Struktur und Einheit der Metamorphosen Ovids [Reprint 2019 ed.] 9783110829600, 9783110051469

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Struktur und Einheit der Metamorphosen Ovids [Reprint 2019 ed.]
 9783110829600, 9783110051469

Table of contents :
VORWORT
INHALT
EINLEITUNG
I. URZEIT
II. MYTHISCHE ZEIT
III. HISTORISCHE ZEIT
SCHLUSS
ANMERKUNGEN

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WALTHER LUDWIG

Struktur und Einheit der Metamorphosen Ovids

WALTHER LUDWIG

Struktur und Einheit der Metamorphosen Ovids

1965 W A L T E R D E G R U Y T E R & CO

• BERLIN

30

vormals G. J. Göschen'schc Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchii aedluag • Georg Reimer Karl J. Trabner • Veit & Comp.

Archiv-Nr. 3633641

© 1964 by Walter de Grayter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30. Printed in Germany Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Budi oder Teile daraus auf photomedianischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielffiltlgen. Satz und Druck: Buchdrudterei Paul Funk, Berlin 30

KURT VON FRITZ gewidmet

VORWORT Zu den Metamorphosen schrieb Hans Herter im Jahr 1948 (AJPh 69, S. 137): „es müßte auch in fortlaufender Interpretation gezeigt werden, wie alles im Zusammenhang seinen Sinn erhält." Auch die wertvollen Ovidbücher von Hermann Fränkel (1945), L. P. Wilkinson (1955) und S. d'Elia (1959) haben diese Forderung noch nicht erfüllt. Die Metamorphosen gelten weiterhin mehr oder weniger als ein Labyrinth von etwa 250 Verwandlungssagen von der Entstehung der Welt bis zur Zeit des Augustus. In der vorliegenden Schrift wird versucht, eine Strukturanalyse des ganzen Werkes zu geben, die die planvolle Ordnung erkennen läßt, welche sich hinter den scheinbar willkürlichen Ubergängen verbirgt. Ein neues Verständnis der Einheit dieser Dichtung und ihrer Stellung innerhalb der Geschichte des antiken Epos kann vielleicht auf diese Weise erreicht werden. Das kleine Buch, hervorgegangen aus einer im Wintersemester 1963/64 an der Universität München gehaltenen Vorlesung, wendet sich nicht nur an Philologen im engeren Sinne; es möchte auch allen Freunden der antiken Literatur eine Anleitung zu einer genußreichen Lektüre der Metamorphosen im ganzen zu geben versuchen. Das Manuskript haben ganz oder zum größten Teil Herr Prof. Dr. V. Buchheit und Herr Privatdozent Dr. W. Bühler gelesen, denen ich für Anregungen, Kritik und Zustimmung danke; mein besonderer Dank gilt Herrn Dr. H. J. Newiger, der sich der Mühe des Korrekturenlesens unterzog und durch seine Bemerkungen den Text an zahlreichen Stellen verbesserte. München, im September 1964 Walther

Ludwig

INHALT Seite

Einleitung I. Urzeit 1. Met. 1,5—451 II. Mythisdie Zeit

11 15 15 20

2. Met. 1,452—II, 835

20

3. Met. II, 836—IV, 606

26

4. Met. IV, 607—V, 249

31

5. Met. V, 250—VI, 420

33

6. Met. VI, 421—IX, 97

39

7. Met. I X , 1—446

47

8. Met. I X , 447—XI, 193

51

III. Historische Zeit 9. Met. X I , 194—795

60 60

10. Met. X I I , 1—XIII, 622

62

11. Met. X I I I , 623—XIV, 440

65

12. Met. X I V , 441—XV, 870

68

Schluß

74

Anmerkungen

87

EINLEITUNG Der Leser, der nicht die eine oder die andere der zahllosen Verwandlungsgeschichten aus dem Ovidischen Meisterwerk herausgreift und wie ein für sich bestehendes Epyllion genießt, der vielmehr dem Prooemium des Dichters gemäß das Epos als Carmen perpetuum aufnehmen möchte, sieht sich zumeist bald in ein Labyrinth der verschiedensten Sagen gestürzt. In perspektivischem Spiel öffnen sich immer neue Erzählebenen. Durch paradoxe Ubergänge scheint Ovid nach Laune zu assoziieren. So gelangt man vom Chaos schließlich zu Augustus, und der Reiz scheint eben der zu sein, daß hier alles möglich ist. Greift man, um diesen Eindruck zu klären, zu einer der heute maßgebenden Oviddarstellungen, so findet man ihn im ganzen bestätigt. W. Kraus schreibt in Paulys Realencyklopädie über den Aufbau der Metamorphosen1: „Um das Prinzip des durchgängigen historisch-chronologischen Zusammenhangs durchzuführen, schmiedete Ovid sich zunächst aus den geeigneten Elementen der großen Sagen eine Kette von in irgendeiner Weise ineinander greifenden Gliedern, um dann das, was vereinzelt blieb, da und dort, wo sich Gelegenheit bot, einzusetzen. An die Entstehung der Welt aus dem Chaos... schließt sich die Schilderung der zwei Urweltkatastrophen, Sintflut und Weltbrand . . . , dazwischen Göttermythen: Apolls Kampf mit Python, seine Liebe zu Daphne, Zeus und Io; die Reihe der Götterliebdien wird dann mit Kallisto, Koronis und anderen fortgesetzt. Europa leitet über zu Kadmos und den thebanischen Geschichten um die Dionysosgeburt. Dann geht die Erzählung nach Argos über, zu Perseus. Es folgt eine Reihe, bei der noch durchsichtig ist, daß sie auf der Gleichheit des Motivs beruht (,mit Göttern soll sich nicht messen irgendein Mensch'): Pieriden, Aradine und die in

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Einleitung

Athenes Gewebe dargestellten Geschichten, Niobe, Marsyas. Nadi einer synchronistischen Orientierung... wird gewaltsam eine attische Sagenreihe angeknüpft, eingeschoben die Argonauten mit ausführlicher Behandlung von des Dichters Lieblingsgestalt Medea. Mit Theseus ist Minos samt Scylla und Daedalus verflochten, zu Theseus wird auch die kalydonische Jagd gezogen. Eine Analogie leitet zu Herakles über, ein Göttergespräch zurück zu Minos und den kretischen Geschichten von Byblis und Iphis. Wieder ein gewaltsamer Ubergang zu Orpheus . . . Ein beiläufiger Ubergang führt zum troischen Kreis; auf die Vorgeschichte, Mauerbau, Peleus und anderes, folgt der K r i e g . . . Mit Aeneas kommt der Dichter nach Italien und von da an hat e r . . . den festen Bodefa pragmatischer Sagenhistorie unter den Füßen. Dieser Zusammenhang reicht bis Egeria, dann reißt der Dichter kurz vor dem Ende den solange gehegten Faden mutwillig ab, um in zwei großen Sprüngen über Aeskulaps Einführung in Rom mit Caesars Apotheose zur Gegenwart und in die politische Aktualität zu gelangen." L. P. Wilkinson erklärt in seinem Buch ,Ovid recalled'2 :„After the introduction (the creation and the flood) the poem falls into three roughly equal parts, dealing respectively with gods (I, 452—VI, 420), heroes and heroines (VI, 421—XI, 193), and .historical' personages (XI, 194—XV, 8 7 0 ) . . . ; but there are many digressions that blur these classifications. From the flood down to the end of book XI the only basis for chronological sequence is such as the ancient genealogies might suggest, save that the legends in part I are mainly primeval, whereas those in part II belong to an era which may be called that of Hercules, conceived as being not much anterior to the Trojan saga. For the rest, we have grouping round certain themes, places or personalities . . . In the course of book XI we enter the twilight before history, where there is a traditional sequence of events, from Priam's Troy and Aeneas' wanderings to Romulus' Rome. Not until the last book do we emerge into the full daylight of Roman history." Hier werden die Metamorphosen zwar nicht einfach als

Einleitung

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„Sagenkette von irgendwie ineinandergreifenden Gliedern" beschrieben, vielmehr erscheint eine Gliederung in drei Hauptteile nach einer von Schöpfung und Sintflut handelnden Einleitung8 — eine Gliederung, die sich jedoch sogleich wieder ins weitgehend Unverbindliche auflöst (und tatsächlich ist in 1,452—VI, 420 ja auch nicht nur von Göttern, sondern ebensosehr von Heroen und Heroinen die Rede, ebenso umgekehrt dann in VI, 421—XI, 193 nicht nur von Heroen und Heroinen, sondern auch von Göttern). Gewiß ist in diesen Darstellungen vieles richtig gesehen. Die herkömmliche Betrachtungsart scheint mir jedoch grundsätzlich an zwei Fehlern zu kranken. Erstens richtet sich der Blick zu sehr auf die oft in der Tat sehr äußerlichen Verknüpfungen der Geschichten und zu wenig auf die inneren Bezüge zwischen ihnen4. Ovid hat den Grund, weshalb er zwei Sagen nebeneinander stellte, in der Regel nicht in den Versen genannt, mit denen er von der einen Sage zur anderen überleitete. Die Motive ergeben sich vielmehr aus den inneren Charakteristika der Geschichten selbst. Thematische Gemeinsamkeiten und Kontraste verschiedener Art haben primär zu der Zusammenordnung geführt, die dann sekundär durch irgendeine Assoziation ermöglicht wurde. Zweitens konzentriert sich die Aufmerksamkeit meist auf eine einzelne Geschichte bzw. den unmittelbar angrenzenden Sagenzusammenhang. Motivische Beziehungen zu ferner stehenden Abschnitten fallen so oft nicht auF. Sie werden nur dann bewußt, wenn dem Leser jeweils zusammen mit der Geschichte, die er gerade interpretiert, der ganze vorausgegangene Teil der Metamorphosen gegenwärtig ist. In diesem Fall ergeben sich ihm aber auch leicht Bezüge, die die Struktur des Ganzen erhellen. Es lösen sich dann organisch zusammenhängende Komplexe aus dem ununterbrochenen Lauf der Erzählung heraus, und eine vielfach gegliederte und in sich gestufte Einheit wird sichtbar. Die vorhandenen Kommentare haben leider wenig getan, um den Blick auf solche Zusammenhänge zu öffnen. Da die Grenzen der strukturierenden Teile meist nicht mit den Buchgrenzen zusammenfallen, zerschneiden die auf die einzelnen Bücher aufgeteilten Gliederungsüber-

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Einleitung

sichten der Kommentare organische Zusammenhänge und verstärken so den Eindruck der bunten, willkürlichen Aneinanderreihung. Auf den folgenden Seiten wird deshalb versucht werden, analysierend im Aufstieg zu immer größeren Einheiten die Struktur der Metamorphosen zu klären. Es sollen nur die entscheidenden Linien nachgezogen werden. Sobald die Grundstruktur gesehen ist, entdeckt man leicht ergänzende Bezüge, und auch dieser erste Durchblick wird entsprechend dem komplexen Bau des Werkes erst nach verhältnismäßig umständlichen, mit zahlreichen mythologischen Einzelheiten befrachteten Darlegungen, die Geduld und Wohlwollen des Lesers zur Genüge in Anspruch nehmen, erreicht werden®.

I. URZEIT 1. Met. 1,5—451 Nach dem Prooemium setzt die Erzählung Ovids ab origine mundi bei der Beschreibung des Chaos ein (5—20), schildert den Prozeß von der ersten Scheidung der Elemente bis zur Vielfalt der Einzeldinge (21—71)T und läßt als Krönung die Entstehung der Lebewesen bis zum Menschen folgen (72—88)". Die Erde ist verwandelt. An die „Schöpfungsgeschichte", die die aufsteigende Entwicklung vom ungestalten Chaos zum gestalteten Kosmos zum Gegenstand hatte und im Bild des Menschen als einem Ebenbild Gottes gipfelte, schließt sich als zweiter Abschnitt die Sage von den vier Weltaltern, die stufenweise Abwärtsentwicklung vom goldenen bis zum eisernen Zeitalter an (89—150)*. Als Astraea-Dike im eisernen Zeitalter als letzte der Himmlischen die Erde verlassen hat (150), ist der Tiefpunkt jedoch noch nicht erreicht. Die Giganten suchen den Himmel zu stürmen. Ihr frevlerischer Sinn richtet sich nicht nur wie der der Menschen des eisernen Zeitalters gegeneinander, sondern sogar gegen die Götter. Juppiter schlägt sie nieder, und aus ihrem Blut entsteht ein Menschengeschlecht, das wie die Giganten blutgierig und ein Verächter der Himmlischen ist10. Der kurze dritte Abschnitt (151— 162) setzt also die Abwärtsentwicklung fort. Die Giganten und ihre Erben bilden einen geeigneten Ubergang zum unüberbietbaren Prototyp eines Gottesfrevlers, zu Lycaon. Die Abwehr Juppiters wirkt als Vorspiel für seine spätere, weltweite Vernich-

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Urzeit

tung bringende Reaktion. Der Blick richtet sich von der Erde hinauf zum Himmel: was werden die Götter angesichts dieser Frevel tun? Der vierte Abschnitt (163—261) spielt bei den Göttern. Er zeigt ein concilium deorum unter Juppiters Vorsitz. Das Geschehen auf der Erde wird von den Göttern her gesehen: es wird dargestellt in den beiden Reden Juppiters11. Danadi vernimmt man seinen Entschluß, zur Vernichtung des Menschengeschlechts eine Sintflut über die Erde zu bringen. Lycaons meuchelmörderischer Anschlag auf den Götterkönig ist das schlimmste der Verbrechen, die moralische Depravation ist vollkommen. Zugleich wird jetzt der entscheidende Gegenschlag beschlossen. Das Geschehen erhält eine neue Richtung. Das concilium deorum gibt den Rahmen für eine Peripetie der Handlung. Der nächste, fünfte Abschnitt schildert die Sintflut (262—312). Auf der Erde verrichten Wind, Regen und Meeresfluten das Werk der Zerstörung. Das Resultat ist iamque mare et tellus nullum discrimen habebant;l omnia pontus erant, deerant quoque litora pontol (291 f.). Damit ist in gewissem Sinne die Erde auf den Zustand des Chaos zurückgeworfen. Die wohltätigen Scheidungen sind beseitigt12. Der Gegenschlag Juppiters gegen die Verderbtheit der Menschen hat alles, was im ersten Abschnitt erreicht worden war, wieder in Frage gestellt. Die Sintflut ist eine Negation der ,Schöpfung'. Eine erneute Aufwärtsentwicklung bringt dann aber der anschließende sechste Abschnitt, der von Deucalion und Pyrrha, sowie der neuen Entstehung von Menschen und Tieren handelt (313 —437). Deucalion und Pyrrha, beide schuldlos und gottesfürchtig, sind die einzigen Uberlebenden der großen Flut13. Juppiter gebietet den zerstörenden Gewalten Einhalt. Küsten, Felder, Hügel und Täler entstehen von neuem: redditus orbis erat (348). An die legendäre Entstehung neuer Menschen aus Steinen schließt Ovid eine zweite Zoogenese in Form einer Urzeugung aus der Erde an. Das Ganze ist eine zweite .Schöpfungsgeschichte*. Die Entstehung der Tiere war im ersten Abschnitt nur kurz erwähnt

Met. 1,5—451

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worden (74 f.). In der Ovid vorliegenden Quelle wurde an jener Stelle vermutlich die Urzeugung der Tiere ausführlich erörtert14. Ovid hat den entsprechenden Abschnitt hinter die Sintflutsage gestellt. Die Zoogenese im Anschluß an die erneute Entstehung von Menschen macht den Abschnitt in erhöhtem Maße zu einem Gegenstück zur ersten Weltschöpfimg. Die Bewegung, die den Sintflut- und den Deucalion/PyrrhaAbsdinitt bestimmt, erfolgt also im Gegensinn zu der Entwicklung in der .Schöpfungsgeschichte' und der Zeitaltersage. Dort wird die Entwicklung vom Chaos zum Kosmos abgelöst von der Abwärtsentwicklung der natürlichen und moralischen Verhältnisse; hier zunächst die Rückkehr zu einem neuen Chaos, dann aber wieder ein Aufstieg, der in der neuen Entstehung von Lebewesen endet. Unter jenen befindet sich auch der Pythondrache, den Apollo erlegt, worauf er zur Erinnerung an seinen Sieg die pythischen Spiele stiftet (438—451). Der Schrecken, den das Untier erregt, wirkt wie ein Nachhall der eben überstandenen Gefahren. Der Sieg und die Spiele Apolls krönen die zweite »Schöpfung'. Der kurze siebente Abschnitt hat so gewissermaßen einen bestätigenden Schlußpunkt hinter die im vorhergehenden Abschnitt vollzogene Aufwärtsentwicklung gesetzt — eine Funktion, die der des ähnlich kurzen Giganten-Abschnittes entspricht, welcher umgekehrt die Linie der Depravation der Zeitaltererzählung noch weiter herabgeführt hatte. Im übrigen ist der jugendliche Apoll als Sieger über den erdgeborenen Python ein würdiges Gegenstück zu seinem Vater, dem Sieger über jene bösen alten Erdensöhne, die Giganten. In der Mitte zwischen den auf diese Weise miteinander verbundenen und kontrastierend aufeinander bezogenen Abschnitten 1—3 (1,5—162) und 5—7 (1,262—451) steht das concilium deorum, das sich auszeichnet sowohl durch die Peripetie des Geschehens, die sich in ihm ereignet, als auch durch die doppelte Vorstellungsebene (man ist in der Himmelsburg der Götter und sieht auf die Erde), sowie schließlich durch die streng symmetrische Formung (die beiden Juppiterreden, die durch ringförmig 2 Ludwig, (Struktur und Einheit

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Urzeit

wiederkehrende Motive zusammengeschlossen sind, werden ihrerseits durch drei kürzere erzählende Stücke gerahmt bzw. gesperrt). Nicht berücksichtigt wurde bis jetzt, daß dieser zentrale Abschnitt wichtige aktuell-politische Bezüge auf Augustus enthält15. Die Himmelsburg Juppiters wird Palatia caeli genannt, das concilium deorum in den Formen einer Senatssitzung unter dem Vorsitz des Augustus beschrieben. Der Gedanke, daß Augustus gleichsam Juppiter auf Erden ist, ist aus zeitgenössischer Dichtung wohl bekannt16. Ovid hat hier den Vergleich für Augustus noch schmeichelhafter gemadit: Juppiter ist der Augustus des Himmels". Dieser im Hintergrund des ganzen Abschnittes stehende Vergleich wird im Mittelstück zwischen den beiden Reden ausdrücklich gezogen. Zunächst wird der Anschlag des Lycaon auf Juppiter mit dem Attentat auf Caesar in Parallele gesetzt: das Entsetzen der Götter, als sie von dem Mordversuch des Lycaon hörten, war von der Art wie der weltweite Schrecken, der die Menschen angesichts der Ermordung Caesars erfaßte14. Vielleicht hat Ovid den anderswo nicht belegten Anschlag des Lycaon sogar eigens erfunden, um eine solche Parallele ziehen zu können. Ein zweiter Vergleich, der einem anderen Aspekt gilt, folgt: nec tibi grata minus pietas, Auguste, tuorurn est, / quam fuit illa Iovi (204 f.). Augustus wird apostrophiert und erscheint buchstäblich umgeben von der pietas seiner Römer. Als pater patriae und künftiger Gott war er Gegenstand der pietas geworden, die ursprünglich Staatslenkern als solchen nicht entgegengebracht wurde1®. Nun hat sich pietas auf ihn ebenso zu beziehen wie auf Juppiter im Himmel. Es ist die erste Huldigung und zugleich die einzige Apostrophe, die Ovid in den Metamorphosen dem Kaiser widmet, und er scheint sie nicht ohne Absicht in das Zentrum des concilium deorum und damit auch des ganzen 1.,Großteils' (I, 5—451) gesetzt zu haben20. Der Begriff ,Großteil' wird im folgenden terminologisch gebraucht werden. Er soll diejenige kompositionelle Einheit bezeichnen, die, aus mehreren Abschnitten bestehend, sowohl inhaltlich als auch durch ihre formale Struktur ein relativ geschlossenes Ganzes darstellt. Mehrere Sagen werden in ihm zu einer höheren

Met. 1,5—451

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Sinneinheit zusammengeschlossen. Die Sinngrenze ist zugleich immer eine Formgrenze. Die zwischen den Sagen bestehenden, bzw. von Ovid eigens zu diesem Zweck hergestellten Bezüge ordnen die den einzelnen Sagen gewidmeten Abschnitte zu einem tektonisch gegliederten und soweit wie möglidb geschlossenen Gebilde zusammen. Daß ein solcher Begriff sinnvoll auf die Komposition der Metamorphosen angewendet werden kann, wird die Analyse zu zeigen haben. Das Bild der Kette, in der ein Glied immer den Ubergang zum nächsten bildet, wird damit jedoch für das Epos nicht völlig unzutreffend. Aber es wird damit nur gewissermaßen seine Oberfläche und nicht seine innere Struktur erfaßt. Es wurde schon mehrfach gesehen, daß 1,5—451 eine Sinneinheit bilden. Man hat von einer Schöpfung und Sintflut behandelnden Einführung gesprochen21. Besser dürfte man auf die Entwicklung vom Chaos zum Kosmos hinweisen, die sidi — von einem nahezu das Chaos wieder erreichenden Absturz unterbrochen — hier vollzieht. Damit wird nicht so sehr eine Einführung gegeben, als vielmehr in der Urzeit jene Entwicklung präformiert, die der Gegenstand des ganzen Werkes sein wird, das vom uranfänglichen Chaos zum Kosmos der augusteischen Ordnung führt22. Um zum folgenden Erzählungskomplex überzuleiten, hat Ovid dann nur erfunden, daß Apoll nach dem Sieg über den Pythondrachen den Lorbeer noch nicht kannte, und schon war die Anknüpfung der Daphne-Sage gegeben.

2*

II. MYTHISCHE ZEIT 2. Met. 1,452—II, 835 Mit 1,452, primus amor Phoebi.., setzt ein neues Thema ein: amor, und zwar als Liebe der Götter zu sterblichen Frauen. Dieses Thema wird den folgenden 2. Großteil der Metamorphosen (1,452—11,835) beherrschen. Ovid führt deshalb auch Cupido in der Anfangsszene in Person ein (1,452—473). Der Liebesgott verspricht, daß der siegreiche Apoll seinen Pfeilen erliegen wird. Diesem Vorspiel folgt die Geschichte von Apolls Liebe zu Daphne, gegliedert durch die akzentuierenden Leitworte amat und fugit:33 zuerst die Schilderung ihres jungfräulichen Lebens (474 ff.), dann die Liebe Apolls und die Flucht Daphnes bis zu ihrer Verwandlung (490 ff.), zuletzt der Lorbeer als Lieblingsbaum des Gottes (553 ff.). Apoll prophezeit, daß der Lorbeerbaum dereinst die Tür des Palastes von Augustus bewachen wird. Seit dem Senatsbeschluß vom 16. Januar 27 war das Tor des Palastes auf dem Palatin von Lorbeerbäumen flankiert. Lorbeer und Lorbeerkranz wurden persönliche Ehrenzeichen des Kaisers. Apoll war nach Aktium sein Schutzgott geworden, und seine Person wurde auf verschiedenen Wegen diesem Gott genähert24. Es ist bemerkenswert, daß Ovid, nachdem er in der Mitte des 1. Großteils den Vergleich zwischen Augustus und Juppiter gezogen hatte, nun am Ende der ersten Erzählung des 2. Großteils auf die Beziehung zwischen Augustus und Apollo hindeutet. Die Gesdiidite von Apoll und Daphne wird abgeschlossen durch ein Nachspiel, die Trauer ihres Vaters Peneus (568—582),

Met. 1,452—11,835

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woran die zweite Geschichte, die Sage von Juppiter und Io (583— 750), anknüpfen kann. Ovid hat diese Sage außerordentlich dramatisch erzählt: in einem ersten Akt gleichsam die Liebe Juppiters zu Io (588 ff.), im zweiten Junos Eingreifen und die Bestellung des Argus zum Wächter der Io-Kuh (601 ff.), im dritten — retardierend — die Not der von Argus bewachten Io (625 ff.), im vierten Einsetzen der Gegenhandlung und Peripetie (Mercur, von Juppiter gesandt, tötet Argus, 668 ff.), im fünften sodann Irrfahrt und versöhnliches Ende (724 ff.). Der entscheidende Handlungsfortsdiritt im .vierten Akt' wird verzögert durch eine Einlage, die Sage von Pan und Syrinx, die Mercur dem Argus erzählt (689—712). Die Sage weist einige auffällige Parallelen zu der von Apoll und Daphne auf. Apoll und Pan lieben eine Nymphe aus dem Gefolge der Diana; die Spröde flieht; Daphne, deren Vater nach arkadischer Version der Flußgott Ladon ist, bittet Tellus oder Peneus, Syrinx den Ladon (oder nach anderer Version die Erde) um Rettung durdi Verwandlung. Bevor die sie verfolgenden Götter sie erreichen, werden sie in den Lorbeer bzw. in das zur Herstellung von Hirtenflöten benützte Schilfrohr verwandelt; beides sind seither die Lieblingspflanzen jener Götter. Die Sage von Syrinx ist offenbar im Anschluß an die weiter verbreitete Sage von Daphne erfunden worden. Parallelisiert werden beide Gesdiiditen ausdrücklich bei Nonnos25. Auch Ovid hat sie aufeinander bezogen. Der erste Abschnitt, die Sage von Apoll und Daphne, hatte die vergebliche Liebe des Gottes zur flüchtigen Geliebten dargestellt, der zweite, die Sage von Juppiter und Io, die gewaltsame, leidbringende und erfüllte Liebe. Der idyllischen folgte steigernd die tragische Stimmung, die figurenreichere Handlung, der dramatischere Aufbau. Beide Abschnitte aber sind gewissermaßen verzahnt durch die in den zweiten eingelegte Sage von Syrinx, welche eine kürzere, leichtere und einen niedereren Gott betreffende Variation des Themas des ersten enthält. Ein dritter Abschnitt erzählt von Phaethon, dem Sohn des SolApollo und der Clymene (1,750—II, 400)*. Die Liebe des Gottes

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Mythische Zeit

zu der Sterblichen bildet hier die Voraussetzung (zu Anfang der Erzählung wird auf sie hingewiesen), Gegenstand sind die Geschicke des Sohnes aus dieser Verbindung, sein Gang zur Sonnenburg des Vaters, seine Bitte um den Sonnenwagen, seine Fahrt, sein tragisches Scheitern, der Weltbrand, der alles wieder ins Chaos zu stürzen drohtST, schließlich das Eingreifen Juppiters mit seinem Blitz und das Ende des Jünglings. Begräbnis und Klage bilden ein Nachspiel; es trauern die Mutter Clymene, seine Schwestern, die Heliaden, sein Freund Cycnus und nicht zuletzt SolApollo selbst. Das grandiose Stück hebt sich von den beiden vorigen Abschnitten deutlich ab. Im weiteren Verlauf wird kenntlich werden, daß es das strukturelle Zentrum des 2. Großteils bildet. Sein vierter Abschnitt berichtet wieder von einer Liebe des Juppiter, von Callisto (11,401—533/35). Ovid erzählt, wie Callisto von Juppiter geliebt und von Diana verstoßen wurde, wie Juno sie nach der Geburt des Areas in eine Bärin verwandelte, wie Juppiter sie und ihren Sohn verstirnte, und wie Juno schließlich die beiden Sternbilder auf den Circumpolarkreis beschränkte. In II, 423 f., „hoc certe furtum coniunx mea nesciet' inquitj »aut si rescierit, sunt, o sunt iurgia tanti!" /, weist Juppiter auf die Geschichte von Io zurück, und in II, 523 f. vergleicht Juno ihre Rivalin Callisto ausdrücklich mit Io. Die Sagen von Io und Callisto weisen tatsächlich gleichartige Züge auf: beide Frauen sind Geliebte des Juppiter, die durch die Eifersucht Junos die tragische Verwandlung in eine Kuh bzw. eine Bärin erleiden. Auf der Akropolis von Athen sollen aus diesem Grund auch die Skulpturen der Io und Callisto nebeneinander gestanden haben28. Ovid hat mit den beiden verwandten Sagen die Erzählung von Phaeton gerahmt. Die Hauptsage des folgenden, fünften Abschnitts (II, 534— 835) ist die Geschichte von Apoll, Coronis und Aesculap. Anknüpfend an die Augen des Argus auf den Schwanzfedern des junonischen Pfaus29 steht der Hinweis, daß in eben dieser Zeit auch die einst weißen Federn des Raben schwarz geworden seien. Damit ist die Sage von Coronis erreicht, deren Erzählung mit II, 542

Met. I, 452—II, 835

23

—547 einsetzt: Apoll liebte die schöne Thessalierin, sie aber betrog ihn mit einem Sterblichen. Apolls Vogel, der Rabe, beobachtet das adulterium und fliegt zu seinem Herrn. Hier unterbricht Ovid jedoch schon die Gesdiidite durch eine Einlage (denn der Rabe wird von der geschwätzigen Krähe aufgehalten) und setzt sie erst mit II, 598 ff. fort. Dort folgt die Meldung des Raben, der Zorn Apollos, die Tötung der treulosen Geliebten, die Reue des Gottes und die Rettung des Sohnes Aesculap. Der Rabe bekommt seine Strafe (598—632). Aesculap wird durch Chiron erzogen; seine Zukunft (die Wiedererweckung des Hippolytus, sein Tod und seine Apotheose) wird von Ocyrhoe, der Toditer des weisen Kentauren, prophezeit; Ocyrhoe verkündet audi die Zukunft ihres Vaters, wird dann aber für ihre vorzeitigen Enthüllungen mit der Verwandlung in eine Stute bestraft (633—675). Apoll selbst, so schließt Ovid, ist unterdessen fern bei seinen Rinderherden (676—682). Soweit die Hauptsage. Zwei Sagen, die Mercur betreffen, sind angehängt (683—835); sie bilden zusammen mit dem vorne eingelegten Vogelgesprädi einen motivisch aufeinander bezogenen Rahmen um die Sage von Apoll, Coronis und Aesculap. Die Klammer, die die vordere Einlage (547—597) mit der Hauptsage verbindet, ist, daß die Krähe als Unglücksbotin von Athene bestraft wurde und dasselbe Gesdiick jetzt durch Apoll dem Raben widerfährt. Die Krähe erzählt die Geschichte von Erichthonius und den Cecropiden, von der Schuld der Aglauros, die ihre Schwestern beredete, das von Athene ihnen anvertraute Kästchen zu öffnen, und davon, daß sie, weil sie Athene den Frevel anzeigte, als Unglücksbotin verstoßen wurde. Es fällt auf, daß Ovid hier — entgegen der gängigen Version der Sage — nichts von einer Bestrafung der Aglauros berichtet — eine Besonderheit, die sich erst später durch die Sage von Mercur und Aglauros aufklären wird. Nach der Geschichte von Athene und den Töditern des Cecrops berichtet die Krähe noch von zwei Verwandlungen, von der Entstehung der beiden Vögel der Athene, der Krähe und der Eule. Beide Verwandlungen ereigneten sich im

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Mythische Zeit

Zusammenhang mit Liebesaffairen: die keusche Tochter des Coroneus wird auf der Flucht vor der Liebe des Neptun von Athene aus Mitleid in die Krähe verwandelt (es ist der Typ der Daphneund der Syrinx-Sage!), die unzüchtig ihren Vater begehrende Nyctimene ist zur Eule geworden. Alle Sagen der Einlage stehen so in einem Bezug zu Athene. Analog stellt Mercur für die Sagen des Anhangs das verbindende Element dar. Hier ist die Klammer zur Hauptsage, daß Mercur die Rinder des Apollon stiehlt. Zwei Sagen, beide mit Versteinerungen endend, schließen sich an: zuerst folgt die kurze Erzählung von Battus, den Merkur wegen seiner Bestechlichkeit in einen Stein verwandelt, dann die ausführlichere über Aglauros. Mercur verliebt sich in die Cecropstochter Herse, wird aber von deren Schwester Aglauros aufgehalten, welche gierig Geld für ihre Mittlerdienste fordert. Es ist das zweite Vergehen der Aglauros, wie auch Athene nun erzürnt feststellt (748 f., 755 ff.). Sie hetzt deshalb Invidia auf sie. Als Aglauros darauf eifersüchtig Mercur nicht zu Herse lassen will, macht dieser sie zu Stein. Die Cecropidensage der vorderen Einlage findet hier also ihre Fortsetzung; die dort aufgeschobene Bestrafung der Aglauros findet jetzt statt10. Die Liebe des Gottes zu Herse ist nur ein untergeordnetes Motiv, ihre Erfüllung wird nur angedeutet (819). Thema der Geschichte ist Zorn und Strafe der Götter — ein Thema, das in diesem letzten Abschnitt gegenüber dem Motiv des amor deorum überhaupt sehr in den Vordergrund getreten ist". Im Überblick über die Erzählungen seit dem Daphne-Abschnitt wird nun die den Gesamtkomplex bestimmende kunstvolle Struktur kenntlich. Es handelt sich um fünf Hauptabschnitte: (1) Apoll und Daphne, (2) Juppiter und Io (mit Einlage), (3) Phaethon, (4) Juppiter und Callisto/Arcas, (5) Apoll und Coronis/ Aesculap (mit Einlage und Anhang). Der Kosmogonie des 1. Großteils ist damit im 2. die Liebe der Götter zu sterblichen Frauen gefolgt, eine Reihenfolge, die wohl nicht zufällig an die antiken Hesiodausgaben erinnert, in denen sich an die Theogonie die Frauenkataloge unmittelbar anschlössen32. Die Darstellung ist

Met. 1,452—11,835

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bei Ovid auf Juppiter und Apollo zentriert, Liebesverhältnisse anderer Götter (solche von Pan, Neptun und Mercur) sind in Einlagen untergeordnet. Die beiden Hauptgötter erscheinen abwechselnd: Apoll als Liebender im ersten und letzten Abschnitt, Juppiter im zweiten und vierten. Der Phaethon-Abschnitt hebt sich aus den anderen heraus. Hier steht die Liebe des Apoll nur im Hintergrund. Die tragische Fahrt bildet das grandiose Zentrum. Der ganze Kosmos, Erde und Himmel, wird in die Erzählung einbezogen. Ihren Eingang markiert das majestätische Bild der regia Solls. Neben Sol-Apollo erscheint hier auch Juppiter, aber nicht als Liebender, sondern in seiner Majestät als Himmelskönig, der auf Bitte der Tellus von der Himmelsburg seinen Blitz gegen Phaethon schleudert, damit das All nicht in ein neues Chaos gestürzt wird, womit sich vom Mittelstück des 2. Großteils auch ein Bogen zurück zum 1. spannt. Die beiden Abschnitte vor und hinter diesem zentralen Teil sind nicht nur durch die in ihnen auftretenden Götter chiastisch aufeinander bezogen, sie haben auch die parallele Steigerung von der einfachen Erzählung (im ersten bzw. vierten Abschnitt) zur durch Einlage und Zusätze bereicherten Form (im zweiten bzw. fünften) miteinander gemein. Im Thema des amor deorum vollzieht sich innerhalb all dieser Abschnitte eine gewisse Entwicklung. Am Anfang steht das Aufflammen der unerfüllt bleibenden Liebe des jungen Apoll zu Daphne (sie wird ausdrücklich als seine erste Leidenschaft bezeichnet). Immer schwächer werdende Nachklänge des Motivs der flüchtigen, vergeblichen Liebe finden sich noch in der Liebe des Pan zu Syrinx und der des Neptun zu Corone. Nach Daphne erscheint Io, die erste Frau bei Ovid, die von einem Gotte einen Sohn empfing. Der Akzent verlagert sich dann etwas von der Liebe der Götter auf die Söhne, die aus jenen Verbindungen hervorgingen. Die Liebe des Sol-Apollo zu Clymene ist nur noch Voraussetzung für die PhaethonGeschichte. Auch Areas spielt eine eigene Rolle. Aesculap wird dereinst zum Gott erhoben werden. Im Coronis-Abschnitt wird im übrigen nicht mehr die Liebe selbst, sondern ihr tragisches

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Ende, der Tod der Geliebten von der Hand des liebenden Gottes, dargestellt. Ein Kontrastbezug zu der Daphne-Geschichte stellt sich ein. Es wurde schon oben bemerkt, daß im letzten Abschnitt das Motiv der ira et poena deorum das Motiv des amor deorum zurückgedrängt hat. Damit ist dieses im 2. Großteil gewissermaßen in Variationen bis zu seinem natürlichen Ende durchgespielt worden.

3. Met. II, 836—IV, 606 Der Rest des zweiten Buches (836—875) leitet vom 2. zum 3. Großteil (III, 1—IV, 606) über. Ovid erzählt von der Liebe des Juppiter zu Europa, von seiner Verwandlung in einen Stier und von ihrer Entführung über das Meer. Das Motiv der Götterliebe findet also einerseits eine Fortsetzung, und nach Apollo erscheint tatsächlich auch wieder Juppiter als Liebender. Trotzdem steht dieser Abschnitt außerhalb des vorhergehenden Komplexes, dessen Teile, wie sich gezeigt hat, ein Grundthema folgerichtig variieren und sich zu einer tektonisch durchgeformten Einheit zusammenordnen. Andererseits leitet Europa durch ihre Person zu ihrem Bruder Cadmus über, von dem bzw. von dessen Geschlecht der 3. Großteil handeln wird. Der Abschnitt über Europa ist dadurch auf den folgenden Teil bezogen, und doch setzt sich dieser auch wieder durch sein eigenes Thema und seine abermals in sich gerundete Struktur von dem Europa-Abschnitt etwas ab, der somit am ehesten als ein kurzes, die zwei Großteile verbindendes Zwischenstück bezeichnet werden kann. Der 2. Großteil folgte dem 1. unmittelbar. Der Ubergang war dort durch ein vorweisendes Motiv am Ende des 1. Teiles bewerkstelligt (1,450 nondum laurus erat...). Zwischen dem 2. und 3. Großteil vermittelt eine doppelt bezogene Erzählung, die einen eigenen ca. 40 Verse umfassenden Abschnitt füllt. Die Tatsache, daß das Werk sich in einzelne größere, zusammenhängende

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Erzählkomplexe gliedert, wird davon jedoch nicht berührt. Auch wenn zwei dieser Komplexe einmal durch eine kurze Zwischenzone miteinander verbunden sind, bleibt ein grundsätzlicher Unterschied zu einer gleitenden Folge ständig sich überschneidender Einzelabschnitte. Am Anfang und Ende des 3. Großteils stehen die Abschnitte, in welchen die Geschichte des Cadmus und seiner Gattin Harmonía erzählt wird. Das vordere Stück (III, 1—137) stellt seine Ankunft in Böotien, die Tötung des Drachen und die Entstehung der „Sparten" dar und spridit kurz von der Gründung Thebens, von der Heirat, dem Kinder- und Enkelsegen, um am Schluß mit einer warnenden Sentenz auf das seiner Familie bestimmte Unglück vorzudeuten. Das hintere Stück (IV, 563—606) läßt dann ihn und Harmonia angesichts all des Unglücks, das ihre Familie betroffen hat, aus Theben auswandern. In Illyrien denkt er an die Tötung des Drachen zurück und fragt, ob er damals vielleicht den Zorn einer Gottheit erregt habe. Zum Entgelt will er selbst in eine Schlange verwandelt werden. Die in III, 97 f. ergangene Prophezeiung „quid, Agenore nate, peremptum I serpentem

spec-

tas? et tu spectabere serpensl" erfüllt sich jetzt. Zugleich wird seine Gattin in eine Schlange verwandelt. Nach einer anderen Sagenversion mußte Cadmus unmittelbar nadi dem Drachenkampf, um Ares zu versöhnen, ein Jahr als Knecht dienen. Ovid überging diesen Zug, um am Ende nach Erzählung der Schicksale des Cadmus-Geschlechtes auf den Kampf zurückverweisen und die überlieferte Verwandlung des Cadmus und der Harmonia als Akt der ausgleichenden Gerechtigkeit darstellen zu können, was sie dem ursprünglichen Sagensinn nach gewiß nicht war. Der Bezug zwischen den beiden rahmenden Abschnitten ist so jedenfalls verstärkt worden. Dazwischen werden die Geschicke der Töchter und Enkelsöhne des Cadmus geschildert, und zwar umschließen die beiden Abschnitte, die von dem Sohn der Autonoe, Actaeon (III, 138— 255), bzw. von Ino, Athamas und ihren Söhnen Leardius und Melicertes (IV, 416—562) berichten, einen inneren Hauptteil, der

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— von zwei Einlagen unterbrochen — dem Semele-Sohn Bacchus und seinem unterliegenden Gegenspieler Pentheus, dem Sohn der Agaue, gewidmet ist (III, 256—IV, 415). Ovid scheint auf diese Weise absichtlich die Gestalt des Bacchus dominierend ins Zentrum gesetzt und seine Geschichten dort zusammenhängend erzählt zu haben, ohne sie, wie es nach der in Apollodors Bibliothek vorliegenden mythographischen Tradition anscheinend möglich war, durch einen Bericht über die Geschicke der DionysosWärterin Ino zu unterbrechen83. Die Sage von Ino mußte dann der Darstellung des Dionysos notwendig folgen. Diese Anordnung, und damit die Voranstellung der Actaeonsage, empfahl sich auch dadurch, daß Actaeon ein schreckliches Ende nahm, die Inosage aber nach dem grausigen Anfang schließlich mit der Vergöttlichung von Ino und Melicertes versöhnlich endet. Auch bedeutete der der Erzählung von Ino eigene Reichtum an Figuren und Schauplätzen am Ende eine erwünschte Steigerung. Der ,Bacchus-Teil' in der Mitte, der mit nahezu 900 Versen etwa doppelt so groß ist wie die beiden Cadmus-Abschnitte, sowie die von Actaeon und Ino handelnden Teile zusammen, ist seinerseits in vier von einer Steigerungslinie durchzogene Abschnitte gegliedert. Zuerst, in 111,256—315, erzählt Ovid die Liebe des Juppiter zu Semele, ihr Ende durch das göttliche Feuer und die Geburt und Wartung des Bacchusknaben. Dem tragischgroßen Geschehen folgt ein Divertimento, dessen verbindendes Element die Figur des Tiresias ist (III, 316—512). Es beginnt mit der Burleske, daß Tiresias den Streit zwischen Juppiter und Juno über die Frage, ob Mann oder Frau in der Liebe die größere Lust empfinden, auf Grund seiner Erfahrungen in beiden Geschlechtern zu entscheiden hat. Die Sage von Narziß und Echo, die vielleicht erst Ovid zu einem Paar verband34, ist an die Sehergabe des Tiresias angeknüpft (er prophezeite das Geschick des Narziß, das Eintreffen seiner Prophezeiung machte ihn berühmt). Die böotische Herkunft des Narziß bot eine lokale Beziehung. Die sentimental-melancholische Stimmung dieser Sage, die zwei Fälle verhinderten Liebesglücks (durch bloßes Selbst-Sein bzw. durch blo-

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ßes Widerhall-Sein) vor Augen führt, steht im Kontrast zu dem soeben vernommenen derben Schwank über den vielbewanderten Tiresias. Der dritte Abschnitt des ,Bacchus-Teiles' führt wieder zum Thema zurück (111,513—733): der Dionysosgegner Pentheus fällt. Tiresias prophezeit zu Anfang Pentheus sein nahes Ende, wenn er nicht von seinem Widerstand gegen den neuen Gott läßt. Pentheus wird in großer Rede als 6sop