haben mir sogar die Computer bestätigt — mein Lungenvolumen ist sehr vernichten. groß, ich brauche gar nicht beide Lungenflügel; ich kann auf einen Von meinem Gehirn brauche ich auch nicht alle Zellen." Aus diesem Gedanken ist die Phase 3 zu erkennen. Als Phase 4 könnten die auf Seite 65 dargelegten Gedanken eingestuft werden: „Ich sterbe erst, wenn ich nichts mehr erfinden kann. Ich bin tot, wenn ich nichts mehr erfunden habe. Ich bin erst tot, ivenn ich schweige." Seite 98: „Ich habe kein Recht mehr, mich aufzubäumen, und ich tus auch nicht mehr. Das, was ich jetzt empfinde, hat mit Milde nichts zu tun, sondern nur noch mit Resignation." (Depression und Verzweiflung). Schließlich ist auf Seite 109 die Phase 5 erkennbar: „Ich habe Angst, fetzt habe ich Angst vor meinem großen Bruder, denn er hat mich völlig in der Hand. Er ist für mich mehr als ein Schachpartner, der mit Weiß spielt und am Zuge ist, und ich habe Schwarz und muß warten, wie er zieht und wenn er gezogen hat und mir Schach bietet, sehe ich kein Fluchtfeld mehr. Das Spiel ist aus. Ich habe keine Mittel mehr, keine Figuren mehr, um im Bild zu bleiben." A m 9. Januar 1979 endeten die Eintragungen DIGGELMANNS, am 4. Dezember 1979 starb er. MANN

Ähnlich wie DIGGELMANN die 5-Phasen-Einteilung des Sterbens von K Ü B L E R - R O S S eindrucksvoll erlebte und niederschrieb, lassen sich aus der wissenschaftlichen und belletristischen Literatur die Beispiele beliebig fortsetzen. Die ersten Anregungen stammen von SKVORCOV, der

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bereits im Jahre 1961 ein 4-Phasen-Modell vorstellte, das die Periode vor dem Auftreten erster somatischer Symptome bis zum Tode des Patienten beschreibt: 1. Phase: sie erstreckt sich über etwa 2—3 Monate. Der Patient hat noch keine krankheitsspezifische Symptomatik. Seine Psyche wird von einer gewissen Labilität und Depression bestimmt. 2. Phase: Bei dem Patienten vertieft sich die Erlebnisfähigkeit, eine Beobachtung, die etwa einen Monat anhält. 3. Phase: Jetzt treten erste somatische Symptome und psychische Störungen auf, die sich in einer ausgeprägten Depression und einer starken Fixierung des Kranken auf all das, was sein Leiden betrifft, ausdrücken. 4. Phase: In dieser letzten Phase überwiegen tiefgreifende psychische Störungen, die meist in Psychosen übergehen. Nicht selten wird auch ein Zustand euphorischer Versöhnung des Sterbenden mit dem unvermeidbaren Schicksal des Endes beobachtet. 1 9 6 8 formulierte HARDI eine zweiphasige Entwicklung zum Tod, bei der er sich in seinen Aussagen auf BÜHLER ( 1 9 6 6 ) stützte: „Dem Kranken wird die Schwere, die Hoffnungslosigkeit seiner Krankheit klar; es treten depressive, hypochondrische Erscheinungen auf, Ermüdbarkeit, Bedrücktheit überwältigen ihn sowohl in seiner Aktivität als auch im Denken. In dieser ersten Phase läuft der eigentliche Todeskampf ab. In der zweiten Phase wird der Kranke infolge der Grundkrankheit, der Schmerzen, der auftretenden Angstgefühle, müde. Es kann sich allmählich eine Apathie ausbilden. Dieser Prozeß dauert etwa 4 bis 6 Wochen vor dem Tod." Wenn man in Betracht zieht, daß beim Krebskranken das Sterben meist einen längeren prozeßhaften Ablauf darstellt, bietet natürlich dieser chronische Verlauf viele wichtige Details, die zur weiteren Klärung des Sterbeablaufs generell beitragen können. Ohne sich jedoch weiter in die komplizierte und spezifische psychologisch-medizinische Problematik verlieren zu wollen: Jeder Arzt, der mit Sterbenden umgehen muß, wird in der 5 Phasen-Einteilung von K Ü B L E R -

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Ross, speziell bei Krebskranken, eine willkommene und hilfreiche Unterstützung für seine verantwortungsvolle Aufgabe und Pflicht in der Betreuung dieser leidgeprüften Patienten finden. Er vermag besser das Schweigen und die Resignation, die Sprache und das Verhalten sowie die Gesten des Sterbenden aber auch Zeichen des Zorns zu interpretieren und kann daraus eine der Persönlichkeit des Sterbenden angepaßte Betreuung ableiten. L . WITZEL ( 1 9 7 6 ) berichtete über das Verhalten von 2 5 0 Sterbenden in den letzten Tagen und Wochen. Nach seinen Untersuchungen konnten die 5 Phasen hauptsächlich bei chronisch Kranken, einschließlich Krebskranken, nicht in jedem Fall beobachtet werden. WITZEL weist auf wichtige weitere Fakten hin, die für die Sterbesymptomatik bedeutsam sind: Es sind die körperlichen und neuro-psychischen Symptome. Zu den körperlichen gehören der Schmerz, die Atemnot, Schwindel, Erbrechen und Übelsein sowie Appetitlosigkeit, die bei allen Sterbenden in verschiedener Intensität nachweisbar sind und zu einer erheblichen Belastung führen. Als neuro-psychische Symptome gelten die Angst, die Depression sowie Halluzination aber auch die Herabsetzung der Urteilsfähigkeit, die Reizbarkeit, Vergeßlichkeit und Konzentrationsschwäche, eine zunehmende Kritiklosigkeit, Wahnideen, akustische und optische Sinnestäuschungen, Bewußtseinstrübungen bis zur Bewußtlosigkeit. Bei mehr als der Hälfte der Sterbenden konnten diese Symptome nachgewiesen werden. Dabei beeinflussen sich die körperlichen und neuro-psychischen Symptome gegenseitig. Auch in diesen Untersuchungen wurde bestätigt: Der Sterbende hat weniger Angst vor dem Tod sondern vor dem Sterben, den damit verbundenen möglichen Schmerzen und den körperlichen Beschwerden und Qualen. In der letzten Phase des Sterbens schwindet nach klinischen Erfahrungen der Daseinswille des Menschen und damit die Angst vor den letzten Stunden des Lebens. Die Bewußtseinstrübung schreitet fort und geht bald in mildtätige Bewußtlosigkeit über. Zweifellos sterben die meisten Menschen ohne den vielzitierten „Todeskampf", ohne Angst und Qualen.

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Der englische Kliniker OSLER berichtete von 5 0 0 Sterbenden, von denen nur 8% Schmerzen und nur 2% wirklich Angst hatten (A. JORES, 1 9 6 0 ) . Der Professor für Psychiatrie und Neurologie E. W I E S E N HÜTTER schilderte eindrucksvoll das Erleben seiner eigenen Krankheit. Nach einem unerträglichen Schmerz erlebte er die Auflösung der Empfindungen für die Zeit und des Gegenstandserlebens. Statt der Todesangst spürte er eine „Sucht": „Diesmal wird es wohl klappen/" WIESENHÜTTER beschrieb in seinem Bericht: „ . . . daß — deutlich B. über noch längere Zeit bestehend, mit Sicherheit nicht auf einen Herzinfarkt, sondern auf den Sauerstoffmangel zurückführend krankhafte Veränderungen der elektrischen Herzstromkurve jEKGj — der Tod nicht nur „psychisch", sondern auch organisch nach mir griff:' Der Autor, der, wie er angibt, „selbst einen Blick nach drüben" getan hat, ist als Arzt und Wissenschaftler bemüht, eigene Erfahrung im Sterben bei sich und bei anderen sorgfältig zu bedenken. Ihm geht es besonders darum, daß Sterben und Tod in ihrer Realität erfaßt und angenommen werden. Seine mitgeteilten Beispiele sollen dafür eine Hilfe sein. „Die Annäherung an das Umfassende und Absolute, die in noch solchen Sterbeerfahrungen geschah, besagt nichts über das Todsein, doch läßt sie ahnen, wie alles individuelle Denken und Sein erhoben wird über sich selbst hinaus in etwas Unbeschreibliches." WIESENHÜTTER polemisiert gegen die Theorien von Frau KÜBLER-ROSS. Nach seiner Ansicht liegen die Verdienste der Autorin darin, daß durch ihr unermüdliches Handeln und Schreiben die Verdrängung des Sterbens aufgehoben wurde. Er hat jedoch auf Grund seiner eigenen Erfahrungen Bedenken gegenüber dieser „...fast schonungslosen Form einer Methodik des Sterbens und der Sterbehilfe zu exerzieren" Einmal handelte es sich bei den Patienten ausschließlich um Krebs- und Leukämiekranke, die deshalb nicht alle Formen des Sterbens reflektierten. Zum anderen waren diese Patienten noch weit genug vom konkreten Sterben entfernt, so daß sie durchweg eine gewisse Hoffnung auf ein Weiterleben nicht aufgaben. Das Buch sollte deshalb nicht „Interview mit Sterbenden", sondern „Interview mit

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Todgeweihten" überschrieben werden. Der Autor stellt in diesem Zusammenhang die Frage: „Wann hat eigentlich die Vorbereitung auf den Tod beginnen ? Sind wir nicht — auch ohne einen Krebs oder eine andere Krankheit — alle Todgeiveihte und verdrängen meist nur diese Tatsache, die einmal eine Angelegenheit einer kürzeren, ein andermal einer längeren Frist ist?" — Ist damit allein der Verlust des Bewußtseins das Kriterium des Übergangs vom Sterben in den Tod? WIESENHÜTTER vertritt die berechtigte Ansicht, daß zwischen Bewußtseinsverlust ohne oder mit der festen Überzeugung, sterben zu müssen, ohne oder mit dem Todesgriff nach dem Körper, entscheidende Unterschiede bestehen. Das Sterbeerleben kann selbstverständlich nicht allein auf körperliche Ursachen zurückgeführt werden. Narkose-, Rauschmittel oder bestimmte Metabolite, die unter Sauerstoffmangel kurz vor dem Tod als toxische Substanzen wirken, erzeugen ähnliche Zustände. Nach JANZEN ( 1 9 8 1 ) ist das Gehirn offensichtlich in der Lage, unter extremen Bedingungen Enkephaline zu bilden, die nicht nur den Schmerz lindern, sondern auch eine Euphorie auslösen können. Bei Sterbenden sind häufig veränderte Gesichtszüge erkennbar (friedlich, erlöst, überstandene Qual, Lächeln), die nicht auf den Tod hinweisen, sondern auf überwundene Schmerzen oder Qualen, die auf Grund der zerebralen Veränderungen (0 2 -Mangel) nicht mehr perzipiert werden. Diese Eindrücke werden vom Gehirn in der Sterbephase offenbar noch registriert und dürfen nicht als Ausdruck des bereits eingetretenen Todes gewertet werden. Der Tod löst alle Spannungen, jeder Muskeltonus wird aufgehoben, und es entsteht das leere, ausdruckslose Gesicht eines Toten. Als wahrnehmbare Vorboten des Todes gelten der Verwesungsgeruch in der Ausatmungsluft, die Facies hippocratica mit der sich scharf profilierenden Nase, dem halboffenen Mund, den herabgesunkenen Augenlidern, der unwillkürliche Abgang von Urin und Kot, kalter Schweiß sowie die Totenblässe der Haut (E. JÜNGEL, 1971). Mit der zunehmenden Bewußtlosigkeit schwinden die 64

Marat von Jacques-Louis David (A. PIGLKR: Portraying the Dead, Acta Historial Artium, Academiae Scientiarum Hungaricac Budapest)

Abwehrreflexe des Sterbenden. Der Schleim kann nicht mehr abgehustet werden und verursacht rasselnde Geräusche, die den Eindruck des zunehmenden Erstickens auslösen. Es kommt zu unkoordinierten Zuckungen und Bewegungen der Extremitäten sowie Stöhnen und zum Formulieren animalischer Laute des Sterbenden — alles Symptome, die

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Martin Luther von einem Deutschen Maler, 1546 (A. PIGLER: Portraying the Dead, Acta Historial Artium, Academiae Scientiarum Hungaricae Budapest)

oft fälschlicherweise als Zeichen eines „Todeskampfes" gewertet werden, der mit Schmerzen und Qualen für den Sterbenden abläuft. Das alles sind primitive animalische Äußerungen im Terminal Stadium, die nach vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten

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reflektorisch ablaufen. Sie werden von dem Sterbenden nicht mehr empfunden, da er bewußtlos ist. Die meisten Sterbenden suchen den erlösenden Schlaf als wohltuende Entspannung. Viele Beobachtungen deuten im Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand darauf hin, daß der Sterbende dieses letzte Einschlafen nicht anders empfindet, als das gewohnte Warten auf den abendlichen Schlaf. Kein Mensch würde auf die absurde Idee kommen, vor dem täglichen Einschlafen noch tiefgründige Überlegungen anzustellen, ob nicht dieses Einschlafen möglicherweise mit dem Tod verbunden ist. Das Sterben eines Menschen geht somit meist nicht mit besonderen Schmerzen und Qualen einher. Treten sie unter spezifischen Bedingungen doch einmal in Erscheinung, so verfügt die moderne Medizin über adäquate Analgetika und Sedativa, die ein schmerzund qualfreies Sterben ermöglichen. Die präzise Auswahl eines der genannten Pharmaka und eine sensible Dosierung nach Wirkung braucht nicht einmal die noch bestehende Kommunikationsfähigkeit des Sterbenden mit seiner Umwelt zu beeinflussen. Für eine humanitäre Betreuung Sterbender ist in den letzten Jahren erfreulicherweise viel Gutes und Praktikables empfohlen worden. Die klinische Umsetzung erfolgt jedoch noch immer mit großen Berührungsängsten und Vorbehalten. Jeder Arzt sollte sich deshalb auch für diese schwierige Aufgabe noch mehr verantwortlich fühlen.

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3. Kapitel Medizinische Methoden zur Abwendung des Sterbens

3.1. Die Reanimatologie Die wissenschaftlich begründete Reanimatologie ist das beachtliche Ergebnis eines Jahrtausende langen mühevollen Weges von hoffnungsvollen Versuchen und . Methoden der Abwendung eines akut eintretenden, vor2eitigen Todes. Ihre Chronik läßt sich bis weit vor unsere Zeitrechnung verfolgen. Die Erkenntnis, daß Leben Atmung voraussetzt, war als philosophischer Gedanke schon in der Antike bekannt. Bereits im Alten Testament — im II. Buch der Könige, 7, 14 — das etwa aus der Zeit von 850—700 v. u. Z. stammt, sind Hinweise auf die Atemspende mit Hilfe der Mund-zu-Mund-Beatmung zu finden. Es wird berichtet, daß der Prophet Elias den Sohn der Frau aus Sunem durch Mundbeatmung vom Tode ins Leben zurückgebracht haben soll. Später wurden in der ägyptischen Mythologie Methoden zur Unterstützung der Atmung beschrieben. Seit dem griechisch-römischen Arzt Galen (129 — 199) aus Pergamon, Leibarzt mehrerer römischer Kaiser, der über ein Jahrtausend als größte medizinische Autorität galt, setzte sich bis ins 16. Jahrhundert die Vorstellung durch: der lebensspendende Hauch, spiritus vitalis, wird aus der Luft zum linken Herzen angesaugt, um dort das innewohnende Feuer anzufachen oder vor dem Erlöschen zu bewahren. Der Rauch oder Qualm gelangt über die Luftröhre nach außen. Diese Ansicht konnte erst im 16. und 17. Jahrhundert durch naturwissenschaftliche Aufklärung von Struktur und Funktion der Lunge korrigiert werden. (SCHMID, 1985). Aus dieser Zeit stammen die ersten Versuche einer intermittierenden Überdruckbeatmung, über die der Anatom 68

Elias u n d der Sohn der S u n e m i t e r i n , R e a m i m a t i o n durch M u n d b e a t m u n g . Nach einem G e m ä l d e v o n L o r d Frederick L e i g h t o n (E. R. SCHMID: B e a t m u n g s k o n z e p t e . — V a r i a t i o n e n einer Idee. Swiss M e d 7 (1985). 11)

und Physiologe V E S A L I U S in seinem Buch: „De corporis humani fabrica" im Jahre 1543 berichtete. Er installierte Versuchstieren ein Schilfrohr in die eröffnete Luftröhre und blies intermittierend Luft in die Lunge, um die nach Verletzung des Brustfells kollabierte Lunge wieder auszudehnen und die Tiere vor dem Erstickungstod zu bewahren. Im gleichen Jahrhundert nutzten Hebammen erfolgreich die Mund-zu-Mund-Beatmung, um bei asphyktischen Neugeborenen die Lebensgefahr abzuwenden. Wie die Chronik überlieferte, wurde diese wirksame Methode von den meisten Ärzten als vulgär abgetan, so daß sie bald in Vergessenheit geriet ( E L A M , 1 9 6 5 ) . Uber die erste erfolgreiche Wiederbelebung eines englischen Bergarbeiters mit Hilfe der Mund-zu-Mund-Beatmung berichtete TOSSACH 1 7 3 2 im medizinischen Schrifttum. Ende des 1 8 . Jahrhunderts beschrieben HERHOLDT und R A F N die Methode der Mund-zu-Mund-Beatmung und brachten den Beweis, daß die Exspirationsluft eines Menschen für die Reanimation tatsächlich erfolgreich genutzt werden kann. Über die erste gelungene kardiale Reanimation mit Hilfe der extrakorporalen Herzdruckmassage am Menschen

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berichtete M A A S 1 8 9 2 . Es handelte sich um einen Patienten, der während einer Chloroformnarkose einen Herzstillstand erlitten hatte. Bereits 10 Jahre später wagte der Norweger IGELSRUD die erste intrathorakale Herzmassage und war erfolgreich. Diese wichtigen Einzelbeispiele zur Rettung von Menschen aus akuter Lebensgefahr wurden lange Zeit verkannt und gerieten offenbar aus Mangel an Information und Kommunikation in Vergessenheit. Anfang der 50er Jahre unseres Jahrhunderts gelang SAFAR und seinen Mitarbeitern sowie der Forschungsgruppe um NEGOWSKI auf dem Gebiet der Reanimation ein nun schon legendär gewordener Durchbruch, der eine neue Ära in der Medizin einleitete. Der von den genannten Pionieren der Reanimation begründete Wissenschaftszweig, die Reanimatologie, korrespondiert mit der Thanatologie und befaßt sich mit der Erforschung des Sterbens und seiner Umkehr. Die Forschungsgruppe um ELAM, SAFAR und GORDON untersuchte mit modernen wissenschaftlichen Methoden die klassischen Formen der Reanimation: die manuelle Thorax-

Die Anfänge der endotrachealen Intubationstechnik (E. R. SCHMID : Beatmungskonzepte — Variationen einer Idee, Swiss Med 7(1985), 11)

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A n d r e a s V e s a l i u s (E. R . SCHMID : B e a t m u n g s k o n z e p t e — V a r i a t i o n e n e i n e r I d e e , S w i s s M e d 7 ( 1 9 8 5 ) , 11)

kompression nach S C H Ä F E R , S I L V E S T E R und H O L G E R - N I L S O N sowie die Kipp- oder Schaukelbahre nach EYE und die Mund-zu-Mund-Beatmung. Sie brachten den Beweis, daß die Mund-zu-Mund-Beatmung eine einfache und höchst wirksame Methode für einen adäquaten Gasaustausch in der Lunge darstellt. 1959 wurde die Mund-zu-Mund-Beatmung der National Academy of Science in den USA zur Annahme empfohlen und anerkannt. Sie konnte sich schon nach wenigen Jahren zu einer weltweit bewährten Methode durchsetzen und löste die früheren Wiederbelebungstechniken ab. Im gleichen Jahr entdeckten J U D E und K O U W E N H O V E N die extrakorporale Herzmassage wieder, untersuchten sie auf ihre hämodynamische Effektivität und fanden ihre Wirksamkeit bestätigt. Schon 2 Jahre später erschien die Veröffentlichung von J U D E , K O U W E N H O V E N und K N I C K E R BOCKER über die ersten 118 kardiopulmonalen Reanimationen. Etwa seit Beginn der 70er Jahre war die kardiopulmonale Reanimation wegen ihrer einfachen Technologie zu einem brauchbaren klinischen Algorhythmus gereift und wurde zu einem international anerkannten Standardverfahren der Reanimation. Mit dem tieferen wissenschaftlichen Eindringen und der zunehmenden klinischen Anwendung dieser ersten wissenschaftlich begründeten Reanimationsmethode entstand ein neuer erweiterter Grenzbereich zwischen Leben 71

und Tod. So wurde eine hoffnungsvolle, wenn auch ungewöhnlich schwierige Epoche in der Medizin eingeleitet, die völlig neue Dimensionen im ärztlichen Denken und Handeln und damit in der ärztlich-ethischen Entscheidung forderte. Über Jahrtausende gültige Zeichen des eingetretenen Todes, wie der Stillstand der Atmung oder des Kreislaufs haben ihre bisherige Bedeutung und Unabwendbarkeit verloren und sind unter definierten Bedingungen zu wichtigen diagnostischen, therapeutischen und prognostischen Kriterien für eine Reanimation geworden.

Kombination von Beatmung und äußerer Herzmassage bei der EinHelfer-Methode ohne Hilfsmittel. Die praktische Durchführung (oben) und graphische Aufzeichnung (unten) an einer Übungspuppe (PETER SAFAR: Wiederbelebung. Herz — Lunge — Gehirn. Georg Thieme Verlag Stuttgart)

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Atmungsunterstützung durch Manipulationen des Körpers (E. R. SCHMID: Beatmungskonzepte — Variationen einer Idee, Swiss Med 7 (1985), 11)

Der medizinische Terminus — Reanimation oder Wiederbelebung — hat sich trotz seiner sprachlichen Unkorrektheit weltweit durchgesetzt. Selbstverständlich handelt es sich dabei nicht um die Wiederbelebung eines Toten, sondern um die Abwendung eines begonnenen Sterbevorgangs bei einem noch Lebenden, der ohne diese Hilfe zum Exitus letalis führt. Die von dem Begriff Reanimation abgeleiteten klinischen Handlungen sind: — die eigentliche Reanimation — die Notfallmedizin — die Intensivmedizin. In den USA wird diese Dreiheit mit dem Terminus „Critical Care Medicine" bezeichnet (SAFAR, 1971). SAFAR betrachtet die Reanimation als evolutionär positiv, da sie eine der Leistungen der Menschen ist, die es ihnen

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ermöglichen, von der Gattung Mensch zu einer auf das Individuum gerichtete Gesellschaft zu gelangen. In dieser Gesellschaft können in zunehmendem Maße grausame Zufälle der Natur aufgehalten und ein vorzeitiger Tod verhindert werden. SAFAR leitet seine wissenschaftliche Grundkonzeption von dem Bekenntnis Bertrand RÜSSELS ab: „nur das wissenschaftlich erforschte Leben ist lebenswertund ergänzt es mit seinem Bekenntnis: „nur der wissenschaftlich erforschte Tod ist wert, bekämpft oder hingenommen werden." Gegenwärtig sind international etwa 30—40% der Reanimationsversuche primär erfolgreich. Der Langzeiterfolg, also die effektive Erfolgsrate, liegt dagegen bei ca. 15%. Dieser zahlenmäßig gering erscheinende Erfolg kann als ein hervorragendes Ergebnis der Medizin gewertet werden. Ohne eine Reanimation hätten diese erfolgreich reanimierten Menschen den sicheren Tod erfahren. In den letzten Jahren reifte jedoch die Ansicht, daß mit diesen Ergebnissen die Möglichkeiten der wissenschaftlich begründeten Reanimation noch lange nicht voll genutzt werden. Die ersten kritischen Anstöße gingen wieder von der Arbeitsgruppe um SAFAR aus. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf die in ihrer Anzahl gleichbleibenden irreversiblen Hirnschäden, die nach einer primär erfolgreichen kardiopulmonalen Reanimation bei etwa 60% der Reanimierten unvermeidbar auftraten und schließlich zum Exitus letalis führten. Deshalb forderte SAFAR die Erweiterung der kardiopulmonalen Reanimation in eine kardio-pulmo-zerebrale Reanimation. Inzwischen sind erste Ergebnisse einer zerebralen Protektion aus dem Experiment erfolgreich in das klinische Stadium vorgerückt. Sie lassen hoffen, daß künftig verbesserte pharmakologische und physiologische Kompensationstherapien zur Erhaltung geschädigter Neurone die Erfolgsrate der Reanimation erhöhen werden. SAFAR und seine Arbeitsgruppe versuchen in ihrer gegenwärtigen Forschungskonzeption die aktuelle wissenschaftliche Fragestellung zu beantworten: Was limitiert die Reversibilität des klinischen Todes auf 5 Minuten trotz Wiederherstellung eines physiologischen 74

Blutdrucks, normaler Blutgaswerte und der Blutzusammensetzung durch eine effektive Reanimation? Seine weiterführenden experimentellen Untersuchungen erhärten die Annahme, daß dem primären Insult, der durch den Ausfall einer vitalen Funktion entstanden ist, stets weitere Störungen vitaler Organe folgen. Diese Perpetuation wird gegenwärtig als Postreanimationssyndrom bezeichnet. Es beruht offenbar auf 2 gleichzeitig ablaufenden Ereignissen: auf einer Reperfusionsinsuffizienz, die für das Gehirn erwiesen ist und außerhalb des Gehirns als multifokales Reperfusionsversagen gleichzeitig wirksam wird; 2. es tritt ein Reperfusionsschaden ein, der intrazelluläre chemische Reaktionskaskaden einleitet und über verschiedene Schädigungsstufen zu Zellnekrosen führt. Beide Ereignisse können sich gegenseitig negativ beeinflussen. SAFARS Ziel, zunächst eine maximale normotherme und reversible Herzstillstandzeit von 20 Minuten zu erreichen, wird nach wie vor durch die zunehmende Gewebsazidose, das intrazellulär auftretende Ödem, durch eine beginnende vaskuläre Gerinnung und Kapillarpermeabilität verhindert. Als wesentliche Ursachen für die Auslösung der komplexen Dysregulation des Metabolismus sind der zunehmende Sauerstoff- und Glukosemangel verantwortlich, die je nach Zeitdauer und Intensität über eine Hypoxie, Hypoglykämie und Ischämie zu schwerwiegenden Komplikationen im zerebralen Metabolismus und zu partiellen irreversiblen zerebralen Schäden führen können, die schwerwiegende Veränderungen der Persönlichkeit des Betroffenen auslösen. Als eine mögliche protektive Methode zur Erhaltung der Vitalität des Gehirns bot sich die durch Narkotika auslösbare Hemmung des zerebralen Metabolismus an. Narkotika können den Sauerstoff- sowie Glukoseverbrauch bis zu 50% senken. 1976 brachte SOKOLOFF den Nachweis, daß eine Thiopentalnarkose den Glukoseverbrauch in der grauen mehr senkt als in der weißen Gehirnsubstanz. Nach tierexperimentellen Studien von GATFIELD et al. 75

\

ohne Reperfusion Glukose

\02

gleichförmige, reversible Veränderungen

0

5

Kreislaufstillstand

30

Reperfusion . Gewebsödem Sludge - Phänomen Gerinnsel Gefäßspasmus

F" \ ^ ^ \ \i

Glukose

.

\Gefäßparalyse Multifokale progrediente

o 1 Überlebensfähigkeit der Neurone

Multifokale Minderperfusion Gesteigerter Stoffwechsel Azidose Membranzerstö rung,Neurotransmitterversagen

Veränderur>gerh^\^^ 30

1—

60 Zeit (Minuter )

mullifokale Nekrosen

Kreislaufstillstand

gleichförmige Nekrosen

( 1 9 6 6 ) sinkt der Energieverbrauch des Gehirns während der Narkose auf ca. 6 0 % . Die zerebrale Perfusion wird dabei um ca. ein Drittel gedrosselt. H A N K E ( 1 9 8 0 ) untersuchte im Tierversuch den Barbituratschutzeffekt für den zerebralen Energiestoffwechsel unter besonderer Berücksichtigung der Glykolyseregulation. Nach seinen Ergebnissen besteht die theoretische Möglichkeit, daß, neben den beiden die Glyko-

0 Zeit (Minuter )

Hypothetischer Ablauf zerebraler Veränderungen nach einem Kreislaufstillstand. O h n e Reperfusion (oben) wird die Hirnschädigung erst 3 0 — 6 0 Minuten nach einem Kreislaufstillstand irreversibel (Nekrose). Mit Reperfusion nach einem Kreislaufstillstand, der länger als 5 Minuten anhält (unten), k o m m t es zu sekundären Veränderungen, die zusammen mit der initialen Schädigung zu einer multifokalen Nekrose führen. D a s Ziel der Hirnwiederbelebungsforschung ist es, diese sekundären Veränderungen zu verhindern und dadurch eine Restitution der Neurone zu ermöglichen (SAFAR, P . : Hospital Practice 1 6 : 6 7 , 1 9 8 1 ; Wiederbelebung. Herz — L u n g e — Gehirn. G e o r g T h i e m e Verlag Stuttgart)

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lyse steuernden Schlüsselenzymen Hexokinase und Phosphofructokinase, der Glukosetransport von den Gefäßen in die Zellen ein begrenzender Faktor der Glykolysegeschwindigkeit ist. Der Autor führt den Barbituratschutz auf den verlangsamten Abbau der energiereichen Phosphate während der Ischämie und die beschleunigte Restauration bei der postischämischen Reperfusion zurück. Die Glykolysebeschleunigung während der Ischämie erfolgt durch die Phosphofructokinase und kann durch ein Barbiturat verzögert werden. GROSSE-OPHOFF und HOSSMANN (1984) konnten im Tiermodell nachweisen: — Ein Überschreiten der Ischämietoleranz des Gehirns ist nicht mit dem Tod der Nervenzellen gleichzusetzen. Dieses Ergebnis konnte selbst unter extremen Versuchsbedingungen einer einstündigen Ischämie noch bestätigt werden. Die Erholung differenzierter Funktionen wie z. B. des EEG's und der Proteinsynthese wurden für die größte Zahl der Neuronen nachgewiesen. Die Autoren leiten davon die kritische Farge r.b, ob diese Kriterien für eine restitutio ad integrum der Hirnfunktion ausreichen. — Jede inkomplette Ischämie verzögert den Zeitpunkt der terminalen Depolarisation der Nervenzellen. Solange der Zeitpunkt der Depolarisation nicht überschritten wird, ist die Erholungszeit effektiv. Danach zeigt eine komplette Ischämie eine wesentlich bessere Erholungszeit. — In der Phase der Rezirkulation gibt es zwei kritische Momente: Zum Beginn der Rezirkulation kann ein NoReflow-Phänomen auftreten. Danach kommt es zur postischämischen Hypoperfusion, die eine sekundäre auslöst. Diese kritische Phase konnte bisher therapeutisch nicht beeinflußt werden. Die Autoren sahen in der Kopplung des Blutflusses an den Metabolismus eine wirksame Voraussetzung für eine endgültige Erholung des Gehirns post reanimationem. Es würde den Rahmen dieser Veröffentlichung sprengen, weitere detaillierte zunehmend originelle spezifische Einzel77

ergebnisse von namhaften internationalen Forschungsgruppen zu zitieren. Für den klinisch tätigen Arzt sind die in den letzten 10 Jahren gewonnenen Ergebnisse semi-empirischer Studien für den Schutz und die Wiederherstellung der Hirntätigkeit nur sehr begrenzt anwendbar geworden. SAFARS neue Strategie, Kombinationsbehandlungen wissenschaftlich zu erproben und zu analysieren, enthält sicher größere Chancen, der geplanten anspruchsvollen Zielstellung näher zu kommen. Damit können Nebenwirkungen der einen Therapie durch positive Effekte einer anderen ausgeglichen werden. Mit einer Kombinationstherapie bestehen weit bessere Voraussetzungen, das multifaktorielle Postreanimationssyndrom protektiv oder therapeutisch zu beeinflussen. So liegt das Kernproblem einer jeden Reanimation in der Vermeidung der postischämischen-anoxischen Enzephalopathie. Alle bisher experimentell erprobten und klinisch angewandten protektiven und therapeutischen Verfahren sind in ihrer Effektivität noch umstritten und sollten nicht überbewertet werden. Die prozeßhaft ablaufenden zellnekrotisierenden Vorgänge sowie die mit der Therapie eingeleiteten zellregenerisierenden Einflüsse lösen in verschiedenen Hirnarealen ein höchst dynamisches pathophysiologisches Zustandsbild aus, das in der akuten Phase zunächst weder diagnostische noch prognostische Aussagen zuläßt. Bestimmend für die spezifischen pathophysiologischen Vorgänge sind ihre auslösenden Ursachen. Sie können als Ischämie, Anoxie, Hypoglykämie, Anämie, Hämorrhagie, als metabolische oder toxische Abläufe oder traumatisch bedingt selektiv oder global an den einzelnen Organen wirksam werden. Die Reperfusion des Gehirns kann nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand durch folgende Therapiemaßnahmen bewirkt werden: — Mäßige Hypertension durch Vasopressoren und Plasmavolumenexpansion sowie Hämodilution bis zu einem Hämatokrit von 25 bis 3 0 % . — Die Anwendung von Barbituraten, Antikonvulsiva und Muskelrelaxantien sowie Osmotherapie und Hypo-

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thermie in der postischämischen Phase zum Schutz der Neurone sind umstritten, da ihr Nutzen von erheblichen Risiken begleitet ist. Gegenwärtig werden niedrige Dosen von Thiopental und Pentobarbital (2—5 mg/kgKM) empfohlen, die den Kreislauf nicht belasten aber den „Gehirnstreß" mindern und einen intracraniellen Druckanstieg ausgleichen. — Noch im klinischen Experiment befinden sich die Anwendung hypertoner Glukoselösungen und ATP, die Normalisierung des Liquor-pH-Wertes, verschiedene /. Ischaemiezeit

Hirndurch blutung

< Wiederbeiebungszeit

(MODIFIZIERT NOCH M. SCHNEIDER AASSN

normal normal 8MM Ischaemie WiederbelebungszeitErholangszeit = °°

normal Hirndurch blutung

WÊâ

normal Ischaemie > 8-10 Minuten Manifestation d irrefers. ' Hirnschädigung

normal Hirnfunktion

Hirnfunktion nach temporärer Ischaemie (modifiziert nach S C H N E I D E R , 1955). I. Die Ischaemiedauer bleibt unter der Wiederbelebungszeit des Gehirns. Nach einer Erholungslatenz stellen sich Funktionen wieder ein, die nach einer Erholungszeit zur vollen Restitution führen. II. Die Ischaemiedauer übersteigt die Wiederbelebungszeit des Gehirns. Es kommt zu einer Funktionserholung mit Defekten. Die Erholungszeit ist unendlich. (Aus K Ä U F E R , Chr.: Die Bestimmung des Todes bei irreversiblem Verlust der Hirnfunktionen, Band 54, Alfred Hüthig Verlag, Heidelberg)

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M. Ischaemiezeit > Wiederbelebungszeit Hirndurchblutung

normal l ü l Ischaemie Wiederbelebungszeit;' Erholungslatenz = < normal HJutungCh

~

1 1 I s c h a e m i e > 15 ' 18

normàl

Minuten Totaler, irreversibler Funktionsverlust

Hirnfunktion Finale Zeit

frholungs latenz

Hirnfunktion nach temporärer Ischaemie III. Bei weiterer Verlängerung der Ischaemiedauer kommt es zu einer zeitlich befristeten Wiederbelebungszeit. Die Funktion kehrt vorübergehend zurück, um später irreversibel zu erlöschen. IV. Überschreitet die Ischaemiedauer 15 — 18 Min., wird die Erholungslatenz unendlich; es liegt ein totaler irreversibler Funktionsverlust vor. (Aus KÄUFER, Chr.: Die Bestimmung des Todes, bei irreversiblem V e r -

lust der Hirnfunktionen (Band 54), Alfred Hüthig Verlag, Heidelberg)

Anästhesietechniken in Kombination mit Sedativa sowie die Gabe von Calcium-Antagonisten (SAFAR, 1984). Der zytoprotektive Effekt der Calcium-Antagonisten besteht vor allem in der Senkung des Sauerstoffbedarfs. Die jüngsten Erfolge mit diesen Pharmaka, besonders ihr zytoprotektiver Effekt, könnten einen weiteren Gewinn für die Reanimation bedeuten. Zum Beispiel halten Calciumblocker die Anhäufung von Ca++ in der Herzmuskelzelle als Folge von Hypoxie, Ischämie und Katecholaminwirkung auf, so daß eine Zellnekrose weitgehend vermieden werden kann. MEURET (1986) untersuchte den Effekt von CalciumAntagonisten in der Reanimation nach einem anoxischen Herzstillstand im Tierexperiment. Seine Ergebnisse: Der

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Behandlungsmaßnahme

Herzstillstand

Herzinfarkt

Schadel-Hirn-Trauma akuter Anstieg des intrakraniellen Druckes

Tier

Heparinisierung

(+) (+) c+)

Ausgeprägte Hypertension

-

Thiopental (hohe Dosierung)

+

Maßige Hypertension Hämodilution

Mensch

Mus kelrelaxie rung, Kontrollierte Hyperventilation

Mensch

Tier

(+) +

(+) (+)

(+)

-

+ +

*

Thiopental (konventionelle Dosierung) Diphenylhydantoin

Tier

(+) (+)



Mensch

-

-

+

+ +

+

(+) (+)

Osmotherapie

+ c+)

Hypothermie

+ +

— — möglicherweise nachteilig ( + ) = reduziert möglicherweise das Ausmaß der Hirnschadigung + = reduziert das Ausmaß der Hirnschädigung kein Zeichen: nicht untersucht * „Pittsburgh collaborative study", Ergebnisse 1983 zu erwarten

Spezielle Maßnahmen zur Himwiederbelebung (Peter SAFAR: Wiederbelebung. Herz — Lunge — Gehirn. G e o r g Thieme Verlag Stuttgart)

Sauerstoffverbrauch des Myokards verhielt sich in der Erholungsphase gegensätzlich, je nachdem, ob Calcium oder ein Calciumblocker gegeben worden waren. Alle sauerstoffverbrauchenden Faktoren waren nach Calciumblockern signifiknat reduziert. Es konnten weder metabolische noch elektronenoptische Schäden an den Myokardzellen nachgewiesen werden. 3.2. Die Indikation für eine Reanimation Claude BECK machte in den 50er Jahren erstmals auf die Häufigkeit des plötzlichen Herztodes durch Kammerflimmern infolge temporärer Koronarminderperfusion aufmerksam. Von ihm stammt die wichtige visionäre Idee, daß viele stillstehende Herzen noch lebensfähig sind („a heart too good to die").

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S A F A R erweiterte Anfang der 70er Jahre diese prognostisch relevante Feststellung mit dem Hinweis: „Gehirne, die gut sind, um sterben" und begründete damit seine folgerichtige Forschungskonzeption, das Gehirn noch gezielter in die Reanimation einzubeziehen. Die Konzentration der klinischen und experimentellen Forschung auf diese beiden vitalen Organe und ihre absolute Priorität bei jeder Reanimation hat verschiedene Ursachen, die einer präzisen Darstellung bedürfen. Selbstverständlich wird die Indikation für eine Reanimation von einem einzelnen akut ausgefallenen Organ abgeleitet, „weil es noch $>ii gut ist". Prinzipiell ist eine Reanimation stets dann indiziert, wenn das Sterben des Betroffenen nicht nur aufgehalten, sondern auch rückgängig gemacht werden kann. Diese lebensentscheidende Therapie bezieht sich stets auf den ganzen Menschen, solange diagnostisch und prognostisch relevante klinische Zeichen einer Lebensunfähigkeit nicht nachweisbar sind. Das Ziel einer jeden Reanimation ist die künstliche Aufrechterhaltung der Sauerstoffversorgung vitaler Organe, um den begonnenen Sterbeprozeß zunächst aufzuhalten und damit das Weiterleben des Betroffenen zu ermöglichen. Erweist sich die Reanimation als effektiv, bestehen bei ihrer Fortsetzung reale Bedingungen für eine Wiederaufnahme der Funktion des oder der betroffenen Organe. Setzt die Eigenfunktion des funktionslos gewordenen Organs nach einer bestimmten Zeit jedoch nicht wieder spontan ein, ist erfahrungsgemäß die morphologische Schädigung offenbar so weit fortgeschritten, daß ein Weiterleben des Betroffenen nicht mehr möglich ist. Im internationalen Schrifttum fehlt es nicht an schnell abrufbaren grundsätzlichen Daten, die bei dem Entschluß für eine Reanimation behilflich sein sollen. Es sind Axiome der Reanimation, geprägt von den Erkenntnissen und Erfahrungen der Erfolge und Mißerfolge, präzisiert, aber auch unerlaubt verallgemeinert weitergegebene Empfehlungen, die in unterschiedlicher Weise Sicherheit aber auch Unsicherheit in der Entscheidungsfindung für eine Reanimation entstehen lassen. Jede Reanimation ist eine mutige und verantwortungsvolle Handlung in dem Grenzbereich von Lebenwollen und

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Sterbenmüssen, von Reversibilität und Irreversibilität, von Notwendigkeit und Freiheit des Lebens bzw. des Todes (ILLHARDT, 1985). Das erklärt ihre unvermeidliche Ambivalenz, in der die wünschenswerten und abzulehnenden Konsequenzen eng beieinander liegen. Es wird deshalb weder vom fachlichen noch vom ethischen Standpunkt aus verbindliche Normen geben, ob und wann reanimiert werden soll oder wann ein Verzicht gerechtfertigt ist. Ob reanimiert werden soll, muß in erster Linie davon abhängig gemacht werden, ob die notwendigen klinischen Voraussetzungen noch gegeben sind, die eine weitere Lebensfähigkeit des Betroffenen ermöglichen. Unter Berücksichtigung aller derzeit gültigen wissenschaftlichen und empirischen Ansichten ist eine Reanimation stets dann indiziert, wenn in dem äußerst knapp verfügbaren Zeitlimit, das dem Arzt für seine Entscheidung zur Verfügung steht, reale Chancen erkannt werden, den Sterbenden ins Leben zurückzuholen. Diese Entscheidung ist stets das Integral aus fachlichem Wissen, der Fähigkeit, ohne tech-

Notfallort

\

V

Jedermann

Jedermann

Sofort maßnahmen

Meldung

Jeder Arzt

Fachsrzte Rettungsdienst : Rettungssanitäter Notarzt ElementarErste ärzt- diagnostik Klinische liche Hilfe u.-tnerapie Versorgung

Laien heifer

Erste Hilfe

Lebensrettende Sofortmaßnahmen

Klinik

Erweiterte lebensrettende Maßnahmen

Definitive Maßnahmen

Rettungskette (Heidelberger Taschenbücher, AHNEFELD: entscheiden. Notfallmedizinische Sofortmaßnahmen, 2., u. erw. Auflage 1981, Springer Verlag Berlin-West)

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Sekunden neubearb.

nische Hilfsmittel eine schnelle erste Diagnose und Prognose über die aktuelle Situation des Sterbenden zu stellen und den Erfahrungen des Arztes auf dem Gebiet der Reanimation. Sie wird zunächst motiviert durch die Pflicht des Arztes, in lebensbedrohlichen Situationen zu handeln, wobei ethisch-moralische sowie forensische Gesichtspunkte die Entscheidung in unterschiedlichem Maße mitbestimmen. Gerade in derartig lebensentscheidenden Situationen braucht der Arzt einen angemessenen Entscheidungs- und Handlungsspielraum, um im konkreten Fall nach bestem Wissen und Gewissen die bestmögliche Hilfe zeit- und situationsgerecht wirksam werden lassen zu können. Treten bei der Entscheidungsfindung die geringsten Zweifel auf, ob mit der Reanimation die Lebensfähigkeit des Betroffenen wieder erreicht werden kann oder ob die limitierte noch verfügbar Zeit für eine Reanimation bereits überschritten ist, muß die Entscheidung stets für eine Reanimation getroffen werden. Im klinischen Alltag setzt sich diese wissenschaftlich begründete Einstellung immer mehr durch. Sie wirkt sich auf die Qualität und Quantität der Reanimation erfolgreich aus und löst die früher dominierende Ansicht ab, die eine Reanimation um jeden Preis forderte. Trotz alledem ist jede Reanimation risikoreich und kompliziert. Würden wir sie nicht großzügig in unserem ärztlichen Bewahrungsauftrag nutzen, wäre der Tod für den Betroffenen oft unvermeidbar. Es geht selbstverständlich bei einer Reanimation nicht nur um das wieder in Gang bringen des funktionslos gewordenen Herzens, der Lunge oder Gehirns, die „noch gut %um Sterben sind", sondern um die Reanimation des sterbenden Menschen, der noch über ausreichende Voraussetzungen zum Weiterleben verfügt. So stieg mit den immer erfolgreicher beherrschbaren Funktionsausfällen einzelner vitaler Organe das klinische und wissenschaftliche Interesse an der Reanimation des gesamten Organismus. Differenzierte Untersuchungen und Analysen von zunächst erfolgreich Reanimierten, die jedoch trotz anschließender Intensivbehandlung starben, inspirierten zu dieser neuen Strategie. Die künftige Zielstellung liegt 84

in der weiteren Erforschung der multifaktoriellen pathophysiologischen Nachwirkungen einer Organreanimation und ihrem Einfluß auf die funktionelle Integration des Organismus. 3.3. Die gegenwärtigen Grenzen der Reanimation Jeder Versuch, die Grenzen der Reanimation zu definieren, stößt auf mannigfaltige Schwierigkeiten. Die Problematik beginnt bereits bei der Beantwortung der Frage: Wo liegen die Grenzen der Reanimation, der Methode selbst? Eine differenzierte Beantwortung ist notwendig, da die Effektivität einer Methode nicht unbedingt identisch mit ihrer konkreten Anwendung ist. Das Wissen und Können sowie die Erfahrung des Arztes, sein Mut, seine Entscheidungsfreudigkeit und Entschlossenheit bestimmen wesentlich die Qualität und den Erfolg einer Reanimation. Die Grenzen einer Reanimation können unter bestimmten Bedingungen schon vor ihrem Beginn", d. h. vor ihrer praktischen Anwendung erreicht sein, wenn bei dem Sterbenden die limitierte Wiederbelebungszeit von etwa 5 bis 6 Minuten überschritten ist. Da der Zeitpunkt des Sterbebeginns nur selten präzise ermittelt werden kann, ist schon aus diesem Grunde ein Reanimationsversuch indiziert. Ist trotzdem der Sterbeprozeß nicht aufzuhalten, stellen sich in der Regel eindeutige diagnostische und prognostische klinische Symptome ein, die den Abbruch einer begonnenen Reanimation medizinisch ethisch und juristisch rechtfertigen. Während der Reanimation sind Diagnostik und Prognostik auf Grund der unzureichenden Möglichkeiten und Fähigkeiten einer Beurteilung der schnell wechselnden dynamischen Funktionsabläufe erheblich erschwert. Der prozeßhafte, nach eigenen Gesetzen ablaufende Vorgang des Sterbens wird durch die aggressive Manipulation — Herzmassage und Beatmung sowie die reanimative pharmakologische Polypragmasie — in massiver Weise beeinflußt und läßt ein schwer diagnostisch und prognostisch differenzierbares

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klinisches Symptombild entstehen. Der Erfolg oder die Grenzen der Reanimation sind das Integral aus — Zeitpunkt der begonnenen Reanimation — Wirksamkeit der Reanimation — Wissen und Können des Reanimierenden — Alter, Grundkrankheit und Ursache des akuten Sterbebeginns. In einigen Fach- und Lehrbüchern sowie Richtlinien, in denen die Praxis der Reanimation abgehandelt wird, sind noch immer zeitliche Grenzen angegeben, nach denen die Reanimation, wenn sie bis dahin erfolglos verlief, abgebrochen werden soll. Nach den jünsten Erkenntnissen sind derartige zeitliche Limitierungen weder fachlich noch ethischmoralisch gerechtfertigt. Jede begonnene Reanimation sollte solange fortgesetzt werden bis — eindeutige und sichere Zeichen des irreversiblen Hirntods eingetreten sind; — ausreichende Symptome nachweisbar sind, die ein irreversibles Versagen des ausgefallenen lebenswichtigen Organs bestätigen und die Möglichkeit einer temporären apparativen Überbrückung ausschließen. Dazu gehört auch ein ausgedehnter Herzinfarkt oder die Ruptur eines herznahen Gefäßes, wenn ein zeitgerechter operativer Eingriff aus objektiven Gründen nicht oder nicht mehr möglich ist; — entscheidende Informationen während der Reamination über den Sterbenden eingeholt werden konnten, die eine weitere Fortsetzung als nicht indiziert, ja sinnlos erscheinen lassen. Das trifft z. B. für inkurable Erkrankungen zu, bei denen die Fortsetzung einer Reanimation das bereits begonnene Sterben in einer unzumutbaren Weise verlängern würde. Nach Angaben von SAFAR sterben in den USA — 2 Millionen Todesfälle pro Jahr — etwa die Hälfte an potentiell reversiblen Ereignissen, bevor die Lebenserwartungen der Betroffenen erreicht sind. Ohne präzise Angaben machen zu können, welche Erhebungen andere Länder ermitteln konnten, ist die Annahme berechtigt, daß diese Relation

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für viele Länder zutrifft. Daraus muß geschlußfolgert werden, daß die immer mehr an Perfektion gewinnenden erfolgreichen Methoden der Reanimation nur für eine verhältnismäßig geringe Zahl an potentiellen Patienten wirksam werden können. Es besteht eine Disproportion zwischen den verfügbaren Möglichkeiten und der tatsächlichen praktischen Realisierbarkeit einer Reanimation. Ein unbefriedigender Zustand, der einer dringenden Korrektur bedarf. Über welche realen Möglichkeiten verfügen wir gegenwärtig, dieser wichtigen, ja lebenswichtigen Forderung für die Betroffenen gerecht zu werden? Selbst wenn alle Ärzte unseres Landes über das notwendige Wissen und Können einer sachgemäßen Reanimation verfügen würden und diese Fähigkeit auch im konkreten Fall sofort wirksam werden ließen (davon sind wir noch weit entfernt!), wäre diese Zahl an Helfern noch viel zu gering. Wenn die erreichten Möglichkeiten der Reanimation zur Abwendung eines vorzeitigen Todes für noch mehr Menschen eine berechtigte Chance zum Weiterleben bedeuten sollen, muß der Kreis der Befähigten erheblich erweitert werden. Dazu gehören nicht nur alle Mitarbeiter medizinischer Einrichtungen. Jeder Bürger sollte künftig befähigt werden, die theoretischen und praktischen Grundlagen der relativ einfachen kardiopulmonalen Reanimation in ausreichender Weise zu beherrschen. In einigen Ländern gibt es bereits gute Ansätze, die nachahmenswert sind. Nach einer Empfehlung der Liga der Rot-Kreuz-Gesellschaften aus dem Jahr 1981, die später noch durch verschiedene Experten erweitert und präzisiert werden konnte, sind Richtlinien entstanden, die einer zunehmenden Innovation bedürfen. Es wird darin ein schrittweises Heranführen der Bevölkerung an die Erste Hilfe gefordert. Der Beginn dieser Ausbildung sollte schon in der Grundschule als Obligatorium erfolgen. In den Empfehlungen wird auch darauf eingegangen, daß für Gruppen, die besonders gefährdet sind, zusätzlich Ausbildungsmöglichkeiten in der Herz-Lungen-Wiederbelebung geschaffen werden müßten. Leider wird in dieser Empfehlung eine kardiopulmonale Reanimation durch Laien nur mit Vorbehalt bejaht. Es werden folgende Be-

87

denken angeführt: „Ist der Laie im Notfall in der Lage, trot^ der damit verbundenen Erregung und Hektik, die Indikation auch %ur Durchführung der äußeren Her^druckmassage richtig stellen, eingedenk der Tatsache, daß bei einer fehlerhaften Indikation ein endgültiger Schaden entstehen kann. In wieweit ist der Laie in der Lage, bei erwiesenermaßen bestehenden Schwierigkeiten wesentliche, gefahrlosere Sofortmaßnahmen durchzuführen, die Her^druckmassage nicht nur effizient sondern auch technisch richtig anzuwenden?" ( B E R N O U L L I und S E F R I N , 1983). Leider ist das bedenkliche Wenn und Aber im Zusammenhang mit der schrittweisen Einbeziehung breiter Kreise der Bevölkerung in die kardiopulmonale Wiederbelebung bis zum heutigen Tage dominierend geblieben, so daß der notwendige und erhoffte Durchbruch in Europa weitgehend ausgeblieben ist. Aus den USA, speziell aus Seattle, stammen weit bessere Informationen, die beachtenswert sind. Es wird von primären Reanimationserfolgen (43%) und Langzeiterfolgen nach präklinischer Reanimation (32%) durch Laien, die entsprechend intensiv geschult waren, berichtet (P. S E F R I N , 1985). W. R E I F E N R A T H (1984) stellt in diesem Zusammenhang die Frage: „Ist die primäre kardiopulmonale Reanimation eine ausschließlich ärztliche Aufgabe?" Nach einer erfolgreichen Bilanz der Entwicklung der Laienausbildung kommt er zu folgender Auffassung: „Obowhl nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand in unserem Notfallsystem immer noch Lücken erkennbar sind, d. h. bei jedem fünften Notfall dauert es immer noch länger als 6 Minuten, bis eine Meldung abgegeben ist, wird die 1967 auferlegte Aufhebung der Her^-Lungen-Wiederbelebung nicht rückgängig gemacht." Das bedeutet, daß neben den Ärzten künftig Laien nur in beschränktem Umfang in dieser Methode ausgebildet werden. Ausgehend von der Tatsache, daß jede nicht erfolgte Reanimation stets den unabwendbaren Tod des Betroffenen bedeutet, sind derartige restriktive Entscheidungen nicht mehr tragbar. Die Einbeziehung aller Menschen, die willens sind und sich auch theoretisch und praktisch in der Lage

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fühlen, diese zutiefst humanitäre Aufgabe zu übernehmen, ist nicht nur die beste sondern die einzige Möglichkeit, die Erkenntnisse der modernen Medizin für immer mehr Menschen, die in Lebensgefahr schweben, erfolgreich zu nutzen. Wir Ärzte sollten diese Forderung mit viel mehr Nachdruck immer wieder den verantwortlichen Institutionen sachgerecht vortragen. Die zunehmenden Reanimationsmöglichkeiten und -fähigkeiten durch Laien müssen wir künftig realer und optimistischer sehen. Eine notwendige Reanimation durch sie wird in der Regel nur für wenige Minuten notwendig sein, bis der benachrichtigte Rettungsarzt eintrifft und die Reanimationsmaßnahmen fortsetzen kann. Selbst eventuell dadurch mögliche Schäden auf Grund einer nicht ganz sachgerechten Reanimation lassen sich erfahrungsgemäß am Ort des Ereignisses beheben oder in der klinische Einrichtung behandeln. Erreichen wir in der breiten Anwendung der Reanimation keinen Durchbruch, werden die nachgeordneten medizinischen Rettungsstellen und hochspezialisierten Kliniken mit ihrer personellen und apparativen Perfektion auch künftig nur für einen begrenzten Teil der Bedürftigen zur tatsächlichen lebensrettenden Instanz, da sie die Klinik gar nicht lebend erreichen. SEFRINS abschließende Bemerkungen zu einer erforderlichen Ausbildung von Laien in der kardiopulmonalen Reanimation kann uneingeschränkt zugestimmt werden. Er vertritt folgende Auffassung: „Es kann Zweifel an der Zeitabhängigkeit des Erfolgs bei Reanimation bestehen. Dabei spielt der Eaie als Augenzeuge und Ersthelfer eine persönliche Rolle. Um aber die Effektivität steigern, wird es weder gelingen, die Qualifikation des Laien am Standard eines Rettungssanitäters orientieren, noch die Stationierung des Notar^twagens so dicht wählen, daß in der Überlebensfrist von drei bis fünf Minuten immer ein Reanimationsteam i(ugarantieren ist" (SEFRIN, 1 9 8 5 ) . Eine weitere Einschränkung der Reanimation liegt gegenwärtig in der noch fehlenden Innovation eines Teils der Ärzte, da sie auf Grund ihres Fachgebietes zu selten mit lebensbedrohlichen Zuständen in Berührung kommen. Dazu gehören z. B. die Fachdisziplinen Ophthalmologie, Derma-

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Schritt

I Atemwege freimachen Lebensrettende Sofortmaßnahmen (Versorgung mit Sauerstoff) l

Phase



• • o

• 9 O





• • o

• • o





• • o

• • 1 1



• • o

• • 1 1





• o o o 1 1

• o

• o 1 1 1 1

Schläge aut den Rücken, Handgriff nach Heimlich

90 Endotracheale Intubation

Ösophagusobturator

Einlegen eines Tubus in den Pharynx

Mit Hilfsmitteln Absaugen des Rachens

Ärzte mit spezieller Ausbildung in Notfallmedizin



* Reinigung von Mund und Rachen

Ärzte, Studenten, Zahnärzte

O

* Dreifachhandgriff (Vorschieben des Unterkiefers)

Intensivschwestern, Rettungssanitäter

• •

Ohne Hilfsmittel * Uberstrecken des Kopfes * gerade ausgerichtete Rückenlage * stabile Seitenlage

Krankenschwestern



Polizisten Feuerwehrmänner Bademeister

Krankenwagenfahrer, med.-techn. Personal



Laien 1



Maßnahme



o 1

o 1 o o

1 1 1 o 1

1 1 1 1 1 1

1 1 1 1 1 1 1

• • o i 1 1

1 1 1 1 1 1 1

• o 1 i 1 1

Koniotomie

1

automatische Beatmung

o o

handgetriggerte Beatmung mit 02

o o

Mund zu Hilfsmittel — mit 02

• 1

Mit Hilfsmitteln: Mund zu Hilfsmittel — mit 02

o

Ohne Hilfsmittel: * Mund-zu-Mund-(Nase)Beatmung

o

bo •3 §

HO

91 Atembeutel-Maske (Tubus) mit Oz

M

Beatmung

o

Bronchodilatation



Pleuradrainage

• • • •

Bronchoskopie

• •

Tracheotomie

Tracheobronchiales Absaugen

• • • • e





• • • • • 1

o

92 venöser Zugang: peripher zentral EKG-Uberwachung

Elektrokardiographie



Intensivschwestern, Rettungssanitäter

• • •

•• • 1

Krankenschwestern

• •



• • 1 1 1 O 1

Krankenwage nf ahrer, med.-techn. Personal

• • e

• • o 1 o 1 1 1

Polizisten Feuerwehrmänner Bademeister

Ärzte, ' Studenten, Zahnärzte

O

Antischockdruckanzug (MAST)

innere Herzmassage

Mit Hilfmitteln: Maschinelle Thoraxkompression

äußere Herzmassage ~ Einhelfermethode — Zweihelfermethode

Pulskontrolle

* Schocklagerung

i

Laien

• 1

Drogen und Flüssigkeiten

1

Ohne Hilfsmittel:

Circulation (Kreislaufunterstützung) * Blutstillung

Maßnahme

Schritt

• •

II Lebensrettende Maßnahmen i m weiteren Sinn (Wiederherstellung einer spontanen Zirkulation)

Phase

Ärzte mit spezieller Ausbildung in Notfallmedizin



• • •



• • •

• •



O

o

• • 1 1 1 1 1 1

» o 1 1 1 1 1 1

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tologie, Stomatologie sowie alle theoretischen Disziplinen einschließlich der Gerichtsmedizin und Pathologie. Da alle Ärzte der genannten Fachrichtungen über die Fragen der akuten ärztlichen Hilfe eine ausreichende Ausbildung genossen haben und ihre Fähigkeiten darüber mit der ärztlichen Approbation bestätigt werden, sind sie verpflichtet, jederzeit eine wirksame ärztliche Hilfe zu leisten, um eine entstandene Lebensgefahr abzuwenden. Entsprechende Voraussetzungen für eine sinnvolle Weiterbildungskonzeption der Ärzte dieser Fachdisziplin sollten umgehend geschaffen werden. So bleibt letztlich die Frage offen: Warum bleibt' die Innovation zur Reanimation bei den meisten Menschen noch immer aus? Trotz des zunehmenden Bildungsgrades der Bevölkerung in den entwickelten Industriestaaten hat der weit größere Anteil nur geringe Vorstellungen und Kenntnisse von den einfachen Methoden der Wiederbelebung als notwendig wäre. Warum fehlt bei vielen Menschen noch immer das Interesse, diese so einfache Methode, für die keinerlei apparative, noch andere Hilfsmittel benötigt werden, lernen zu wollen? Es ist doch nicht einmal teuer, Leben zu retten — es fordert lediglich die notwendige ethisch-moralische Einstellung, die Bereitschaft und den Mut, diese zutiefst humanitäre lebensbewahrende Methode zu lernen und anzuwenden. Die Abwendung einer akuten Lebensgefahr durch eine zeit- und situationsgerechte kardio-pulmonale Reanimation wird auch in Zukunft nur zu einem extrem geringen Anteil durch Ärzte erfolgen können. Stets wird der zufällig Anwesende oder Hinzukommende sehr wesentlich zwischen zwei Existenzformen des Betroffenen mitentscheiden: der Chance zum Weiterleben oder dem irreversiblen Tod. Darüber sollten wir künftig bewußter und tiefgründiger nachdenken, um aus der gefährlichen Lethargie des Abwendens herauszukommen.

94

3.4.

Die Reanimation und der Ersatz eines vitalen Organs Mit dem Begriff Reanimation verbinden sich folgerichtig immer mehr Synonyma für lebenserhaltende Maßnahmen, die den Behandlungsspielraum im Grenzbereich zwischen Sterben und Tod erweitert haben. Die Organtransplantation, die Implantation künstlicher Organe oder der temporäre extrakorporale apparative Ersatz von Funktionen vitaler Organe sind gleichfalls lebenserhaltende und lebensverlängernde Behandlungsmethoden, die in ihrer medizinischen Technologie auf den Prinzipien der Reanimation beruhen und uns in die Lage versetzen, einen begonnenen Sterbeprozeß rückgängig zu machen. Es sind aufwendige und risikoreiche Therapieverfahren, die am Ende einer jeden Behandlung indiziert sein können, wenn bis zu diesem Zeitpunkt alle wirksamen konservativen und operativen Therapiemethoden letztlich die Progredienz der Erkrankung nicht mehr aufhalten konnten und objektive Symptome des bevorstehenden irreversiblen Organversagens bereits nachweisbar sind. Das Versagen des vitalen Organs würde für den Betroffenen den irreversiblen Tod bedeuten, da ein morphologisch massiv geschädigtes Organ nicht mehr funktionieren kann und deshalb terminal oder permanent ersetzt werden muß. Noch ist jede Transplantation eines vitalen homologen Organs ein in seinem Langzeiterfolg klinisches Experiment, eine ultima ratio in der Therapie mit hohem Risiko. Die operativ-anästhesiologische Teamarbeit konnte in den letzten Jahren immer größere Erfolgsquoten bei allen derzeit möglichen Organtransplantationen erzielen. Nachdem die Nierentransplantation weltweit zu einem Routineeingriff entwickelt werden konnte, sind an einigen ausgewiesenen Zentren auf dem Gebiet der Herz-, Lungen-, Leber- und Pankreastransplantation jährlich immer bessere Erfolgszahlen bekannt geworden. Noch problematisch, erfreulicherweise jedoch von Jahr zu Jahr erfolgreicher therapierbar geworden, ist die immunologische Barriere, die sehr wesentlich den

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Die Herzverpflanzung am Menschen: gestern, heute, morgen Nach Durchtrennung der Aorta ascendens, der Pulmonalarterie und der Arterien wird das Herz des Empfängers herausgenommen. Die hinteren Wände der Atrien mit beiden Venae cavae und den Pulmonalvenen bleiben zur Anbringung des Spenderherzens in situ. (Denton A. Cooley, M.D., Housten, Texas, USA, Abbott 3, Band 9, 1971) Das Spenderherz wird durch eine Inzision im rechten Atrium präpariert, die sich von der unteren Vena cava in das Herzrohr erstreckt und den Sinusknoten umgeht. (Das linke Atrium wird später durch Inzisionen eröffnet, die die Verbindungen zu den Pulmonalvenen schaffen). (Denton A. Cooley, M.D., Housten, Texas, USA, Abbott 3, Band 9, 1971) Das Spenderherz wird umgedreht und in den Herzbeutel des Empfängers plaziert. Die Atriumanastomose beginnt an den Rändern des linken Atriums, von links nach rechts werden fortlaufende Nähte ausgeführt. (Denton A. Cooley, M.D., Housten, Texas, USA Abbott 3, Band 9, 1971) Nach richtigem Anpassen werden die Hauptpulmonalarterie und die Aorta mit fortlaufenden Nähten anastomosiert. (Denton A. Cooley, M.D., Housten, Texas, USA,Abbott3, Band9,1971) Wenn die Anastomose beendet ist, werden Kanülen und Klammern entfernt, dadurch wird der Koronarkreislauf wiederhergestellt, so daß die Herztätigkeit wieder beginnen kann. (Denton A. Cooley, M.D., Housten,Texas, USA, Abbott3, Band9,1971) Der Patient hat jetzt zwei Sinusknoten, und jeder erzeugt eine P-Zacke auf dem EKG. Aber eine ventrikuläre Kontraktion folgt nur auf die P-Zacke des Sinusknotens im Spenderherzen. (Denton, A. Cooley, M.D., Housten, Texas, USA, Abbott3, Band9,1971)

(Reihenfolge von links nach rechts)

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Langzeiterfolg einer Transplantation mitbestimmt. Dank der zunehmenden Anwendung des Immunsuppressivums Cyclosporin A haben die Langzeitergebnisse meßbar zugenommen. Jede Reanimation, und dazu gehört neben der akuten auch die chronische Reanimation als temporärer oder permanenter Organersatz, ist eine Hilfe zur Selbsthilfe des Organismus zur Abwendung des begonnenen Sterbens. Sie soll dem Organismus zunächst das Weiterleben ermöglichen und ihm die notwendige Zeit für die Regeneration des ausgefallenen Organs oder für die Inkorporation und Adaptation des technischen oder biologischen Plantats geben. Seit etwa Mitte der 50er Jahre wurden erste experimentelle Erfolge der Organtransplantation und des technischen Ersatzes eines biologischen Organs im Tierversuch erkennbar. Lange Zeit konkurrierten beide Strategien, und es bestand berechtigte Hoffnung, funktionstüchtige technische Prothesen für vitale Körperorgane als Alternative des

Überlebensrate nach Herztransplantation vor und nach der Einführung von Cyclosporin (Selecta 13/1986, S. 949)

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Organaustausches zu konstruieren. Die Konzeption des künstlichen Organersatzes schien sogar der Organtransplantation überlegen zu werden, nachdem die Immunbarriere zum limitierenden Faktor des Erfolges einer Organtransplantation wurde. Gegenwärtig ist die Organtransplantation zur führenden Strategie geworden, nachdem es bis zum heutigen Tage nicht gelungen ist, vollwertigen künstlichen Ersatz für die wichtigen Körperorgane wie Herz, Niere, Lunge, Pankreas und Leber zu entwickeln. Die erfolgreiche Ära der Herztransplantation begann 1964, als ein Chirurgenteam in Mississippi zu erstenmal einem Menschen das Herz eines Schimpansen transplantierte. Der operative Erfolg währte nur wenige Stunden. Der eigentliche Durchbruch auf diesem Gebiet erfolgte mit der

Herztransplantation. Stadium kurz vor Abschluß der Operation, aus: The Ciba Collection of Medical Illustrations, Vol. 5, 1974

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Pioniertat des Kapstädter Herzchirurgen Ch. BARNARD, als er Ende des Jahres 1967 seinem Patienten Louis Washkansky das erste homologe Herz transplantierte, mit dem der Patient 18 Tage lebte. Angeregt von diesem epochemachenden Erfolg transplantierten in den folgenden Monaten 64 Herzteams in 22 Ländern 101 Herzen (T. SCHUMMER, 1985). Die Ergebnisse entsprachen verständlicherweise zunächst nicht den Erwartungen, da jedes Team erst die entsprechende Erfahrung für diese aufwendige Operation und deren Nachbehandlung machen mußte. Doch mit jedem Jahr stieg die Zahl der erfolgreichen Herztransplantationen. Mit der Einführung des Immunsuppressivums Cyclosporin A im Jahr 1980 lag die Einjahr-Überlebensrate der Transplantierten bereits bei 7 0 % (1968 bei 22%). Zur Zeit sind über 2 0 0 0 Herzen transplantiert, und die Langzeiterfolge nehmen erfreulicherweise weiter zu. Im Gegensatz zur Herztransplantation wird nach wie vor noch mit äußerster Zurückhaltung die Implantation eines künstlichen Herzens praktiziert. Im Vergleich zur künstlichen Niere, die als bewährte Zwischenlösung bis zu dem möglichen Zeitpunkt einer Organtransplantation für die Erhaltung des Lebens des Betroffenen sorgt, ist die Implantation eines künstlichen Herzens erheblich problematischer. Es muß im Thorax implantiert werden, nimmt also die Stelle des entfernten biologischen Herzens ein. In einer akuten Situation, in der das schwer geschädigte Herz eines Menschen weder konservativ noch operativ behandelt werden kann, wird das künstliche Herz zur einzigen Alternative, das Leben des Betroffenen erhalten zu können, da er sich bereits im Terminalstadium befindet. Das künstliche Herz ist jederzeit verfügbar, seine Implantation setzt die Explantation des biologischen Herzens voraus, so daß bis zum Eintreten der Funktion des künstlichen Organs eine Herz-Lungen-Maschine die Lebensfähigkeit des Betroffenen ermöglicht. Das künstliche Herz funktioniert weitgehend nach dem Pumpprinzip des biologischen Herzens und hat auch etwa seine Größe und Gestalt und die Aufgabe, Druck zu erzeugen und Volumen zu verschieben. Die Systole des Herzens wird

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R a d i o n u k l i d - S z i n t i g r a m m e v o r und nach einer Herztransplantation. Das S c h l a g v o l u m e n des neu eingepflanzten Organs ist wesentlich größer (rechts) Dieses R a d i o n u k l i d - S z i n t i g r a m m stellte uns freundlicherweise Herr Professor B. M . KEMKES, L u d w i g - M a x i m i l i a n s - U n i v e r s i t ä t München, K l i n i k u m Großhadern, Herzchirurgische Klinik, zur V e r f ü g u n g . ( A b b i l d u n g drehen)

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durch bewegliche Membranen aus Polyurethan simuliert, die durch Preßluft bewegt werden. Sie müssen in einem Jahr etwa 40 Millionen mal den Wechsel von Spannung und Entspannung tolerieren können. Zur Vermeidung von Thrombenbildungen ist das Blut ständig gerinnungsunfähig zu halten. Die enorme mechanisch bedingte Materialermüdung sowie der Einfluß des Blutes auf die Polyurethanstruktur sind bisher kaum beeinflußbare Störgrößen geblieben, die den Organausfall nach einer definierten Zeit unvermeidbar werden lassen. Als weiterer noch unzureichend gelöster Faktor der Funktion des künstlichen Herzens gelten Druckluftschläuche sowie Kabel, die als Verbindung des künstlichen Organs mit dem außerhalb des Körpers liegenden Kompressor sowie des Steueraggregats notwendig sind. Letztlich sind alle Versuche, eine zuverlässige Energie- und Antriebstechnologie zu finden, die mit dem technischen Herzen integriert ist und damit intrakorporal plaziert werden kann, bisher gescheitert. Ein künstliches Herz muß eine Leistung von etwa 0,04 PS oder 30 Watt erbringen. Das entspricht je nach Wirkungsgrad des Antriebs einem Leistungsbedarf von 200 Watt (ein Pacemaker benötigt 2 Watt). 1982 gelang es Robert J. JARVIK, einem Mitarbeiter aus der Arbeitsgruppe um KOLLF in Utah, das erste künstliche Herz mit einem „Energiewandler" in Form eines kleinen Elektromotors mit dem Pumpaggregat zu verbinden. Noch nicht integriert sind nach wie vor die Steuerungssysteme und die Energiequelle. Sie werden in einem tragbaren Koffer oder in einem Handwagen plaziert und verbinden über die genannten Schläuche die Apparatur mit dem künstlichen Herzen. Geplant ist eine integrierte Selbststeuerung, die auf die entsprechende Belastung des Patienten reagiert. Als Fernziel bleibt das voll implantable künstliche Herz. Bis zum Jahr 1985 konnten 6 Patienten mit dem „Jarvik 7"Kunstherz in den USA erfolgreich behandelt werden. Ein 52-jähriger Schwede lebte vom April bis Dezember 1985 ebenfalls mit einem Jarvik-Herzen. Im März 1986 implantierte der namhafte Herzchirurg und Forscher E. S. BÜCHERL, der als einer der führenden 102

Stand der Entwicklung: Das Jarvik-7 (natürliche Größe), entwickelt von Robert Jarvik, Universität Utah, implantiert in einem Dutzend von Kälbern und Schafen. Es hielt das Leben für einige Monate aufrecht.

Konstrukteure des künstlichen Herzens in Europa gilt, bei einem Patienten ein eigenentwickeltes Modell des künstlichen Herzens. Es verfügt bereits über Teile des Steuerungssystems sowie Druckfühler, die in den Wänden des Implantats eingebaut sind. Die Implantation verlief erfolgreich. Bereits am nächsten Tag stand für den Patienten ein homologes Spenderherz zur Verfügung, das nach Explantation des künstlichen Herzens ebenfalls transplantiert werden konnte. Der Patient starb am folgenden Tag. Eine Forschungsgruppe in Osaka berichtete 1985 über die Entwicklung eines neuen japanischen Kunstherzens (Münch, med. Wschr. 127 (1985), 32/33, S. 6). Es ist vollständig implantierbar. Die notwendige Energie wird dem künstlichen Herzen durch eine Batterie zugeführt, die der Patient am Gürtel trägt. Die Herzfrequenz läßt sich an die wechselnden körperlichen Anstrengungen anpassen. Noch ungeklärt ist das Problem, ob der Organismus das Kunst103

stoffherz aufnimmt und auf die Dauer toleriert. Bereits im Versuchsstadium konnte beobachtet werden, daß der Blutkontakt an der inneren Oberfläche der Kunststoffventrikel zu Koagulationen führt. Das könnte Embolien und Materialveränderungen auslösen. Seit 1983 wird an dem Münchner Fraunhofer-Institut für Festkörpertechnologie an der Entwicklung eines künstlichen Herzens gearbeitet. Seine Funktion beruht auf dem Turbinenprinzip. Das von G . BRAMM (1986) entwickelte Modell arbeitet somit ohne bewegliche Membranen. An die Stelle des pulsierenden Pumpmechanismus der Membranmodelle ist ein Rotor getreten, der in Magnetlagern wartungslos aufgehängt ist. Das Turbinenrad ist das einzige bewegliche

Der Prototyp des neuen japanischen Kunstherzens (Münch, med. Wschr. 127 (1985) Nr. 32/33)

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Universität Pennsylvania elektromechanisches künstliches Herz (Artificial Organs Febr. 86, Vol. 10, Number 1)

Teil und benötigt nur einen Leistungsabgang von 8 Watt. Der damit erzeugte pulslose, also kontinuierliche Blutfluß soll nach Angaben des Konstrukteurs für die Hämodynamik keinerlei Bedeutung haben. — Der Optimismus kann in diesem Fall nicht geteilt werden, da bisherige hämodynamische Untersuchungen, besonders im extrakorporalen Kreislauf, ergeben haben, daß ein nichtpulsatiler Flow über längere Zeit erhebliche Störungen in der Organperfusion auslöst. Welche Strategien ärztlichen Handelns und welches taktische Vorgehen im konkreten Fall wirksam werden sollen und können, hängt stets von der präzisen Indikation,

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von der realen und verfügbaren medizinischen und apparativen Möglichkeiten sowie dem Wissen und Können der behandelnden Ärzte ab. Im Falle des drohenden Versagens eines operativ nicht mehr korrigierbaren Herzens wird selten der glückliche Umstand eintreten, gleichzeitig ein passendes Spenderherz verfügbar zu haben. Diese Einschränkung trifft für jedes unpaarige Organ zu, bei dem die Lebendorganspende ausgeschlossen ist und die sofortige Verfügbarkeit eines passenden Leichenorgans selten erreicht wird. Die internationale Statistik weist aus: Etwa nur von jedem siebenten Unfallopfer sind transplantierbare Organe zu erwarten. Diese Verfügbarkeit von Organen wird noch erheblich eingeschränkt, da die Organexplantation von geeigneten Hirntoten noch zu wenig praktiziert wird. Die Gründe sind vielfältig. Oft wird im entscheidenden Moment vergessen, daß ein Unfallopfer durchaus zu einem Organspender werden könnte. Für den behandelnden Arzt ist dies keineswegs ein einfacher Gedankensprung, der sich deshalb nur zögernd auf Grund traditioneller Ansichten durchzusetzen scheint.

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Elektro-thermo-pneumatisches ventrikel-assistierendes wickelt von Nimbus - Cleveland-Klinik Artificial Organs Febr. 86, Vol. 10, N u m b e r 1) Universität Utah elektrohydraulisches künstliches Herz (Artificial Organs Febr. 86, V o l . 10, N u m b e r 1)

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System

ent-

A n w e n d u n g von zwei „ N i m b u s " des ventrikel-assistierenden Systems für totalen Herzersatz der Cleveland-Klinik (Artificial Organs Febr. 86, Vol. 10, N u m b e r 1)

Die Konditionierung und Konservierung des Herzens ist gegenwärtig extrakorporal auf wenige Stunden begrenzt (für die Niere konnten schon 30—70 Stunden erreicht werden). Deshalb hat sich in den USA der Transport von Hirntoten per Flugzeug in das Transplantationszentrum bewährt. Damit kann die Konditionierung und Konservierung des oder der Organe unter optimalen Bedingungen erfolgen. Das künstliche technische Organ wird deshalb zur Überbrückung der Organfunktion eine conditio sine qua non sein, bis zu dem Zeitpunkt, wo ein homologes Transplantat verfügbar wird. Es ist somit keine Alternative zur Organtransplantation, sondern eine sinnvolle obligatorische Zwischenstufe, um die Fortsetzung des Lebens des akut Lebensgefährdeten zu ermöglichen. Noch problemreich und gegenwärtig unzufrieden gelöst sind die erforderlichen Therapieetappen mit ihren spezifi-

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sehen Risiken, selbst wenn alle organisatorischen Fragen zeit- und situationsgerecht gelöst sind. Folgende Problemzonen bestimmen nach wie vor die Erfolgsbilanz der Transplantationen : — Der im Terminalstadium befindliche Patient muß für die Zeit der Explantation seines Herzens mit Hilfe einer Herz-Lungen-Maschine solange am Leben erhalten werden, bis das künstliche Herz seine Funktion aufgenommen hat. Selbstverständlich sind derartige Eingriffe nur in ausgewiesenen Herzzentren möglich. Die Überbrückungszeit mit einer Herz-Lungen-Maschine ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch auf etwa 4 Stunden begrenzt; — Im Thoraxbereich des Patienten kommt es auf Grund der Entfernung seines funktionslos gewordenen biologischen Herzens und der Implantation des künstlichen Herzens im Laufe der Zeit zu typischen Verwachsungen, die für die später notwendige Explantation des künstlichen Herzens und die Implantation des endgültigen homologen Herzens zusätzliche Risiken bedeuten; — Durch die notwendige permanente Druckschlauch- und Kabelverbindung des intrathorakalen künstlichen Herzens mit dem extrakorporal liegenden Kompressor und dem Steueraggregat ist eine Infektion des Patienten trotz aller protektiver Maßnahmen schwer vermeidbar; — Die Traumatisierung des empfindlichen Organs Blut durch die Plaste- und Metallteile des künstlichen Herzens sowie die erforderliche Antikoagulatientherapie können im Laufe der Zeit zu multiplen Organschäden führen, die vor einer möglichen endgültigen Organtransplantation bereits den Exitus letalis des Patienten bedingen können; — Ein Ausfall der Funktion des künstlichen Herzens durch Materialermüdung und -Schäden bzw. durch Defekte im Antriebs- oder Steuersystem bedeutet für den Patienten den Tod, da in der Regel eine Reanimation technisch nicht möglich ist. So nimmt das Herz in der Reanimation und der Transplantation eine Sonderstellung ein. Seine ausgefallene Funktion muß in 5 —7 Minuten ersetzbar oder überbrückbar 109

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