Steine in Potenzen: Konstruktive Rezeption der Mineralogie bei Novalis [Reprint 2011 ed.] 3484150882, 9783484150881

Starting from a discussion of selected characteristic 18th century theories of empirical research and (nature) philosoph

177 47 95MB

German Pages 524 Year 1999

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Steine in Potenzen: Konstruktive Rezeption der Mineralogie bei Novalis [Reprint 2011 ed.]
 3484150882, 9783484150881

Table of contents :
Vorwort
1 Novalis’ Symbolik des ›Mineralischen‹ im Spiegel der Forschung – Ort und Methode der Arbeit
1.1 Das Thema
1.2 Die allgemeine Forschungslage
1.3 Zur Editions- und Rezeptionsgeschichte der naturwissenschaftlichen Schriften des Novalis
1.4 Novalis’ mineralogisch-montanistische Symbolik und die Literaturwissenschaft – ein Bericht über den Stand der Forschung
1.5 Zur Methode der Untersuchung
2 Der theoretische Status des Anorganischen in der Naturwissenschaft und Naturphilosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts
2.1 Die ›Geschichte› der Erde
2.2 Die Rolle des Anorganischen in Physik, Chemie und Physiologie
2.3 Die naturphilosophische Konzeption des Anorganischen
3 Der Stein im Werk des Novalis
3.1 Zur Topographie des ›Mineralischen‹ im Gesamtwerk
3.2 Novalis’ philosophische Theorie des Selbstbewußtseins
3.3 Philosophische Konzeption und poetischer Entwurf des ›Mineralischen‹ – eine Analyse
4 Resümee und Ausblick
Literaturverzeichnis
Personenregister

Citation preview

HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HANS FROMM, JOACHIM HEINZLE, HANS-JOACHIM MAHL UND KLAUS-DETLEF MÜLLER

BAND 88

IRENE BARK

»Steine in Potenzen« Konstruktive Rezeption der Mineralogie bei Novalis

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1999

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Bark, Irene: »Steine in Potenzen« : konstruktive Rezeption der Mineralogie bei Novalis / Irene Bark. - Tübingen : Niemeyer, 1999 (Hermaea ; N.F., Bd. 88) ISBN 3-484-15088-2

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Buchbinder: Geiger, Ammerbuch

Für Eva und Paul Hoffmann und Wolfgang Pahl

»Steine sind stumme Lehrer, sie machen den Beobachter stumm, und das Beste, was man von ihnen lernt, ist nicht mitzuteilen.« Q. W. v. Goethe)

Dank

Die vorliegende Untersuchung hätte nicht ohne die Hilfe und den Rat anderer realisiert werden können. Es ist mir deshalb ein Anliegen zu danken: Herrn Professor Dr. Paul Hoffmann, der mich zu dem Vorhaben angeregt und ermutigt hat. Die Erfahrungen, die er mir während meiner Studienzeit vermittelt hat, waren für mich richtungsweisend. Mit Geduld und Vertrauen hat er das Entstehen und Werden der Arbeit begleitet. Ihm und seiner Frau Eva Hoffmann danke ich für eine Anteilnahme, die über den wissenschaftlichen Beistand weit hinausging. Herrn Professor Dr. Manfred Frank, dem ich wichtige Grundlagen zur Erstellung dieser Studie verdanke und dessen Forschungen zur frühromantischen Philosophie mich für das Thema der Untersuchung begeisterten. Sein Rat und Ansporn haben mich immer wieder entscheidend in meiner Arbeit motiviert. Herrn Professor Dr. Dieter Jähnig, dessen Lehrveranstaltungen mir den Einblick in die Naturphilosophie des 18. Jahrhunderts eröffnet und auch den Weg zu deren Verständnis gebahnt haben. Wertvolle Hinweise zum Selbstverständnis der geologisch-mineralogischen Forschung, ohne die meine Untersuchung eine ganz andere Richtung genommen hätte, habe ich von Herrn Professor Dr. Wolf von Engelhardt erhalten. Auch ihm gilt mein Dank. Verbunden bin ich ferner Herrn Professor Dr. Hans-Joachim Mahl, der mir in Surendorf/Holstein ermöglicht hat, Kopien von unveröffentlichten handschriftlichen Aufzeichnungen des Novalis einzusehen. Sehr gefreut habe ich mich über die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe »Hermaea«. Dafür und für die sorgfältige Betreuung während der Druckvorbereitung des Bandes danke ich den Reihenherausgebern, besonders Herrn Professor Dr. Klaus-Detlef Müller, sowie stellvertretend für den Max Niemeyer Verlag, Frau Brigitte Badelt und Frau Birgitta Zeller-Ebert. Aufgrund der Förderung der Studienstiftung des deutschen Volkes konnte die Studie ohne Unterbrechung bearbeitet und zum Abschluß gebracht werden. Ihr und insbesondere Herrn Dr. Max Brocker sage ich Dank. Ebenfalls zu Dank verpflichtet bin ich der Deutschen ForschungsVII

gemeinschaft, ohne deren Unterstützung meine Arbeit in dieser Form nicht hätte veröffentlicht werden können. Danken möchte ich schließlich den Freunden und vor allem Herrn Priv. Doz. Dr. Wolfgang Pahl sowie meiner Familie, die mich stets unterstützt haben, sei es durch Anregungen, kritische Stellungnahmen oder treue Hilfe beim Korrekturlesen. Tübingen, im April 1999

VIII

Irene Bark

Inhalt

i

Vorwort i

Novalis' Symbolik des >Mineralischen< im Spiegel der Forschung - Ort und Methode der Arbeit

i. i Das Thema

7

1.2 Die allgemeine Forschungslage

10

1.3 Zur Editions- und Rezeptionsgeschichte der naturwissenschaftlichen Schriften des Novalis

19

1 .4 Novalis' mineralogisch-montanistische Symbolik und die Literaturwissenschaft - ein Bericht über den Stand der Forschung

25

1.5 Zur Methode der Untersuchung

66

2

Der theoretische Status des Anorganischen in der Naturwissenschaft und Naturphilosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts

2.1 Die >Geschichte< der Erde 1.1.i 2.1.2

79

Die Geologie (G.-L. L. de Buffon) Die Mineralogie (A. G. Werner, J. F. Gmelin, J.-C. de Lametherie)

Il8

2.2 Die Rolle des Anorganischen in Physik, Chemie und Physiologie

145

2.2.1 2.2.2 2.2.3

Die >Schwere< (P. S. de Laplace, F. A. C. Gren) Die chemische >Wahlverwandtschaft< der Stoffe (F. A. C. Gren, L.-B. G. de Morveau) Der >organische Bildungstrieb< und die >Lebenskraft< Q. F. Blumenbach, C. F. Kielmeyer, J. C. Reil, J. Brown, J. A. Röschlaub)

2.3 Die naturphilosophische Konzeption des Anorganischen . . . . 2.3.i

Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophie (F. W. J. Schelling)

85

145 155 178

216 2l6 IX

2.3.2

3

Die Rolle des Anorganischen im System der Naturphilosophie (R W. J. Schelling, H. Steffens)

232

Der Stein im Werk des Novalis

3.1 Zur Topographie des >Mineralischen< im Gesamtwerk Novalis' Affinität zur Welt der Mineralien und Gesteine - der »Steinsinn« 3.1.2 Der Steinmotivkomplex - das »Steinreich« 3.1.2.1 Mineralogie 3.1.2.2 Poetik und Philosophie Die Natur als »Chiffernschrift« Der >Metamorphosenkreislauf< Die Montankunde Der »Stein der Weisen« Das »höchste Leben in Stein« - die Symbolik des >Herzsteins< >Menschen< - >Kristalle
Natur< und der >Geist< Der Galvanismus und das Denken Der Galvanismus und die Dichtung 3.3.2 »Geometrie im Kristall« - das Strukturgesetz der mineralischen Bildung 3.3.2.1 Die Theorie von der Struktur der Kristalle Allgemeines zur Geschichte der Kristallographie J.-B. L. de Rome Delisle Torbern Bergmann Rene Just Hauy 3.3.2.2 »Kristallologie« und »Kristallogenie« - Novalis' Poetik des Kristallinen »Salinistik« Die mineralogisch-kristallographischen Studien Reizphysiologie - Kristallographie - Philosophie »Krystallologie« und »Krystallogenie« X

354 362 364 367 374 380

389 389 389 399 399 403 413 420 42° 4 22 427 43 2 437 445 445 44^ 45^ 467

»Enzyklopädistik« Poetik und Kristallographie

4

Resümee und Ausblick

473 477

487

Literaturverzeichnis

491

Personenregister

505

XI

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung über Novalis' Philosophie und Poetik des >Mineralischen< geht von einem methodischen Gesamtkonzept aus, innerhalb dessen das Zusammenspiel naturwissenschaftlicher, philosophischer und dichtungstheoretischer Betrachtungsaspekte der verwendeten Symbolik berücksichtigt wird. Tatsächlich aber hat sich der ursprüngliche Plan im Verlauf meiner Auseinandersetzung mit der geologisch-mineralogischen Begriffs- und Bilderwelt in Novalis' Philosophie und Dichtung zunehmend in Richtung des Versuchs einer Rekonstruktion des naturwissenschaftlichen Vorstellungsgehaltes ausgewählter Motive erweitert. Ausgelöst und motiviert wurde die Konzentrierung auf den historischen Verständnishintergrund der poetischen Symbolik durch die Einsicht, daß z.B. die Frage nach der Bedeutung philosophischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse für Novalis' Dichtung auf literaturwissenschaftlichem Weg erst dann angemessen beantwortet werden kann, wenn zunächst deutlich gemacht wird, inwieweit der theoretische Entwurf einer poetischen >Enzyklopädistik< in seinem Gesamtwerk auch durch die produktive Adaption zeitgenössischer chemisch-physikalischer Anschauungen und Vorstellungsmodelle beeinflußt ist. Im Blick auf die empirischen Rezeptionsgrundlagen des frühromantischen Denkens und Dichtens eröffnet sich ein weitverzweigter Gegenstandsbereich, dessen schrittweise Erkundung im Rahmen der derzeitigen philosophischen und germanistischen Frühromantikforschung erst begonnen hat. Im folgenden sollen einige Hinweise auf das ursprüngliche Vorhaben und die tatsächliche Durchführung meiner Untersuchung gegeben werden. Daß der anfängliche Plan schließlich nur zu einem Teil - in der hier vorgelegten Fassung zu zwei Dritteln aus >Naturphilosophie< und Naturwissenschaft bestehend - realisiert wurde, dies ist im wesentlichen dadurch begründet, daß ungeachtet der Komplexität des historischen Forschungsgebiets das Ziel aufrechterhalten wurde, den im eigentlichen Sinne >philologischen< Nachweis einer gegenseitigen Beeinflussung verschiedener Vorstellungskonzepte in Novalis' dichterischem Werk auf der Grundlage einer Erschließung des philosophischen und naturwissenschaftlichen

Fundaments seiner Dichtung zu führen. Von dem in drei Teilen angelegten Gesamtkonzept sind jedoch nur die ersten zwei Abschnitte zur Durchführung gelangt. So bildet die wissenschaftsgeschichtliche Darstellung spezieller Theorien der Naturphilosophie und Naturwissenschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts den Schwerpunkt des ersten Teils, an den sich dann in einem zweiten Teil zunächst ein Überblick über Novalis' Symbolik des Anorganischen anschließt. Die kursorische Betrachtung geologisch-mineralogischer Topoi in seiner Dichtung und Theorie dient als Hintergrund einer nachfolgenden Untersuchung von poetischen Konstruktionsprinzipien, an deren Beispiel sich die Vernetzung heterogener Wirklichkeitsperspektiven in bezug auf eine systematische philosophische Begründung der eigenen poetischen Praxis verdeutlichen läßt. In den Mittelpunkt dieser Analyse treten Begriffe und Bilder, welche ebenfalls aus dem Anschauungsbereich der damaligen Chemie, Physik und Mineralogie stammen. Integriert in die exemplarischen Interpretationen des zweiten Teils der Untersuchung sind Exkurse zur Überlieferungsgeschichte bestimmter Symbole mit der Absicht, die bereits in Novalis' gedanklichen Entwürfen vollzogene >Mischung< verschiedener Wahrnehmungskontexte hinsichtlich traditionsgeschichtlicher Verständnisvoraussetzungen der poetischen Bilder zu erhellen, welche über deren bereits skizzierten naturwissenschaftlichen Vorstellungshorizont hinausweisen. In dem geplanten dritten und letzten Untersuchungsabschnitt sollten die in seinen wissenschaftlichen Studienaufzeichnungen unter dem zentralen Gesichtspunkt der Idee einer prinzipiellen Analogie materieller und geistiger Strukturbildungsprozesse entwickelten innovativen poetologischen Anschauungen dann abschließend im Hinblick auf ihre tatsächlichen Anwendungsmöglichkeiten in der Dichtung näher betrachtet werden. Gegenüber jenem Verfahren, welches - ausgehend etwa von einer literaturwissenschaftlichen Interpretation ausgewählter Textstellen - eine sukzessive Entschlüsselung der vielschichtigen Organisation des poetischen Werks unternehmen könnte, hat die hier gewählte induktive Arbeitsweise den Vorteil, daß im Rahmen der Sondierung philosophischer und naturwissenschaftlicher Vorstellungsmuster, mit denen sich Novalis nachweislich auseinandergesetzt hat, eine allgemeine theoretische Basis geschaffen wird, auf der weiterführende Analysen des poetologischen Deutungsgehaltes seiner (natur)wissenschaftlichen Symbolik über den Motivkomplex des >Mineralischen< hinaus aufbauen können. Zudem bildet der hier unternommene Rekonstruktionsversuch der spekulativen und empirischen Erfahrungsgrundlagen frühromantischer Poesie ein all-

gemeines Gerüst, auf dessen historisch-begrifflicher Grundlage erst erfaßbar wird, inwieweit z.B. der Entdeckungsreichtum der damaligen Experimentalphysik und Chemie dem frühromantischen Denken und Dichten maßgebliche Impulse geliefert hat. Überdies läßt sich von der exemplarischen Skizzierung der geschichtlichen Rezeptionshintergründe ausgehend auch die Frage nach möglichen theoretischen und praktischen Konsequenzen von Novalis' Reflexionen für die Ausbildung einer modernen philosophischen Methodologie und Ästhetik im Sinne der notwendigen Ergänzung diskursanalytischer, semiotischer und textlinguistischer Untersuchungsansätze durch quellenkritische Interpretationsverfahren weiterverfolgen. Inwieweit läßt sich die These, daß Novalis im Rahmen seiner eingehenden Beschäftigung mit den zeitgenössischen Wissenschaften u.a. Vorstellungsmuster aus dem chemisch-physikalischen Anschauungsbereich rezipiert, die dann zu grundlegenden Strategien der poetischen Wirklichkeitskonstruktion umfunktioniert werden, im Blick auf sein dichterisches CEuvre belegen? Hierzu möchte ich kurz auf das in einem dritten Teil der vorliegenden Untersuchung geplante Vorhaben einer literaturwissenschaftlichen Analyse von Novalis* Symbolik des >Mineralischen< eingehen. Dabei soll deutlich werden, daß der hier skizzierte historische Verständnishintergrund der für Novalis' gesamtes Werk charakteristischen Interferenz philosophischer, naturwissenschaftlicher und poetologischer Gedankenmodelle Prämissen bereitstellt, an die weiterführende literaturwissenschaftlich-linguistische Analysen seiner Dichtung anknüpfen können. So könnte wohl am Beispiel des Klingsohrmärchens des >Heinrich von Ofterdingen< gezeigt werden, daß der poetische Text durch den Einsatz von Assoziationsstrategien konstituiert wird, in deren Umsetzung sich der Einfluß von konkreten Vorstellungen aus dem Erfahrungsbereich der zeitgenössischen chemisch-physikalischen Forschung niederschlägt. Das philosophische und naturwissenschaftliche Verständnis des Begriffs der >Reihenbildung< bietet etwa einen Schlüssel, mit dessen Hilfe der dynamische Prozeß der wechselseitigen Spiegelung divergierender Denkfiguren und Bilder in Zuspitzung auf einen philosophischen Grundsatz aufgeschlossen werden kann. Dieser garantiert die Korrelation der Diskurse in theoretischer Hinsicht. Den dichterischen Entwurf eigengesetzlicher Welten des Traums und der Phantasie prägt eine Überlagerung und Transformation zunehmend multipler Wahrnehmungsaspekte, die letztlich zu einer schrittweisen Auflösung und Entgrenzung der objektiven Erfahrungswirklichkeit führen, wobei der Prozeß der schöpferischen Imagina-

tion in der produktiven Rezeption des dichterischen Werks durch einen >aktiven< Leser im Sinne der vom Autor inszenierten >Romantisierung< der Wirklichkeit ins Unendliche fortgesetzt wird. Auch die allegorische Erzählstruktur von Novalis' Märchen ist durch eine experimentelle Kombination von Motiven aus unterschiedlichen Zeiten und Räumen der geschichtlichen Wahrnehmung gekennzeichnet. Die in sich verflochtenen Figurenkonstellationen eröffnen dem Leser Interpretationslabyrinthe ohne Ausgang. Aus der narrativen Verkettung der Ansichten und Sujets resultieren strukturelle und semantische Überschneidungen sowie Austauschbeziehungen zwischen herkömmlicherweise weit voneinander entfernten Positionen und Kontexten, die aufgrund des permanenten Wechsels der Betrachtungsperspektiven und der dadurch bewirkten andauernden Verschiebung des jeweiligen Referenzhorizontes momentan eingenommener Standpunkte eine immer verwickeitere, rückhaltlose Wahrnehmung singulärer Gegenstände bedingen. Der poetischen Gestaltung liegt ein gedankliches Konzept zugrunde, das sich die systematische Reflexion der Konstitutionsleistungen der transzendentalen Subjektivität zur Aufgabe gemacht hat. Diese begreift die >objektive< Wirklichkeit in Abhängigkeit einer subjektiven Verstandestätigkeit, die jedoch ihre eigentliche Legitimationsbasis - die absolute Identität des Bewußtseins letztlich nicht aus eigenen (begrifflichen) Mitteln zu erfassen vermag. Der Dichter und Philosoph erkennt jedoch in den bizarren Formen und Gestalten der anorganischen und der organischen Natur basale Strukturbildungsgesetze, deren empirische Erforschung auf die naturgeschichtlichen Ursprünge der Entwicklung des eigenen Daseins und damit auf den geheimnisvollen Seinsgrund des Geistigen und des Materiellen verweist. Vor dem Hintergrund der Entdeckung des erdgeschichtlichen Entwicklungsprozesses durch die zeitgenössische Geologie erklärt sich das besondere Interesse, welches die frühromantische Philosophie und Dichtung für die Welt der Mineralien und Gesteine in ihrer symbolischen Funktion als Spiegel einer vorgeschichtlichen Vergangenheit des menschlichen Geistes entwickeln. So ist die Reflexion neuer literarischer Darstellungstechniken im Werk des Novalis durch seine intensive Auseinandersetzung mit der damaligen Naturforschung bedingt. Das belegen nicht nur die theoretischen Studienaufzeichnungen zur Enzyklopädistik, in denen er sich eingehend mit Fragen der >experimentellen< Kombinatorik von Anschauungen und Methoden aus verschiedenen natur- und geisteswissenschaftlichen Gegenstandsbereichen beschäftigt. Quellenkritische Analysen dieser Aufzeichnungen zeigen, daß die genaue empirische Kenntnis chemisch-physikalischer Organisationsformen der Materie eine wesentliche

Voraussetzung der reziproken Übertragung entsprechender Denkmodelle bildet. Neben anderen Forschungsgegenständen u.a. aus dem Bereich der Mathematik, Medizin und Physiologie repräsentiert beispielsweise das mathematisch-chemisch-physikalische Schema des kristallinen Strukturaufbaus der anorganischen Natur nicht zuletzt aufgrund seiner paradigmatischen Funktion als basales Bildungsprinzip der naturgeschichtlichen Evolution der Materie ein geeignetes Vorstellungsmuster, an dem sich der Einfluß naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auf die theoretische Reflexion und den praktischen Umsetzungsversuch poetischer Grundsätze sowohl unter rezeptionshistorischen als auch unter strukturanalytischen Gesichtspunkten demonstrieren läßt. Die kristallographische Beschreibung des sukzessiven Aufbaus des Kristallkörpers zu immer komplexeren makroskopischen Formationen bezeichnet ein zeitgenössisches Anschauungsmodell, mit dessen Hilfe sich die textlinguistische Analyse spezieller rhetorisch-grammatischer Formstrukturen der Dichtung im Hinblick auf eine systematische Entschlüsselung der rezeptionsgeschichtlichen Bedingungen der Entwicklung und Antizipation moderner ästhetischer Ansichten in Novalis' Werk fruchtbar erweitern ließe. Zu berücksichtigen wären bei einer solchen Untersuchung z.B. auch die Denkentwürfe Friedrich Schlegels, der im Rahmen seiner philosophischen Deutung des ironischen Gestaltungsprinzips der Allegorie als einer zentralen Wahrnehmungsfigur des poetischen Bewußtseins Verfahrensweisen der frühromantischen Dichtung auf der Grundlage der zeitgenössischen Selbstbewußtseinsphilosophie eingehend reflektiert hat. Novalis' poetologische Interpretation naturwissenschaftlich beschreibbarer Gesetzmäßigkeiten der materiellen Bildung (Gravitation, chemische Affinität, kristalline Dekreszenz, galvanische Kette, physischpsychische Reizwirkung etc.) erhellt sich ausgehend von dem ideellen Entwurf eines enzyklopädischen Gesamtgebäudes der Wissenschaften in ihren komplizierten wechselseitigen Begründungs- und Anwendungsverhältnissen. Jedes der oben genannten Prinzipien gewinnt unter dem Gesichtspunkt einer jeweiligen Spezialdisziplin signifikante Bedeutung als Gelenkprinzip, aus dessen Blickwinkel sich wiederum Vorstellungskonzepte, die unterschiedlichen Wahrnehmungsbereichen der menschlichen Wirklichkeit entstammen, kreativ aufeinander beziehen lassen. Die in meiner Arbeit vorgenommene wissenschaftsgeschichtliche Beschreibung der allgemeinen philosophischen und empirischen Verständnisvoraussetzungen von Novalis' geologisch-mineralogischer Symbolik ließe sich überdies um eine detaillierte Untersuchung historisch-chronologisch nachweisbarer Rezeptionsbeziehungen zu einzelnen Philosophen 5

und Naturforschern seiner Zeit erweitern. Ihr spezifischer Einfluß auf sein Gesamtwerk könnte dann ebenfalls aufgezeigt werden. Interessant wäre im Blick auf den zeitgenössischen Kontext von Novalis' Wissenschaftswahrnehmung eine eingehendere Beschäftigung mit der Frage, welche Rolle etwa der Philosoph und Naturwissenschaftler Carl Christian Erhard Schmid neben Immanuel Kant, Carl August Eschenmayer, Johann Gottfried Herder oder Gottfried Wilhelm von Leibniz bei der Vermittlung grundsatzphilosophischer Annahmen, naturwissenschaftlicher Forschungsmethoden und Erkenntnisse sowie ästhetischer Anschauungen innerhalb der philosophischen Diskussionen des sogenannten Jenaer Kreises gespielt hat. Ein Blick auf Novalis' philosophische und naturwissenschaftliche Studiennotizen sowie die bisher im Rahmen der historisch-kritischen Ausgabe seiner Schriften veröffentlichten Lektürelisten zeigt, daß mit den soeben erwähnten Namen lediglich ein Bruchteil eines Gegenstandsgebietes angesprochen ist, dessen weitergehende Erforschung aus interdisziplinärer Sicht neue und überraschende Perspektiven bietet.

i

Novalis' Symbolik des >Mineralischen< im Spiegel der Forschung - Ort und Methode der Arbeit

. Das Thema Der >Stein< zählt zu den auffälligsten, in besonderer Häufigkeit auftretenden Motiven in Friedrich von Hardenbergs (Novalis') Gesamtwerk. Neben Bildern und Denkfiguren etwa aus den Vorstellungsbereichen der Mathematik, Physik, Chemie oder Physiologie ist auch die Symbolik des Anorganischen durch einen außerordentlichen semantischen Variationsreichtum geprägt. So wird das >Mineralische< in Novalis' naturwissenschaftlich-technischen Aufzeichnungen, seinen philosophischen Studien und nicht zuletzt in seiner Dichtung auf vielfältige Weise thematisiert. Angesichts der ausgeprägten begrifflichen und metaphorischen Präsenz des >Steins< erscheint der Umstand bemerkenswert, daß zu dem das philosophische und das poetische Werk umfassenden Motivbereich bisher keine spezielle Untersuchung vorliegt, in welcher der mineralogische sowie der philosophische und poetologische Deutungsaspekt der Symbolik im Hinblick auf ein Gesamtwerk thematisiert werden, das die intensive Auseinandersetzung des Philosophen, Dichters und Bergbaubeamten mit aktuellen Fragen der empirischen und der spekulativen Wissenschaften des ausgehenden 18. Jahrhunderts in umfassender Weise dokumentiert. Zwar hat sich innerhalb der neueren Novalisforschung die Einsicht längst durchgesetzt, daß sowohl der theoretisch-begriffliche als auch der poetische Diskurs in ihrer jeweiligen Bedeutung und Tragweite als integrale Bestandteile eines Verständigungsvorganges erst auf der Basis einer wechselseitigen Berücksichtigung von philosophischer Reflexion, naturwissenschaftlicher Kenntnis und dichterischer Imagination erschlossen werden können.1 Auch ist das poetische Symbol des geheimnisvollen mi1

»Daß philosophische Probleme in Hardenbergs Dichtung nicht nur weitläufig erörtert werden [...], sondern auch poetische Gestalt gewinnen, ist vielfach behauptet worden. Aber die spezifische An ihrer Umsetzung muß so lange dunkel bleiben, wie über seine philosophischen Anschauungen keine Klarheit besteht. Oberflächliche Motiwergleiche und Begriffsanalogien in Hardenbergs Werk führen angesichts der grundlegenden Verwandlung seiner Vorlagen im Schmelztiegel seiner eigenen Phantasie nicht zum Kern der

7

neralischen >Fundes< in Novalis' Romanfragmenten >Die Lehrlinge zu Sais< und >Heinrich von Ofterdingen< von literaturwissenschaftlicher Seite in seiner ausgezeichneten epistemologischen Bedeutung als »existentielle[s] Daseinssymbol« des Dichters, bildliche Umschreibung des »innere[n] Strukturgesetze[s]« seiner Poesie oder sinnliche Repräsentation einer »faktischen Ursprungserfahrung«, die »begrifflich uneinholbar« ist, bewertet worden.2 Eine Untersuchung des mineralogisch-geologischen Bild- und Begriffsfeldes, welche die philosophischen und naturwissenschaftlichen Grundlagen einer darin ausdrücklich zur Sprache kommenden Poetik unter historischen und strukturtheoretischen Aspekten berücksichtigt, steht jedoch noch aus. In der montanistischen Bilderwelt des Novalis verbinden sich das vorwissenschaftliche Erfahrungsniveau uralter Mythen und Märchen und die Wahrnehmungsstruktur eines innovatorischen Denkens, das sich in der permanenten Auseinandersetzung mit aktuellen Fragestellungen der transzendentalphilosophischen Spekulation und der empirischen Forschung des ausgehenden 18. Jahrhunderts ausgebildet hat. Das poetische Symbol erschließt sich bei näherer Betracr^ng als der Ort einer komplexen Überlagerung traditions- und zeitgeschichtlicher Vorstellungsgehalte - eine Überkreuzung divergierender Bedeutungs- und Imaginationssysteme, die sich einerseits der unbewußten Inspiration der Phantasie und des Traums sowie andererseits einem Höchstmaß an intellektuellem Kalkül und rationaler Analyse verdankt. Die Darstellung naturwissenschaftlicher Denkfiguren und Bilder im Gesamtwerk ist durch einen hohen Grad der strukturellen und semantischen Vernetzung kontrastieren der Wahrnehmungsperspektiven gekennzeichnet. Die gedanklichen Schnittstellen zwischen den verschiedenen Kontexten lassen sich in Hinsicht auf eine bewußte Strategie der Sinnverknüpfung jedoch erst dann nachweisen, wenn das naturwissenschaftliche und philosophische Fundament einer poetischen Daseinsauffassung aufgedeckt wird, deren besondere theoretische Relevanz für die moderne Ästhetik darin besteht, daß die stufenweise Ablösung vom traditionellen Postulat der Wirklichkeitsnachahmung, wie sie in Novalis' Theorie der Poesie vollzogen wird, auf Problematik.« (F. Strack, Im Schatten der Neugier. Christliche Tradition und kritische Philosophie im Werk Friedrich von Hardenbergs, Tübingen 1982, S. 241). 1 W. Vordtriede, Novalis und die französischen Symbolisten. Zur Entstehungsgeschichte eines dichterischen Symbols, Stuttgart 1963, S. 53; H.-J. Mahl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und ihrer ideengeschichtlichen Voraussetzungen, Heidelberg 1965, 8.252; Strack, op. cit. 250. 8

der Grundlage der frühromantischen Bewußtseinstheorie und Naturforschung eine prinzipielle Begründung erfährt. Die Ubiquität der mineralogischen Topoi in seiner Dichtung und Theorie bildet eine ideale Voraussetzung, um die Art und Weise der Verknüpfung von begrifflicher Spekulation, empirischer Erfahrung und poetischer Imagination im Gesamtwerk exemplarisch demonstrieren zu können. Die vorliegende Untersuchung geht von der These aus, daß das Sinnbild des >Mineralischen< im Werk des Novalis eine besondere poetologische Signifikanz als Zentralsymbol einer Dichtung gewinnt, deren neues Selbstverständnis sich in seiner Aktualität und Tragweite für die Moderne erst in der Berücksichtigung des zugrundeliegenden Sachverhalts der produktiven Adaption von speziellen Strukturmustern einer Wirklichkeitsorganisation erschließen läßt, die sich im ausgehenden 18. Jahrhundert zum einen auf der theoretischen Grundlage einer fortschrittlichen Bewußtseinsphilosophie und zum anderen auf der Erfahrungsbasis eines revolutionären Fortschritts in den unterschiedlichsten Bereichen der empirischen Naturforschung ausgebildet haben. So erklärt sich beispielsweise der ausgezeichnete philosophische Status, den die anorganische Materie als strukturierende »Seinsbasis jeder höheren Formation« - das »Älteste«, »erste Existirende« überhaupt - im Rahmen der naturphilosophischen Spekulation der Frühromantik erhält,3 erst vor dem Hintergrund einer zeitgenössischen Naturlehre, welche das Anorganische im Rahmen der chemisch-physikalischen Analyse und Experimentation in seiner Bedeutung als Ursprung und Dokument der naturgeschichtlichen >Evolution< des Lebens auf der Erde zu entschlüsseln beginnt. Der Topos des >Mineralischen< erscheint daher in mehrerlei Hinsicht besonders dazu geeignet, die Komplexität des Zusammenhangs unterschiedlicher Konzepte und Imaginationen in Novalis' CEuvre transparent zu machen. So verbindet sich in der frühromantischen Philosophie und Naturwissenschaft der Versuch einer systematischen transzendentalphilosophischen Reflexion der theoretischen Bedingungen einer objektiven Wirklichkeitserfassung mit dem naturphilosophischen Unternehmen einer spekulativen Rekonstruktion des dynamischen Bildungsprozesses der materiellen Natur. Vor dem zeitgenössischen Erfahrungshintergrund der naturwissenschaftlichen Bestimmung der Materie mündet dieser Versuch in die grundlegende Erfahrung ein, daß herkömmliche kategoriale Erklärungen naturhafter Entwicklungsvorgänge zugunsten von Wahr3

Siehe dazu M. Frank, Steinherz und Geldseele. Ein Symbol im Kontext, in: ders., (Hrsg.), Das kalte Herz und andere Texte der Romantik, Frankfurt a.M. 1978, S. 251.

nehmungsweisen revidiert werden müssen, welche den Aspekt einer den Bereich der >Natur< und der >Geschichte< umfassenden Organisationsstruktur berücksichtigen, die sich nicht mehr nur mit dem Instrumentarium der rationalen Begrifflichkeit erfassen läßt. Im Rahmen einer exemplarischen Analyse ausgewählter mineralogisch-geologischer Begriffe und Motive eröffnet sich die Chance einer schrittweisen Annäherung an das frühromantische Denken - es handelt sich hierbei um eine Annäherung, die in Ergänzung der historischen Einschätzung des frühromantischen Denkers und Dichters Novalis im Sinne einer »literarisch-philosophische[n] Doppelgestalt«4 zugleich den Versuch unternimmt, die in seiner theoretischen Konzeption des >Mineralischen< vollzogene Konvergenz philosophischer, naturwissenschaftlicher und dichterischer Diskurse im Hinblick auf den Kerngedanken einer Philosophie zu erhellen, die den eigentlichen Anstoß ihrer unaufhörlichen Reflexionen - die Idee eines >absoluten< Bewußtseins als Bedingung der Möglichkeit von >Wissenschaft< überhaupt - vergeblich aus eigenen Mitteln zu erfassen versucht.

1.2 Die allgemeine Forschungslage Die »Ambivalenz der Wirkungsgeschichte«5 von Novalis' Werk hat die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Romantik auf beispielhafte Weise bestimmt. Das Bild des verträumten, jünglingshaften >Dichters der blauen BlumeRomantischen Schule< (1835) mit leisem Spott gegenüber der romantischen Bewegung entworfen hatte und welches »bei Generationen von Lesern und Interpreten nachwirkte«, erfuhr erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eine tiefgreifende »Erschütterung«,6 deren Folgen bis heute nachwirken. Und der Umschlag in der Beurteilung des Novalis vom »geniale[n] Phantasten« hin zum »ernsthafte[n] Denker« kennzeichnet zugleich stellvertretend die Situation der Romantikforschung in Deutschland, die in besonderer Weise durch eine »schwankende« Haltung gegen4

M. Frank, Nachwort zur Neuauflage der Dissertation >Das Problem >Zeit< in der deutschen Romantik. Zeitbewußtsein und Bewußtsein von Zeitlichkeit in der frühromantischen Philosophie und in Tiecks Dichtung«, Paderborn, München, Wien, Zürich 1990*, 5.505. 5 H.-J. Mahl, Friedrich von Hardenberg (Novalis), in: B. v. Wiese (Hrsg.), Deutsche Dichter der Romantik. Ihr Leben und Werk, Berlin 1971, S. 193. * N. Lohse, Dichtung und Theorie. Der Entwurf einer dichterischen Transzendentalpoetik in den Fragmenten des Novalis, Heidelberg 1988, 8.44. IO

über den Vertretern jener Epoche geprägt ist.7 Die Literaturwissenschaft hat im Rahmen der Aktualisierung der sogenannten >Frühromantik< insbesondere im Hinblick auf die Wiederentdeckungsgeschichte des Novalis als einer ihrer schillerndsten Figuren eine seltene Zuspitzung erfahren. Deren besondere Dynamik gründet in dem Anliegen, jenen »deutliche[n] Riß« zu schließen, der im Verlauf der Rezeptionsgeschichte zwischen dem Bild des »weltferne[n] Mystiker [s] und Träumer [s]« und der Vorstellung eines »hochintellektuellen Dichters und Denkers« entstanden war, in dessen Werken man heute »>Prolegomena< zur modernen Literatur« zu erkennen »glaubt«.8 In der Ablösung von Pauschalbeurteilungen des romantischen Denkens als Rückfall in voraufklärerische Weltanschauungen9 und einer damit gleichzeitig einhergehenden Neubewertung vor allem auch der sogenannten >Frühromantik< im Hinblick auf ihr Selbstverständnis als einer konsequenten Fortsetzung der Aufklärung10 hatte sich eine Kluft zwischen entgegengesetzten Etikettierungen gebildet, aus deren schwierigen Vermittlungsversuchen zugleich wesentliche Antriebsmomente des besonderen Interesses an Novalis' Werk resultieren. Friedrich Strack sieht die Forschung angesichts der zwiespältigen Beurteilung und der Disparität der Stellungnahmen, welche dessen Werk von Anbeginn hervorrief, vor die Frage gestellt, >ob< und >wie< sich ein Zusammenstimmen der konträren Tendenzen realisieren lasse. »Sein Konservativismus und seine Modernität«, so Strack, »akute Probleme, die Hardenbergs philosophisches und dichterisches Werk aufwirft«, konstatierend, »werden in der Forschung 7

M. Frank, Die Philosophie des sogenannten >magischen IdealismusRuchlosepoetischen< Novalis integriert [wurde]«,34 obwohl die Bedeutung der naturwissenschaftlich-technischen Ausbildung und Tätigkeit als wesentlicher Bestandteil seines Denkens und Dichtens schon lange erkannt und beschrieben worden ist,35 ist eine Problemstellung angesprochen, deren Betrachtungsspektrum im Rahmen einer anschließenden Darstellung der bisherigen Forschungslite32

Siehe ebd. Siehe dazu W. Rasch, Zum Verhältnis der Romantik zur Aufklärung, in: Ribbat (Hrsg.), op. cit. 54-74; U. Stadier, Zwischen Aufklärungskritik und Aufklärungsfeindschaft. 34 Uerlings, op. cit. 193, Anm. 78. 35 Siehe u.a. R. Samuel, Der berufliche Werdegang Friedrich von Hardenbergs, in: DVjs, Buchreihe, 16. Bd. (Romantik-Forschungen), Halle 1929, 8.83-112; G. Schulz, Die Berufstätigkeit Friedrich von Hardenbergs (Novalis) und ihre Bedeutung für seine Dichtung und Gedankenwelt, Univ. Diss. (Masch.), Leipzig 1958; Mahl, Friedrich von Hardenberg 2O4f. 33

ratur zur bergbaulichen Symbolik im Werk des Novalis skizziert werden soll. Das Ziel der anschließenden Skizze ist es, das Thema und die Methode der Gesamtuntersuchung im Horizont der aktuellen literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem philosophisch-naturwissenschaftlich-literarischen Gesamtphänomen des >Romantischen< zu situieren. Der Überblick über die Situation der Forschung orientiert sich an repräsentativen Studien, die unter dem Gesichtspunkt einer kritischen Beurteilung der in den jeweiligen Studien gewählten methodischen Schwerpunktbereiche einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung der mineralogisch-montanistischen Symbolik im "Werk des Novalis vorgestellt werden. Eine Schwierigkeit des Themas Naturwissenschaftliche Symbolik des Novalis< besteht darin, daß es den engeren Bereich des Literarisch-Ästhetischen in Richtung auf weitergehende Möglichkeiten der Wirklichkeitswahrnehmung und -darstellung überschreitet, deren komplexe Beziehungen untereinander sich erst dann erschließen, wenn die jeweiligen Positionen und Perspektiven in ihrer Verknüpfung und Differenzierung sowohl unter historischem als auch strukturtheoretischem Blickwinkel sichtbar gemacht werden-eine entsprechende Gesamtanalyse setzt daher Betrachtungsperspektiven voraus, deren interdisziplinärer Charakter sich erst dann als solcher erweist, wenn der momentan eingenommene Blickpunkt aufgrund seiner eigentümlichen Relativität stets in Frage gestellt bleibt. Die Gründe für die auffallende Zurückhaltung der literaturwissenschaftlichen Forschung gegenüber dem Phänomen einer in Novalis' Gesamtwerk hergestellten Verbindung von philosophischer Spekulation, naturwissenschaftlicher Forschungstätigkeit und poetischer Produktion sind vielfältig und sollen im folgenden nur insoweit angedeutet werden, als dies zu einer weiteren Klärung spezieller Problemstellungen der vorliegenden Untersuchung beiträgt. Der bereits erwähnte Wandel in der Einstellung der Forschung gegenüber seinem Werk und die daraus resultierende fundamentale Neubewertung des Denkens und Dichtens sind wesentlich bedingt durch die Anfang der sechziger Jahre im Rahmen der zweiten Auflage der historisch-kritischen Ausgabe fortgesetzte und im Jahre 1988 mit dem Erscheinen eines Kommentarbandes zum vorläufigen Abschluß36 gelangte chronologische 36

Nach Fertigstellung dieser Studie erschienen 1998 f. die Teilbände 1-2 eines sechsten Bandes der HKA (siehe Literaturverzeichnis, 8.491). In den angekündigten Teilbänden 3-4 des sechsten Bandes sollen u.a. im Jahre 1983 von Mahl in der Biblioteka Jagiellonska wiederentdeckte Schriften und Aufzeichnungen aus der Zeit der Berufstätigkeit des Bergbauassessors Friedrich von Hardenberg veröffentlicht werden (siehe dazu Mahl, Vor2O

Neuordnung des Gesamtwerks. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Editions- und Rezeptionsgeschichte besteht darin, daß die mit der zweiten Auflage des Gesamtwerks präsentierte Neuordnung des philosophischen und naturwissenschaftlichen Werks, also die u.a. aufgrund neuer handschriftlicher Befunde erfolgte Ergänzung bzw. Revision der chronologischen Ordnung der im Jahr 1929 erschienenen ersten Auflage, eine veränderte Lesart des Werks erst ermöglicht hat.37 In der Neugliederung der sogenannten >Fragmente< eröffneten sich bisher verkannte Aspekte eines nun als außerordentlich diszipliniert und kohärent wahrnehmbar gewordenen Denkens. Die bisher strikt aufrechterhaltene Trennung von Wissenschaft und Dichtung, welcher die Zweiteilung des Gesamtwerks in ein philosophisches und ein dichterisches Werk entsprach, wurde fragwürdig.38 Die verspätete und weiterhin zurückhaltende Anerkennung der Mehrdimensionalität und des Facettenreichtums von Novalis' philosophisch und naturwissenschaftlich fundierter Symbolik, die auffallend seltenen interdisziplinär vorgehenden Symbolanalysen erklären sich somit auch vor dem Hintergrund einer Editionsgeschichte aus der Not einer literaturwissenschaftlichen Forschung, welche die theoretischen Grundlagen ihres Gegenstandes bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts nicht adäquat berücksichtigen konnte. Das Beispiel der Rezeptionsgeschichte des romantischen Zentralsymbols der >blauen Blume< - die sich als eines der »widerspenstigsten Themen der Interpretation innerhalb der kritischen Forschung der deutschen Frühromantik« erwiesen hat39 - veranschaulicht, daß die ausgesprochene Zurückhaltung im Bereich interdisziplinärer Analysen von Novalis' poetischer Bilderwelt vor allem auch durch die unvollständige und ungeordnete Editionslage seiner Schriften begründet wort, HKA V, S. VIIff. u. ders., Vorwort, HKA VI, i.Teilbd., S.IX-XIV). Der 5.Band dieser Ausgabe enthält bereits ein Verzeichnis der sogenannten >Salinenschriften< (17981800) nach den aufgefundenen Handschriften aus Krakau (HKA V 27-119 und dazu die entsprechende Einleitung von Mahl, ebd. 17-25). Zum Wandel der Forschungsituation siehe auch H. Kurzke, »Echter König, echte Poesie.« Zur Fortsetzung der historisch-kritischen Novalis-Ausgabe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.07. 1989. Siehe auch hier Kapitel 3, 8.446, Anm. 383. 37 Zum Verhältnis von Editionsgeschichte und Forschung siehe G. Rommel, Novalis' Begriff vom Wissenschaftssystem als editionsgeschichtliches Problem, in: Novalis und die Wissenschaften, hrsg. v. H. Uerlings, Tübingen 1997, 8.23-47. 3 Siehe dazu R. Samuel, Vorwort zur dritten Auflage des 2. Bandes von Novalis' Schriften, HKA II, S. V-XIII; ders., Vorbemerkung zur dritten Auflage des 3. Bandes von Novalis' Schriften, HKA III, S. IX-XV; N. Lohse, Dichtung und Theorie 44ff.; Mahl, Friedrich von Hardenberg 2oBlauen Blume< des Novalis, in: Monatshefte für Deutschen Unterricht, Deutsche Sprache und Literatur, Vol. 43, Madison, Ws. 1951, S. 327334, hier S. 327. 21

war. Nachdem sich aber mit der chronologischen Neuordnung der theoretischen Aufzeichnungen im Rahmen der Neuausgabe des Gesamtwerks diese Lage inzwischen erheblich verbessert hat, sieht sich der Interpret jedoch nun vor die grundlegende Schwierigkeit eines angemessenen wissenschaftlichen Zugangs zu einem unvollendeten Gedankengebäude gestellt, das in der vorliegenden Form seines Aufbaus aus Fragmenten, Notizen und Exzerpten eine experimentelle Vorgehensweise der Gedankenbildung im Sinne der permanenten Überblendung momentan eingenommener Perspektiven und Standpunkte, ein assoziatives Ertasten mehrdimensionaler Ideen und Bilder, eine produktive Rezeption unterschiedlichster Vorstellungsgehalte kennzeichnet, die sich in ihrem poetischen Charakter jeder einseitigen Beurteilungsperspektive verschließt. Allzu leicht unterliegt der Leser der Gefahr, willkürliche Verbindungslinien zwischen den bruchstückhaften Aufzeichnungen zu ziehen oder aufgrund einer isolierten Betrachtung einzelner Notizen Feststellungen zu treffen, welche die singuläre Niederschrift aufgrund der fehlenden Berücksichtigung des tatsächlichen Erfahrungshintergrundes einer speziellen Lektüre oder der Ausbildung eines umfassenderen theoretischen Kontextes auf eine von außen projizierte Interpretationsperspektive einengt - ein in unangemessener Weise aktualisierendes Verständnis, dem nur dadurch begegnet werden kann, daß der historische Entstehungshintergrund einzelner Notizen oder komplexerer Aufschriebe des Novalis aufgedeckt und die eigentlichen Quellen und Anstöße seiner Gedankenentwicklung festgestellt werden. Die besondere Schwierigkeit einer angemessenen Interpretation einzelner philosophischer oder naturwissenschaftlicher Aufzeichnungen, die sich nicht ohne weiteres auf das überschaubare Gebiet einer bestimmten Disziplin begrenzen lassen, ist - wie bereits angedeutet - vor allem dadurch begründet, daß die Gedankenwelt des Novalis in ihrem vielschichtigen Ausmaß durch eine schöpferische Überlagerung unterschiedlichster Einflüsse aus allen nur denkbaren Wissensgebieten seiner Zeit geprägt ist - Einflüsse, die der Philosoph und Bergbaubeamte im Erfahrungsraum seines theoretischen und praktischen Umgangs mit der Naturwissenschaft und Technik seiner Zeit ausgehend vom Standpunkt einer hochspezialisierten Kenntnis rezipiert hat. So tritt die Bedeutung von Novalis' Aufzeichnungen u.a. zur Chemie, Physik, Physiologie und vor allem auch der Mineralogie und Kristallographie als Beleg seiner aktiven Beteiligung an einer Forschungsdiskussion zutage, deren rasanter Fortschritt durch zahlreiche Veröffentlichungen insbesondere in den entsprechenden - innerhalb kurzer Zeitabstände aufeinander folgenden - Journalen zur Che22

mie und Physik40 dokumentiert ist. Der hier durchgeführten Unternehmung eines exemplarischen Aufweises theoretischer Grundlagen von Novalis' Poetik des >Mineralischen< liegt demzufolge die Überzeugung zugrunde, daß die Analyse struktureller Konvergenzen und Transformationsbeziehungen zwischen den unterschiedlichen Ebenen seiner Wirklichkeitsaneignung am Beispiel des mineralogischen Bild- und Begriffsfeldes im übergeordneten Rahmen einer vergleichenden Betrachtung spezifischer Muster und Modelle von Novalis' philosophischem und naturwissenschaftlichem Denken in ausdrücklicher Berücksichtigung der aktuellen empirischen Forschungssituation im ausgehenden 18. Jahrhundert durchgeführt werden muß. Ein weiterer Grund dafür, daß die naturwissenschaftliche Bilderwelt des Novalis unter dem Gesamtaspekt einer sich darin manifestierenden Interferenz unterschiedlicher theoretischer und praktischer Diskurse bis heute sehr zurückhaltend betrachtet wurde, liegt darin, daß mit der Rekonstruktion der bisher einseitig beleuchteten und nun in präziser philosophiegeschichtlicher Abgrenzung zum sogenannten »deutschen Idealismus« definierten »frühromantischen Philosophie« und dem damit verknüpften Anliegen, die »Frühromantik« »aus einem Keimgedanken« als philosophisch-literarisches »Gesamtphänomen«41 in seiner Aktualität und Tragweite für die moderne Ästhetik zu erschließen, erst die inhaltlichen Voraussetzungen einer eingehenderen Analyse des philosophischen Bedeutungsgehalts des dichterischen Bildes geschaffen wurden.42 So geht die jüngere Frühromantikforschung inzwischen einhellig von der These aus, daß sich die in einem kurzen Zeitraum von nur wenigen Jahren innerhalb des sogenannten >Jenaer Zirkels< auf eigentümliche Weise akzelerierende »Doppelproduktion in Philosophie und Dichtung« in ihrer besonderen wirkungsgeschichtlichen Tragweite dem »nur-philosophischen« und dem »nur-germanistischen« Zugang verschließt und zu ihrer adäquaten Erfassung vielmehr »eine Hermeneutik [erfordert], die den literari40

Siehe dazu auch hier S. 361, Anm. 223. Siehe M. Frank, Nachwort zur Neuauflage seiner Dissertation >Das Problem >Zeit< in der deutschen RomantikJena-Projekts< durchgeführten Untersuchungen zur frühromantischen Bewußtseinsphilosophie: ders., Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789-1795), Stuttgart 1991 (weitere Literaturangaben siehe hier Anm. 21). 41

23

sehen und spekulativen Diskurs auf eine Quelle hin verfolgt und aus ihr in verschiedene Täler leitet«.43 Die vorliegende Arbeit profiliert gegenüber der soeben angesprochenen Einschätzung der Frühromantik als »literarisch-philosophische[r] Doppelgestalt«44 die These, daß die exemplarische Analyse der in Novalis' poetischem Entwurf des >Mineralischen< zwangsläufig vollzogenen Konvergenz von naturwissenschaftlicher Reflexion, philosophischer Spekulation und dichterischer Produktion das Wesen der Frühromantik selbst auf grundlegende Weise als Phänomen einer >Triplizität< von Naturwissenschaft, Philosophie und Poesie zu klären hilft; und es wird zu zeigen sein, inwiefern sich das Symbol des Steins aufgrund seiner die einzelnen Disziplinen übergreifenden Paradigmatik hierfür auf geradezu ideale Weise anbietet. Ein weiterer wichtiger Grund für die bisherige Zurückhaltung im Bereich interdisziplinärer Analysen der naturwissenschaftlichen Bilder- und Gedankenwelt im Werk des Novalis bildet der Sachverhalt, daß erst seit wenigen Jahren umfassendere wissenschaftshistorische Dokumentationen über das Spektrum einzelner naturwissenschaftlicher Forschungsbereiche im ausgehenden 18. Jahrhundert in konkretem Bezug auf eine daran anknüpfende naturphilosophische Spekulation vorliegen. So hat sich beispielsweise im Verlauf der Vorarbeiten zur vorliegenden Studie der im Jahr 1994 als Ergänzungsband der Historisch-kritischen Ausgabe von Friedrich Wilhelm Joseph Schellings Werken erschienene >Wissenschaftshistorische Bericht zu Schellings naturphilosophischen Schriften 1797i8oo< 45 für eine Untersuchung, die sich mit den naturwissenschaftlichen Grundlagen von Novalis' Poetik beschäftigt, von grundlegender Wichtigkeit insofern erwiesen, als dieser Band Theorien der Chemie, des Magnetismus, der Elektriziät, des Galvanismus sowie physiologisch-anthropologische Organismustheorien des ausgehenden 18. Jahrhunderts und des beginnenden 19. Jahrhunderts erstmals in der Form einer umfassenden wissenschaftsgeschichtlichen Dokumentation vorstellt und somit eine zusammenhängende Darlegung naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle bietet, die im Rahmen einer Analyse der geologisch-mineralogischen Symbolik des Novalis mitberücksichtigt werden sollte. Zusammen mit einer erstmals in dieser Form vorliegenden Bibliographie der wichtigsten 43

Frank, Nachwort zu >Das Problem >Zeit«, 2. Aufl., S. jo6. Ebd. 505. 45 Ergänzungsband zu Band 5-9 der Historisch-kritischen Ausgabe von Schellings Werken, hrsg. v. H. M. Baumgartner, W. G. Jacobs u. H. Krings, Stuttgart 1994 [im folgenden im Text zitiert: HBS, S.]. 44

24

Primärtexte bildet dieser Bericht eine unumgängliche Grundlage jeder weiteren philosophischen und literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit empirischen Fragestellungen des 18. Jahrhunderts. Darüber hinaus stellen derzeitige Forschungsprojekte zum Thema >Romantische Naturforschungs die sich mit der Ursprungskonstellation der Naturphilosophie um 1800 auch hinsichtlich einer Revision der herkömmlichen schematischen Gegenüberstellung von naturwissenschaftlicher >Aufklärung< und transzendentaler >Spekulation< befassen,46 fundamentale Einsichten und Diskussionsstandpunkte einer unabgeschlossenen Debatte vor, die ebenfalls in eine Arbeit über Novalis' philosophische und poetische Mineralogie einzubeziehen sind.

1.4 Novalis' mineralogisch-montanistische Symbolik und die Literaturwissenschaft - ein Bericht über den Stand der Forschung Angesichts einer so komplexen Symbolik, wie sie Novalis' Werk beinhaltet, muß nach den methodischen Zugangsmöglichkeiten und ihrer Korrelierung im Hinblick auf eine Gesamtschau gefragt werden. In der Forschungsliteratur wurde seine mineralogisch-montanistische Bilderwelt bisher entweder unter einem übergeordneten oder einem bewußt eingeschränkten Blickwinkel betrachtet. Die Chronologie der bereits vorliegenden Studien zum Thema >Symbolik des Bergbaus in Novalis' Gesamtwert spiegelt den Entwicklungsgang der Frühromantikforschung, deren momentane Lage mit den soeben skizzierten Problemstellungen bereits angesprochen ist.47 46

Siehe dazu z.B. L. Müllers Bericht über die in Jena in Zusammenarbeit mit dem von W. C. Zimmerli geleiteten Projekt >Romantische Naturphilosophie< und dem »Collegium Europaeum Jenense« stattfindende Tagung (L. Müller, Jenseits von Druck und Stoß. Konstellationen der romantischen Naturphilosophie. Eine Tagung in Jena, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.06. 1994). Welche zentrale Bedeutung die naturwissenschaftlichen Entwicklungen im Ausgang des i S.Jahrhunderts vor allem auch für die Kunst und die Geisteswissenschaften beinhalten, dokumentiert ebenfalls der Band von F. Strack (Hrsg.), Evolution des Geistes: Jena um 1800. Natur und Kunst, Philosophie und Wissenschaft im Spannungsfeld der Geschichte, Stuttgart 1994; vgl. dazu: H. Timm, K.o. im Theoriewettkampf. Erinnerungen an den Weltgeist in Jena um 1800, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.02.199 5. Zum allgemeinen Kontext >Naturwissenschaften um 18oo< siehe auch R. Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt a.M. 1984. 47 Der folgende Forschungsbericht beansprucht keine lückenlose Darstellung der bisherigen Forschungsliteratur zum Thema bergbauliche Motive im Werk des NovalisMineralischen< in Novalis' Werk um literaturwissenschaftliche Untersuchungen zum übergeordneten Thema der philosophischen Beschäftigung des Frühromantikers mit den zeitgenössischen Naturwissenschaften. Der Sachverhalt seiner eingehenden Auseinandersetzung mit aktuellen Erkenntnissen der mineralogisch-geologischen Forschung wird dabei nur insofern berücksichtigt, als dies unter den übergeordneten Gesichtspunkten von Fragen relevant erscheint, die sich beispielsweise mit dem Problem der Übertragung von ursprünglich aus dem naturwissenschaftlichen Bereich stammenden Begriffen auf die dichterische Weltanschauung der Frühromantiker oder mit dem Thema der >Wissenschaftswahrnehmung und -Umsetzung im Kontext der deutschen FrühromantikHöhleUrzeitAbstiegSchürfarbeitUnterweltRomantiker< Novalis verbundenen >tieferen< Erfassung des >romantischen WesensBergwerks< und der >Höhlesagenhaften< Bedeutungsgehalt des Motivs vollzog. Schwerpunkt von Ziolkowskis Untersuchung bildet die historische Einordnung eines Symbols; auf eine präzisere Deutung des Karfunkelmotivs bei Novalis, etwa unter weltanschaulichen oder dichtungstheoretischen Gesichtspunkten, läßt sich der Autor daher nicht ein. Die Wichtigkeit von Ziolkowskis Darlegung für eine literaturwissenschaftliche Erforschung des montanistischen Bildkomplexes im Werk des Novalis liegt jedoch darin, daß dessen poetische Behandlung des >Mineralischen< hier erstmalig unter dem übergeordneten Aspekt einer Überlieferungsgeschichte ins Auge gefaßt wird, an deren Beispiel sich der Prozeß der zunehmenden Verflechtung naturkundlicher, religiöser und ästhetischer Bedeutungsspektren eines traditionellen dichterischen Topos verdeutlichen läßt. Ziolkowskis Studie zeigt, daß sich die eigentümliche polysemische Strahlkraft, welche ganz spezielle Motive in Novalis' dichterischem Werk aufgrund ihrer poetischen Verknüpfung und Gestaltung entfalten, erst in der Mitberücksichtigung einer - im Fall der Karfunkelsymbolik mehr als zweitausend Jahre dauernden und in der Frühromantik gipfelnden - Rezeptionsgeschichte erklärt. Eine Rezeptionsgeschichte, deren produktive Fortführung bei Novalis im wesentlichen dadurch bedingt ist, daß sich die Aufnahme überlieferter Steinsymbole etwa aus den Bereichen des antiken Mythos, der christlichen Allegorese, der mittelalterlichen Naturkunde und Medizin oder der mittelalterlichen Sagen- und Legendenbildung89 auf der Grundlage eines phi86

Th. Ziolkowski, Der Karfunkelstein, in: Euphorien 55, 1961, S. 321-326. Ebd.2 9 7f. j 3 2 3 . 88 Ebd. 32iff. 89 Vorweggenommen sei in diesem Darstellungsabschnitt, daß es sich im Fall von Novalis' dichterischer Anknüpfung an die Geschichte des Karfunkelmotivs um eine im zeitgenössischen Erfahrungskontext der allgemeinen traditionsgeschichtlichen Überlieferung mehr oder weniger bewußt vollzogene Rezeption handelt. Die Frage nach den einzelnen Quellen, die Novalis rezipiert hat, ist auf der Grundlage der bisher aufgefundenen und 87

36

losophischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisstandes vollzieht, der als gedankliche Ausgangsbasis einer kreativen Verschmelzung unterschiedlichster Deutungsebenen zugleich die theoretischen Prinzipien einer sich vom traditionellen Nachahmungspostulat sukzessive ablösenden Poetik liefert. Aufgrund der andersgelagerten Zielsetzung seiner Untersuchung läßt Ziolkowski einen eingehenderen Hinweis auf die historischen Verständnishintergründe sowie die spezifische Art der poetischen Transformation überlieferungsgeschichtlicher Gehalte des Karfunkelmotivs bei Novalis jedoch völlig außer Betracht. Und so kann er gegenüber der in der vorliegenden Untersuchung vertretenen These, daß Novalis' dichterische Weltanschauung in ihrer philosophisch-systematischen Begründung gerade auf dem Gebiet der mineralogischen Symbolik einen poetologisch signifikanten Niederschlag findet, lediglich konstatieren, daß dem »Lieblingsstein des Mittelalters« im Werk des Novalis zwar erneut eine »echt symbolische Funktion« als Sinnbild der »Verwandlung und der unio mystica« in ausdrücklicher Anknüpfung an seinen vielschichtigen mythisch-religiös-literarischen Bedeutungsgehalt zugewiesen werde,90 der »symbolische Gehalt« des Steins bleibe jedoch »anders als [...] [beim] Karfunkelsymbol des Mittelalters« »verschwommen« und lasse sich »nicht präzis deuten«.91 Im Hinblick auf das Interesse der vorliegenden Arbeit läßt sich zu Ziolkowskis Vorgehen kritisch anmerken, daß selbst am Beispiel dieser überzeugenden Studie deutlich wird, inwieweit sich eine rein historische Betrachtung durch die einseitige Verlagerung ihres Schwerpunktes auf einen Überblick motivgeschichtlicher Zusammenhänge der Gefahr einer Unterschätzung und prinzipiellen Verkennung des philosophischen und poetologischen Bedeutungsgehaltes singulärer Motive bei gleichzeitiger Behauptung ihrer außergewöhnlichen historischen Tragweite aussetzt. veröffentlichten Schriften nicht umfassend zu beantworten. Gesprächsnotizen, Briefe, Bücherlisten, Exzerpte und singuläre Hinweise auf Namen und Titel im Gesamtwerk belegen ein (teilweise auch nur geplantes) Studium mittelalterlicher heilkundlicher und alchemistischer Lehren sowie eine besonders intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte und Dichtung des Mittelalters insbesondere in den Jahren 1799/1800-d.h. den Jahren der höchsten sowohl beruflichen als auch dichterischen Konzentration. Siehe dazu hier 8.326-349. 90 Ziolkowski betont in diesem Zusammenhang: »Gerade Novalis, der ja auf der Bergakademie in Freiberg studiert hatte, wußte natürlich, daß die Sage vom Karfunkel reinste Phantasie war. Als Dichter aber hat er in diesem Stein, dessen Beschreibung er unter anderem wohl auch in einigen der hier erwähnten Quellen kennenlernte, ein herrliches Symbol für seine Ideale erblickt: für das Unbekannte, Schöne, Leuchtende, das für seine Poesie so charakteristisch ist.« (ebd. 32if.). 91 Ebd. 319, 321.

37

Dem literaturhistorischen Betrachtungsaspekt der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte eines poetischen Symbols ist auch Werner Vordtriedes Beurteilung von Novalis' bergbaulicher Symbolik im Rahmen seiner Studie über das Verhältnis des Romantikers gegenüber den französischen Symbolisten verpflichtet.92 Vordtriede unternimmt in seiner epochenübergreifenden Analyse den Versuch, auf weltanschaulichphilosophischer, motivgeschichtlicher und poetologischer Ebene durch dauernde >Filtrationen< geprägte Verwandtschaftsbezüge zwischen romantischer Poesie und der Dichtung des französischen Symbolismus am Beispiel besonders charakteristischer poetischer Motive zu erschließen.93 Dabei erkennt der Autor in der bei Novalis auf dichterischem Wege hergestellten Verbindung des montanistischen Bildkomplexes unterirdisches Reichs >UrzeitBergmannHöhleSchürfarbeit< oder >Edelstein< mit der eigenen Künstlerproblematik einen »modernen«, »von ihm allein gewagte[n]« »Schritt«, welcher in der im französischen Symbolismus vollzogenen »Weiterbildung des von Novalis geschaffnen modernen Symbolreiches« im Sinne einer Umdeutung und Bedeutungserweiterung jener vorgegebenen, sich gerade in ihrer jeweiligen Umsetzung als besonders »vielschichtig« und »wandlungsfähig« erweisenden Symbole eine Fortsetzung fand.94 Die von Vordtriede beschriebene Wandlungsgeschichte des dichterischen Bildes geht von seinem Entstehungskontext in der Romantik unter Berücksichtigung betreffender philosophischer Voraussetzungen aus,95 ohne allerdings dabei genauer auf den philosophischen und naturwissenschaftlichen Bedeutungsgehalt einzelner Symbole einzugehen. Der »Abstieg in den Berg und die dabei entstehende Verwandlung des Lebendigen ins Metallische und Kristalline« werde bei Novalis »zum erstenmal zu einem symbolischen Gang«, der die Übersetzung eines Geistigen in ein sinnlich Gegenständliches reflektiere.96 So sei Novalis bei der »Erschaffung seiner Symbole« nicht von »einem träumerischen Ungefähr« geleitet worden, sondern er habe die »symbolische Welt« mit »höchst bedachtem Kunstverstand« vorbereitet.97 Vordtriede setzt sich 92

W.Vordtriede, Novalis und die französischen Symbolisten. Zur Entstehungsgeschichte des dichterischen Symbols, Stuttgart 1963. 93 »Das von Novalis Begonnene wird in einem immer wieder ausgewechselten Existenzspiegel aufgefangen. Der Ausgangspunkt bleibt immer sichtbar [...]« (ebd. 64). 94 Ebd. 54f., 76, 86. 95 Ebd. Kap. V-VII. 96 Siehe ebd. 49 u. 991. »Dieses Unterreich als die Schöpfung des Dichters ist Novalis' folgenreichstes Vermächtnis.« (ebd. 49). 97 Ebd. 5 5. »Was hat Novalis anderes getan, als zunächst naturwissenschaftlich >unterschiedenverbundenUnterreichs< und der >künstlichen anorganischen Welt< wird von Vordtriede im Anschluß an seine Betrachtung der romantischen Symbolik primär im Hinblick auf die Geschichte der Weiterentwicklung von entsprechenden Einzelsymbolen wie z.B. dem künstlichen Gartenunterirdischen Zauberreich< oder dem >Bergwerksschacht< in der modernen Dichtung verfolgt. Im Rahmen der Gesamtuntersuchung tritt dabei die Frage nach den konkreten zeitgeschichtlichen Bedingungen von Novalis' philosophischer und poetologischer Deutung des Sinnbildes als Spiegel des poetischen Bewußtseins in den Hintergrund. Ebenso in den Hintergrund von Vordtriedes Betrachtung tritt eine genauere Erkundung der Art und Weise, wie sich jene romantische Verknüpfung von dichterischem Motiv und künstlerischem »Selbstverständnis« im Sinne einer bereits in Novalis' dichtungstheoretischen Überlegungen angekündigten »Wendung« von der »nachgoethischen Erlebnisdichtung« zu einer »Selbstanalyse« des Dichters auswirkt, welche die »Wirklichkeit als Aus-

Unendlichen zu finden?« - »Novalis hat als erster eine Übersetzungskunst, vom Geistigen ins Seelische demonstriert [...] Die gelungene Verschmelzung von Traum und Intellekt ist das absolut Neue und bis heute modern Gebliebene an Novalis.« (ebd. 91, 99f.). 98 Ebd. 30. "Ebd. 54. 100 Ebd. 53; siehe auch 9 8ff. 101 Ebd. 36. Es gibt, so lautet eine Grundthese Vordtriedes, »manchmal absolute Anfänge, so wie mit Novalis etwas absolut Modernes beginnt, was ungeheuer weit wirkt« (ebd. 30). 102 Ebd. 49.

39

gangspunkt« des poetischen Erlebens immer mehr zugunsten des »Gedankens« verdrängt.103 Der Vorgang der Übertragung eines ursprünglich aus dem empirischen Vorstellungsbereich stammenden Begriffsfeldes auf das Gebiet der spekulativen Erkenntnistheorie und Poetik beleuchtet Peter Kapitza in seiner Arbeit über >Die frühromantische Theorie der Mischung< (i968).104 Sowohl in inhaltlicher als auch methodischer Hinsicht wegweisend ist Kapitzas Studie für die hier vorliegende Untersuchung deshalb, weil sie den Prozeß der reziproken Vermittlung von naturwissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnissen im frühromantischen Denken in seiner konkreten Auswirkung auf die gleichzeitige Entwicklung eines neuen theoretischen Selbstverständnisses der Dichtung in Abkehr von grundlegenden Postulaten der traditionellen Gattungspoetik am Beispiel typischer Vertreter beschreibt, ohne allerdings näher auf die Frage nach der praktischen Umsetzung neu gewonnener Darstellungsprinzipien in der Dichtung einzugehen. Von besonderer Wichtigkeit erscheint Kapitzas Darlegung für die vorliegende Arbeit deswegen, weil der Autor in seiner Untersuchung auch auf zentrale Theoreme der Mineralogie des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu sprechen kommt. Im Verlauf seiner Darstellung zeitgenössischer Denkkonzepte u.a. aus den Bereichen der mineralogischen Kennzeichenlehre und der Kristallographie105 macht der Autor deutlich, daß sich die komplexe Übertragung und Bedeutungsverzweigung des mineralogischen Begriffsfeldes - etwa auf den Gebieten der frühromantischen Literaturtheorie, Rhetorik oder Geschichtstheorie - erst in der Berücksichtigung grundlegender Vorstellungsmuster der zeitgenössischen chemisch-physikalischen Forschung erklären. Kapitza legt seiner Studie eine Auswertung repräsentativer Handbücher der Naturlehre um 1800 zugrunde, um anschließend auf der Basis einer eingehenden Bestimmung des damaligen wissenschaftlichen Sprachgebrauchs darzulegen, inwieweit die frühromantische Umdeutung chemisch-physikalischer Anschauungen und Begriffe zu grundlegenden Vorstellungsmustern der Poetik auf tatsächliche Rezeptionsgrundlagen zurückgeführt werden kann. So verdeutlicht der Autor im Rahmen seiner Darstellung des breitgefächerten Bedeutungsfeldes des Terminus der >MischungAggregationVerschmelzungAuflösungHeterogenität< oder >Affinität< deutlich, daß die dabei zugrunde gelegte Vorstellung einer prinzipiellen Analogie geistiger und materieller Strukturen und Entwicklungsvorgänge auf der Annahme rationaler Erklärungsmuster beruht, deren ursprüngliche Anwendungsbereiche - die zeitgenössische Mechanik, die Chemie und die Lehre vom organischen Leben - im Verlauf der zunehmenden Erweiterung und Spezialisierung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse immer dichter miteinander verflochten werden.107 Zu der Vorgehensweise Kapitzas ist kritisch anzumerken, daß der Autor seine Thesen durch singuläre Äußerungen repräsentativer Vertreter der frühromantischen Dichtungstheorie belegt, deren individuelles Ver106

Ebd. 15}f. »Mag man sich«, so Kapitza in der Einleitung seiner Studie, »auch immer noch durch die >wilden< Analogien, den >Schlegelianismus der Naturwissenschaft abschrecken lassen, so bleibt doch bestehen, daß die Frühromantiker trotz ihrer Unverständlichkeiten über den Begriffsapparat der Chemie verfügten und damit keineswegs nur in blinder Willkür arbeiteten.« (ebd. 27). 107 Nach Kapitzas Auffassung unternimmt Novalis beispielsweise »für das Gebiet der Chemie eine Zusammenschau verschiedener Wirkungsweisen von Kräften [...], indem er die Wirkung der Gravitation, die >actio in distansRealen< und des >Idealen< als Bedingung der Möglichkeit von >Wahrheit< und >Erkennen< steht. Kapitzas Darlegung der frühromantischen Übertragung des chemisch-physikalischen Vorgangs der >Mischung< etwa auf die Gebiete der literarischen Gattungstheorie, der rhetorischen Figurenlehre oder politischen Theorie108 berücksichtigt auch die Frage nach möglichen Rückgriffen der frühromantischen Denker auf überlieferte Vorstellungsmodelle beispielsweise aus dem Bereich der mittelalterlichen Alchemic.109 Seine Untersuchungen eröffnen überdies sowohl hinsichtlich der funktionalen Bedingungen als auch der Wirkungsweisen des konkreten naturwissenschaftlichen Phänomens der >Mischbarkeit< materieller Stoffe (z.B. der >Heterogenität< bzw. der >AuflösungSelbstfindungDie Poetisierung der Wissenschaften bei Novalis< (i975)"5 betrachtet Johannes Hegener Novalis' theoretischen Entwurf einer enzyklopädischen Gesamtdarstellung wissenschaftlicher Einzeldisziplinen unter dem damaligen ideellen Gesichtspunkt einer universalen Bildungsgesetzlichkeit der >organischen Entwicklung·«. Methodisch relevant im Hinblick auf die vorliegende Untersuchung erscheinen Hegeners Überlegungen deshalb, weil im Rahmen dieser umfassenden Studie auch die Frage nach der philosophischen Bedeutungsfunktion zeitgenössischer mineralogischer Vorstellungskonzepte in ausdrücklicher Berücksichtigung des Gesamtkontextes eines Enzyklopädieunternehmens gestellt wird, welches beabsichtigt, jede Spezialdisziplin in ihrer funktionalen Einbindung als Glied des gesamtwissenschaftlichen Gebäudes sowohl aus der spekulativen als auch der empirischen Beurteilungsperspektive ihres j eweiligen Obj ektes zu erschließen. Der Autor verfolgt in seiner Studie das Ziel, jene unterschiedlichen Konstruktionsverhältnisse von Wirklichkeit unter dem Gesamtaspekt der Idee eines kontinuierlichen Entwicklungszusammenhangs aller Wesen zu eröffnen.116 Dementsprechend geht er im ersten Teil seiner Untersuchung aus von einer Darlegung des theoretischen Verhältnisses zwischen der enzyklopädischen Gesamtwissenschaft und den Einzelwissenschaften, wie es sich im Werk des Novalis auf der Grundlage eingehender philosophischer Studien darstellt.':/ Dieser Betrachtung schließt sich dann der Versuch an, wechselseitige Ergänzungsverhältnisse zwischen den einzelnen Wissenschaften nun aus der konkreten Perspektive ausgewählter Disziplinen, wie z.B. der Physik, der Mathematik, der Physiologie oder der Medizin, zu belegen.118 Das Augenmerk des Autors richtet sich dabei auf die aktuelle Entwicklung >neuer progressiver Verfahrens weis en< im Bereich 1 J

' J. Hegener, Die Poetisierung der Wissenschaften bei Novalis dargestellt am Prozeß der Entwicklung von Welt und Menschheit. Studien zum Problem des enzyklopädischen Welterfahrens, Bonn 1975. 116 Zur methodischen Anlage der Arbeit, siehe ebd. 48-52. "'Ebd. 53-336118 Ebd. 337-500. »Fast alle Kapitel [...], die von Einzelwissenschaften ausgehen, reflektieren zunächst auf den besonderen Rang der betreffenden Einzelwissenschaft im gesamtwissenschaftlichen Relationsgefüge, um dann von deren jeweiligem anderen >Formalobjekt< her die Dynamisierung und Enzyklopädisierung aller Gegenstände aufzuzeigen.« (ebd. 49)-

44

der naturwissenschaftlichen Forschung in ihrer besonderen Signifikanz für die gleichzeitige Ausbildung innovativer Strukturen der poetischen Darstellung im Werk des Novalis."9 Hegener beabsichtigt im Rahmen seiner Darlegungen j edoch weniger eine systematische Skizzierung des Relations gefüges einzelner Spezialdisziplinen im ideellen Horizont eines aus enzyklopädischer Sicht begründeten Verweisungszusammenhangs. Das Interesse gilt vielmehr dem theoretischen Sachverhalt einer Analogienbildung, die unter dem zentralen Betrachtungsaspekt eines materiellen Organisationsprinzips der Natur vollzogen wird, aus dessen Perspektive sich nach frühromantischer Auffassung sowohl naturhafte als auch geistige Strukturbildungen im Sinne einer symbolischen Manifestation des Prozesses einer kontinuierlichen »Personalisation des Universums«120 deuten lassen. Von Novalis' Aufzeichnungen zur sogenannten >Enzyklopädistik< ausgehend, zeigt Hegener, auf welche Weise spezielle Ausprägungsformen des enzyklopädischen Strukturprinzips der >organischen Entwicklung< in seiner Funktion als »analoges Muster aller anderen Wissenschaften«121 im Rahmen der Beschäftigung mit ausgewählten naturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen reflektiert werden; der Autor thematisiert dabei auch Novalis' Rezeption von Erkenntnissen speziell aus dem Forschungsbereich der anorganischen Natur. I22 So werden etwa der »Kristallisationsprozeß« der anorganischen Materie oder die chemisch-physikalische Konzeption des »Galvanismus« als prinzipiell analoge Manifestationsformen eines »organischen Selbstaufbaufs] der Natur«' 2} in ihrer philosophischen Bedeutung als Ausdruck einer universalen Strukturgesetzlichkeit der materiellen Natur interpretiert. An Hegeners Darstellung ist zu kritisieren, daß es der Autor im Verlauf seiner Ausführungen meist bei einer eher allgemeinen thesenhaften Kommentierung von Zitaten beläßt; zudem werden die mehr oder weniger assoziativ aneinandergereihten Äußerungen des Novalis zu den erwähnten II?

Siehe dazu ebd. iSteinherz und Geldseele. Ein Symbol im Kontext< (i9/8) 124 die historischen Entwicklungslinien eines 24

In: ders. (Hrsg.), Das kalte Herz und andere Texte der Romantik, Frankfurt a.M. 1978, 8.233-357. 46

in der abendländischen Tradition außergewöhnlich bedeutungsreichen Symbols in ihrer labyrinthischen Verzweigung, wobei sich das besondere Interesse des Autors auf den Sachverhalt eines prinzipiellen »Wandels« richtet, den das Sinnbild des >steinernen Herzens< »beim Eintritt in die Epoche der Romantik« erfährt.125 Die Entfaltung der semantischen Ebenen des Motivs geschieht einerseits unter Berücksichtigung der geistesgeschichtlichen und soziokulturellen Bedingungen seiner Entstehung und Bedeutungsentwicklung in Mythos, Religion, Dichtung, Philosophie und Naturwissenschaft; zum anderen beleuchtet Frank die ihre historischen Erscheinungsformen bis zur Romantik im Sinn der klassischen Rhetorik beherrschende »Tiefenstruktur« der Metapher126 und verbindet so den literaturhistorischen Ansatz mit einer unter semiologischen Gesichtspunkten vorgenommenen strukturanalytischen Betrachtung der sprachlichen Bilder, die den weiteren Gang der Untersuchung mitbestimmt. Vor der umrißhaften Schilderung des Spielraums und der Grenzen einer durch die Verbindung von »vor-wissenschaftliche[m] Erfahrungsniveau«127 und höchster Bewußtheit geprägten literarischen Überlieferungsgeschichte zeichnet sich der »symbolgeschichtliche Ort des romantischen >Steinherzens< in Abgrenzung gegen eine lange, rein metaphorische Tradition« ab.128 Als »erste [...] Neuerung in der Vorstellungswelt« charakterisiert das romantische Symbol, dem sich der zweite Teil der Darstellung widmet, nach Frank eine grundlegende »Wendung zur Metonymie«.129 Der Autor verweist u.a. auf die spekulative Naturansicht der Frühromantiker130 und den sich wandelnden gesellschaftlich-ökonomischen Horizont (industrielle Arbeitswelt, Geldwirtschaft, moderne Technik) als Bedingungen der grundlegenden Veränderung herkömmlicher Verständnisweisen eines traditionell überlieferten Motivs. So wird die komplexe Symbolik des Steinherzens unter ausgewählten Gesichtspunkten (wie z.B. der Psychologie des Glanzes, der Ökonomie des Tauschwertes oder der Technik künstlicher Automate) im Vergleich exemplarischer literarischer Texte betrachtet und von hier aus als ein sich in der poetischen Imagination erschließender, auf einem »System allseitiger Korrespondenzen« beruhender metonymischer Prozeß beurteilt.'31 Am Beispiel ausgewählter 125

Ebd. 246. Ebd. 245. 127 Ebd. 235. 1228 Ebd. 247. 2 'Ebd. 126

130 131

Siehe ebd. 251. Siehe ebd. 2 59 ff.

47

Texte zeigt Frank auf, wie in der romantischen Dichtung das eigentliche Geschehen auf eine wechselseitige Durchdringung und Eröffnung der vielschichtigen Bedeutungsebenen metonymisch variierter Bilder als »Spiel von Beziehungen und Verweisungen zwischen mehreren Ausdrükken«132 verlagert wird, wobei sich die sprachlichen Zeichen und Symbole in ihrer wesenhaften Mehrdeutigkeit erst in der assoziativen Verkettung entfalten. Im »Spiel« der »autonom gewordenen Metapher«133 teilt sich eine in der strukturellen Verschränkung der semantischen und der rhetorischen Sprachebene hervorgerufene, die unterschiedlichsten menschlichen Daseins- und Erfahrungsbereiche übergreifende historisch gewachsene Bedeutungsdimension des Symbols mit, die in ihrer Unbegreifbarkeit die eigentliche Vielstrahligkeit und Sinnfülle des echten Sinnbildes in seiner eigentümlichen Funktion als »Scharnier« und »Umschlagplatz«134 divergierender Diskurse (Biologie, Ökonomie, Linguistik etc.) ausmacht - eine sowohl inhaltliche als auch formale Mehrdimensionalität, die auf dem Vorgang einer gegenseitigen Übertragung von wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und ästhetischen Deutungssystemen und Prinzipien gründet. Die romantische Dichtung kennzeichnet somit eine für die moderne Dichtung wegweisende Tendenz zur »Verabsolutierung des Symbols« bei gleichzeitiger »Entmachtung des Symbolisierten«,135 wie Frank in der Gegenüberstellung romantischer und symbolistischer Dichtungsbeispiele demonstriert.136 Bei diesem Vergleich wird deutlich, auf welche Weise das moderne Gedicht in seiner spezifischen sprachlichen Beschaffenheit die »viele[n] Züge«, die der Essay »analytisch zerstreut hatte«, »wie durch ein Brennglas« zusammenzwingt und >kristallisiertSteinherzens< beschränkt, wobei der naturphilosophische Horizont der Frühromantik nur angedeutet ist und Novalis' Rolle als >Stein131

Ebd. 317; siehe dazu auch 3i5ff., '»Ebd. 330. '34J. Derrida, zit. nach Frank, ebd. 318. 135 Ebd. 331. 136 Siehe ebd. 3 28ff. 137 Ebd. 3 3 iff. 48

dichter und -theoretiker< nicht ausdrücklich hinsichtlich der besonderen Tragweite seiner theoretischen Entwürfe für die moderne Symbolik des Steins thematisiert wird. Eine Interpretation der bisher in der Forschungsliteratur kaum berücksichtigten mineralischen >Funde< des >Karfunkelsteins< in Novalis' >Heinrich von Ofterdingen< und des unscheinbaren Steinchens< in den Lehrlingen zu Sais< unternimmt Friedrich Strack im 5. Kapitel seiner Studie >Im Schatten der Neugierde. Christliche Tradition und kritische Philosophie im Werk Friedrich von Hardenbergs< (i982).138 Der Autor deutet die poetischen Motive unter dem übergeordneten Aspekt der philosophischen Begriffe >Faktum< und >FundMischung< und >Reihenbildung< die in seinem >Heinrich von Ofterdingen< dichterisch realisierte >Variation< der >Funde< auf immer >höheren Stufen< als eine praktische Umsetzung neu entwickelter poetischer Darstellungsstrategien deutet/45 unterläßt er es, diese Grundsätze selbst wiederum in einen Zusammenhang mit den naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Einsichten ihrer Zeit zu stellen. So werden auch zentrale dichtungstheoretische Begriffe wie >Leben< oder >Kristallisation< nicht im Hinblick auf ihre chemisch-physikalischen und philosophischen Grundlagen geklärt.146 Als Kritik an Stracks Darlegung läßt sich zusammenfassen, daß vor allem das naturwissenschaftliche Fundament einer »produktiven Imagination«, die nach Auffassung des Autors bei Novalis von der »Nachahmung« »zur Erfindungskunst schlechthin« avanciert und »fähig« wird, »ihre eigene Reflexion im Kunstwerk zu leisten«,147 in seinen komplexen Verzweigungen unterbelichtet bleibt. Der besondere Wert von Stracks Untersuchung liegt hingegen in der erstmals in Berücksichtigung von Novalis' philosophischer 142

Ebd. 2 5 5 ff. Die »Idee des >Fundes< als einer synthetischen Einheit« zeugt nach Auffassung des Autors »von subphänomenalen Traditionsbindungen Hardenbergs, die von modernistischen Philosophemen nicht zu verdrängen waren, aber in Auseinandersetzung mit ihnen eine immer geheimnisvollere Leuchtkraft entwickeln.« (ebd. 264; vgl. ebd. 268ff.). 144 Statt eine Analyse der theoretischen Grundlagen jener in der dichterischen Darstellung des Novalis vollzogenen Überbrückung moderner und traditionalistischer Auffassungen vorzunehmen, betont Strack vielmehr das >irrationale< Moment der produktiven Einbildungskraft, siehe ebd. 267ff. 145 Ebd. 2 57 ff. 146 Der Autor beläßt es eher bei metaphorischen Paraphrasierungen konkreter Symbole wie etwa der folgenden: »Der Stein wird zum transparenten Behältnis, in dem das Lebenselement wirkt und wogt. Er ist aber auch dessen äußerste Transmutation: zum Kristall >angeschossenesMineralischen< sowohl im Hinblick auf ihre semantische Vielfalt als auch in Anbetracht von Formprinzipien erfaßt, die sich im Verlauf des überlieferungsgeschichtlichen Wandels entsprechender Motivdarstellungen im Sinne einer durchgängigen Kontinuität spezieller Gedankenmodelle definieren lassen.149 In Anlehnung an Vordtriedes These, daß »die Metaphorik des Kristallinen und Metallischen erst mit Novalis die eigentliche Ebene des Symbolischen erreicht [habe]«,150 beschreibt der Verfasser zunächst den traditionellen Bedeutungsgehalt bestimmter Symbole. Vom einleitenden Rückblick auf mittelalterliche religiös-esoterische Verständnisweisen des Kristallmotivs sowie seine Bedeutungsfunktion als formaler Ausdruck unterschiedlicher Vorstellungskonzepte etwa aus den Bereichen der Gnosis, der Apokalyptik oder der Mystik ausgehend,1'1 versucht der Autor, über die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei einer gleichzeitigen naturphilosophischen und literarischen Thematisierung152 einsetzende Epoche der wissenschaftlichen Klassifikation der Mineralien und Gesteine153 eine »Hauptlinie der Kristall-Autoren«154 bis zur 148

Frankfurt a.M., Bern, New York, Paris 1988. Siehe ebd. 47. 150 Ebd. 60. »Das Bild des >Kristalls< trifft nicht nur den Kern des >Symbolischen< [...] es läßt sich auch als Symbol für die Existenz des Dichters selbst lesen [...]« lautet eine Grundthese Beils (ebd. 48). 151 Siehe ebd. Kapitel i, S.z8-}9. ISJ Ebd. 14-20. 153 Beil verweist in diesem Zusammenhang auf die mathematisch-physikalische Analyse des Kristalls in seiner Funktion als formales Gestaltungsprinzip und Klassifikationsmerkmal der anorganischen Materie durch den Mineralogen und Kristallographien R. J. Hauy (um 1780) (ebd. i6ff.). " 4 Ebd. 475149

51

Literatur dieses Jahrhunderts zu zeichnen. Beil stellt sich hierbei die Aufgabe, insbesondere den Kristall als anschauliches »Paradigma« einer die Symbolik des >Mineralischen< in ihrer diachronischen Entwicklung konsequent prägenden »Struktur«1" zu entschlüsseln. Im Bild des Kristalls gewinne »die Möglichkeit der Grenzüberschreitung des ontologisch Geschiedenen« eine sowohl unter chemisch-physikalischen als auch philosophischen und poetologischen Gesichtspunkten sachlich beschreibbare Gestalt, wobei das formale Strukturmodell des >Kristallinen< in seiner traditionellen Deutung als morphologisch beschreibbare >Konfiguration< >geistdurchwirkter Materie< ein den abendländischen Dualismus von >Transzendenz< und >Empirie< überbrückendes >Korrespondenzprinzip< veranschauliche.1'6 Mit der in eine grundsätzliche methodische Analyse überführten »historisch-systematische[n] Skizze«157 soll zugleich eine Ortsbestimmung dieses Sinnbildes in seiner weltanschaulichen und kunsttheoretischen Bedeutung geleistet werden. Zum methodischen Verfahren Beils ist kritisch anzumerken, daß die unter der übergreifenden Perspektive einer Strukturanalogie im Sinne einer >idealtypischen Skizzeaufgeklärten< bergbauwissenschaftlichen Praxis im Sinne eines Transformationsgeschehens erklärt, in dem die widersprüchlichen Tendenzen eines rückhaltlos säkularisierten und durch ein Höchstmaß an naturwissenschaftlich-technischen Innovationen ausgezeichneten Forschungsbereichs und eines mit der >Sphäre< der >hermeti162

Ebd. i 4 ff. Ebd. 18. 164 Ebd. 1 5 In: C. Jatnme u. G. Kurz (Hrsg.), Idealismus und Aufklärung. Kontinuität und Kritik der Aufklärung in Philosophie und Poesie um 1800, Stuttgart 1988, S. 59-79. 163

53

sehen Geheimwissenschaft< assoziierten Berufsfeldes auf poetologisch signifikante Weise vermittelt werden.166 Böhmes Auffassung zufolge charakterisiert Novalis' ästhetische Verklärung des Bergbaus, wie sie sich beispielsweise in der Beschreibung der Initiationsreise des künftigen Dichters Heinrich ins Berginnere in Novalis' >Heinrich von Ofterdingen< präsentiert, den Entwurf eines poetischen Weltbildes, dessen innere Spannung ein unaufhebbarer epistemologischer Gegensatz zwischen der >exoterischen< und der >esoterischen< Seite einer Berufserfahrung bildet, welche aufgrund der besonderen zeitlichen Zuspitzung vielfältiger naturwissenschaftlicher, technischer und ökonomischer Interessenkonstellationen um 1800 einem revolutionären Wandel unterworfen war. Nach Böhme stellt die Situation der Montanwissenschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert im Hinblick auf die ästhetische Wahrnehmung des Naturwissenschaftlers und Dichters Novalis eine »historische Nahtstelle« dar, wo die mit dem Vorstellungsbereich des »Bergesinneren« und der »Bergwerksarbeit« traditionell verknüpften »naturmystischen« Kenntnisse und Praktiken nun »das Symbolreservoir« hergeben für die jetzt auf dem Boden eines avancierten Kenntnisstandes vollzogene Begegnung des Naturwissenschaftlers und Technikers mit den Phantasien und Imaginationen des eigenen »Unbewußten«.167 Böhme verweist im Verlauf seiner Darlegung auf Beispiele von Novalis' imaginativer Verknüpfung hermetisch-kosmologischer Denkfiguren mit Bildern und Motiven aus dem Wahrnehmungsbereich der zeitgenössischen Montankunde,168 ohne allerdings näher auf die gedanklichen Grundlagen jener konfigurativen Verklammerung von mythischer Welterfahrung und moderner Naturwissenschaft und Erkenntnistheorie in dessen theoretischem Werk einzugehen. So bleibt die Frage nach den Strukturprinzipien einer poetischen Darstellung unbeantwortet, welche den Prozeß der wechselseitigen Vermittlung eines kritischen empirischen und spekulativen Bewußtseins mit den >vormodernen< Wahrnehmungspraktiken der mittelalterlichen Naturkunde 166

Ebd. jpff. »Ist er [Novalis, I. B.] als Absolvent Träger der [...] Revolution des Bergbaus, greift er als Dichter auf die Legitimationsprobleme und die kulturelle Phantasmatik des Montanwesens zurück, die im 16. Jahrhundert unterzugehen begannen.« - »Das [...] Freiberger Semester, das Hardenberg mit der avanciertesten Front der Wissenschaften vertraut macht, enthält von Beginn an einen hermetischen Kern.« (ebd. 64, 62). 167 Ebd. 68. »Bergbau fungiert [...] als Symbolisierung des Unbewußten und Historischen, das in den >Höhlen< des Subjekts abgelagert ist.« (ebd. 79). 168 »Die Erde als mütterlicher Leib ist eine zentrale Metapher der Romantik [...] Novalis aber hat sowohl das Deutungsmuster, in welchem das Berginnere zur Offenbarung der mächtigen Mutternatur mit ihren uterinen Höhlungen, ihren Veräderungen, ihren inkorporierten Reichtümern erscheint, wie auch das Deutungsmuster des Montanbaus als gynäkomorphe Technik dem hermetischen Schrifttum der Alchemic entnommen.« (ebd. 73).

54

auf sinnbildliche Weise reflektiert. Der Autor läßt die epistemologische Basis einer experimentellen Umschichtung und Verschränkung verschiedener Gedankenbilder aus dem Vorstellungsbereich der unterirdischen Welt weitgehend außer Betracht, in deren Berücksichtigung sich erst der artistische Vorgang der Erschließung einer die »archaische« Zone des Traumhaften und der unbewußten Erinnerungen umfassenden »Topographie des Subjekts«169 in seiner theoretischen Grundlegung erklärt. Böhme stellt zwar im Rahmen seines Vergleichs des »metallurgischen Prozesses« der Goldgewinnung mit der »stufenweisen« »Initiation« des Dichters in Novalis' >Heinrich von Ofterdingen< Bezüge zwischen traditionellen »alchemistischen Konfigurationen« und neuen poetischen Darstellungsstrukturen fest/ 70 die sich in speziellen motivischen Konstellationen wie etwa der Verknüpfung der Symbole der Nacht, des Traums und des Abstiegs in die Tiefe der Erde auf sinnfällige Weise niederschlagen;171 es bleibt jedoch im Zusammenhang mit diesen Vergleichen letztlich bei der bloßen Konstatierung eines »rätselhaften Zusammenhang^]«, in dem die Motive des »Bergwerks« und die »verborgene Subjektform des Bergmanns« in seiner Funktion als »Initiationslenker« des zukünftigen Poeten zueinander stehen.'72 Die philosophische und poetologische Bedeutung, welche der unterirdischen Welt der Mineralien und Gesteine auf der empirischen Erfahrungsgrundlage umwälzender Entdeckungen im Bereich der naturwissenschaftlichen Erforschung der Erdgeschichte zugewiesen wird, wird von Böhme im Hinblick auf Novalis' theoretischen Entwurf einer narrativen »Allianztechnik« diagnostiziert, die »vom Wissen um das historische Prozessieren der Materien selbst bestimmt« sei;173 inwiefern und von welchen theoretischen Erfahrungsgrundlagen ausgehend sich die »hermetische Wahrheit des Montanen« im Sinne einer behaupteten »hi169

Ebd. 75. Ebd. 66, 74f.; »Sind Bergbau und Alchemic traditionell assoziiert, kommt bei Novalis ein drittes dazu: die Assoziation beider mit der Kunst.« (ebd. 76). 171 Siehe ebd. 74f. 172 Ebd. 72, 70. »Im Bergbau erfährt Heinrich, was zur Grundausstattung des romantischen Künstlers, aber auch des Alchemisten gehört: das Arkanwissen um die Leiblichkeit der Erde und die, Liebe und Wissen vereinigende, Beziehung zu ihr.« - »Die Initiation ins unterirdische Reich erweitert grandios den Vorstellungsraum Heinrichs. [...] Zwischen Kosmos, irdischem Leben und Erdinnerem wird ein ständiger Austauschprozeß phantasiert. Auch dies ein alchemistischer Gedanke: zwischen Kosmos, Erde und Mikrokosmos bestehen Korrespondenzen, Analogien, Sympathien, ablesbar an den Signaturen der Dinge, die ein Netz komplizierter Chiffren bilden. Auf diese, den Dingen eingravierte Schrift zielt das kosmologische Arkanwissen des Weisen. Um die Einweihung des künftigen Poeten in dieses Wissen der Natursprache, lingua naturae [...], geht es - der romantische Künstler als Erbe des Alchimisten.« (ebd. 73, 76). 173 Ebd. 79. 170

55

storische[n] Nachfolge der verdrängten Traditionen hermetischer Philosophie« in der poetischen Darstellungsstruktur ausspricht,174 diese Fragen werden jedoch im Rahmen von Böhmes Darlegungen nicht eigens im Hinblick auf die konkreten Bedingungen jener kreativen Rezeption traditioneller Vorstellungsgehalte thematisiert. Der Unterbelichtung des philosophischen und naturwissenschaftlichen Verständnishorizontes von Novalis' poetologischen Konzeptionen entsprechend kommt der Autor dann auch zu dem Schluß, daß die »romantische Rede über die Natur« an »vorrationale Praktiken der Alchemic und der Sakralkultur des Bergbaus« anknüpfe, und zwar hinsichtlich der »Funktion«, »Chiffren des Verdrängten und Unbewußten zu bilden, das [sich] unter dem Druck der Rationalisierung [...] als >erdzugewandte< Zone im Innern des Subjekts« »auskristallisiere«.175 Böhme konstatiert mit dieser These letztlich ein kontradiktorisches Verhältnis zwischen poetischem und wissenschaftlichem Diskurs/76 welches die eigentliche Vermittlungsleistung des Montanwissenschaftlers und Dichters Novalis - nämlich den auf dem Fundament seiner philosophischen Erkenntnistheorie durchgeführten Versuch einer prinzipiellen Vermittlung ästhetischer und naturwissenschaftlicher Wahrnehmungsstrukturen - in ihren praktischen Konsequenzen sowohl für die theoretisch-begriffliche als auch für die dichterische Wirklichkeitsaneignung weitgehend unberücksichtigt läßt. Gemäß seiner Zielsetzung, Novalis' produktiven Umgang mit zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Kenntnissen im Hinblick auf die philosophische Konzeption eines enzyklopädischen Systems empirischer Einzeldisziplinen und den damit verbundenen Entwurf eines eigenen poetischen Naturbildes zu erhellen, liegt der Interessenschwerpunkt von 174

Ebd. 72, 79. Ebd. 77. »Der Einweihungsort - Berginneres - und die Modalität (Phantasie/Traum) verweisen darauf, daß der romantische Naturbegriff zu rekonstruieren ist aus den ins Unbewußte eingeschlossenen Symbolbildungen, die im Diskurs der Wissenschaften und der Vernunft keinen Ort haben. [...] Der hermetische Montan-Diskurs bei Novalis hat also doppelte Funktion. Sie ergibt sich aus dem Verhältnis zur aufgeklärten Bergbauwissenschaft einerseits und den Verdrängungsleistungen des avancierten Technologen Hardenbergs andererseits. In der Kunst findet die verlorene, im Wissenschaftsprozeß ausgegrenzte Naturphilosophie der sogenannten chemischen Philosophen der Renaissance ihren Ort der Erinnerung; und die Kunst wird zum Medium der Einbehaltung dessen, was das aufgeklärte Subjekt im Prozeß seiner Autonomisierung zum Opfer bringen muß.« (ebd. 76f.). 176 So heißt es auch gleich zu Beginn der Studie im Blick auf Novalis' ästhetische Entwürfe: »Diesen >schönen Bergbau< [...] hat Novalis im Ofterdingen entworfen. Er konnte dies nur im Rückgriff auf alte Symbol-Reservoirs, in denen sich Praxisformen des Montanbaus reflektieren, die der Berg-Akademiker Hardenberg längst hinter sich gelassen hatte.« (ebd. 66). 175

56

Erk F. Hansens Dissertation über Novalis' »Wissenschaftswahrnehmung und -Umsetzung im Kontext der deutschen Frühromantik« (lyyi)177 zunächst auf einer historischen Darstellung des Prozesses der Entwicklung und Ausdifferenzierung einzelner naturwissenschaftlicher Disziplinen um 1800. Die wissenschaftsgeschichtliche Skizze einer durch einen immensen Wissenszuwachs< u.a. auf den Gebieten der Medizin, Biologie, Chemie und Physik gekennzeichneten Umbruchsituation der traditionellen Naturlehre (Abschnitt B der Dissertation) und der daran anschließende Abriß der zeitgenössischen (natur-)philosophischen Auseinandersetzungen (Abschnitt C) dienen dem Autor als Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage, inwieweit Novalis' Wahrnehmung und Umsetzung spekulativer und empirischer Erkenntnisse dem >Stand< der wissenschaftlichen Forschung um 18oo< entsprochen hätten (Abschnitt D-E). Daran schließt sich die Erkundigung danach an, inwieweit sich >Spuren< jener konzeptionellen Übertragungen im dichterischen Werk des Novalis nachweisen lassen (Abschnitt F).I/8 Die Vorgehensweise des Autors orientiert sich an einer chronologischen Ordnung spezieller Forschungsinhalte der damaligen Physik, Chemie, Mathematik, Geologie, Biologie und Medizin sowie der entsprechenden Kenntnisnahmen des Novalis innerhalb dieses Erfahrungskontextes. Hansen betont die besondere Bedeutung von Novalis' Freiberger Studium des Bergbaus einschließlich der dazugehörigen Teildisziplinen im Hinblick auf die in Freiberg erfolgte »Weichenstellung« eines philosophischen Interesses an aktuellen empirischen Fragestellungen, welches in den Versuch eingemündet sei, »das Gerüst einer Enzyklopädie als >Totalwissenschaft< aufzustellen«.179 Die Frage, inwiefern sich Novalis' Beschäftigung mit chemisch-physikalischen und insbesondere auch mineralogischen Fragestellungen seiner Zeit180 sowohl in inhaltlicher als auch in methodischer Hinsicht auf sein philosophisches Denken sowie seine dichterische Wirklichkeitswahrnehmung und -darstellung ausgewirkt hat, wird im Rahmen von Hansens Arbeit jedoch nicht etwa am Beispiel dahingehend signifikanter chemisch-physikalischer Theoreme oder im Blick auf den Tatbestand der Umsetzung philosophischer und naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Novalis' poeti177

E. F. Hansen, Wissenschaftswahrnehmung und -Umsetzung im Kontext der deutschen Frühromantik. Zeitgenössische Naturwissenschaft und Philosophie im Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis), Frankfurt a.M., Berlin, Bern u.a. 1992. 178 Ebd. 19. I79 Ebd. 2i. 180 Zur zeitgenössischen Mineralogie und Geologie sowie der entsprechenden Rezeption des Novalis siehe ebd. 112-125, 223-233, 336-342, 390-393.

57

scher Symbolik untersucht, obwohl sich eine entsprechende Relevanz einzelner Disziplinen gerade an ganz speziellen Vorstellungen und Prinzipien (z.B. der Kristallisation oder des Galvanismus) exemplarisch demonstrieren ließe. Anstatt Novalis' produktive Wahrnehmung empirischer Erkenntnisse und Vorstellungsmuster etwa im Hinblick auf eine Umsetzung dieser Kenntnisnahmen in der eigenen dichterischen Praxis detailliert unter Berücksichtigung ihrer naturphilosophischen Voraussetzungen zu untersuchen, legt der Autor den Schwerpunkt der Betrachtung auf eine eher generelle Einschätzung von dessen Rezeptionsverfahren unter modernen naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten.181 Es handelt sich hierbei um eine Beurteilung, der eine dualistische Auffassung des Verhältnisses von Wissenschaft und Kunst im Sinne eines behaupteten Gegensatzes von >objektiv< nachweisbarer >Fachkundigkeit< und >bloßer< >Symbolik< im Widerspruch zu der eingangs von Hansen formulierten Absicht einer >interdisziplinären< Sicht auf das Thema >Wissenschaftswahrnehmung< zugrunde liegt.'82 So stellt Hansen eine teilweise unsichere, in »streng wissenschaftlich gesehen - unzulässigen Bahnen« erfolgte »experimentierfreudige« Handhabung zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Kenntnisse durch Novalis fest.183 Als charakteristische Merkmale dieses als unwissenschaftlich eingeschätzten Umgangs diagnostiziert der Autor in Anbetracht von Novalis' Denken eine zunehmende Überlagerung von wissenschaftlichen Konzeptionen unterschiedlicher Herkunft sowie eine Übertragung von konstituierenden Prinzipien und Hypothesen verschiedener Wissenschaftsdisziplinen im Sinne einer Ausweitung, 181

Hansen verkennt beispielsweise den Sachverhalt, daß Novalis' poetologische Naturdeutung auf der Grundlage eingehender naturwissenschaftlicher Studien vor allem auch während der Freiberger Zeit entwickelt wird. So heißt es etwa im Blick auf die schriftlichen Aufzeichnungen zu dessen Freiberger Enzyklopädieprojekt: »[Über einzelne singuläre Äußerungen des Novalis] hinaus enthält das Allgemeine Brouillon keine weiterführenden Äußerungen zur Poesie im Kontext der Wissenschaften (rein poetologische Aufzeichnungen wurden [...] hier nicht berücksichtigt), weitere Hinweise können erst die Fragmente und Studien der letzten Lebensjahre vermitteln« (ebd. 434f.). 182 Unter weitgehender Ausblendung der ästhetischen Beurteilungsperspektive, die sich dem alleinigen Bewertungsmaßstab >objektiv< feststellbarer Erkenntnisse von vornherein entzieht, sieht Hansen abschließend auch das Enzyklopädieprojekt des Novalis als »gescheitert« an: »Das Allgemeine Brouillon versucht, den Wissenschaften ein neues Ideal der Kooperation zu erschließen, der gegenseitigen Befruchtung und Entwicklung innerhalb einer alle umfassenden Enzyklopädie. Es ist zu fragen, ob das Brouillon aber nicht bereits ein in der Projektierung gescheiterter Versuch der Verwirklichung eines solchen Ideals ist?« (ebd. 438). 183 Ebd. 315. So sei Novalis, insbesondere was seine mathematischen und physikalischen Kenntnisse anging, teilweise »von einem objektiv-wissenschaftlichen [...] Naturbegriff [weit] entfernt« gewesen (ebd. 497). 58

Verschmelzung und Generalisierung von zum Teil ungesicherten und ungeklärten Theoremen und Sachverhalten, die zugunsten des eher >anachronistischen< Vorhabens einer spekulativen Wiederbelebung vormoderner Universalisierungsbestrebungen durchgeführt werde.184 Diese Rezeptionsweise sei der zeitgenössischen Spezialisierungstendenz der Naturwissenschaften deshalb entgegengesetzt, da sie zu einer »Verkürzung« und »Reduzierung« spezialwissenschaftlicher Erkenntnisse auf eine »Symbolik« führe, die dem Erkenntnisfortschritt im Sinne eines zunehmenden Detailwissens nur im Wege stehe.185 Zu kritisieren ist an Hansens Vorgehen, daß die Feststellung des tatsächlichen Niveaus der empirischen Forschung um 1800 als einer maßgeblichen Basis, auf der sich Novalis' philosophische und poetische Wissenschaftswahrnehmung erst angemessen beurteilen lasse, aus der Perspektive eines modernen naturwissenschaftlichen Kenntnisstandes erfolgt. Dessen Grundhaltung entspricht einer bedingungslosen Vertretung des positivistischen Anspruchs eines objektiv meßbaren Erkenntnisfortschritts. Damit verschließt sich jedoch von vornherein der Blick auf eine Fragestellung, welche den von Hansen selbst ausdrücklich in Anspruch genommenen Betrachtungsstandpunkt eines diskursüberschreitenden philosophischen und ästhetischen Deutungskonzeptes in seiner prinzipiellen Relevanz sowohl für das wissenschaftliche als auch das ästhetische Weltverständnis ernst nehmen würde, und zwar insofern, als ein konsequent selbstkritisches wissenschaftliches Denken die Notwendigkeit einer Korrelierung jener scheinbar entgegengesetzten Positionen immer schon impliziert. Da Hansen seine Berücksichtigung historischer Voraussetzungen und Bedingungen von Novalis' Beschäftigung mit den Naturwissenschaften vor allem hinsichtlich einer beabsichtigten Klärung der 184

Siehe dazu ebd. 3o8ff., 439ff., 493ff- Nach Hansens Auffassung »nährt« sich Novalis' »Enzyklopädiegedanke« aus einer bereits in ihrer Überwindung begriffenen »Tradition des >Universalgelehrtenveralteten< (Wissenschafts-)Positionen« »verhaftet« geblieben sei,186 spitzt sich seine Untersuchung in Orientierung an dieser Frage auf die abschließend resümierte These zu, daß Novalis' rezeptive Aneignung und Umdeutung damaliger Wissenschaftskonzepte in ein »eigenes Naturbild« in eigentümlich »selektiver« Weise durch vormoderne Traditionen geprägt worden sei, so daß ihn seine Interpretationen letztlich von den ursprünglichen »Ausgangsebenen« zugunsten einer Aufrechterhaltung »antiquierte[r] Deutungsmuster« weggeführt hätten.'87 Entsprechend seiner »chronologischen Ordnungsabsicht« beurteilt der Autor dann auch die »Genese« eines »neuen Naturbildes«188 in Novalis' späten Fragmenten und Studien (1799/1800) als Prozeß einer zunehmenden gedanklichen Einschmelzung einzelner Wissenschaftsdisziplinen »in ein eher undifferenziertes Naturbild«, dem sich »Fragen zur sprachlichen Darstellung und philosophischen Konsequenz überlager[t]« hätten.189 Hansen läßt bei dieser Beurteilung jedoch den Sachverhalt weitgehend unberücksichtigt, daß Novalis andererseits sogenannte >vormoderne< Vorstellungsmodelle, wie z.B. der mittelalterlichen Alchemic und Theosophie, erst von einem hochspezialisierten Kenntnisstand aus auf vielfältig kreative Weise zu rezipieren beginnt. Die von Hansen in Ergänzung seiner Betrachtung der zeitgenössischen Kenntnisgrundlagen von Novalis' Naturauffassung aufgeworfene Frage nach den Spuren entsprechender Einflüsse im dichterischen Werk wird im Verlauf der gesamten Untersuchung nur allgemein oder am Rande berührt.190 Eingehendere Analysen spezieller Denkfiguren und Bilder in Novalis' Dichtung und Theorie unter dem Aspekt einer 186

Ebd. 19.

1 7

Ebd. 19,498,500 u. dazu bes. 493-500. »Im Bemühen, für das Brouillon alle Wissenschaften aufeinander >abzugleichenuniversalisierenFilterhöheren< Naturbildes [...] führt in eigenständiger Umdeutung von ihren Ausgangsebenen weg, doch bleiben Novalis' Prinzipien des Systems einer >Totalwissenschaft< (im Brouillon) oder eines transzendierten Naturbildes (in den Fragmenten und Studien [i 799/1800]) letztlich philosophisch im Sinne der alten Naturlehre, da Novalis einen philosophisch abgeleiteten Einheitsgrund beider wählt und naturwissenschaftliche Beschreibungsweisen diesen philosophischen Begründungsstrukturen einpaßt [...]« (ebd. 439, 498). Ebd. 444; siehe dazu auch ebd. 444ff. 189 Ebd. 443. 190 Siehe dazu ebd. 466-479. 60

wechselseitigen Übertragung philosophischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse werden nicht unternommen.'91 Konsequent wäre im Rahmen einer Analyse von Novalis' Wissenschaftswahrnehmung aus primär naturwissenschaftlicher Sicht, wie dies Hansen unternimmt, eine gleichzeitige Infragestellung des eigenen naturwissenschaftlichen Gesichtspunktes in seiner Funktion als allgemeingültiger Maßstab der Beurteilung eines Bezuges, wie er sich in Novalis' Werk gerade im Hinblick auf eine wechselseitige Bestimmung wissenschaftlicher und ästhetischer Wahrnehmungskriterien herstellt. Kritisch anzumerken ist abschließend, daß der Autor die besondere Relevanz seiner Feststellung eines naturwissenschaftlichen Kenntnisstandes als legitimer Ausgangsbasis der vergleichenden Betrachtung von empirischer Wissenschaft, Philosophie und Ästhetik im Werk des Novalis in bezug auf eine gleichzeitig beanspruchte Klärung der Art und Weise möglicher gegenseitiger Bedingungsverhältnisse zwischen den verschiedenen Perspektiven nicht eigens begründet und expliziert. Das Verdienst von Hansens Darstellung liegt dagegen im Nachweis und in der erstmals in umfassender Weise präsentierten Sammlung konkreter naturwissenschaftlicher Kenntnisnahmen des Novalis. Die Frage jedoch, wie sich die Anverwandlung dieser einzelnen Kenntnisse auf der Folie und im Gesamtrahmen ihrer produktiven Rezeption in ihrer besonderen Konsequenz für Novalis' poetologische Theorienbildung und seine praktische Dichtung vollzogen hat, bleibt allerdings - gemessen an der eingangs vom Autor formulierten Absicht, die Logik der »Wissenschaftswahrnehmung« zu analysieren unzureichend beantwortet. Eine diesbezügliche Klärung würde detaillierte Einzeluntersuchungen von Novalis' Auswahl und Aufnahme zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Begriffe und Denkmuster erfordern, die im inhaltlichen und methodischen Rahmen eines geschichtlichen Gesamtüberblicks, wie ihn der Autor unternimmt, nicht durchzuführen wären. Einen Ausblick auf die jüngsten Entwicklungstendenzen und den derzeitigen Diskussionsstand der Forschung zum Thema >Novalis und die Wissenschaften eröffnete eine Fachtagung der Internationalen Novalisgesellschaft, die im Herbst des Jahres 1994 in Oberwiederstedt stattgefunden hat.192 Da die im Rahmen dieser Tagung vorgestellten Forschungsansätze wesentliche gedankliche Impulse der vorliegenden Untersuchung 191 191

Siehe dazu die entsprechenden Hinweise des Autors selbst, ebd. 479. Die einzelnen Beiträge sind nach Fertigstellung der vorliegenden Studie in dem von H. Uerlings herausgegebenen Sammelband >Novalis und die Wissenschaften (Tübingen 1997) veröffentlicht worden.

61

präsentieren, soll abschließend kurz auf einige Diskussionsergebnisse der Tagung hingewiesen werden: Herbert Uerlings differenziert in seinem Tagungsbericht193 drei inhaltliche Schwerpunktbereiche der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema >Novalis und die Wissenschaften^ Zum ersten sei aufgrund einzelner Beiträge zum Beispiel zu Novalis' Leibnizrezeption, seiner Auseinandersetzung mit aufklärerischen Traumtheorien, seinem Studium der mittelalterlichen Geschichte sowie seinen medizinischen Studien deutlich geworden, daß der Nachweis seines tatsächlichen wissenschaftlichen Kenntnisstandes in Hinsicht auf eine Beantwortung der Frage nach speziellen Interessen und Beschäftigungen nach wie vor ein Desiderat der Forschung darstellt.'94 Zum anderen habe gerade im Rahmen der einzelnen Tagungsbeiträge der Sachverhalt eine Bestätigung gefunden, daß Novalis »mit beeindruckender Kompetenz versucht hat, eine ganze Reihe von Wissenschaften zu >romantisieren< bzw. in das Konzept einer >Enzyklopädistik< einzubinden, ohne das Niveau der Fachwissenschaften (und der Philosophie) dabei zu unterbieten«.195 Ein weiterer Schwerpunkt der Vorträge lag zweitens auf der Analyse von Novalis' produktivem Umgang mit den zeitgenössischen Wissenschaften. Eine besondere Berücksichtigung fand dabei sowohl in methodischer als auch inhaltlicher Darstellungshinsicht seine kreative Deutung von ganz speziellen »Strukturmustern der Wissenschaftsorganisation«, wie sie zum Beispiel im ausgehenden 18. Jahrhundert aufgrund der experimentellen Analyse konkreter empirischer Phänomene im Bereich der chemisch-physikalischen oder speziell der mineralogischen Forschung erschließbar wurden. Im Mittelpunkt dieser Darlegungen stand vor allem die Frage nach den charakteristischen Ausprägungsformen der Übertragung philosophischer und naturwissenschaftlicher Denkfiguren und Vorstellungsmuster etwa auf die Gebiete der politischen Theorie oder der literarischen Darstellungstechnik. Ein dritter Schwerpunktbereich der Tagungsbeiträge bildete die »Beschreibung nicht-linearer, nicht-teleologischer Denkvorstellungen«, und dies auch im Hinblick auf den Versuch einer Beantwortung der Frage, wie nun diese - sich der logisch-kausalen Betrachtungsweise weit193

H. Uerlings, »Novalis und die Wissenschaften«. Bericht über die erste Fachtagung der Internationalen Novalis-Gesellschaft, in: Mitteilungen der Internationalen Novalis-Gesellschaft, hrsg. v. H.-J. Mahl u. G. Rommel, Heft i, Jg. 1996, Halle 1996, S. 19-23. Siehe auch ders., Novalis und die Wissenschaften. Forschungsstand und Perspektiven, in: ders. (Hrsg.), Novalis und die Wissenschaften 1-22. 194 Uerlings, Novalis und die Wissenschaften. Bericht nf. 195

Ebd.

21

gehend entziehende - Reflexionsmethodik innerhalb von Novalis' Werk mit einem dialektischen Denken vermittelt wird, dessen utopische Ausrichtung auf den transzendenten Sinnhorizont des Bewußtseins aufrechterhalten bleibt.'96 In diesem Zusammenhang wurde insbesondere auch die Frage nach der Reichweite literaturwissenschaftlicher Interpretationsansätze gestellt, die sich dem Sachverhalt einer sukzessiven Genese innovativer Denkmethoden und Darstellungsstrategien im Werk des Novalis einerseits mittels ahistorischer Verfahren einer strukturtheoretischen Analyse etwa unter dem Gesichtspunkt der modernen Chaostheorie anzunähern versuchen oder es andererseits unternehmen, jene neuen Denkmodelle aus dem »historischen Kontext« ihrer Entstehung und Adaption heraus zu entwickeln.197 Nach Auffassung von Uerlings kristallisierten sich unter bestimmten methodischen Betrachtungsaspekten in direktem Bezug auf die skizzierten inhaltlichen Problemstellungen einzelner Beiträge mögliche Zugangsweisen auf das übergeordnete Thema der Fachtagung heraus, welche in ihrer Gesamtheit »die ganze Spannweite der Methoden von der quellenkritischen Erschließung der Texte bis zu ihrer Deutung im Lichte gegenwärtig einsichtiger Theoreme (Postmoderne, Chaostheorie)« Sichtbarwerden ließen.198 Die Frage nach der Angemessenheit so unterschiedlicher literaturwissenschaftlicher Interpretationsverfahren, wie sie beispielsweise der historische Aufweis der metaphysischen und naturwissenschaftlichen Grundlagen von Novalis' Theorie und Dichtung in konkretem Bezug auf eine Herstellung systematischer inhaltlich-semantischer Zusammenhänge zwischen einzelnen Symbolkomplexen im Gesamtwerk oder auch die soziologisch oder epistemologisch ausgerichtete diskursanalytische Betrachtung des Sachverhalts einer wechselseitigen Übertragung wissenschaftlicher und poetischer Konstruktionsverfahren in Novalis' Dichtung und Theorie repräsentieren - diese Frage wurde einerseits im Sinne einer Bestätigung des traditionellen quellenkritischen hermeneutischen Ansatzes und andererseits in eher kritischer Beurteilung moderner >nicht-hermeneutischer< Analysemethoden insbesondere im Hinblick auf die mit dieser Vorgehensweise eher verbundene Gefahr willkürlicher >Adaptionen< bzw. >Aktualisierungen< beantwortet. Zugleich wurde jedoch im Rahmen der Diskussion deutlich, daß es in Anbetracht des literaturwissenschaftlichen Vorhabens der Erfassung eines Gesamtphänomens, wie es 196 I?7

198

Ebd. 2if.

Ebd. 22.

Ebd.

63

Novalis' Gesamtwerk hinsichtlich der vielschichtigen inhaltlichen und methodischen Interferenz seiner Wahrnehmungsebenen präsentiert, sowohl unter historischen als auch strukturtheoretischen Betrachtungsaspekten um den Versuch einer substantiellen Vermittlung historisch-hermeneutischer Interpretationsverfahren gerade auch mit diskursanalytischen oder dekonstruktivistischen Analysemethoden als »selbstverständlichen Bestandteilen«1" der derzeitigen Novalisforschung gehen muß. Die Forschungsliteratur zur Symbolik des >Mineralischen< in Novalis' Werk weist unterschiedliche methodische Ansätze zur Klärung einiger der Fragen auf, die sich im Zusammenhang mit diesem komplexen Thema stellen. Grundlegende Fragen richten sich hierbei auf literaturwissenschaftliche Methoden, die prinzipiellen Zusammenhänge zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Kunst sowohl auf historischer als auch struktureller Ebene zu klären. Den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung bildet die These, daß sich in der traditionellen Steinsymbolik eine Überlagerung unterschiedlicher Wirklichkeitsentwürfe auf paradigmatische Weise manifestiert, wobei Novalis' Gesamtwerk einen Kulminationspunkt innerhalb der Überlieferungsgeschichte dieses Sinnbildes darstellt. Die Erfassung und wechselseitige Erhellung der vieldimensionalen Bezüge, welche zwischen den verschiedenen Denkmodellen und Wirklichkeitsvorstellungen bestehen, verlangt als Grundvoraussetzung eine in der gegenseitigen Abgrenzung zugleich hergestellte Verbindung zwischen ihren jeweiligen Betrachtungsperspektiven. Die in der Forschungsliteratur immer wieder hervorgehobene, aber unzulänglich begründete Aktualität von Novalis' poetologischen Anschauungen besteht nach Auffassung der Verf. darin, daß die in der überlieferten poetischen Symbolik stattfindende Verknüpfung und Vermischung der kontrastierenden Daseins- und Wissenskonzepte bei Novalis eine systematische naturwissenschaftliche und philosophische Begründung erfährt, die in eine >Theorie der Poesie< einmündet, welche wiederum in seiner eigenen dichterischen Praxis im Sinne der Wiederbelebung und Fortsetzung einer langen literarischen Tradition ihren Niederschlag findet. Die umrißhafte Beschreibung des Forschungsgebietes sollte als Hintergrund dienen, vor welchem sich die Methode und Zielsetzung dieser Arbeit abheben und in ihrer Eigenständigkeit konturieren lassen. Die Studie stützt sich auf die Ansätze der vorgestellten Forschungsliteratur, um diese im Hinblick auf ihre eigene zentrale Fragestellung zu verbinden - wobei insbesondere der interdisziplinäre Zugang G. Schulz' und die zugleich '"Ebd. Siehe dazu auch ders., Friedrich von Hardenberg, bes. 615-625. 64

motivgeschichtlich, strukturanalytisch und zeichentheoretisch orientierten Betrachtungen W. Vordtriedes, M. Franks, E Stracks und U.J. Beils der beabsichtigten Analyse richtungsweisende methodische Gesichtspunkte angeben. Es gibt bisher keine selbständige Untersuchung, in der Novalis' Symbolik des >Mineralischen< unter Berücksichtigung ihrer in der frühromantischen philosophischen Spekulation und Naturforschung gelegten theoretischen Grundlagen betrachtet wird. In den Arbeiten, die Novalis' poetische Imagination und wissenschaftliche Reflexion des >Mineralischen< durchgehend unter dem Gesichtspunkt einer übergreifenden Fragestellung thematisieren, wird der wissenschaftliche Horizont der Frühromantik als Rahmen der Symbolbildung ausgespart oder unzureichend berücksichtigt, wobei sich dieser Verzicht meist ausdrücklich aufgrund der andersartigen Gewichtung des jeweiligen Interesses der Verfasser erklärt. Ein Desiderat der Forschung bildet somit folgender Aufgabenbereich: Der Versuch einer Ergründung der außergewöhnlichen literaturgeschichtlichen Bedeutung der von Novalis >geschaffenen< >existentiellen Symbolikneu entstandene SymbolbegriffEvolution< des Geistes (>schlafender GeistSubjektiven< und des >Objektiven< als einer notwendigerweise anzunehmenden Grundvoraussetzung des universalgeschichtlichen Bewußtseinsprozesses, den die Philosophie in allen seinen Bestimmungen zu rekonstruieren sucht, wird dem empirisch wahrnehmbaren Gegenstandsbereich der anorganischen Natur eine besondere epistemologische Bedeutung zugewiesen. Denn die fundamentale Entdeckung des Sachverhalts einer sukzessiven Ausbildung komplexer selbstorganisatorischer Triebkräfte und Strukturen im Verlauf der natürlichen Entwicklung der Materie erhält ihre maßgeblichen Impulse zunächst im übergreifenden Rahmen der geologischen Erforschung der >NaturgeschichteGalvanismus< (J. W. Ritter) und die mathematisch-physikalische Vorstellung der sogenannten kristallographischen >Dekreszenz< (J.-B.L. de Rome Delisle, T. Bergmann, R.J. Hauy) als mögliche Beschreibungen des Phänomens einer natürlichen Selbstorganisation der Materie zueinander stehen, in methodischer Hinsicht zugleich eine Absicherung der Grundlagen einer vergleichenden Analyse der mineralogischen Symbolik in Novalis' Gesamtwerk. Denn sie dient der Ermittlung von korrespondierenden Betrachtungsperspektiven, deren eigener historischer Wandel aufgrund ständig neuer Erfahrungen und Erkenntnisse im Bereich der damaligen Naturforschung stets im Blick bleiben muß. 68

Zu fragen wäre also zunächst nach dem wissenschaftshistorischen Stellenwert bestimmter Prinzipien und Denkfiguren, die sich gerade aufgrund ihrer jeweiligen Herkunftsbereiche besonders für eine exemplarische Analyse von Novalis' produktiver Aneignung empirischer Theoreme und traditionsgeschichtlich überlieferter Bilder und Vorstellungsgehalte eignen. Innerhalb einer solchen Analyse beansprucht der Prozeß der schöpferischen Umdeutung jener gewählten Begriffe und Metaphern in ihrer Funktion als Medien der poetologischen Reflexion in der Dichtung eine gewisse Aufmerksamkeit. Dem Versuch einer Beantwortung diesbezüglicher Fragen liegt die These zugrunde, daß die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung als Vergleichsbasis ausgewählten Vorstellungskonzepte eine Übereinstimmung von Grundsätzen und Strukturen kennzeichnet, mit denen sich in formaler Hinsicht auch zentrale Organisationsformen eines gedanklichen Zugangs zur Wirklichkeit charakterisieren lassen, die Novalis' Denken auf der Grundlage seiner kritischen Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts ausgebildet hat. 3. Die poetische Welt der Mineralien und Gesteine impliziert neben weiteren Zentralmotivkreisen innerhalb von Novalis' Gesamtwerk ein Bedeutungsspektrum, das sich in seiner verwirrenden Vielfalt erst im Rückgang auf die historischen Voraussetzungen der Symbolbildung erfassen läßt. Eine Grundthese der vorliegenden Untersuchung lautet, daß sich in der dichterischen Verknüpfung der verschiedenen Motive Konstruktionsprinzipien einer Poetik manifestieren, die eine Abkehr der Dichtung vom traditionellen Postulat der Wirklichkeitsnachahmung signalisieren - eine grundlegende Abkehr von überlieferten Funktionen der sprachlichen Wahrnehmung und Darstellung, die wesentlich bedingt ist durch den radikalen Wandel, der sich gegen Ende des i S.Jahrhunderts auf den unterschiedlichsten Gebieten des erfahrungswissenschaftlichen Zugangs zur Wirklichkeit vollzieht. So wird die Natur mit Hilfe neu entwikkelter experimenteller Beobachtungsmethoden als ein Phänomenbereich erschlossen, dessen Eigenständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber dem wahrnehmenden Subjekt im Zusammenwirken von Kräften und Strukturen gründet, die sich aufgrund ihrer wechselseitigen Beziehung dem einseitigen Erklärungsmuster einer Linearität von Ursache und Wirkung entziehen. Der bereits von Seiten der transzendentalphilosophischen Spekulation revidierte Anspruch einer vollständigen verstandesbegrifflichen Erfassung der Natur wird damit nun auch aus erfahrungswissenschaftlicher Sicht bestätigt. 69

Die mineralogische Symbolik des Novalis erweist sich in der Mehrdimensionalität ihrer Filiationen und Transformationen als Ort eines praktischen Umsetzungsversuchs von formalen Prinzipien der Wirklichkeitsorganisation, die auf der Grundlage der zeitgenössischen Philosophie und Naturwissenschaft gewonnen werden. Im Rahmen dieser Arbeit wird am konkreten Beispiel ausgewählter Symbole der Versuch unternommen, den Bedeutungsgehalt und die spezifischen Funktionen zu erschließen, welche der Topos des >Mineralischen< in Novalis' Philosophie und Poetik als symbolischer Garant der Einheit eines die Bereiche der Natur und des Geistes umschließenden Bewußtseins entfaltet. Als wesentliche Voraussetzung der Analyse erweist sich hierbei zum einen die eingehende Betrachtung der besonderen Rolle, welche das Reich des Anorganischen innerhalb des Systems der frühromantischen Naturphilosophie als zentraler Ausgangspunkt einer Erschließung möglicher theoretischer Überschneidungspunkte zwischen den Erfahrungsbereichen der Natur und der Geschichte übernimmt; zum anderen können die speziellen Funktionen, die dem Symbol des >Mineralischen< als des sinnbildlichen Ausdrucks eines die natürliche und die geistige Bildung übergreifenden Baugesetzes zugewiesen werden, erst im Rekurs auf eine aktuelle naturwissenschaftliche Diskussion geklärt werden, die Novalis' produktive Rezeption traditioneller Bild- und Vorstellungsbereiche auf eine außergewöhnliche Weise motiviert und geprägt hat. Folgende Fragen leiten das methodische Vorgehen der vorliegenden Untersuchung: 1. Unter welchen formalen Gesichtspunkten lassen sich zentrale Prinzipien und Strukturen des gedanklichen Zugangs zur Wirklichkeit kennzeichnen, die Novalis' Denken auf der Grundlage seiner kritischen Auseinandersetzung mit Fichtes spekulativer Wissenschaftslehre über dessen erkenntnistheoretischen Ansatz hinausgehend ausgebildet hat? Inwieweit können die logischen Bedingungen dieser kreativen Überlagerung unterschiedlicher Wirklichkeitskonzepte aus den Bereichen der Erkenntnistheorie, Naturwissenschaft und Ästhetik erst im Rahmen einer Berücksichtigung spezifischer Denkfiguren festgestellt werden, die bereits in den sogenannten >Fichtestudien< der Jahre 1795/96 entworfen und systematisch reflektiert werden? 2. Inwiefern kann eine eingehende Betrachtung der frühromantischen philosophischen Konstruktion des Begriffs der Materie in ihrer prinzipiellen Verschränkung mit zeitgenössischen empirischen Bestimmungsversuchen der materiellen Natur dazu beitragen, Novalis' produktive Aneignung naturwissenschaftlicher Denkmodelle und traditionsgeschicht-



lieh überlieferter Bilder und Vorstellungsgehalte zu erhellen? Auf welche Weise beeinflußt jene produktive Rezeption die originelle Umfunktionalisierung der gewählten Begriffe und Metaphern als Träger und Medien der poetologischen Selbstreflexion in der Dichtung? Von welchen konkreten empirischen Erkenntnissen und Erfahrungen ausgehend lassen sich mögliche Ebenen der Übertragung philosophischer Prinzipien in den Bereich der Naturwissenschaft und Poetik feststellen? Welche Formen des methodischen Vorgehens sind dazu geeignet, zum einen den Niederschlag spezieller naturwissenschaftlicher Vorstellungsmuster in Novalis' Dichtung und Theorie nachzuweisen und zum anderen aufzuzeigen, wie sich die poetologische Deutung naturwissenschaftlicher Ideen und Konzepte konkret in der literarischen Formgebung und Gestaltung auswirkt? 3. Das Reich des Anorganischen nimmt innerhalb der systematischen Gesamtkonzeption der frühromantischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft einen ausgezeichneten Stellenwert als symbolische Basis einer naturgeschichtlichen >Evolution< des Geistes ein. Welche naturwissenschaftlichen Vorstellungen und Bilder sind in Berücksichtigung dieser philosophischen Signifikanz des >Mineralischen< besonders dafür geeignet, die behauptete Interferenz unterschiedlicher Wahrnehmungsfunktionen von Philosophie, Naturwissenschaft und Dichtung exemplarisch zu demonstrieren? Im Rahmen einer Arbeit, die das Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Wirklichkeitsaneignung in seiner spezifischen Ausprägung thematisiert, kann auf eine Darstellung der naturwissenschaftsgeschichtlichen Situation des 18. Jahrhunderts nicht verzichtet werden. Zudem läßt sich eine angemessene Beantwortung der Frage nach der Art und Weise, wie sich die Beziehung zwischen Novalis' philosophischer und mineralogisch-geologischer Theorienbildung vor allem im Hinblick auf seine poetologische Interpretation naturwissenschaftlicher Denkmodelle gestaltet, angesichts des Facettenreichtums ihrer traditions- und wissenschaftsgeschichtlichen Einflüsse nur im Rahmen von detaillierten Einzelanalysen ausgewählter Begriffe und Symbole durchführen. Ein ursprünglich vorgesehenes traditionsgeschichtliches Kapitel, welches sich eigens mit dem historischen Nachweis einzelner Quellen von Novalis' philosophischpoetischer Mineralogie insbesondere aus den diesbezüglich relevanten Bereichen antiker und mittelalterlicher Naturkunde und Symbolik beschäftigt, hätte zu dieser Untersuchung zwar insofern beigetragen, als die entsprechende Übersicht einen historischen Horizont eröffnet, innerhalb dessen die hohe semantische und epistemologische Komplexität seiner Symbolik in ihrer traditionsgeschichtlichen Begründung erst sichtbar

wird. Der Nachteil einer solchen umfassenden - von der eigentlichen Analyse und Interpretation notwendigerweise abzulösenden - Darstellung der traditionsgeschichtlichen Einflüsse auf Novalis' Denken und Dichten liegt jedoch darin, daß eine dementsprechend gründliche Darlegung den Rahmen der Gesamtuntersuchung auf Kosten der Übersichtlichkeit überschreitet. Aus diesen Gründen wurde im Rahmen dieser Arbeit auf eine gesonderte Darstellung der Traditionsgeschichte einzelner Steinsymbole verzichtet. Nicht verzichtet wurde hingegen auf eine eigenständige Darstellung eines naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Verständnishorizontes, innerhalb dessen dem Phänomenbereich des Anorganischen aus verschiedener Sicht ein besonderer theoretischer Status als Seinsbasis einer naturgeschichtlichen Entwicklung zugeschrieben wird, die sowohl Vorgänge im Bereich der materiellen als auch der intelligiblen Natur umfaßt. Erst unter Berücksichtigung entsprechender naturwissenschaftlicher und philosophischer Entwürfe des ausgehenden 18. Jahrhunderts kann deutlich gemacht werden, warum insbesondere dem >Stein< im Werk des Novalis auf der Grundlage einer hochentwickelten Erkenntnistheorie sowie eingehender Studien der zeitgenössischen Chemie, Physik und Biologie ein ausgezeichneter Stellenwert als symbolischer Garant des poetischen Bewußtseins zugewiesen wird. So wird beispielsweise in Anbetracht der allgemeinen empirischen und spekulativen Forschungssituation des ausgehenden 18. Jahrhunderts erst deutlich, daß sich Novalis' philosophische und dichtungstheoretische Gedankenentwicklung weitgehend einer intensiven Rezeption aktueller Erkenntnisse u.a. aus den genannten naturwissenschaftlichen Wahrnehmungsbereichen verdankt. Die vorliegende Gesamtuntersuchung ist neben dem bereits skizzierten Überblick über den Stand der Forschung aufgeteilt in zwei weitere Kapitel. Das zweite Kapitel der Untersuchung thematisiert ihrer soeben beschriebenen Zielsetzung entsprechend am Beispiel ausgewählter Grundlagenwerke der damaligen Geologie, Mineralogie, Physik, Chemie und Biologie zentrale naturphilosophische und naturwissenschaftliche Fragestellungen des 18. Jahrhunderts in besonderer Zuspitzung auf eine naturphilosophische Interpretation spezieller chemisch-physikalisch-mineralogischer Theorien. Die Beschreibung repräsentativer Vorstellungen und Theorien der damaligen Naturwissenschaft macht einen relativ eigenständigen Teil der vorliegenden Studie aus, der auch unabhängig von der Gesamtuntersuchung gelesen werden kann. Dargestellt werden naturwissenschaftliche Theorien, die insbesondere auch hinsichtlich ihrer konzeptionellen Verknüpfung in der entsprechenden Forschungslitera72

tur202 bisher wenig Berücksichtigung gefunden haben und die aber in bezug auf Novalis' Rezeption eine (nachweisbare) Bedeutung erhalten. Die Ausführlichkeit, mit der dieses Vorhaben durchgeführt wird, versucht der These Rechnung zu tragen, daß sich Novalis' eingehende Beschäftigung mit Detailfragen der chemisch-physikalischen Forschung um 1800 in ihrer eigentümlichen schöpferisch-kreativen Adaption erst vor dem Hintergrund einer sachlich beschreibbaren Wissenschaftskonstellation erhellen läßt. Das Gebiet der sich im Ausgang des 18. Jahrhunderts neu formierenden Elementarwissenschaften der Chemie und Physik prägt ein Entdeckungsreichtum, welcher dem rasanten Fortschritt einer zunehmenden Ausdifferenzierung naturwissenschaftlicher Spezialdisziplinen wie beispielsweise der Mineralogie und Kristallographie wesentliche Impulse lieferte. Die Beantwortung der Frage nach dem spezifischen poetologischen Stellenwert, welchen Novalis speziellen chemisch-physikalischen Denkfiguren in ihrer Funktion als analogen Mustern und Formeln einer beabsichtigten enzyklopädischen Vermittlung aller einzelwissenschaftlichen Disziplinen auf der Grundlage einer vollständig ausgebildeten Erkenntnistheorie zuweist, ermöglicht sich somit erst in Anerkennung des wissenschaftshistorischen Hintergrundes aktueller Entwicklungen in den einzelnen Bereichen der naturwissenschaftlichen Kerndisziplinen des 18. Jahrhunderts. Dementsprechend beinhaltet das zweite Kapitel erstens grundlegende Hinweise auf die besondere Bedeutungsfunktion der geologisch-mineralogischen Forschung innerhalb der Naturgeschichtsdiskussion seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, die am Beispiel führender Vertreter erläutert werden (G.-L.L. de Buffon, A.G. Werner, J.F. Gmelin, J.-C. de Lametherie etc.). Zweitens bietet das Kapitel einen skizzenhaften Überblick über spezielle Forschungsbereiche der damaligen Physik, Chemie und Biologie (so vor allem die physikalische Gravitations lehre, die Theorie der sogenannten >Wahlverwandtschaft< chemischer Stoffe und die Lehre vom organischen >BildungstriebMineralische< als Symbol der Interferenz philosophischer, naturwissenschaftlicher und poetologischer Denkmodelle im Gesamtwerk des Novalis - nur unter ausgewählten Hinsichten Rechnung getragen werden kann. Die besondere Schwierigkeit einer angemessenen methodischen Vorgehensweise besteht darin, daß der beabsichtigte Nachweis der motivgeschichtlichen Voraussetzungen verbunden mit einem strukturellen Vergleich von Novalis' schöpferischer Begriffsbildung und Symbolik nicht im Sinne einer linearen Entfaltung der philosophischen, naturwissenschaftlichen und poetologischen Bedeutungsschichten erfolgen kann. Denn die Eigentümlichkeit seines kreativen Umgangs mit Metaphern und begrifflichen Vorstellungen besteht gerade in einem permanenten Oszillieren einander gleichermaßen assoziativ und systematisch durchdringender und hervorrufender Gesichtspunkte, welches sich nur einem methodischen Vorgehen erschließt, das dieses Zugleich berücksichtigt. Dementsprechend folgt die Analyse ausgewählter Bedeutungsfacetten des >Mineralischen< einem ganz bestimmten Muster. Ein Ziel dabei ist es, jene wechselseitigen Bezugnahmen zwischen den verschiedenen Ebe74

nen von Novalis' wissenschaftlicher und künstlerischer Welterfahrung in ihrer Zuspitzung auf mögliche Schnittstellen und Divergenzen zu verdeutlichen. Diesem Ziel entspricht eine Analysemethode, welche die Auswahl der Betrachtungsaspekte in ihrer jeweiligen Signifikanz zugleich zu begründen sucht. Differenziert wird zwischen den Ebenen des philosophischen Vorstellungsgehaltes, des naturwissenschaftlichen Erklärungsmodells und der poetologischen Prinzipienbildung der gewählten Begriffe und Symbole. Zentral ist die Frage danach, auf welcher Grundlage und vor allem wie sich strukturelle und historisch-semantische Beziehungen zwischen Novalis' Dichtung und Theorie konkret gestalten. Im dritten Kapitel sollen im Rahmen einer Analyse ausgewählter mineralogischer Motive aus Novalis' Gesamtwerk grundlegende Strukturen und Organisationsstrategien der kreativen Übertragung unterschiedlicher Wahrnehmungsperspektiven und -konzepte in ihrer besonderen Relevanz für seine Poetik nachgewiesen werden. Die theoretische Begründung und der Entwurf ihrer praktischen Umsetzungsmöglichkeiten lassen sich auf der Grundlage eines exemplarischen Nachweises prinzipieller Berührungspunkte zwischen Philosophie und Naturwissenschaft erhellen. Der eigentlichen Analyse vorangestellt wird zunächst eine Skizze des begrifflichen und symbolischen Bedeutungsspektrums des >Mineralischen< in Gestalt eines topologischen Überblicks unter ausdrücklicher Berücksichtigung paradigmatischer inhaltlicher und formaler Gesichtspunkte und Ebenen der theoretischen und poetischen Manifestation der Steinsymbolik im Gesamtwerk (Kapitel 3.1). Am Beispiel spezieller Motive kann deutlich gemacht werden, inwiefern in Novalis' Dichtung und Theorie eine originelle Umdeutung von Bildern und Begriffen vorgenommen wird, die einerseits aus dem Kenntnisbereich der zeitgenössischen Physik, Chemie, Physiologie und Mineralogie stammen, jedoch andererseits in der Kombination mit historisch entfernteren Themen und Sujets auf eine althergebrachte Symbolik z.B. aus den Herkunftsbereichen mittelalterlicher alchemistisch-theosophischer Naturanschauungen sowie mythischer Sagen und Legenden verweisen, welche Novalis auf der Basis seiner spekulativen Theorie des Selbstbewußtseins und der damit verbundenen Entwicklung philosophischer Wahrnehmungskonzepte sowie seiner detaillierten Kenntnisnahmen zeitgenössischer naturwissenschaftlicher Denkmuster in schöpferischer Weise rezipiert und dabei zugleich in Richtung einer poetologischen Selbstaussage des Dichters umf unktionalisiert hat. Im Mittelpunkt dieser Interpretation steht die Frage danach, wie sich Techniken der ästhetischen Wahrnehmung in der Gestaltgebung von Metaphern und Symbolen niederschlagen, die innerhalb 75

des poetischen Verweisungszusammenhangs in eigentümlich widersprüchlicher Weise zum einen als synthetisierendes Zentrum und zum anderen als Impuls einer unaufhörlichen gedanklichen Progression fungieren. Gefragt wird also u. a. nach der konkreten Bedeutung, welche das jeweilige Symbol in seiner Eigenschaft als Medium der Selbstreflexion der Dichtung gewinnt - einer Dichtung, die sich als >potenzierte Natur< im Sinne der letztlich unhintergehbaren Identität von Prinzipien versteht, welche sowohl die >Natur< als auch den Bereich des >Geistigen< strukturieren. Ein Vergleich von Modellen und Metaphern aus verschiedenen Herkunftsbereichen, wie sie etwa die idealistische Selbstbewußtseinstheorie, die empirischen Wissenschaften der Chemie und Physik und die Dichtung der Frühromantik repräsentieren, erfordert als weiteren Schritt eine Klärung der theoretischen Voraussetzungen jener komplizierten Austauschbeziehungen und Verflechtungen entsprechender Vorstellungen und Symbole als einer gedanklichen Grundlage, von der ausgehend sich eine vergleichende Gegenüberstellung ermöglichen soll. Es geht hierbei um eine prinzipielle Betrachtung von logischen Denkfiguren, die auf zentrale Ideen von Novalis' Poetik verweisen. Im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts des dritten Kapitels steht daher eine Betrachtung spezifischer Merkmale seiner philosophischen Gedankenbildung, die unter dem Gesichtspunkt eines anschließenden Vergleichs mit korrespondierenden naturwissenschaftlichen Denkfiguren unternommen wird (Kapitel 3.2). Die Gesamtanalyse des dritten Kapitels geht aus von der These, daß Novalis' Denken bereits in den Fichtestudien der Jahre 1795/96 eine in ihren Grundzügen vollständig ausgebildete Erkenntnistheorie entwickelt hat, deren Fundament die Idee eines schlechthin identischen Seins bildet. So wird beispielsweise der Gedanke der Identität des Subjektiven (>GeistNaturSelbstbewußtsein< thematisiert, die im Medium der theoretischen Reflexion selbst nicht eingeholt werden kann. Die Wissenschaft überschreitet die ihr gesetzten Grenzen in Richtung der Kunst als des Rezeptionsmediums, welches allein in der Lage ist, eine epistemische Zugangsmöglichkeit zu jener Dimension zu bahnen, die für das reflektierende Bewußtsein zugleich die >höchste< Wahrnehmungsebene darstellt. Der transkognitive Charakter des >Absoluten< begründet sich Novalis' Auffassung zufolge dadurch, daß das >reine< Sein im Sinne einer relationslosen Identität des Subjektiven und des Objektiven in der gegenständlichen Fixierung des reflektierenden Bewußtseins nicht aufgehen kann: »Wir verlassen das Identische um es darzustellen« (HKAII140, i). In kri76

tischer Abgrenzung gegenüber Fichte entwickelt Novalis auf der Grundlage des theoretischen Verzichts auf eine vollständige Präsenz des >Absoluten< im >Wissen< eine Theorie der Poesie, deren Zentralgedanke die Vorstellung einer lebendigen Reflexion< bildet, welche als ewiger >Transitus< von >Extrem< zu >Extrem< ihre eigene Ermöglichungsbedingung - den absoluten Beziehungsgrund des Bewußtseins - im unabschließbaren Sinne jener »immanenten Transzendenz« des Denkens (re-)konstruiert.203 In Anbetracht der Zielsetzung der vorliegenden Gesamtuntersuchung werden zunächst grundlegende Organisationsprinzipien von Novalis' philosophischem Denken - die Momente der >SphäreRollentausches< und der >Kette< bzw. >Reihe< - als kennzeichnende Merkmalsaspekte herauskristallisiert, an denen sich der spätere Vergleich ausgewählter Wahrnehmungsformen und Bilder unterschiedlicher Herkunft orientiert. Da semantische und strukturelle Analogien zwischen der ursprünglichen und der übertragenen Bedeutung von Begriffen und Vorstellungsgehalten erst von der Basis des jeweiligen - philosophischen oder naturwissenschaftlichen Verständnisses ausgehend festgestellt werden können, erweist sich neben der bereits angesprochenen Notwendigkeit eines Aufweises bestimmter logischer Schemata als Gegenstand und Grundlage der vergleichenden Gegenüberstellung divergierender Erkenntnisbereiche eine weitere Aufgabe der Gesamtbetrachtung darin, daß über den strukturellen Vergleich hinaus auch der historische Erfahrungskontext mitberücksichtigt wird, innerhalb dessen sich die ausgewählten Termini und Illustrationen in ihrer wechselseitigen Applikation ausbilden und entwickeln, wobei spezifische Bedingungen und Kriterien jener Übertragungen erst erkennbar werden. Vor dem Hintergrund dieser exemplarischen Hinweise auf die philosophischen Grundlagen von Novalis' naturwissenschaftlicher Symbolik erscheint nun eine Begrenzung der anschließenden vergleichenden Analyse auf zwei repräsentative naturwissenschaftliche Denkmodelle sinnvoll. Deren Auswahl wird im Rahmen der Untersuchung von Kapitel 3 dadurch begründet, daß beide Modelle unter strukturanalytischem und wissenschaftshistorischem Betrachtungsaspekt in ein Verhältnis zueinander treten, wobei die Bestimmung möglicher Bezüge zwischen den Vorstellungsmustern in methodischer Hinsicht zugleich eine Absicherung der Vergleichsgrundlagen im Sinne einer präzisen Feststellung korrespondierender Gesichtspunkte und Perspektiven beinhaltet (Kapitel 3.3.1-2). Es handelt sich bei den ausgewählten naturwissenschaftlichen Vorstellungsmodellen erstens um den sogenannten >Galvanismus< - eine biophysikalische Theorie über 203

Uerlings, Friedrich von Hardenberg 230.

77

das Phänomen der spontanen Elektrizitätserzeugung in der Natur, welche der Physiker Johann Wilhelm Ritter in Auseinandersetzung mit den gegensätzlichen Positionen Luigi Galvanis und Alessandro Voltas konzipierte und im Jahr 1797 erstmals der Öffentlichkeit vorstellte, und zweitens um Rene Just Hauys kristallographisches Modell der sogenannten >DekreszenzGalvanismus< und der >Kristallisation< als prinzipiell analoge Erklärungsschemata des Phänomens einer natürlichen Selbstorganisation der Materie aufgewiesen. Die philosophische und poetologische Relevanz, welche diese chemisch-physikalischen Modelle für den Naturwissenschaftler, Philosophen und Dichter Novalis gewinnen, läßt sich erst im Rahmen ihrer vergleichenden Analyse als konkrete Formen der Anwendung und Umsetzung allgemeiner logischer Denkschemata belegen. Daher geht der Versuch einer Beantwortung der Frage, wie etwa das allgemeine Gesetz der >Polarität< bzw. der >Heterogenität< als Bedingung von >Mischung< und wechselseitigem >Austausch< oder die Prinzipien einer approximativen >Verkettung< und >Variation< korrelativer Bestimmungen in ihrer jeweiligen Übertragbarkeit durch Novalis begründet werden, von einer eingehenden Untersuchung möglicher Realisationsformen jener der Übertragung zugrundeliegenden >analogischen Formeln< aus. Mit der Analyse repräsentativer naturwissenschaftlicher Denkmodelle verbindet sich der Versuch, Novalis' philosophische Auseinandersetzung mit bestimmten Strukturmustern der zeitgenössischen Wissenschaftsorganisation in Anbetracht seiner grundlegenden Umdeutung dieser Muster zu poetischen Darstellungsprinzipien zu demonstrieren. Hierbei/soll deutlich werden, daß sich die Neubegründung der Poesie im Hinblick auf ihre zunehmende Abkehr vom traditionellen Grundsatz der Naturnachahmung erst in der Berücksichtigung des philosophischen und naturwissenschaftlichen Fundaments der dichtungstheoretischen Gesetzesbildung erklärt. Die Untersuchung schließt mit einem Resümee des Erarbeiteten und einem allgemeinen Ausblick auf literaturwissenschaftliche Fragen, die das Thema der vorliegenden Arbeit aufwirft.

Der theoretische Status des Anorganischen in der Naturwissenschaft und Naturphilosophie des ausgehenden 18. Jahrhunderts

2.1 Die >Geschichte< der Erde Wie läßt sich das außergewöhnliche Interesse, welches die Naturphilosophie und die Naturwissenschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts für den Phänomenbereich des Anorganischen entwickeln, erklären? Der Versuch einer Beantwortung dieser Frage zielt auf eine komplexe Konstellation im Bereich der damaligen Geistes- und Naturwissenschaften. So nehmen die Geologie und Mineralogie innerhalb des sich etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts schrittweise ausbildenden Systems naturwissenschaftlicher Disziplinen1 Schlüsselfunktionen ein. Deren Bedeutung wird im einzelnen nachvollziehbar, wenn der historische Sachverhalt der sukzessiven Ausbildung empirischer Spezialdisziplinen in konkrete Beziehungen gesetzt wird zu einer avancierten Bewußtseinsphilosophie, von der ausgehend sich ein verändertes wissenschaftliches Selbstbewußtsein in seinen spezifischen Auswirkungen erst erhellt. Es sollte also zunächst darum gehen, die interdisziplinäre Rolle, welche das >Mineralische< innerhalb eines sich in der Entwicklung befindlichen wissenschaftlichen Systems als Gegenstand sowohl der spekulativen als auch der empirischen Betrachtung spielt, hinsichtlich ihrer verschiedenen Funktionsebenen zu differenzieren. Den Zustand der empirischen Wissenschaften prägt gegen Ende des 18. Jahrhunderts insbesondere auf dem Gebiet der >Naturgeschichte< ein prinzipieller Wandel im wissenschaftlichen Selbstverständnis, dessen grundlegende Tendenz nach Michel Foucaults Diagnose2 beispielsweise mit der Abkehr der damaligen >Wissenschaft vom Lebendigem von einer Klassifikationsmethode beschrieben werden kann, welche die Pflanzen und Tiere rein aufgrund ihrer äußerlichen sichtbaren Merkmale dem rationalen Ordnungsschema einer systematischen >Gesamtheit< von >Repräsentationen< 1

Zu diesem Kontext siehe R. Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740-1890, Frankfurt a.M. 1984. 1 Siehe M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. Main 1974, S. 165-210 und dazu bes. auch ebd. 9-28, 78-113.

79

im Sinne der traditionellen Idee einer universalen Grammatik der Dinge (>mathesis universalisSystema naturae< (1735) entsprach, vollzog sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts zugunsten einer Etablierung neuer Ordnungskriterien, die sich zunehmend an der chemisch-physikalischen Erschließung unsichtbar verborgener Triebkräfte und Strukturen der lebendigen Organisation orientierte; so ließen sich etwa die komplexen Entwicklungen im Fortgang der natürlichen Evolution der Materie aufgrund ihrer Eigengesetzlichkeit und Unkalkulierbarkeit nicht mehr ohne weiteres im herkömmlichen Rahmen einer >Ontologie< logischer >Kontinuitäten< erfassen, wie sie beispielsweise das traditionelle Denkschema einer unmittelbaren Korrespondenz zwischen >Erscheinung< und >Idee< im Sinne der >Repräsentation< ideeller Werte durch sinnlich-sichtbare >Zeichen< vorgestellt hatte. Die Ausdifferenzierung und Institutionalisierung moderner naturwissenschaftlicher Fachdisziplinen erfolgen in einem Zeitraum, der einerseits auf dem Gebiet der empirischen Forschung durch revolutionäre Fortschritte und einen ungeheuren Entdeckungsreichtum vor allem im Bereich der experimentellen Chemie und Physik und der damit verbundenen Apparatetechnik geprägt ist; andererseits ist die Situation der Wissenschaften im ausgehenden 18. Jahrhundert auf philosophischer Ebene durch eine zunehmende Destabilisierung traditioneller erkenntnistheoretischer Positionen charakterisiert. Die außergewöhnliche Affinität, welche die damalige Philosophie und Naturforschung für den Phänomenbereich der anorganischen Natur entfaltet, nährt sich aus Impulsen, die u.a. von der erkenntnistheoretischen Diskussion der zeitgenössischen idealistischen Philosophie sowie einer naturgeschichtlichen Forschung ausgehen, in deren Mittelpunkt die chemisch-physikalische Exploration der vielfältigen zeitlichen Entwicklungszusammenhänge des Lebens auf der Erde in schrittweiser Abkehr von einer einseitigen statischen Taxonomie der natürlichen Wesen auf der Grundlage ein für allemal feststehender logisch-mathematischer Regularitäten getreten ist. Die Geologie und die 3

Siehe bes. ebd. 27Wissenschaften vom Lebendigem eine ausgezeichnete epistemologische Relevanz. Aus frühromantischer philosophischer Sicht begründet sich diese Einschätzung primär dadurch, daß die empirische Erforschung der materiellen Ursachen der Entstehung und Evolution lebendiger Organisationen, wie sie etwa die damalige Geologie am Beispiel der Bestimmung der natürlichen Folge der Gesteinsschichten als der sichtbaren Manifestation erdgeschichtlicher Bildungsvorgänge unternimmt, den Blick auf ein schlechthin anfängliches Sein richtet, angesichts dessen dem Menschen die zeitliche Begrenztheit seines eigenen Daseins und Bewußtseins4 im konkreten Bezug auf den unerklärbaren Sachverhalt faktisch bestehender Bestimmungsgründe eines historischen Prozesses deutlich wird. So scheint der naturgeschichtlichen Entwicklung eine Verknüpfung des materiellen und des geistigen Geschehens zugrunde zu liegen,5 dessen eigentlicher >Anfangsgrund< weder in spekulativer noch in empirischer Hinsicht begriffen werden kann. Die fundamentale Einsicht der frühromantischen Bewußtseinsphilosophie, daß die fugenlose Identität des >Denkenden< und des >Gedachten< (das >reine Seinidealistische< und die >realistische< Sichtweise, ausgehend von der erkenntnistheoretischen Prämisse, daß es sich bei beiden Standpunkten um die zwei Seiten ein und derselben Wissenschaft handeln müsse, prinzi4

Siehe dazu S. J. Gould, Die Entdeckung der Tiefenzeit. Zeitpfeil oder Zeitzyklus in der Geschichte unserer Erde, München 1992. 5 »Die Objektivität des geschichtlichen Lebens ist die von Naturgeschichte. [...] Die herkömmliche Antithesis von Natur und Geschichte ist wahr und falsch; wahr, soweit sie ausspricht, was dem Naturmoment widerfuhr; falsch, soweit sie die Verdeckung der Naturwüchsigkeit der Geschichte durch diese selber vermöge ihrer begrifflichen Nachkonstruktion apologetisch wiederholt. [...] Am Gedanken wäre es [...] alle Natur, und was immer als solche sich installiert, als Geschichte zu sehen und alle Geschichte als Natur, >das geschichtliche Sein in seiner äußersten geschichtlichen Bestimmtheit, da, wo es am geschichtlichsten ist, selber als ein naturhaftes Sein begreifen, oder die Natur, da, wo sie als Natur scheinbar am tiefsten in sich verharrt, begreifen als ein geschichtliches Seinenzyklopädischen< Systems der Wissenschaften darin, daß speziell diese Wissenschaften eine Rekonstruktion zeitlicher Prozesse innerhalb der Naturgeschichte (Geologie) sowie eine Klassifikation der Mineralien und Gesteine aufgrund ihrer >natürlichen< >Reihenfolge< (Mineralogie) ausgehend von dem Sachverhalt chemischphysikalisch feststellbarer Tatsachen unternehmen, wobei beide Disziplinen kategorial unterschiedene Sichtweisen wie die der naturwissenschaftlichen Forschung und der historischen Betrachtung im Blick auf ein und denselben Erkenntnisgegenstand zu vermitteln suchen und dabei Methoden und Techniken der wissenschaftlichen Betrachtung in schrittweiser Ablösung von der klassischen Naturhistorie etablieren. Die Ausbildung der Geologie zu einer Naturwissenschaft im modernen Sinne setzt im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts ein.6 Ihren zentralen Forschungsgegenstand bildet eine Erkundung der Entstehungsgeschichte des gesamten Erdkörpers, welche auf der Grundlage allgemeiner empirischer Beobachtungen und eingehender chemisch-physikalischer Analysen gegenwärtiger Naturereignisse und -gegebenheiten durchgeführt wird. Eine der ersten »wissenschaftlichen Theorien« über die >Geschichte der Erde< präsentiert Georges-Louis Leclerc de Buffons im Jahre 1749 veröffentlichte >Theorie de la TerreHistoire naturelle des epoques de la Nature< der Öffentlichkeit vorstellte.7 Das Neue an Buffons theoreti6

Die heutige Bezeichnung >Geologie< geht auf Jean Andre de Luc (1727-1817) zurück, der den Begriff in seinen theoretischen Schriften über die Entstehung der Erde (u.a. >Abrege de principes et de faits concernant la Cosmologie et la Geologie< (i 803), >Traite elementaire de Geologie< (1809)) verwendet. Im ausgehenden 18. Jahrhundert herrschte allerdings noch der Name >Geognosie< vor, mit dem A. G. Werner die wissenschaftliche Beschreibung des Aufbaus, der Zusammensetzung und der Entwicklung des Erdkörpers bezeichnet hatte. Zum heutigen Begriffsverständnis siehe W. v. Engelhardt, Was ist Geowissenschaft?, in: Nachrichten der Deutschen Geologischen Gesellschaft, H. 6, Hannover 1972, S. z$i. Zur Geschichte und zum Selbstverständnis der Geologie als >historischer< Naturwissenschaft, s. K. A. v. Zittel, Geschichte der Geologie und Paläontologie bis Ende des 19. Jahrhunderts, München u. Leipzig 1899; R. Hohl, Die Entwicklungsgeschichte der Erde, Hanau/Main 1971, S. 11-32; H. Holder, Kurze Geschichte der Geologie und Paläontologie. Ein Lesebuch, Berlin, Heidelberg, New York u.a. 1989; W. v. Engelhardt, Zur Geschichte der Geologie im 17. und 18. Jahrhundert, Vorlesung, gehalten im WS 1995/96 an d. Univ. Tübingen (Ms. Masch.). 7 W. v. Engelhardt, Die Entwicklung der geologischen Ideen seit der Goethe-Zeit, in: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft 1979, S. 2 und dazu ders., Wandlungen des Naturbildes der Geologie von der Goethezeit bis zur Gegenwart, 82

schem Entwurf bestand darin, daß er in ausdrücklicher Abgrenzung gegenüber den bisherigen spekulativen, primär an der biblischen Schöpfungsgeschichte orientierten Betrachtungen über die Entstehung der Erde (A. Kircher 1664, N. Steno 1669, Th. Burnet 1681, G.W. v. Leibniz posth. 1748, B. de Maillet i/48) 8 den Versuch unternahm, die zeitlich vergangenen Geschehensabläufe mit Hilfe aktueller naturwissenschaftlicher Methoden zu erschließen. Gemäß ihrer neuen Selbsteinschätzung als »Naturwissenschaft der Erdvergangenheit«9 behauptet die Geologie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine einzigartige Zwischenstellung zwischen der Natur- und der Geisteswissenschaft. Denn sie unterscheidet sich zum einen von der sogenannten >reinen< Naturwissenschaft dadurch, daß sie über die induktivexperimentelle Ableitung und Beschreibung der gegenwärtigen gesetzmäßigen Strukturen der materiellen Natur hinaus den Anspruch vertritt, ausgehend von der naturwissenschaftlichen Feststellung aktueller >Tatsachen< auf entsprechende gesetzliche Geschehensabläufe in der Vergangenheit schließen zu können, wobei die Aussagen der geologischen Wissenschaft stets hypothetisch bleiben, da sie auf der (letztlich unbeweisbaren) Annahme überzeitlicher, universell anwendbarer physikalischer, chemischer und biologischer Prinzipien gründet. Zum anderen besteht ein entscheidender Unterschied in den Vorgehensweisen der Geologie und der Humanhistorie darin, daß die geologische Erschließung vergangener >Ursachen< auf der Grundlage der Beobachtung gegenwärtiger >Wirkungen< und die daraus resultierende Rekonstruktion vergangener Entwicklungsvorgänge der Natur primär auf dem naturwissenschaftlichen Erklärungsmodell kausal-mathematischer Entwicklungszusammenhänge beruhen, wohingegen sich die traditionellen kulturwissenschaftlichen Disziplinen über den Gebrauch naturwissenschaftlicher Vorstellungsmuster hinaus auf hermeneutische Interpretationsverfahren als Grundlage des historisch-psychologischen >VerstehensVerzeitlichung der Natur< in Entgegensetzung zu der klassischen statisch-hierarchischen Naturauffassung eingeleitet worden sei, die Auffassung, daß sich sogenannte >Verzeitlichungstendenzen< im Sinne einer diachron verfahren3

IOI

sondern bedeutend erscheint in Hinsicht auf die Situation der damaligen Mineralogie vielmehr der Sachverhalt, daß Buffon das natürliche Geschehen der sukzessiven Ausdifferenzierung der Materie unter dem Gesichtspunkt einer Genese von Stoffen ins Auge faßt, die durch ganz spezielle chemisch-physikalische Einwirkungen beeinflußt ist. So fungieren die Mineralien und Gesteine in ihrem jetzigen Zustand insofern als >Zeugnisse< und >Denkmäler< zeitlich vergangener Geschehensabläufe, als sich sowohl an ihrer formalen Struktur sowie ihrer individuellen qualitativen Beschaffenheit die Entstehungsgeschichte des Erdkörpers ablesen läßt. Buffon unterscheidet in seiner Theorie der Mineralien drei wesentliche, aufgrund ihrer ursprünglichen Verknüpfung einander wechselseitig beeinflussende Faktoren, welche nach Ansicht des Autors die naturgeschichtliche Organisation der Materie in ihrem konkreten Verlauf maßgeblich bestimmt haben. So bilden nach Buffons Auffassung die natürlichen Grundkräfte der >Schwere< und der >Wärme< den eigentlichen Antrieb andauernder Veränderungs- und Umbildungsprozesse im Bereich der materiellen Natur. Das erste große Hilfsmittel, mit welchem die Natur ihre Wunder wirket ist jene allgemeine Schwere, oder die anziehende Kraft, welche die Atomen der Materie gleichsam beseelt, das ist, ihnen das Vermögen ertheilt, einander anzuziehen, und sich zu vereinigen. Aber die zweite große Naturkraft bestehet in der Wärme. Diese bestrebt sich, die Atomen der Materien, welche durch die Hilfe der erstem vereinigt werden, wieder zu trennen, und ist ebenfalls in allen organischen Körpern sowohl, als in allen rohen Materien gegenwärtig. Dabei ist sie jedoch zugleich der anziehenden Kraft unterworfen, weil sie in weiter nichts, als einer innerlichen Bewegung der Atomen bestehet, folglich desto stärker wirket, je dichter diese Atomen beisammen liegen, (ebd. j)

Durch die Einwirkung der elementaren Stoffe des Wassers, des Feuers, der Luft41 sowie weiterer »flüchtiger« in der »Atmosphäre« der Erde den Naturgeschichte bereits viel früher, so etwa schon in den erdgeschichtlichen auf den Grundsätzen der klassischen Mechanik basierenden Entwürfen Descartes' oder Kants, nachweisen ließen, siehe A. Seifert, >VerzeitlichungNaturkräfte< als auch >StoffeImponderabilien< bezeichnet wurden. Siehe dazu hier S. i6zf. IO2

>schwebender< Materien (ebd. i6f.) unterliegt die ursprünglich »homogene« Masse des Erdkörpers (ebd. 16) überdies einer fortwährenden chemisch-physikalischen Veränderung ihrer anfänglichen Substanz (Verbrennung, Verdunstung, Auflösung, Mischung etc.). Und nicht zuletzt sorgen nach Buffon klimatische Einflüsse dafür, daß der Zustand der Erdoberfläche nach der Erkaltung der Grundmasse der Erde bis in die Tiefe ihrer äußeren Schichten einem permanenten Wandel unterworfen bleibt (Verwitterung der Erdkruste durch Stürme, Überschwemmungen, Erdbeben etc.). Die Klassifikation der Gesteine und Mineralien, aus denen der Erdkörper besteht, folgt nach Buffon dem Prinzip einer genetischen Ableitung gegenwärtiger »Gattungen« und »Arten« (ebd. 37) aus ursprünglichen »rohen« weitgehend unorganisierten »Materien«, die sich ihrer anfänglichen Entstehungsgeschichte nach zunächst in die folgenden drei »Hauptklassen«42 (ebd. 2) einteilen lassen: i. die durch das »primitive Feuer« der glühenden Erdmasse gebildeten »Steinmassen«, d.h. die »Massen der ursprünglichen Gebirge« (z.B. »Quarz«, »Jaspis«, »Sandstein«, »Glimmer« oder »Granit«) (ebd.); 2. diejenigen »Materien«, welche durch das Feuer der Vulkane und die »unterirdische Elektrizität« ein zweites Mal umgeschmolzen worden seien (z.B. »Laven«, »Bimstein«, »Basalt« und »alle vulkanische[n] Mineralien«) (ebd. 2f.), und 3. die sogenannten »kalchartigen Mineralien und Gewächserden«, die »aus zerstörten Thieren [und deren Produkten, LB.] und Gewächsen entstanden [seien]« (z.B. »Marmorhänke«, »Kalchsteinhiigel«, »Gipslagen«, »Lagen des Torfs«, »mineralirte[s] Holz« oder »Steinkohlen«) (ebd. 3). Der spezifische Stellenwert, welchen einzelne mineralische Stoffe innerhalb der zeitlichen hierarchischen Naturordnung einnehmen, wird dem naturwissenschaftlichen Beobachter aufgrund von Hauptmerkmalen erkennbar, an Hand derer sich eine individuelle Organisationsform des Minerals bzw. Gesteins erschließen läßt, welche zugleich wesentliche Indizien für die Rekonstruktion seiner Genese enthält - so nennt Buffon z.B. die »Schmelzbarkeit«, die Verwandelbarkeit in »Kalch«, die Säurebeständigkeit, die Härte, die formale Struktur - >blätterigererdartigersandiger< >Bruch< - und nicht zuletzt 42

In seinen >Epochen< differenziert Buffon zunächst zwei Hauptklassen von Mineralien und Gesteinen: die sogenannten »glasartigen«, d.h. durch »den ersten Feuerfluß« erzeugten Steinarten und die »kalkartigen«, d.h. die im bzw. durch »Wasser« u.a. als Produkte der »Schalthiere« erzeugten Materien (Epochen I 22-24). Diese Klassifikation wird später um die dritte »Art« bzw. »Classe« der aus »Resten der Thiere und Vegetabilien« bestehenden Substanzen und um die vierte »Art« bzw. »Classe« der vulkanisch erzeugten Mineralien und Gesteine erweitert (ebd. II i3f.). I0 3

die »Farben« als Kennzeichen, die überdies wesentliche Hinweise auf die Art der »Mischung«, d.h. die chemischen Bestandteile des Minerals, enthielten (ebd. 3/f.). Gegenüber dem in der klassischen Naturhistorie praktizierten Verfahren einer Einteilung der Naturwesen aufgrund von Klassifikationsmerkmalen, die beispielsweise wie die botanisch-zoologischen Ordnungskriterien K. v. Linnes einem logisch-mathematischen Einteilungsmodell entsprechen, dessen Anwendbarkeit auf die empirische Wirklichkeit durch den Grundgedanken einer Repräsentation ideeller Werte durch sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften legitimiert ist,43 gründet Buffons naturgeschichtliche Katalogisierung der Mineralien und Gesteine in ihrer Eigenschaft als >Zeugnissen< einer natürlichen zeitlichen Reihenfolge der Materien auf Kennzeichen und Merkmalen, welche auf der Grundlage der empirischen Anschauung und Experimentation gewonnen und überprüft werden. Seine mineralogische Kennzeichnung folgt damit bereits in prinzipieller Hinsicht einer naturwissenschaftlichen Anerkennung materieller Organisationsstrukturen, deren komplexe Beziehungen und Verknüpfungen untereinander sich einer einseitigen Beurteilung im Sinne der vollständigen Entsprechung von empirischer Wirklichkeit und logischem Begriff weitgehend entziehen. Buffon selbst betont in seiner >Naturgeschichte< den Sachverhalt, daß der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Betrachtung der Materie aufgrund der Eigendynamik eines naturgeschichtlichen Prozesses Grenzen gesetzt seien, dessen unüberschaubare Vielfalt von Einflüssen sowie verschiedenartige Zusammenwirkung bedingender Faktoren nicht mehr allein aus der mathematisch-mechanischen Sicht beurteilt und beschrieben werden könnten.44 Buffons geologische Betrachtung der Erdgeschichte beinhaltet grundlegende Ansätze einer Anerkennung der materiellen Welt als einer selbständigen Realität, die sich der ausschließlichen Beurteilung durch die eher willkürlichen Kriterien der sogenannten >GrößenlehreNaturgeschichte< trotz des ihr immer wieder vorgeworfenen Reichtums an erfundenen >Geschichten< und Spekula-

43

Siehe dazu Buffons Kritik an den seiner Meinung nach eher willkürlichen Einteilungskriterien z.B. auch der Linneschen Botanik und Zoologie in: ders., Naturgeschichte 15-121, bes. 2iff. 44 Siehe Buffons Kritik an einer ausschließlichen Anwendung der »abstrakten« mathematischen Methode als Kriterium der Beurteilung naturwissenschaftlicher Phänomene z.B. in: ebd., bes. ioNaturgeschichte< den Versuch, die Frage nach der eigentlichen Antriebsursache materieller Kräfte oder die Erkundung der Entstehung des organischen Lebens in bezug auf das Problem einer prinzipiellen Überbrückung traditioneller Erklärungsweisen, wie etwa des mechanistischen Erklärungsversuchs der anorganischen Natur und einer ideologischen Vorstellung von den Entstehungsursachen des Organischen, einer Lösung zuzuführen. Am Beispiel der Überlegungen, welche er in seiner >Naturgeschichte< über das ungeklärte Problem der natürlichen Entstehungsursache des organischen Lebens anstellt, kann gezeigt werden, daß Buffon bei seinen Erklärungsversuchen einer hypothetischen Betrachtungsweise verhaftet bleibt, die gerade dadurch, daß sie ihre eigene Begrenztheit akzeptiert, auf grundlegende Fragestellungen vorausweist, mit denen die Naturwissenschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts in immer stärkerem Maße konfrontiert wird. Es handelt sich hierbei um Fragen, welche die damalige Physik und Chemie unter erkenntnistheoretischen Betrachtungsaspekten untrennbar mit einer spekulativen Naturphilosophie verbinden, die sich etwa zur gleichen Zeit vor die unlösbare Aufgabe einer rationalen Begründung der eigentlichen Bedingungen der Möglichkeit von Selbstbewußtsein und damit der Herkunft und des Wesens der menschlichen Intelligenz überhaupt gestellt sieht. Buffon kategorisiert die gesamte Naturentwicklung unter dem Gesichtspunkt einer hierarchischen Stufenfolge, innerhalb derer der Mensch den »ersten Rang« einnimmt (Naturgeschichte III198). Die Tiere und die Pflanzen (das sogenannte >zweite< und das >dritte< >NaturreichNaturgeschichte der Mineralien< D. C. E. Wünsch in: Naturgeschichte Mineralien III-IX. 105

mein, wie zum Beispiel das »Vermögen, seines Gleichen hervor zu bringen« (ebd. 208), oder das Wachstum und die Fähigkeit zur Fortpflanzung (siehe ebd. 209). Wie Buffon am Beispiel der naturgeschichtlichen Zwitterform des >Polypen< demonstriert, kann der Naturforscher von nahezu »unmerkliche[n] Stufen und Abfälle[n]« von einem Wesen zum ändern sprechen (ebd. 208, 210). Gegenüber dem vierten Naturreich der Mineralien, denen Buffon im Gegensatz zur organischen Natur jegliches »Leben« abspricht- »Das Mineral, als eine [...] rohe, unempfindliche Materie, ist genöthigt, blos nach mechanischen Gesetzen zu wirken, und blos der im ganzen Weltgebäude verbreiteten allgemeinen Kraft, ohne organischen Bau [...] selbst ohne dasjenige Vermögen, wodurch es sich vermehren könnte [...] zu gehorchen« (ebd. 2oi) 46 -, stehen die Pflanzen und Tiere mit ihrer Umgebung in weit vielfältigeren Verhältnissen und Verbindungen - »[...] durch ihre Sinnen, Gestalt und Bewegung stehen die Thiere mit den sie umringenden Gegenständen in weit stärkerem Verhältniß, als die Pflanzen, und diese wegen ihrer Entwickelung, Figur, Wachsthum und unterschiedener Theile in weit vielfältigerer Beziehung, als die Mineralien oder Steine, die weder Leben noch Bewegung haben.« (ebd. 192). Über die strikte Trennung, die Buffon zwischen der belebten und der leblosen Natur behauptet, hinaus verbindet beide Naturreiche jedoch die Tatsache, daß sowohl die anorganischen als auch die organischen Wesen »Eigenschaften« teilen, die der »Materie« als solcher »überhaupt« zukommen (ebd.2oof.). So hat das Tier in »Ansehung seiner Substanz [...] alle die wirklichen Eigenschaften der Ausdehnung, der Schwere und der Undurchdringlichkeit wie alle andre Materien« (ebd.). Buffons Überzeugung zufolge teilt also das Tier mit der anorganischen Materie Eigenschaften, aufgrund derer beide Wesen mit der sie umgebenden Natur in Verhältnissen stehen, deren sukzessive Erschließung dem Naturforscher die Vielfalt und Kompliziertheit der Beziehungen zwischen den verschiedenen Naturreichen immer eindringlicher bewußt werden läßt. Denn auch die leblose Materien, der Stein, der Thon, den wir mit Füssen treten, sind mit gewissen Eigenschaften versehen; ihr blosses Daseyn setzet schon eine Menge derselben voraus. Uiberhaupt mag eine Materie so wenig organisch seyn, als sie nur immer kann, so wird sie dennoch vermöge ihres Daseyns mit allen ändern Theilen des Weltgebäudes in unzähligen Verbindungen stehen, (ebd. 195) 46

Vgl. Buffon, Naturgeschichte III199, 201 f.:»[...] die Mineralien [...] haben auf das Organische gar keinen Anspruch zu machen« - »Im Thiere sind alle Kräfte der Natur zusammen vereiniget; alle Kräfte, die es beleben, sind ihm besonders eigen; es will, und handelt, es bestimmt sich und wirket.«

106

Der Versuch einer Beantwortung der Frage nach möglichen Übergängen zwischen der anorganischen und der organischen Natur stellt die zeitgenössische Naturwissenschaft nicht zuletzt auch aufgrund ihrer begrenzten Forschungsmethoden vor besondere Schwierigkeiten. In Buffons Naturbeschreibung kommt eine entsprechende Unsicherheit in der naturwissenschaftlichen Beurteilung dadurch zum Ausdruck, daß er das Dasein und die Funktionsweise der lebendigen Wesen einerseits mit Begriffen der mechanistischen Naturlehre etikettiert - so spricht er angesichts des Tieres von einer komplexen »Menge von Triebwerken, Kräften, Maschinen und Bewegungen, die in dem kleinen Theil von Materie verborgen liegen woraus der Leib eines Thieres besteht [...]« (ebd. 193^); und zum anderen erkennt er gleichzeitig an, daß die Eigentümlichkeit der organischen Natur gegenüber der Welt der sogenannten >leblosen< Gesteine und Mineralien auf Kräften und Fähigkeiten basiert, die sich den Erklärungsprinzipien der traditionellen mathematisch-mechanischen Naturlehre entziehen - »Da nun die [...] Erklärung des Ernährens und der Fortpflanzung sich nicht auf mechanische Grundsätze stützet« und es »tausend natürliche Erscheinungen giebt, die nicht unter diese Gesetze zu bringen sind« (ebd. 281), müssen daher »auch andre durchdringende Kräfte« (ebd. 284) angenommen werden, die zuversichtlichen Annahmen zufolge von der Naturforschung vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt erklärt werden können. Von ihrem derzeitigen theoretischen und praktischen Kenntnisstand ausgehend ist es der Naturwissenschaft nach Buffon jedoch über die eingestandene Unerklärbarkeit des organischen Lebens aus mechanischen Gründen hinaus ebensowenig möglich, die letzten Ursachen der bewegenden Kräfte im gesamten Bereich der materiellen Natur überhaupt einer begrifflichen Klärung zuzuführen: Das Vermögen der Thiere und Pflanzen, ihres Gleichen hervorzubringen, diese beständig fortdaurende und dem Schein nach ewige Art der Einheit, diese beständig wirkende und unzerstörbare fortpflanzende Kraft ist für uns ein Geheimniß, dessen Tiefe wir allem Ansehen nach wohl niemals ergründen werden, (ebd. 194) - Die Ursache des Stoffes oder eines jeden ändern angenommenen mechanischen Grundsatzes, wird auf immer eben so unmöglich zu entdecken seyn, als die Ursache der anziehenden Kraft oder einer ändern Eigenschaft, die man etwa noch ausforschen möchte, (ebd. 283)

Dem Dilemma, daß die Grundsätze der klassischen Mechanik weder ausreichen, die letzten Ursachen der materiellen Stoffe und Kräfte zu ergründen, noch dazu geeignet sind, die eigentümlichen Erscheinungsweisen der lebendigen Natur hinreichend zu erhellen, versucht Buffon gleichzeitig auf zwei Wegen auszuweichen. So entwickelt er in seiner >Naturgeschich107

te< eine komplizierte Theorie, die das innere Bestreben der »Materie« nach »organische[r] Bildung« (ebd. 285) einerseits auf der Grundlage einer hypothetischen Annahme von Kräften und Stoffen zu erklären sucht, welche Phänomene des organischen Wachstums, der Ernährung sowie der Erzeugung und Fortpflanzung über einen mechanistischen Beschreibungsversuch hinaus erfassen soll. Und nicht zuletzt aus Gründen der Einhaltung kirchlicher Doktrinen47 geht Buffon andererseits angesichts der aus geologisch-erdgeschichtlicher Perspektive bisher im dunkeln gebliebenen Anfänge des organischen Lebens davon aus, daß die eigentlichen Ursprünge der materiellen Natur, einschließlich der Tiere und Pflanzen, letztlich auf ein göttliches Vermögen zurückzuführen seien, welches die Materie zunächst »in prindpio geschaffen«48 und sie dann in der Folge einer weiteren Formgebung zugeführt habe (Epochen 151). Interessant erscheint Buffons Theorie über die Entstehung und Fortpflanzung des tierischen Lebens im Rahmen der vorliegenden Untersuchung vor allem deshalb, weil sich an seinen weitgehend spekulativen Entwürfen exemplarisch demonstrieren läßt, welchen konkreten Fragen und Problemen sich die Naturforschung gegen Ende des 18. Jahrhunderts gegenübergestellt sah. Darüber hinaus läßt sich anhand seiner Überlegungen verdeutlichen, inwieweit der rasante Wandel des chemisch-physikalischen Kenntnisstandes der damaligen Naturwissenschaften zu einer plötzlichen Etablierung neuer theoretischer Gedankenmodelle beiträgt, die ihrerseits jedoch zugleich traditionellen Denkmustern und Vorstellungen verhaftet bleiben, so daß sich die Ablösung von klassischen Positionen der Naturgeschichte letztlich nur langsam und schrittweise vollzieht. Der Naturforscher Buffon gesteht der Materie »Eigenschaften« (Naturgeschichte III 282) zu, die mittels der Grundsätze der Mechanik nicht mehr erfaßt werden können. Er ist also genötigt, »andre durchdringende Kräfte« (ebd. 284) anzunehmen, die - ohne den »mechanischen Grundsätzen« (ebd. 285) zu widersprechen - das Phänomen der »organischen Bildung« (ebd.) in seiner materiellen Verursachung zu erklären helfen. Seiner über den traditionellen Schöpfungsgedanken hinausweisenden Annahme 47

So bemüht sich Buffon auch insgesamt, seine >Naturgeschichte< - deren ersten Entwurf von 1749 er aus Gründen der kirchlichen Zensur zurückziehen mußte - mit der christlichen Schöpfungstheorie in Einklang zu bringen. Siehe dazu z.B. den entsprechenden Abschnitt in Buffons >Epochen-Schriftgeschaffenen< »belebtefn] Wesen« spricht, siehe Epochen II 5of., 57.

108

folgend, thematisiert Buffon in mehreren Kapiteln seiner >Naturgeschichte< die Erzeugung, Fortpflanzung und Entwicklung der Tiere im Hinblick auf Fragestellungen, die gegenüber der klassischen Naturhistorie einschneidende Veränderungen bisheriger Sichtweisen implizieren. So ist das Interesse des Naturforschers nicht mehr primär darauf gerichtet, die verschiedenen Gattungen und Arten der Tiere unter im voraus festgelegten logischen Ordnungskriterien zu klassifizieren. Der Blick richtet sich vielmehr zunehmend auf Entwicklungsvorgänge der Natur, die sich hinter ihrem äußerlich zu beobachtenden Erscheinungsbild unsichtbar verbergen. Das besondere Interesse des Naturforschers erwecken dabei Phänomene, in welchen sich (selbst-)organisatorische Kräfte und Strukturen eines dynamischen materiellen Bildungsprozesses zeigen. Dabei rückt die organische Natur unter der Betrachtungsperspektive des Geologen als eine Organisationsform in den Vordergrund, die nun aus naturgeschichtlicher Sicht als das Resultat einer komplizierten Zusammenwirkung unterschiedlicher Triebkräfte der stofflichen Natur beurteilt wird.49 Der prinzipiellen Akzeptanz umfassender Wirkungszusammenhänge eines in seinen vieldimensionalen diachronen Abläufen anerkannten Naturgeschehens entsprechend, repräsentiert das Phänomen der »Fortpflanzung« der Tiere in Buffons Augen eine der »Schweresten«, weil am »vollkommensten« und »am meisten zusammengesetzte[n]« Organisationsformen (ebd. 286) im Bereich der materiellen Natur. In seinen >Epochen< von 1778 thematisiert Buffon das Problem der Entstehung und Entwicklung des organischen Lebens lediglich am Rande. So ist im Rahmen seiner Beschreibung der dritten Naturepoche hinsichtlich des Aufkommens erster Meerestiere und -pflanzen sowie der Besiedlung des Landes durch erste Vegetationsformen erstmals die Rede von sogenannten »Keimefn] des Lebens«, welche die »Natur« »über alle Länder ausgebreitet]« habe (Epochen I 153^). An einer anderen Stelle spricht Buffon von sogenannten »belebten organisirten Partikeln« (ebd. 184), welche jene »unendliche Menge von Vegetabilien [...] Muscheln, von Schalenthieren und von Fischen« (ebd.) erzeugt hätten, die aus der heutigen Sicht des Geologen »die ältesten Denkmäler der belebten Natur«, d.h. die »ersten organisirten Geschöpfe« (ebd. i88f.), darstellen. Die wesentli49

Auch das menschliche Dasein wird im Hinblick auf die aufsteigende >Reihe< von erdgeschichtlichen Organisationsformen aus geologischer Sicht nun als ein Faktor innerhalb des naturgeschichtlichen Bildungsprozesses beurteilt. Damit deutet sich bereits bei Buffon ein grundsätzlicher Wandel in der Bestimmung des Menschen gegenüber der materiellen Natur an, der sich - wie das Beispiel von J. G. Herders >Naturgeschichte< zeigt - zunehmend in Richtung anthropologischer Sichtweisen entwickelt. Siehe dazu hier S. 193 ff. 109

chen Eigenschaften der Pflanze und des Tieres (Zeugung, Wachstum, Entwicklung) sind nach Buffons Ansicht letztlich verursacht durch eine »Zusammenkunft und Vereinigung einer großen Menge« jener bereits existierenden »belebte[n] organische[n] Theile« (ebd. II 56). Der eigentliche Vorgang der Belebung »organisirte[r] Körper« (ebd.) bleibt dem Blickwinkel des Betrachters allerdings entzogen. So versucht Buffon beispielsweise die Entstehung komplexer lebendiger Organismen durch den angenommenen Sachverhalt einer bloßen >Aggregation< und >Vermischung< einfacher bereits belebter >Materieteilchen« hypothetisch zu erklären. Und er faßt das Phänomen einer prozessuralen Ausbildung immer komplexerer dynamischer Strukturen mit dieser Anschauung zwar ins Auge; das Vorstellungsmodell, auf dem sein Erklärungsversuch beruht, läßt jedoch die Frage nach den eigentlichen Impulsen einer materiellen Verursachung selbstorganisatorischer Vorgänge nach wie vor im dunkeln. Grundlegend für Buffons Theorie der Ernährung und Entwicklung des pflanzlichen und des tierischen Organismus ist die Idee einer »in der Natur« bereits immer schon vorfindlichen »gemeinschaftliche[n] Materie« (Naturgeschichte IV 417),'° welche das Wachstum und die Entwicklung der Pflanze und des Tieres befördert, indem sie als Nahrung aufgenommen wird und dabei entsprechenden »körperlichen Theile[n]« (ebd.) des Hauptorganismus >assimiliert< wird; Buffon setzt dabei voraus, daß diese sogenannte »nahrhafte Materie« bereits schon »alle dem Thier ähnliche Theilchen« enthält und damit folglich alles, was dazu erforderlich ist, um ein neues, dem ursprünglichen »vollkommen ähnliches Wesen hervor zu bringen« (ebd. 41/f.): Die Ernährung geschiehet vermittelst eines innigsten Eindringens dieser Materie in alle Theile des thierischen oder pflanzenartigen Körpers. Die Entwickelung bestehet blos in einer weiter ausgedehnten Ernährung, die so lange fortdauret, als die Theile noch Biegsamkeit besitzen, sich erweitern und ausdehnen zu lassen. Die Fortpflanzung erfordert eben diese Materie, doch nur denjenigen Theil derselben, welchen die bewirkte Nahrung und Entwickelung in einem thierischen oder pflanzenartigen Körper übrig läßt. Jeder Theil eines solchen Körpers sendet alle die organische Theilchen zurück, die er nicht annehmen kann. Diese Theilchen sind jedem Theile des Körpers, der sie abgab, vollkommen ähnlich, weil sie zu seiner Nahrung bestimmt waren. So bald nun alle vom »Es giebt [...] eine durchgängig in allen Substanzen des Thier- und Pflanzenreiches verbreitete belebte, organische Materie, die zu ihrer Nahrung, Entwickelung und Fortpflanzung behilflich ist.« - »[...] eine organische Materie, die beständig wirksam, beständig bereit ist, sich zu formen, sich andere, ihr ähnliche Theile, ganz zu eigen zu machen und Wesen hervor zu bringen, wie diejenigen sind, welche sie annehmen.« (Naturgeschichte IV 424^ u. 426).

no

ganzen Körper zurückgesendete Partikelchen sich mit einander vereinigen, müßen sie einen kleinen Körper, welcher dem grossen völlig gleichet, hervorbringen: denn jede Partikel war dem Theil ähnlich, von welchem sie abstammte, (ebd. 425)

Vor dem Hintergrund von Buffons Theorie der Fortpflanzung und Entwicklung der organischen Wesen erscheint nun erstens die Frage interessant, inwiefern und mit welchen theoretischen Konsequenzen er zentrale Prinzipien der zeitgenössischen Naturlehre (Gravitation, chemische Mischung der Stoffe, Wärme als durchgängig in der materiellen Natur wirkende Kraft etc.) als Erklärungsgrundlage für die Funktionsweise lebendiger Organismen innerhalb seines eher hypothetischen Anschauungsmodells zu installieren sucht - eine Unternehmung, an die sich eine zweite Frage unmittelbar anknüpft, nämlich die Erkundigung danach, wie sowohl die Verbindung als auch der Unterschied zwischen der organischen und der anorganischen Natur aus naturwissenschaftlicher Sicht prinzipiell erfaßt werden könnten. Ausgehend von seiner Einteilung der sogenannten »rohen Materien« des Erdkörpers in drei »Hauptklassen« (Naturgeschichte Mineralien 2) die durch das »primitive Feuer« gebildeten Materien, die vulkanischen Gesteine und Mineralien und die kalkartigen Stoffe (ebd. zi.) - wendet sich Buffon in seiner >Naturgeschichte der Mineralien< der Frage zu, wie sich denn nun der stufenweise Übergang zwischen den »rohen todten Stoffe[n] der materiellen Dinge« und den »organisirten Körpern« (ebd. 3) konkret, d.h. im Hinblick auf chemisch-physikalisch erklärbare Vorgänge, gestaltet. Nach seiner Überzeugung stellen die Mineralien der dritten Hauptklasse - die kalkartigen Stoffe und die sogenannten >Gewächserden< - aufgrund ihrer genetischen Herkunft aus den zerstörten Überresten tierischer Produkte (Schalengehäuse, Muscheln etc.) und der daraus resultierenden >höheren< materiellen Qualität eine Art Verbindungsglied zwischen der >toten< und der >lebenden< Natur dar. Denn diese Materien würden in quantitativer Hinsicht - und hier beruft sich Buffon wieder auf seine Theorie der vitalen >organischen Partikel· - »weit mehr organische Uranfänge, als alle übrige Mineralien« (ebd. 4) enthalten. Die Materien dieser dritten Hauptklasse sind es, in welchen die Natur von dem rohen todten Stoffe der materiellen Dinge stufenweise zu den organisirten Körpern in die Höhe steigt. Die Mineralien dieser dritten Hauptklasse sind es, die gleichsam das Mittel zwischen den rohen Materien der beiden vorigen Klassen und allen organisirten belebten Körpern halten, mithin der Natur in ihren Wirkungen allemal zu Diensten stehen, sie mag nun gleich in dem Reiche des Lebens oder in dem Reiche des Todes ihre Befehle ausgehen lassen [...] die Natur III

bedient sich allemal dieser Materien, sie mag nun gleich einen organisirten Körper in dem Thier- und Gewächsreiche, oder eine Miner bilden, (ebd. 3)

Buffons Vorstellung, daß die anorganische Materie der kalkartigen Stoffe aufgrund ihrer Herkunft aus organischen Erzeugnissen eine Art Zwischenstufe zwischen den Naturreichen bilden könne, liegt also eine Voraussetzung zugrunde, die er nun lediglich auf einen zeitlich später anzusetzenden naturgeschichtlichen Vorgang überträgt - es handelt sich hierbei um die grundlegende Annahme einer präexistierenden lebendigen Materie, deren Entstehungsprozeß jedoch in seiner eigenen historisch-genetischen Bedingtheit nach wie vor unhinterfragt bleibt. Interessant erscheint vor dem Hintergrund von Buffons Feststellung die Frage, unter welchen Merkmalsaspekten er die Organisationsstruktur der Mineralien, Gewächse und Tiere unterscheidet. Ausgehend von der Prämisse, daß die sogenannten >organischen Teilchen< in der gesamten Natur »stets wirksam« seien - und zwar so, daß sie selbst ein »rohes Mineral« »gänzlich« verwandeln könnten (ebd. 4) und auch nach dem Tod eines lebendigen Organismus in seinen in die »todte rohe Natur« (ebd.) zurückverwandelten Überresten anzutreffen seien5' -, differenziert Buff on zwischen verschiedenen Organisationsgraden der Natur, deren jeweilige Merkmale trotz der großen Unterschiede, die zwischen den verschiedenen Naturwesen herrschen,52 in einem dynamisch-prozessuralen Zusammenhang stehen, der sich nach seiner Überzeugung unter rein materiellen Gesichtspunkten beschreiben läßt. Denn wie bereits erwähnt, erkennt Buffon mit den Kräften der Schwere und der Wärme zwei Wirkungsprinzipien an, die seiner Ansicht nach die gesamte Entwicklung des Universums maßgeblich konstituieren, wobei die Wärme als eine der anziehenden Kraft der Schwere >unterworfene< Form der bewegenden Kraft definiert wird, da sie deren Wirkung als eine Art Gegenkraft lediglich modifiziert.53 Im Eingangskapitel seiner >Naturgeschichte der Mineralien< entwirft Buffon ein Vorstellungsmodell, mit dessen Hilfe er die Funktionen des organischen Lebens in Abgrenzung von denjenigen der mineralischen Materie auf der Grundlage des Prinzips der Newtonschen Gravitation zu veranschaulichen sucht. So seien die Kräfte der Schwere und der Wärme innerhalb der organischen Natur räumlich in »dreien Dimensionen« 51

»[...] in der Natur [...] [existiert] keine ganz todte rohe Materie [...] als diejenige, die keine besondere Gestalt zeigt« (Naturgeschichte Mineralien 4). 52 »Aber die Grade der Organisazion sind nur sehr verschieden, so wie die Materien selbst ungemein verschieden sind.« (ebd. 41.). 53 Siehe dazu hier S. 1631. 112

(>LängeBreite< und >TiefeBelebung< eines »Keims«, der sich auf der materiellen Grundlage jener einander wechselseitig beeinflussenden Kräfte weiterentwickelt, »indem er neue Materientheilchen an sich ziehet, und seine Gestalt nach dem Modelle, worinnen er sich befindet, immer weiter ausbildet.« (ebd.) - »[...] ja dieser Keim, welcher, wie gesagt, von der Affinität seiner Atomen und von der Wärme beseelt ist, ernährt sich nun nicht nur selbst, sondern hat auch das Vermögen, neue Abdrücke von sich zu machen, oder seine Form zu vervielfältigen, und neue Wesen seiner Art zu erzeugen, sobald er seine eigene Vollkommenheit erreicht.« (ebd.6f.). 54

»Nämlich, wenn die Natur die Anlage zu einem Thiere oder Gewächse bildet, so durcharbeitet sie die Materien nach allen dreien Dimensionen zugleich [...] sie vertheilt vermöge der Wärme die organischen Uranfänge gleichförmig und proportionirlich durch die ganze Anlage des Keims, auf daß das Wachsthum desselben in allen Punkten zugleich seinen Anfang nehmen möge, sobald er von gedachten Lebenskräften der Natur durchdrungen und in Bewegung gesetzt wird.« (Naturgeschichte Mineralien 7).

"3

Den Mineralien spricht Buffon hingegen wesentliche Eigenschaften der lebendigen Organismen ab. Er begründet das Fehlen beispielsweise des Vermögens der Ernährung sowie des Wachstums oder der Fortpflanzungsfähigkeit (d.h. die sogenannte »Lebenskraft«, ebd. 10) damit, daß die Kräfte der Schwere und der Wärme in der anorganischen Natur lediglich in zwei >Dimensionen< wirksam seien.55 Das kristalline Wachstum der Mineralien erklärt er in ausdrücklicher Abgrenzung von der organischen Bildung als eine bloße Form der Aggregation von Materieteilchen, die sich nach zwei »Dimensionen« vollziehe, »indem sich die Materientheilchen schichtweise über einander anlegen, und feine Lamellen von verschiedener Gestalt bilden« (ebd. 8). Die mineralische Bildung vollzieht sich demzufolge »nicht von innen heraus durch die Ernährung«, wie bei den lebendigen Organismen, sondern sie stellt lediglich eine »Anhäufung ihrer Theile von Außen« (ebd. 10) dar. Interessant ist, daß Buffon ausgehend von seiner Theorie der Kristallbildung nun erneut den Versuch unternimmt, mögliche Übergänge zwischen der anorganischen und der organischen Natur unter dem prinzipiellen Aspekt allgemein wirksamer Formkräfte zu erklären, die seiner Überzeugung nach die Entwicklung der gesamten Natur gemeinschaftlich konstituieren. Und so deutet er den regelmäßigen lamellenartigen Aufbau der meisten Mineralien und Gesteine als Ausdruck »wahre[r] Anfänge einer wirklichen Organisazion, die nie anders als durch eine Verbindung organischer Uranfänge erzeugt [werde]« (ebd. 8); und er beurteilt damit die mineralischen Materien als sichtbare Manifestationen der realen Wirksamkeit von physikalischen Prinzipien, welche die strukturale Beschaffenheit der natürlichen Organisationen sowohl in der anorganischen als auch in der organischen Natur maßgeblich bestimmen. Anziehende Kräfte, verbunden mit Wärme, sind allemal diese Hilfsmittel, durch welche sie [die Natur, LB.] die organischen Uranfänge in den rohen Materien in Bewegung sezt, indem sie dieselben bald in diese, bald in andere Formen gießt. Wirkt sie vermittelst gedachter beiden Kräfte nach allen dreien Dimensionen, mithin sowohl äußerlich als innerlich, auf die Materien, so bildet sie Keime der Thiere und Gewächse: wirkt sie aber nur nach zwoen Dimensionen, mithin blos auf die Oberfläche der Materien, so bildet sie mineralische Lamellen, die ebenfalls von sehr verschiedener Gestalt, jedoch allemal äußerst fein sind. Hieraus ist aber klar, daß man diesen Lamellen die Organisazion aller55

»[Im] Mineralreiche [...] giebt es keinen solchen Keim, keine innerlichen Formen, die sich selbst ernähren, sich entwickeln, und neue Abdrücke von sich machen oder Wesen ihrer Art erzeugen können. [...] Man findet aufs höchste nur einige superfizielle Merkmale der Organisazion an ihnen, innerlich aber nichts, als den rohen materiellen Stoff, welcher ganz ohne Leben ist.« (ebd.).

dings nicht gänzlich absprechen darf, weil sie beinah eben so, wie die Keime der Thiere und Gewächse entstehen, (ebd. 9)

In der gesamten materiellen Natur sind nach Buffon also Kräfte wirksam, welche die überall vorfindlichen >organischen Uranfänge< der Materie selbst in den >rohesten< mineralischen Stoffen in Bewegung setzen. Die natürliche Anziehung bzw. »Affinität« (ebd.), die zwischen den einzelnen Bestandteilen der Materien und Stoffe - Buffon verwendet auch den Begriff »Atome« (ebd.)56 - herrscht, wird durch die Kräfte der Schwere und der Wärme verursacht. Die Schwere und die Wärme bestimmen damit letztlich die natürlichen Eigenschaften der Materie überhaupt, d.h. deren individuelle Organisationsstruktur und damit auch deren konkrete Kennzeichen und Merkmale. Die Anziehungskraft, die zwischen den einzelnen >Atomen< der materiellen Körper herrscht, fungiert in Buffons >Naturgeschichte< als eine Art Brückenprinzip, das die hypothetische Annahme möglicher Übergänge zwischen den Reichen des Anorganischen und des Organischen und die damit verbundene These einer Höherentwicklung der Natur zu immer sublimeren Ausdrucksformen unter der entwicklungsgeschichtlichen Perspektive eines dynamischen Materiebegriffs57 zu bestätigen scheint.

'6 Der Begriff >Atom< ist hier ebenso wie die Mehrzahl der Anschauungen und Begriffe der Naturlehre des 18. Jahrhunderts nicht mit deren heutigem exaktem naturwissenschaftlichem Verständnis gleichzusetzen (vgl. dazu auch hier Anm.96). Das damalige Begriffsverständnis ist noch stark beeinflußt durch überlieferte Vorstellungen der antiken und mittelalterlichen Naturkunde, und die sich allmählich in Ablösung von der Tradition durchsetzende Forschung beruft sich - nicht zuletzt aufgrund fehlender Apparatetechniken und damit verbundener Analysemethoden - nach wie vor auf sinnliche Anschauungen und mathematische Vorstellungsmodelle, aus denen sich die Kenntnis und das Wissen über Funktionen und Abläufe innerhalb der materiellen Natur zusammensetzt. 57 Kant definiert die innerhalb der damaligen Naturlehre einander in gegensätzlicher Weise gegenüberstehenden dynamischen und atomistischen Naturauffassungen in seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft< (1786), indem er die sogenannte >Atomistik< - die er mit der >mechamschen Naturphilosophie< gleichsetzt - in Abgrenzung von einer sogenannten Dynamischen Naturphilosophie< folgendermaßen beschreibt: »Die Erklärungsart der spezifischen Verschiedenheit der Materien durch die Beschaffenheit und Zusammensetzung ihrer kleinsten Teile, als Maschinen, ist die mechanische Naturphilosophie·, diejenige aber, welche aus Materien, nicht als Maschinen, d.i. bloßen Werkzeugen äußerer bewegenden Kräfte, sondern ihnen ursprünglich eigenen bewegenden Kräften der Anziehung und Zurückstoßung die spezifische Verschiedenheit der Materie ableitet, kann die dynamische Naturphilosophie genannt werden.« (I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), in: ders., Werke, Bd. III, Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie, hrsg. v. M. Frank u. V. Zanetti, Frankfurt a.M. 1996, 8.201-319, hier 8.282 [im folgenden im Text zitiert: Metaphysische Anfangsgründe, S.]).

Die Grundidee, daß sich die Reihenfolge der Naturwesen unter dem geologischen Gesichtspunkt einer natürlichen Chronologie der erdgeschichtlichen >Denkmäler< und >Zeugnisse< rekonstruieren lasse, die ablesbar wird an den horizontalen Gesteinsschichten des Erdkörpers, wird von Buffon in seiner >Naturgeschichte der Mineralien< auf der mikroskopischen Betrachtungsebene einer Klassifikation der Mineralien und Gesteine nach speziellen physikalischen und chemischen Kennzeichen und Merkmalen weiterverfolgt. Der Naturforscher erkennt in den unterschiedlichen stofflichen Zusammensetzungen und in der formalen Struktur der Mineralien Organisationsformen, an denen sich die diachronen Vorgänge der anorganischen Bildung in weitgehender Entsprechung des zentralen Gedankens einer natürlichen hierarchischen Stufenfolge der Naturdinge auf naturwissenschaftlich nachvollziehbare Weise manifestieren. So folgt Buffon denn auch bei seinem Versuch, die Mineralien und Gesteine entsprechend dem chronologischen Ablauf erdgeschichtlicher Prozesse zu klassifizieren, der Annahme, daß sich die Höherentwicklung der Materie nach Bildungsgesetzen richtet, deren individuelle Ausprägung durch ein komplexes Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren eines globalen zeitlichen Geschehens bedingt ist, wie es die Naturgeschichte in ihrer Gesamtheit in der Vielfalt und Unterschiedlichkeit ihrer Erscheinungsformen repräsentiert. In den Augen des Geologen stellt die regelmäßige Kristallisation der Mineralien bereits eine verfeinerte Ausdrucksweise der allgemeinen Gestaltungskräfte der materiellen Natur vor. Denn den eigentlichen Anfang der Naturgeschichte bilden die unstrukturierten homogenen Materien der >rohen< >glasartigen< Gesteine, welche nach Buffon aus den ersten Schmelzungs- und Erstarrungsprozessen der ursprünglich glühendflüssigen Masse des Erdkörpers hervorgegangen waren.58 Seiner Auffassung zufolge haben erst die Materien der »dritten Hauptklasse«, d.h. die kalkartigen aus den Überresten organischen Lebens abstammenden Mineralien und Gesteine, der Natur den »materiellen Stoff« zur Bildung neuer »figurirter«, d.h. kristallisierter Mineralien an die Hand gegeben (ebd. 9f.). Buffons Theorie der Kristallbildung entspricht in grundsätzlicher Hinsicht bereits modernen physikalischen Auffassungen über einzelne Vor58

»[...] unter den rohen Materien [sind] die primitiven glasachtigen ohnstreitig die allerältesten, weil sie diese ihre Glasachtigkeit gleich zu Anfange, als der ganze Erdball noch weich und flüssig war, von dem ursprünglichen Feuer erhalten haben.« (Naturgeschichte Mineralien 14).

116

gange im Bereich der materiellen Strukturbildung.59 So erklärt er beispielsweise die durch die Einwirkung von »Wasser« und »Brennbarem« (ebd. 12) wesentlich mitbedingte Entstehung regelmäßiger kristalliner Strukturen im Bereich der mineralischen Bildung auf der Grundlage des Prinzips einer natürlichen Aneinanderreihung von Materieteilchen - den sogenannten >Atomen< - deren systematisch geregelter Aufbau durch das Zusammenwirken der unterschiedlichen Schwerkräfte jener Teilchen verursacht und gesteuert werde. Nach Buffons Überzeugung wird die Wirksamkeit der physikalischen Massenanziehung jedoch im weiteren Verlauf des Strukturbildungsprozesses zunehmend durch eine Anziehungskraft dominiert, die sich nach der geometrischen >Ähnlichkeit< der immer komplexer werdenden materiellen Bestandteile des mineralischen Gesamtkörpers richtet. Haben nun einmal alle feine Lamellen und alle mineralische Atomen eine gewisse Bildung empfangen, so müssen sich auch diejenigen, die einander ähnlich sind, vermöge der Affinität, stets mit einander zu vereinigen bestreben, weil die Affinität mehr nach der Aehnlichkeit der Bestandtheile der Materien, als nach deren Masse sich richtet [...] Wenn [...] die feinen Lamellen oder die organischen Anfänge der figurirten Mineralien eine prismatische Gestalt haben, so entstehen auch aus ihrer Anhäufung prismatische Krystallen. Sind sie rautenförmig, so bilden sie rautenförmige Krystallen, wie der Kalchspath hat. Sind sie würfelförmig, so bilden sie Würfel, welche Gestalt man an den Krystallen des Kochsalzes wahrnimmt und so weiter [...] (ebd.9f.)

An der Komplexität und dem Reinheitsgrad der Kristalle läßt sich nach Buff on auch die Länge der Zeit >ablesenVon den äußerlichen Kennzeichen der FoßilienOryktognosieGeognosieFossil< die petrifizierte anorganische Materie, d.h. die versteinerten »Überreste von Tieren und Pflanzen der geologischen Vergangenheit«, verstanden (H. Murawski, Geologisches Wörterbuch, Stuttgart 1983, 8. Aufl., 8.69). Siehe dazu auch H. Luschen, Die Namen der Steine. Das Mineralreich im Spiegel der Sprache, Thun 1979, 8.21,23, 27jf. 2 Nach heutigem Verständnis bezeichnet der Begriff >Mineral< eine bestimmte chemisch analysierbare Substanz in kristallisierter Form; ein Mineral ist demzufolge definiert durch die Art seiner chemischen Zusammensetzung sowie die Anordnung seiner Atome (so gibt es beispielsweise unterschiedliche Mineralien, welche zwar die gleiche chemische Substanz aufweisen, sich aber durch die andersartige Raumstruktur ihres atomaren Aufbaus unterscheiden). Ein >Gestein< ist hingegen aus verschiedenen Mineralien zusammengesetzt (siehe dazu Murawski, Geologisches Wörterbuch 144, 80). Im 18. Jahrhundert waren diese Unterschiede in der Begriffsdefinition nicht zuletzt aufgrund fehlender Analysemethoden noch nicht geläufig. So sprach man im Wernerschen Sinne beispielsweise von sogenannten >Gebirgsarten< und zusammengesetzten Fossilien< - Begriffe, welche aus heutiger Sicht dem Verständnis von >Gestein< entsprechen; meinte man >einfache< mineralische Substanzen, so verwendete man die Begriffe >Mmeral< oder einfaches Fossil< (siehe dazu Werner, Kennzeichen 2off.); ders., Kurze Klassifikation und Beschreibung der verschiedenen Gebirgsarten, Dresden 1787, S. 3ff. [im folgenden im Text zitiert: Klassifikation, S.]. 63 Oder auch »Foßilien-Kenntnis« (vgl. Kennzeichen 14). Der Begriff >Oryktognosie< bezeichnet im 18. Jahrhundert die Lehre von den Kennzeichen der Mineralien, d.h. die Mineralogie (von griech. oryssein = ausgraben). Werner übernahm den Begriff aus J. C. Gehlers >De characteribus externis fossiliumGebirgslehre< die Bezeichnung >GeognosieGeognosie< und >Geologie< dadurch unterschieden, daß man der Geognosie primär die Aufgabe der empirischen Beschreibung konkreter erdgeschichtlicher Formationen zuwies; unter >Geologie< verstand man

118

Titel der Schrift andeutet, liegt der Schwerpunkt von Werners Ausführungen weniger auf einer umfassenden Darstellung der Mineralogie seiner Zeit; hervorgehoben wird vielmehr eine ganz bestimmte mineralogische Betrachtungsmethode, wie sie sich in der damaligen Zeit insbesondere im Hinblick auf einen praktischen Gebrauch im Bergbauwesen eignete. So bestand das Interesse des Bergmanns zunächst primär darin, Mineralien und Gesteine ohne den Aufwand spezieller Apparate und Techniken direkt am Fundort unter Berücksichtigung konkreter Möglichkeiten ihrer Nutzanwendung6' bestimmen zu können. Werner hebt daher in seiner mineralogischen Schrift die sogenannten »äußern Kennzeichen« als Merkmale hervor, unter denen sich die »Gattung« eines Minerals weitgehend unabhängig von anderen Klassifikationsmöglichkeiten, wie z.B. der chemischen Analyse, am leichtesten und nahezu vollständig bestimmen lasse, ohne das Mineral dabei zerstören zu müssen (ebd. 43ff.).66 Grundlegend wurde Werners Methodenlehre für die Mineralogie des 19. und 20. Jahrhunderts deshalb, weil sie auf einer systematischen Einteilung der Mineralien in sogenannte >KlassenGeschlechter< und >Arten< basierte, die Werner in Anerkennung des aktuellen Kenntnisstandes der damaligen Chemie und Physik entwickelt hatte.67 Neben der Mineralogie hingegen eine eher spekulative Wissenschaft, die ihre Hypothesen über die erdgeschichtliche Entwicklung sowie die Entstehung der Gesteine sowohl auf spekulativer als auch empirischer Grundlage entwickelte. Vgl. Ausführliches Verzeichnis I, S. XIV; A. G. Werner, Neue Theorie von der Entstehung der Gänge mit Anwendung auf den Bergbau besonders den Freibergischen, Freiberg 1791, S. XIV [im folgenden im Text zitiert: Theorie Gänge, S.]. 65 Im thüringisch-sächsischen Bergbau des ausgehenden 18. Jahrhunderts betraf dies vor allem die Gewinnung und Weiterverarbeitung sogenannter >nutzbarer< Mineralien und Gesteine wie z.B. Erze, Metalle, salzhaltiger Mineralien oder Kohlen. 66 Neben dem Aspekt der technischen Nutzanwendung schätzte Werner an den Mineralien besonders auch ihren ästhetischen Wert. Die besondere Bedeutung, die Werner diesem Wert zumaß, bezeugt eine Anekdote, die der Wernerschüler Hendrik Steffens über seinen Lehrer berichtet. Siehe Hendrik Steffens, Was ich erlebte, hrsg. v. W. A. Koch, Leipzig 1938, S. u6f. 67 Werner gilt aus heutiger Sicht als einer der wichtigsten Mitbegründer der modernen Mineralogie. So legte er die Grundlagen für eine systematische Mineralbeschreibung auf empirischer Basis und trug darüber hinaus maßgeblich zur Etablierung einer geologischen Formationskunde bei. Siehe dazu P. Groth, Entwicklungsgeschichte der mineralogischen Wissenschaften, Berlin 1926, 5.149-151. Über sein mineralogisches und geologisches Lehrgebäude hat Werner selbst außer den hier genannten Schriften sehr wenig veröffentlicht. Überliefert wurde seine Lehre hauptsächlich durch Nachschriften seiner in Freiberg gehaltenen Vorlesungen - so z.B. die Schriften >Oryktognosie oder Handbuch für Liebhaber der Mineralogie vermittelst welchem die Mineralien aus ihrer äußerlichen Beschaffenheit leicht zu erkennen, von einander zu unterscheiden, und anderen kenntlich zu machen smdDie Bergbaukunst nach Abraham Gottlob Werners Vorlesungen in der Königl. Sachs. Bergakademie in Freiberg und nach eige119

lehrte Werner seit dem Jahr 1779 an der berühmten Freiberger Bergakademie u.a. auch die Fächer Bergbaukunde und Gebirgslehre bzw. Geognosie;68 wobei die zuletztgenannten Fachdisziplinen sich vor allem mit der Bestimmung des Aufbaus der Gesteinsschichten der äußeren Erdkruste hinsichtlich des Versuchs einer systematischen Rekonstruktion des zeitlichen Verlaufs der Erdgeschichte befaßten. Werners Geognosie ist der geologischen Lehre Buffons insofern verpflichtet, als sein System - der neptunistischen Auffassung über die Erdentstehung entsprechend - wie bei Buffon auf der Überzeugung aufbaut, daß sich die historische Genese der meisten Gesteine und Mineralien in erster Linie durch den Prozeß einer schrittweisen Sedimentation von Materien erklären lasse, die ursprünglich in den >Urgewässern< aufgelöst waren. Gemäß der neptunistischen Theorie der Erdentstehung resultiert die natürliche Reihenfolge der Gesteinsschichten des Erdkörpers aus sogenannten >chemischen< Niederschlägen des Urozeans - ein Sedimentationsprozeß, der später durch das Geschehen einer schrittweisen Ablagerung von Materien abgelöst worden sei, die nun auf mechanischem Wege, d.h. durch die Zerstörung bereits vorliegender Gesteine, entstanden seien. Nach Werners Ansicht ist dieser Prozeß dann im weiteren Verlauf der Erdgeschichte durch das Hinzutreten anderer bestimmender Faktoren (Vulkantätigkeit, Klima etc.) modifiziert worden. Entsprechend dieser Vorstellung differenziert Werner in seiner im Jahre 1786 veröffentlichten Schrift >Kurze Klassifikation und Beschreibung der verschiedenen Gebirgsarten< zwischen folgenden vier »Gebirgsarten«,69 aus deren räumlicher Anordnung in den horizontalen Lagen der äußeren Erdkruste der Geologe Rückschlüsse über die Chronologie erdgeschichtlicher Abläufe gewinnen kann: i. die »uranfänglichen Gebirgsarten«, welche »alle Merkmale einer [anfänglichen, LB.] Erzeugung auf nassem Wege an sich« tragen (z.B. Granit, Gneis, Glimmerschiefer, Porphyrschiefer, Basalt70 etc.); nen Erfahrungen< v. F. J. Richter, Dresden 1823- sowie eigene handschriftliche Aufzeichnungen, die sich heute im Archiv der Freiberger Bergakademie befinden (siehe dazu auch Hansen, op. cit. 233-247). Als letzte Ausgabe des Wernerschen Mineralsystems darf die von einem Schüler nach Werners Tod im Jahr 1817 veröffentlichte Darstellung >A. G. Werners letztes Mineralsystems hrsg. v. J. C. Freiesleben, Freiberg 1817, gelten. 68 Siehe dazu hier Anm. 6. 69 Zum Verständnis der historischen Terminologie siehe hier Anm. 62. 70 Den Basalt zählt Werner in späteren Entwürfen seiner Lehre von den Gebirgsarten zu der zweiten Klasse der sogenannten >FlözgebirgsartenNeptunismus< versus >Vulkanismusuranfänglichen< Gebirgsarten sowie sogenannten >Flözgebirgsarten< u.a. durch klimatische Einwirkungen (Überschwemmungen etc.) entstanden sind (z.B. sogenannte im Hochgebirge vorkommende >Seifengebirgsarten< wie Kies, Sand und im Flachland vorkommende Sand-, Lehm- und Tonschichten sowie Torf und bituminöse Erde, z.B. Braunkohle).71 In prinzipieller Übereinstimmung mit der allgemeinen geologischen Auffassung seiner Zeit repräsentieren die Gebirgsarten in ihrer natürlichen Aufeinanderfolge Resultate einer erdgeschichtlichen Entwicklung, an Hand derer der epochale Verlauf der Erdgeschichte unter naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten, d.h. unter der Voraussetzung einer ahistorischen Gültigkeit chemisch-physikalischer Bedingungen und Gesetze von materiellen Bildungsprozessen, nachgewiesen werden kann. Das Ziel der Mineralogie ist die Einordnung eines Minerals bzw. Gesteins in ein System, dessen Rekonstruktion dem Vorgang einer natürlichen Genese der Mineralien, d.h. der naturgeschichtlichen »Folge« oder »Reihe« ihrer Entstehung und Entwicklung (Kennzeichen 20), zu entsprechen sucht. In seiner Schrift >Von den äußerlichen Kennzeichen der Fossilien< fragt Werner daher zunächst nach den Gründen, nach denen die Mineralien und Gesteine gemäß der Vorstellung einer natürlichen Reihenfolge materieller »Körper« (ebd. 2of.) geordnet werden können. Dieser Grund aber muß [...] in der Natur dieser Körper liegen, weil die Folge oder Reihe derselben natürlich seyn soll; und da wir ferner durch ihn bestimmen sollen, wie verschieden, benachbart, und übergehend diese Körper ihrer Natur nach sind (denn dieses nennt man die natürliche Folge); so muß es auch der Grund ihrer Verschiedenheit seyn: Nun sind aber gewisse Verhältnisse, die wir an ihnen antreffen, der Grund ihrer Verschiedenheit: denn so wie diese Verschlag des Wasser entstanden sei, und später dann die Theorie vertreten, daß sich seine Herkunft aus örtlichen unterirdischen Erdbränden erkläre. Zum sogenannten >BasaItstreit< siehe Holder, op. cit. 41-46. 1 Klassifikation 5-27. 121

hältnisse verschieden, benachbart und übergehend sind; eben so verschieden, benachbart, und übergehend sind auch die Körper, welche in diesen Verhältnissen stehen: Es müssen also auch diese Verhältnisse einzig und allein derjenige Grund seyn, nach welchen wir die Folge oder Reihe der natürlichen Körper bestimmen. Nunmehro liegt uns weiter ob zu untersuchen, wo sich diese Verhältniße bey den natürlichen Körpern befinden [...] (ebd. nf., Anm.)

Im folgenden entwickelt Werner einen Katalog von Ordnungskriterien, der sich von der traditionellen naturhistorischen Klassifikation entscheidend abhebt. Die klassische Naturgeschichte hatte sich an eher ideellen Merkmalsaspekten, wie z.B. logisch-mathematischen Einteilungskriterien und ästhetischen Kategorien orientiert - so beinhaltete die >Historie< eines Naturwesens neben der klassifikatorischen Kennzeichnung nach Merkmalen, die primär auf logische Bestimmungsgründe zurückgeführt wurden, auch religiöse, mythologische und allgemein symbolisch-allegorische Bedeutungsaspekte sowie mit der konkreten Naturgestalt verbundene Fabeln, Sagen und Legenden etc.72 Werner hingegen legt seiner mineralogischen Kennzeichenlehre nun ausschließlich empirisch nachweisbare Charakteristika zugrunde, welche u.a. die materielle Beschaffenheit, die erdgeschichtliche Abstammung und das natürliche Vorkommen ihres Gegenstandes betreffen. Er beruft sich dabei kritisch auf die Geschichte der mineralogischen Wissenschaften (ebd. 47-70), wobei er insbesondere das Mineralsystem seines Vorgängers Georgius Agricola (1494-1555) hervorhebt, der seiner Ansicht nach als erster ein »System der äußerlichen Kennzeichen« (ebd. 48) entworfen habe, das ein umfassendes Einteilungsschema der Mineralien und Gesteine in Ausrichtung auf ihre empirisch ermittelbaren Eigenschaften, wie z.B. das »Ansehen«, den »Geschmack«, den »Geruch«, das »Anfühlen« oder die äußere (kristalline) »Gestalt« enthalte (siehe ebd.48ff.). 73 Die systematische Aufstellung mineralogischer Klassifikationskriterien erfolgt nach Werner in unmittelbarer Orientierung an einem Gegenstand, der sich aus erfahrungswissenschaftlicher Perspektive unter verschiedenen Gesichtspunkten kategorisieren läßt. Dieser 72

In der antiken und mittelalterlichen Mineralogie waren religiöse und kosmologische Aspekte beispielsweise eng verknüpft mit einer medizinischen Bedeutung, die man den Mineralien in ihrer Funktion als Heilmittel zuwies. Siehe dazu auch die Literaturhinweise hier, S. 3361., Anm. 181. 73 Georgius Agricolas (Georg Bauers) Werk >De natura fossilium< (1546) gilt als eines der ersten Handbücher der neuzeitlichen Mineralogie. Siehe dazu und zur Geschichte der mineralogischen Systematik H. Prescher, Mineralogische Einführung, in: ders. (Hrsg.), Georgius Agricola. Ausgewählte Werke, Bd. IV, De natura fossilium libri X, übersetzt u. bearb. v. G. Fraustadt i. Verbind, m. H. Prescher, Berlin 1958, S. 3-7 sowie G. Fraustadt, Historisch-philologische Einführung, in: ebd., S. 8-12. 122

Auffassung entsprechend, wendet er sich im Anschluß an eine allgemeine Einführung im ersten Kapitel seiner Schrift der Beantwortung der Frage zu, nach welchen »Kennzeichen« die »Foßilien«7* überhaupt eingeteilt werden können, wobei sein primäres Interesse darin besteht, die besonderen Vorzüge der sogenannten »äußerlichen« »Kennzeichen der Foßilien« (ebd. 32) gegenüber anderen Ordnungskriterien hervorzuheben und zu begründen. Die »Kennzeichen der Foßilien« definiert Werner zunächst ganz allgemein als »Eigenschaften [...], wodurch man sie [die Fossilien, I.B.] von einander unterscheidet« (ebd.). Er differenziert vier verschiedene »Arten« von Eigenschaften, nach denen die Fossilien eingeteilt werden können: i. die »Aeußere[n]MischungsverhältnisFossil< wird im Rahmen der vorliegenden Ausführungen statt der Termini >Mineral< bzw. >Gestein< verwendet, da er aus damaliger Sicht ein umfassenderes und allgemeineres Verständnis impliziert als die letztgenannten Begriffe (siehe dazu hier Anm. 61 u. 62). Werner selbst verwendet die Begriffe >FossilMineral< und >Gestein< nicht immer eindeutig; das schwankende Begriffsverständnis entspricht der Auffassungsweise der damaligen Mineralogie und begründet sich nicht zuletzt durch einen andauernden Wandel der Erkenntnisse und Anschauungen auf nahezu allen Gebieten der damaligen empirischen Naturwissenschaften. 75 Werner differenziert zwischen »gemeinen«, »besonderen« und »regelmäßigen« »Gestalten« bzw. »Cristallisationen« (Kennzeichen 144^); zu den »Cristallisationen« siehe bes. ebd. I44f., 164-197. 7 Siehe dazu Kennzeichen 87-284. I2 3

prüft werden. So bilden die Kriterien i. des bloßen Vorhandenseins, 2. des zuverlässigen Anzeigens von wesentlichen Eigenschaften, 3. der Genauigkeit im Erkennen und Bestimmen, 4. der Leichtigkeit des Aufsuchens sowie 5. die Möglichkeit, wesentliche Eigenschaften des Fossils aufzusuchen, ohne es zu zerlegen und damit zerstören zu müssen, nach Werners Überzeugung den eigentlichen »Probierstein« (ebd. 34), mit dessen Hilfe festgestellt werden kann, welche der genannten vier Bestimmungsmöglichkeiten sich für die mineralogische Qualifizierung besonders gut eignen. Auf der Grundlage seiner systematischen Überprüfung kommt Werner dann zu dem Schluß, daß den äußerlichen Kennzeichen gegenüber anderen Einteilungskategorien, wie z.B. den chemischen Kennzeichen, welche zu ihrer Feststellung eine aufwendige Apparatur, spezielle Kenntnisse sowie die Zerlegung und damit die Zerstörung des Fossils voraussetzten, ein Vorzug einzuräumen sei. So erfüllten die äußerlichen Bestimmungsmerkmale der Mineralien alle fünf Überprüfungskriterien, denn sie seien bei allen Gattungen der Fossilien »gegenwärtig« (ebd. 35), zeigten die »wesentlichen« »Verschiedenheiten« der Mineralien und Gesteine zuverlässig an (ebd. 3 5ff.), ermöglichten daher eine genaue Bestimmung bereits auf der Grundlage einer »bloße[n] aufmerksame[n] Betrachtung« (ebd. 39) und >fielen< dabei nicht zuletzt ohne längeres Aufsuchen sofort »in die Sinne«, weswegen sich eine Zerlegung des Fossils in seine stofflichen Bestandteile zunächst erübrige (ebd.). Eine systematische Einteilung der Fossilien in »Klassen«, »Geschlechter«, »Gattungen« und »Arten«77 darf sich nach Werners Überzeugung jedoch nicht ausschließlich auf die äußeren Kennzeichen stützen, auch wenn sie als sinnlich faßbare Indizien der inneren stofflichen Organisation eines Minerals bzw. Gesteins nahezu sichere Aufschlüsse über seine chemische und physikalische Beschaffenheit geben.78 Werner schätzt und erkennt auch die zunehmende Bedeutung an, welche die zeitgenössische Chemie bei der Bestimmung der stofflichen Bestandteile und Eigenschaften der Materie vor allem im Bereich des praktischen Bergbaus und hier im Hinblick auf mögliche Formen der Weiterverarbeitung und der technischen Nutzanwendung mineralischer Rohstoffe gewinnt. Dies wird zum 77

So werden die Mineralien und Gesteine nach >Werner's Neuestem Mineralsistem< (Salzburg 1805) in die folgenden vier Hauptklassen eingeteilt: i. die »Erdigen Fossilien« (Geschlechter: »Demant«, »Circon«, »Kisel«, »Thon«, »Tale«); 2. »Salzige Fossilien« (Geschlechter: »Kolensäure«, »Salpetersäure«, »Kochsalzsäure«, »Schwefelsäure«); 3. »Brennliche Fossilien« (Geschlechter: »Schwefel«, »Erdharz«, »Graphit« etc.) und 4. »Metallische Fossilien« (Geschlechter: »Kupfer«, »Eisen«, »Blei«, »Zinn« etc.); zur weiteren Unterteilung siehe ebd. 78 Siehe dazu Kennzeichen 35-39. 124

Beispiel dadurch deutlich, daß er in der Einführung zu seiner mineralogischen Kennzeichenlehre der Bestimmung der Mineralien nach sogenannten >chemischen< Kennzeichen neben ihrer >äußerlichen< Kenntnis einen ausgezeichneten Stellenwert einräumt. Da der eigentliche »Zweck« eines »Mineralsystems« darin bestehe, »die natürliche Folge oder Reihe der verschiedenen Foßilien zu bestimmen« (ebd. 20), und sich die »wesentlichen Verschiedenheite[n]« der Fossilien auf die »Mischung« (ebd. 20, 36, 391.), d.h. die Zusammensetzung der Mineralien und Gesteine aus unterschiedlichen stofflichen Bestandteilen, gründeten - die »Verschiedenheit der Foßilien [liegt] in ihrer Mischung« (ebd. 20) -, müsse die Einteilung der Fossilien gemäß dem Anspruch einer natürlichen Ordnung in notwendiger Ergänzung zu ihrer äußerlichen Bestimmung auf der Basis einer chemischen Analyse ihrer inneren Mischungsverhältnisse erfolgen79 - »Es müssen also auch die Foßilien bis auf ihre Gattungen herunter, nach dem Grunde ihrer wesentlichen Verschiedenheit, d.i. nach ihrer Mischung, geordnet werden« (ebd. 20). Werner widerspricht mit dieser grundlegenden Einsicht einer zeitgenössischen Mineralogie, die den Versuch unternimmt, eine umfassende Lehre über die Mineralien und Gesteine entweder nur auf die Bestimmung der äußerlichen Kennzeichen oder auf eine Analyse der stofflichen Beschaffenheit der Fossilien mittels der sogenannten >ScheidekunstVarietäten< bezeichnet Werner Übergangsformen zwischen den Gattungen, d.h. sogenannte »Abänderungen«, durch welche eine Gattung in die andere übergeht, weswegen Vertreter dieser Übergangsformen, die aus ein und derselben Gattung stammen, »in ein[em] oder dem ändern Kennzeichen zufällig verschieden [sein können]« (ebd.). 80 Wie sie in der damaligen Zeit etwa durch den Chemiker und Mineralogen M. H. Klaproth durchgeführt wurden. Siehe M. H. Klaproth, Beiträge zur chemischen Kenntniss der Mineralkörper, Posen und Berlin 1795-1797. 1 Zu Werners Kritik an einer einseitigen Bestandsaufnahme der Mineralien und Gesteine entweder unter chemischen oder rein äußerlich sichtbaren Merkmalen siehe auch Oryktognosie iff. 1 »Zuletzt will ich nur noch anmerken: Erstlich, daß es mir scheint, als wenn sich die Mineralogen zeithero zu sehr bemüht hätten, die vier stuffigte Eintheilung der Logiker in Kla-

zeitgenössische Mineralogie nach Werner nun vor der Aufgabe, den Entwurf eines verbindlichen Einteilungsschemas der Fossilien ausgehend von der prinzipiellen Anerkennung realer Gegebenheiten vorzunehmen. So ließen sich beispielsweise sowohl Übergänge - d.h. sogenannte stufenweise »Abänderungen« bzw. »varietates« innerhalb bestimmter Mineraliengattungen (siehe ebd. 29, Anm.) - als auch wesentliche Unterschiede zwischen den verschiedenen mineralogischen Klassen und Geschlechtern relativ sicher erst durch eine Bestandsaufnahme des >inneren< >Mischungsverhältnisses< (ebd. 20-29 Anm.) jeweiliger Mineralien und Gesteine feststellen.83 Die natürliche Reihenfolge der Mineralien, d.h. ihre stofflichen Beziehungen untereinander, welche den »Platz« des »Foßils« im mineralischen »System« (ebd. 15) definieren, ist nach Werner maßgeblich durch die Art und Weise der stofflichen Zusammensetzung bedingt, so daß der Mineraloge in der Absicht, ein umfassendes Mineralsystem in weitgehender Entsprechung der natürlichen Gegebenheiten zu entwerfen, mit den »chymischen Untersuchungen« der »Foßilien« (ebd. 28, Anm.) und ihrer Kennzeichnung nach äußerlichen Merkmalen immer schon zwei »verschiedene Arbeit[en]« (ebd. 27, Anm.) zu bewältigen, d.h. nach verschiedenen Methoden (>methodus mixtaMischung< erkennbar werde - so beinhaltet die Ordnung nach äußeren Merkmalen nach Werner zwar Hinweise auf das chemische Mischungsverhältnis der Fossilien, aber sie läßt dennoch keine sicheren Rückschlüsse auf ihre tatsächliche Reihenfolge zu, »weil sich die Natur, die innere Verschiedenheit (nämlich der Mischung) anzuzeigen, bald dieser, bald jener Kennzeichen ganz ohne Ordnung bedienet« (ebd. i6i., Anm.).86 Auf der anderen Seite jedoch vertritt er zugleich die Auffassung, daß die mineralogische Klassifikation nach sinnlich wahrnehmbaren Charakteristika bereits für sich eine zuverlässige Bestimmungsmethode darstellt, da die äußeren Kennzeichen die »wesentliche Verschiedenheit« der Fossilien »zuverläßig« anzeigten (ebd. 35f.). Und somit repräsentiert die methodische Bestimmung nach rein äußerlichen Merkmalen letztlich doch wiederum eine grundlegende Ausgangsbasis für die chemische Beurteilung. 5

Ein wesentliches Ziel des »mineralogische[n] Lehrbuch[s]« besteht nach Werner darin, »[...] von einem Foßile, das ich bloß den Namen nach kenne, den vollständigen Begriff zu bekommen: oder, von einem Foßile, welches ich gefunden und an dem ich seine äußerlichen Kennzeichen aufgesucht habe, zu erfahren, wie es heiße und welchen Platz es in dem Systeme der Foßilien einnehme.« (Kennzeichen 15). 86 »Da es gewiß ist, daß sich die Foßilien, so wie sich ihre Mischung ändert, auch in ihren Aeußern ändern; könnte man nicht in ihren Aeußern Kennzeichen finden, welche die Ordnung oder die Folge der Foßilien, eben so wie solche in den Verhältnissen ihrer Mischung liegt, bestimmen?« (ebd. 26, Anm.). 127

Auch dem Chymiker sind sie [die äußerlichen Merkmale, LB.] von vielem Nutzen, ja unentbehrlich, und ohne sie würde er keine Gewißheit in seinen Untersuchungen der Foßilien haben: denn wie weis er von einem Individuo, welches er vor sich hat, ohne durch äusserliche Kennzeichen den richtigen äußern Begriff von dem selben zu haben, daß es wirklich von derjenigen Gattung Foßilien sey, die er hat untersuchen wollen? (ebd. 45)

Die widersprüchliche Einschätzung des methodischen Status der Chemie innerhalb der Geologie und Mineralogie, wie sie sich etwa bei Werner zeigt, ist symptomatisch für die allgemeine Unentschlossenheit der Naturforschung gegenüber einer Wissenschaft, welche sich im ausgehenden 18. Jahrhundert erst als naturwissenschaftliche Fachdisziplin im modernen Sinne zu etablieren beginnt. Werners prinzipielle Anerkennung der chemischen Analyse als Instrument der mineralogischen Klassifikation signalisiert jedoch - trotz ihrer konträren bzw. widersprüchlichen Bewertung innerhalb seiner mineralogischen Kennzeichenlehre - bereits eine grundlegende Abkehr von der klassischen Naturgeschichte. Diese Abkehr ist bedingt durch den raschen Wandel, der sich in der damaligen Zeit auf dem Gebiet der empirischen Wissenschaften und hier insbesondere der experimentellen Physik und Chemie vollzog. So entwickelt Werner seine mineralogischen Klassifikationskriterien (äußerliche, innere bzw. chemische, physikalische und empirische Kennzeichen) in Entgegensetzung zum statischen Naturbegriff der traditionellen Schöpfungslehre auf der Grundlage einer Naturerfahrung, welche die natürliche Wirksamkeit der chemisch-physikalischen Kräfte der Materie als wesentliche Bedingung eines zeitlichen Entstehungsprozesses akzeptiert. In dessen Verlauf wird die stoffliche Natur nun als das >Subjekt< eines Bildungsgeschehens erkennbar, welches sich in seinen komplizierten Verflechtungen und Wechselwirkungen weitgehend unter der Oberfläche des sinnlich Sichtbaren im Verborgenen abspielt. So kann das Entwicklungsgeschehen der materiellen Natur nicht mehr ausschließlich unter dem Gesichtspunkt von äußerlich sichtbaren Kennzeichen und Merkmalen beurteilt werden, unter denen die natürliche Physiognomie der Naturgestalten bisher als Ort der Repräsentation ideeller Vorstellungsgehalte bestimmt werden konnte. Die fundamentale Entdeckung, daß sich die Natur aus der Perspektive des Geologen und Mineralogen in ihrer Funktion als Ursprungsort und Resultat produktiver materieller Wirkungszusammenhänge zeigt, deren physikalische und chemische Analyse die Grenzen der mathematisch-mechanischen Erklärungsprinzipien der herkömmlichen Naturlehre überschreitet, führt zu einer prinzipiellen Revision bisheriger naturwissenschaftlicher Klassifikationsmethoden. Es zeigt sich nun, daß der Gül128

tigkeitsanspruch der traditionellen Naturbeschreibung bisher nur dadurch aufrechterhalten werden konnte, daß sich die entsprechenden Wissenschaften einer Selbstüberprüfung durch die Erfahrung und das Experiment - nicht zuletzt aufgrund fehlender Techniken und Apparate - weitgehend entzogen. Die Naturwissenschaften beginnen im ausgehenden 18. Jahrhundert, ihr eigenes methodisches Fundament in grundsätzlicher Weise in Frage zu stellen; die Kriterien der klassischen Naturlehre werden dabei jedoch nicht gänzlich abgelehnt, sondern sie unterliegen vielmehr jetzt in weit stärkerem Maße als vorher der Kontrollinstanz einer empirischen Forschung, welche zum Wandel der begrifflichen Vorstellung von der Natur in grundlegender Weise beiträgt. Die eigentümliche Unentschlossenheit, welche Werners Beurteilung der sogenannten >inneren< oder >chemischen< Kennzeichen innerhalb der Mineralogie charakterisiert, erklärt sich u.a. dadurch, daß die damalige Erforschung chemischer Prozesse der Stoffveränderung noch nicht in der Weise vorangeschritten war, daß es sich der Naturforscher auf der Basis seiner momentanen Kenntnisse erlauben konnte, der Chemie eine verbindlichere Rolle innerhalb seiner eigenen Spezialdisziplin einzuräumen. So stellt auch für Werner die Tatsache, daß es sich bei der zeitgenössischen Chemie um eine Wissenschaft handelt, »die selbst noch nicht völlig ausgearbeitet [ist]« (Kennzeichen 40), ein wichtiges Kriterium für eine Beurteilung dar, welche der chemischen Beschaffenheit der Gesteine und Mineralien gegenüber ihren äußerlichen Kennzeichen lediglich einen hierarchisch untergeordneten Status als mineralogisches Klassifikationsinstrument zugesteht. Welche Funktion der Chemie im weiteren Verlauf der Entwicklung der mineralogisch-geologischen Disziplinen neben der Physik eingeräumt wird und welche Konsequenzen die fortschreitende Anerkennung natürlicher stofflicher Veränderungen innerhalb der materiellen Natur für das sich wandelnde Selbstverständnis der Naturwissenschaften, und hier insbesondere für die Erforschung der Erdgeschichte aus geologischer Sicht beinhaltet, soll nun abschließend an zwei weiteren repräsentativen mineralogischen Entwürfen des ausgehenden 18. Jahrhunderts demonstriert werden. In der Einleitung zu seinem >Grundriß der Mineralogie< (1790) verweist der Chemiker und Mineraloge Johann Friedrich Gmelin auf die fundamentale Bedeutung, welche die chemische »Zerlegung« der Mineralien beispielsweise durch den Chemiker Martin Heinrich Klaproth87 für die 7

Gmelin erwähnt als Beispiel Klaproths Zerlegung des Rubins u.a. in die Bestandteile »Alaunerde«, »Kieselerde«, »Kalkerde« und »Eisenerde« (J. F. Gmelin, Grundriß der Mi129

mineralogische Klassifikation der »Steinarten« im Hinblick auf ihr Ziel, eine »natürliche Ordnung« dieser aufzustellen, gewonnen habe (Grundriß Mineralogie IV, VIII). Gmelin differenziert ähnlich wie Werner zwischen unterschiedlichen Aufgabengebieten der Mineralogie, aber er räumt dabei der sogenannten »mineralogische[n] Chemie« (ebd. 8) im Gegensatz zu Werner eine eindeutigere Funktion innerhalb der mineralogischen Kennzeichenlehre ein. Seiner Auffassung nach besteht die Funktion der chemischen Zerlegung der Mineralien in ihre stofflichen Bestandteile darin, die »Natur des Minerals« noch »sicherer« (ebd. 9) bestimmen zu können, als es eine Kennzeichnung der Mineralien allein aufgrund ihrer »äußerlichen Merkmale« (ebd.) vermag. Neben der geognostischen Bestimmung der »Lagerstätte[n] der Mineralien«, der geographischen Angabe ihres Fundortes (»geographische Mineralogie«), der Beurteilung ihres »Gebrauchs« (»ökonomische Mineralogie«) und ihrer speziellen Kennzeichnung nach sogenannten »physikalischen«, »empirischen« und sinnlich beobachtbaren »Eigenschaften«88 bildet die »mineralogische Chemie« ein Teilgebiet der Mineralogie, welches über die Charakterisierung der Mineralien nach äußerlich zu beobachtenden Merkmalen hinaus das eigentümliche »Verhalten« der mineralischen Materien gegenüber anderen natürlichen Stoffen mit Hilfe des chemischen Experiments überprüft (ebd. /f.). Der Blick des Chemikers richtet sich dabei weniger auf die äußere Physiognomie der anorganischen Natur. Ihn interessieren vielmehr an seinem Gegenstand die Eigenschaften, die unmittelbar aus der stofflichen Beschaffenheit der Materie, d.h. der Art und Weise ihrer Zusammensetzung aus unterschiedlichen stofflichen Bestandteilen, abgeleitet werden können. So kann beispielsweise erst aus der Perspektive der Chemie einsichtig gemacht werden, warum sich etwa ein bestimmtes Mineral im »Feuer« oder in der Berührung mit speziellen »Auflösungsmitteln« (z.B. Wasser) (ebd. 8) anders verhält als zum Beispiel eine Steinart, die bereits rein aufgrund ihrer äußeren Merkmale einer anderen Klasse innerhalb des mineralogischen Ordnungsschemas zugeordnet werden muß. Die chemische Analyse betrifft also Unterscheidungskriterien, die nicht mehr unmittelbar durch die Sinne, wie z.B. die sogenannten >physikalischen< oder die >empirischen< Merkmale, erkannt werden können und die zu ihrer Erschließung einen künstlichen Eingriff des Menschen in den Gestaltungsneralogie, Göttingen 1790, S. IV, Anm. a) [im folgenden im Text zitiert: Grundriß Mineralogie, S.]. Siehe ebd. 7-9. Gmelin orientiert sich bei der Differenzierung der verschiedenen Möglichkeiten, bestimmte Eigenschaften und Merkmale der Mineralien festzustellen, an Werners Einteilungsschema. 130

Vorgang der materiellen Natur voraussetzen. So bildet die experimentelle Versuchsanordnung des Chemikers nun die eigentliche Ausgangsbasis für die prinzipielle Bestimmung einer natürlichen Wirksamkeit von Stoffen und Kräften, wie sie der Geologe bereits aus der äußeren Perspektive des physiognomischen Aufbaus der Gesteinsschichten und Gebirgsformationen zu rekonstruieren versucht hatte. So hatte der Geologe seiner naturwissenschaftlich-historischen Betrachtung bereits die Annahme zugrunde gelegt, daß es sich bei den geologisch-mineralogischen Phänomenen um räumlich sichtbare Manifestationen des zeitlichen Prozesses einer physikalisch und chemisch bedingten Anlagerung, Zersetzung und Verwandlung unterschiedlicher Materialien handelt, deren eigentliche wissenschaftliche Beurteilung sich letztlich auf die Prämisse der überzeitlichen Gültigkeit naturwissenschaftlicher Prinzipien nach dem Muster der klassischen mathematischen Naturlehre stützen muß. Nach Gmelin zählen die durch die »Sinne« beobachtbaren »Merkmale« der Mineralien, wie z.B. die »Farbe«, der »Zusammenhang der Theile«, die »äußere Gestalt«, der »Glanz«, die »Härte« oder der »Geschmack« (ebd. 8), neben den »physikalischen«89 und den »empirischen«90 Kennzeichen zwar zu den »sichersten Mitteln, [die] richtige Kenntniß der Mineralien zu erlangen« (ebd. 8f.). Reichten diese Bestimmungsmerkmale aber - wie im Falle einer Übereinstimmung äußerlicher Merkmale bei unterschiedlichen Mineralien - zu deren sicherer Unterscheidung nicht aus, so müsse eine Prüfung der >innerenScheidekunst< trägt also dadurch, daß sie das innere Mischungsverhältnis aufdeckt, auf welchem nach Ansicht des Mineralogen die »wesentliche^] Verschiedenheiten« (ebd.) der Steinarten beruhen, maßgeblich dazu bei, die natürliche Folgeschwersten< Körpers in seiner Eigenschaft als Zentrum der Gravitation reguliert werden,'34 ist auch der Planet der Erde den universalen 130

So wird das Bewußtsein der »Zeit« »in Absicht auf uns, [durch den] Eindruck [vermittelt], den eine Reihe von Dingen, von welchen wir versichert sind, dass ihr Daseyn successiv gewesen sey, in dem Gedächtnisse zurücklässt. Ihr eigentliches Mass ist die Bewegung.« (Weltsystem I 30). 131 »Unendlich mannichfaltig in ihren Wirkungen ist die Natur; bloss in ihren Ursachen einfach, und ihre Oekonomie besteht darin, dass sie vermittelst einer kleinen Anzahl allgemeiner Gesetze, eine grosse Menge oft sehr verwickelter Erscheinungen hervorbringt.« (ebd. 107). 132 »Während die Trabanten sich um ihren Planeten bewegen, wird zu gleicher Zeit das ganze System des Planeten und seiner Trabanten, mit einer gemeinschaftlichen Bewegung im Welträume fortgeführt, und durch die nämliche Kraft bey der Sonne erhalten [...]« (ebd. II 11) - »Die allen diesen Körpern [den Planeten, LB.] gemeinschaftliche Kugelgestalt zeigt offenbar, dass ihre kleinsten Theilchen um ihre Schwerpunkte durch eine Kraft erhalten werden, welche bey gleichen Entfernungen sie gleichförmig gegen diese Punkte zu treibt [...]« (ebd. 22; vgl. Physikalisches Wörterbuch III 922-936). 133 »Das Gesez der allgemeinen Schwere hat den schäzbaren Vorzug, dass es auf Rechnung gebracht werden kann, und in der Vergleichung seiner Resultate mit den Beobachtungen das sicherste Mittel, sein Daseyn zu erweisen, an die Hand giebt. Man wird sehen, dass dies große Naturgesez alle himmlischen Erscheinungen bis auf ihre kleinsten Umstände darstellt [...]« (Weltsystem II 2). 134 »So sind wir also ohne einige Hypothese, und durch eine nothwendige Folge der himmlischen Bewegungsgeseze darauf geleitet worden, den Mittelpunkt der Sonne als den Brennpunkt einer Kraft zu betrachten, die sich unbestimmbar weit durch den Weltraum verbreitet, im Verhältnisse des Quadrats der Entfernungen abnimmt, und alle in ihrem Wirkungskreise eingeschlossenen Körper anzieht. [...] Wir wollen diese Schwere die Attraction der Sonne nennen, wenn wir sie in Beziehung auf den Mittelpunkt der Sonne, gegen welche sie gerichtet ist, betrachten; denn ohne die Ursache davon zu kennen, können wir, nach einer Vorstellungsart, wovon die Geometer oft Gebrauch machen, diese Er-

Bewegungsgesetzen der Materie unterworfen - »Die Kugel, die er [der Mensch, LB.] bewohnt, ist ein Planet, der sich um sich selbst dreht, und um die Sonne läuft. Betrachten wir ihn aus diesem Gesichtspunkte, so erklären sich alle Erscheinungen auf die einfachste Art; die Gesetze der himmlischen Bewegungen sind einförmig, alle Analogien sind beobachtet. [...] Endlich vereinigt die Vorstellung von der Bewegung der Erde zu ihrem Vortheile die Einfachheit, die Analogie, und überhaupt alles, was das wahre System der Natur kenntlich macht. Wir werden, wenn wir sie in ihren Folgen weiter untersuchen, die himmlischen Erscheinungen bis auf ihre kleinsten Umstände, auf ein einziges Gesetz, wovon sie nothwendige Entwickelungen sind, zurückgeführt finden.« (ebd. 2O/f.). Die räum-zeitliche Konstellation des Planetensystems entspricht nach Laplace damit einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit, die bis in die kleinsten unscheinbarsten Ursachen hinein den Regeln der klassischen Mechanik folgt - »Man hat hier nichts mit unbestimmten Ursachen zu thun, die sich der Analysis nicht unterwerfen lassen, und welche die Einbildungskraft nach Willkür modelt, um die Erscheinungen zu erklären.« (ebd. II 2). In analoger Weise unterliegen ebenso auch alle materiellen Entwicklungsvorgänge auf der Erde Prinzipien, auf deren Grundlage das irdische Bildungsgeschehen bis in seine verwickeltsten Wirkungszusammenhänge hinein grundsätzlich >berechenbar< bleibt, auch wenn die Komplexität der Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen den mathematischen Zugang zu den tatsächlichen Phänomenen erschwert - »Im Himmelsraume werden die Geseze der Mechanik mit der grössten Genauigkeit befolgt; auf der Erde werden die Resultate derselben durch so viele Umstände verwikkelt, dass es schwer ist, sie von einander zu sondern, und noch schwerer, sie der Berechnung zu unterwerfen.« (ebd. if.). Auch auf der Erde repräsentiert die eigentümliche Schwerkraft der Naturkörper135 das leitende Prinzip, welches grundlegende Bewegungs- und Gestaltungsvorgänge der Materie sowohl unter dem makroskopischen Aspekt des Verhältnisses der Naturkörper untereinander als auch unter dem mikroskopischen Ge-

scheinung, als die Wirkung einer der Sonne inwohnenden Anziehungskraft, ansehen.« (ebd. ii f.). 1 "»[...] ein von uns entferntes Gestirn, wieder Mond, war erforderlich [...] um uns zu überzeugen, dass Schwere auf der Erde nur ein besonderer Fall von einer durch das ganze Weltall verbreiteten Kraft ist.« (ebd. 21); vgl.: »Die Schwere giebt der Erde ihre runde Gestalt und ist das Band, welches alle zu ihr gehörige Materie zusammenhält, und die Zerstreuung derselben verhütet. [...] auch die übrigen Weltkörper [werden] durch eine Schwere ihrer Theile gegen ihre ganze Masse zusammen gehalten, und zu Kugeln oder Sphäroiden geformt.« (Physikalisches Wörterbuch III 893). 152

sichtspunkt des Zusammenhangs, in dem die »innersten Theile« (ebd. 15) der stofflichen Natur zueinander stehen, bestimmt. Die himmlischen Erscheinungen, verglichen mit den Gesezen der Bewegung, führen uns also auf das grosse Naturgesez, dass alle Theilchen der Materie einander, im geraden Verhältnisse der Massen, und im umgekehrten des Quadrats der Erscheinungen, wechselweise anziehen. [...] Man sieht auch, dass die Theilchen eines jeden Himmelskörpers, die durch ihre Anziehung vereiniget werden, eine beynahe kugelförmige Masse bilden müssen, und dass das Resultat ihrer Wirkung auf die Oberfläche des Körpers alle Erscheinungen der Schwere daselbst hervorbringen müsse, (ebd. z6f.)

Im Rahmen seiner Hypothesen über den Anwendungsbereich des physikalischen Grundsatzes der Schwere zieht Laplace auch die Möglichkeit in Betracht, daß das Verhältnis der Himmelskörper untereinander über das Prinzip der »wechselseitigen Anziehung« (ebd. 211) der Körper hinaus durch weitere Kräfte beeinflußt sein könnte, über deren Kenntnis der Physiker jedoch aufgrund seiner begrenzten Untersuchungsmöglichkeiten (noch) nicht verfügt. Auch angesichts des phänomenalen Wirkungsspektrums von Anziehungs- und Abstoßungskräften, die in den Augen des Physikers und Chemikers elementare Bildungsvorgänge der irdischen Materie bestimmen - wie z.B. die Phänomene der Kristallisation anorganischer Körper, der chemischen Verbindung materieller Stoffe oder der unterschiedlichen Dichte der Naturkörper sowie der Ausdehnung von Flüssigkeiten unter Zufuhr von Wärme -, stellt sich die Frage nach dem Gültigkeitsanspruch des Erklärungsmodells der Newtonschen Gravitationstheorie. Speziell in bezug auf Vorgänge, welche das Verhältnis der elementaren stofflichen Bestandteile der materiellen Körper zueinander betreffen, die Laplace dem Begriffsverständnis seiner Zeit folgend als sogenannte »Verwandtschaften« der »Elemente« (ebd. 21 if.) bzw. der stofflichen Komponenten eines Körpers bezeichnet, erscheint ihm eine analoge Anwendung der Grundsätze der Schwere nicht ohne weiteres möglich zu sein. So setzt nach Laplaces Ansicht bereits ein minimaler Wirkungsgrad der Anziehungskraft zwischen unterschiedlichen Körpern Größenverhältnisse voraus, die sich als wesentliche Bedingung der Wirksamkeit der Massenanziehung nicht unbedingt auf die Betrachtungsebene der elementaren Bestandteile eines Körpers übertragen lassen, denn Die Anziehungskraft verschwindet unter Körpern von unbeträchtlicher Grosse; sie erscheint aber bey ihren Elementen wieder unter einer unendlichen Menge verschiedener Formen. Die Dichtigkeit der Körper, ihre Chrystallisation, die Brechung des Lichts, das Steigen und Fallen der Flüssigkeiten in den Haarröhren, und überhaupt alle chemischen Verbindungen sind Folgen der Anzie-

hungskräfte, deren Kenntniss einer der wichtigsten Gegenstände der Naturlehre ist. Aber sind etwa diese Kräfte die in den Räumen des Himmels beobachtete Gravitation selbst, auf der Erde durch die Gestalt der integrirenden Theilchen modificirt? Um diese Hypothese anzunehmen, müsste man bey den Körpern viel mehr leeren, als erfüllten Raum voraussezen, so dass die Dichtigkeit ihrer Theilchen unvergleichbar grosser wäre, als die mittlere Dichtigkeit ihrer ganzen Massen. [...] die Dichtigkeit dieser Theilchen stünde also zu der der ganzen Körper in einem Verhältnisse, vor dessen Grosse die Einbildungskraft sich entsezt, wenn ihre Verwandtschaften von dem Geseze der allgemeinen Schwere abhingen, (ebd. 2iif.)

Laplace zieht damit als möglichen Anwendungsbereich der Gravitationslehre konkrete Vorgänge einer chemischen Veränderung von Stoffen in Erwägung, welche ganz offensichtlich durch Wirkungsverhältnisse von Kräften bedingt sind, die zwischen den elementaren Teilchen der materiellen Körper herrschen. Und obwohl er sich in seiner mechanistischen Naturlehre auf Fragen und hypothetische Überlegungen beschränkt, die deren Reichweite als allgemeines umfassendes Erklärungsmodell der Natur prinzipiell nicht in Frage stellen, so erwägt er doch angesichts der Schwierigkeit der Übertragung der Idee der Massenanziehung materieller Körper auf mikroskopische Vorgänge zwischen den elementaren Stoffen dieser Körper die Möglichkeit, daß die >Verwandtschaft< zwischen den »Elementartheilchen« eines Naturkörpers etwa auch »von der Gestalt der integrirenden Theilchen« (ebd. 213) abhängig sein könne.136 Obwohl Laplace die Idee einer umfassenden Naturerklärung unter mathematisch-mechanischen Gesichtspunkten aufrechterhält, weisen seine gedanklichen Überlegungen über die bloße Anerkennung des begrenzten Erkenntnisspielraums der zeitgenössischen Physik auf die Entdeckung voraus, daß es im Bereich der materiellen Natur Gestaltungsphänomene geben könnte, die nicht mehr ausschließlich mittels der mathematischen Grundsätze der Newtonschen Gravitationstheorie erfaßt werden können. Angesichts der >Verwickeltheit< der Verhältnisse im Bereich chemisch-physikalischer Bildungsvorgänge auf der Erde, die sich durch eine einfache Übertragung der Grundsätze der Gravitationslehre nicht mehr ohne weiteres klären lassen (siehe ebd. 2i3f.), hält es Laplace daher für ratsam, sich in Anbetracht dieser »Ungewissheiten« (ebd. 213) bei der Erklärung insbesondere chemischer Vorgänge zunächst weniger an der theoretischen Möglichkeit einer prinzipiellen Umsetzung und Anwendung der 136

Wobei Laplace gleich einschränkend hinzufügt, daß »die Unmöglichkeit die Gestalten der Elementarteilchen zu erkennen [...] diese Untersuchungen zur Aufnahme der Wissenschaften unnüz [macht]« (Weltsystem II 213).

154

mathematischen Prinzipien der Naturlehre zu orientieren; der »Bestimmung der Geseze der Verwandtschaften« (ebd.) könne man sich aufgrund der bestehenden Unkenntnisse viel eher über den Weg der praktischen Erfahrung und Experimentation und daraus resultierender besserer Vergleichsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Naturkräften (Schwere, chemische Verwandtschaft, Wärme) annähern - so ließen beispielsweise entsprechende Versuche bereits die berechtigte Hoffnung zu, die mathematische Theorie über die Entstehungsgeschichte des Planetensystems auch auf grundlegende Gestaltungsvorgänge der irdischen Natur auszudehnen, womit der allgemeine Grundsatz der Schwere in seiner Funktion als umfassende Erklärungsgrundlage aller stofflichen Erscheinungen im Bereich der himmlischen und irdischen Natur möglicherweise auch im Hinblick auf mikroskopische Bildungsvorgänge der Materie aufrechterhalten werden könne - »Einige [...] Versuche lassen hoffen, das diese Geseze einst vollkommen werden bekannt werden; alsdann könnte man, durch Anwendung der Rechnung auf dieselbige, die Physik der Erdkörper zu eben dem Grade der Vollkommenheit erheben, den die Entdeckung der allgemeinen Schwere der Physik des Himmels verschafft hat.« (ebd. 214). 2.2.2 Die chemische >Wahlverwandtschaft< der Stoffe (F.A.C. Gren, L.-B. G. de Morveau) Der Prozeß der Ausdifferenzierung der traditionellen mechanischen Naturlehre in einzelne naturwissenschaftliche Spezialdisziplinen ist im ausgehenden 18. Jahrhundert bedingt durch fundamentale Entdeckungen insbesondere auf dem Gebiet der chemischen Erforschung materieller Stoffe. So werden deren spezielle Gestaltungsformen und Funktionsweisen zunehmend unter dem Aspekt der Analyse von Ursachen thematisiert, die in der chemischen Natur dieser Materien, d.h. der Art und Weise ihrer Zusammensetzung aus unterschiedlichen stofflichen Bestandteilen, liegen. Vor allem die Chemie ist mit der Frage beschäftigt, inwieweit mit Hilfe des mechanistischen Erklärungsmodells der Gravitation auch Vorgänge erschlossen werden können, die sich - für das bloße Auge nicht mehr sichtbar - etwa im Verlauf von chemischen Reaktionen, wie z.B. der Auflösung kristallisierter Substanzen in Flüssigkeiten oder einer durch die Hinzufuhr von Wärme ausgelösten Verbindung diverser Stoffe, zwischen qualitativ verschiedenen Materien und deren stofflichen Bestandteilen abspielen. So stellt die Schwerkraft als wesentliches Attribut und »allgemeines Phänomen« aller »Körper« (Grundriß §1841., S. 125) ein 155

umfassendes Prinzip dar, welches den Sachverhalt der sukzessiven Konstitution und Veränderung der Materie als Resultat eines dynamischen Zusammenspiels natürlicher Anziehungs- und Abstoßungskräfte beschreibt. Die unterschiedlichen Wirkungsgrade dieser Kräfte lassen sich in ihrer kausalen Verursachung durch das variable Verhältnis von räumlicher Entfernung und Masse, in dem die jeweiligen Körper zueinander stehen, grundsätzlich berechnen. Und für den Chemiker ist es zunächst naheliegend, das Phänomen der Massenanziehung materieller Körper unter prinzipiellen Gesichtspunkten auch auf Gestaltungsvorgänge zu übertragen, welche den Entstehungsprozeß der materiellen Natur auf der Ebene ihrer Zusammensetzung aus unterschiedlichen stofflichen Komponenten konstituieren. Im Rahmen experimenteller Versuche zur künstlichen Herstellung qualitativ neuer stofflicher Verbindungen, die aus der >Mischung< verschiedenartiger Ausgangsmaterien gewonnen werden, sowie einer chemischen Zerlegung von Stoffen in ihre Bestandteile beispielsweise mittels bestimmter >auflösender< Substanzen trifft der Chemiker die Feststellung, daß auch zwischen den einzelnen Teilchen bzw. Elementen eines materiellen Körpers Anziehungskräfte existieren müssen, die je nach dem Grad und der Art ihres Wirkungszusammenhangs sowohl die qualitative (chemische Zusammensetzung bzw. stoffliches Mischungsverhältnis) als auch die quantitative Beschaffenheit (flüssiger, fester oder >dampf-< bzw. >luftförmiger< Aggregatzustand) eines Stoffes bestimmen. Die Diskussion darüber, in welchem Verhältnis nun die Erscheinung der chemischen >Anziehung< materieller Stoffe bzw. stofflicher Bestandteile materieller Körper und das allgemeine Gesetz der Schwerkraft zueinander stehen, berührt Fragestellungen, die das Selbstverständnis der damaligen mechanistischen Naturlehre auf unmittelbare Weise betreffen. So sieht sich der Naturforscher beispielsweise angesichts des Phänomens der chemischen Verbindung unterschiedlicher Materien zum einen mit dem Problem konfrontiert, daß sich die Attraktionskräfte, die zwischen den Teilchen der materiellen Körper herrschen, nicht ohne weiteres durch die Gesetze der Gravitation erklären lassen. Nach Einsicht der damaligen Naturwissenschaft würde eine entsprechende Übertragung überdies genauere empirische Kenntnisse über die Natur des chemischen Vorgangs der Stoffveränderung voraussetzen, welche ihr aber aufgrund ihrer begrenzten Forschungsmöglichkeiten zunächst verschlossen bleiben. Die Verwandschaft der ungleichartigen oder der sogenannten Bestandtheile wird durch alle die einzelnen Erscheinungen dargethan, die in der Chymie vorkommen. [...] Da wir aber die ursprüngliche Gestalt der Urstoffe, Bestandtheile und kleinsten gleichartigen Theile der Körper nicht kennen, und da dieselben 156

auch unter besondern Umständen [...] veränderlich seyn dürften wie man dieses wenigstens an flüssigen Substanzen gewahr wird, welche jede Art von Bildung anzunehmen fähig sind, so können wir die Verwandschaften der Körper aus Vernunftschlüssen nicht weiter verfolgen, sondern müssen uns bey ihrer Bestimmung hauptsächlich an die Erfahrungen halten. (Chymisches Wörterbuch V 435, 436f. Anm.)

Zum anderen führte die Frage nach der Wirkungsart chemischer Kräfte im Bereich der gesamten materiellen Natur erneut auf ein Problem, das sich im Rahmen der empirischen Erforschung der materiellen Bedingungen der natürlichen Schwerkräfte der Körper bereits auf grundlegende Weise gestellt hatte - die Tatsache nämlich, daß sich die damalige Naturlehre in Anbetracht des Phänomens der Schwere als einer den Naturkörpern ursprünglich >innewohnenden Kraft< trotz der eingehenden Einsicht in die komplexe Natur ihres gesetzlichen Wirkungszusammenhangs dazu bekennen mußte, die eigentlichen Ursachen dieser Kraft als im stofflichen Wesen der Materie selbst begründete Bedingungen mittels des begrifflichen Instrumentariums der mathematisch-mechanischen Erklärungsart nicht erschließen zu können.137 Zwei Positionen bestimmen im ausgehenden 18. Jahrhundert die Debatte über das Phänomen der sogenannten >chemischen Verwandtschaft unterschiedlicher Stoffe. So wird chemische Anziehungskraft erstens definiert als eine Art »Neigung«, welche »gleichartige« oder »ungleichartige« stoffliche Bestandteile eines Körpers im Verhältnis zueinander äußern (ebd.435). Mit der Vorstellung der chemischen Verwandtschaft als einer »Kraft«, mittels derer »die Theile der Körper sich mit einander zu vereinigen trachten« bzw. einen »Zusammenhang« »unter einander eingehen« (ebd. 43 5), verbindet sich die Auffassung, daß die chemischen Kräfte als besondere, modifizierte Formen des allgemeinen Prinzips der Gravitation aufgefaßt werden können.'38 Die bereits angesprochenen Vorbehalte gegen eine mögliche Übertragung des mechanischen Prinzips der Gravitation auf den Bereich der chemischen Affinität werden bei dieser Erklärung im Hinblick auf noch ausstehende empirische Erklärungsmöglich137

13

»In Ansehung der Ursach dieser Kraft [der Schwere, LB.] haben sich die Weltweisen viel gestritten, und gar nichts gewonnen. Alle diejenigen [...] können bey allen mechanischen Erklärungsarten, von der Art und Weise der Bewegung dieser Materie, uns nicht befriedigen; und immer bleibt, außer ändern Schwierigkeiten, dabey die Frage übrig, woher hat diese schwermachende Materie ihre Kraft? [...] Wir müssen eingestehen, daß wir von der Schwere an sich, als Ursach des Phänomens der Gravitation, gar nichts wissen. Wir sehen hiebey nur wieder das Phänomen, und die Ursach davon liegt außer unserer Erfahrung.« (Grundriß § i87f., S. 1261.; vgl. Grundriß 3. Aufl., §205, S. 123^). Siehe dazu P. Kapitza, op. cit. 4off.

M7

keiten zunächst zurückgestellt.139 Zweitens wird die chemische Verwandtschaft als eine Kraftwirkung im Bereich der materiellen Natur beurteilt, die auf anderen Ursachen beruht als das physikalische Prinzip der Schwerkraft und die daher als ein »Sonderbereich innerhalb der den gesamten Kosmos umfassenden Anziehung«140 aufzufassen ist.141 So läßt das Beispiel der chemischen >Mischung< ungleichartiger Materien, deren Resultat eine qualitative Stoffveränderung bzw. die Herstellung eines neuen Stoffes bildet, im Gegensatz zur bloßen >Zusammenhäufung< ^Aggregation^ gleichartiger Materien auf Wirkungsverhältnisse zwischen Kräften schließen, deren Gesetzmäßigkeit im Unterschied zur Massenanziehung nicht auf meßbaren, d.h. mathematisch nachvollziehbaren Größenverhältnissen beruht, sondern die vielmehr durch die qualitativen Eigenschaften der an der chemischen Reaktion beteiligten Ausgangsstoffe bedingt ist.

139

»Man kann [...] verschiedene Arten von Verwandschaf ten unterscheiden; nicht sowohl, wie ich glaube deswegen, daß es wirklich verschiedene Arten davon geben sollte, denn es ist gewiß, daß es stets nur eine und eben dieselbe Kraft der Materie ist, die aber nach Beschaffenheit der Umstände [...] verschiedentlich abgeändert wird; sondern bloß in der Absicht, daß man die Erscheinungen deutlich machen könne, welche sie bey den einzelnen Verbindungen und Trennungen darstellt, die sie bey den allgemeinsten und wichtigsten chymischen Operationen verursacht.« - »Deutlicher und bestimmter [...] kann ich mich nicht darüber ausdrücken, daß es für die Verwandtschaften keine besondern kleine Gesetze giebt, sondern daß sie vielmehr alle mit den größten und wichtigsten Wirkungen, die man in der Natur bisher beobachtet hat, Wirkungen eines und eben desselben Gesetzes, desjenigen nämlich sind, nach welchem alle Theile der Materie gegen einander ein Bestreben zur Vereinigung äußern, und man kann sich, wenn man die Artikel Schwere [...] liest, überzeugen, daß ich dieses Gesetz bey der Erklärung aller chymischen Wirkungen stets zum Grunde gelegt habe, welche bey der Verbindung oder Trennung verschiedener auf einander wirkender Substanzen erfolgen.« (Chymisches Wörterbuch V 43/f.; 437, Anm.). '4°Kapitza, op. cit. 42. 141 »Die Erfahrung lehrt uns, daß die Theile eines jeden Körpers so bey einander sind, daß eine äußere Gewalt erfordert wird, sie zu trennen. Dies Phänomen führt den Namen der Cobäsion oder des Zusammenhangs. [...] Diese Kraft der Cohäsion äußert sich erst bey der unmittelbaren Berührung der materiellen Theile, und es läßt sich durch keinen einzigen entscheidenden Versuch darthun, daß sie schon in der Entfernung der Körpertheilchen von einander thätig wäre, oder daß diese sich schon in der Entfernung anzögen. [. . .] Von der Kraft der Schwere ist sie identisch verschieden, und wirkt nach ganz ändern Gesetzen, und eben deswegen kann es auch nicht erlaubt seyn, die Phänomene der Cohärenz und die der Gravitation unter dem gemeinschaftlichen Namen der Attraction zu begreifen. Von der Cohäsionskraft an sich wissen wir an sich gar nichts; sie liegt außer den Gränzen unserer sinnlichen Wahrnehmungen [...]« (Grundriß §njff., S. Szf.; vgl. Grundriß 3. Aufl., §204, 8.123; zur Differenzierung der Begriffe »Cohärenz«, »Cohäsion«, chemische »Verwandtschaft« und »Schwere« siehe Grundriß §ii5ff., S. 82ff.; f., S. 1 1 jff.; § I 74 ff., S. I2off.; § i Soff., S. I24ff.). I58

Die Chemie des ausgehenden 18. Jahrhunderts versteht sich als »Lehre von den Stoffen und ihrer [qualitativen] Umwandlung mittels analytischer und synthetischer Prozesse« (HBS 9). Ihren zentralen Forschungsgegenstand bildet die Zusammensetzung von materiellen Körpern aus stofflichen Bestandteilen, die sich mittels einer mechanischen Zerteilung nicht feststellen lassen. Denn diese Teile des Körpers sind im Gegensatz zu einer bloßen >Zusammenhäufung< von Bruchstücken gleichartiger stofflicher Beschaffenheit durch Anziehungskräfte verbunden, welche über das Phänomen der >Aggregation< hinaus eine qualitative >Mischung< von materiellen Bestandteilen differenter stofflicher Beschaffenheit bewirken, aus der die Synthese eines gänzlich neuen, von den Ausgangsstoffen unterschiedenen Produktes resultiert - »Die Scheidung der Körper in ungleichartige Theile [...], so wie die Zusammensetzung aus ihnen, kann nicht durch äußere mechanische Kräfte geschehen, die nur die Zusammenhäufung, nicht die Mischung der Körper aufheben.« (Systematisches Handbuch I i, 43). Die chemische Zerlegung bzw. >Scheidung< repräsentiert ein Verfahren, das sich bei der Zerteilung von materiellen Stoffen weniger mechanischer Kräfte (z.B. Druck- und Stoßkräfte, die etwa beim Pulverisieren eingesetzt werden) bedient, sondern das vielmehr die bisherige Kenntnis des Naturforschers über die chemischen Funktionsweisen spezieller Stoffe ganz gezielt einsetzt. Der Chemiker gewinnt im Rahmen experimenteller Versuche mit sogenannten >Auflösungs-< oder >Verbindungsmitteln< genauere Erkenntnisse über die Fähigkeit chemischer Materien, aufgrund ihrer unterschiedlichen Anziehungskräfte spontane Verbindungen untereinander einzugehen - »[...] und man siehet hieraus, daß die in den Körpern und ihren Bestandtheilen sich befindende Kräfte der An[zie]hung selbst Mittel zur chemischen Theilung und Zusammensetzung [...] werden, die durch mechanische Mittel nicht bewürkt werden können.« (ebd. 44).I42 Die chemische Wirkung eines bestimmten Stoffes als Mittel, welches die Auflösung einer Materie in qualitativ unterschiedliche Bestandteile bzw. die synthetische Verbindung dieser Bestandteile zugunsten der Herstellung eines neuen Produktes bewirken kann, ist nach Ansicht des Chemikers dadurch begründet, daß zwischen den qualitativ >ungleichartigen< 142

Vgl.: »Chymie, Chemie [...] Diesen Namen führt die Lehre von der Auflösung der Körper in ihre Bestandteile, und ihrer Zusammensetzung aus denselben, oder wie es andre ausdrücken, von der Bearbeitung der Stoffe. Es ist hiebei nicht von Theilung oder mechanischer Zertrennung die Rede, wobey die Theile mit dem Ganzen selbst von einerley Beschaffenheit sind, sondern von Zerlegung m ungleichartige Grundstoffe, und anderweiter Zusammensetzung derselben zu neuen Producten.« (Physikalisches Wörterbuch I 507).

Teilen eines Körpers unterschiedliche Anziehungskräfte herrschen - so demonstriert das Schema eines z.B. aus den stofflichen Bestandteilen >A< und >B< zusammengesetzten Körpers beispielsweise ein stabiles Mischungsverhältnis, welches durch die Ausgleichsbestrebung bzw. die wechselseitige Wirkung der unterschiedlichen Anziehungskräfte seiner Teile untereinander konstituiert ist. Dieses Mischungsverhältnis kann durch die Hinzufügung eines dritten Stoffes bzw. stofflichen Bestandteils >C< zerstört werden, so daß eine Aufhebung der bisherigen >Mischung< von >A< und >B< zugunsten der Herstellung einer neuen chemischen Verbindung etwa zwischen >A< und >C< erfolgt. Dies geschieht dann, wenn der neu hinzugefügte Stoff aufgrund seiner qualitativen Beschaffenheit eine im direkten Vergleich zu einem der beiden Au s gangs Stoffe (hier >BAVereinigung< von >A< und >C< unter >Abscheidung< von >B< resultiert (siehe ebd.43f.). Der Chemiker macht sich also seine Kenntnis über die Unterschiedlichkeit der Attraktionsverhältnisse zwischen verschiedenen Stoffen materieller Körper zunutze, indem er diese Stoffe kalkuliert als Mittel einsetzt, um den chemischen Prozeß der >Scheidung< bzw. >Zersetzung< in Gang zu bringen - »[...] die verschiedenen ungleichartigen Bestandtheile der Körper [haben] gegen einander nicht eine gleich starke Anziehung [...] durch die Verbindung von zweyen oder mehrern ungleichartigen Theilen [kann] nun die Anziehung zu einem dritten aufgehoben werden [...]« (ebd. 43). Auf der Grundlage einer experimentellen Erforschung und Überprüfung der Annahme, daß qualitativ differenzierbare materielle Stoffe auch unterschiedliche Anziehungskräfte aufeinander ausüben, wird es nach Auffassung des Chemikers möglich, eine hierarchische Ordnungsstruktur im Bereich der natürlichen materiellen Stoffe unter expliziter Berücksichtigung ganz spezieller Kriterien aufzustellen; diese Ordnung orientiert sich über das mineralogische Prinzip einer Klassifikation der Naturgegenstände nach rein >äußerlichen< Kennzeichen und Merkmalen hinaus an Qualitäten, die in der stofflichen Beschaffenheit des Gegenstandes selbst begründet sind. Die komplizierte genetische Konstitution und Verbindung der stofflichen Qualitäten untereinander spielt sich unter der Oberfläche des Sichtbaren auf eine durch das Auge weitgehend unentdeckbare Weise ab; den chemischen Reaktionsprozeß charakterisiert ein spontaner Wechsel von Wirkungsverhältnissen, die sich einer ausschließ160

liehen Erklärung durch die Prinzipien der mechanischen Naturlehre entziehen.143 Um mögliche Reaktionen zwischen chemisch differenten Stoffen dennoch im Hinblick auf ihren konkreten Verlauf diagnostizieren zu können, greift die Chemie des ausgehenden 18. Jahrhunderts im Rahmen ihrer Versuchsanordnungen auf sogenannte >Verwandtschaftstafeln< zurück, in denen die Stoffe nach dem unterschiedlichen Grad ihrer >Anziehung< bzw. >Verwandtschaft< zueinander in ein systematisches Ordnungsverhältnis gebracht sind.'44 Mit der Etablierung des Erklärungsmodells der chemischen Verwandtschaft geht im ausgehenden 18. Jahrhundert eine empirische Erforschung materieller Stoffe einher, die etwa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts einem rasch fortschreitenden Wandel unterworfen ist. Die schrittweise Abkehr von der klassischen peripatetischen Elementenlehre sowie von überlieferten religiös-kosmologischen Vorstellungen über die Natur der materiellen Stoffe (und hier vor allem auch von alchemistischen Anschauungen) beschreibt einen Entwicklungsprozeß, der ganz wesentlich durch die Verbesserung von Techniken und Methoden der erfahrungswissenschaftlichen Analyse chemischer Stoffe bedingt ist. Der Prozeß der sukzessiven Ausbildung der Chemie von einer experimentellen Methodenlehre hin zu einer eigenständigen Fachdisziplin mit einer eigenen theoretischen Basis läßt sich an einzelnen Entdeckungen demonstrieren, die zugleich maßgebliche Impulse jener Entwicklung repräsentieren. So leitete etwa die Entdeckung des Sauerstoffs in den Jahren 1771-1774 durch Joseph Priestley und Karl Wilhelm Scheele eine revolutionäre Entwicklung innerhalb der chemischen Erforschung materieller Stoffe ein, die mit Antoine Laurent de Lavoisiers Analyse und Beschreibung des Sauerstoffs (>OxygeneLebensluftStufenleitern< oder >TafelnReihen< zwischen den chemischen Stoffen festgehalten wurden. Geoffroy folgte um das Jahr 1775 T. Bergmann, der den Begriff der >chemischen Verwandtschaft maßgeblich geprägt und u.a. erstmals den Einfluß der Wärme auf den jeweiligen Stärkegrad der chemischen Anziehung beschrieben hatte; siehe dazu ebd-47ff.; Grundriß § 178, S. \ .\ HBS I7f. 145 Zur sogenannten >antiphlogistischen Chemie< siehe Systematisches Handbuch I i, § 323ff., S. 2O9ff.; Physikalisches Wörterbuch V 3off. und dazu HBS 13-15; zum allgemeinen historischen Kontext der Entwicklung der Chemie als Teilgebiet der Naturlehre sowie zur damaligen Einschätzung der Chemie als einer naturwissenschaftlichen Disziplin

161

und Beziehungen, in welche spezielle chemisch analysierbare Stoffe im Verlauf von materiellen Reaktionsprozessen zueinander eintreten, trug entscheidend dazu bei, traditionelle Auffassungen über die Natur materieller Stoffe zu revidieren. So leiteten beispielsweise Priestleys und Scheeles Entdeckungen sowie die daran anschließenden experimentellen Versuche mit dem neuentdeckten Element des Sauerstoffs eine Forschungsrichtung innerhalb der damaligen Chemie ein, deren grundlegend neuer Impuls darin bestand, daß die >innere Verhältnisnatur< materieller Körper erstmals unter weitgehender Ablösung von überlieferten spekulativen Anschauungen und Hypothesen auf der empirischen Grundlage genauer Analysen auf ihre konkreten stofflichen Bedingungen hin erschlossen wurde. Die neue sogenannte >antiphlogistische Chemie< richtete sich insofern gegen traditionelle, in der damaligen Chemie lange Zeit vorherrschende Tendenzen, als sie im Gegenzug zu der von Georg Ernst Stahl (ca. 1660-1734) in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts begründeten >Phlogistontheorie< die Existenz eines Stoffes in Frage stellte, der nach Ansicht der sogenannten >phlogistischen< Lehre in seiner Eigenschaft als maßgeblich an Prozessen der Verbrennung beteiligte Substanz eines der klassischen Elemente der aristotelischen Physik repräsentierte. So beinhaltet der Theorie Stahls zufolge jeder verbrennbare Körper einen bestimmten Anteil eines Stoffes, der im Verlauf des Verbrennungsvorgangs entweicht und der aufgrund seiner Funktion als initiierendes Element dieses Prozesses auch als >Feuerstoff< oder >Phlogiston< bezeichnet wird. Das Phlogiston repräsentiert dem damaligen Begriffsverständnis entsprechend ein sogenanntes >imponderabiles Fluidum< bzw. eine gewichtslose Substanz, welche zugleich den stofflichen Träger eines chemischen Reaktionsprozesses darstellt, in dem das chemische Phänomen - in diesem Fall die Verbrennung - gewissermaßen zu einer eigenen Materie substantialisiert ist.146 Neben dem Phlogiston bzw. >Feuerstoff< wurden die chemischphysikalischen Erscheinungen der >WärmeLichts< und der >Luft< oder auch der >Elektrizität< nach damaliger Auffassung jeweils durch ein eigenes >imponderabiles< >Fluidum< markiert;147 den Verständnishintersiehe Systematisches Handbuch I i, iff.; Physikalisches Wörterbuch I 5o8ff. und dazu HBS 3-164; WTB III 448ff. 146 Zu Stahls Phlogistontheorie und der allgemeinen zeitgenössischen Diskussion darüber siehe Systematisches Handbuch I i, §310-339, S. 202-222 und dazu HBS , . 147 Siehe dazu Systematisches Handbuch I i, §278-309, S. :84-2O2; Grundriß §334, S.246; §650, S.492f.; §93off., S.6 5 8ff.; § 5i 3 ff., S^ff.; §/66ff., S.569ff.; §656ff., S.496ff. sowie Chymisches Wörterbuch z.B. III 39^ff. und dazu D. J. G. Leonardi, Neue Zusätze und Anmerkungen zu Macquers Chymischem Wörterbuche erster Ausgabe, Bde. I und II, Leipzig 1792, hier Bd. 14.29 [im folgenden im Text zitiert: Zusätze Chymisches Wörterbuch, Bd., S.]. 162

grund dieser hypothetischen Annahmen über die stofflichen Prinzipien des natürlichen Bildungsgeschehens bildete dabei nach wie vor das aristotelische Modell der vier Elemente.148 Beispielsweise wird der unter Zufuhr von Wärme beschleunigte Prozeß der Verflüssigung eines Stoffes (z.B. die Auflösung von Salz in Wasser) dadurch erklärt, daß man die Erwärmung im Sinne des bereits skizzierten Reaktionsschemas zwischen Stoffen unterschiedlicher chemischer Affinität als ein Mischungsverhältnis zwischen stofflichen Bestandteilen materieller Körper deutet, die je nach dem Grad ihrer jeweiligen gegenseitigen Anziehungskräfte verschiedene Affinitäten zueinander entfalten. So bewirkt ein sogenannter >Wärmestoff< die Auflösung bestehender Anziehungskräfte zwischen den Teilen eines materiellen Körpers dadurch, daß er das bestehende strukturale Gleichgewicht der Anziehungskräfte dieser Teile untereinander im Verlauf des Eindringens in den Körper und der anschließenden Mischung mit seinen stofflichen Bestandteilen aufgrund seiner besonderen >expansiven< Kraftwirkung zerstört. Entsprechend führt das Entweichen des Wärmestoffs nach damaliger Ansicht zu einer Erstarrung oder Gerinnung der verflüssigten Materie sowie einer damit verbundenen erneuten Ausbildung geordneter Strukturen, d.h. der Wiederherstellung oder Neuordnung eines stabilen Verhältnisses der Anziehungskräfte zwischen den stofflichen Bestandteilen der Ausgangsmaterie (z.B. Gerinnung von Metallen, Kristallisation von Salzlösungen oder gefrierendem Wasser). Der Wärmestoff ermöglicht also in seiner Eigenschaft als >universales Auflösungsmittel< die Bildung neuer Ordnungsstrukturen im Bereich der materiellen Natur, indem er beispielsweise bestehende, durch das Prinzip der chemischen Affinität der Stoffe geregelte Verhältnisse der unterschiedlichen stofflichen Bestandteile eines materiellen Körpers durch das Hinzutreten zusätzlicher Affinitäten neu konstituiert.'49 148

Siehe dazu WTB III 44 8ff. '49Siehe dazu Systematisches Handbuch I i, S. 184^ vgl. ebd.§278-296, S. 184-194 sowie auch F. X. Baader, Vom Wärmestoff, seiner Vertheilung, Bindung und Entbindung vorzüglich beim Brennen der Körper, Wien und Leipzig 1786 [im folgenden im Text zitiert: Wärmestoff, S.]: »Die Wärmematerie ist ein wesentlich flüssiger Stoff und sie wirkt auf alle übrigen Körperstoffe als wahres Menstruum. [...] Ein verborgenes aber allverbreitetes Prinzipium, das mächtig und rastlos dem Krystallisations- und Konfigurationstrieb aller Materienaggregate entgegenstrebt, Gleichgewicht und Partielruhe der physischen Kräfte stört, und dagegen immerwährend jenen innern Zwist und Gährung derselben, in dem alles lebt, und ohne den alles in Todesruh starren würde, anfacht und unterhält. Alle übrigen Körperstoffe [...] sind doch ursprünglich fest, und sie gerinnen, oder gefrieren wirklich alle, nehmen diese ihnen eigne feste Form wieder an, sobald die Menge des sie flüssigmachenden und erhaltenden Wärmefluidums ihnen, wie immer, entzogen wird.« (ebd. 52, 55)· I63

Lavoisier gilt aufgrund der von ihm durchgeführten empirischen Analysen von chemischen Reaktionsvorgängen, welche gegenüber der eher hypothetisch-spekulativen Theorie der >Imponderabilien< das materielle Bildungsgeschehen erstmals auf der Grundlage experimentell nachweisbarer Funktionen von Stoffen beschrieben, die darüber hinaus auch selbst einer chemischen Analyse unterworfen werden konnten,1'0 als einer der Begründer der neueren Chemie, wobei seine Entdeckungen lediglich einen ersten Schritt zur endgültigen Ablösung von der >Fluidum-Theorie< darstellten, die sich in der Folgezeit nur langsam vollzog.151 Die Chemie des ausgehenden 18. Jahrhunderts hebt sich von der zeitgenössischen Physik dadurch ab, daß sie die Gesetze und Regeln materieller Bildungsprozesse primär auf der Grundlage von Erfahrung und Experiment, d.h. a posteriori, aufstellt. Die traditionelle Naturlehre versteht sich demgegenüber als eine rationale Wissenschaft, die ihre Erkenntnisse und Gewißheiten auf mathematische, d.h. a priorische Prinzipien und Gesetze stützt, die der Natur zunächst zugeschrieben und dann einer experimentellen Überprüfung unterzogen werden. Bei der chemischen Analyse stofflicher Bildungsvorgänge handelt es sich um einen Phänomenbereich, der sich nach damaliger Auffassung nicht ohne weiteres mittels mathematisch-mechanischer Grundsätze (re-)konstruieren ließ. Innerhalb der zeitgenössischen Diskussion über den theoretischen Status der Chemie in ihrem Selbstverständnis als Zweigdisziplin innerhalb der damaligen Naturlehre1J2 beherrschten daher vor allem kritische Positionen die Debatte. So wurde der Chemie gegenüber dem Anspruch der apodiktischen Gewißheit der Erkenntnisse einer traditionellen nationalen Naturlehre·:1n lediglich der Stellenwert einer sogenannten >Experimentallehre< eingeräumt, die nur eine >empirische Gewißheit« für sich beanspruchen könne, da ihr Gegenstand sich nicht nach Gesetzen a priori konstruieren lasse, sondern vielmehr - jederzeit revidierbaren - Regeln und Prinzipien folge, IJC

Siehe A. L. de Lavoisier, Traite elementaire de chimie, Paris 1798, in: ders., GEuvres de Lavoisier, Publiees par les soins de Son Excellence le Ministre de l'Instruction Publique et des Cultes, Bd. i, Paris 1764, S. 1-407 und dazu HBS ßff. 151 So prägte beispielsweise die Vorstellung, daß es sich bei dem Phänomen der Wärme um ein sogenanntes >imponderabiles Fluidumgewichtslos< gehaltene materielle Trägersubstanz chemischer Prozesse (= > Wärmestoff< oder >caloriqueelastische< Zustand) zunächst ganz allgemein durch sogenannte >Anziehungskräfte< erklärt, die zwischen den stofflichen Teilchen eines Körpers herrschen und je nach Stärkegrad deren Entfernungen untereinander und damit zugleich den Aggregatzustand des Gesamtkörpers bestimmen. Wie bereits angesprochen, bestand ein grundlegendes Problem bei der Erklärung der chemischen Verwandtschaftskräfte zwischen unterschiedlichen Materien darin, daß sich die Erscheinung der chemischen Affinität in ihrer Funktionsbestimmung als Bestreben >gleicher< und Hingleicher Körper< nach Vereinigung mit dem Ergebnis einer die Qualität der ursprünglichen Körper verändernden >Mischung< ungleichartiger Teile zu einem homogenen Ganzen158 gegenüber dem Phänomen der physikalischen Massenanziehung (bloße Aggregation) mit den mathematischen Grundsätzen der traditionellen Naturlehre nicht unbedingt vereinbaren ließ. Ein zentrales Anliegen zeitgenössischer Theorien über die Ursachen 1

" Siehe dazu WTB III 4 5 of. Siehe dazu Chymisches Wörterbuch V 435ff.; Systematisches Handbuch I i, 43-52.

158

166

der chemischen Affinität der Stoffe bildete im Hinblick auf die soeben angesprochene Problemstellung daher der Versuch, sich der geheimnisvollen Erscheinung chemischer Qualitätsveränderungen innerhalb der materiellen Natur mit Hilfe von Vorstellungsmodellen zu nähern, welche der damaligen Physik in ihrer primären Orientierung an einer Lehre der kalkulierbaren Größenverhältnisse zur Verfügung standen. Einen Versuch, die Vielfalt chemischer Reaktionsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen stofflichen Substanzen der Natur auf der systematischen Grundlage von Regeln und Gesetzen der chemischen Verwandtschaft zurückzuführen, stellt eine von dem Chemiker und Mitarbeiter Lavoisiers Louis-Bernard Baron Guyton de Morveau veröffentlichte Untersuchung über die »theoretische[n] und praktische[n] Grundsätze der chemischen Affinität oder Wahlanziehung« dar, die im Jahre 1794 in deutscher Übersetzung erschien.159 Morveau vertritt in seiner Abhandlung den Anspruch, dem Naturforscher mit der Erschließung und Beschreibung grundlegender Prinzipien, denen die chemischen Reaktionsprozesse folgen, ein Erklärungsmodell zu bieten, von dem ausgehend der Chemie auch im Hinblick auf eine praktische kalkulierbare Handhabung ihrer Erkenntnisse der Rang einer >Wissenschaft< zugesprochen werden kann.100 Im Anschluß an eine allgemeine Vorstellung des Prinzips der Anziehung materieller Körper (>AdhäsionWahlanziehung< der Stoffe. In seiner Darstellung beruft sich Morveau auf Grundsätze, die der schwedische Chemiker Bergmann erstmals in zusammenhängender Form mit dem Anspruch der analytischen Begründung entsprechender Phänomene auf empirischer Grundlage entwickelt hatte.'62 Diesem Ansatz folgend, definiert er die chemische Verwandtschaft als eine »Eigenschaft der Körper«, welche als Ausdruck des Prinzips ihrer »Zusammensetzung« »unmittelbar« mit deren »Neigung« verknüpft sei, »sich einander anzuziehen« (Grundsätze Affinität 67). In einem kurzen historischen Abriß

' 59 L.-B. G. de Morveau, Allgemeine theoretische und praktische Grundsätze der chemischen Affinität oder Wahlanziehung zum gemeinnützigen Gebrauch für Naturforscher, Chemisten, Aerzte und Apotheker, aus d. Franz, übers, v. D. J. Veit, mit Anm. begleitet u. hrsg. v. D. S. F. Hermbstädt, Berlin 1794 [im folgenden im Text zitiert: Grundsätze Affinität, S.]. 160 Siehe dazu den Vorbericht von Hermbstädt, ebd.Xf. 161 Ebd. i~66. 161 Siehe dazu hier Anm. 144.

167

über die Geschichte der Entdeckung der Verwandtschaften163 verweist Morveau auch auf unterschiedliche zeitgenössische Erklärungsansätze des Phänomens der chemischen Qualitätsveränderung der Stoffe; und er schließt sich dabei Bergmanns Position an, der behauptet hatte, daß die physische »Ursache« der Wahlanziehung der Stoffe aller Voraussicht nach aus den Gesetzen der Newtonschen Attraktion104 abgeleitet werden könne. Die theoretische Chemie ist nach Morveau vor die Aufgabe gestellt zu klären, »wie die Bewegungen der kleinen Bestandtheilchen der Körper vor sich gehen, welche sich nach der sogenannten Verwandtschaft mit einander vereinigen oder von einander trennen, und auf diese Art die Zusammensetzungen, Niederschlagungen, Krystallisationen, mit einem Worte, alle die Verändrungen hervorbringen, welche die uns umgebenden Körper täglich erleiden.« (ebd. 81). Morveau legt seiner Untersuchung die These zugrunde, daß die Attraktionsbeziehungen zwischen den stofflichen Bestandteilen der materiellen Körper prinzipiell den gleichen Gesetzen unterliegen wie die Anziehungskräfte, die zwischen den Massen von Körpern herrschen, die in einem bestimmten räumlichen Abstand voneinander entfernt sind. Der Autor verweist dabei neben den Chemikern Johann Christian Wiegleb, Christian Ehrenfried Weigel und Peter Joseph Macquer auch auf den Mineralogen und Geologen Georges-Louis Leclerc de Buffon, der als einer der ersten Vertreter einer >wissenschaftlichen< Erdgeschichte bereits auf eine mögliche Analogie zwischen den Gravitationsund den Verwandtschaftsgesetzen hingewiesen habe.165 Der Versuch einer Lösung des Problems, wie das mechanische Gesetz der Gravitation auf den Vorgang einer durch die Veränderung der Anziehungskräfte zwischen den mikroskopisch kleinen Bestandteilen eines Körpers verursach163

Grundsätze Affinität 66-80. Ebd. 80. »Die Schwere der Körper, welche man zuerst nur als eine einzelne Erscheinung betrachtete, wird jetzt von allen Naturforschern als eine allgemeine Kraft angesehen, welche sie durch den Ausdruck: alle Materien ziehen einander gegenseitig an, zu bezeichnen pflegen, f...] Man begreift, daß sich diese Schwerkraft geradezu wie die Massen verhalten muß [...] Ein andres, gleich wichtiges, Gesetz der Schwere war gar nicht so leicht zu entdecken; wie man nemlich das Zunehmen dieser Kraft in der Nähe, und ihre Schwächung in der Entfernung messen solle? Newton hat dieses Gesetz für große Massen bestimmt [...] Wie [aber] kann die einzige Kraft der Anziehung zur Erklärung aller der unendlich mannigfaltigen Wirkungen dienen, welche uns die chemischen Erscheinungen darbieten? [...] Dieses war noch zu entdecken, und begreiflich zu machen übrig [...] (ebd. 80-82). 165 »Die Verwandtschaftsgesetze [...], nach welchen die Bestandtheile dieser verschiedenen Massen (des Mineralreichs) sich von einander trennen, um sich unter einander zu vereinigen, und gleichwertige Materien zu bilden, sind die nemlichen allgemeinen Gesetze, nach welchen alle himmlischen Körper auf einander wirken [...] Ein Kügelchen Wasser, Sand, oder Metall wirkt auf ein anderes Kügelchen wie die Erdkugel auf den Mond [...]« (ebd. 82; vgl. ebd. Szf.). 164

168

ten qualitativen Veränderung seiner stofflichen Beschaffenheit übertragen werden könne, konzentriert sich erstens auf die Frage danach, wie »die einzige Kraft der Anziehung zur Erklärung aller der unendlich mannigfaltigen Wirkungen dienen [könne], welche uns die chemischen Erscheinungen darbieten?« (ebd. 82), und zweitens auf die Frage, wie »ein Gesetz, das nur Verhältnisse anzeigen soll, die sich auf Entfernungen beziehen, auch auf Verwandtschaften ausgedehnt werden [könne], welche die unmittelbare Berührung oder die Beraubung aller Entfernung voraussetzen?« (ebd.). Ausgehend von der Hypothese, daß sich die chemischen Verwandtschaften als besondere Formen der Anziehung und Abstoßung zwischen körperlichen Substanzen letztlich nach dem Gesetz der allgemeinen Schwere richten,166 muß es nach Morveau also um die Klärung der Frage gehen, inwiefern und aufgrund welcher besonderen Bedingungen sich diese spezifische Art der Anziehung als eine Modifikation der physikalischen Massenanziehung erweist.167 Seiner Unternehmung, den chemischen Reaktionsvorgang auf der gesetzlichen Grundlage der traditionellen Mechanik zu beschreiben, stellt Morveau die Vermutung voran, daß die unterschiedlichen Wirkungsweisen der mechanischen Massenattraktion und der chemischen Verwandtschaft u.a. dadurch begründet seien, daß bei der chemischen Anziehung die »verschiedene[n] Figuren der [stofflichen] Bestandteile« (ebd. 85) materieller Körper einen wesentlich stärkeren Einfluß auf die Art der Attraktion von einander sehr >nahen< Materien der Körper ausüben würden,'68 als dies bei größeren Entfernungen körperlicher Massen der Fall sei'69 - die »verschiedene[n] Figuren der Bestandteile, [bringen] auch verschiedene Wirkungen bey der Anziehung in der Nähe hervor [...]« (ebd.) - »Anziehung [wird] nur durch die Entfernung, und die Entfernung nur durch die Figuren modifizirt« (ebd. 97). 1

»[...] die Schwerkraft als eine der Materie wesentlich zukommende Bestimmung [beschränkt] sich nicht bloß auf Körper von Ungeheuern Massen und sehr großen Abständen [...], sondern auch unter den kleinen Atomen der Materie, auf unendlich kleine Entfernungen, und [sie muß] also auch bey den chemischen Zusammensetzungen und Auflösungen statt finden [...]« (ebd. 85). 167 Denn bisher sei man, so Morveau, noch nicht »dahin gelangt«, »das allgemeine Gesetz der Schwerkraft [...] auf die Verwandtschaften geradezu [...] an[zu]wenden [...]« (ebd. 96). 168 Siehe dazu ebd. 8 5 f. 1 9 So habe zwar auch Newton bereits die Vermutung geäußert, daß die »chemischen Verwandtschaften [...] als die besondern Anziehungen [...] nach Gesetzen vor sich gehen, welche den Gesetzen der Schwere sehr ähnlich sind«, aber er habe eben noch nicht eingesehen, »daß die besondern Gesetze bloße Modifikationen des allgemeinen Gesetzes sind, und von diesem nur in so fern verschieden erscheinen, als [dies] bey einer sehr kleinen Entfernung [...] [der] Figur der einander anziehenden Atomen eben so viel und noch mehr zur Ausdrückung des Gesetzes beyträgt, indem die Figur alsdann zur Bestimmung des Abstandes einen großen Theil beyträgt.« (ebd. 84^). 169

Ebenso wie sich die Differenzen zwischen den Wirkungsweisen der allgemeinen Schwerkraft (>AdhäsionKohäsion< etc.) aufgrund bestimmter Faktoren (z.B. Oberflächengestalt, quantitative Zusammensetzung, Entfernung materieller Körper voneinander) erklären lassen, kann auch die chemische Verwandtschaft in Berücksichtigung der Bedingungen, unter denen sie wirksam wird, als eine spezielle Manifestationsform der Gravitation angesehen werden: Die Verwandtschaft oder chemische Anziehung ist diejenige Art der Anziehung, welche Körper von verschiedner Natur nicht bloß durch die Oberflächen, wie die Adhäsion, sondern Bestandtheilchen mit Bestandtheilchen, wie die Cohäsion, vereinigt. Die innere Stärke dieser Kraft zeigt sich gleichfalls nur in Entfernungen, welche wir weder messen, noch einmal wahrnehmen können; sie entspringt, wie die Cohäsion, aus dem gegenseitigen Bestreben aller Theilchen, zu einer vollkommnen Berührung [...] Sie ist wesentlich von der Schwere unterschieden, indem sie sich weniger nach den Dichtigkeiten der Massen, als nach den Dichtigkeiten der Elemente richtet, indem sie ungleich mehr von den Größen und Figuren dieser Theile her, als von Gewicht und Form der zusammengehäuften Massen abhängt, (ebd. 107)

Die allgemeine Schwerkraft ist also nach Morveau auf der Ebene der qualitativen stofflichen Veränderung materieller Körper wirksam - »die verschiedenen Grade der Adhäsion, Cohäsion, und Verwandtschaft [sind] nichts andres [...] als Wirkungen einer und derselben allgemeinen Eigenschaft der Materie, d.h. der nemlichen Kraft, nach dem nemlichen Gesetze, nur gleichfalls durch die Figur modifiziert« (ebd. 95). I7 ° Und als augenscheinlichen Beweis seiner >ModifikationsAnhängung< (Adhäsion) und >Verwandtschaft< (Affinität) mit dem >Zusammenhängungsvermögen< (Kohäsion) im Hinblick auf eine prinzipielle Vereinigung des Gesetzes der >Schwere< (Gravitation) mit der >Verwandtschaft< gestellt ist, erklärt Morveau mit dem begrenzten Zustand der »Kenntnisse« (ebd.), über welche die zeitgenössische Physik momentan verfügen würde. 171 So sei die Kraft, welche die Bestandteile einer zusammengehäuften Masse »in einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt vereinigt, und also unmittelbar auf die äussersten Enden des Radii wirkt«, mit der »Kraft« gleichzusetzen, »welche die von einem Mittelpunkt entfernten Theilchen um diesen Mittelpunkt zusammenkettet« (ebd.Figur< zueinander einnehmen (siehe ebd. 1031.). I/I

läßt, so bleibe die Aufgabe nur deshalb zusammengesetzt und unbestimmt, weil uns die zur Auflösung nöthigen Data fehlen« (ebd. 98). Je nach der Wirkung, welche durch das gesetzlich geregelte Zusammenspiel unterschiedlicher wechselseitiger Anziehungskräfte zwischen stofflichen Substanzen hervorgebracht wird (>ZusammenhäufungZusammensetzungAuflösungZerlegungNiederschlagung< etc.),173 differenziert Morveau zwischen verschiedenen Arten von Verwandtschaften. So wird beispielsweise die »Verwandtschaft der Auflösung« (ebd. 109) realisiert, indem eine bestimmte materielle Substanz (>AuflösungsmittelWärmestoffimponderabilen< Materien gegenüber anderen Stoffen beruht ganz wesentlich auf den möglichen Verwandtschaftsbeziehungen, welche ihre stofflichen Bestandteile aufgrund einer spezifischen Affinität gegenüber diesen anderen Stoffen eingehen können. So hatte beispielsweise Friedrich Albrecht Carl Gren auch das Feuer als ein chemisches Mittel definiert, welches in seiner Funktion als »wirkendes Werkzeug (instrumentum chemicum acuvurn) zur chemischen Theilung und Zusammensetzung« (Systematisches Handbuch I i, 52) unterschiedliche Affinitäten zu speziellen Stoffen entwickelt und auf diese Weise die »chemischen Operationen«176 ihrer Verbindung oder Trennung - d.h. im Fall des Einsatzes von Feuer, die >SchmelzungDestillationSublimation< etc. bestimmter Materien (ebd. 53) - in Gang setzt.177 Als weiteres Beispiel einer durch die divergierenden Wirkungsgrade der Verwandtschaften unterschiedlicher Stoffe ausgelösten chemischen Reaktion nennt Gren die »Auflösung« von Stoffen,'78 zu welcher je nach Qualität der Ausgangsmaterien spezielle »Auflösungsmittel«179 erforderlich seien: Bey jeder Auflösung wird der Zusammenhang der Theile des aufzulösenden Körpers gänzlich aufgehoben, und dieser wird so mit dem Auflösungsmittel vereinigt, daß sie nun beyde zusammen einen vollkommen homogenen Körper ausmachen [...] Es muß also nothwendig eine wechselseitige Anziehung zwischen den Theilen des Auflösungsmittels und des aufzulösenden Körpers statt finden, welche stärker ist, als die Kraft des Zusammenhangs zwischen ihren gleichartigen Theilen selbst; oder die Verwandtschaft der sich auflösenden Körper gegen einander muß stärker würken, als ihre Cohäsionskraft [...] Es ist leicht einzusehen, daß die unterschiedenen Körper nach ihrer verschiedenen 17Ä

»[...] daß folglich die Verwandtschaften die einzigen chemischen Mittel zur Zerlegung der Körper [...] bleiben, und aus diesem Grunde [kann] jeder Körper zu den würkenden chemischen Werkzeugen gerechnet werden [...] Die Anwendungen dieser Mittel zur Zerlegung oder Zusammensetzung eines Körpers heißen die chemischen Operationen [...] oder Processe [...]« (Systematisches Handbuch I i, 53). 177 Siehe hierzu auch ebd. § 54ff., S. 5iff. 178 Die »Auflösung« einer stofflichen Materie bedeutet, »[daß] ein Körper sich mit einem ändern ungleichartigen dergestalt vereinigt, daß sie zusammen eine vollkommen homogene Masse ausmachen [...]« (ebd. 54). 179 »Man nennt gemeiniglich denjenigen von beyden Körpern, der durch seine Flüßigkeit [...] oder durch seine Menge hierbey vorzüglich wurksam zu seyn, und den ändern in seine Zwischenräume aufzunehmen scheint, das Auflösungsmittel oder den auflösenden Körper (soluens, Menstruum), den ändern aber, der sich mehr leidend zu verhalten scheint, den aufzulösenden Körper (soluendum) [...]« (ebd.). 1/3

Natur auch ganz unterschiedene Auflösungsmittel erfordern, ohnerachtet sehr viele ein gemeinschaftliches haben können, (ebd. J4f., 59)

Am Beispiel der Auflösung von Salz in Wasser demonstriert auch Gren, wie im Fall der »Verminderung« des Mittels, welches den chemischen Zerlegungsprozeß in Gang gebracht hatte (in diesem Fall das Wasser), der Prozeß der Auflösung wieder rückgängig gemacht werden kann (ebd. 138). Das in Wasser aufgelöste Salz kristallisiert sich erneut in dem Moment aus, in dem ihm das Auflösungsmittel wieder entzogen wird »Die allermehresten Salze [...] scheiden sich aus ihrer Auflösung im Wasser bey der Verminderung dieses ihres Auflösungsmittels durchs Abdampfen [...] in regelmäßigen Formen und Körperarten ab, die man Salzkrystalle [...] nennt.« (ebd.).'8° Bei jeder Art von Verwandtschaft handelt es sich somit letztlich um eine mehr oder weniger komplizierte Realisationsform ein und desselben Wirkungsschemas (Vereinigung zweier unterschiedlicher stofflicher Substanzen bzw. ihrer Bestandteile aufgrund ihrer gegenseitigen Affinität).18' Wie Morveau am Beispiel der Verwandtschaft der Zerlegung< verdeutlicht, versetzt sich der Chemiker durch seine genaue Kenntnis über die Funktionsweise und Anwendbarkeit des Grundprinzips der Affinität in die Lage, natürliche chemische Veränderungsprozesse bewußt zu inszenieren, zu kombinieren und damit zu manipulieren;182 so wird im Fall der chemischen Zerlegung von Stoffen mit Hilfe eines >trennenden< Zwischenmittels beispielsweise die Kenntnis des Sachverhaltes, daß verschiedene Stoffe in ihrem Verhältnis zueinander unterschiedliche Grade der gegenseitigen Anziehung entfalten können, durch den Chemiker auf eine im voraus kal1

1

° »Die Arbeit, um durchs Abdampfen die Salze in den, ihnen eigenthümlichen, Gestalten zu erhalten, heißt das Krystallisieren (crystallisatio). Die Gestalten, unter welchen die Salze beym Krystallisiren anschießen, benennt man gewöhnlich nach geometrischen Körpern. [...] Die Ursach, warum die Salze sich krystallisiren [...] muß wohl freylich in den Grundmassen des Salzes selbst gesucht werden [...] Allein, da wir die Gestalt der Grundmassen nicht kennen, so läßt sich auch deswegen nichts weiter hierüber sagen.« (ebd. 138,

M})·

' »Die Verwandtschaft der Zusammensetzung ist das große Werkzeug der Natur, und die Kunst bey allen ihren Operationen.« (Grundsätze Affinität 112). 182 »Der Chemiker beschäftiget sich bald damit, die Körper zu zergliedern, um ihre Bestandtheile zu entdecken; bald sucht er durch Zusammensetzungen, welche ihm die Natur nicht darbietet, neue Eigenschaften gleichsam zu schaffen; er muß [...] das wieder vereinigen, was er getrennt, wieder zusammensetzen, was er zerstört hatte; er muß der Vergänglichkeit der Natur durch die Kunst seiner Handgriffe Dauer verleihen [...] die Auflösung [dieser Aufgaben, LB.] beruhet bloß auf seiner Kenntniß von den Verwandtschaften. [...] ein Chemiker [lernt] seine Prozesse mit einem Blicke übersehen, nach dem Erforderniß des Gegenstandes einrichten, verändern, und neue Prozesse erfinden« (ebd. 3Oof., 30$). 174

kulierbare Weise umgesetzt. Nach Morveau kann beispielsweise die Zerlegung eines zusammengesetztem Stoffes, wie etwa des Zinnobers, in seine stofflichen Ausgangsbestandteile - Schwefel und Quecksilber - durch die Hinzugabe einer dritten materiellen Substanz (z.B. Eisen) erreicht werden, die sich aufgrund ihrer besonderen Affinität gegenüber dem einen der beiden stofflichen Bestandteile der Ausgangsmaterie mit diesem vereinigt. Dadurch daß nun eine »innigere Vereinigung« »an die Stelle der schwächern« trete, werde zugleich eine Abtrennung eines der beiden Bestandteile (in unserem Falle des Quecksilbers) erreicht (Grundsätze Affinität 113). Das heißt, es findet eine »chemische Analysis« der Ausgangsmaterie statt - »Alle Trennung entsteht durch die größere Verwandtschaft zweyer Substanzen mit einander, als mit einer dritten.« (ebd.) - »Körper A [verläßt] z.B. den Körper B nur [...] und [vereinigt] sich mit dem Körper C [...] wenn die stärkere Verwandtschaft des Körpers A mit C diese Unterbrechung nothwendig macht.« (ebd. 287). Jede Art der Anziehung zwischen den stofflichen Komponenten der materiellen Körper untereinander kann also auch als eine Form der >Wahlanziehung< der materiellen Stoffe bezeichnet werden. Die Verwandtschaft »ist [...] eine Wahlanziehung; d.h. wenn zwey Substanzen sich einer dritten darbieten, so wählt sie eine und läßt die andre fahren; wenn zwey Substanzen sich vereinigt befinden, so wirkt eine dritte dermaßen auf dieselben, daß eine weichen muß.« (ebd. 107). Nach Morveau »beweißt« der Tatbestand, »daß ein Körper den ändern aus der Stelle treibt« (ebd. 203), ein hierarchisch strukturiertes Verwandtschaftsverhältnis zwischen den materiellen Stoffen der Natur. Der jeweilige Rang, den ein bestimmter Stoff innerhalb jener natürlichen Ordnung einnimmt, kann festgestellt werden, indem mittels experimenteller Versuche mit anderen zusammengesetzten stofflichen Substanzen untersucht wird, inwieweit dieser Stoff befähigt ist, andere Substanzen >niederzuschlagenWärmestoffselbstorganisatorischer< Strukturierungsprozesse im Bereich der anorganischen Natur, wie sie im Rahmen der hier unternommenen Darlegung damaliger Theorien der chemischen Affinität vorgestellt wurden, bildet in der Folgezeit eine grundlegende Ausgangsbasis für die Weiterbildung evolutionstheoretischer Anschauungen der materiellen Natur. So wird etwa der zeitliche Prozeß der Ausdifferenzierung und fortschreitenden Entwicklung der anorganischen Stoffe bis hin zur Organisation des pflanzlichen und tierischen Lebens einschließlich der damit verbundenen Fähigkeiten, wie z.B. des Vermögens der Zeugung, des Wachstums, der Ernährung, der Empfindung bis hin zum bewußten Rezeptionsvermögen, zunehmend unter dem Gesichtspunkt von Gesetzmäßigkeiten ins Auge gefaßt, aus deren Sicht sich mögliche Übergänge zwischen der materiellen Existenz des Anorganischen und den Organisationsformen des Lebendigen herstellen lassen. Die damaligen Theorien über die Entstehung, das Wachstum und die naturgeschichtliche Weiterentwicklung organischer Wesen sind vor allem auch mit der Frage beschäftigt, inwieweit sich die Fähigkeit zur Selbstorganisation sowohl im Bereich der anorganischen als auch der organischen Natur im Hinblick auf die Wirksamkeit von Gesetzmäßigkeiten erschließen läßt, welche den herkömmlichen Antagonismus zwischen den Reichen der sogenannten >toten< und der >lebenden< Natur zugunsten von Erklärungsprinzipien überbrücken, die eine grundsätzliche Vermittlung mechanischer und organologischer Vorstellungsmodelle zu leisten vermögen. Für die Naturwissenschaften des 18. Jahrhunderts gewinnt die anorganische Natur in ihrer Funktion als Basis bzw. unterste >Stufe< der erdgeschichtlichen Entwicklung nicht zuletzt aufgrund fortschreitender Entwicklungen im Bereich der damaligen Chemie und Physik eine ausgezeichnete Bedeutung. Um die besondere naturwissenschaftliche Signifikanz zu verdeutlichen, welche das Reich des Anorganischen für eine sich zunehmend etablierende evolutionsbiologische Denkweise beinhaltet, werden im folgenden zeitgenössische Theorien vorgestellt, die sich speziell mit dem Problem der Entstehung und der Wirkungsweise von materiellen Kräften befassen, welche die grundlegenden Eigenschaften des Lebendigen (Zeugung, Wachstum, Ernährung, Reproduktion, Rezeptionsfähigkeit etc.) in Abgrenzung zu rein mechanischen Entwicklungsvorgängen unter dem Gesichtspunkt möglicher systematischer Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Manifestationsformen des Materiellen bedingen. Im Anschluß an diese exemplarische Skizze wird dann zu zeigen sein, welchen Stellenwert das Anorganische innerhalb des >Gesamtsystems< der Natur aus naturphilosophischer Sicht einnimmt.

2.2.3 Der >organische Bildungstriebx und die >Lebenskraft< (J.F. Blumenbach, C.F. Kielmeyer, J.C. Reil, J. Brown, J.A. Röschlaub) In Johann Samuel Traugott Gehlers >Physikalischem Wörterbuch< wird der Begriff des organischen Körpers< unter Hinweis auf ein Vermögen definiert, welches den sogenannten >organisierten< Wesen im Gegensatz zur anorganischen Natur der Mineralien und Gesteine eigentümlicherweise zukommt. Es handelt sich laut Gehlers Definition um die Befähigung des Organismus zu Formen der »Bewegung«, deren Anstoß nicht aufgrund äußerer Bedingungen erfolge, sondern die vielmehr aus »eigner innerer Kraft« verursacht seien und daher in weitgehender Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen »wirklich fortdauert[en]« (Physikalisches Wörterbuch III 389). Gegenüber den Mineralien und Gesteinen, welche nach Gehler lediglich aus der mechanischen »Zusammenhäufung gleichartiger Theilchen« von »aussen her« entstünden (ebd. 388), werde die Entwicklung und der Fortbestand des »organischen Bau[s]« der Pflanzen und Tiere aufgrund von komplizierten Assimilationsvorgängen innerhalb der verschiedenen >Gefäße< und >Organe< eines lebendigen Körpers, wie sie etwa aus äußerer Sicht die Ernährung oder das Wachstum repräsentieren, aufrechterhalten - »[...] die Bewegung der flüßigen Theile in den festen [>GefäßenReproduktionReize< aktiv zu reagieren (Muskelreizbarkeit oder sogenannte >IrritabilitätSensibilitätPhysiologie< der Pflanzen oder der in enger Verbindung mit heilkundlichen Lehren stehenden >Reizpathologieselbst organisierte In Anerkennung der Grenzen der zur Verfügung stehenden theoretischen Erklärungsmodelle sowie der beschränkten apparativen Mittel zur Untersuchung materieller Bildungsvorgänge sieht sich die damalige Naturforschung jedoch nach wie vor gezwungen, angesichts der Unerklärbarkeit von Phänomenen, wie etwa der Entstehung organischen Lebens oder der Entwicklung der Empfindungsfähigkeit und des Bewußtseins von höher organisierten Wesen, aus rein materiellen Ursachen auf eher spekulative Annahmen und Erklärungsweisen zurückzugreifen. Dementsprechend charakterisiert die Theorienbildung innerhalb der Biologie im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Verschränkung von empirischer Erkenntnis und rein spekulativer Hypothesenbildung, die im folgenden kurz am Beispiel einiger zeitgenössischer Vorstellungen über die Genese und die Funktion der organischen Natur vorgestellt werden soll. Denn erst vor dem Hintergrund dieser Konzeptionen wird deutlich, welche maßgeblichen Impulse von der chemisch-physikalischen Analyse stofflicher Reaktionsvorgänge sowohl im Bereich der anorganischen als auch der organischen Natur insbesondere auch für die theoretische Erfassung kontinuierlicher naturgeschichtlicher Entwicklungszusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Naturwesen ausgehen. Mit dem Problem einer naturwissenschaftlichen Erklärung der Lebensentstehung, der Fähigkeit der Materie zur Selbstorganisation sowie des Bestehens entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhänge zwischen der Natur des Anorganischen und den verschiedenen Stufen des Lebendigen beschäftigen sich im 18. Jahrhundert Theorien der Generation und Reproduktion, die sich zwei prinzipiell unterscheidbaren Sichtweisen zuordnen lassen, welche in ihrer jeweiligen Ausprägung letztlich jedoch dem traditionellen Schöpfungsgedanken verpflichtet bleiben. Zum einen wird 180

im Rahmen der Theorie der sogenannten >Präformation< des organischen Daseins die allgemeine Vorstellung vertreten, es handle sich bei der materiellen Ausgangsbedingung eines sich selbständig entwickelnden organischen Körpers um sogenannte >KeimeVergrößerung< und Erweiterung nach mechanischen Gesetzen darstelle. Zum anderen wird innerhalb der damaligen Wissenschaft vom Lebendigen die Auffassung diskutiert, es handle sich bei der Erzeugung, dem Wachstum und der Weiterbildung des Organischen um Prozesse, die im Gegensatz zur präformationistischen These als Vorgang der Entwicklung eines vollkommen neuen Geschöpfs aus einem ursprünglichen >rohen ungeformten Zeugungsstoff< im Sinne einer spontanen Generation selbstorganisatorischer Triebkräfte und Strukturen gedeutet werden können (= sogenannte >EpigenesistheorieEvolutionKeimen< des jeweiligen Wesens vorgebildet (= >präformiertorganischen< Materie bildet den Grundstein einer naturgeschichtlichen Theorie, welche im ausgehenden 18. Jahrhundert die gesamte Natur unter dem systematischen Aspekt einer stufenweisen Höherentwicklung von Wesen begreift, die aufgrund eines durchgängigen Vernunftprinzips im Sinne der klassischen Theodizee als grundsätzlich analoge Manifestationen einer göttlichen Ordnung untrennbar miteinander verknüpft sind - »Alles Seiende gehört zusammen und bildet eine Kette (chaine des etres), die sich wiederum hierarchisch als eine Stufenleiter (echelle) und eine progression graduelle des etres zeigt, innerhalb derer das Höhere das Niedere einschließt und das Niedere auf das Höhere hinweist«.201 Bonnet entspricht mit seiner Vorstellung einer durch das göttliche Prinzip einer allumfassenden Vernunft verbundenen >Kette der Wesen< einer traditionellen Überzeugung der klassischen Metaphysik,202 derzufolge jedes einzelne Naturwesen, ange198

Ebd. 633 u. 630. Ebd. 63 3. 200 Bonnet, zit. nach HBS 630. 101 Ebd. 63 j. 201 Zum ideengeschichtl. Kontext der Idee der >Kette der Wesen< s. A. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, übers, v. D. Turk, Frankfurt a.M. 1985. 199

183

fangen von den kristallin strukturierten Mineralien und Gesteinen bis hin zur Organisation der menschlichen Intelligenz, als Repräsentant jener göttlichen Ordnung fungiert. So greift auch Haller in seiner Vorrede zu Buffons >Histoire naturelle< auf das Bild der >Kette< zurück, um den inneren Zusammenhang der Naturgeschichte im Sinne einer hierarchischen Stufenfolge der Naturwesen zu demonstrieren, die sich ausgehend von der theoretischen Basis einer globalen Strukturordnung als zeitlich progredierendes Geschehen der Wiederholung und Variation letztlich ein und derselben Grundform erweist - »Von der Bildung eines Alexanders zu der Entstehung eines Schneeflockens geht eine ununterbrochene Kette.«20' Die Schwierigkeit einer eindeutigen Abgrenzung präformationistischer von epigenetischen Positionen zeigt sich am Werk Buffons, das innerhalb der damaligen Debatte über mögliche Erklärungsprinzipien der Generation und Reproduktion des Organischen ebenso wie andere zeitgenössische Naturlehren eine Zwischenstellung einnimmt, die durch einen Wechsel von entsprechenden Annahmen gekennzeichnet ist, welcher nicht zuletzt bedingt wird durch fortwährend neue Entdeckungen auf den unterschiedlichsten Gebieten der damaligen chemisch-physikalischen Forschung. Wie bereits erwähnt, geht Buffon in seinem früheren Werk204 von der Idee aus, daß sogenannte >vitale Partikel· die Materie zur Ausbildung selbstorganisatorischer Strukturen befähigten, wobei dieser Vorgang analog zum traditionellen Verständnis der klassischen Mechanik im Sinne eines Zusammenwirkens jener >Partikel< nach den Gesetzen der Newtonschen Gravitation gedacht wird. Das Problem, daß der eigentliche Sachverhalt der Entstehung und Erhaltung organischer Strukturen mittels der mathematisch-mechanischen Grundsätze der traditionellen Naturwissenschaft nicht erklärt werden kann, versucht Buffon durch die Annahme zu umgehen, es handle sich bei den materiellen Ausgangsbedingungen einer organischen Ordnung um immer schon auf vorgängige Weise bestehende Formprinzipien, welche als eine Art »Matrix« (= »moule interieur«) die gesamte »innere und äußere Gestalt des Organismus« durch eine fortwährende Reproduktion und Assimilation bedingten und aufrechterhielten. Es handelt sich also bei Buffon um eine präformationistische Theorie des Organischen, die allerdings in seinem späteren Werk durch die Vorstellung einer spontanen Generation der Lebewesen aus so-

203 204

Haller, zit. nach HBS 607, Anm. 192. Zur Variation von Buffons Thesen in seinem eigenen Werk siehe ebd. 605-610. 184

genannten >organischen Molekülen< in deren Eigenschaft als unvollständige stoffliche Bestandteile der Materie abgelöst und relativiert wird.205 Von Seiten der epigenetischen Theorie erfolgt Mitte des 18. Jahrhunderts eine grundsätzliche Infragestellung von Hallers These einer Präexistenz organischer Strukturformen durch Caspar Friedrich Wolff (17341794). Diese Infragestellung bildet den historischen Ausgangspunkt einer Debatte über Fragen der Entstehung und Fortpflanzung organischer Lebewesen, die bis weit über die Hälfte des 18. Jahrhunderts hinaus andauert.206 Wolff setzte sich in Abgrenzung von der Präformationstheorie das Ziel, das Prinzip der >generatio< des Organischen über die bloße Konstatierung eines vorgängigen Bestehens organischer Formationen hinaus mittels einer empirisch fundierten Darstellung der materiellen Ursachen organischer Körper zu erklären. So geht er zunächst von der Feststellung gemeinsamer Strukturen im Aufbau der vegetabilischen und der animalischen >Gefäße< aus. Im Gegensatz zur Theorie der Boerhaave-Schule, welche die Funktionsweise des lebendigen Organismus mechanisch unter der zusätzlichen Voraussetzung eines bereits vorgefertigten >Bauplans< erklärt hatte,207 vertritt Wolff die These, daß die organische Bildung in ihrer schrittweisen Entstehung und Veränderung aus einander wechselseitig beeinflussenden Komponenten (sogenannte >Gefäße< und >Organe< sowie deren stoffliche Bestandteile) maßgeblich bedingt ist durch eine Kraft, deren unterschiedliche Wirkung sich in den einzelnen Funktionen des Lebendigen (Generation, Ernährung, Wachstum) entsprechend ausprägt. Vorgänge der Bildung, Entwicklung und Erhaltung des lebendigen Organismus, wie z.B. die Ernährung und das Wachstum der Pflanzen, werden von Wolff im Gegensatz zum präformationistischen Erklärungsmodell als Prozesse einer sukzessiven Ausbildung von »differenzierte[n] Strukturen« aus ursprünglich >flüssigen< Materien beschrieben.208 Es handelt sich hierbei um Assimilations- und Umwandlungsprozesse, in deren Verlauf sich die konstitutiven Teile des Organismus, d.h. die einzelnen Organe und Gefäße, in ihrem strukturellen Aufbau nach und nach ausbilden. Der Erklärung der organischen Bildung liegt demnach nicht wie bei der Präformationstheorie die Vorstellung einer vollständig ausgebildeten Struktur zugrunde, sondern es handelt sich vielmehr um den Vorgang einer schrittweisen Generation organischer Formationen, der gesteuert ist durch die Tätigkeit einer >vis vitalisKluft< zwischen der anorganischen und der organischen Bildung impliziert Herder mit der Vorstellung der Naturgeschichte als dynamisches Geschehen der Tätigkeit und Entwicklung ein und derselben genetischen Kraft, deren Wirkungsweise im weiteren Verlauf der Naturgeschichte fortwährend modifiziert wird, die Möglichkeit eines prinzipiellen Übergangs zwischen den antagonistischen mechanischen und organologischen Erklärungsmodellen der Natur. Zur Illustration von Herders Idee einer gesetzlich bestimmten Kontinuität der naturgeschichtlichen Entwicklung seien im folgenden einige Passagen aus seinen Schriften zitiert: Vom Stein zum Krystall, vom Krystall zu den Metallen, von diesen zur Pflanzenschöpfung, von den Pflanzen zum Thier, von diesen zum Menschen sahen wir die Form der Organisation steigen, mit ihr auch die Kräfte und Triebe des Geschöpfs vielartiger werden, und sich endlich alle in der Gestalt des Menschen, sofern diese sie fassen konnte, vereinen. Bei dem Menschen stand die Reihe still; wir kennen kein Geschöpf über ihm, das vielartiger und künstlicher organisirt sei: er scheint das höchste, wozu eine E r d o r g a n i s a t i o n 2 2 8 gebil-

le, sondert die Fremden ab, stößt die feindlichen weg, sie ermattet endlich im Alter und lebt in einigen Theilen noch nach dem Tode fort.« (Herder, Ideen, XIII 2/jf.). 27 Vgl.: »In der Natur ist alles verbunden, Moral und Physik, wie Geist und Körper. Moral ist nur eine höhere Physik des Geistes, so wie unsere künftige Bestimmung ein neues Glied der Kette unsers Daseyns, das sich aufs genaueste, in der subtilsten Progreßion, an das jetzige Glied unsres Daseyns anschließt, wie etwa unsre Erde an die Sonne, wie der Mond an unsre Erde.« (J. G. Herder, Ueber die Seelenwandrung. Drei Gespräche, in: Herders Sämmtliche Werke, Bd. XV, Berlin 1888, 8.241-303, hier 8.275) [im folgenden im Text zitiert: Herder Seelenwanderung, Bd., S.]; »In der Schöpfung ist Alles Zusammenhang, Alles Ordnung; findet also irgendwo nur Ein Naturgesetz in ihr statt [...]« (Herder, Spinoza-Gespräche 557); »Was physisch vereinigt ist; warum sollte es nicht auch geistig und moralisch vereinigt seyn? da Geist und Moralität auch Physik sind und denselben Gesetzen, die doch zuletzt alle vom Sonnensystem abhangen, nur in einer höhern Ordnung dienen.« (Herder, Ideen XIII 20). Zu Herders Versuch, Betrachtungsaspekte der damaligen Naturlehre und Anthropologie unter dem Blickpunkt einer historischen Gesamtbetrachtung der Erd- und Menschheitsgeschichte zu vereinbaren, siehe W. Proß, Kommentar zu Herder, >Spinoza Gespräches in: Johann Gottfried Herder. Werke, Bd. 2, hrsg. v. W. Proß, München, Wien 1987, S. 1033-1043 u. ders., Herder und die Anthropologie der Aufklärung, in: ebd. 1128-1216, bes. I2ooff. 8 Hervorh. v. Verf. Die Bestimmung des menschlichen Daseins innerhalb jener aufsteigenden >Reihe< von >Erdorganisationen< geschieht nach Herder im umfassenderen Rahmen einer auf mathematisch-mechanischen und ideologischen Prinzipien beruhenden Entwicklungstheorie des planetarischen Kosmos. Herder unternimmt mit dem Projekt einer >Natur-< und >Menschengeschichte< den Versuch einer logischen Verknüpfung grundle194

det werden konnte. [...] Durch diese Reihen von Wesen bemerkten wir, so weit es die einzelne Bestimmung des Geschöpfs zuließ, eine herrschende Aehnlichkeit der Hauptform, die auf eine unzählbare Weise abwechselnd, sich immer mehr der Menschengestalt nahte. (Herder, Ideen XIII167) - [...] so nehmen wir doch, selbst in dem, was uns das Kleinste und Roheste dünkt, ein sehr bestimmtes Daseyn, eine Gestaltung und Bildung nach ewigen Gesetzen wahr, die keine Willkühr des Menschen verändert. Wir bemerken diese Gesetze und Formen; ihre innern Kräfte aber kennen wir nicht [...] Was indeß jeder Stein- und Erdart verliehen ist: ist gewiß ein allgemeines Gesetz aller Geschöpfe unsrer Erde; dies ist Bildung, bestimmte Gestalt, eignes Daseyn. Keinem Wesen kann dies genommen werden: denn alle seine Eigenschaften und Wirkungen sind darauf gegründet. Die unermeßliche Kette reicht vom Schöpfer hinab bis zum Keim eines Sandkörnchens, da auch dieses seine bestimmte Gestalt hat, in der es sich oft der schönsten Krystallisation nähert. (ebd.47f.) - Im Blick des ewigen Wesens, der alles in Einem Zusammenhange siehet, hat vielleicht die Gestalt des Eistheilchens, wie es sich erzeugt und der Schneeflocke, die sich an ihm bildet, noch immer ein analoges Verhältniß mit der Bildung des Embryons im Mutterleibe. -Wir können also [...] annehmen: daß, je näher dem Menschen, auch alle Geschöpfe in der Hauptform mehr oder minder Aehnlichkeit mit ihm haben, und daß die Natur bei der unendlichen Varietät, die sie liebet, allen Lebendigen unserer Erde nach Einem Hauptplasma der Organisation gebildet zu haben scheine. [...] alle Wesen der organischen Schöpfung erscheinen also als disiecti membrapoetae. Wer sie studiren will, muß Eins im Ändern studiren [...] (ebd. 67f.)

Blumenbach hatte mit der Vorstellung, der Bildungstrieb versetze in seiner Funktion als belebendes und strukturierendes Prinzip eine zuvor ungeformte Materie erst in ihre eigentliche Tätigkeit (Ernährung, Reproduktion, Regeneration des Organischen als ganzes und in seinen Teilen gender Fragestellungen der zeitgenössischen Naturwissenschaft und Geschichtstheorie. So widmet er sich u.a. auch der Unternehmung, die etablierten Referenz- und Interpretationsschemata der mathematisch-physikalischen und der sozialhistorischen Methode sowie des neuen die Grenzen der Mechanik überschreitenden Erklärungsmodells einer Wissenschaft vom Lebendigen im Hinblick auf eine einheitliche naturgeschichtliche Theorie zu überbrücken. Das fundamental Neue an der Geschichtstheorie Herders besteht darin, daß sie die traditionelle Vernunftlehre bzw. Metaphysik in die Bereiche der Physik, Biologie und Chemie verweist und sich damit in das Zentrum einer neu entfachten Diskussion über den traditionellen Begriff der Natur stellt, deren auslösendes Moment ein revolutionärer Fortschritt in nahezu allen Bereichen der zeitgenössischen empirischen Naturforschung bildet - «Mich dünkt, wir gehen einer neuen Welt von Kenntnissen entgegen, wenn sich die Beobachtungen [...] über Hitze und Kälte, Elektricität und Luftarten, samt ändern chemischen Wesen und ihren Einflüssen ins Erd- und Pflanzenreich, in Thiere und Menschen gemacht haben, zu Einem Natursystem sammlen werden.« (Herder, Ideen XIII 31). Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext von Herders Vermittlungsversuch siehe W. Proß, »Natur«. Naturrecht und Geschichte. Zur Entwicklung der Naturwissenschaften und der sozialen Selbstinterpretation im Zeitalter des Naturrechts (1600-1800), in: Internat. Archiv f. Sozialgesch. d. dt. Lit., Bd. 3, Tübingen 1978, S. 38-67, bes. S. 5 6ff. 195

etc. ), zugleich die Anschauung vertreten, daß ein Übergang zwischen der >leblosen< und der >organisierten< Materie durch die Wirkungsart des Bildungstriebes als »Generalschlüssel«229 der Entwicklungsgeschichte der organischen Natur selbst nicht erklärt werden könne. Die Voraussetzung dafür, daß der Bildungstrieb überhaupt tätig werden kann, bildet nach Blumenbach vielmehr das Vorhandensein eines sogenannten >rohen< >ZeugungsstoffesErregung< jener in der lebendigen Natur beständig wirkenden Kraft gemäß der Vorstellung einer zur Aktivierung des Bildungstriebes notwendigen >Reifung< jenes Stoffes bereits vorgegeben sind. Das Prinzip des Bildungstriebes erklärt also einen Übergang zwischen der leblosen - d.h. der sich selbst nicht aus eigenem Antrieb organisierenden Materie - und der organischen Materie nicht. Vielmehr wird dieser Übergang mit der Auffassung einer spontanen Entstehung >organisierender< Kräfte innerhalb der stofflichen Natur unausgesprochen vorausgesetzt, womit Blumenbach letztlich seiner Grundthese von der unüberbrückbaren Kluft< zwischen dem Anorganischen und dem Organischen widerspricht.230 Seine Idee einer »spontane[n] Umwandlung von roher Materie in organische Materie«231 basiert auf einer Prämisse, welche den Vorgang der Erzeugung lebendiger Kräfte im Bereich der materiellen Natur hinsichtlich seiner stofflichen Verursachung im dunkeln läßt. Blumenbach selbst verweist im Hinblick auf seine Behauptung einer »mächtigen Kluft«, welche die Natur »zwischen der belebten und unbelebten Schöpfung [...] befestigt« habe (Bildungstrieb 1789, 71), auf das ungeklärte Rätsel der Hervorbringung des Bildungstriebes als einer Lebenskraft, deren vielfach modifizierte Wirkungsweisen innerhalb der organischen Natur zwar auf der Grundlage aktueller naturwissenschaftlicher Erfahrungen beschrieben werden können, dessen eigentliche Ursache aber sowohl aus der Sicht der mechanischen als auch der chemischen Naturerklärung und Experimentation unerforschbar zu sein scheint.232 Abschließend wird nun eine Theorie vorgestellt, die in Anknüpfung an Blumenbachs Konzeption des Bildungstriebes eine systematische empirische Analyse möglicher entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen in den verschiedenen organischen Lebewesen auf jeweilige Weise wirksamen Lebenskräften vornimmt, wobei der Sachverhalt einer spontanen Generation des Lebendigen aus anorganischer " 9 HBS6 4 6f. 230 Siehe dazu ebd. Z3 'Ebd.6 44 f. 232 Siehe dazu ebd. 196

Materie im Gegensatz zu Blumenbachs ausdrücklicher These nicht von vornherein ausgeschlossen wird. So entwirft der Blumenbach-Schüler Carl Friedrich Kielmeyer in seiner im Jahre 1793 veröffentlichten Rede >Ueber die Verhältniße der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen eine Entwicklungsgeschichte der organischen Natur, innerhalb derer die Struktur des Lebendigen in ihren komplizierten wechselseitigen Wirkungszusammenhängen aus der evolutionsbiologischen Sicht einer hierarchischen Ordnung von Lebenskräften gedacht wird, die im Sinne der Blumenbachschen Vorstellung als Modifikationen ein und desselben Prinzips in ihrer zeitlichen Entstehung und Verknüpfung beschrieben werden.233 Nach Kielmeyer lassen sich fünf Kräfte differenzieren, die im lebendigen Organismus auf unterschiedliche Weise wirksam sind.234 Ausgehend von der These, daß alle »Organisationen« der Natur durch umfassende naturgesetzliche Wirkungszusammenhänge untrennbar miteinander verbunden sind,2" stellt sich dem Naturforscher neben der Frage nach den materiellen Ursachen jener an den einzelnen Individuen beobachtbaren »Wirkungen« (Verhältnisse 7) sowie einer genauen Untersuchung der Art und Weise der Verknüpfung dieser Wirkungen die Aufgabe, die »Verhältniße« zu erkunden, welche jene Kräfte bei den unterschiedlichen »Gattungen« organischer Lebewesen »unter einander« einnehmen (ebd.). Kielmeyer vertritt dabei die Hypothese, daß die verschiedenen Organisationen der Natur in einer entwicklungsgeschichtlichen Reihenfolge zueinander stehen, die sich konkret an den jeweiligen unterschiedlichen Kräfteverhältnissen innerhalb eines Organismus nachweisen läßt. Das Zusammenspiel der organischen Kräfte innerhalb der lebendigen Wesen ändert sich mit dem Grad bzw. der Stufe, die sie innerhalb der hierarchischen Strukturordnung der Natur ein133

Siehe dazu ebd. 511-515. Zur zeitgenössischen Interpretation und Rezeption von Kielmeyers Rede und ihrer heutigen Anerkennung als eine grundlegende Vorwegnahme moderner evolutionsbiologischer Anschauungen siehe Kai Torsten Kanz in: C. F. Kielmeyer, Ueber die Verhältniße der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Geseze und Folgen dieser Verhältniße, Faksimile d. Ausg. Stuttgart 1793, Marburg a. d. Lahn 1993, Einführung, 8.9-70. 234 C. F. Kielmeyer, Ueber die Verhältniße der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Geseze und Folgen dieser Verhältniße, Faksimile d. Ausg. Stuttgart 1793, Marburg a. d. Lahn 1993, S. 9f. [im folgenden im Text zitiert: Verhältnisse, S.]. 235 »Endlich aber sind auch noch die Wirkungen der Individuen einer Gattung mit denen so oft entgegengesezten Wirkungen der Individuen aller ändern Gattungen in ein System von Wirkungen zum Leben der großen Maschine der organischen Welt zusammenverkettet, und auch diese Maschine scheint in einer Entwicklungsbahn fortzuschreiten, die wir uns wohl am besten unter dem Bild einer nie in sich selbst kreisenden Parabel vorstellen mögen.« (Verhältnisse 5). 197

nehmen. Sowohl die ontogenetische (= individualgeschichtliche) als auch die phylogenetische (= stammesgeschichtliche) Entwicklung der einzelnen Individuen bzw. Gattungen unterliegen also ganz bestimmten Gesetzmäßigkeiten, deren Allgemeingültigkeit sich an jedem einzelnen Organismus auf exemplarische Weise veranschaulicht. Der Naturforscher ist nach Kielmeyer damit beauftragt, über den tatsächlichen Nachweis allgemeiner gesetzlicher Wirkungszusammenhänge der unterschiedlichen organischen Kräfte innerhalb der Natur hinaus zu ermitteln, in welcher Weise sich der natürliche »Gang und Bestand« der »organischen Welt« im Rahmen einer näheren Betrachtung des »Verhältnißes« der organischen Kräfte untereinander in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht weiter aufklären läßt (ebd.7). In seinem Vortrag von 1793 verweist Kielmeyer auf sein geplantes Vorhaben, eine »Geschichte und Theorie der Entwicklung der Organisationen« zu entwerfen - ein Projekt, von dem, wie der Verfasser ausdrücklich bemerkt, die vorliegende Schrift allerdings nur »Bruchstüke« enthalte (ebd. 8, Anm.). Im folgenden wird der Inhalt von Kielmeyers Vortrag aus dem Jahr 1793 kurz skizziert; und es wird dabei zu zeigen sein, mittels welcher Argumente und Thesen der Autor hier eine gegenüber der traditionellen Naturhistorie fundamental neue Naturansicht entwirft. Kielmeyers Rede nimmt moderne evolutionsbiologische Anschauungen hypothetisch vorweg, die - wie die vielfältige Rezeptionsgeschichte der Rede zeigt - bereits im direkten Anschluß an ihre erstmalige Veröffentlichung von naturwissenschaftlicher und philosophischer Seite aufgegriffen und weiterentwikkelt wurden.236 Wie bereits angesprochen, differenziert Kielmeyer verschiedene Wirkungsarten von organischen Kräften. Diese Kräfte stehen in einer hierarchisch strukturierten Beziehung zueinander. Die unterschiedlichen Eigenschaften der einzelnen Kräfte resultieren aus einer Modifikation letztlich ein und desselben Wirkungsprinzips, das sich innerhalb der verschiedenen Stufen der naturgeschichtlichen Organisationen auf eine jeweils unverwechselbare Weise äußert. Zum ersten handelt es sich um die sogenannte »Sensibilität«, welche in der natürlichen Ordnung der Wesen den höchsten Grad einer >Verfeinerung< der organischen Kräfte darstellt und welche Kielmeyer als »Fähigkeit« eines tierischen Organismus bezeichnet, die äußeren »Eindrüke«, die auf seine »Nerven« einwirken, in Form von »Vorstellungen« zu rezipieren (ebd. 9f.). Die Sensibilität repräsentiert damit das Vermögen eines lebenden Wesens, äußere Reize in einer Weise 236

Siehe dazu hier S. io^L, 2.15. 198

wahrzunehmen, so daß dabei mehr oder weniger bewußte Vorstellungen und Empfindungen hervorgerufen werden (z.B. Tast-, Gehörsinn, Sehvermögen). Die nächstfolgende Kraft bildet nach Kielmeyer die sogenannte »Irritabilität« in ihrer Eigenschaft als »Fähigkeit mancher Organe« eines Lebewesens, auf äußere Reize so zu reagieren, daß »Bewegungen« (z.B. Muskelkontraktionen) entstehen (ebd.). Als drittes nennt der Autor die sogenannte »Reproductionskraft«, welche als Vermögen eines tierischen oder pflanzlichen Organismus definiert wird, »sich selbst ähnliche Wesen Theilweise oder im Ganzen nach- und anzubilden« (ebd.). Mit der »Sekretionskraft« bezeichnet Kielmeyer eine vierte organische Kraft. Diese befähigt das pflanzliche oder tierische Wesen dazu, aus den in seinen >Fasern< bzw. >Gefäßen< enthaltenen >Flüssigkeiten< bzw. »Saftmassen« »Materien« »wiederholt an bestimmten Orten abzusondern«. Jene >Materien< sind den im Körper selbst enthaltenen flüssigen Stoffen »unähnlich« (ebd.). Kielmeyer knüpft mit dieser Auffassung an Einsichten der zeitgenössischen Chemie sogenannter pflanzlicher und tierischer >Säfte< an.237 So unterstellt er angesichts beobachteter Funktionen des lebendigen Organismus Absonderungs- und Assimilationsprozesse zwischen den Stoffen, aus denen die pflanzlichen und die tierischen Organismen zusammengesetzt sind. Es handelt sich dabei um Funktionsweisen, deren chemisch-physikalische Gesetzmäßigkeit in prinzipieller Analogie zu den Reaktionsprozessen anorganischer Stoffe gedacht werden, die auf den natürlichen >Wahlverwandtschaften< jener Stoffe basieren. Als fünfte und letzte organische Kraft nennt Kielmeyer abschließend die »Propulsionskraft« - dieser Begriff kennzeichnet die allgemeine »Fähigkeit« einer Pflanze oder eines Tieres, »Flüssigkeiten in den vesten Theilen [d.h. in den pflanzlichen und tierischen Gefäßen, I.B.] in bestimmter Ordnung zu bewegen und zu vertheilen«, womit Vorgänge gemeint sind, die sich etwa bei der Bewegung von »Säften« innerhalb einer Pflanze oder bei der Durchblutung tierischer Gefäße und Organe abspielen (ebd. 9ff.).238 Nach Kielmeyers Ansicht konzentriert sich eine der zentralen Fragen des Physiologen auf den Sachverhalt, daß im direkten Vergleich der natürlichen Organisationen eine »Abänderung« von innerhalb eines individuellen Organismus herrschenden hierarchischen »Verhältnißen« der soeben genannten Kräfte zu beobachten ist (ebd. 12) - ein Sachverhalt, der nach seiner 237 23

Siehe dazu auch Gren, Systematisches Handbuch I i, §373ff., 244^·', §462^., Wobei Kielmeyer einschränkend hinzufügt, daß es sich bei der zu den letztgenannten Vorgängen zählenden »Irritabilität des Herzens« und der »Arterien« allerdings um Phänomene handle, deren Erklärungsursachen noch nicht ausreichend erschlossen seien (Verhältnisse iof, Anm.). 199

Überzeugung die Schlußfolgerung erlaubt, daß sich an dem jeweiligen Grad der >Abänderung< des Verhältnisses der Kräfte, die innerhalb eines organischen Körpers wirken, der entwicklungsgeschichtliche Ort bestimmen läßt, den ein ganz bestimmtes organisches Wesen innerhalb der >Reihenfolge< aller Naturwesen einnimmt. Gleichzeitig bestätigt die Rekonstruktion einer hierarchischen Stufenfolge der Organismen auf der Basis der Feststellung des jeweiligen Ausprägungsgrades der genannten organischen Kräfte nach Kielmeyer die Behauptung, daß sich der Vorgang der naturgeschichtlichen Entwicklung nach allgemeingültigen Gesetzen vollzieht, die sich mittels konkreter Vergleiche zwischen den verschiedenen Formen des Lebendigen systematisch bestimmen lassen. So wirft der Autor auf der Grundlage seiner genauen vergleichenden Beobachtung pflanzlicher und tierischer Organismen beispielsweise die These auf, im Verlauf der natürlichen Entwicklungsgeschichte der Wesen sei - je tiefer man auf den Stufen der Naturgeschichte hinabsteige - eine schrittweise Abnahme von Fähigkeiten festzustellen, deren jeweilige Ausprägung innerhalb bestimmter Organisationen einen höheren oder einen niedrigeren Grad der Entwicklung charakterisiere. So bilde beispielsweise das Nachlassen der mannigfaltigen Ausprägungsformen des Empfindungsvermögens (>Sensibilitäthöher< organisierten Formen der organischen Natur entferne. Was zum Beispiel die innerhalb der natürlichen Ordnung der Wesen auf sublimste Weise ausgebildeten organischen Kräfte der »Sensibilität« und >Irritabilität< in ihrer Funktion als Vermögen der »Empfänglichkeit« eines Organismus für äußere »Eindrüke« angehe, so sei diese Fähigkeit bei den Pflanzen im Vergleich zu den Tieren in einer weit weniger differenzierten Weise ausgeprägt und »nur noch in sehr dunklen Spuren« vorhanden« (ebd. 15). Während der Ausbildungsgrad der Fähigkeit, die innerhalb der allgemeinen hierarchischen Ordnung der Verhältnisse der organischen Kräfte untereinander am höchsten steht (Sensibilität), in dem Maße abnimmt, in dem der Naturforscher die Stufen der natürlichen Organisationen hinabsteigt, ist jedoch gleichzeitig eine Art >Verfeinerung< der Kräfte zu beobachten, die aus Kielmeyers Sicht die nachfolgenden Ränge einnehmen. So verweist der Sachverhalt, daß der Ausdifferenzierungsgrad der Fähigkeit zur Sensibilität im direkten Vergleich von Mensch und Tier zuungunsten des Tieres abnimmt, wohingegen die Fähigkeit zur Irritabilität, d.h. des weitgehend unbewußten Vermögens der 200

Reaktion eines Körpers auf äußere Reize, oder auch die Kraft der Reproduktion eher zuzunehmen scheinen, auf ein kompliziertes Verhältnis des gegenseitigen Ausgleichs von Kräften, das einer allgemeinen gesetzlichen Regelung unterworfen ist. Dieser Regelung zufolge wird das Fehlen bzw. das Zurücktreten bestimmter Kräfte innerhalb eines Organismus dadurch kompensiert, daß dafür gleichzeitig andere Kräfte um so stärker ausgebildet werden: »[...] die Mannigfaltigkeit der möglichen Empfindungen nimmt in der Reihe der Organisationen ab, wie die [...] Leichtigkeit und Feinheit der übrigen Empfindungen in einem eingeschränkten Kreise zunimmt. « (ebd. 17) - »Die Irritabilität nimmt, der Permanenz ihrer Aeusserungen nach geschäzt, zu, wie die Schnelligkeit, Häufigkeit oder Mannigfaltigkeit eben dieser Aeusserungen, und die Mannigfaltigkeit der Empfindungen abnimmt« (ebd. 23). Am Beispiel der »allgemeinsten«, unter den natürlichen Organisationen am weitesten >verteilten< organischen Kraft der »Reproductionskraft« - (ebd. z^i.) läßt sich nach Kielmeyers Überzeugung besonders anschaulich demonstrieren, inwieweit das Verhältnis der verschiedenen organischen Kräfte untereinander durch Formen der gegenseitigen Kompensation geprägt ist, die sich über die angedeutete Bestimmung einfacher hierarchischer Strukturen hinaus in ihrer komplexen Wechselbedingtheit auf der empirischen Grundlage eines direkten Vergleichs unterschiedlicher Organisationsformen organischer Körper diagnostizieren lassen. So verdeutlicht der Tatbestand einer selbständigen Regeneration zerstörter oder verlorengegangener Gliedmaßen z.B. beim Armpolypen nach Kielmeyer, daß die natürliche Einschränkung der Fähigkeit eines Organismus, vollständige »Individuen« »neu« hervorzubringen, beispielsweise durch einen gesteigerten Grad alternativer Formen der Reproduktion (z.B. die sogenannte »partielle« »Reproduction« als »Verwandlung oder wiederholte Erzeugung ihres eigenen Körpers aus sich selbst«, ebd. 3 if.) gewissermaßen ausgeglichen wird - »je weniger sich Reproductionskraft in vielen neuen Individuen äussert, desto mehr äussert sie sich entweder durch Verwandlungen, die der Körper besteht, oder durch ungewöhnliche künstliche Reproduction, oder beides zugleich, oder durch unbestimmtes Wachsthum, oder durch größere Abweichung in den neu hervorgebrachten Bildungen« (ebd. 33). Besonders deutlich zeige sich das Gesetz des reziproken Ausgleichs der Kräfte bei den niederen Klassen der Organisationen, in denen die höheren Kräfte der Sensibilität und Irritabilität ganz zugunsten eines um so intensiver ausgeprägten Formenreichtums der Reproduktionskraft zurückzutreten schienen. Die Empfindungsfähigkeit wird im Fortgang der absteigenden »Reihe der Organisationen« von der »Reizbarkeit« und der »Reproductionskraft« zu201

nehmend verdrängt, wobei die höchste >Unverträglichkeit< zwischen der »Sensibilität« und der »Reproductionskraft« besteht (ebd. 35ff.) - »je mehr alle Arten von Aeusserungen der Reproduction in einem Organismus vereinigt sind, desto eher ist Empfindungsfähigkeit ausgeschlossen, und desto eher weicht selbst Irritabilität« (ebd. 3 5). Das sich in der entwicklungsgeschichtlichen Folge der Organisationen vom einfachsten pflanzlichen Organismus bis hin zur Daseinsform des Menschen wandelnde Verhältnis der organischen Kräfte folgt nach Kielmeyer einem »Plan der Natur« (ebd. 41), dessen gesetzliche Grundlage sich auf die einfache Formel einer sukzessiven wechselseitigen »Compensation« (ebd. 351.) von Kräften bringen läßt, die in einem kontinuierlichen hierarchischen Entwicklungsverhältnis zueinander stehen.239 Diese Kräfte sind innerhalb der »Reihe der verschiedenen Organisationen« (ebd. 39) nach den Prinzipien einer allgemeinen Rangordnung verteilt. Innerhalb der natürlichen Bildungsgeschichte der Wesen gipfelt diese Ordnung letztendlich im »Uebergewicht« einer sich von den übrigen organischen Fähigkeiten zunehmend emanzipierenden »Vernunft« (ebd. 42), wobei diese >Vernunft< von Kielmeyer als ein ausschließlich der menschlichen Organisationsform vorbehaltenes Vermögen definiert wird.240 Der gesetzlich geregelten Veränderung des Kräfteverhältnisses im Verlauf der naturgeschichtlichen Entwicklung der Stämme und Gattungen (Phylogenese) entspricht auf der Ebene der Individualentwicklung eines organischen Wesens (Ontogenese) ein systematischer Entfaltungsprozeß, welcher mit dem allgemeinen naturgeschichtlichen Prozeß in prinzipieller Hinsicht korrespondiert. Kielmeyer stellt ausgehend von der Prämisse, es handle sich bei allen lebendigen Kräften letztlich um Modifikationen ein und desselben Prinzips, die Hypothese auf, daß sich die fortschreitende Ausdifferenzierung der organischen Fähigkeiten im Gang der Naturgeschichte auf der Ebene der Keimentwicklung des künftigen organischen Wesens in analoger Weise vollzieht. So stimmt das Geschehen der schrittweisen Metamorphose und Reifung verschiedener organischer Kräfte im Verlauf der Ausbildung eines Individuums mit den Gesetzen der allgemeinen biogenetischen Entwicklung des Lebens auf der Erde (hierarchische 239 240

Siehe hierzu auch ebd. 4of. »Mit der Vernunft, die sich in seiner [des Menschen, I.B.] Organisation einfand, erhielt er das Vermögen, das Verhältniß der ändern Kräfte, die ihm mit den übrigen Thieren gemein sind, innerhalb gewißer Gränzen nach Belieben abzuändern. Er schuf sich Mikroskope und Fernröhren für Äug und Ohr an, und erhöhte damit seine Sinnesfähigkeit, und wer weiß, ob er nicht auch beim Geruch und Gefühl noch ähnliche Verbesserungen anbringen wird.« (ebd. 42). 2O2

Ausdifferenzierung und wechselseitige Kompensation) grundsätzlich überein. [...] die Simplicität dieser Geseze, die sich in eine so ungeheure Mannigfaltigkeit ergiessen, muß aber noch mehr auffallen, wenn man bedenkt, daß eben diese Geseze, nach welchen die Kräfte an die verschiedene Organisationen vertheilt sind, gerade auch die sind, nach denen die Vertheilung der Kräfte an die verschiedene Individuen der nehmlichen Gattung, ja auch an ein und dasselbe Individuum in seinen verschiedenen Entwicklungsperioden geschah: auch der Mensch und Vogel sind in ihrem ersten Zustande pflanzenartig [...] und erst späterhin schließt sich ein Sinn nach dem ändern beinahe in eben der Ordnung, wie sie in der Reihe der Organisationen von unten auf zum Vorschein kommen, in ihm auf, und was zuvor Irritabilität war, entwikelt sich am Ende zur Vorstellungsfähigkeit, oder wenigstens ihrem unsichtbaren unmittelbarsten materiellen Organ. (ebd.36f.)

Aus der Beobachtung, daß das Hervortreten und Zurückweichen der verschiedenen Kräfte sowohl im Verlauf der ontogenetischen als auch der phylogenetischen Entwicklung des Organischen ganz offensichtlich auf komplexen wechselseitigen kausalen Wirkungszusammenhängen beruht, die wiederum auf einer »gemeinschaftlichen« »materiellen« »Ursache« (ebd. 38) basieren, entwickelt Kielmeyer die Hypothese einer »Kraft«, 241 welche nach seiner Ansicht letztlich das Entstehen der lebendigen Organisation als solche bewirkt haben müsse. Ja, da die Vertheilung der Kräfte in der Reihe der Organisationen dieselbe Ordnung befolgt, wie die Vertheilung in den verschiedenen Entwiklungszuständen des nehmlichen Individuums, so kann gefolgert werden, daß die Kraft durch die bei leztern die Hervorbringung geschieht, nehmlich die Reproductionskraft in ihren Gesezen mit der Kraft übereinstimme, durch die die Reihe der verschiedenen Organisationen der Erde ins Daseyn gerufen wurde [...] so ist es [...] gestattet anzunehmen, daß die Kraft, durch die die Reihe der Gattungen hervorgebracht wurde, ihrer Natur und Gesezen nach mit der, durch die die verschiedene Entwiklungszustände bewirkt wurden, wohl einerlei sei, und wirklich liesse sich auch, wenn hier der Ort wäre, diese Idee auszuführen, zeigen, daß man durch vorsichtig aufgesuchte Analogien dahin geleitet wird, eine solche materielle Ursache zur Erklärung der Entwiklungserscheinungen anzunehmen, die man sich auch bei der ersten Hervorbringung der Organisationen auf unserer Erde wirkend vorstellen kann [...] (ebd. 38f.) 241

»Auf diese Weise wäre also jezt in der Art der Vertheilung der einzelnen Kräfte selbst der Entwiklungsgang des organischen Reichs mitgegründet, und somit also um einen kleinen Rükblik zu thun, durch eine einige Kraft, die hier, wie das Licht in verschiedene Strahlen gespalten erscheint, und deren Strahlen dort in unendlich verschiedenen Verhältnißen gemischt wurden, das kleinste Organ bis hin zur zusammengeseztesten ungeheuren Maschine in Bewegung gesezt, durch eine Kraft, welche vielleicht vom Lichte ursprünglich gewekt wurde, so wie sie noch jezt dessen tägliche Unterstüzung genießt.« (ebd. 431.). 203

Kielmeyer stellt also eine grundsätzliche Parallele zwischen den Verhältnissen der organischen Kräfte innerhalb der Individualentwicklung und der naturgeschichtlichen Reihe der Organisationen auf, die überdies im Rahmen einer vorsichtigen Mutmaßung in Richtung des erdgeschichtlichen Werdegangs überhaupt erweitert wird. Mit dem Hinweis auf eine in seiner Rede von 1793 allerdings nicht näher benannte Kraft, welche die »Hervorbringung« erster »Organisationen« auf der Erde (mit) bewirkt haben könne (ebd. 39), deutet er eine Vorstellung an, die im Gegensatz zur These seines Lehrers Blumenbach die Möglichkeit einer prinzipiellen Überbrückung der >Kluft< zwischen den Existenzformen des Anorganischen und des Organischen anvisiert/42 Mit seiner Idee einer Kontinuität der organischen Entwicklung und der daran anknüpfenden Erwägung einer gemeinschaftlichen materiellen >Ursacheleblosen< Materie hinaus erweitert und damit eine grundsätzliche Überbrückung physikalisch-mechanischer und biologischer Erklärungsmodelle hypothetisch ins Auge faßt, knüpft Kielmeyer u.a. an Gedanken an, die Herder in dem universalgeschichtlichen Entwurf seiner >Ideen< (178494) vorgestellt hatte.243 Im Rahmen seiner konkreten Übertragungsversuche spezieller naturwissenschaftlicher Anschauungen auf das naturphilosophische Konzept einer genetischen >Evolution< der Materie stützt sich Kielmeyer auf empirische Erkenntnisse seiner Zeit, in deren Berücksichtigung sich zentrale Gedanken seiner Rede als gar nicht so »originär«244 erweisen. Beispielsweise erfuhr seine Idee der kontinuierlichen Entwicklungsverhältnisse der organischen Kräfte wichtige Anregungen u.a. durch die Irritabilitäts242

So verweist Kielmeyer z.B. gegenüber dem Mediziner K. J. Windischmann auf seine in der Rede von 1793 vertretene These mit den Worten, daß die »p. 38 der ihnen bekannten Rede« »dort nicht näher benannte Kraft - durch die der Ursprung des Lebens und die Entwickelungen der Erde und der Organismen bewirkt wurde -,« »auf Magnetismus zu interpretieren ist«; auch würden »die Entwicklungen unserer Erde und wieder der Reihe organischer Körper miteinander genau zusammenhängen und eben dadurch [müsse] auch ihre Geschichte verbunden werden [...]« (Kielmeyer, zit. nach Kanz, op. cit. 6if.). Kielmeyer verweist damit auf die Idee, daß zwischen den physikalischen Kräften der Materie und der organischen Entwicklung kontinuierliche Entwicklungsbeziehungen bestünden, deren stofflich-materielle Erschließung allerdings der künftigen Forschung vorbehalten sei. Siehe dazu Kanz, op. cit. 6if. u. HBS 5 izff. 143 »Somit sind Herders Ideen eine der Schlüsselquellen zum Verständnis von Kielmeyers Rede: Ihr entnahm er den Entwicklungsgedanken und den Terminus der >organischen Kräftevis vitalisLebenskraft< soll daher im folgenden kurz eingegangen werden: Im Zentrum der zeitgenössischen Debatte über mögliche Ursachen der Entstehung und Erhaltung des organischen Lebens in der Natur stand der Begriff einer Kraft, welche nach damaliger Auffassung in ihrer Funktion als gemeinschaftlicher »Grund des Lebens«247 unterschiedlichste Äußerungsformen des Lebendigen hervorbringt. Nach übereinstimmender Ansicht betrachtete man diese sogenannte >Lebenskraft< ebenso wie die physikalische Kraft der Schwere als ein Phänomen, das durch eine an sich unbekannte, rational nicht erklärbare Ursache veranlaßt werde. Ganz allgemein wurde mit der Lebenskraft ein Prinzip bezeichnet, das verschiedene Manifestationsformen des Lebendigen, wie z.B. die Muskelbewegung oder die Fähigkeit der Empfindung (Tastsinn, Sehvermögen etc.) und auch seelisch-emotionale Regungen (>GefühlVon der Lebenskraft (1795) von der These aus, daß der »Grund aller Erscheinungen« »belebter Wesen« (»Zeugung«, »Wachstum«, »Ernährung« und »Reproduction«, siehe Lebenskraft 35ff.) in der Materie selbst aufgesucht werden müsse (ebd. 3-5), wobei er sich ausdrücklich gegen eine traditionelle Auffassung der Materie wendet, welche die Natur materieller Stoffe 245

Siehe dazu ebd. 33f. Siehe dazu ebd. 247 J. C. Reil, Von der Lebenskraft, Leipzig 1795, S. 20 [im folgenden im Text zitiert: Lebenskraft, S.]. 246

205

als ein an sich inaktives träges »Wesen« gedeutet hatte, aus dem »kein Leben« abgeleitet werden könne (ebd.)· Nach Reils Ansicht stellen in der anorganischen Natur beobachtete spontane Impulse von Bewegungsformen, wie sie sich etwa in der magnetischen Wirkung elektrisierter Metallspäne oder im Vorgang der Kristallisation von Salzen zeigten, Erscheinungen dar, die in ihrer stofflich-materiellen Verursachung durch die zeitgenössische Chemie und Physik nachgewiesen werden könnten und die möglicherweise auf einen »letzten« gemeinschaftlichen »Grund aller körperlichen Phänomene« (ebd. 6) einschließlich des Lebendigen verwiesen. Nach Auffassung des Autors handelt es sich dabei um einen >Grundgrober< und >feiner< Materien zu suchen seien. Der Grund des Lebens liegt in der sämtlichen Materie, in der Mischung und Form alles dessen, was sichtbar und unsichtbar ist. Die feine Materie kann ebensowenig für sich das Leben bewirken, als die grobe Materie es allein kann. Es muß alles da sein, was da ist, wenn daraus das endliche Resultat: Leben, hervorgehen soll. (ebd. 20) - Alle Erscheinungen in der Körperwelt sind Resultate einer bestimmten Form und Mischung der Materie [...] (ebd.23) - In der Mischung und Form der Materie liegt der Grund der körperlichen Eigenschaften der Natur überhaupt und der Tiere [...] (ebd.9)

Die organische Natur unterscheidet sich nach Reil von der anorganischen in quantitativer und qualitativer Hinsicht durch einen höheren Grad des Vorhandenseins sowie der »Veredlung« sogenannter »feine[r] Stoffe«, die in beiden Naturreichen ursprünglich vorkommen (ebd. i iff.); nach damaliger Auffassung waren hiermit etwa die >ElektrizitätLichtLuft< oder der >Wärmestoff< gemeint (siehe ebd. i4ff.) - »Allein die Uranfänge derselben [der organischen Natur, LB.] liegen gewiß sämtlich schon in dem Schöße der toten Natur vorrätig. [...] Die Pflanzen werden aus Stoffen der toten Natur gezeugt und sind gleichsam die erste Stufe der Veredlung der Materie zu organischen Wesen.« (ebd. 11). Reil schließt allerdings die Möglichkeit nicht aus, daß es sich bei den Materien, aus denen ein tierischer Körper zusammengesetzt ist, um zusätzliche neue »unbekannte Stoffe« und >fremde Materien< handeln könne, welche durch die »Zumischung zur sichtbaren tierischen Materie dieselbe erst vollenden« (ebd. 13). Die in der Natur allgemein waltenden Kräfte bestimmt er als »Eigenschaften« der Materie, mittels derer die Natur spezielle Formen und Bewegungen hervorbringt (siehe ebd. 23). Diese Kräfte sind hinsichtlich der Unterschiedlichkeit ihrer Wirkungsweisen definiert durch die physikalischen und chemischen Qualitäten einer Materie, die als eigentlicher Bedingungsgrund jeder Art von Kraftäußerung innerhalb der anor206

ganischen und der organischen Natur zunehmend erschließbar geworden ist - »Die Materie ist nichts anders als eine Kraft, ihre Akzidenzen sind ihre Wirkungen, ihr Dasein ist Wirken, und ihr bestimmtes Dasein, ihre bestimmte Art zu wirken.« (ebd. 24) - »Das Kochsalz schießt in würflige Kristalle an, weil es Kochsalz ist, das als eine eigentümliche Materie so anzuschießen pflegt.« (ebd.) - »Die [...] tierische Materie schießt in Gefäße, Nerven, Häute, Muskelfasern usw. an, wie das Kochsalz in einen würfeligen Kristall.« (ebd.37).248 Im Unterschied zu den sogenannten »physischen Kräfte[nj«, die allen materiellen Körpern der Natur zukommen,249 definiert Reil die >Lebenskräfte< (»Vegetative Kraft«, »Animalische Kraft«, »Vernunftvermögen«) als »Eigenschaften« der Materie, die durch einen qualitativ höheren Grad ihrer individuellen Verteilung und Komplexität bestimmt sind, mit der Konsequenz, daß z.B. bestimmte stoffliche Reaktionen und Prozesse beispielsweise nur noch in speziellen dafür geeigneten >Organen< (z.B. »Gehirn«) stattfinden können (ebd. 26). Wie Reil einschränkend hinzufügt, handle es sich dabei allerdings um »wunderbare Erscheinungen«, deren Gründe aus der Sicht der damaligen Naturforschung noch weitgehend im dunkeln liegen würden (ebd. 37). In der sogenannten »Mischung« und der »Form« eines Organs ist nach Reil der »Grund seines veränderten Zustandes«, d.h. die Bedingung der Möglichkeit seiner »Aktion«, enthalten (ebd. 52). So zeigt sich der höhere Grad der stofflichen Manifestation eines organischen Körpers beispielsweise auch darin, daß seine einzelnen Organe im Verhältnis eines beständigen wechselseitigen Austausches von »feine[n] Stoffefn]« (ebd. 71) zueinander stehen, von deren »Quantität und Qualität« die »Stimmung der Lebenskraft« eines Organismus abzuhängen scheint (ebd.93) und damit auch seine Fähigkeit, die ihm eigentümlichen »Kräfte« »durch sich selbst zu modifizieren« (ebd. 69). Es handelt sich also bei der sogenannten >Lebenskraft< um eine allgemeine materiell bedingte Fähigkeit, deren Vervollkommnungsgrad nach Reils Überzeugung im Fortgang der Naturgeschichte »von Schimmel bis zum Tier, von den Zoophyten, Gewürmen und Insekten bis zum Menschen« (ebd.) stufenweise ansteigt.

14

Vgl.: »Eine solche Anziehung tierischer Materie nach Gesetzen einer chemischen Wahlanziehung ist Kristallisation, die ich zum Unterschiede von der Kristallisation der Fossilien tierische Kristallisation nennen werde.« (ebd. 39). 249 »Physisch wirkt alles in der Körperwelt: auch die belebte organische Materie und alle Kräfte lassen sich zuletzt sämtlich auf Verschiedenheit der Grundstoffe und auf eine einzige allgemeine Eigenschaft derselben, auf Wahlanziehung, zurückführen.« (ebd. 25, Anm. i). 207

Im ausgehenden 18. Jahrhundert wurde die Diskussion über mögliche Entstehungsursachen und Wirkungsweisen einer Lebenskraft als Prinzip, welches die organischen Strukturen des Lebendigen von einfacheren Äußerungen der Bewegung (Ernährung, Wachstum) bis hin zu komplexen Formen des tierischen und menschlichen Wahrnehmungsvermögens aus der Sicht einheitlicher materieller Wirkursachen hervorbringt und lenkt, intensiv von seilen der Chemie, Medizin und Biologie geführt. Maßgeblich beeinflußt wurde diese Diskussion durch eine Schrift, die der schottische Mediziner und Physiologe John Brown verfaßt hatte und die in einer deutschen Übersetzung im Jahre 1796 unter dem Titel >System der Heilkunde< erschien. Dem naturwissenschaftlichen Kenntnisstand ihrer Zeit entsprechend, ist auch der Argumentationsgang der Schrift Browns durch eine charakteristische Durchdringung rein spekulativer Anschauungen mit experimentell fundierten empirischen Erkenntnissen bestimmt.250 Einen grundlegenden Ausgangspunkt für die damaligen Debatten über das Phänomen der Lebenskraft bildete vor allem Browns Versuch einer definitiven Abgrenzung des Lebendigen gegenüber der sogenannten >leblosen< Natur. So definiert Brown die >Lebendigkeit< des Organismus im Sinne einer Fähigkeit, durch die Einwirkung innerer und äußerer »Reize« (»stimuli«) >erregt< zu werden.25' In allen Zuständen des Lebens unterscheiden sich der Mensch und andere Thiere von sich selbst in ihrem todten Zustande, oder von irgend einer ändern leblosen Materie nur durch diese Eigenschaft allein: daß sie durch äussere Dinge sowohl, als durch gewisse ihnen selbst eigenthümliche Verrichtungen auf eine solche Art affizirt werden können, daß die ihren lebendigen Zustand karakterisirenden Erscheinungen, d.h. ihre eigenen Verrichtungen eine Folge davon sind. Da dieser Satz alles, was Leben hat, begreift, so leidet er sicher auch auf die Pflanzen Anwendung. (Heilkunde 3)

Die »Erregung« bezeichnet nach Brown den Vorgang der >Affizierung< eines Wesens oder auch einer einzelnen Muskel- bzw. Nervenfaser oder eines bestimmten Organs durch spezielle erregende >KräfteÜber den Bildungstrieb< (1789) von Blumenbach und die Abhandlung Reils >Von der Lebenskraft (1795). Einen grundlegenden Einfluß übten Kielmeyers Vorstellungen über die Kontinuität des Verhältnisses der organischen Kräfte auf die frühromantische Naturphilosophie und die daran anschließenden Entwürfe einer philosophischen Naturwissenschaft aus.262 So finden sich zentrale Ideen Kielmeyers vor allem auch in Friedrich Wilhelm Joseph Schellings naturphilosophischen Frühschriften (>Ideen zu einer Philosophie der Natur< 1797, >Von der Weltseele< 1798,) sowie insbesondere auch in den Schriften des Mineralogen und Philosophen Hendrik Steffens (>Beiträge zur innern Naturgeschichte der Erde< 1801). Stellvertretend für den ideengeschichtli2il

Siehe dazu auch ebd. III 333-341; »Die Einheit, die Zusammenstimmung zu einem gemeinsamen Zwecke (Assimilazion und Reprodukzion) aller Lebensbewegungen der in mittelbarer oder unmittelbarer Verbindung mit einander stehenden Organe, Eingeweide, Gefässe, u. s. f. setzt das vegetabilische Leben. Die Lebensbewegungen der höheren Organisazionen im organischen Individuum [...] setzen das animalische und menschliche Leben, die höheren Stufen des Lebens.« (ebd. 341). 1 2 Siehe dazu Kanz, op. cit. 50-59.

chen Kontext der frühromantischen Naturphilosophie werden im folgenden zentrale Gedanken der beiden letztgenannten Autoren skizziert. Im Mittelpunkt der Darlegung steht die Frage erstens nach den philosophischen Annahmen, die der Idee eines kontinuierlichen Übergangs zwischen der Welt des Anorganischen und des Organischen zugrunde liegen, wobei insbesondere die Rolle des Anorganischen in seinem allgemeinen philosophischen Verständnis als materielle Basis einer naturgeschichtlichen >Evolution< des Geistes (>schlafender GeistNatur< und des >Geistes< exemplarisch erläutert werden. Die frühromantische Naturphilosophie unternimmt eine systematische Rekonstruktion des Begriffs der >Identität< des Subjektiven und des Objektiven in seiner theoretischen und praktischen Funktion als reflexiv unhintergehbare Prämisse des Selbstbewußtseins und des Wissens überhaupt, und sie bildet damit einen gedanklichen Hintergrund, vor dem sich erst die epistemologische Rolle erklärt, welche der Wissenschaft des Anorganischen in direkter Gegenüberstellung zur philosophischen und ästhetischen Wirklichkeitswahrnehmung zugewiesen wird. Es wird somit auch zu zeigen sein, welchen Stellenwert die Kunst in ihrer Funktion als >Organon der Philosophie< (Schelling, >System des transzendentalen Idealismus< 1800) innerhalb eines Gesamtsystems der Philosophie gewinnt, welches die Bereiche des Naturhaften und des Geistigen umfaßt.

2.3

Die naturphilosophische Konzeption des Anorganischen

2.3.1 Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophie (F.W.J. Schelling) Im folgenden soll das philosophische Bedeutungsfeld zentraler physikalischer, chemischer und biologischer Theoreme des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wie sie soeben im Rahmen der Darlegungen über die damalige naturwissenschaftliche Reflexion von Phänomenen der Schwerkraft, der chemischen Verwandtschaft der Stoffe und des organischen Bildungstriebes bzw. der sogenannten >Lebenskraft< vorgestellt wurden, am Beispiel der gedanklichen Entwürfe des frühromantischen Naturphilosophen Schelling in Umrissen gekennzeichnet werden. Im Mittelpunkt dieser exemplarischen Skizze steht die Frage, welchen Status insbesondere die Welt des Anorganischen innerhalb eines philosophischen Denkens ge216

winnt, das sich vor die Aufgabe gestellt sieht, systematische Bezüge zwischen den Sphären der Transzendentalphilosophie, Naturwissenschaft und Ästhetik ausgehend von der Prämisse eines philosophischen Grundsatzes zu rekonstruieren, der die Bedingung der Möglichkeit von Wissen und Bewußtsein garantieren soll.263 In Schellings naturphilosophischen Entwürfen werden aktuelle Erkenntnisse und Theorien aus dem Bereich der zeitgenössischen Chemie, Physik und Biologie unter dem spekulativen Gesichtspunkt allgemeiner Prinzipien integriert, welche die materielle und intelligible Einheit des Weltganzen insofern verbürgen, als sie aus der übergreifenden Struktur des philosophischen Wissens theoretisch abgeleitet werden. Dem Selbstverständnis der idealistischen Philosophie zufolge bildet die Vorstellung einer göttlichen Vernunft in ihrer Eigenschaft als begrifflich unhintergehbare absolute Identität des Subjektiven und des Objektiven des Bewußtseins die grundlegende Voraussetzung eines Reflexionsprozesses, innerhalb dessen die schrittweise Annäherung des Erkennenden (= >GeistNaturselbstorganisatorischer< chemischer und physikalischer Strukturbildungsprozesse (z.B. der Kristallisation oder des Galvanismus) diagnostiziert der Philosoph »Impuls[e] der Spontaneität«, welche die Natur in ihrer eigentlichen Funktion als eine objektive Äußerungsform der »ideelle[n] Thätigkeit« der Vernunft erkennbar werden lassen.309 Die Natur >läutert< sich durch die dynamische Kraft der immanenten Tätigkeit eines schlechthin Identischen310 gewissermaßen selbst zu immer höheren Stufen der Selbstobjektivierung; und sie enthüllt dabei ihren eigenen unerschöpflichen Gehalt als endliche Erscheinungsform eines Unendlichen, das sich im Sinne eines endlosen zyklischen Selbstreproduktionsvorgangs fortwährend als solches realisiert. Wie nun keine Welt ist, die an sich real wäre, so nothwendig auch keine, die an sich ideal, da sie es nur im Gegensatz seyn könnte. Sondern alles ist dasselbe dem Wesen nach, nämlich unendliche Affirmation Gottes. Dasselbe, was du dort als Erde zerfallen, als Krystall anschießen, als Metall sprossen, oder als Pflanze und Thier sich ausbreiten siehst in lebende Glieder, dasselbe regt sich auch hier in eigenthümlicher Bildung, nur als Position auch erscheinend, da es dort unter dem Siegel des Seyns beschlossen schien. (Aphorismen zur Einleitung 672) 307

30 8

»Die Bildung jedes Steins (z.B. der Durchgang der Blätter) bietet Probleme dar, die nicht aufzulösen sind, ohne die erhabendsten Ideen.« (Schelling zit. n. Heuser-Keßler, op. cit. 4) >»Die : positive Kraft

erweckt erst die negative. Daher in der ganzen Natur keine dieser Kräfte ohne die andre da ist. [...] In dieser ursprünglichen Antithese liegt der Keim einer allgemeinen Weltorganisation. Diese Antithese wird von der Naturlehre schlechthin postulirt. Sie ist keiner empirischen, sondern nur einer transcendentalen Ableitung fähig. Ihr Ursprung ist in der ursprünglichen Duplicität unsers Geistes zu suchen, der nur aus entgegengesetzten Thätigkeiten ein endliches Produkt construirt.« (Weltseele z6f.) - »Diese Differenz, rein gedacht, ist die erste Bedingung aller [Natur-]Thätigkeit, die Produktivität wird zwischen Entgegengesetzten [...] angezogen und zurückgestoßen [...] Das Thätige im Wechsel ist die in sich selbst entzweite Produktivität. [...] Die elektrischen Erscheinungen sind das Schema der zwischen Produktivität und Produkt schwebenden Natur. Dieser Zustand des Schwebens, des Wechsels von Anziehungs- und Zurückstoßungskraft ist der eigentliche Zustand des Bildens.« (Einleitung Entwurf 376 u. ebd. Anm. 2). 309 Schelling, Anhang zu dem Aufsatz, in: Zeitschrift f. spekulative Physik, Bd. 2, H. i, S. 145. 3 '°»[...] das Einfache läßt sich nur dynamisch denken [...]« (Einleitung Entwurf 361). 240

Die ausgezeichnete Funktion, welche der Gegenstandsbereich der anorganischen Natur innerhalb des frühromantischen Systems der Naturphilosophie in seinem Verständnis als materielle Basis der naturgeschichtlichen >Evolution< des Geistes gewinnt, erklärt sich zum einen aus philosophischer Sicht unter dem spekulativen Betrachtungsaspekt der universalen Struktur eines genetisch verfaßten Bewußtseins; zum anderen erweist sich die besondere Bedeutung des Anorganischen aus der aktuellen Perspektive einer naturwissenschaftlichen Forschung, welche die Triebkräfte und Strukturen des erdgeschichtlichen Prozesses unter dem Gesichtspunkt der chemisch-physikalischen Analyse ihrer stofflich-materiellen Bedingungen zunehmend ins Auge faßt. Mit Bezug auf konkrete Erkenntnisse im Bereich der geologischen Erforschung der Erdgeschichte und einer daran anknüpfenden systematischen Exploration historisch-genetischer Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Daseinsstufen durch die zeitgenössische Chemie, Physik und Biologie sieht sich die Naturphilosophie in ihrer Hypothese bestätigt, daß es sich bei den unterschiedlichen Existenzformen der anorganischen und der vegetabilischen Materie sowie dem Gestaltenreichtum der tierischen und menschlichen Organisation um spezielle Ausprägungsformen letztlich ein und derselben in ihrer vielfältigen funktionalen Ausdifferenzierung nachweisbaren Tätigkeitsgesetze handeln müsse. Entsprechend der naturphilosophischen Annahme, daß sich die bisher unüberbrückbare Kluft zwischen der mechanischen (- >leblosenNaturgeschichte der Erde< exemplarisch angedeutet werden sollen.315 Beeinflußt durch die philosophische Diskussion der Fichteschen >Wissenschaftslehre< sowie insbesondere auch durch Schellings naturphilosophische Schriften - vor allem die >Weltseele< von 1798 und die >Ideen< von I7993'6 _ entwirft der Philosoph, Mineraloge und Freiberger Werner315

31

Die folgenden Ausführungen stützen sich primär auf H. Steffens' Schriften >Beyträge zur innern Naturgeschichte der Erde. Erster TheilGrundzüge der philosophischen NaturwissenschaftGeognostisch-geologische Aufsätze, als Vorbereitung zu einer innern Naturgeschichte der Erde«, Hamburg 1810 [im folgenden im Text zitiert: Aufsätze, S.] sowie die naturwissenschaftliche Erstlingsschrift >Ueber Mineralogie und das mineralogische Studiums Altona 1797 [im folgenden im Text zitiert: Über Mineralogie, S.]. »[...] die Lektüre dieser beiden Werke >war der entscheidende Wendepunkt in meinem Leben, und hat mein ganzes Dasein elastisch gehobene« (Steffens, zit. nach W. A. Koch, in: H. Steffens, Was ich erlebte, hrsg. v. W. A. Koch, Leipzig 1938, S. 74, Anm.). Vgl. Steffens' Schilderung der ersten Begegnung mit Schelling in Jena im Jahre 1799: »Er [Schel2

43

Schuler Steffens in seinen naturphilosophischen Schriften eine Betrachtung erdgeschichtlicher Entwicklungsvorgänge, die auch die spezifische Rolle thematisiert, welche den geologisch-mineralogischen Wissenschaften auf der Grundlage einer fortschreitenden chemisch-physikalischen Exploration der stofflich-materiellen Beweggründe und Prinzipien der Naturgeschichte innerhalb des naturphilosophischen Gedankengebäudes eingeräumt wird. Für Steffens bildet Schellings spekulative Naturanschauung den theoretischen Ausgangspunkt, von dem ausgehend sich die empirische Erforschung der Erdgeschichte als objektiv erfahrbarer Prozeß einer fortschreitenden Indifferenzierung der >reellen< und der >ideellen< Seite der absoluten Selbstreflexion des Geistes3'7 in ihrer philosophischen Relevanz für das menschliche Selbstbewußtsein erst enthüllt.318 Aus der Perspektive des Geologen stellt die Folge der Gesteinsschichten des Erdkörpers mit den darin enthaltenen versteinerten Überresten von Pflanzen und Tieren eine zeitliche Struktur von »Bildungsepochen« (Grundzüge 166) dar, in denen dem Betrachter die historische >Vergangenheit< der Natur einschließlich seines eigenen Daseins anschaulich vor Augen geführt wird. Was wir in den Gebirgen blos in den Residuen erkennen, das finden wir, als einen noch immer thätigen Prozess, der jene Residuen absetzt, bey den Pflanzen und Thieren. - Von jetzt an sehen wir also in den ältesten Gebirgen [...] nur die erste Regung der animalisirenden und vegetativen Tendenz der Natur. [...] in den ältesten Gebirgen finden wir die Versteinerungen von der niedersten Thierstufe, allmählig treten in den Jüngern Gebirgen die Ueberreste der höhern hervor, und nur in den jüngsten finden wir die Ueberreste der Säugethiere. - Also: dieselben Stufen der Animalisation, die jetzt alle auf einmal da sind, sehen wir die Natur von dem ersten Punct der Entstehung der Animalisation überhaupt, wirklich allmählig durchlaufen, bis der Mensch das Werk krönt und vollendet. [...] Nachdem [...] der erste Keim der bestehenden Individualität in der zerling, LB.] sprach von der Idee einer Naturphilosophie, von der Notwendigkeit, die Natur aus ihrer Einheit zu fassen, von dem Licht, welches sich über alle Gegenstände werfen würde, wenn man sie aus dem Standpunkt der Einheit der Vernunft zu betrachten wagte. Es riß mich ganz hin, und ich eilte den Tag darauf, ihn zu besuchen.« (Steffens, Was ich erlebte 73). 317 »Was mich damals besaß und beherrschte, hoffte ich jetzt als eigenen Besitz zu erlangen. Wurde es doch ausgesprochen als das Letzte, als das Ziel aller Reflexionen: daß diese sich in ihrem eigenen Anfangspunkte erkennen und in dem ruhigen Reichthum des ursprünglich gesunden Sinnes sich selbst in ihrer tiefsten Bedeutung wiederfinden würden.« (ebd. 106). 318 »Nun ist aber die Natur ihrem Wesen nach die ganze Identität unter der Potenz des Objektiven. In ihr muss also das Subjektive selbst als solches, als Aktivität also, objektiv werden [...]« (Grundzüge 66) - »Die Natur ist ihr eignes Erkennen; daher kehrt sie durch das Erkennen (in der Geschichte) ihre Gewalt gegen sich selbst, und wird Naturwissenschaft - Physik.« (ebd. 12). 244

streuten noch nirgends fixirten animalisirenden Thätigkeit auf der einen, und vegetativen Thätigkeit auf der ändern Seite, geworfen war, stieg die, jetzt mehr und mehr individualisirende Natur die Stufenleiter der Organisation allmählig hinauf, bis sie beym Menschen den Gipfel alles Individualisirens erreichte. (Beiträge 83, 88f.)3I?

Die leitende Funktion, welche die Geologie innerhalb des Prozesses der sukzessiven Ausbildung moderner naturwissenschaftlicher Einzeldisziplinen gewinnt, besteht nach Ansicht von Steffens darin, daß die Beschreibung der Geschichte der Erde, wie sie die Geologie unter ausdrücklichem Einbezug des vielfältigen Zusammenspiels unterschiedlichster Einflüsse und Faktoren des erdgeschichtlichen Entwicklungsprozesses von seinen Anfängen bis hin zur Organisation des pflanzlichen und tierischen Lebens unternimmt, ein »konzentrirte[s] Bild der ganzen Naturwissenschaft« (Aufsätze 15 j) bietet. Die einzelnen Zweigdisziplinen machen es sich dahingegen zur Aufgabe, die gesamte naturgeschichtliche Entwicklung der Wesen bis zum Menschen im Kielmeyerschen Sinne einer stufenweisen >Evolution< ein und derselben produzierenden Tätigkeit unter jeweils ausgewählten Betrachtungsaspekten zu begreifen. Durch die ganze Organisation sucht die Natur nichts als die individuelleste Bildung. [...] Je höher die Evolutionsstuffe ist [...], desto mehr bezeichnet sie also die Unendlichkeit des Producirens selbst [...] die Stuffe, die in sich am meisten die Unendlichkeit der Natur einschliesst, ist die individuellste. [...] Was ich als bekannt voraussetze, ist das allmählige Sinken der Reproductions-Kraft und Hervortreten der Irritabilität und allmählige Hervortreten der Sensibilität von den untersten Thierstuffen bis zu dem Höchsten hinauf. [...] So tritt die Natur durch immer grösseres Individualismen dem Reiche der Intelligenzen immer näher, und alles was sich da zeigt, das liegt, als dunkle Anlage schon in der bewusstlosen Natur. (Beiträge 275, 273, 277, 316)

Im räumlichen Aufbau der Gesteinsschichten repräsentieren sich dem Geologen die Bildungsepochen der Erde im Hinblick auf eine natürliche Chronologie der Wesen. Deren Entstehung und Entwicklung ist bedingt durch Gesetzmäßigkeiten und Umstände, die sich in ihrer spezifischen Auswirkung auf der Grundlage der geologischen Tatsachen des Erdkörpers rekonstruieren lassen. Wesentliche Ausgangspunkte hinsichtlich einer Beantwortung der Frage danach, »wie sich die Erde gebildet hat« (Beiträge 93), bietet nach Steffens die systematische Erforschung der stofflich-mate319

»[...] durch Buffons geistreiche Darstellung lernte ich zuerst die gewaltsame Zeit kennen, eine gärende Bildung der Oberfläche der Erde in sich selbst [...] Daß die Erde ganze zerstörte Geschlechter der Thiere und Pflanzen in sich barg, wurde mir jetzt erst bekannt. [...] Es war dieselbe Erde, mit den selben Geschöpfen, die wir jetzt kennen, welche die Vergangenheit der Natur bildete [...]« (Steffens, Was ich erlebte 35).

riellen Grundlagen des erdgeschichtlichen Prozesses.320 Nach Auffassung des Geologen und Mineralogen liegt in der anorganischen Natur in anfänglicher Weise alles beschlossen, was in chemisch-physikalischer Hinsicht als die eigentliche materielle Bedingung der Tendenz der Natur in Richtung einer zunehmenden Ausdifferenzierung und Individualisierung bezeichnet werden kann - »In der anorgischen Natur ist freilich auch Alles in Allem, aber nur als Möglichkeit für eine Zukunft [...] gesetzt [...] als eine Identität des Werdens und des Seyns.« (Grundzüge 6if.). Das besondere Interesse der Geologie und Mineralogie richtet sich daher auf den Versuch einer naturwissenschaftlichen Beantwortung der Frage, wie sich bestimmte »Qualitäten« von Materien, wie sie beispielsweise die einfachen anorganischen Stoffe vorstellen, »zu Functionen einer individuellen Organisation steigern können« und »wie sich diese Organisationen, wenn sie einmahl entstanden sind, von Stufe zu Stufe fort[zu]bilden« vermögen (Beiträge 95). [...] wie [kann] sich die allgemeine Organisation, in einzelne Organisationen trennen? [...] Wie sich auf der Erde die doch mit allen ihren Qualitäten nur ein Selbstständiges ist, selbstständige Individualitäten, zu einer eignen, für sich bestehenden, engeren Welt bilden, und gegen die allgemeine behaupten [...]? (ebd.) - Das Erwachen der Organisation ist nur aus dem Organismus der Erde im Ganzen, wie im Einzelnen, zu begreifen. (Grundzüge 129)

Allgemeinen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit folgend, erkennt auch Steffens u.a. in der physikalischen Kraft der Schwere321 sowie der chemischen Verwandtschaft der Stoffe natürliche Phänomene, welche grundlegende Prinzipien einer fortschreitenden Ausdifferenzierung der Materie322 zu immer höher organisierten Daseinsformen einschließlich der menschlichen Organisation repräsentieren. Bey der Anwendung dieser Principien zur Erklärung der Naturphänomene verfolgen wir die sich bildende Erde, von einer Stuffe der Bildung zur ändern. Alles Körperliche der Erde wird uns nur als das, eine gewisse Stuffe der Bildung Bezeichnende, erscheinen. Diese Progression in der Bildung wissenschaftlich verfolgt, constituirt die wahre Geschichte der Erde [...] (Beiträge 96) 320

»[...] nur eine wahrhaft wissenschaftliche Geologie [...] läßt uns hoffen, in die Natur des anorganischen Processes einzudringen [...]« (Steffens, Beschluss der Recension der neuesten naturphilosophischen Schriften des Herausgebers [Schelling, LB.], in: Zeitschrift für spekulative Physik, Bd. i, H. 2 (1800), S. 88-121, hier S. 119). 321 »Die Schwere, absolut betrachtet, druckt das Seyn der Natur schlechthin aus, so, dass alles Einzelne und Besondere durch sie in der allgemeinen Einheit der Natur schlechthin gesetzt wird, und mit allen Potenzen zugleich, als das schlechthin Eine.« (Grundzüge 25). 322 »Das Absolute, in so fern es die Indifferenz aller Dimensionen ist, ist die Materie.« (ebd. 23) - »Das Starreste der Erde - ihre feste Masse - ist das Bild der unendlichen Vergangenheit.« (ebd. 86). 246

Der »Mineralogie« kommt nach Steffens in ihrer spezifischen Funktion als »Theil der Naturgeschichte, der sich bloss mit den unorganischen Körpern beschäftigt« (Über Mineralogie 8o),323 eine Priorität innerhalb des naturwissenschaftlichen Systems zu, weil sie die kontinuierliche »Folge« (ebd. 45) der Mineralien und Gesteine auf der einheitlichen Grundlage einer chemisch-physikalischen Analyse ihrer stofflichen Beschaffenheit und Struktur rekonstruiert - »Ein natürliches Mineralsystem muss die ganze innere Zweckmässigkeit des unorgischen Reichs zeigen. Es wird nie möglich seyn, ein solches System vollendet aufzustellen, aber Fragmente eines solchen Systems so weit Erfahrungen uns führen, zu sammeln, ist Endzweck der gesammten Mineralogie [...]« (ebd. 120). Die Mineralogie beschäftigt sich im wesentlichen mit der systematischen Klassifikation der anorganischen Stoffe und Materien als »Materialien«, »aus welchen das Ganze besteht« (ebd. 117). Die paradigmatische Signifikanz, welche die mineralogischen und geologischen Disziplinen nach Steffens für die gesamte naturwissenschaftliche Systembildung des ausgehenden 18. Jahrhunderts gewinnen, beruht also ganz wesentlich darauf, daß beispielsweise im Rahmen der mineralogischen Klassifikation der Mineralien und Gesteine basale Ausgangsstoffe324 der materiellen Natur im Hinblick auf ihre Funktionen als chemisch-physikalische (Re-)Agenzien der erdgeschichtlichen Entwicklung berücksichtigt werden. Es handelt sich also dabei vor allem um chemische und physikalische Funktionen materieller Stoffe, welche die speziellen >Mischungsverhältnisse< sowie die daraus resultierenden individuellen Eigenschaften der anorganischen und der organischen Materien auf natürliche Weise verursachen und somit zugleich auf die konstitutiven Bedingungen einer progressiven Organisation und Gestaltung der materiellen Bildung als solcher verweisen325 - »Aber drängen uns nicht schon die Erfahrungen der jetzigen empirischen Physik zu der Vermuthung, dass alle Qualität jenen [...] Stoffen [...] ihren Ursprung zu verdanken haben, dass sie gleichsam das Begrenzende aller Erdqualität ausmachen, dass sie den Kreis bezeichnen inner323

Nach Steffens ist die »Naturgeschichte« die »Wissenschaft, welche sich mit allen (sowohl organischen als auch unorganischen) Geschöpfen unsers Erdbodens bekannt zu machen, und die gegenseitigen Verhältnisse dieser Körper zu erforschen sucht [...]«(Über Mineralogie 79). 324 Steffens nennt vier Stoffe: »Kohlen- und Stickstoff, Wasser- und Sauerstoff«, siehe Beiträge 9if. 3M So kann nach Steffens die Frage »Worauf soll aber der Mineraloge sein System gründen?« im Rahmen einer chemischen und physikalischen Analysemethode beantwortet werden, welche die »Mineralien« »als Materialien anfsieht], aus welchen das Ganze besteht [...]« (Über Mineralogie 115, 117).

halb welchen alle Mischungen und Veränderungen auf der Erde eingeschlossen sind, dass endlich alle Verschiedenheit der Qualität aus der unendlich variirenden Verschiedenheit in der Proportion dieser Stoffe entspringt?« (Beiträge 9if.)·

248

Der Stein im Werk des Novalis

3.1

Zur Topographie des >Mineralischen< im Gesamtwerk

3.1.1 Novalis' Affinität zur Welt der Mineralien und Gesteine der »Steinsinn« Als sich Novalis im Spätsommer des Jahres 1797 entschließt, an der Bergakademie in Freiberg ein Studium der Montankunde und daran anschließender naturwissenschaftlicher Fachdisziplinen aufzunehmen, liegt der »bedeutendste philosophische Beitrag der Frühromantik«1 in Gestalt seiner >Fichtestudien< (1795/96) bereits vor. Die wichtigsten dichterischen Werke entstehen anschließend, in einer Zeit, in der er durch seine berufliche Tätigkeit als Beamter im sächsisch-thüringischen Erzbergbau und Salinenwesen in höchstem Maße beansprucht ist. In Novalis' zu Anfang des Jahres 1798 begonnener, nach eigenen Worten als »ächtsinnbildlicher [...] Naturroman« 2 bezeichneter Dichtung >Die Lehrlinge zu Sais< beschreibt der Erzähler den Fund eines unscheinbaren Steinchens< von >seltsamer< Gestalt, welches einer der Lehrlinge von seinem Gang in die Natur mitgebracht hatte. Das auf einen »leeren Platz«, mitten zwischen andere Steine gelegte Steinchen übt eine ungewöhnliche Faszination auf seine Betrachter aus (HKA I 81). Für den Erzähler bildet der mineralische Fund den Anlaß für einen jener seltenen unvergeßlichen »Augenblicke«, in denen sich eine »Ahndung« von der »wunderbaren Welt« im eigenen Seeleninneren erschließt (ebd.). Inspiriert durch den geheimnisvollen Eindruck, den der Stein hinterlassen hat, begibt er sich auf einen Weg, dessen Bestimmungsort ein in der äußeren Gestalt der sinnlich wahrnehmbaren Natur unsichtbar Verborgenes bildet; er will seine eigene »Figur« beschreiben (ebd. 82). In den Jahren 1799/1800 notiert Novalis dann in seinen naturwissenschaftlichen Aufzeichnungen »Pflanzen wircken auf den Pflanzensinn des Menschen - Thiere auf den Thiersinn Steine auf den Steinsinn des Menschen.« (ebd. III 600, 287). Auch hier ist 1 1

Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik 248. Novalis an Ludwig Tieck, 23. Februar 1800 (HKA IV 323).

249

von der unwiderstehlichen Anziehungskraft die Rede, welche die Welt der Mineralien und Gesteine neben derjenigen der Tiere und Pflanzen auf den Betrachter ausübt. Angesprochen wird ein Verhältnis zwischen Mensch und Natur, in welchem eine strikte Dualität zwischen Geistigem und Materiellem, zwischen Subjektivem und Objektivem, zwischen dem Ich und der Natur zugunsten einer Beziehung aufgelöst scheint, deren belebende Impulse zur Herstellung eines wechselseitigen Übergangs zwischen Innen- und Außenwelt führen. Die Frage nach dem schöpferischen Sinn, welchen der Stein im Moment seiner Betrachtung entfaltet, könnte sich also in doppelter Hinsicht als relevant erweisen. So muß es letztlich, will man die philosophische und poetische Signifikanz des >MineralischenSinn< in seiner eigentümlichen Zweideutigkeit einerseits als der Sinn für die labyrinthischen psychischen Innenräume der menschlichen Seele und andererseits als Sinn für die objektiv faßbare Vielfalt der materiellen Natur eröffnet. In Rücksicht auf das zentrale Thema der vorliegenden Untersuchung - die Erschließung prinzipieller Interferenzbeziehungen zwischen dem naturwissenschaftlichen, philosophischen und ästhetischen Bedeutungsgehalt des >Mineralischen< im Werk des Novalis - erscheint nun die Frage grundlegend, wie sich dessen spezifische Affinität gegenüber den Steinen, die zu den auffälligsten Topoi innerhalb des die Dichtung und Theorie umfassenden Gesamtwerks zählen, erklärt und gestaltet. Worauf beruht die besondere Zuwendung des Philosophen, Naturwissenschaftlers und Dichters zur Welt der Gesteine? Eine erste vorläufige Antwort auf die Frage nach der Art der Bedeutung, welche insbesondere das Motiv des >Anorganischen< innerhalb von Novalis' Gesamtwerk gewinnt, gibt die Betrachtung seines beruflichen Werdegangs. Die Unternehmung, eine >Topographie< des >Mineralischen< zu erstellen, sollte daher mit einem Blick auf Novalis' naturwissenschaftlich-technische Ausbildung und Berufstätigkeit beginnen. Diese bietet einen ersten Zugang zum Verständnis seines vielschichtigen, tiefgründigen Werks. So begründet beispielsweise Friedrich Strack Novalis' Wahl eines 3

Die Bezeichnung >Mineral< ist seit dem 16. Jahrhundert im Deutschen belegt und läßt sich zurückführen auf das mittellat. >minaSchachtHöhleMinare< bezeichnet ursprünglich den Vorgang der Schürfarbeit, es läßt sich übersetzen mit >Bergbau treibeneinen Schacht in den Berg treibeneinen Gang grabenHeinrich von Ofterdingen« begegnet, verstehen, der von der Sammelleidenschaft eines Sohnes berichtet, der ihm schon »das ganze Haus voll Steine getragen hat«, mutmaßend, daß der »Junge [...] gewiß ein tüchtiger Bergmann« werden würde (ebd. 2 J of.). 251

Weißenfels ernannt. Neben seiner beruflichen Ausbildung zum Salinenbeamten beteiligte er sich aktiv an Diskussionen einer zeitgenössischen Philosophie, die sich in ihrer kritischen Haltung gegenüber der Fichteschen Grundsatzphilosophie vor allem um den Jenaer Schülerkreis Reinholds formiert hatte. So beschäftigte sich Novalis u.a. auch intensiv mit der >Wissenschaftslehre< Johann Gottlieb Fichtes, dem er im Frühsommer 1795 im Hause Friedrich Immanuel Niethammers in Jena zusammen mit Friedrich Hölderlin begegnete.6 Bevor Novalis im Februar 1796 sein berufliches Amt in Weißenfels antrat, belegte er einen i4tägigen Kurs in Chemie und Salzbergwerkskunde in Langensalza bei dem Chemiker Christian Wiegleb im Januar desselben Jahres. Vom Februar 1796 bis zum Beginn seines Studiums an der Bergakademie in Freiberg im Dezember 1797 war er dann als Akzessist bei den kursächsischen Salinen in seinem Heimatort tätig. Ab Dezember 1797 besuchte Novalis an der Freiberger Universität, die in der damaligen Zeit als eines der bedeutendsten Zentren der zeitgenössischen Naturwissenschaften in Europa galt, u. a. Vorlesungen über Geognosie, Mineralogie, Bergbaukunde, Maschinentechnik, Mathematik, Chemie und Physik.7 Die theoretische Ausbildung wurde an drei bis vier Tagen in der Woche durch praktische Grubentätigkeiten ergänzt. Den Umfang der Studien, die Novalis im Zeitraum zwischen dem Frühjahr 1798 bis zum Abschluß seines Aufenthalts in Freiberg im Frühsommer des Jahres 1799 bewältigte, dokumentieren zahlreiche Vorlesungsaufschriebe, Exzerpte aus naturwissenschaftlichen Grundlagenwerken und zeitgenössischen Journalen sowie selbständig an eine spezielle Lektüre anknüpfende Bemerkungen und Notizen zu zentralen Problemen und Fragestellungen der aktuellen naturwissenschaftlichen Forschung. Das thematische Spektrum dieser und späterer Studienaufzeichnungen erstreckt sich von der mineralogisch-geologischen Erschließung, der praktischen technischen Gewinnung und Verwendung sogenannter nutzbarer Mineralien und Gesteine, der Geschichte des Bergbaus und der Mineralogie (F. L. Cancrinus, J.F.W.T. de Charpentier, F.A. Reuss, F.WH. v. Trebra, A.G. Werner u.a.) 6

Zum Umkreis der Jenaer Frühromantik sowie der Entstehung von Novalis' >Fichtestudien< siehe Mahl, Einleitung zu Philosophische Studien der Jahre i79j/96< in: ebd. II29103; Frank, Kant und die Anfänge bes. 852-914; ders., Philosophische Grundlagen der Frühromantik bes. /off. 7 Zum Freiberger Vorlesungsprogramm und Novalis' dortigen naturwissenschaftlichen Studien siehe Hansen, op. cit. 222-247, 298-441; Schulz, Einleitung zu >Freiberger naturwissenschaftliche Studien i/98/99Das Allgemeine Brouillon (Materialien zur Enzyklopädistik i/98/ 99)PhysiognomikGalvanismusPsychologie< bzw. >Seelenkunde< (F.X. v. Baader, A. v. Humboldt, K.F. KielmeyerJ.F. Ritter, C.C.E. Schmidu.a.). Intensiv befaßt sich Novalis während seiner Freiberger Zeit vor allem auch mit der mineralogischen Kennzeichenlehre sowie geologischen Theorien der Erdentstehung seines Lehrers A. G. Werner. Darüber hinaus beschäftigen ihn aktuelle Detailfragen der zeitgenössischen chemischen Lehre von der Wahlverwandtschaft der Stoffe (J.F. Gmelin, J.-C. de Lametherie, WA. Lampadius, A. L. de Lavoisier, L.-B. G. de Morveau, J. C. Wiegleb u.a.) ebenso wie damalige physikalische Erklärungsversuche von Phänomenen der Gravitation, des Magnetismus, der Elektrizität, der Akustik oder der Optik (E. F. F. Chladni, J.S.T. Gehler, F. A.C. Gren, A.N. Scherer, G.G. Schocheru.a.). Schrieb Novalis bereits zu Beginn seines Freiberger Studiums an seinen Freund Friedrich Schlegel von einer konzentrierten Beschäftigung mit der Physik, in deren Verlauf er deren »Hauptideen« bereits erfaßt zu haben glaubte,8 so ist im Frühherbst des Jahres 1798 im Kontext seiner Auseinandersetzung mit mathematischen, physikalischen und medizinischen Problemstellungen die Rede von einer »neuste[n] Masse allgemeiner philosophisch physiologischer Experimente«,9 deren Aufzeichnung sich verbindet mit Überlegungen zur Poetik sowie Studien zur Weltliteratur, Religion und Geschichte - eine Beschäftigung, die über die Freiberger Zeit hinaus andauert und die zunehmend begleitet ist durch eine gesteigerte dichterische Produktion vor allem auch in einer Zeit außerordentlicher beruflicher Belastungen zwischen dem Herbst des Jahres 1799 bis zum Frühsommer i8oo.10 8

Novalis an F. Schlegel, 26. Dezember 1797 (ebd. IV 242). 'Novalis an Caroline Schlegel, 9-/i6. September 1798 (ebd.261). 10 Im letztgenannten Zeitraum entstehen — mit Ausnahme des bereits im Frühjahr 1798 liegenden Beginns der Arbeit an den >Lehrlingen zu Sais< - Novalis' dichterische Hauptwer253

Auch während seiner Freiberger Lehrzeit und danach setzt Novalis seine philosophischen Studien (u.a. zu C. A. Eschenmayer, F. Hemsterhuis, I. Kant, G.W. v. Leibniz, F.W.J. Schelling, F.D.E. Schleiermacher, C. Wolff) fort. Ab der Mitte des Jahres 1798 wendet er sich, angeregt durch die Vorlesungen seines Lehrers Wilhelm August Lampadius sowie eines selbständigen Studiums alchemistischer Werke, intensiver der Geschichte der mittelalterlichen Medizin, Alchemic und Naturlehre zu. Gegen Ende der Ausbildungsphase in Freiberg setzt sich Novalis dann erneut mit Themen der Mystik, Kosmologie und Theosophie auseinander, wobei er an frühere Lektüren anknüpft (K. v. Eckartshausen, R. Fludd, J.B. van Helmont, N. L. v. Zinzendorf u.a.). Dieses Interesse wird von ihm im Rahmen eingehender Beschäftigungen mit der neuplatonischen, scholastischen und hermetischen Philosophie (G. Bruno, Paracelsus, Plotin u.a. über K. Sprengel und D. Tiedemann) weiterverfolgt und nach der Freiberger Zeit mit dem Beginn eines intensiven Studiums der Werke des mittelalterlichen Mystikers und Theosophen Jakob Böhme ab dem August des Jahres 1799 weiter ausgebaut. Das breitgefächerte naturwissenschaftliche Studium, das Novalis in Freiberg absolvierte, wurde im Anschluß an die Ausbildung auf der Bergakademie zugunsten einer verstärkten Auseinandersetzung mit praktischen Fragen der Salinentechnik und Erzgewinnung um ökonomischtechnische Aufgabenbereiche erweitert, die ihn aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit in Weißenfels in den Jahren 1799/1800 zunehmend in Anspruch nahmen. Mit der beruflichen Tätigkeit bei der Salinendirektion in Weißenfels, die er vom Frühsommer 1799 an zunächst als Akzessist und ab Januar des Jahres 1800 dann als Salinenassessor ausübte, waren die regelmäßige Befahrung von Bergwerken, die Verpflichtung zu geognostischen Landesuntersuchungen und die Erstellung geologischer Gutachten verbunden. Novalis setzte sich innerhalb seines Aufgabenbereichs mit der wissenschaftlichen Erforschung der Mineralien und ihrer Lagerstätten, der praktischen Bergbautechnik, d.h. dem Abbau, der Gewinnung und Weiterverarbeitung der mineralischen Rohstoffe (im thüringisch-sächsischen Bergbau betraf dies vor allem Erze, Kohlen und Salze) und allgemeinen Verwaltungspflichten auseinander." Die Unerläßlichkeit einer ke, wie der erste Teil des >Heinrich von OfterdingenHymnen an die Nacht< und die >Geistlichen LiederHeinrich von Ofterdingen< - auf dessen allgemeinen Plan er sich vermutlich schon in seinem Brief vom 27. Februar 1799 an Caroline Schlegel mit den Worten bezieht »ich habe Lust mein ganzes Leben an Einen Roman zu wenden - der allein eine ganze Bibliothek ausmachen [...] soll« (ebd.IV 281) - hat Novalis, dem Zeugnis seines Bruders Karl zufolge,'5 während seines Aufenthaltes in Artern (von November bis Mitte Dezember 1799) begonnen. Zu Beginn dieses Jahres hatte er das »Studium des Bergbaus und der Naturwissenschaften« besonders »intensiv« betrieben (WTB III 652). Der Biograph bemerkt einen auffallenden wissenschaftlichen »Fleiß« in jenen Wochen und Monaten.'6 Novalis hielt sich in Artern öfters im Rahmen beruflich bedingter »Inspektionsreisen« auf (ebd. i34ff.). Zudem konnte er in der dortigen Bibliothek des Historikers Karl Wilhelm Ferdinand Funk seine Quellenstudien zur Geschichte des Mittelalters (besonders zur Geschichte Kaiser Friedrichs II. u.a. über M.I. Schmidt, K.W.F. Funk)' 7 sowie seine Lektüre thüringisch-sächsischer (Bergmanns-)Sagen und Chroniken (z.B. >KyffhäusersageWartburgkrieg< etwa über J. Rothes und C. Spangenbergs Chroniken sowie J.B. Menckes Schriftensammlungen)18 fortsetzen, die ihm als Ausgangsmaterial für seinen Roman dienten. Einen nachhaltigen, vor allem die 12

Über welche auch die in den Teilbänden 3-4 des 6. Bandes der HKA erscheinenden >Schriften aus der BerufstätigkeitSalinenschriften< (siehe dazu hier 8.446, Anm. 383), nicht zuletzt aufgrund der darin enthaltenen Lektürelisten, näheren Aufschluß geben werden. 13 Dürler, op. cit. 129. I4 Zit. nach Dürler, op. cit. 141. 15 Siehe hierzu K. v. Hardenberg, Biographie seines Bruders Novalis (1802), in: HKA IV 531-535; vgl. auch Schulz, Novalis I9ff. 16 Siehe K. v. Hardenberg, op. cit. 534. 17 Siehe dazu WTB III I34ff., 212; I. Kasperowski, Mittelalterrezeption im Werk des Novalis, Tübingen 1994, bes. S. I94ff. 18 Siehe dazu WTB III I34ff., 159 sowie Kasperowski, op. cit. bes. 133-175. 255

Handschrift der ersten Kapitel des Romans prägenden Eindruck hinterließ auch die Landschaft um den Kyffhäuser und die mit dem Berg verbundene Sage von der »blauen Wunderblume«.19 Die Ausarbeitung des zweiten Teils des Romans schließt sich an jene Zeit an, in der Novalis zusammen mit dem Freiberger Bergbaustudenten Friedrich Traugott Michael Haupt eine umfangreichere geologische Landesuntersuchung im Raum Leipzig unternahm. Dieses Unternehmen dauerte vom i. Juni bis zum 16. Juni 1800. Im Juli desselben Jahres beginnt Novalis mit der Fortsetzung des >Heinrich von OfterdingenMineralischen< in Novalis' Werk einen komplexen Deutungsgehalt auch auf der Ebene einer systematischen Reflexion philosophischer und poetischer Darstellungsstrategien. In den verschiedenen Figurationen des Anorgani19

Siehe dazu WTB III i34ff., 159. 256

sehen (erdgeschichtliche Formation der Gesteinslagen, kristalline Gestaltgebung der Mineralien, chemische Mischungsverhältnisse anorganischer Stoffe) verkörpert sich für den Philosophen, Naturwissenschaftler und Dichter auf schematische Weise die Wirkung chemisch-physikalischer Gesetzmäßigkeiten, die unter dem naturphilosophischen Betrachtungsaspekt einer grundsätzlichen Analogie des Intelligiblen und des Materiellen zugleich konstitutive Strukturen der philosophischen Reflexion und poetischen Darstellung repräsentieren. Auf der Grundlage seiner naturphilosophischen Anerkennung des >Mineralischen< als strukturierende Seinsbasis einer naturgeschichtlichen Evolution des Geistes (>schlafende< bzw. >erstarrte IntelligenzPotenzierung< natürlicher Wirkungsmächte konstruktiv umzusetzen versucht, wobei die äußere Form zur spiegelbildlichen Projektion des eigenen Ich avanciert.20 Auch das Urmotiv des Montanen - der Abstieg in das Innere der Erde und das Hervorholen der mineralischen Schätze aus den unterirdischen Gängen - erfährt in Novalis' dichterischem Werk eine originelle Umgestaltung. So gewinnt der Dichter aus der aktuellen Anschauung montanistischer Vorgänge und Techniken Wahrnehmungen und Sinnbilder, die er, inspiriert durch Traum21 und Phantasie, schöpferisch umsetzt - eine kalkulierte Transformation objektiv faßbarer Gegebenheiten (Landschaft, geologische Formation, Technik des Bergbaus etc.), deren maßgebliche Bedingung ein intuitives Sich-Einlassen des Dichters auf die unbewußten Tiefen seines eigenen labyrinthischen Seeleninnern ist- »Die Fantasie sezt die künftige Welt entw[eder] in die Höhe oder in die Tiefe, oder in der Metempsychose, zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall - Ist denn das Weltall nicht in unst Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht 3

»Eine Kunstkammer soll in Beziehung auf die Naturkräfte [...] ein verjüngter, concentrirter-potenzirter Erdboden [sein]« (HKAIII447,929) - »Der Scientifiker der practischen Physik betrachtet die Natur zugleich als selbstständig und Selbstverändemd, und als übereinstimmend harmonisch mit dem Geiste.« (ebd. 247, 50) - »Natur soll Kunst und Kunst 2te Natur werden.« (ebd. II646,468) - »Alle dichterische Natur ist Natur - ihr gebühren alle Eigenschaften der Letztern. [...] der Dichter [...] ist Vorstellungsprophet der Natur [...]« (ebd. III 692, 696). 1 »Der Traum ist oft bedeutend und prophetisch, weil er eine Naturseelenwirkung ist - und also auf Associationsordnung beruht - Er ist, wie die Poesie bedeutend - aber auch darum oft unregelmäßig bedeutend - durchaus frey.« (ebd. 452,959) - »Schlaf ist ein vermischter Zustand des Körp(ers) und d(er) Seele. Im Schlafe ist K(örper) und S(eele) chymisch verbunden. [...] Im Schlafe sind die Bande des Systems locker - im Wachen angezogen.« (ebd. 277, 2i i). 2

57

Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten - die Vergangenheit und Zukunft.« (HKA II 4i6f., 17) Unter dem naturphilosophischen Bedeutungsgesichtspunkt des Anorganischen als einer Daseinsform, in der sich die eigene >Vergangenheit< des Geistes (die unbedingte Identität des Subjektiven und des Objektiven, das reine >SeinVon der Weltseele< präsentiert wurde - ein Werk, das Novalis neben anderen philosophischen Schriften nachweislich in der Zeit zwischen September und Oktober des Jahres 1798 in Freiberg studiert hat und dessen Verfasser er erstmals auf seiner Reise nach Freiberg im Dezember des Jahres 1797 begegnet ist. Die Entwicklung eigenständiger Positionen im Rahmen von Novalis' kritischer Auseinandersetzung mit Werners oryktognostischer Lehre von den äußerlichen Kennzeichen< der Mineralien23 kann im Hinblick auf ih11 23

Siehe dazu hier S.2521. Die Ausgangslektüre von Novalis' Wernerstudien bildet A. G. Werners Werk >Von den äußerlichen Kennzeichen der Fossilien< (1774), siehe dazu hier S. n8ff. 260

re naturwissenschaftliche und philosophische Tragweite erst beurteilt werden, wenn seine gleichzeitige Rezeption zeitgenössischer chemischer, physikalischer und naturphilosophischer Theorien in eine entsprechende Betrachtung miteinbezogen wird. Die sogenannten >Wernerstudien< bilden eine gedankliche Grundlage, von der ausgehend Novalis bereits gewonnene philosophische Einsichten insbesondere zur Theorie des Selbstbewußtseins und dem damit verknüpften konzeptionellen Entwurf eines enzyklopädischen Zusammenhangs aller Wissenschaften ausbaut und auf kreative Weise weiterentwickelt. So kann am Beispiel seiner Beschäftigung mit der Theorie Werners exemplarisch aufgezeigt werden, wie er im Rahmen seiner produktiven Rezeption aktueller chemischer und physikalischer Erkenntnisse eine originäre philosophische Theorie des >Mineralischen< in seiner paradigmatischen Funktion als symbolisches Schema einer universalen Poetik entwickelt. Der theoretische Status des >Mineralischen< innerhalb der naturgeschichtlichen Ordnung der Wesen, die chemisch-physikalische Strukturbeschaffenheit anorganischer Stoffe und der systematische Stellenwert der mineralogischen Spezialdisziplinen innerhalb des enzyklopädischen Systems der Wissenschaften bilden zentrale Betrachtungsaspekte, die Novalis bei seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Theorie seines Lehrers Werner besonders beschäftigen. Unter dem Blickwinkel dieser drei Gesichtspunkte erscheint die Frage danach interessant, inwieweit er an Werners Lehre zum einen Tendenzen wahrnimmt, die ihn zur Weiterentwicklung zeitgenössischer naturwissenschaftlicher und naturphilosophischer Positionen anregen. Zum anderen läßt sich hinsichtlich spezieller Kritikpunkte, die Novalis gegenüber Werner äußert, verdeutlichen, inwiefern er Werners Auffassungen im direkten Vergleich mit aktuellen Ergebnissen der naturgeschichtlichen Forschung als rückschrittlich bzw. einseitig bewertet. Dabei entwirft er zugleich Gegenpositionen, deren innovatives Moment vor allem auch für seine poetologische Naturanschauung Bedeutung gewinnt. Die Wernerstudien setzen gleich zu Beginn mit einer kritischen Beurteilung von Werners systematischer Einteilung der mineralogisch-geologischen Forschung in die Teilgebiete der >MineralogieGeognosie< und mineralogischen Geographie< (HKAIII135, vgl. Kennzeichen § 2-3) ein. Im Kontext seiner Beurteilung von Werners kategorischer Unterteilung der Gesteinswissenschaften in die genannten Fachbereiche verweist Novalis auf Behandlungsmöglichkeiten des >MineralischenSelbstorganisation< der Wissenschaften zu verkörpern scheint Ordnen [der Mineralien, LB.] h[eißt] n[ach] W[erner]: die natürliche] Folge derselben bestimmen, (ebd. 136) -Historik. [...] Jede Materialienmasse istKronik -Jede Beschreibung ist Erzählung. Erst dann, wenn der Philosoph, als Or264

pheus erscheint, ordnet sich das Ganze in regelmäßige gemeine und höhere gebildete, bedeutende Massen - in ächte Wissenschaften zusammen, (historische Oryktognosie im allgemeinen] Sinn.) (ebd. 33 j, 461) - Die Oryktognosie gehört zur Historic [...] (ebd. 465, 1068) - Historische Lithocaracteristik - mathematische - Philosophische - Poetische etc. (reine -Angewandte) (ebd. 159)

Andererseits übt Novalis in seinen Wernerstudien eine grundlegende Kritik an der seiner Ansicht nach von Werner auf einseitige Weise bevorzugten Methode einer Klassifikation der Mineralien nach ihren äußerlichen Kennzeichen. Neben der positiven Beurteilung des empirischen Ansatzes von Werners Betrachtung der Mineralien und Gesteine in ihrer naturgeschichtlichen Folge25 bezeugen die Wernerstudien gleichzeitig eine grundlegende Kritik an einem System, das Novalis' Auffassung zufolge seine eigenen theoretischen Prämissen nicht angemessen berücksichtigt. So geht Novalis auf Werners prinzipielle Befürwortung einer Mineralogie, die neben den sogenannten >äußerenphysikalischen< und >empirischen< Bestimmungskriterien auch den chemischen Beurteilungsaspekt als notwendige Ergänzung im Rahmen einer umfassenden Klassifikation der Mineralien mit einbezieht, lediglich in einigen kurzen Stichworten ein,26 bevor er sich dann dem eigentlichen Projekt einer kritischen Revision von Werners oryktognostischer Klassifikation zuwendet, das den eigentlichen Mittelpunkt der Wernerstudien bildet. Nach seiner Überzeugung muß das methodische Fundament einer Mineralogie, die eine Einteilung ihrer Gegenstände in Entsprechung der natürlichen Ordnungsverhältnisse der verschiedenen anorganischen Stoffe und Materien vornimmt, neben einer allgemeinen Bestimmung nach äußerlichen Merkmalen auch eine systematische Analyse der chemisch-physikalischen Beschaffenheit der Mineralien als wesentlicher Ursache ihres historischgenetischen Zusammenhangs einbeziehen. W[erner] ist einseitig, wenn er d[ie] äußern Kennzeichen vorzüglich zur Mineralogie überhaupt rechnet. [§32] sie gehören wesentlich aber nicht hauptsächlich und vorzüglich zu denselben. Jedes Glied hat seine eigentümlichen Vorzüge und es findet kein Rang unter ihnen statt, (ebd. 144) - Die Lehre von der Forma15

»Werner hat die Theorie eines speciellen Beobachtungsprocesses geliefert - auf diesem Grunde kann man weiter bauen - j4//g/emei«e/Theorie des Beobachtens und Experimentirens - und Einzelne, specielle Processe, als Beyspiele. Practische Theorie d[es] Bfeobachtens] und Exp[erimentirens].« (ebd.437, 874). 16 So heißt es in direkter Anknüpfung an Werners einleitende Bemerkungen in seiner Schrift >Von den äußerlichen Kennzeichen bei Novalis: »2 Secten der Mineralogen - die Oryktognosten und Chemiker. [§ 7] Werner ist gegen beyde. Er unterscheidet 2 Zwecke - i. den theoretischen, die Fossilien in ein System zu ordnen. 2. denpractischen, oder technischen, die Fossilien zu kennen [§ 8].« (ebd. 136). 265

tion und Verwandtschaft der Fossilien ist eigentlich das Geschäft des Mineralogen als Historiker und Physiologen, (ebd. 149)

Laut Novalis übersieht Werner also in seiner Betonung der äußeren Merkmalsbestimmung die Notwendigkeit einer systematischen Verknüpfung von chemischer Analyse und Symptomkennzeichnung. So würden in der Berücksichtigung der ursächlichen Zusammenhänge, die zwischen dem äußeren Erscheinungsbild (z.B. der Farbe, der kristallinen Struktur etc.), der physikalischen Beschaffenheit (z.B. Härte, Gewicht etc.) sowie der chemischen Zusammensetzung eines Minerals aus unterschiedlichen stofflichen Bestandteilen bestehen, erst die eigentlichen methodischen Grundlagen geschaffen, auf der die Verhältnisse zwischen den verschiedenen Klassen, Gattungen und Arten im Sinne der eigenen naturgewachsenen Ordnung des Mineralreichs bestimmt werden könnten. Novalis meint, daß Werner zwar im Rahmen seiner oryktognostischen Kennzeichenlehre die grundlegende Frage thematisiert, »ob sich nicht aus den Formveränderungen die Mischungsveränderungen bestimmen ließen« (ebd. 138), und damit gedanklich bereits »auf die Möglichkeit einer auf Chymie angewandten Symptomatik« (ebd.) anspielt - »eine Frage«, die nach seiner Überzeugung »von der höchsten Wichtigkeit ist, weil mit ihr die Kritik einer neuen höhern, beyde umfassenden Wissenschaft] beginnt« (ebd.) -, er kritisiert an Werner jedoch, daß dieser zu wenig auf eine systematische Bestimmung des offensichtlichen Zusammenhangs zwischen äußerer Erscheinung und innerer stofflicher Struktur und Beschaffenheit eingeht, weswegen ihm letztlich vorgeworfen werden kann, daß er die »Übergangsnatur im Wesen« (ebd. 140) der mineralischen Gegenstände nicht angemessen berücksichtigt. (Den möglichen Übergang - der äußern Kennzeichen in die innern Bestandth[eile], oder der Symptom[atik] in d[ie] Chymie, bemerkt er gar nicht, und dieser ist doch der Hauptgesichtspunct bey d[er] Auflösung jener Frage.) Werner ist hier also ganz dogmatisch [...] (ebd. 139) -[...] die Verhältnisse eines Wesens zu ändern Wesen gehören in ein Mittelwesen - das gleichsam die Übergänge eines Wesens in ein Andres befaßt. Jedes synthetische Glied befaßt einen Übergang. Die VerhältnißSymptome müssen sich ebenfalls an die innern Mischungsverhältnisse anschließen lassen, weil ihnen die äußern Misch[ungs]V[erhältnisse], die mit den Innern in genauer Verbindung] stehn, entsprechen. Beyde Gründe deuten auf Lücken in der Oryktogn[osie]. Der Erste indicirt einen scient[ifischen] Mangel an Bestimmungsgesetzen des Wesens - auf Unkenntniß der ÜbergangsNatur im Wesen. Jedes Wesen hat eine eigenthümlich innere, und eine gemeinschaftliche] innre oder VerhältnißNatur - und so auch eine eigene und gemeinsch[aftliche] Äußre - und diese gehen wieder ineinander über. Eins wird durch das andre bestimmt] - oder alle bestimmen sich gegenseitig - i. e. im Zirckel. (ebd. 140) - Werners Oryktognfosie]. Die vollk[ommen] 266

unabhängige] Oryktogn[osie] und die vollk[ommen] unabhängige] mineralische Chemie machen als völlig Heterogene ein System, (ebd. 278, 222)

Novalis wirft Werners System »Ordnungslosigkeit« und Lückenhaftigkeit (ebd. 139, vgl. auch 143) vor. Er vertritt dabei gleichzeitig den Anspruch, auf der Kenntnisgrundlage seiner Freiberger Studien eine grundlegende »Revision der OryktognfostischenJ Classification« (ebd. 358, 53o)27 unter ausdrücklichem Einbezug chemischer und physikalischer Analysen leisten zu können. Nach seiner Überzeugung muß die chemische und physikalische Bestimmung der anorganischen Materien im Rahmen der mineralogischen Systematik in weit stärkerem Maße einbezogen werden, als dies bei Werner der Fall ist; denn erst auf der Basis dementsprechender Analysen lasse sich die »äußre Symptomatik« (ebd. 3 58,532) der Mineralien und Gesteine unabhängig von einer willkürlichen Verknüpfung und Bedeutungszuweisung als Zeichen einer dogmatisch vorgegebenen idealischen Vernunftordnung in ihren komplexen materiellen Bedingungsgrundlagen historisch-genetisch erschließen. Der Mineralogie kommt damit letztlich die Aufgabe zu, auf der Grundlage eingehender empirischer Untersuchungen eine natürliche Verkettung von Ursachen und Verhältnissen festzustellen, die mit der philosophisch akzeptierten Vernunftgesetzlichkeit der gesamten Naturentwicklung auf der Ebene >realer< Sichtweisen korrespondiert28 Revision der OryktognfostischenJ Classification. Spedell historische] Oryktognfosiej - oryktogn[ostische] Anatomie - und Chemie [...] (Allg)emeine] Oryktognfosie] - synthetische] Oryktognosie. W[as] h[eißt] ein äußres Merckmal? [...]) (ebd. 358, 530) - Werners Einleitung] zum oryktogn[ostischen] System muß kritisirt werden. Hier fehlts - wo hat er ein Princip der Nothwendigkeit so und nicht anders zu classificiren - wo ein Princip d[er] Vollständigkeit. [...] Die äußre Symptomatik überhaupt muß erst für sich - unabhängig von der Bedeutung und Indication d[er] Symptomebehandelt werden-wie d[ie] Sprache in der Grammatik - dann folgt und wird die Bedeutungslehre erst möglich - oder die angewandte Symptomatik, (ebd. 35 8, 532) - Freylich hat die angewandte Symptomatik - die reale Symptom[atik], oder die Lehre von den Bedeutungen der Zeichen, noch sehr genauer und systematischer Beobachtungen nöthig, um ihrem Beruf und Titel zu entsprechen - aber ihre Möglichkeit liegt in ihrem Begriff. Man beobachte nur fleißig und mit reducirenden Nachdenken, die äußern Veränderungen bey innern Veränderungen und umgek[ehrt] und ich bin gewiß, man wird auf ächte, state Relationsverhältnisse und Gesetze stoßen. [...] so ist auch die chymische Symptomatik schon ziemlich schnell vorgerückt, seit der 17

1

»Die Revision d[es] Wernerschen Systems und die Kritik meines Unternehmens muß nun die erste Arbeit seyn.« (ebd. 359, $34). Siehe dazu bes. ebd. I35>f. 267

verbesserten chymischen Theorie - am Ende, wenn die einzelnen physikalischen Zeichenlehren - und selbst die Zeichenlehre der äußern Kennzeichen verbessert seyn wird, so wird sich der Zusammenhang der äußern Kennzeichen und der innern Stoffe - und ihrer Veränderung von selbst ergeben, (ebd. 141) - Chemiker und Symptomatiker und ihre nothwendige Vereinigung. Vollk[ommne] Chemie und vollkommne Symptomatik ergänzen sich gegenseitig. (So auch bey d[en] Oryk[tognosten] und Chem[ikern].) (ebd. 377, 622)

Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem äußeren Erscheinungsbild und der chemisch-physikalischen Beschaffenheit eines Minerals zeigt sich nach Novalis beispielsweise an seiner Farbgebung, seinem Glanz oder seiner kristallinen Struktur. So beschäftigt er sich in seinen Wernerstudien ausführlich mit der Frage, inwieweit und auf welche Weise sich aus der Sicht der Chemie und Physik Rückschlüsse von der Optik auf den strukturalen Aufbau und die stoffliche Zusammensetzung eines Minerals sowie auf prinzipielle >Übergangsverhältnisse< zwischen äußerer Gestalt und materieller Beschaffenheit der Mineralien herstellen lassen. Längere Abschnitte in den Wernerstudien enthalten ausführliche Räsonnements über die stofflichen Ursachen der Farbentstehung und -Veränderung im Reich der Mineralien sowie mathematische und physikalische Beschreibungen von unterschiedlichen Kristallformen (siehe ebd. 147-151, 157-161). Dies deutet darauf hin, daß sich Novalis neben der Lektüre von Werners Grundlagenschrift eingehend mit aktuellen Fragen der zeitgenössischen chemischen und physikalischen Analyse anorganischer Stoffe beschäftigt haben muß. Die Gedanken, die er sich beispielsweise über mögliche chemische Ursachen der mineralischen Farbgebung macht, weisen auf empirische Nachweismethoden hin, die der Mineraloge und Chemiker Martin Heinrich Klaproth im Rahmen seiner systematischen chemischen Analysen bestimmter Mineralien und Gesteine durchgeführt und in seiner Schrift >Beyträge zur chemischen Kenntniss der Mineralkörper< (i/95-i797)29 ausführlich beschrieben hatte - es handelt sich dabei um eine Schrift, die Novalis nachweislich bereits in seinem ersten Freiberger Jahr studierte.30 So erweitert er beispielsweise ein Exzerpt aus Werners mineralogischer Grundlagenschrift - »Farbe ist das einfachste und frappanteste K[enn]z[eichen] 19 30

Posen und Berlin 1795-1797. So finden sich etwa neben kurzen stichwortartigen Hinweisen im ersten der >Chymischen Hefte< (vom Sommer bis zum Herbst 1798) und in den >Physikalischen Fragmenten< (September/Oktober 1798) (siehe HKA III 43 u. 73) auf eine entsprechende Auseinandersetzung längere Auszüge und Exzerpte aus Klaproths Schrift in den >Medizinisch-Naturwissenschaftlichen Studien< (Dezember 1798 bis März 1799) insbesondere zur chemischen Zerlegung des »Feuersteins«, des »Demanthspaths« (ebd. 189^) des »Corunds« sowie einer »Salzsole« (ebd. 191-194). 268

unter den Allgemeinen. [§41]« (ebd. 147) - um die selbständige Notiz »Alle Farbe im engern Sinn deutet auf ein Pigment. Die bloße Modification der Structur, ohne Einfluß auf chymische Veränderungen, hat keine Farbenveränderungen zur Folge.« (ebd.). Nach seiner Ansicht vereint die mineralogische Kennzeichnung der Mineralien und Gesteine Betrachtungsweisen, die über den Bestimmungsvorgang aufgrund rein äußerlich sichtbarer Eigenschaften hinausgehen und ihre Gegenstände vielmehr als Resultate eines naturgeschichtlichen Entwicklungsprozesses erfassen, dessen Erschließung notwendigerweise eine integrale Verbindung von äußerlicher Merkmalsbeschreibung und chemischer und physikalischer Analyse erfordert. Die Lehre von der Formation und Verwandtschaft der Fossilien ist eigentlich das Geschäft des Mineralogen - als Historiker und Physiologen, (ebd. 149) - Der Oryktognost [...] indicirt ihm [seinem Schüler, LB.] im Untersnchungs(Bestimmungs)-processe des gegebenen Fossils auch den kritischen Farbenproceß. Hierbey lehrt er die am meisten vorkommenden Farben im Mineralreich -historisch d.h. nach der Summe der bisherigen, jetzigen Erfahrungen. Der oryktognfostische] Physiolog erklärt dieses aus den Pigmenten des Chemikers. Der Geognost zeigt die wahrscheinliche Ursach der verschiednen Verhältnisse der Pigmente auf dem Erdboden. Der eigentliche mineralische Chymist - der die Verwandtsch[af t] der Fossilien im Ganzen etc. betrachtet - giebt vielleicht dem Geognosten diesen Grund an - und lehrt den mineralischen chemischen] Calcül - welcher mit dem anatomisch mineralischen Calcül unter Einer Wissenschaft] der mineralischen Analysis begriffen ist. (ebd. 152)

So beschäftigt sich Novalis in seinen Aufzeichnungen in bezug auf die Farbgebung eines Minerals auch eingehend mit der Frage, wie etwa prinzipielle Zusammenhänge zwischen den verschiedenen mineralogischen Kennzeichnungsperspektiven (Optik, chemische Zusammensetzung, physikalische Eigenschaften, kristalline Struktur etc.) auf der Grundlage einer Kombination verschiedener Arten von empirischen Analysen erschlossen werden können: Karacteristische Farben des Fossilienreichs - und seiner Gasten überhaupt. [...] Auf den Glanz und die Durchsichtigkeit hat die Farbe Einfluß. [§ 46] Manche Arten von hellen Farben dürften ein beträchtlicheres Gewicht, als Metallpigmente verrathen. Auf die Kryst[alle] möchten sie nur selten Einfluß haben, nemlich wenn die Pigmente beträchtlich genug wären, um hier zu influenziren. [...] Die Höhe der Farben [§ 469] deutet auf Intensitaet der Lichtaction ([des]) Pigments.) [...] Das hohe FarberopzW scheint eine Beziehung auf Brennbarkeit zu haben. [...] Die Farbenzeichnung verräth einen eingedrung[n]en, oftflüssigen,Stoff - theils ein Pigment selbst, theils ein Pigment hervorbringend - ein mineralisches K[enn]z[eichen] im engern Sinn. Das Anlaufen ist ein chemisches (physicalfisches]) Symptom und deutet auf Oberflächenverbrennung oder Säuerung. 269

[...] Das Irisiren ist eine Folge d[er] Strucktur - ein anatfomischesj Kfennjzfeichen]. [. . .] Die FarbenSchimmrung und Schattirung [. . .] liegt mehr in der Strucktur und Richtung. Hier entstehn künstliche Farben - ohne Pigmente. Die Farbenveränderung ist ein mineralogisches und zum Theil phys[icalisches] und chemisches Symptom. Sie entsteht bey Zerstörung - Entsäuerung - und Verwandlung eines Fossils. Die Farbenzeichnung kann zu mineralogisch historischen Schlüssen [. . .] veranlassen. [. . .] Die Farbenschimmerung etc. deutet auf Blätterlagerung und Verhältnisse] - kann also anatomische Schlüsse] veranlassen. (ebd. 148-1 50) - Das Farbenspiel - die Farbenbrechung - die Farbenverwandlung gehört in die Lehre vom Farbigen Glanz. Die Verbindung von Glanz und Farbe im allg[emeinen] Ansehn leitet uns auf die Anti(poly)thetische und Synthetische oder Combinatorische Behandlung der K[enn]z[eichen]. (ebd. 1 56; vgl.

Auch über die Kristallformen der Mineralien finden sich in den Wernerstudien Überlegungen, die über Werners Thesen hinausweisen und an mathematische31 und chemisch-physikalische Fragestellungen anknüpfen, mit denen sich Novalis schon vor der Zeit seiner intensiveren Beschäftigung mit Werner ebenfalls im Rahmen theoretischer Studien und daran anknüpfender praktischer Experimente und Versuchsanordnungen auseinandergesetzt hatte32 und die er in den an die Wernerstudien zeitlich anschließenden >Materialien zur Kristallographie< (ebd. 162-166) im November/Dezember des Jahres 1798 unter Einbezug einer Lektüre entsprechender kristallographischer Grundlagenwerke ausführlicher fortsetzt.33 So räsoniert Novalis hier beispielsweise über die Möglichkeit eines »Gestaltclassificat[ions]Schemas« (ebd. 15 8),34 welches auf formal-mathematischer Grundlage eine vergleichende Betrachtung der verschiedenen Kristallfor-

31

Zu den mathematischen Studien des Novalis, auf die in der vorliegenden Untersuchung nicht näher eingegangen wird, siehe K. Hamburger, Novalis und die Mathematik, in: dies., Philosophie der Dichter. Novalis, Schiller, Rilke, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1966, S. 11-82; M. Dyck, Novalis and Mathematics. A study of Friedrich von Hardenberg's Fragments on Mathematics and its relation to Magic, Music, Religion, Philosophy, Language, and Literature, Chapel Hill, North Carolina University Press 1960; Hansen, op. cit. 393ff., 43jff. 32 Siehe dazu HKA III 3-31. 33 Siehe dazu hier S. 42zff. 34 »Mit den Krystallen meyn ich, sollte der Anfang gemacht werden. Es sind die gemeinkünstlichen Individuen. Sie sind auch die Frappantesten. [...] Das Geradzellige gehört unter die Kryst[alle] [...] (Einzelne Fossil[ien]Gest[alten] - Zusammengesezte Fossiliengestalten. Diese werden nach dem Gestaltclassificat[ions]Schema eingetheilt).« (HKA III. i 5/f.). Zu dem Begriff >Schema< vgl.: »Ein einfaches kritisches Schema muß angenommen werden. Dies ist die Basis der Welterscheinung. Aus seinen Bewegungen und Figurationen entsteht das große, ausgeführte Weltschema.« (ebd. 343, 479). 2/0

men der Mineralien ermöglichen soll.35 Dabei bezieht er Kriterien der physikalischen und chemischen Bestimmung des formalen Aufbaus sowie der stofflichen Beschaffenheit ein, wobei er das Ziel verfolgt, ursächliche Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Merkmalsaspekten des Anorganischen (äußere Erscheinung, physikalische Beschaffenheit, chemische Zusammensetzung und kristalline Struktur) auf der Basis synthetisch vermittelter Nachweismethoden erkennbar zu machen - »Allgemeines] Raisonnement über das GestaltenSchema. Fragen: Wie groß? Welche Gestalt? Welche Aehnlichkeit ? Welche Zusammensetzung ?[...] In welcher auswärtigen Verbindung? In welcher innren Verbindung'?« (ebd. 159). Novalis faßt im Rahmen seiner Überlegungen Möglichkeiten des systematischen Nachweises einer materiellen Verursachung des kristallinen Strukturaufbaus der Stoffe durch spezielle physikalische und chemische Kräfte (Massenanziehung, chemische Verwandtschaft der stofflichen Bestandteile zusammengesetzter Materien) ins Auge, wie sie im ausgehenden 18. Jahrhundert von verschiedener Seite lebhaft diskutiert wurde (z.B. bei Buffon, Werner, Gmelin, Lametherie, Gren, Morveau, Reil etc.);3*5 und er verknüpft seine naturwissenschaftlichen Betrachtungen im Blick auf seine Kritik an Werners einseitiger, da rein empirisch angelegter Mineralogie mit Hypothesen, die über den rein naturwissenschaftlichen Aspekt hinaus auf Wahrnehmungsmöglichkeiten des >Mineralischen< zielen, die im Bereich der philosophischen, historischen und ästhetischen Wirklichkeitserfahrung liegen. Zugleich jedoch inspiriert Werners kombinatorischer Umgang mit den verschiedenen Facetten der mineralogischen Kennzeichnung Novalis zum Nachdenken über Möglichkeiten eines experimentellen Umgangs37 mit unterschiedlichen Wahrnehmungsformendes >MineralischenWissenschaftslehre< zu übertragen Logische, grammatische, und mathematische] Untersuchungen - nebst mannichfaltiger bes[onders] philosophischer] Lektüre und Nachdenken - müssen mir den Weg bahnen. (Im Classificiren und definiren etc. will ich mich an Werners System und an den Wissenschaften üben.) (ebd. 363,5 58) - Encfydopaedistikj. [...] Klassification aller wissenschaftlichen Operationen. Bildungslehre d[es] allgemeinen] wissenschaftlichen] Organs - oder besser der Intelligenz (Gymnastik des Geistes und d[es] Körpers.) (Bewegung - Thätigkeit ist das Grundverknüpfungs Glied.) Combinationsl[ehre] der wissenschaftlichen Operationen, (ebd. 361, 552)

46 47

Siehe dazu ebd. Ebd. 23 8. 276

Die philosophische Systematik der >Wissenschaftslehre< legitimiert aus theoretischer Sicht den Vorgang einer experimentellen Verknüpfung aller wissenschaftlichen Operationen mit der allgemeinen Absicht, letztlich eine prinzipielle Übereinstimmung von Vorstellung und Gegenstand zu erreichen. Nach Novalis' Ansicht ist die Möglichkeit einer solchen Entsprechung durch einen obersten Grundsatz garantiert, der das Zentrum der philosophischen Spekulationen bildet. Es handelt sich dabei um die zentrale Idee einer gedanklich unhintergehbaren Identität des Subjektiven und des Objektiven im Bewußtsein des Ich, welche in ihrer Funktion als zentrale Gelenkstelle aller wissenschaftlichen Operationen und Gedankenexperimente deren logischen Zusammenhang auf der Basis des begrifflich unerreichbaren Postulats einer >absoluten< Vernunft begründet.48 Auf der Grundlage seiner gleichzeitigen intensiven Beschäftigung mit Grundfragen der zeitgenössischen philosophischen Theorie des Selbstbewußtseins sowie seiner eingehenden Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften seiner Zeit entwirft Novalis in den Freiberger Studienheften den Plan einer enzyklopädistischen Behandlung aller nur denkbaren wissenschaftlichen Gegenstände und Methoden mit dem Ziel, die Vielfalt subjektiver und objektiver Wahrnehmungsperspektiven auf dem philosophischen und naturwissenschaftlichen Fundament ein und desselben definitorisch wirksamen Prinzips in ihren integralen Verflechtungen aufzuzeigen, wobei die einzelnen Wahrnehmungsweisen als >Grade< einer beabsichtigten wechselseitigen Annäherung des Realen und des Idealen qualifiziert werden. Definition und Klassification der Wissenschaften - nothwfendiges] und vollständiges] Princip der Definition und der davon abhängenden bes[ondern] Definitionen und Classificationen. Das höchste Princip ist der höchste Grad. Dem höchsten realen Grad entspricht d[er] höchste ideale Grad. Sollte Gott das Ideal des Grades und d[ie] Definition von Gott - der Keim aller Definitionen seyn. [...] Die Kenntniß des Graderhöhungsmittels und des Gradclassificationsmittels - und ihres Gebrauchs sezt uns in den Stand- zugleich] in die Weite und in die Tiefe zu gehn - zugleich] zu macrologisiren und zu mikrologisiren - und dies so weit fortzusetzen, als wir wollen - zum gegenseitigen Vortheil beyder Operationen, (ebd. 362, 554; vgl. 269, 155)

Der experimentelle Charakter des Freiberger Enzyklopädieunternehmens ist maßgeblich dadurch bedingt, daß sich Novalis bei seiner Betrachtung wissenschaftlicher Methoden durch Anschauungen und Ideen inspi48

»Du wirst das Princip der Classification] am besten durch classificirende Versuche lernen. Klassificire und definire Deinen Versuch wieder und so fort. Fichten muß man an der Logik fassen, die er voraussezt. (Absoluter Glaubensanickel.) (a=a etc.f)] Subjfect]- Praedicatund Copula.« (ebd. 363, 561). 277

rieren läßt, die er in der unmittelbaren Auseinandersetzung mit einer empirischen Forschung gewinnt, welche in der damaligen Zeit durch revolutionäre Entdeckungen auf den Gebieten der Physik, Chemie und Biologie gekennzeichnet ist. Darüber hinaus setzt er sich während seiner beruflichen Ausbildung und Tätigkeit zunehmend mit Techniken und Methoden der Verarbeitung und praktischen Nutzung natürlicher mineralischer Rohstoffe auseinander. Entsprechende Kenntnisse rezipiert er ebenfalls auf eine produktiv-schöpferische Weise und sucht sie im Rahmen seiner gedanklichen Beschäftigung mit den unterschiedlichsten Phänomenen der Wirklichkeitserfahrung kreativ umzusetzen, wobei er sie in origineller Weise seinem eigenen Denken und Dichten >assimiliertMineralischen< entwickelt, durch sein Studium der Wernerschen Mineralogie. Um das auslösende Moment, das insbesondere diese Studien für seine Gedankenentwicklung während der Freiberger Zeit und darüber hinaus beinhalten, zu verdeutlichen, seien abschließend zentrale Betrachtungsaspekte hervorgehoben, die seine intensive Beschäftigung mit der Wernerschen Mineralogie im Hinblick auf ihre Bedeutungszuweisung als Vorbild einer enzyklopädistischen Gedankenmethode erhellen. Novalis' Ansicht nach weist Werners Klassifikationslehre der Mineralien in ihrer - in unmittelbarer Orientierung an natürlichen materiellen Gegebenheiten durchgeführten - kombinatorischen Verknüpfung bestimmter Kennzeichen und Merkmale des >Mineralischen< grundlegende methodische Ansätze einer enzyklopädistischen Wirklichkeitsbetrachtung auf. Für Novalis gewinnt die mineralogische Kennzeichnung Werners ungeachtet der an ihr geübten Kritik eine signifikante Bedeutung. So erscheint ihm Werners Klassifikationsmethode als eine Art symbolisches '' »EncfyclopädistikJ. Meine W[issenschafts]Kunde wird eine Art v[on] wissfenschaftlicher] Grammatik - oder Logik [...] oder Compositionslehre - mit Beispielen. (Syntaxis.) (Nat[ur]Gescb[ichteJ d[er] Wissenschaften])« (HKA III 376, 616).

Verfahren, in dem sich die gedanklichen Operationen des Geistes in ihrer genealogischen Verknüpfung beispielhaft veranschaulichen.52 Encfyclopaedistik]. Wissensch[afts]anatomie - Physiologie. (Alles Höhere gehört zusammen - alles Niedre.) Specielle historische] Wissenschaftsanat[omie] und Physiologie] (mechanische] und chemische Zerkleinungs und Gliedrungslehre.) Durchführung eines Gegenstandes Tomisch - gnostisch - logischgenisch - metaphysisch - mathematisch etc. [...] Zuerst kommt d[ie] Kritik dfesj Unternehmens - dann das kritische Unternehmen selbst. (Irgendwo anfangen und stillstehn muß man. Mit einem Urglauben - Urwillen.) (Kritische WfissenschaftsJLfehreJ.) (ebd. 356f., 527) - [...] (Satz - Alle Wissenschaft] ist Eine), (Wenn mein Unternehmen zu groß in der Ausführung werden sollte - so geb ich nur die Methodik des Verfahrens - und Beyspiele - den allgemeinsten Theil und Bruchstücke aus den Besondern Theilen.) (ebd. 3 56, 526)

Werners mineralogische Lehre repräsentiert in Novalis' Augen eine Art >Schemaobjektiver< und >subjektiver< Wirklichkeitsperspektiven56 zu erreichen. 52

»Der (Formations) (Lebens)process unsrer Vorstellungen dürfte wohl der Gegenstand der Beobachtung und d[es] Nachdenkens des philosophischen Classificators und Systematikers seyn - wie auf eine analoge Weise der Lebensproceß der naturhistorischen Gegenstände das Phaenomen des Naturhistorikers.« (ebd. 334, 460). 53 »Eine Kritik der philosophischen Kriterien ist [...] von der äußersten Wichtigkeit für die Philosophie] - wie eine Kritik der naturhistorischen für die Naturgeschichte.« (ebd. 333f., 460). 54 »Encfyclopaedistik] [...] Verwandtschaften der Wissenschaften] [...]« (ebd. 332, 455). 5 ' »Philosophie ist überhaupt die Aufgabe zu wissen. Es ist eine unbestimmte Wissenschaft] der Wissenschaften - ein Mystizism des Wissenstriebes überhaupt - gleichsam der Geist der Wissenschaften] - mithin undarstellbar - als im Bilde oder in der Anwendung - in der vollkommnen Darstellung einer speciellen Wissenschaft. Nun hängen alle Wissenschaften zusammen - also wird die Philosophie nie vollendet. [...] Simplification und Combinat[ion] der Wissenschaften - Verwandlung aller Wissenschaften in Eine ist freylich eine philosophische Aufgabe - eine absolute Forderung der Lust zu wissen.« (ebd. 666, 60 j). 56 »Ein Objfect] so gut, wie ein Subject, kann zum Classificationsprincip dienen. Man kann das Eintheil[ungs]princip umgekehrt nach den Eintheilungsgliedern Classificiren - und in diesem gegenseitigen Classificiren und ihrem völligen Zusammentreffen liegt die Auflösung und Probe des Classificationsprocesses. Einth[eilungs] Grundsatz] und Eingetheiltes müssen sich gegenseitig erschöpfen. Das Wernersche Orykt[ognostische] System 280

Philosophie], i. Annahme: es giebt ein philosophisches] System. - 2. Beschreibung dieses Ideals - dieses Fantasms - 3. Gebrauch dieser Beschreibung. So mit dem mineralogischen System, (ebd. 374, 604) - Logik, etc. Wie ich zum Experimentiren eine allgemeine] Idee - idealisches Schema des Experimentirens mit hinzubringen muß - eine rohe Schematische Hypothese - so muß ich dem Demonstriren - dem idealen Experimentiren - ein rohes - bestimmbares - reizbares - objectives Schema zum Grunde legen. Jenes liefert die subjective - dies die objfective] Fantasie. Ein Plan ist ein Subfjectives] Schema. Wie der ideale und reale Versuch vorwärts rückt - wird das Schema mannichfaltiger - und harmonischer bestimmt - und umgekehrt mit der Vervollständigung und Erhöhung des Schemas klärt sich der Versuch auf, wird mannichfacher und höher grädig. Alle Beobachtung ist um so mehr Beobachtung, je specificirender oder classificirender - und zwar richtiger classificirend sie ist. Auch die richtige Ordnung in der Vermannichfachung gehört zum höhern Grade, (ebd. 357, 528) - Encfyclopädistik]. Eine Wissenschaft] läßt sich nur durch Gradirung aller ihrer Glieder perfectionniren und Gradiren 57 - So d[ie] Intelligenz, (ebd. 365, 569) Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Anerkennung jeder einzelnen wissenschaftlichen Disziplin in ihrer Funktion als >Glied< des gesamtwissenschaftlichen >SystemsGradierungSonnensalzfabrikationGradierung< bezeichnet; zu Novalis' Berufstätigkeit, innerhalb derer er insbesondere mit technisch-praktischen Fragen der Salzherstellung befaßt war, siehe bes. das in HKA V veröffentlichte und kommentierte Verzeichnis der sogenannten >Salinenschriften< (1798-1800), ebd. 30-120 und die von Mahl verfaßte Einleitung, ebd. 17-26. 58 »Encfyclopaedistik]. Anwendung des Systems auf die Theile - und der Theile auf das System und d[er] Theile auf die Theile. [...] Anwend[ung] [...] der Glieder und Best[and]th[eile] untereinander.« (ebd. III 333, 460) - »EncfyclopaedistikJ. Universale Poetik und vollständiges] System der Poesie. Eine Wissenschaft ist vollendet, i. wenn sie auf alles angewandt ist - 2. wenn alles auf sie angewandt 151-3. Wenn sie, als absfolute] Totalitaet, als Universum betrachtet - sich selbst als abs[olutes] Individuum mit allen übrigen Wissenschaften] und K[ünsten], als relativen] Individuen, untergeordnet wird.« (ebd. 272, 176). 28l

sehe System die festen Puncte auf - und macht aus dem Ruhenden ein Schwebendes. Sie lehrt die Relativitaet aller Gründe und aller Eigenschaften - die unendl[iche] Mannichfaltigkeit und Einheit der Construktionen eines Dinges etc. [...] Jede Wissenschaft] ist selbst eine specificirte Philosophie]. [...] Die W[issenschafts]L[ehre] oder die reine Philosophie] ist das Relationsschema der Wissenschaften] überhaupt, (ebd. 378, 622. 623. 624) - Vorbereitungswissenschaften giebts, wie Vorbereitende Künste. Es giebt Wissenschaften] und K[ünste] die gleichsam die Schlüssel zu allen sind - hat man diese inne, so werden die ändern mit Leichtigkeit erlernt und ausgeübt. Die Basis aller Wissenschaften und Künste muß eine Wissenschaft] und Kunst seyn - die man der Algeber vergleichen kann [...] Die höchste Elementarwissenschaft ist diejenige, die schlechterdings kein bestimmtes Obj[ect] - sondern ein reines N. behandelt. [...] Das N Machen mit dem N Organ ist der Gegenstand] dieser allgemeinen] Kunstlehre und Kunst. (Vielleicht nichts anders, als ächte Philosophie - als Bildungslehre und Bildungskunst und Erweckungsmittel des Genies überhaupt.) (ebd.257f., 90. 92)

Der ausgezeichnete Stellenwert, den Novalis den mineralogisch-geologischen Disziplinen im Hinblick auf die projektierte Ausbildung einer umfassenden >Experimentallehre< des Geistes einräumt, zeigt sich in seinen Augen auch darin, daß ihre Gegenstände - d.h. die konkreten Formationen etwa der Kristalle, der Gesteinsschichten oder der Felsen- und Gebirgsbildung - aufgrund ihres besonderen naturgeschichtlichen Status als basale Organisationsformen der materiellen Natur einen formalen Vorbildcharakter als sichtbare Manifestationen der universalen Tätigkeitsstruktur eines historisch-genetischen Prozesses aufweisen, in den aus naturphilosophischer Sicht das menschliche Bewußtsein selbst als geologischer Faktor integriert ist.59 Enc[yclopädistik]. i. Geäächtniß Wissenschaften - Natur Elementar Wfissenschaften] (NaturElemente. Kunstelemente) 2. Wissenschaften] d[es] Kombinationsvermögens = Wissenschaften] des Zusammengesezten. etc. (ebd. 275, 196) - Die Geologie ist [...] eine zusammengesezte, individuelle - Gedächtniß Wissenschaft [...] (ebd. 152)

Unter formalen Gesichtspunkten erscheint dem Philosophen und Naturwissenschaftler etwa auch das Phänomen des kristallinen Aufbaus der anorganischen Materie, in dem sich der gesamte Strukturbildungsprozeß des Anorganischen in seiner chemisch-physikalischen Bedingtheit (Einwir59

Vgl.: »Die Körper sind in den Raumprecipitirte und angeschoßne Gedanken [...] Wenn in uns die Welt entsteht - so entsteht das Weltkörpersystem zuerst - und so herunter - Das Astralsystem ist das Schema d[er] Physik. Übersetzung desselben auf die Oberfläche - in Fossilien - Pflanzen, und Thiere. Der Mensch ist der Focus des Aethers. (Begr[iffj v[om] Aether.)« (ebd. 449, 942). 282

kung von Gravitationskräften, chemisches Mischungsverhältnis der stofflichen Bestandteile, Wärmeaustausch etc.) gewissermaßen spiegelt, als eine Art symbolische Ausprägung eines enzyklopädistischen >GestaltklassifikationsschemasStein< bis zum >MenschenSchemas< als prinzipiell übereinstimmende Manifestationen jenes Bildungsgesetzes erkennbar. Die anorganischen Bildungen prägen sich miniaturhaft beispielsweise in den Kristallen der Mineralien und Gesteine aus, oder sie kehren in >kolossaler< Gestaltgebung in den regelmäßigen Formationen der Erdschichten und der Felsenund Gebirgsbildung in analoger Weise wieder. Aus der Sicht des Geologen und des Philosophen repräsentieren diese Formationen dabei auf ganz individuelle Art somit auch jenes formale Strukturgesetz, an dem sich das beabsichtigte enzyklopädische Vorhaben einer >Selbstorganisation< des wissenschaftlichen Geistes orientieren kann. Das ächte Schema - d[ie] ächte Formel indicirt zugleich seine Entstehung - seinen Gebrauch etc. (vollständiger] Gebrauchszettel jedes Gegenstandes] nebst dem Recepte und d[er] Beschreibung). (Die Etiquette bey dfen] Fossilien) (ebd. 365, 571) - Nat[ur] GeschfichteJ. Wie alle Wissenschaften] sich einer gemeinschaftlichen - philosophischen] Wissenschaft] - mehr oder weniger nähern - und darnach eingetheilt werden können, so ließen sich auch wohl die Fossilien nach einem philosophischen] Fossil ordnen - die äußre Beschreibung dieses philosophischen] Fossils wäre der jetzige praeparative Theil. Doppelte äußre Classification der Fossilien. Idealisches - vollkfommenes] äußres Fossil einfaches äußres Fossil. Formales - reales Fossil. Doppeltes formales Fossil. (So auch mit d[en] Wissenschaften]) (ebd. 364, 564) - Die einzelnen Wissenschaften werden qualitatibus, nicht quantitatibus gebildet. So ist die Probierkunde keine andre Wissenschaft] als die Hüttenkunde - Die Felsenbild[ungs]L[ehre] keine andre, als d[ie] FossilienBild[ungs]L[ehre] - Migniatur und Colossalwissenschfaft]. (ebd. 450, 948)

Vor dem Hintergrund der enzyklopädistischen Konzeption der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen und ihrer Gegenstände, wie sie Novalis auf der Grundlage seiner philosophischen Rezeption von Werners Mineralogie entwickelt hatte, werden nun im folgenden ausgewählte mineralogisch-geologische und montanistische Bilder und Begriffe aus seinem 0

»Einzelne Fossilien] Gestalten] - Zusammengesezte Fossiliengestalten. Diese werden auch nach dem Gestaltclassificat[ions]Schema eingetheilt.« (ebd. 158) 283

theoretischen Werk und seiner Dichtung näher betrachtet. Die Auswahl der Motive orientiert sich primär an der Fragestellung, an welchen dieser naturwissenschaftlichen Motive und Gedankenfiguren sich mögliche prinzipielle Überschneidungen zwischen Bewußtseinsphilosophie, moderner Physik und Chemie sowie geschichtlich überlieferten Sichtweisen z.B. aus dem Bereich der antiken Mythologie oder der mittelalterlichen Hermetik und nicht zuletzt auch den poetologischen Entwürfen des Novalis besonders anschaulich verdeutlichen lassen. Meine These lautet, daß zwischen den unterschiedlichen Vorstellungsgehalten, welche die jeweiligen Symbole und Begriffe implizieren, sowohl unter motivgeschichtlichen als auch unter strukturtheoretischen Gesichtspunkten Bedeutungsbeziehungen hergestellt werden können, die sich am Beispiel jedes einzelnen dieser Motive aufweisen lassen. Zu vermuten ist, daß sich die vielschichtige Sinnzuweisung, welche der Topos des >Mineralischen< in seiner Eigenschaft als Objekt einer naturwissenschaftlichen, mythologisch-religiösen, ästhetischen oder gar gesellschaftlich-politischen Erörterung im Werk des Novalis erfährt, auch in Anbetracht des eigentümlichen theoretischen Status erhellen läßt, der dem Reich des Anorganischen in der Naturphilosophie und Naturwissenschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts in seiner Bedeutungsfunktion als symbolische Anschauung der begrifflich unhintergehbaren Seinsbasis einer naturgeschichtlichen Evolution des Geistes eingeräumt wird - einer Geschichte des Geistes, die sich in der poetischen Imagination des Dichters in ihren facettenreichen Darstellungsdimensionen im Sinne einer zweiten, ihrem Gegenstand auf komplementäre Weise entsprechenden Natur >potenziert< und spiegelt. 3.1.2.2 Poetik und Philosophie Die Natur als »Chiffernschrift« Im Eingangskapitel der >Lehrlinge zu Sais< zeichnet der Erzähler ein Bild der Natur, das in der phantasievollen Verknüpfung ihrer Figuren und Gestalten mit der menschlichen Daseinsentwicklung auf symbolische Weise zu korrespondieren scheint. In den konkreten Anschauungen, mittels derer der Erzähler seine Gedanken zu illustrieren sucht, spiegeln sich Wahrnehmungen wider, die der chemisch-physikalischen, mineralogisch-geologischen und biologischen Forschung des 18. Jahrhunderts entstammen. Ihrem Betrachter erscheinen die >wunderlichen< Figuren, welche die Natur entstehen läßt, als integrale Bestandteile einer »großen Chiffern284

schrift«.6' Deren individuelle Erscheinungsformen enthalten für ihn zugleich einen >SchlüsselZeichen< und >Figuren< als Träger einer universalen >Sprachlehre< erschließbar wird. Erahnen läßt sich dieser eigentümliche Sinn der materiellen Naturphänomene nach Ansicht ihres Betrachters allerdings nur in seltenen Augenblicken, nämlich dann, wenn sich seine >Gedanken< in einer Weise auf das sinnlich Erfahrbare konzentrieren, so daß die vielfältigen Bezüge, die durch das Wahrgenommene eröffnet werden, sich für einen Moment im Blick des Betrachters sammeln und ihm dabei eine flüchtige Ansicht auf die »wunderbare Welt« (ebd. I 81) im eigenen Seeleninnern eröffnen. Mannigfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehen; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunkturen des Zufalls erblickt. In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser Wunderschrift, die Sprachlehre derselben; allein die Ahndung will sich selbst in keine feste Formen fügen, und scheint kein höherer Schlüssel werden zu wollen. Ein Alkahest scheint über die Sinne der Menschen ausgegossen zu sein. Nur augenblicklich scheinen ihre Wünsche, ihre Gedanken sich zu verdichten. So entstehen ihre Ahndungen, aber nach kurzen Zeiten schwimmt alles wieder, wie vorher, vor ihren Blicken, (ebd. 79)

In dem Naturbild, das Novalis im Eingangskapitel seines >Naturromans< entwirft, kreuzen sich unterschiedlichste Betrachtungsperspektiven. So verweisen zentrale Begriffe und Motive, die er zur Beschreibung der seelischen Erfahrung der Natur als einer universalen >Sprachlehre< eines höheren Bewußtseins verwendet, einerseits auf einen zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Erfahrungskontext, der sich ihm im Verlauf seiner Freiberger Studienzeit im Rahmen dortiger Studien erschlossen hatte. Andererseits ist von Vorstellungsgehalten die Rede, deren archaischer Bedeutungscharakter aus den tieferen Schichten einer traditionellen Überlieferung uralter Mythen und Symbole resultiert. So hatte sich Novalis während seiner Freiberger Zeit auch eingehender mit Fragen der mittelalterlichen Naturlehre - und hier insbesondere mit medizinischen und theosophisch-alchemistischen Theorien - sowie mit naturphilosophi4|

Mit der Vorstellung der Natur als »Chiffernschrift« (ebd. I 79) lehnt sich Novalis an den Begriffsgebrauch Kants an (vgl. Kant, Urteilskraft § 42, S. 648). 285

sehen Gedanken auseinandergesetzt, welche die neuesten Entdeckungen der damaligen naturgeschichtlichen Forschung in den umfassenderen Deutungskontext einer mythisch-religiösen Weltanschauung stellten. Zudem beteiligte er sich aktiv an einer philosophischen Diskussion, deren thematischer Mittelpunkt der gedankliche Entwurf einer Dichtungstheorie bildete, die der poetischen Erzählform des Mythos auf der Basis der zeitgenössischen Bewußtseinsphilosophie unter ausdrücklichem Einbezug der wissenschaftlichen Grundlagen der neueren >PhysikNeuen Mythologie der Vernunft< (J.G. Herder, F. Schlegel, F.W.J. Schelling u.a.)63 bildet einen weiteren Verständniskontext, vor dem sich die in 61

Vgl.: »Ich will es kurz sagen, worauf offenbar der Mangel einer eigentlichen Symbolik in der neueren Welt beruht. Alle Symbolik muß von der Natur aus- und zurückgehen. Die Dinge der Natur bedeuten zugleich und sind. Die Schöpfungen des Genies müssen ebenso wirklich, ja noch wirklicher seyn, als die sogenannten wirklichen Dinge, ewige Formen, die so nothwendig fortdauern als die Geschlechter der Pflanzen und Menschen. Ein wahrer symbolischer Stoff ist nur in der Mythologie, die Mythologie selbst aber nur durch die Beziehung ihrer Gestaltungen auf die Natur möglich. [...] die Wiedergeburt einer symbolischen Ansicht der Natur wäre daher der erste Schritt zur Wiederherstellung einer wahren Mythologie.« (Schelling, System 58if.) - »Der Idealismus in jeder Form muß auf eine oder die andre Art aus sich herausgehn, um in sich zurückkehren zu können und zu bleiben, was er ist. Deswegen muß und wird sich aus seinem Schoß ein neuer, ebenso grenzenloser Realismus erheben und der Idealismus also nicht bloß in seiner Entstehungsart ein Beispiel für die neue Mythologie, sondern selbst auf indirekte Art Quelle derselben werden. Die Spuren einer ähnlichen Tendenz könnt ihr schon jetzt fast überall wahrnehmen; besonders in der Physik, der es an nichts mehr zu fehlen scheint, als an einer mythologischen Ansicht der Natur. [...] Die Mythologie ist ein solches Kunstwerk der Natur. In ihrem Gewebe ist das Höchste wirklich gebildet; alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr eigentümliches Verfahren, ihr innres Leben, ihre Methode, wenn ich so sagen darf. [...] Versucht es nur einmal, die alte Mythologie voll vom Spinoza und von jenen Ansichten, welche die jetzige Physik in jedem Nachdenkenden erregen muß, zu betrachten, wie euch alles in neuem Glanz und Leben erscheinen wird. [...] Ich kann nicht schließen, ohne noch einmal zum Studium der Physik aufzufordern, aus deren dynamischen Paradoxien jetzt die heiligsten Offenbarungen der Natur von allen Seiten ausbrechen. [...] Man knüpft da zunächst an, wo man die ersten Spuren des Lebens wahrnimmt. Das ist jetzt in der Physik. [...] Es ist in der Tat wunderbar, wie die Physik, sobald es ihr nicht nur um technische Zwecke, sondern um allgemeine Resultate zu tun ist, ohne es zu wissen in Kosmogonie gerät, in Astrologie, Theosophie oder wie ihrs sonst nennen wollt, kurz, in eine mystische Wissenschaft vom Ganzen.« (F. Schlegel, Gespräch über die Poesie (1800), in: ders., Schriften, hrsg. v. W. Rasch, München 1970,8.301-311, hier S. 303, 305, 3o6f., 3o8f.). 63 Vgl. dazu: »Unsre Vernunft bildet sich nur durch Fictionen. Immerdar suchen und erschaffen wir uns ein Eins in Vielem und bilden es zu einer Gestalt; daraus werden Begriffe Ideen, Ideale. [...] Und doch waren bereits trefliche Erzählungen, Kern- und Lehrsprüche in der Deutschen Sprache; nur sie standen in ihr ohne Imagination da. Es fehlte der Sprache an einer eignen Mythologie, an einer fortgebildeten Heldensage, an poetischer 286

Novalis' Dichtung bewußt inszenierte Verschmelzung von Vorstellungsgehalten der modernen Bewußtseinsphilosophie, Naturwissenschaft und Poetik mit historisch ererbten Bildern und Perspektiven in ihrer philosophischen und poetologischen Motivation erklärt. Auf den motivgeschichtlichen Verständnishintergrund, den die im Eingangsabschnitt der >Lehrlinge zu Sais< angeführten Naturbeobachtungen im Hinblick auf ihre Bedeutung als >Zeichen< einer universalen >Sprachlehre< entfalten, kann im Rahmen der vorliegenden Ausführungen allerdings nur in Andeutungen hingewiesen werden. Der Schwerpunkt des Folgenden liegt vielmehr auf einer exemplarischen Skizze von Bedeutungsaspekten, welche insbesondere die angeführten mineralogischen Motive in ihrer poetologischen Funktion als Sinnbilder der frühromantischen Dichtungskonzeption64 auf der Folie von Novalis' Rezeption der zeitgenössischen Naturwissenschaft und Philosophie entfalten. Der Begriff der >ChiffernschriftMythopoetik< des Novalis: Jochen Schubert, >... wunderbare SynthesieAlkahest< als eines universalen Auflösungsmittels (>menstruum universaleLehrlinge zu Sais< mit dem naturphilosophischen Denken der Vorsokratiker und ihren kosmologischen Weltentwürfen beschäftigt.65 Mit der Gedankenwelt der mittelalterlichen Alchemic und Naturkunde war er durch entsprechende Studien vertraut, die bereits für das Frühjahr des Jahres 1797 nachgewiesen werden können.66 Der antike Topos des >Buches der NaturLehrlingen zu Sais< mit gedanklichen Konzeptionen der mittelalterlichen Hermetik verknüpft, wie etwa der Paracelsischen und Helmontischen >SignaturenlehreSignaturen< göttlicher Kräfte68 und wendet auf der Grundlage dieses >Arkanwissens< jene inhärenten Naturkräfte in Übereinstimmung mit dem uniPotenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es - Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche - dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisirt - Es bekommt einen geläufigen Ausdruck. Romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung.« (HKA II 545, 105). *5 Siehe dazu WTB III 108. 118. 66 Siehe das Schreiben des Novalis vom 26. Dezember 1797 an F. Schlegel (HKA IV 241244, bes. 242) und dazu U. Gaier, Krumme Regel, Tübingen 1970, S. 127, Anm. 71. 7 Siehe dazu WTB III i i^f. und zur Bedeutungsgeschichte des Begriffs den Artikel >Buch der Natur< im Historischen Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter u. K. Gründer, Bd. i, Darmstadt 1971, Sp.957-959. i8 »[...] Eins in allem und alles im Einen / Gottes Bild auf Krautern und Steinen / Gottes Geist in Menschen und Thieren, / Dies muß man sich zu Gemüthe führen. [...]« (HKA I 318; vgl. >An Tieck< in: ebd. 41 iff.) - dieser Abschnitt aus dem Einleitungsgedicht zum II. Teil des >Heinrich von Ofterdingen< ist eine direkte Anknüpfung an eine Stelle aus einer Schrift des Paracelsusschülers Johann Baptist van Helmont mit dem Titel >Aufgang der Artzney-Kunst< (1683), die Novalis vermutlich im Jahr 1798 gelesen hatte; vgl. Helmont: »Aus Worten / Krautern und Gesteinen / last Gott viel Wunder-Krafft erscheinen.« (J.B. van Helmont, >Aufgang der Artzney-Kunst< (1683), reprod. Nachdruck München 1971, Kap. 2i, S. 1077). Es handelt sich also um eine Anspielung auf die mittelalterliche Signatu288

verseilen heilsgeschichtlichen Ordnungskonzept der Natur praktisch an.69 Ein Ziel des Alchemisten dabei ist, ein allgemeines Auflösungsmittel (>menstruum universales >Alkahestklardurchsichtig< und >flüssig< bezeichnete Substanz, herstellen lassen sollten.71 Novalis' Übertragung konkreter Beobachtungen aus dem Bereich der aktuellen chemisch-physikalischen und geologischen Forschung in einen dichterischen Darstellungskontext ist stark beeinflußt durch traditionsgerenlehre, mit der sich Novalis nicht - wie von der Forschung lange Zeit angenommen zuerst über seine Lektüre der Schriften Jakob Böhmes (die erst im Herbst des Jahres 1799 einsetzten) beschäftigt hatte; siehe dazu WTB I 61. 105. 179 u. dazu auch hier S. 337ff. 69 In der hermetischen Naturansicht sind religiöse, heilkundliche und kosmologische Gedankenkonzepte untrennbar miteinander verknüpft. Es handelt sich hierbei um Anschauungen, die Novalis natürlich auch im Zusammenhang mit seinen Studien zu zeitgenössischen medizinischen Lehren und hier insbesondere zu Browns und Röschlaubs Reizpathologie (siehe hier S. 208 ff.) interessiert haben mußten. Kenntnisse über die mittelalterliche hermetische Naturlehre sowie deren >morgenländische< Ursprünge eignete er sich u.a. über seine Lektüre entsprechender Kapitel aus D. Tiedemanns >Geist der spekulativen Philosophie< (6 Bde., Marburg 1791-1797, hier bes. Bd.V 5i4ff.) sowie aus K. Sprengeis >Versuch einer pragmatischen Geschichte der Arzneykunde< (Teile I-V, Halle 1792-1799, hier bes. Teil I 29-67; Teil II124-160; III 226-456) im Herbst des Jahres 1798 ungeachtet der dort sehr kritisch dargestellten Lehren an (zu Novalis' Lektüre von Tiedemanns philosophie-historischer Schrift siehe Mahl, Novalis und Plotin, in: Jahrb. d. freien Dt. Hochstifts, Tübingen 1963, 8.171-206; ders., Anm. in HKA III 852ff. 937. 975ff. 98 iff.; Gaier, op. cit. I09if.). Darüber hinaus entlieh sich Novalis während dieser Zeit von F. Schlegel die Werke J.B. van Helmonts und R. Fludds (siehe Novalis' Schreiben an C. Schlegel vom 9-/i6. September 1798, HKA IV 261 u. dazu ebd. 84if.). Daneben finden sich in seinen naturwissenschaftlichen Schriften Lektürelisten, in denen u.a. auch alchemistische Werke aufgeführt sind, die er in der Freiberger Bibliothek einsehen konnte und die dort noch heute stehen (siehe ebd. III 34.754 und dazu ebd. 84of.). Zu Novalis' Rezeption neuplatonischer, hermetischer und mystisch-kabbalistischer Denkvorstellungen siehe H. Schipperges, Kosmos Anthropos. Entwürfe zu einer Philosophie des Leibes, Stuttgart 1981, S. 181-338; Gaier, op. cit. bes. 109-252; zur allgemeinen Rezeption mittelalterlicher hermetischer Traditionen im ausgehenden 18. Jahrhundert siehe u.a. R.C. Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts, Bde. I u. II, München 1969 u. 1979; zum allgemeinen kulturgeschichtlichen und naturwissenschaftlichen Verständnis alchemistischer Bilder und Denkfiguren siehe R. Federmann, Die königliche Kunst. Eine Geschichte der Alchemic, Wien, Berlin, Stuttgart 1964; Luschen, op. cit. 39ff.; E. O. v. Lippmann, Entstehung und Ausbreitung der Alchemic, Bde. I u. II, Berlin 1919 u. 1931. 70 Der Begriff >Alkahest< wurde von Paracelsus aus dem mittelhochdeutschen >al-gehist< (= >AllgeistMenstruum< in seiner Funktion als Auflösungsmittel, mit dessen Hilfe sich chemische Stoffe in ihre Ausgangsbestandteile zerlegen ließen, übernommen und weiterverwendet, siehe hier S. 159ff., dazu WTB III 120. 356. 289

schichtlich überlieferte Kenntnisgrundlagen, die neben den philosophischen Studien eine weitere Folie seiner produktiven Wahrnehmung der zeitgenössischen Naturwissenschaften72 bilden. Die Auswahl spezieller Figuren und Motive, die innerhalb des dichterischen Verweisungszusammenhangs zu Sinnbildern eines umfassenden poetologischen Programms avancieren, das in den >Lehrlingen zu Sais< in Grundzügen entworfen wird,73 ist darüber hinaus auch dadurch bedingt, daß bestimmten Objekten im Kontext der zeitgenössischen Physik und Chemie und der damit verknüpften naturphilosophischen Annahmen ein besonderer Bedeutungsgehalt als schematischen Anschauungsformen universalgesetzlicher Bildungsprinzipien der Materie zugewiesen wird. So veranschaulichen beispielsweise die im Eingangsabschnitt der >Lehrlinge< angeführten Motive des Flügels, der Eierschalen, des Kristalls sowie der um einen Magnet angeordneten Feilspäne oder der mit der Vorstellung der >berührten und gestrichenem Scheiben von Blech74 und Glas angesprochenen sogenannten Chladnischen >Klangfiguren