Urbane Kulturen und Räume intermedial: Zur Lesbarkeit der Stadt in interdisziplinärer Perspektive 9783839448847

Forms of representation of urban experiences, cultures and spaces in a historical and systematic perspective analysed fr

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Urbane Kulturen und Räume intermedial: Zur Lesbarkeit der Stadt in interdisziplinärer Perspektive
 9783839448847

Table of contents :
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Inhalt
Urbane Kulturen und Räume intermedial
Augenblicke im Vorübergehen
»Durch Manhattan«
Raumvertiefung
Paris in vielen Augenblicken geliefert
»Mehr als ein Bildbuch: ein Übungsatlas.«
Terrains vagues in Schwarz-Weiß
Husten im Smog des Verlangens
Klassenkampf und kulturelle Kommodifizierungen
Urbane Arbeitsparadiese gestern und heute
»Urban sein«
Autorinnen und Autoren

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Claudia Öhlschläger (Hg.) Urbane Kulturen und Räume intermedial

Urban Studies

Claudia Öhlschläger (Prof. Dr.), geb. 1963, lehrt Vergleichende Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Intermedialität an der Universität Paderborn und war 2010 Max-Kade-Distinguished Professorin an der University of Washington, Seattle (USA). Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Bild/Text-Beziehungen in der Literatur, die kleine literarische Form sowie das Städtefeuilleton der Weimarer Republik.

Claudia Öhlschläger (Hg.)

Urbane Kulturen und Räume intermedial Zur Lesbarkeit der Stadt in interdisziplinärer Perspektive Unter Mitarbeit von Leonie Süwolto

Ein herzlicher Dank für die finanzielle Unterstützung des Buchprojekts geht an die Universitätsgesellschaft Paderborn e.V. und die Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: www.pixabay.com Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4884-3 PDF-ISBN 978-3-8394-4884-7 https://doi.org/10.14361/9783839448847 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Urbane Kulturen und Räume intermedial Die Lesbarkeit der Stadt in interdisziplinärer Perspektive Claudia Öhlschläger ................................................................................................ 7

Augenblicke im Vorübergehen Der Stadtspaziergang im literarischen Feuilleton am Anfang des 20. Jahrhunderts Peter Utz ............................................................................................................. 15

»Durch Manhattan« Die Stadt als Bewegungsraum Sabiene Autsch .................................................................................................... 35

Raumvertiefung Digitale Stadterkundungen Markus Greulich/Simon Oberthür/Nicole M. Wilk ...........................................................59

Paris in vielen Augenblicken geliefert Le Panorama und die serielle Ästhetik des städtischen Lebens Jens Ruchatz....................................................................................................... 83

»Mehr als ein Bildbuch: ein Übungsatlas.« Die Großstadt im Fotobuch der Weimarer Republik Mareike Stoll....................................................................................................... 135

Terrains vagues in Schwarz-Weiß Pariser Stadtbrachen im Fotobuch der Nachkriegszeit Wolfram Nitsch ................................................................................................... 163

Husten im Smog des Verlangens Großstadtlyrik und Luftverschmutzung Christoph Ribbat .................................................................................................. 181

Klassenkampf und kulturelle Kommodifizierungen Ethnologische Beobachtungen zum Verhältnis von Unterschichts- und Populärkultur in Neapel Ulrich van Loyen...................................................................................................195

Urbane Arbeitsparadiese gestern und heute Martin Schneider ................................................................................................. 209

»Urban sein« Zur Kulturanalyse und Ethnografie des emphatisch Städtischen Moritz Ege.......................................................................................................... 223

Autorinnen und Autoren ............................................................................... 255

Urbane Kulturen und Räume intermedial Die Lesbarkeit der Stadt in interdisziplinärer Perspektive Claudia Öhlschläger

Zur Aktualität dieses Bandes Die im 21. Jahrhundert weltweit voranschreitende Verstädterung von Lebensräumen (Megacities, Globale Suburbanisierung) weckt ein neues und prominentes Interesse am Thema Stadt. Über die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Städten. Nicht nur in der gegenwärtigen Tages- und Wochenpresse, sondern auch in kulturwissenschaftlichen, städtebaulichen, ethnologischen und anthropologischen Kontexten wird die Bedeutung urbaner Räume und Kulturen für die Konstitution sozialer Gemeinschaften, kultureller Hybriditäten und Arbeitsverhältnisse, aber auch für Konstellationen von Natur, Technologie und Mensch verstärkt diskutiert. Städte sind, wie dies Erhard Schütz und Christian Jäger schon vor längerer Zeit formuliert haben, »Chiffren für Kulturen«,1 Laboratorien des sozialen Wandels2 oder »Schaltzentralen des globalen Kapitalismus«.3 Ihre Entwicklung erfasst seismografisch kulturelle, gesellschaftliche, ökonomische und soziale Umbrüche. In den Ausgaben der Süddeutschen Zeitung vom 26.10.17 und 5./6./7.1.18, aber auch in der FAZ vom 26.11.17 konnte man im Feuilleton von gigantischen (ökologischen) Stadtprojekten in Saudi-Arabien und Asien lesen. Hier sprießen Megacities als »multikulturelle Schmelztiegel«4 gleichsam von Zauberhand geführt aus dem Boden – die künstliche Stadt »Neom« (»neue Zukunft«) in Saudi-Arabien soll auf einer Fläche von 26.500 Quadratkilometern entstehen, das entspräche etwa 30 Mal der Fläche, die Berlin einnimmt. San José im Silicon Valley, einst »Metropole der Konservendosen«, jetzt »Hauptstadt der Computerindustrie«, erstrahlt in einem durch Natriumdampflampen erzeugten, gelben Lichterglanz und wirkt nach Dienstschluss 1 2 3 4

Jäger, Christian/Schütz, Erhard: Städtebilder zwischen Literatur und Journalismus. Wien, Berlin und das Feuilleton der Weimarer Republik, Wiesbaden: DUV 1999, S. 9. Heyl, Christoph: »Stadt und Literatur«, in: ders./Harald A. Mieg (Hg.), Stadt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler 2013, S. 222-243, hier 237. Bourdin, Alain/Eckhardt, Frank/Wood, Andrew: Die ortlose Stadt. Über die Virtualisierung des Urbanen, Bielefeld: transcript 2014, S. 57. Ch. Heyl: »Stadt und Literatur«, S. 240.

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wie ein »großer Parkplatz« ohne eigentliches Stadtzentrum und wie ausgestorben. Es ist diese »titanische«, artifizielle und virtuelle Dimension städtebaulicher Zukunft mit ihren Themen Mobilität, Biotechnologie, Medien und IT,5 die unsere herkömmlichen Vorstellungen eher zufällig gewachsener Urbanität erschüttern und auch kulturwissenschaftliche Reflexionen über urbane Kulturen und Räume vor neue Herausforderungen stellen. Städte unterliegen durch den Zugriff von Immobilien- und Investmentfirmen auf ganze Stadtareale zunehmend dem Problem der Gentrifizierung: Die Bewohnbarkeit bestimmter Stadtbezirke erscheint unter ökonomischen Aspekten nicht mehr selbstverständlich, es entstehen Unterschichten- und Reichenviertel, aber auch verwahrloste, verlassene Leerräume, so genannte terrains vagues, die die Frage nach einer »neuen Urbanität« aufwerfen und Fragen der politischen Ökologie provozieren.6 In ökonomischer Perspektive ist die Stadt, wie dies Justus Herrmann in einem Radio-Feature genannt hat,7 das Interface von Mensch, Konsum- und Informationskultur: Die Freizeit- und Einkauftipps, die Google Maps dem SmartphoneBesitzer liefert, sind ebenso eingebunden in ökonomische Interessenlagen wie die auf Effizienz abgestimmten Navigationssysteme, die den Reisenden und Spaziergänger ›nach Plan‹ ans Ziel führen. In der Gegenwart des 21. Jahrhunderts eröffnen digitale Formen der Stadtbegehung virtuelle Welten und erweitern Stadterfahrung um simultan erlebbare Raum- und Zeitdimensionen.8 Medien-Kunst-Projekte setzen auf Zufall statt auf Planung,9 sie reagieren darüber hinaus auf drängende Fragen nach dem Abhängigkeitsverhältnis von Ökonomie, Technologie und Ökologie oder generieren experimentelle, imaginäre und virtuelle Anordnungen urbaner Räume, die Themen wie Gewalt und Zerstörung städtischer Lebensräume

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SZ Feuilleton vom 26.10.2017, S. 11. Vgl. Broich, Jacqueline Maria/Ritter, Daniel: Die Stadtbrache als ›terrain vague‹. Geschichte und Theorie eines unbestimmten Zwischenraums in Literatur, Kino und Architektur, Bielefeld: transcript 2017. Dieser Band ist hervorgegangen aus dem DFG-Projekt Terrain vague. Ästhetik und Poetik urbaner Zwischenräume in der französischen Moderne am Romanischen Seminar der Universität zu Köln: http://terrainvague.de/ Herrmann, Justus: »Spazierengehen als Abenteuer«. Beitrag in der WDR 5 Sendung »Scala« vom 09.03.18. A. Bourdin/F. Eckhardt/A. Wood: Die ortlose Stadt, S. 57. Das Medienkunst-Projekt www.serendipitor.net by Mark Shepard stellt beispielsweise eine alternative NavigationsApp für das iPhone bereit, die helfen soll, während der Route durch eine Stadt etwas zu finden, während etwas anderes gesucht wird: »As you navigate the route, suggestions for possible actions to take at a given location appear within step-by-step directions designed to introduce small slippages and minor displacements within an otherwise optimized and efficient route.« Damit werden Kontingenz und Überraschung, das Prinzip der serendipity, aber auch eine Aufmerksamkeit für das vermeintlich Randständige zu Leitkategorien städtischer Erfahrung: http://serendipitor.net/site/?page_id=2

Urbane Kulturen und Räume intermedial

aufgreifen und neue Antworten auf die hierdurch induzierten mentalen, anthropologischen und geschichtlichen Veränderungsprozesse suchen.10 Die ethnografische Stadtforschung erweitert methodisch den Blick, indem sie Städte nicht nur unter dem Aspekt sozialer Prozesse betrachtet, sondern als Figurationen eigener Ordnungen, die durch Menschen geformt werden und die Menschen formen. Der Stadtethnologe Rolf Lindner spricht sogar vom Habitus der Stadt,11 womit anthropologische Fragen an Diskurse der Urbanität herangetragen werden, sinnliche Erfahrungswelten des städtischen Alltags, mentale Dispositionen (mental maps), Geschmäcker, Praktiken und (räumliche) Organisationsformen urbaner und sozialer Kollektive in den Blick kommen. So wirkt sich die Verstädterung unserer Lebenswelt etwa auf Arbeits- und Unternehmensorganisationen dergestalt aus, dass die Stadt zum Unternehmen oder das Unternehmen zur Stadt werden kann.

Die Beiträge des Bandes Der vorliegende Band geht auf die Ringvorlesung Urbane Kultur und Räume intermedial: Zur Lesbarkeit der Stadt in Journalliteratur, Medien und Künsten zurück, die im Wintersemester 2018/19 an der Universität Paderborn stattfand und die skizzierten Herausforderungen eines neuen Denkens von und über Urbanität annimmt. Die für den Druck überabeiteten Vorträge sind kulturwissenschaftlich, interdisziplinär und komparatistisch angelegt. Sie fragen in einer historischen und systematischen Perspektive nach Wahrnehmungen und Repräsentationen urbaner Kulturen, nach Räumen, Stilen und Handlungen (in) der Stadt. Sie richten ihre besondere Aufmerksamkeit auf die in der Forschung bisher noch wenig beachteten medialen und intermedialen Bezüge zwischen Repräsentationsformen und Diskursivierungen urbaner Räume. Unter der Prämisse, dass Städten, urbanen Räumen, architektonischen Anordnungen, Narrativen und Illustrationen des Städtischen auch gegenwärtig ein

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Welche Transformationen und Metamorphosen Repräsentationen urbaner Räume unter dem Eindruck von Terror, Krieg, Gewalt, Zerstörung und Flucht durchlaufen zeigt beispielsweise eindrücklich das Medien-Kunst-Projekt Deep Empathy, das nach der Erzeugung von Empathie durch Künstliche Intelligenz fragt und vor dem Hintergrund des Syrienkrieges virtuell die Zerstörung von Städten in Szene setzt, die nicht vom Krieg betroffen sind: https:// deepempathy.mit.edu/ Lindner, Rolf: »Der Habitus der Stadt. Ein kulturgeographischer Versuch«, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 147 (2003), S. 46-63. Ders.: »Textur, imaginaire, Habitus – Schlüsselbegriffe der kulturanalytischen Stadtforschung«, in: Helmuth Berking/Martina Löw (Hg.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt a.M.: Campus 2008, S. 83-94, hier S. 87-92.

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erkenntniskritisches Potenzial eignet, nimmt der vorliegende Band (journal)literarische, mediale, künstlerische, ökonomische und ethnologische Darstellungs- und Wahrnehmungsformen des Urbanen im 20. und 21. Jahrhundert vergleichend in den Blick. Damit ist ein weiter historischer Bogen gespannt, der es ermöglicht, Entwicklungen und Transformationen in der diskursiven Erzeugung eines Wissens über die Stadt, aber auch der Wahrnehmung der Stadt zu erkennen. Von welchen Prämissen städtischer Wahrnehmung gehen die Pioniere der Fotografie aus und in welche Richtung entwickelt sich medialisierte Stadterfahrung bis hin zur digitalen Stadterkundung? Für welche Art von formaler, erkenntnistheoretischer und ästhetischer Transformation stehen journalistische, literarische, künstlerische und fotografische Städtebilder im Sinne »kleiner Archive«12 urbanen Wissens in medialer Perspektive? Was heißt es eigentlich, »urban« zu sein und welche ethnologischen, ökonomischen und machttheoretischen Implikationen lassen sich daraus ableiten? Methodisch kann eine kulturwissenschaftliche Untersuchung und Betrachtung text-bildlicher ›Stadt-Projekte‹ von der Stadtethnologie und -anthropologie profitieren, die Lebensstile, Aspekte der Sinneserfahrung und der Atmosphäre berücksichtigt. Die Beiträge setzen mit dem Beginn moderner Verstädterung um 1900 ein und spannen einen Bogen bis zu gegenwärtigen Phänomenen virtueller Urbanität. Industrialisierung, Technisierung, Zerstreuungskultur und daraus erwachsende Neukonditionierungen des Sehens und des Sich-Bewegens initiierten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein Wissen über die Stadt und der Stadt als Kulminationsraum sozialer Ordnungen in Text und Bild. Peter Utz entziffert in seinem Beitrag Augenblicke im Vorübergehen: Der Stadtspaziergang im literarischen Feuilleton am Anfang des 20. Jahrhunderts Ökonomien der Aufmerksamkeit in literarischen Spaziergängertexten von Robert Walser, Joseph Roth und Franz Hessel. Der Spaziergang durch den städtischen Raum, so Utz, entfaltet sich historisch erst, wo er sich von der zweckrationalen Bewegung im Raum löst. Das Feuilleton avanciert im deutschsprachigen Raum zu jener »Augenblickskunst«, die Zufälligkeit und Flüchtigkeit in der Bewegung durch die urbane Moderne figuriert. Mit den Soziologen und Historikern Bruno Latour, Henri Lefebvre und Michel de Certeau geraten Praktiken und Technologien der Mobilität in den Blick, die verdeutlichen, dass die Stadt kein abgeschlossener Raum ist, sondern sich durch Bewegungsabläufe und Handlungen in ihr konstituiert. Der Beitrag von Sabiene Autsch betont die transitorischen Prozesse, von denen Stadterfahrung mit Blick auf »Milieus, Verhaltensstile, Habitus« geprägt ist. Die österreichische Künstlerin Maria Lassnig etwa implementiert Stadt-Kartografien

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Frank, Gustav/Podewski, Madleen/Scherer, Stefan: »Kultur – Zeit – Schrift. Literatur- und Kulturzeitschriften als ›kleine Archive‹«, in: IASL 34.2 (2009), S. 1-45.

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in künstlerische Selbstentwürfe als Reisende oder betont die Bedeutung der jeweiligen emotionalen Gestimmtheit und Erlebnisqualität gegenüber dem optischen Paradigma der totalen Übersicht. Das Subjekt geht hier buchstäblich in den Stadtraum ein, dieser wiederum öffnet sich zum »weitgestreckten Sinnfeld«. Ein im Beitrag von Autsch reflektiertes Projekt von Niklas Maak und Leanne Shapton wiederum fragt nach der Erzählbarkeit von Stadterfahrung unter der Voraussetzung, nicht vorgezeichnete Wege zu gehen und Unvorhergesehenes zu finden. Auf diese Weise werden Widersprüche und blinde Flecken einer »durchrationalisierten Stadt« wie New York sichtbar. Im Zeitalter von WhatsApp, Twitter und Facebook eröffnen sich Möglichkeiten der digitalen Stadterkundung, die die Wahrnehmung von städtischem Raum, aber auch die zeitliche Ordnung von Vergangenheit und Gegenwart verändern. Markus Greulich, Simon Oberthür und Nicole M. Wilk zeigen am Beispiel einer im Team entwickelten Historischen-Paderborn-App (HiP-App)13 die Relevanz des digitalen Wandels für die Geistes- und Kulturwissenschaften (Digital Humanities), die sich nicht in der Anwendung von »tools und Datenbanken« erschöpfe, sondern neue Paradigmen und Arbeitsmethoden generiere. Das interdisziplinäre Projekt einer multimedialen Stadtbegehung am Beispiel Paderborns verdeutlicht, dass digitale Formate der Stadterkundung und -wahrnehmung Blicke hinter architektonische Oberflächen gewähren und damit die sinnliche Erfassbarkeit von historischer Stadtgeschichte auf unterschiedlichen Zeitebenen befördern. Durch die virtuelle Ausleuchtung von Tiefen historisch gewachsener Räume wird die Auseinandersetzung mit und die Suche nach kulturgeschichtlichen Details angereizt. Die seit Ende des 19. Jahrhunderts durch das Medium Fotografie in Gang gebrachte Medialisierung von Stadträumen kommt in den Beiträgen von Jens Ruchatz, Mareike Stoll und Wolfram Nitsch zur Sprache. Ruchatz rekonstruiert die Geschichte der fotografischen Stadtwahrnehmung am Beispiel des an der Wende zum 20. Jahrhundert erschienenen Lieferungswerks Paris instantané. Hier lässt sich nicht nur das Bedingungsverhältnis zwischen Momentaufnahme und der seriellen Publikation eines Werks verdeutlichen, das zwischen Buch und Zeitschrift changiert, sondern auch die Rolle der Medienspezifik für die Formung eines gewissen spezifischen Blicks der Stadt. Mareike Stoll zeigt an Fotobüchern der 1920er Jahre, inwiefern dieses in Deutschland um 1924 entstehende Medium sowohl auf die zunehmende Mobilisierung in den Großstädten reagiert wie umgekehrt in neue Formen und Perspektiven der Wahrnehmung einübt. In Anlehnung an Walter Benjamin spricht sie von einer

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Die Entwicklung der Historischen-Paderborn-App geht auf ein Lehr- und Forschungsprojekt zurück, dass die Initiatoren in den Jahren 2014-2016 an der Universität Paderborn realisieren konnten. Im Fokus der Konzeption steht die Multimodalität mobiler Anwendungen auf die Wahrnehmung von Stadtraum – exemplifiziert am historischen Paderborn.

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»Schule des Sehens«, von einer aktiven Perzeption der architektonischen, aber auch olfaktorischen, visuellen, akustischen und auditiven Herausforderungen der Großstadt, auf die Fotobücher reagierten. In den fotografischen Bildern liege ein Wissen, das einem Atlas vergleichbar greif- und lehrbar gemacht werde. Wolfram Nitsch fokussiert in seinem Beitrag Fotobücher über Paris, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Umlauf kamen und in der Nachkriegszeit vermehrt Stadtrand-Gebiete, so genannte terrains vagues, in den Blick nehmen. Am Beispiel von La banlieue de Paris (1949) von Blaise Cendrars und Robert Doisneau einerseits, sowie Paris insolite (1954) von Jean-Paul Clébert und Patrice Molinard andererseits, analysiert Nitsch die Physiognomie fotografisch dargestellter Stadtbrachen zwischen Utopie und Heterotopie: Es handelt sich um begangene Räume im städtischen Außen, an die sich Möglichkeiten und Zukunftsperspektiven heften, die jedoch andererseits als leere, schattenhafte oder tote Zonen in Erscheinung treten. Im Beitrag von Christoph Ribbat gerät das Thema Luftverschmutzung und damit die körperliche Konfrontation mit dem großstädtischen Raum in den Blick. Die von ökonomischen, ideologischen und politischen Faktoren abhängige Problematisierung der toxischen Zurichtung von Städten begründet eine eigene Tradition in der europäischen und amerikanischen Literatur. Während bei prominenten Repräsentanten der Großstadtlyrik die negativen Auswirkungen von Abgasen auf den menschlichen Körper nicht reflektiert werden (William Wordsworth; T.S. Eliot), kristallisiert sich mit Charles Baudelaire und Walt Whitman eine poetische Auseinandersetzung mit der industrialisierten Metropole heraus, die die Wirkung der großstädtischen Herausforderungen auf die Sinne des menschlichen Beobachters, urbanen Bewohners und Spaziergängers zum Thema macht. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts trete Großstadtlyrik gleichsam als ästhetisches »Pollutrack«, als eine Möglichkeit, ein Messverfahren poetisch zu wenden, in Erscheinung: Frank O᾽Hara beispielsweise avanciert zu einem Poeten des Smogs, der z.B. in Rhapsody den gestörten Atem nicht nur als Thema verwendet, sondern ihn durch spezifische Rhythmisierungen zum formalen Bestandteil des Textes werden lässt. Ein der Ökonomie und Ethnologie des Urbanen gewidmeter Teil des Bandes fokussiert kulturelle Rituale, urbane Arbeitsparadiese und den Habitus des UrbanSeins. Der Ethnologe und Literaturwissenschaftler Ulrich van Loyen setzt sich mit dem komplexen Beziehungsverhältnis zwischen familienpolitischen, sozialen Beziehungen und religiösen Praktiken in Neapel, respektive mit dem neapolitanischen Totenkult Madonna dell᾽Arco auseinander. Er kann zeigen, dass religiöse Kulte, die der vorübergehenden Stabilisierung konflikthafter sozialer Ordnungen im urbanen Raum gelten, zuweilen bruchlos in Selbstdarstellungen einzelner sozialer Gruppen und Folklore übergehen. Ergebnisse seiner Feldforschung erbringen den Befund, dass die Anhänger des Madonna dell᾽Arco-Kultes zum Einzugsbereich

Urbane Kulturen und Räume intermedial

Kleinkrimineller wenn nicht sogar der Mafia gezählt werden, womit der religiöse Kult der Regulierung von Lebensformen im ›Outlaw‹ des urbanen Raums und der Möglichkeit der rituellen Aneignung von Herrschaft und Gewalt dient. Martin Schneider untersucht in seinem Beitrag Urbane Arbeitsparadiese gestern und heute die beiden wichtigsten Typen der von Unternehmen planvoll gestalteten Arbeitsumgebungen, die Company Town, die Stadt als Unternehmen, und den modernen Unternehmenscampus, das Unternehmen als Stadt. In beiden Fällen geht es um die Selbstgestaltung von räumlichen Arbeitsumgebungen, die sich an die Erfordernisse von Urbanität anpassen und gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zur Regulierung von Macht in Organisationen leisten. Der den Band abschließende Beitrag von Moritz Ege schließlich fragt aus ethnologischer Perspektive nach Veränderungen von Lebensweisen durch Urbanisierung, nach Alltagen verschiedener sozialer Milieus in ihrem städtischen Lebensumfeld. Er erörtert aktuelle Positionen der stadtethnografischen Forschung und setzt sich kritisch mit dem gegenwärtig durchaus emphatisch aufgeladenen, assoziationsreichen Habitus des Urban-Seins auseinander. Mit ihm verbinden sich nicht nur kreative Utopien, sondern auch Prozesse gesellschaftlicher Hierarchisierung und soziale Ungleichheiten.

Kulturwissenschaftliche Lektüren der Stadt Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive sind Städte komplexe Strukturen, die Bewegungsformen, Handlungsweisen, »sinnlich erfahrbare Umgebungen«, »urban imaginaries«,14 und materielle Strukturen generieren und diese mit (memorialer) Bedeutung versehen. Textuelle und bildliche Repräsentationsformen von Urbanität schärfen den Blick für historisch und medial bedingte Wahrnehmungen von Stadt, für die Lesbarkeit der Stadt als Text und dessen narrativer Erschließung, für sich transformierende Modi urbaner Mobilität, für habituelle Ausprägungen des Urban-Seins und für die Transformation sozialer und ökonomischer Gefüge (in) der Stadt. Rolf Lindner bringt dieses erweiterte Verständnis von Urbanität folgendermaßen auf den Punkt: Als von Geschichte und Geschichten durchtränkter, kulturell kodierter Raum bildet die Stadt einen Vorstellungsraum, der den physikalischen insofern überlagert, als er der durch die begleitenden Bilder und Texte hindurch erlebte und erfahrene Raum ist.15

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Vgl. Heyl, Christoph: »Teil II. Die Stadt als kultureller Raum«, in: ders./Mieg, Stadt (2013), S. 199-201, hier S. 200. R. Lindner: »Textur, imaginaire, Habitus«, S. 86.

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Texte und Bilder der Stadt liefern so gesehen nicht nur Abbildungen und Darstellungen des Sichtbaren, sie konstituieren zugleich neue und andere Ansichten und Vorstellungsbilder von Urbanität. Die in Text und Bild lesbar gemachte »kumulative Textur« der Stadt steht den urbanen Materialitäten nicht gegenüber, sondern eröffnet eine historische und semiotische »Tiefenstruktur«, deren Wirkkraft gerade an den Oberflächenerscheinungen entzifferbar wird.16

Danksagung Die Paderborner Ringvorlesung Urbane Kulturen und Räume intermedial hätte ohne die finanzielle Unterstützung durch die Universitätsgesellschaft Paderborn, die Fakultät für Kulturwissenschaft und das Institut für Germanistik und Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaften nicht realisiert werden können. Wir danken allen Instanzen an dieser Stelle für die Bereitstellung finanzieller Mittel sehr herzlich. Ein besonderer Dank gilt meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Dr. Leonie Süwolto, die die Redaktion der Beiträge und die Erstellung des druckfertigen Manuskripts übernommen hat. Für die Einwerbung der Bildrechte zeigen sich die Autorinnen und Autoren dieses Bandes selbst verantwortlich. Ebenso für die in den Beiträgen individuell gewählten geschlechtergerechten Formulierungen.   Claudia Öhlschläger

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Paderborn, im Januar 2020

Wietschorke, Jens: »Anthropologie der Stadt: Konzepte und Perspektiven«, in: Heyl/Mieg, Stadt (2013), S. 202-221, hier S. 205.

Augenblicke im Vorübergehen Der Stadtspaziergang im literarischen Feuilleton am Anfang des 20. Jahrhunderts Peter Utz

Was ist »Spazieren«? Wenn die Städte literarisch Karriere gemacht haben, dann verdanken sie dies nicht zuletzt jenen schreibenden Spaziergängern, die sich in ihnen gehenlassen, ja sich in ihnen mutwillig verirren. Denn diese fixieren in ihren Texten jene Augenblicke unterwegs, aus denen ein höchst subjektives, aber desto vielfältigeres literarisches Kaleidoskop des Stadtraums entsteht. Bevorzugtes Medium dieser Momentaufnahmen ist das literarische Feuilleton, das sich im deutschsprachigen Raum am Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer eigenen literarischen Gattung entwickelt, zeitparallel zum Aufschwung jener Kultur des Urbanen, welche das Feuilleton seinerseits mit konstituiert. Um diese spezifische Konstellation von Stadt und literarischem Spazieren konkreter analysieren zu können, sind zunächst einige spaziergängerische Umwege und Seitenschritte nötig. Die erste Frage muss sein: Was ist überhaupt »Spazieren«? – Im etymologischen Wortsinn ist »Spazieren«, auf lateinisch »spatium« zurückgehend, eine Kategorie des Raumes; so bedeutet im Italienischen »spaziare« ›(sich) räumlich ausbreiten‹. Das deutsche »Spazieren« macht den Raum in einem Bewegungsvorgang erfahrbar und kombiniert sie als Verb, also als ›Zeitwort‹, mit der Zeit. Nur dank der ihm eigenen Zeitlichkeit wird das Spazieren nicht nur zu einer raumgreifenden, sondern auch zu einer raumschaffenden Bewegungsform. Sie ist ganz vom Schrittmaß des Subjekts abhängig, das sich den objektiv gegebenen Raum spazierend aneignet. Wenn der Spaziergang anschließend literarisch formuliert wird, dann wird die Zeitordnung des Spazierens noch durch die Eigenzeit des Schreibens überlagert. Diese doppelte, im Prinzip lineare Zeitbewegung gehört zum »poetischen

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Peter Utz

Code« des literarischen Spaziergangs.1 Festgehalten auf dem Papier, damit archiviert über den Erfahrungsaugenblick hinaus, wird er zur literarischen Gattung eigenen Rechts. Sie zeigt: Spazieren ist eine kulturell codierte Aktivität, auch und gerade dort, wo sie scheinbar der Kultur und der Zivilisation den Rücken zuwendet. Diese Dialektik steckt schon in den Anfängen des Spazierens als moderner Form zweckfreien Gehens, beispielhaft bei Rousseau. Dieser kultiviert in seinem Nachlasstext Les rêveries du promeneur solitaire (1782) das Spazieren als anti-urbane, ja anti-zivilisatorische Bewegung. Es wendet den Städten den Rücken zu, auch wenn der Text eigentlich in Paris verfasst wurde und auf einer ersten Ebene durch Vorstädte und Dörfer rund um Paris führt. Doch Rousseau literarisiert das Spazieren als Gedanken-Gang durch seine Erinnerungen an den Aufenthalt auf der ländlichen St. Petersinsel. Dort will er spazierend zu sich selbst finden; das moderne Subjekt konstituiert sich im Schrittmaß des literarischen Spaziergangs. Dabei fällt sein Blick aber auch auf die Außenwelt; die schweifende Bewegung im Raum wird begleitet von einer schweifenden Bewegung des Blicks: »mes yeux se promenoient« heißt es in der 7ème promenade.2 Dies bezeichnet eine besondere Ökonomie der Aufmerksamkeit, welche das Spazieren prägt: Der Spaziergänger ist eine wandernde Optik auf zwei Beinen. Dabei hält der literarische Text fest, was der Blick auf das Kleine, Unscheinbare, Einzelne im Moment offenbart. Der »Augenblick« im doppelten deutschen Wortsinn wird auf Dauer gestellt, und er erhält Bedeutung. Bewegung und Stillstand, Vorübergehen und Innehalten bestimmen in ihrem Alternieren sowohl die reale Bewegung des Spaziergängers, der mit seinen Blicken die Welt botanisiert, wie auch den Spaziergängertext, der sich in der Dialektik zwischen der Bewegung im Raum und der Formulierung des Geschauten entwickelt.

Vom Spazieren zum Flanieren Der Spaziergang kann sich in jenem historischen Moment entfalten, wo er sich von der zweckrationalen Bewegung im Raum löst. Wenn im 19. Jahrhundert Schnellkutschen und die ersten Eisenbahnen die Verbindungen von Punkt zu Punkt verkürzen, wird Raum und Zeit für den Spaziergänger frei. Er setzt der fremdbestimmten Beschleunigung aller Bewegung sein selbstbestimmtes Tempo entgegen, im Takt des eigenen Schrittmaßes, das in seinem Ritardando zur Antithese zur

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Vgl. Wellmann, Angelika: Der Spaziergang. Stationen eines poetischen Codes, Würzburg: Königshausen & Neumann 1991; Albes, Claudia: Der Spaziergang als Erzählmodell, Tübingen/Basel: Francke 1999. Rousseau, Jean-Jacques: Œuvres complètes. Vol. I: Les confessions et autres textes autobiographiques. Ed. par Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, Paris: Pléiade 1959, S. 1063.

Augenblicke im Vorübergehen

gehetzten und fortschrittssüchtigen Moderne wird. So fällt das Spazieren im 19. Jahrhundert eigentlich aus der Zeit, obwohl es gerade in dieser Epoche eine enorme Konjunktur erlebt. Es ist ein verlangsamter Gang, ohne Zweck und Ziel. Dies rückt den Spaziergang in die Nähe der Kunst, deren Autonomie und Zweckfreiheit der deutsche Idealismus herausstellt. Schillers Elegie Der Spaziergang (1795) etwa will geschichtsphilosophisch in einen kulturell geformten Gesellschaftszustand hineinführen, der im erhabenen Schrittmaß der Distichen, auf denen Schillers Elegie mehr tanzt als spaziert, schon vorweggenommen wird. Und die Romantiker suchen in ihrem Kult des Wanderns Freiräume der Natur und der Fantasie auf, die weit über den Niederungen der Realität liegen. In den entsprechenden Bildern und Texten wird das Spazieren gleichzeitig kulturell aufgewertet und kulturell codiert. So wird das Spazieren gerade im deutschsprachigen Raum zum Identitätsabzeichen jenes Bürgertums, das sich über diese Kultur definiert. Es genießt das Privileg der entstehenden »Freizeit«, die es mit einem Gang außerhalb der Städte anreichern kann. »Komm! Ins Offene, Freund!« fordert Hölderlins von Rousseau beeinflusste Elegie Der Gang aufs Land (1800).3 Denn dort erst, auf dem »Land«, findet sich die »Landschaft«, das kulturelle Konstrukt von Natur. Doch allmählich öffnen sich auch im Innern der sich ausbreitenden Städte Räume des Spazierens. Alte, feudale Reservate werden zu Stadtparks umfunktioniert, die der gesamten Bevölkerung offenstehen, etwa der Englische Garten in München oder der Tiergarten in Berlin. Sie sind Erholungsinseln innerhalb des hektischer werdenden Zivilisationsbetriebes, in denen sich auch kurze Erholungsspaziergänge und Ruhepausen einschalten lassen. Darum werden sie zu einem privilegierten Ort und Thema der literarischen Stadtspaziergänger im 20. Jahrhundert werden. So kehrt das Spazieren außerhalb der Stadtmauern im 19. Jahrhundert, wenn diese Mauern geschleift werden, in die Stadt zurück. Die eingerissenen Stadtbefestigungen machen innerhalb der Städte Räume frei, die man – wie die Wiener Ringstraße – zu prächtigen Promeniermeilen ausbaut. Hier allerdings weicht das einsame, beschauliche Selbstfindungsgehen dem gesellschaftlichen Ereignis; statt träumerisch zu botanisieren, geht es auf dem Boulevard darum, nicht nur zu sehen, sondern auch gesehen zu werden, inmitten jener Warenwelt, die in den Schaufenstern die Blicklust der Passanten auf sich zieht. Das Spazieren verwandelt sich dabei grundsätzlich; es wird zum Flanieren. Nicht von ungefähr ein französischer Begriff: Der »Flaneur« taucht bekanntlich als Figur im Paris des 19. Jahrhunderts auf, das in seiner urbanen Entwicklung einen Vorsprung auf die Städte des

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Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Gedichte. Hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker-Verlag 2005, S. 276.

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deutschsprachigen Raumes hat.4 Der Flaneur spaziert nicht in der Natur, sondern in der Menge, auch wenn er sich als ein Einzelgänger von ihr abhebt, um sie als solche in den Blick zu nehmen. Während die Menge ihren alltäglichen Verpflichtungen nachhetzt, bleibt er ein Müßiggänger; für ihn ist gewissermaßen ewiger Sonntag innerhalb der werktäglichen Stadt. Rasch wird diese Flaneurfigur auch mit dem Schriftsteller amalgamiert; das Spazieren und die Kunst sind auch diesbezüglich verschwistert. Der Flaneur schreibt jene literarischen Stadtbilder weiter, die bereits im Paris des 18. Jahrhunderts das Bild der Stadt mitgeprägt haben; seine Beobachtungen literarisieren und ästhetisieren die Stadt. Charles Baudelaires Tableaux parisiens aus den Fleurs du mal (1857) verdichten die Momentaufnahmen von Figuren und Erscheinungen der Großstadt in lyrischer Form. Und in seinem Essay Le peintre de la vie moderne (1863), zunächst bezeichnenderweise in einer Zeitung publiziert, formuliert Baudelaire Parameter des Flanierens, an denen sich später auch das feuilletonistische Schreiben für die Zeitung orientieren kann: Zwar ist der Flaneur fast mit der Menge »verheiratet«, doch bleibt er ihr verborgen, ein Aristokrat, der nicht erkannt werden will: »L’observateur est un prince qui jouit partout de son icognito.«5 Diese Tarnkappe schärft seine Beobachtungsfähigkeit; er verfügt über einen Blick, der die Unbefangenheit des Kindes mit der dichterischen Einbildungskraft kombiniert. So dringt er hinter die Oberflächenerscheinungen vor. Seine Modernität bestimmt Baudelaire paradigmatisch durch Übergänglichkeit, Flüchtigkeit und Zufälligkeit: »La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable.«6 Die Flüchtigkeit des flanierenden Blicks und die Zufälligkeit, mit der er auf die Phänomene fällt, spiegelt die Flüchtigkeit und Zufälligkeit der modernen Stadtwelt selbst. So begründet Baudelaire eine Kunst der Moderne, die sich von jener Tradition abhebt, welche auf das Ewige und Unveränderliche ausgerichtet ist, und so bereitet er den Boden für die Augenblickskunst des Feuilletons. Im deutschsprachigen Raum macht Baudelaires avancierte Definition des Flaneurs und seines Blicks jedoch nicht unmittelbar Schule. Am ehesten noch in Wien, wo der Feuilletonist Ferdinand Kürnberger schon 1856 in der vielfältigen Fauna der Feuilletonisten auch »den Straßenfeuilletonist, F. forensis, im Hochdeutschen Flaneur, im Niederdeutschen etwas unzarter auch Bummler genannt« ausmacht. Er gehört zur Großstadt, ist »die Seele der Industrie« und der Warenwelt, an der er

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Vgl. Köhn, Eckhardt: Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933, Berlin: Das Arsenal 1989; Neumeyer, Harald: Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 1999. Baudelaire, Charles: Œuvres complètes. Ed. par Claude Pichois, Paris: Pléiade 1976, vol. 2, S. 692. Ebd., S. 695.

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aber nur »libellenhaft« nippt, ohne sie wirklich zu ergreifen.7 Diese Spezies des Stadtspaziergängers passt auf die Ringstraße und in die Wiener Zeitungen, die als erste aus Paris nicht nur das Flanieren, sondern auch die damit assoziierte Textgattung des Feuilletons importieren. Doch die dominierenden Wiener Feuilletonisten insistieren auf dem deutschen, bürgerlichen Begriff des »Spaziergangs«. So Daniel Spitzer, der seine wöchentlichen Kolumnen in der Neuen Freien Presse ab 1873 als Wiener Spaziergänge auch in Buchform veröffentlicht. Sie ›spazieren‹ mehr in ihrer ausschweifenden, assoziativen und subjektiven Redeform, in der Spitzer aktuelle gesellschaftliche Vorgänge in Wien beleuchtet, als dass sich in ihnen die sich modernisierende Metropole spiegeln würde.8 Nach Berlin lässt sich das französische Flanieren erst recht nur schwer importieren. Der Publizist Julius Rodenberg stellt 1856 in seinem Pariser Bilderbuch fest: »Auch das ›Flaniren‹ ist dem Deutschen fremd, und den Sinn dafür muß er sich im fremden Lande erst erwecken und ausbilden.«9 Nach der Reichsgründung versucht Rodenberg in seiner Zeitschrift, der Deutschen Rundschau, mit einer Serie von Artikeln, die als Bilder aus dem Berliner Leben (1885-87) dann auch in Buchform erscheinen, das aktuelle Berlin in seiner raschen Mutation zur modernen Metropole in den Blick zu nehmen. Dabei bleibt er allerdings eher ein Spaziergänger im alten Stil; das Ritardando seiner langen, aus- und abschweifenden Texte kontrastiert mit der historischen Beschleunigung, deren Symptome er durchaus wahrnimmt und als Mann des Fortschritts prinzipiell auch begrüßt. Der epische Atem seiner assoziativen Gänge durch die Geschichte Berlins ist jedoch keine Augenblickskunst im Sinne Baudelaires, sondern eher der Versuch, sich jenen Stadtraum, der in der industriellen Entwicklung fremd zu werden droht, mittels einer historisch gesättigten Perspektive literarisch neu wieder anzueignen.

Das literarische Feuilleton und seine Affinität zum Flanieren am Anfang des 20. Jahrhunderts Es braucht im deutschsprachigen Raum die publizistische Konjunktur und Literarisierung des Feuilletons, um auch den Flaneur für die Wahrnehmung der Stadt produktiv zu machen. Denn erst das Feuilleton ist jene Augenblickskunst, die in ihrer Flüchtigkeit und Zufälligkeit der urbanen Moderne entspricht. Flaneur und 7 8

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Kürnberger, Ferdinand: »Die Feuilletonisten«, in: Hildegard Kernmayer/Erhard Schütz (Hg.), Die Eleganz des Feuilletons. Literarische Kleinode, Berlin: Transit 2017, S. 105-114, hier S. 108f. Vgl. Nöllke, Matthias: Daniel Spitzers Wiener Spaziergänge. Liberales Feuilleton im Zeitungskontext, Frankfurt a.M. et al.: Lang 1994; Kernmayer, Hildegard: Judentum im Wiener Feuilleton (1848-1903): exemplarische Untersuchungen zum literarästhetischen und politischen Diskurs der Moderne, Tübingen: Niemeyer 1998, S. 177-190. Zit. nach E. Köhn: Straßenrausch, S. 105.

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Feuilleton sind beide französischen Ursprungs. Das Feuilleton entwickelt sich jedoch zur eigenständigen literarischen Form eigentlich erst im deutschsprachigen Raum, auf seinem Weg von Paris über Wien nach Berlin. In Frankreich versteht man unter »Feuilleton« bis heute primär den Fortsetzungsroman; es geht um ein serielles Erzählen, mit dem man den Leser von Zeitungen und Zeitschriften – und heute den Fernsehzuschauer – von Folge zu Folge fesselt. Dagegen ist das Feuilleton, wie es sich zunächst in Wien und nach der Jahrhundertwende in den kulturellen Spalten aller deutschsprachigen Tageszeitungen durchsetzt, gerade auf den einzelnen Moment fixiert und beschränkt. Es ist eine kurze Prosa, die als Momentaufnahme zunächst nur für den Tag bestimmt ist.10 Sie nimmt eine beliebige, zufällige Kleinigkeit zum Anlass für eine subjektiv gefärbte Betrachtung. Das »Ich«, das sich dabei zu Wort meldet, kontrastiert mit der anonymen Nachrichtenflut der Zeitung. Es sucht den Leser durch seinen persönlichen Ton anzusprechen, ihn zu unterhalten und so an die Zeitung zu binden. Ob hinter dieser Ich-Aussagemaske auch eine reale biografische Erfahrung steckt, bleibt ungewiss – nicht selten schreiben die Feuilletonisten unter Pseudonym. Das entfernt sie von der autobiografischen Selbsterkundung des Spaziergängers Rousseau und nähert sie jenem »Inkognito«, wie es Baudelaire dem Flaneur in der Menge zuschreibt. Wie dieser bewegt sich der Feuilletonist inmitten der Gegenwart und ihrer Informationsfluten; er wird zu ihrem getarnten Chronisten, der in ihr auch gegen sie anschreibt. Nichts charakterisiert dies deutlicher als jener »Strich«, mit dem sich die kulturelle Sparte, für die man ihrerseits den Begriff des »Feuilletons« verwendet, auf der Zeitungsseite von den übrigen Rubriken abgrenzt. Um den Leser zu fesseln, bezieht sich das literarische Feuilleton häufig auf lokale Referenzen, die es mit seinem Leser zu teilen verspricht. Insofern sind die meisten Feuilletons zunächst Lokalfeuilletons, durch jene Stadt geprägt, auf die sie sich beziehen. So schafft das Feuilleton Zugehörigkeit, und es schreibt gleichzeitig am Bild und Selbstbild der Metropole mit. Gerade das rasch wachsende Berlin hat nach der Jahrhundertwende ein Nachholbedürfnis an urbanem Selbstbewusstsein. Da springt das Feuilleton ein, indem es auf möglichst originelle Weise die Stadt zeichnet und sie dem Berliner Leser zurückspiegelt. So wird es zur urbanen Variante der Heimatliteratur. Gleichzeitig wird Berlin zu einer Pressemetropole, 10

Zur Feuilletonforschung vgl.: Kauffmann, Kai/Schütz, Erhard (Hg.): Die lange Geschichte der kleinen Form. Beiträge zur Feuilletonforschung, Berlin: Weidler 2000; Kernmayer, Hildegard/Reibnitz, Barbara von/Schütz, Erhard: »Perspektiven der Feuilletonforschung«, in: Zeitschrift für Germanistik 22,3 (2012), S. 494-508 sowie die weiteren Beiträge in diesem Heft; Kernmayer, Hildegard/Jung, Simone (Hg.): Feuilleton. Schreiben an der Schnittstelle zwischen Journalismus und Literatur, Bielefeld: transcript 2017. In Vorbereitung: Reichwein, Marc/Kernmayer, Hildegard/Pilz, Michael/Schütz, Erhard (Hg.): Handbuch Feuilleton, Stuttgart: Metzler 2020. Darin auch der Artikel »Spaziergang« des Verfassers, der sich mit dem hier vorliegenden Aufsatz partiell überschneidet.

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in der täglich Dutzende von Zeitungen um den Leser werben. Da kann sich der einzelne Zeitungstitel mit seinem Feuilleton als Markenzeichen profilieren. Noch stärker und noch früher als der Großstadtroman wird so das Feuilleton zu einer generisch der Metropole zugehörigen Gattung. Gerade die ›kleine Form‹ entspricht der Großstadt; indem sie sich deren alltäglichen Kleinigkeiten zuwendet, gibt sie dieser ihr spezifisches Gepräge. Das literarische Feuilleton ist nicht nur klein, sondern auch kurz. Es kann nur aus dem Augenblick heraus operieren, und es ist für diesen Augenblick geschrieben. Der »Augenblick« in seiner doppelten Bedeutung prägt das Feuilleton: Eine subjektive Beobachtung ist sein Ausgangspunkt, möglichst originell formuliert. Und das Ephemere, das seinem Medium, der Zeitung, eigen ist, macht es zur spezifischen Form einer Wahrnehmung, die geeignet ist, die Stadt als Raum- und als Zeitphänomen gleichzeitig zu formulieren. Dabei entspricht die diskontinuierliche Reihe der feuilletonistischen Momentaufnahmen der schweifenden Wahrnehmung des Flaneurs. Bewegt ist beides: die Stadt und der Blick. Ein frühes Beispiel für diese urbane Augenblickskunst liefert Robert Walser mit seinem Feuilleton Guten Tag, Riesin!, das im Mai 1907 in der Neuen Rundschau erscheint.11 Walser ist erst kurz zuvor aus der Schweiz nach Berlin gekommen und hat im literarischen Feuilleton bloß erste Gehversuche unternommen. Das gibt diesem Text, in dem er die morgendliche »Weltstadt« als erwachende »Riesin« begrüßt, seine originelle, kecke Frische. Er zeichnet gleichzeitig das Erwachen der Großstadt, und ein Erwachen in die Großstadt hinein. Dazu stürzt sich das feuilletonistische Ich, das sich selbst als »Du« anspricht und damit gleichzeitig auch zum Objekt macht, als hoch bewegliche Optik in die Menge: Augen begegnen dir, wenn du so dahergehst, Mädchen- und Männeraugen, trübe und frohmütige; Beine laufen hinter und vor dir, und du selber beinelst auch, was du nur kannst und schaust mit deinen eigenen Augen, mit denselben Blicken, wie alle blicken.12 Eine Blickorgie in die Weltstadt und in der Weltstadt, die erwacht, so wie der Blick, unter dem sie sich als solche konstituiert. Doch erst indem der Feuilletonist für dieses Erwachen der Stadt und für die Blicke, die sich in ihr kreuzen und begegnen, die Worte findet, findet die Großstadt auch zu sich selbst. Er ist der Märchenprinz, der die Großstadt-Riesin wachküsst, ihr »guten Tag« sagt – der Held von Walsers Jakob von Gunten (1909) wird lernen, dass man unter dieser Formel das erotische

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Walser, Robert: Sämtliche Werke in Einzelausgaben (SW). Hg. v. Jochen Greven, Zürich/Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, SW 3, S. 63-67. Ein erster Hinweis auf diesen Text und die Bedeutung von Walsers Berliner Feuilletons für die Geschichte des Flanierens findet sich bei E. Köhn: Straßenrausch, S. 134-145. R. Walser: SW 3, S. 63-64.

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Geschäft mit einer Prostituierten anbahnt.13 Im Feuilleton jedoch wird diese Erotik in einen Strudel von flüchtigen Augenbegegnungen verwandelt, in die sich das flanierende Subjekt hineinreißen lässt: Weiter, weiter. Bei Besoffenen hält sich das blauäugige Wunder, der frühe Morgen, nicht auf. Er hat tausend schimmernde Fäden, womit er dich weiterzieht, er schiebt dich von hinten und lockt und lächelt dich von vorne an, du siehst hinauf, wo ein weißlich verschleierter Himmel ein paar zerrissene Stücke Blau hervorläßt; hinter dich, um einem Menschen, der dich interessiert, nachzuschauen, neben dich, an ein reiches Portal, hinter dem ein fürstliches Palais verdrossen und vornehm emporragt. Statuen winken dir aus Gärten und Parkanlagen entgegen; immer gehst du und hast flüchtige Blicke für alles, für Bewegliches und Feststehendes, für Droschken, die träge fortrumpeln, für die Elektrische, die jetzt zu fahren beginnt, von der herab Menschenaugen dich ansehen, für den stupiden Helm eines Schutzmannes, für einen Menschen mit zerrissenen Schuhen und Hosen, für einen zweifellos ehemals Gutsituierten, der im Pelzmantel und Zylinder die Straße fegt, für alles, wie du selber für alles ein flüchtiges Augenmerk bist. Das ist das Wunder der Stadt, daß eines jeden Haltung und Benehmen untertaucht in all diesen tausend Arten, daß das Betrachten ein flüchtiges, das Urteil ein schnelles und das Vergessen ein selbstverständliches ist. Vorüber.14 Das »blauäugige Wunder«, das Walser in dieser atemraubenden Satzpromenade aufweckt, ist ein Blick-Wunder, auch wenn das, was hier in den Blick fällt, das Alltäglichste ist. Das Subjekt der »flüchtigen Blicke« wird dabei selbst als Angeschautes imaginiert; es ist ein »flüchtiges Augenmerk« für die »Menschenaugen«, die es von der Elektrischen herab ansehen, um es gleich wieder zu vergessen. Diese Flüchtigkeit und Zufälligkeit entspricht dem, wie Baudelaire in Le peintre de la vie moderne die Moderne definiert. Indem das Feuilleton hier das Flüchtige der Weltstadt feiert, feiert es auch sich selbst, als deren adäquatesten Ausdruck.15 Den Begriff des »Flaneurs« verwendet Walser jedoch nur selten; mit seinem Prosastück Der Spaziergang (1917), das in seiner Heimatstadt Biel entsteht, scheint er sogar zum älteren, romantisch gefärbten Paradigma zurückzukehren, auch wenn dieses längere Prosastück in seiner eigenwilligen Alternierung von Begegnungsaugenblicken und epischem Atem und in der reflexiven Durchdringung von Spazieren und Schreiben durchaus moderne Züge trägt. Bezeichnend, dass es nicht mehr in der Metropole, sondern in einem Raum spielt, den man am ehesten

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R. Walser: SW 11, S. 27. R. Walser: SW 3, S. 65. Neumeyer stellt unter diesem Aspekt Walsers Berliner Feuilletons Baudelaires Flaneur gegenüber. Vgl. H. Neumeyer: Flaneur, S. 192-210.

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als Vorstadt bezeichnen kann – ein hybrider Ort, der dem Ort Walsers in der Literaturgeschichte des Spazierens entspricht.16

Ein (un)zeitgemäßer Stadtspaziergänger: Joseph Roth Nicht nur bei Walser hält sich in Konkurrenz und Abgrenzung zum »Flanieren« der Begriff des »Spaziergangs«. Doch im urbanen Raum und im Medium des Feuilletons gewinnt dieser alte Begriff ein neues, paradoxes Profil: Er markiert das Ritardando des Spazierens als Gegentakt zur Hektik der Moderne. Dafür kann exemplarisch Joseph Roth stehen. Er wird, aus Wien und seiner Feuilleton-Tradition herkommend, ab 1920 in Berlin zu einem der führenden Feuilletonisten. Unter dem Titel Spaziergang erscheint im Berliner Börsen-Courier am 24. Mai 1921 ein Feuilleton, welches die Welt der Großstadt im subjektiven Augen-Blick des Spaziergängers erfasst und reflektiert: Was ich sehe, ist der lächerlich unscheinbare Zug im Antlitz der Straße und des Tages. Ein Pferd, das mit gesenktem Kopf in den gefüllten Hafersack sieht, vor eine Droschke gespannt ist und nicht weiß, daß Pferde ursprünglich ohne Droschken zur Welt gekommen sind; ein Kind am Straßenrande, das mit Murmeln spielt und dem zweckmäßigen Wirrwarr der Erwachsenen zusieht und, vom Trieb zur Nutzlosigkeit erfüllt, nicht ahnt, daß es die Vollkommenheit der Schöpfung bereits darstellt, sondern sich im Gegenteil nach Erwachsensein sehnt; einen Schutzmann, der sich einbildet, absoluter Ruhepunkt im Wirrsal des Geschehens zu sein und die Säule irgendeiner ordnenden Macht.17 Das Ich registriert und reflektiert, was es dem »Antlitz« der Straße abliest. Es ist ein Physiognomiker, der in den Gesichtern des Pferdes, des Kindes und des Schutzmanns das falsche Bewusstsein erkennt.18 Insofern ist es von Anfang an mehr als eine registrierende Kamera, auch wenn es in der Folge weitere Dinge, die es »sieht«, aufreiht: ein »Mädchen« an einem Fenster, einen Mann, der Papierschnitzel sammelt, eine Litfaßsäule, einen »dicken Herrn mit Zigarre«, Portiers, Zeitungsverkäufer, einen Bettler mit »Fisteltrompete« auf dem Kurfürstendamm, oder einen 16

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Vgl. Utz, Peter: »Wo spielt Walsers ›Spaziergang‹? Stichworte zu seinem kultur- und literaturgeschichtlichen Ort«, in: Annie Pfeifer/Reto Sorg (Hg.), »Spazieren muß ich unbedingt«. Robert Walser und die Kultur des Gehens, Paderborn: Fink 2019, S. 51-66. Roth, Joseph: Werke. Hg. v. Fritz Hackert u. Klaus Westermann, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1989, Bd. 1, S. 564-566. Vgl. Utz, Peter: »›Das ›Gesicht der Zeit‹ und seine feuilletonistischen Facetten. Zur Physiognomik der ›kleinen Form‹ nach 1900«, in: Hans-Georg von Arburg/Benedikt Tremp/Elias Zimmermann (Hg.), Physiognomisches Schreiben. Stilistik, Rhetorik und Poetik einer gestaltdeutenden Kulturtechnik, Freiburg: Rombach 2016, S. 47-66.

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Kellner auf einer Kaffeeterrasse, der eine Fliege totschlagen will. Auch ein Hund, der einem Ball nachhetzt, wird zum »Held eines Augenblicksdramas«. Diese »Kleinigkeiten des Lebens« sammelt der Feuilletonist, um aus ihnen eine reflexive Bilanz zu ziehen: Nur die Kleinigkeiten des Lebens sind wichtig. Was kümmert mich, den Spaziergänger, der die Diagonale eines späten Frühlingstages durchmarschiert, die große Tragödie der Weltgeschichte, die in den Leitartikeln der Blätter niedergelegt ist? […] Jedes Pathos ist im Angesicht der mikroskopischen Ereignisse verfehlt, zwecklos verpufft. Das Diminutiv der Teile ist eindrucksvoller als die Monumentalität des Ganzen. Ich habe keinen Sinn mehr für die weite, allumfassende Armbewegung des Weltbühnenhelden. Ich bin ein Spaziergänger.19 In expliziter Abgrenzung zum Leitartikel, der dem berühmten Strich entspricht, unter den sich das Feuilleton kuschen muss, erklärt sich der Feuilletonist zum »Spaziergänger« der »Diagonale«. Seine Linie folgt nicht einfach der Horizontalen der urbanen Verkehrswege, sondern sie durchquert als Raum-Zeit-Linie den »späten Frühlingstag«. Dabei gerät nur der »Diminutiv der Teile« in seinen Blick – die Affinität für das »Kleine«, gerade auch in der Großstadt, ist der ›kleinen Form‹ eingeschrieben. Es wird aufgewertet, aber ohne den Anspruch, ein monumentales Ganzes zu repräsentieren. Im Gegenteil: Es ist der konkrete Einspruch gegen die großen Ansprüche der Zeit. Diese liest der Spaziergänger von den Litfaßsäulen: Vor einer Litfaßsäule, auf der Tatsachen, wie zum Beispiel Manoli-Zigaretten, so groß angekündigt sind, als wären sie ein Ultimatum oder ein Memento mori, verliere ich den Respekt. […] Was sich groß ankündigt, ist gering an Gehalt und Gewicht. Und ich denke, daß nichts in dieser Zeit ist, was sich nicht groß ankündigte. Darin besteht ihre Größe. Ich sehe die Typographie zur Weltanschauung entwickelt. […] Das Ereignis der Woche ist dasjenige, das durch Druck, Geste, ausholende Armbewegung zum Ereignis der Woche ernannt wurde. Nichts ist, alles heißt.20 Die Stadt ist auch eine Textstadt, die sich durch ihre großsprecherische Typografie verrät. Mit der Manoli-Zigarettenwerbung nimmt Roth dabei eine bekannte Lifestyle-Werbung ins Visier, die ihrerseits wieder das Bild des großstädtischen Flaneurs und Dandys kultiviert. Davon setzt sich Roth ab; er lässt sich nicht, wie der Flaneur, von der Warenwelt ansprechen, die in den Schaufenstern liegt, und er bewegt sich nicht in und mit der Menge. Als »Spaziergänger« wirkt er im urbanen Raum fremd und unzeitgemäß. Eigentlich gehörte er noch in einen Naturraum außerhalb der Stadt, dem Roth sich am Ende seines Artikels folgerichtig zuwendet, 19 20

J. Roth, Werke Bd. 1, S. 565. Ebd., S. 565-566.

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dorthin, wo die spazierenden Bürger des 19. Jahrhunderts Erholung suchten. Doch auch da stehen für Roth nun schon die zivilisatorischen Zeichen, statt der Natur: Am Ende der Stadt aber, wo, wie ich gehört habe, die Natur beginnen soll, ist nicht sie da, sondern die Lesebuch-Natur. […] Denn auch unser Verhältnis zur Natur ist ein unwahres geworden. Sie hat nämlich einen Zweck bekommen. Ihre Lebensaufgabe ist unser Amüsement. Sie besteht nicht mehr ihretwegen. Sie besteht eines Zweckes wegen. […] Sie kam in den Baedeker.21 Zwar versucht der Spaziergänger in der Folge auch hier noch, in der »dünnen Physiognomie eines Jasminzweiges« das Leben des Kleinen, Einzelnen gegen den zivilisatorischen Zugriff zu verteidigen. Doch schließlich endet der Text mit einem Eingeständnis seiner eigenen Unzeitgemäßheit, mit dem der letzte Satz den »Spaziergang« als Unternehmung und als Text reflexiv bilanziert: »Infolge aller dieser Tatsachen ist mein Spaziergang der eines Griesgrams und vollständig verfehlt.«22 Diese kulturkritische Resignation ist aber nicht die ganze Bilanz, die man aus diesem Text ziehen kann: Gerade indem Roth sich unter dem alten Paradigma des Spaziergangs im Berliner Börsen-Courier in die Metropole der Zwanziger Jahre stürzt, bewahrt er zu ihr eine kritische Distanz. Dies erlaubt es ihm, sie als Oberfläche zu hinterfragen. Dazu darf er sich nicht als modischer Flaneur mit ManoliZigarette mit ihr gemein machen. Er ist, eigentlich anachronistisch, ein Spaziergänger, der mit seiner »diagonalen« Bewegung eine eigene Raum-Zeit schafft, die ganz vom Subjekt bestimmt ist. Er lässt sich nicht vom Takt der Moderne, vom berühmten »Berliner Tempo« bestimmen, sondern er macht das Feuilleton zum Freiraum für ein Spazier- und Schreibexperiment der Unzeitgemäßheit. Dieses setzt sich jenem Stadtraum entgegen, den es doch analytisch spiegelt. Das Feuilleton wird so zum Schreib-Raum, in dem man im Medium der Zeit gegen diese schreibend anspazieren kann.

Feuilletonistische Augenblickskunst Spazieren in der Stadt und unter dem Strich Wie unzeitgemäß Roths Spaziergang ist, lässt sich verdeutlichen, wenn man ihn mit anderen feuilletonistischen Gängen durch Berlin konfrontiert. Im Zeitungsboom der Zwanziger Jahre erlebt hier das literarische Feuilleton eine einzigartige Konjunktur; und unter dem Strich in den Zeitungen findet sich ein Freiraum für avancierte literarische Experimente. Dazu nur ein Beispiel: Unter dem Titel Östlich um den Alexanderplatz taucht ein Feuilleton des Autors Linke Poot im Berliner 21 22

Ebd., S. 566. Ebd., S. 567.

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Tageblatt vom 29.9.1923 ganz anders als Roths Spaziergänger in die Großstadtwelt ein: Ich mache mir Platz. Schlängle mich durch zur Münzstraße. Passiere die Kinos, die am hellen Tage dauernd spielen, mit Jahrmarktsorgeln, die über die Straße toben; sie locken zu ›Marko, der Mann der Kraft‹ und ›Das Schicksal einer anständigen Frau‹. Ein Menschenstrom, Wagenstrom; der Alexanderplatz ist nahe. Zwischen zahlreichen sehr billigen Damen, unter den hastenden Leuten suchend, wandern sonderbare langsame Menschen, die sich offenbar kennen, erkennen, beiseite treten, Kleiderköfferchen tragen. Ein Hinundherlungern. Viele unbeschäftigte Burschen mit kessen Mützen. Die Alexanderkaserne mit Schupo kommt, der endlos lange Bau des Warenhauses Tietz; er setzt eine neue, etwas puppige Ecke an. Dann die breite Öffnung, grüner Rasen, der Alexanderplatz, die Gulaschkanone der Heilsarmee, umlagert von Neugierigen und Ketten Armer und Alter, das finstere rote Polizeipräsidium.23 Der Autor, der hier unter dem Pseudonym Linke Poot auftritt, ist Alfred Döblin, und dieses Feuilleton wird 1929 in den Roman Berlin Alexanderplatz eingehen, von dem wiederum zuvor Vorabdrucke in verschiedenen Zeitungen erscheinen.24 So verdankt sich dieser emblematische Stadtroman auch dem medialen Laboratorium des Zeitungsfeuilletons. Anders als bei Roth tritt bei diesem Gang durch konkrete, dem Leser des Berliner Tageblatts bekannte Straßen das feuilletonistische Ich hinter die wahrgenommene Welt zurück; diese scheint sich zu verselbständigen, wird zum Subjekt der Sätze und der Textbewegung, die vom einen zum nächsten Eindruck springt. Das ist schon fast eine Kamerafahrt, zusätzlich ergänzt durch ein offenes Mikrofon. So bewegt sich Döblins Feuilleton ganz auf der medialen Höhe der Zeit und verzichtet dafür, anders als Roth, auf eine kulturkritische Diagnose der lauten, großsprecherischen Gegenwart. Die urbane Dynamik inspiriert hier vielmehr das feuilletonistische Schreiben, und umgekehrt kann sich die Stadt im bunt gebrochenen Spiegel der ihr gewidmeten Feuilletons in ihrer Modernität erkennen. Die Vermittlungsinstanz dazwischen ist jenes feuilletonistische Subjekt, das sich in den Stadtraum stürzt und diesen nach seinen eigenen Regeln literarisch gestaltet und reflektiert. Die feuilletonistische Augenblickskunst führt so bei Döblin direkt in den modernen Großstadtroman hinein. Als Augenblickskunst in der Zeitung muss das Feuilleton sein Verhältnis zur Zeit immer neu justieren. Das ist ein weiterer Aspekt, den die feuilletonistischen

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Linke Poot [Alfred Döblin]: »Östlich um den Alexanderplatz«, in: Christian Jäger/Erhard Schütz (Hg.), Glänzender Asphalt. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik, Berlin: Fannei u. Walz 1994, S. 161-164, hier S. 164. Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf. Hg. v. Werner Stauffacher, Zürich/Düsseldorf: Walter 1996.

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Stadtspaziergänger der Weimarer Zeit kultivieren: Sie sind höchst sensibel für die Veränderung des Stadtraums. Der historische Bruch des Ersten Weltkrieges und die beschleunigte Modernisierung, die darauf folgt, zwingt sie zur Stellungnahme: Sollen sie sich nostalgisch zurückwenden, oder in der Gegenwart schon die anbrechende Zukunft begrüßen? Für die Stadtspaziergänger sind die Straßen und Gebäude der Stadt Referenzpunkte des historischen Wandels. Einige schlagen sich auf die Seite nostalgischer Erinnerung, etwa Arthur Eloesser mit der Feuilletonsammlung Die Straße meiner Jugend (1919). Andere Zeitungsschreiber erkennen am Wandel der Stadt selbst die Flüchtigkeit des eigenen Mediums: So wie die Zeitung schlägt auch die Stadt Tag für Tag ein neues Blatt auf. Dabei droht sie allerdings das kulturelle Gedächtnis zu verlieren. Siegfried Kracauer, der ab 1922 für das Feuilleton der Frankfurter Zeitung arbeitet, diagnostiziert dies am Beispiel des Kurfürstendamms 1932 unter dem Titel Straße ohne Erinnerung. Der Stadtspaziergänger findet schon nach kurzer Zeit die ihm vertrauten Lokale nicht mehr. Kracauer folgert: Der immerwährende Wechsel tilgt die Erinnerung. […] Sonst bleibt das Vergangene an den Orten haften, an denen es zu Lebzeiten hauste; auf dem Kurfürstendamm tritt es ab, ohne Spuren zu hinterlassen.25 Der Kurfürstendamm, oft in Berliner Feuilletons als Flaniermeile gefeiert, läuft unter Kracauers analytischem Blick dem Betrachter davon. Das zeitsensitive Feuilleton kann, wie Claudia Öhlschläger in ihrer Gegenüberstellung von Stadtfeuilletons und Stadtfotografie der Weimarer Zeit herausgearbeitet hat, selbst nur schwer jenen Punkt fixieren, von dem aus es die eigene Zeit diagnostizieren und einordnen könnte.26 Jene Feuilletonisten, die wie Roth auf der Eigenzeit des Spazierens, dem eigenen Schrittmaß, beharren, können von da aus kritisch jenen »Straßenrausch«27 beleuchten, dem sich andere hingeben. Diesbezüglich ragt Franz Hessel aus dem Feld der Feuilletonisten hervor. Sein Freund Walter Benjamin feiert in ihm Die Wiederkehr des Flaneurs, auch wenn er einräumen muss, dass die Flanerie in Berlin »niemals in hoher Blüte stand«.28 Tatsächlich kehrt Hessel eigentlich nicht als

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Kracauer, Siegfried: Werke. Hg. v. Inka Mülder-Bach u. Ingrid Belke. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004ff, Bd. 5.4, S. 312-316, hier S. 315. Öhlschläger, Claudia: »Das ›punctum‹ der Moderne: feuilletonistische und fotografische Städtebilder der späten 1920er und frühen 1930er Jahre: Benjamin, Kracauer, von Bucovich, Moï Ver«, in: Zeitschrift für Germanistik 22.3 (2012), S. 540-557. Kracauer, Siegfried: »Erinnerung an eine Pariser Straße«, in: ders., Werke Bd. 5. 3, S. 358-364, hier S. 358. Benjamin, Walter: »Die Wiederkehr des Flaneurs«, in: ders., Gesammelte Schriften (GS). Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, Bd. III, S. 194-199, hier S. 194. Vgl. Müller, Lothar: »Peripathetische Stadtlektüre. Franz Hessels ,Spa-

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Flaneur, sondern vielmehr als Spaziergänger aus Paris ins deutschsprachige Feuilleton zurück. Als solcher kann er die Flüchtigkeit von Stadt und Feuilleton ermessen. Dafür findet er wiederum in der Stadt ein Bild. In seinem wichtigen Aufsatz Von der schwierigen Kunst, spazieren zu gehen, der in zwei verschiedenen Fassungen zunächst 1932 in der Literarischen Welt und dann 1933 im Berliner Börsen-Courier erscheint, heißt es: Keine Zeitung liest sich so spannend wie die leuchtende Wanderschrift, die Dachentlang über Reklameflächen gleitet. Und das Verschwinden dieser Schrift, die man nicht zurückblättern kann wie ein Buch, ist ein augenfälliges Symbol der Vergänglichkeit – einer Sache, die der echte Genießer immer wieder gern eingeprägt bekommt, um die Wichtigkeit und Einzigkeit seines Genusses und des zeitlosen Augenblicks im Bewußtsein zu behalten.29 In den wandernden Leuchtschriften spiegelt sich die irreversible Vergänglichkeit des eigenen Schreitens durch die Stadt und des Schreibens für die Zeitung. Die in der Formulierung fast faustische Utopie, dass es dabei darauf ankomme, den »zeitlosen Augenblick« zu genießen, streicht Hessel allerdings in der skeptischeren Zweitfassung seines Feuilletons.30 Sogar der »Augenblick« selbst ist 1933 bereits wieder verschwunden, wie um die irreversible Flüchtigkeit des eigenen Mediums, dieser journalistischen Wanderschrift unter dem Strich, nochmals zu bestätigen.

Sich gehenlassen im Stadtraum und im Stadttext Das akzentuierte Zeitbewusstsein der feuilletonistischen Stadtspaziergänge von Hessel oder Kracauer lässt in der Gegenwart des Augenblicks die Vergangenheit als entschwindende erscheinen; es macht aber auch die Brüche deutlich, welche die Vergangenheit von der Gegenwart trennen.31 Das wird dem Spaziergänger jedoch erst bewusst, wenn er aus dem Raum in die Zeit hineinspaziert; in der »Diagonale« des Feuilletons überkreuzen sich dann die Raum- und die Zeitachse. Im Feuilleton

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zieren in Berlin‹«, in: Michael Opitz/Jörg Platz (Hg.), ›Geniesse froh, was Du nicht hast.‹ Der Flaneur Franz Hessel, Würzburg: Königshausen & Neumann 1997, S. 75-104. Hessel, Franz: Sämtliche Werke in fünf Bänden (SW). Hg. v. Hartmut Vollmer u. Bernd Witte, Oldenburg: Igel 1999, Bd. V, S. 69. Die Zweitfassung streicht den »Genuss« und den »zeitlosen Augenblick« »um die Wichtigkeit und Einzigkeit seines zwecklosen Tuns im Bewußtsein zu behalten« (Hessel, SW II, S. 435). Zu Kracauer vgl. Öhlschläger, Claudia: »Kracauers feuilletonistische Städtebilder«, in: Jörn Ahrens/Paul Fleming/Susanne Martin/Ulrike Vedder (Hg.), ›Doch ist das Wirkliche auch vergessen, so ist es darum nicht getilgt‹. Beiträge zum Werk Siegfried Kracauers, Wiesbaden: Springer 2017, S. 17-34.

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Erinnerung an eine Pariser Straße (1930) vergisst Kracauer unterwegs das Ziel und hat die »Empfindung«, […] daß ich mich, auf der Suche nach dem gewünschten Ziel, nicht nur im Raum bewegte, sondern oft genug seine Grenzen überschritt und in die Zeit eindrang. Ein geheimer Schmugglerpfad führte ins Gebiet der Stunden und Jahrzehnte, dessen Straßensystem ebenso labyrinthisch angelegt war wie das der Stadt selber.32 Wenn das Spazieren aus dem Raum in die Zeit führt, dann häufig zurück in eine archaische Traumdimension. Für diese taucht die Chiffre des »Labyrinths« auch bei anderen Feuilletonisten auf; Hessel etwa stößt auf sie beim Spazieren in Berlin, einer Sammlung von Texten, die er 1929 aus Feuilletons zusammenstellt. Der Schutzumschlag der Erstausgabe verheißt: »Ein Lehrbuch der Kunst in Berlin spazieren zu gehen, ganz nah dem Zauber der Stadt, von dem sie selbst kaum weiß. Ein Bilderbuch in Worten.«33 Darin wird für Hessel der Tiergarten zum Labyrinth, in dem er sich »glücklich verirrt« in halbdunkle Zonen, die noch so »buschig und labyrinthisch« aussehen wie früher.34 Am gleichen Schauplatz, dem Tiergarten, entfaltet Benjamin im Eröffnungstext seiner Berliner Kindheit eine Theorie des willentlichen Verirrens in der Stadt, durch das man in deren archaische Schichten wie auch in seine eigene Kindheit vorstoßen kann.35 Im Tiergarten öffnet sich so für den Stadtspaziergänger ein Fenster in eine andere Raumzeit, aber auch in die Räume der poetischen Einbildungskraft. Das ist symptomatisch: Der Tiergarten ist einerseits ein in die Stadt eingefaltetes Stück jener Natur, welche die ersten Spaziergänger außerhalb der Stadt aufgesucht haben – bezeichnenderweise stößt Hessel bei seinem Gang durch den Tiergarten gleich auch auf die dortige Rousseauinsel.36 Andererseits entspricht der Tiergarten aber auch genau jener Funktion, welche das Feuilleton selbst hat: Es ist die Erholungszone der Zeitung, unter dem Strich der Alltagsgeschäfte, gewissermaßen die Sonntagsbeilage der Stadt. In ihn hinein darf man sich getrost kurzzeitig lesend verirren. Darum ist der Tiergarten ein so beliebter Ort in der Berliner Feuilletontopografie.37 In dieser äußerlich begrenzten Schutzzone darf man sich gehenlassen. Hessel setzt in dieser Perspektive das »Spazierengehn« mit dem »Dichten« in Parallele:

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S. Kracauer: Werke Bd. 5.3, S. 358-364, hier S. 359. Hessel, Franz: Spazieren in Berlin. Leipzig/Wien: Hans Epstein 1929, Umschlag. F. Hessel: SW III, S. 115. W. Benjamin: GS IV, S. 237. F. Hessel: SW III, S. 116. Vgl. Utz, Peter: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers ›Jetztzeitstil‹. Berlin: Suhrkamp 2 2018, S. 313-320.

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Das Spazierengehn aber ist weder nützlich noch hygienisch. Wenns richtig gemacht wird, wirds nur um seiner selbst willen gemacht, es ist ein Übermut wie – nach Goethe – das Dichten. Es ist mehr als jedes andre Gehen zugleich ein Sichgehenlassen.38 Robert Walser findet die gleiche Spaziergängermetapher für das eigene Tun als Feuilletonist. In einem Prosastück, das er 1926 erfolglos der Prager Presse anbietet, definiert er den »Stil« aus einer Dialektik von Zwang und Ungezwungenheit: »Wer sich einem gewissen Zwang unterwirft, darf sich irgendwie gehenlassen.«39 Die Zwänge der Feuilletonisten-Existenz sind ihm für das schreibende Sichgehenlassen konstitutiv. Erst die äußeren Grenzen erlauben es, alle kreativen Möglichkeiten im Innern dieser äußerlich durch das Medium definierten Textsorte auszuschreiten. Im Tiergarten des Feuilletons sind alle Schrittarten erlaubt. Es wird in seiner urbanen Umgebung in der Weimarer Zeit zu einem Freiraum avancierter literarischer Experimente. Dies gerade, indem sich der Feuilletonist in ihm schreibend gehenlässt und nicht zielgerichtet auf Aktualitätsjagd geht, wie sein neuer journalistischer Antitypus, Der rasende Reporter, den Egon Erwin Kisch 1925 zur Ikone der Zeit erhebt.40 Dieser richtet seine Kameraaugen zielgerichtet und zweckrational auf die Brennpunkte des Zeitgeschehens. Dagegen profiliert sich der Feuilletonist gerade durch eine andere Blickkultur, eine der gelassenen Offenheit. Indirekt gegen die Reporter gerichtet, fordert Hessel in seiner Kunst, spazieren zu gehen: Wenn du unterwegs etwas näher ansehn willst, geh nicht zu gierig darauf los. Sonst entzieht es sich dir. Laß ihm Zeit, auch dich anzusehn. Es gibt ein Aug in Auge auch mit den sogenannten Dingen. Es genügt nicht, dass du die Straßen, die Stadt wohlwollend anschaust. Sie müssen auch mit dir gut Freund werden.41 Die Dinge antworten mit ihrem Blick demjenigen, der sie anzuschauen versteht. In Hessels Formulierung »Nur was uns anschaut, sehen wir« hat Benjamin den Kern der Philosophie des Flaneurs bei Hessel ausgemacht.42 Tatsächlich wird so die passive, scheinbar unbeteiligte Schaulust des Müßiggängers zu einer aktiven, welche 38 39

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F. Hessel: SW V, S. 68. Walser, Robert: Aus dem Bleistiftgebiet. Hg. v. Bernhard Echte u. Werner Morlang, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985-2000, Bd. IV, S. 176. Vgl. Utz, Peter: »›Sichgehenlassen‹ unter dem Strich. Beobachtungen am Freigehege des Feuilletons«, in: Kauffmann/Schütz, Lange Geschichte der Kleinen Form, S. 142-162. Kisch, Egon Erwin. Der rasende Reporter. Berlin: Aufbau 1994. F. Hessel: SW V, 72. »›Nur was uns anschaut, sehen wir. Wir können nur – ›wofür wir nichts können.‹ Man hat die Philosophie des Flaneurs niemals tiefer erfasst als es Hessel mit diesen Worten getan hat.« Benjamin, Walter: »Wiederkehr des Flaneurs«, in: ders., GS III, S. 198. – Der Satz stammt aus Hessels Pariser Tagebuch »Vorschule des Journalismus«, in: F. Hessel: SW II, S. 318.

Augenblicke im Vorübergehen

erst »sichtbar« macht, was zu sehen ist. Im Nachwort an die Berliner zur Sammlung Spazieren in Berlin formuliert Hessel entsprechend: »Noch fühlt man in vielen Teilen Berlins, sie sind nicht genug angesehn worden, um wirklich sichtbar zu sein.«43 Erst wenn man der Stadt mit seinem Blick »Guten Tag« sagt, wie Walser der »Riesin« in seinem Feuilleton zwanzig Jahre zuvor, dann wird sie wirklich wach. Dazu reicht allerdings jener kindlich-naive, primäre Spaziergängerblick, wie ihn ein Baudelaire postuliert hatte, nicht aus. Auch wenn Hessel »den Ersten Blick auf die Stadt, in der ich lebe, gewinnen oder wiederfinden« möchte,44 weiß er, dass dieser Blick die Großstadt »lesen« können muss. Denn sie ist auch eine Zeichenstadt: Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caféterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben.45 Jene Physiognomik der Oberfläche, auf die etwa Roth baut, reicht zu dieser »Lektüre« nicht aus. Um die Stadt-Zeichen zu lesen, braucht es den gewissermaßen alphabetisierten Blick des Spaziergängers. Er liest die Stadt als Zeichen: nicht analog im Sinne der Physiognomik, sondern digital im Sinne eines Codes. Spazierendbuchstabierend verknüpft er die einzelnen Buchstaben zu einem Fließtext, strukturhomolog zu jenen Straßen, die er durchwandert. Und strukturhomolog zu dieser »Lektüre« der Straßen bewegt sich dann auch der Text voran, den er schreibt. So wird der Feuilleton-Spaziergänger erst recht zur Vermittlungsinstanz zwischen urbanem Raum und Zeitungsschrift; indem er die Stadt durchwandert, ist er Leser und Autor des Stadttextes zugleich.

Abgesang auf das feuilletonistische Spaziergängersubjekt Das verändert dieses Subjekt selbst. Auch diesbezüglich entwickelt sich das Feuilleton am Stadtspaziergang in der Weimarer Zeit weiter. Spazierend wollte ja seinerzeit das bürgerliche Subjekt zu sich selbst finden. Dieses Ich, das auch Baudelaire seinem Flaneur hinter dessen »Inkognito« noch zuschreibt, wird im feuilletonistischen Schreiben in einer paradoxen Weise sowohl affirmiert wie aufgelöst: Einerseits wird die Subjektivität des feuilletonistischen Schreibens in der Weimarer Zeitungskonjunktur noch wesentlich akzentuiert, denn jede Zeitung möchte sich

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F. Hessel: SW III, S. 191-192. F. Hessel: SW III, S. 9. F. Hessel: SW III, S. 103.

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über ihre Feuilletonisten und deren möglichst originelle und individuelle ›Handschrift‹ profilieren. Andererseits löst sich das feuilletonistische »Ich« in der Masse der Zeitungsproduktion gerade auf, wird zum Platzhalterpronomen, ohne Deckung durch ein biografisches Subjekt. Denn die Feuilletonisten werden ja im aufreibend-anonymen Zeitungsbetrieb ihrer Autorschaft eigentlich enteignet. Anders als die Autoren der Buchliteratur können sie kaum auf eine überzeitliche Geltung ihrer Kunst aspirieren. So müssen sich die spazierenden Feuilletonisten nicht nur fragen, wo sie jeweils stehen, sondern auch, wer sie überhaupt sind. Für Hessel gehört es mit zur Kunst, spazieren zu gehen, diese Frage nicht mit dem Griff in die Autorfiktionen der klassischen Romanliteratur zu beantworten: Aber meistens ist der echte Spaziergänger allein und da muß er sich etwas davor hüten, zu der düstern Romanfigur zu werden, die ihr eigenes Leben von den Häuserkulissen abliest, wenn sie mit melancholisch hallenden Schritten die Straßen durchmißt, um dem Autor des Buches Gelegenheit zur Exposition seiner Geschichte zu geben. Man muß sich selbst vergessen, um glücklich spazieren zu gehen.46 Statt zur melancholischen Romanfigur zu werden, muss sich der Stadtspaziergänger selbst vergessen. Diese positive, kreative Selbstvergessenheit wird durch die Stadt gefördert; schon Walser hat ja festgehalten, wie gegenüber der Großstadtriesin »das Betrachten ein flüchtiges, das Urteil ein schnelles und das Vergessen ein selbstverständliches« ist. Zwar geht Hessel damit noch, wie Roth, vom herkömmlichen Spaziergängersubjekt aus, das er einzelgängerisch der Stadt entgegenstellen will. Doch die historische Entwicklung scheint ihn einzuholen. Aus der Zweitfassung der Kunst, spazieren zu gehen, die im April 1933 im Berliner Börsen-Courier steht, wird der Satz »Man muß sich selbst vergessen, um glücklich spazieren zu gehen« ersatzlos gestrichen. Dafür wird dort das Verhältnis zur Menge neu hinzugefügt, in einer Reihe von Forderungen, die der Spaziergänger imperativisch an sich selbst stellt: Werde Menge. Schließ dich zeitweilig Umzügen an. Mach Aufläufe mit. Wenn gerade irgendwo Geschäftsschluß oder das Theater aus ist, so bleib ein Weilchen stehn, als erwartetest Du jemanden. Solche gespielte Absicht entrückt dich nicht der schönen Zwecklosigkeit deines Tuns.47 Der Spaziergänger soll eintauchen in die Menge. Doch nicht als ihr Parteigänger, sondern zur tarnenden Mimikry, in »gespielter Absicht«. Das ist, im Frühjahr 1933, alles andere als unschuldig. Denn die Straßen sind nun durch »Aufläufe« und »Umzüge« besetzt, die keinen Einzelgänger mehr tolerieren. Dass Hessel sogar noch das sich selbst vergessende Subjekt aus seinem Text tilgt, ist da nur folgerichtig. Mit 46 47

F. Hessel: SW V, S. 71. F. Hessel: SW II, S. 438.

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ihm verschwindet auch das »glückliche« Spazierengehen. Das Feuilleton von 1933 schließt, anders als die Erstfassung von 1932, mit einem düsteren Ausblick auf den »Ernst des Lebens«, der keinen spaziergängerischen Lebensgenuss mehr erlaube. Der uniforme Marschtritt der ›Machtergreifung‹ hat den Spaziergänger eingeholt. Er macht auch der einzigartigen Weimarer Feuilletonkultur ein brutales Ende; der Berliner Börsen-Courier etwa muss am Ende des Jahres 1933 sein Erscheinen einstellen. Wenn man in den Jahren danach trotzdem feuilletonistisch weiterspaziert, dann kann man damit nur noch verharmlosend und entlastend ablenken von dem, was sich über dem Strich und in der politischen Realität zusammenbraut. Der aus Riga stammende, mit Karl Kraus bekannte Feuilletonist Sigismund von Radecki etwa publiziert im gleichen April 1933 in der Kölnischen Zeitung eine harmlose feuilletonistische Liebeserklärung an den Berliner Tiergarten.48 Und sogar mitten in der Kriegszeit ruft er nochmals alles Gute auf, was man dem Spazierengehen immer schon nachgesagt hat. Ein Feuilleton unter diesem Titel feiert 1941 in der Neuen Wiener Zeitung das Spazieren als »das Natürlichste von der Welt«, in dem man sich unter der »Tarnkappe des Normalen« selbst vergessen kann, um im »schwebenden Rausche« des Spazierens an der Welt zu »nippen«.49 Wer sich jedoch unterwegs zu deutlich nach einer Frau umdreht, der ist »ein Flaneur, ein sogenannter Steiger, ein Don Juan […], nur kein Spaziergänger.« Unter deutlich antifranzösischem Vorzeichen wird hier der Flaneur als Schürzenjäger denunziert. Der »Spaziergänger« hingegen, der diesen deutschen Begriff verdient, weiß sich loszureißen von den Dingen, über die er hinschaukelt wie ein »Schmetterling«; ohne sich selbst zu spüren, spürt er alles. Er wird zum »Hohlraum, auf dem sich alles krumm spiegelt wie auf einer gepusteten Seifenblase, voll von gepustetem Kinderatem« – die »Seifenblase« ist eine gängige Metapher, mit der das Feuilleton seinen ephemeren Glanz poetisiert.50 Man könnte Radeckis Text als elegante, aber harmlose Sammlung aller Klischees einstufen, unter welchen sich sowohl das Spazieren – auch in Abgrenzung zum Flanieren – wie auch das Feuilleton selbst immer wieder gesehen haben. Doch seine Unschuld verliert dieses Feuilleton auf jener Seite der Neuen Wiener Zeitung vom 16.4.1941, auf der es unter dem Strich erscheint. Denn dort trifft es auf Berichte vom triumphalen Einmarsch der Deutschen im slowenischen »Marburg« (heute Maribor) oder von der Versenkung eines englischen Kreuzers. Die Hauptschlagzeile aber gilt dem deutschen Vormarsch in Griechenland unter dem Titel: Marschieren,

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Von Radecki, Sigismund: Die Stimme der Straße. Feuilletons. Hg. v. Hans-Dieter Schäfer, Göttingen: Wallstein 2014, S. 11-14. Von Radecki, Sigismund: »Spazierengehen«; in: Neue Wiener Zeitung 16.4 (1941), S. 3. Vgl. Schütz, Erhard: »Unterm Strich. Über Grenzverläufe des klassischen Feuilletons«, in: Kernmayer/Jung, Feuilleton, S. 31-50, hier S. 39.

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kämpfen, marschieren…. In diesem Kontext kann das feuilletonistische Spazierengehen höchstens noch eine verharmlosende Ablenkung sein. Es ist nicht mehr jene Form des produktiven Abschweifens, in der sich im Feuilleton der Weimarer Republik Spazieren und Schreiben in einzigartiger Weise kreativ verschwistert hatten. Im militärischen Marschtritt geht der lange historische Augenblick der feuilletonistischen Augenblickskunst, die auch eine Kunst, spazieren zu gehen war, zu Ende.

»Durch Manhattan« Die Stadt als Bewegungsraum Sabiene Autsch

New York City Dogs Auffällig im New Yorker Stadtbild ist die ungewöhnlich starke Präsenz von Hunden und das nicht nur in der Nähe des Central Parks, auf Long Island oder in den extra eingezäunten Hundespielplätzen, den so genannten Dog Runs. In New York leben rund 600.000 Hunde, worauf die Stadt entsprechend reagiert hat: So dürfen in größeren Stadtparks, wie dem Central Park in Manhattan oder dem Prospect Park in Brooklyn, Hunde vor 9 Uhr und nach 21 Uhr ohne Leine frei laufen. Lärm und Abgase, Asphalt und Beton, wenig Grün und Menschenmassen zählen jedoch nicht gerade zu jenen Bedingungen, die mit einem hundeaffinen Alltagsleben assoziiert werden. Und dennoch scheinen insbesondere Hunde ganz unterschiedlicher Rasse und Größe, unterschiedlichen Alters und Aussehens, auch oder gerade in New York als Haustiere Bedürfnisse zu erfüllen, die stärker psychosoziale Motivationsgründe erkennen lassen, was neben der medialen Repräsentation von Tieren Gegenstand des interdisziplinären Forschungsinteresses der Cultural Animal Studies ist.1 Die wissenschaftlichen Projekte aus diesem Kontext, insbesondere aber auch künstlerische Arbeiten sowie eine Reihe öffentlichkeitswirksamer Themenausstellungen der letzten Jahre, haben Impulse für die Breite der Thematik und seine Verflochtenheit mit anderen Forschungsgebieten geliefert und auf diese Weise auch zu einem

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Auf das Forschungsfeld der Animal Studies kann in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden. Dennoch soll auf folgende Publikationsreihen verwiesen werden. Vgl. Borgards, Roland: Cultural Animal Studies, Stuttgart: Metzler. Dürbeck, Gabriele/Stobbe, Urte (Hg.): Ecocriticism. Eine Einführung, Köln: Böhlau 2015, S. 68-80; siehe auch: Böhme, Hartmut et al. (Hg.): Tiere. Eine andere Anthropologie. Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden, Bd. 3., Köln: Böhlau 2004; stellvertretend zu den Human-Animal Studies s. Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen, Bielefeld: transcript 2011; DeMello, Margo: Animals and Society. An Introduction to Human-Animal Studies, New York: Columbia University Press 2012.

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differenzierten Verständnis in der allgemeinen Mensch-Tier-Beziehung beigetragen.2

Abb. 1: McKenna, Rachael Hale: »Lily und Reykjavik«, in: dies., New York City Dogs, München: Knesebeck 2014, S. 56.

Parallel dazu existieren auch weiterhin eine Reihe populärwissenschaftlicher Ansätze, wozu u.a. auch das Projekt von Rachael Hale McKenna gehört, die seit 2013 die New York City Dogs fotografiert.3 Ihre Shootings finden überwiegend in, 2

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Exemplarisch s. die Ausstellung Tiere – Respekt – Harmonie – Unterwerfung, die von November 2017 bis März 2018 im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe gezeigt wurde. Vgl. Schulze, Sabine/Conrad, Dennis (Hg.): Tiere – Respekt – Harmonie – Unterwerfung, München: Hirmer Verlag 2017. McKenna, Rachel Hale: New York City Dogs, München: Knesebeck 2014. Neben den New York City Dogs hat die Fotografin auch einen Band zu den French Dogs herausgegeben, der in diesem Zusammenhang aber nicht weiter berücksichtigt wird. Die Homepage der Fotografin

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vor oder auf exklusiven Locations von New York statt, die über einen Wiedererkennungswert verfügen. So wie Hund und Hundebesitzerinnen zu den Akteuren eines wohlkalkulierten fotografischen Langzeitprojekts werden, ist es die Megastadt, die in den Fotografien demgegenüber geradezu modellhaft verkürzt erscheint.4 Auffällig ist, dass die Hunde in New York selten in Aktion und in Bewegung, sondern überwiegend bewegungslos dargestellt sind (s. Abb. 1). Das für den Hund kennzeichnende Gehen, Herumtollen, Schnüffeln, Raufen und Laufen wird zu einem choreografierten Dasitzen auf markanten Plätzen oder zum Stehen vor repräsentativer Stadtkulisse.5 In der fotografischen Stillstellung erscheinen die Hunde als inszenierte Repräsentanten eines urbanen Lifestyles. Nicht die Bewegung, wie das Spazierengehen, zeichnet die New Yorker Dogs in der fotografischen Inszenierung aus. Vielmehr ist es die Bewegungslosigkeit, die Pose, die der Hund einnimmt, wodurch das Ideal eines »zeitgemäßen« Hundes transportierbar wird. Die Fotografie suggeriert, der Hund habe sich habituell an die spezifisch urbanen Optimierungsstrategien angepasst und damit eine selbständige Transformationsleistung vollzogen, worin sich zugleich ein neues Phänomen von Urbanität artikuliert, das Soziologen und Städteplaner gegenwärtig unter dem Stichwort »performative Urbanität« diskutieren.6 Danach ist Urbanität vom Begriffsverständnis nicht mehr an die klassische Vorstellung von Stadt als Polis im Sinn einer politischen Einheit gebunden, was im Umkehrschluss bedeutet, dass Urbanität gegenwärtig nicht mehr durch dauerhafte (soziale oder bauliche) Qualitäten gekennzeichnet ist. Vielmehr sind es nunmehr Phänomene von Flüchtigkeit, Diversität, Performanz usw., worüber Stadt sich verändert und als polyzentralisiertes Gefüge mit vorläufiger

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weist neben der Rubrik Animals auch weitere wie Families oder Babies auf, darüber hinaus eine, die betitelt ist mit Portrait Info und Commercial. Deutlich wird, dass die Fotografin zwischen Auftragsarbeiten und einer Fotoästhetik changiert, die auf Prinzipien von Porträts- und Bildnisstudien basiert, dabei fototechnische und bildkorrigierende Strategien anwendet. S. auch unter www.rachaelmckenna.com/. Einen sehr guten Überblick bietet Lechteck, Hans J./Museum Folkwang/Eskilden, Ute (Hg.): Nützlich, süss und museal – das fotografierte Tier, Göttingen: Steidl Verlag 2005. Claudia Lillge macht im Kontext der medialen Repräsentation von Tieren auch noch einmal darauf aufmerksam, wie wir Tiere sehen (wollen). Mit Verweis auf Donna Haraways Modell der Companion Species stellt sie die »nobilitierten« Tiere als »handlungsmächtige Akteure und Beteiligte an speziesübergreifenden Gemeinschaften« heraus. Lillge, Claudia: »Tiere sehen. Editorial«, in: dies. (Hg.), Fotogeschichte 38 (2018), S. 3-5. Im Zusammenhang von Blickregien und Blickökonomien einschlägig s. Berger, John: »Warum sehen wir Tiere an?«, in: ders., Das Leben der Bilder – Die Kunst des Sehens. Aus dem Englischen von Lisa Mengden, Berlin: Wagenbach Verlag 1981, S. 7-26. Zur Problematik, Tiere zu fotografieren: »Die richtige Pose, der entscheidende Moment ist meist schwer einzufangen – viele Tiere müssen, um fotografiert werden zu können, erst aufwändig aufgespürt, manchmal sogar erst getötet werden.« C. Lillge: »Tiere sehen«, S. 4. Selle, Klaus/Aerni, Georg: »Sondierungen zur Urbanität. Zu den Bedeutungsfacetten eines viel gebrauchten Wortes«, in: Kunstforum International 218 (2012), S. 50-67, hier S. 59.

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Gültigkeit ausgebildet hat (Paolo Bianchi), die neue Herausforderungen an Städteplaner wie auch an das urbane Subjekt stellen.7 Ist es einerseits die Pose, die die Hunde in den Fotografien einnehmen, so ist es andererseits die Stadtkulisse, wodurch die Megastadt in ihrer Dimension auf repräsentative Zeichen reduziert und der Stadtbesucher zum Konsumenten eines wiedererkennbaren und übersichtlichen Stadtraums gemacht wird. Die Fotografie kann daher einerseits als Ausdruck einer Enteignung animalischer Bewegung verstanden werden, die den Hunden andererseits gerade in ihrer Bewegungslosigkeit, also in der Pose, die Möglichkeit eröffnet, nicht nur eine Position im urbanen Raum einzunehmen, sondern zugleich auch eine Identität als »typische Stadthunde New Yorks« anzunehmen.8 In Pose und Kulisse artikulieren sich jene Inszenierungsstrategien, worüber sich urbaner Lebensraum und urbane Lebensweise verschränken und so als Botschaft transportierbar werden. Mit diesen Überlegungen kann übergeleitet werden zur Stadt als Bewegungsraum. Am Beispiel der Fotografien konnte auf Inszenierungsstrategien hingewiesen werden, die in ihrer gestalterischen Qualität eigene Bildwirklichkeiten hervorbringen, wodurch sich die Grenzen zur Alltagswirklichkeit und zum Alltagshandeln zunehmend auflösen. Die Stadt als Bewegungsraum ist integraler Bestandteil von Urbanität. Sie betont das Flüchtige und Transitorische und verweist damit zugleich auf die Unzulänglichkeit bisheriger Beschreibungsmetaphern, die auf empirischen Daten, Fakten und Zahlen basieren und Urbanität kaum oder gar nicht im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen betrachtet haben. Klaus Selle verweist auf diese Problematik, die sich in der Begriffsgeschichte von Urbanität/Urbanisierung abbildet und etwas transportiert, das sich »dem genauen Urteil entzieht und von feierlicher Unschärfe ist.«9 Mit der Betonung des Transitorischen muss Stadt zu-

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Bianchi, Paolo: »Der urbane Blick auf das ›Lebenskunstwerk Stadt‹«, in: Kunstforum International 218 (2012), S. 33-47, hierzu s. bes. S. 46-47. Zur Pose s. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 20. Am Beispiel von fotografierten Tierpräparaten kommt Dörthe WilkeKempf zu ähnlichen Feststellungen, die in diesem Zusammenhang jedoch nicht weiter ausgeführt werden sollen. S. dazu Wilke-Kempf, Dörthe: »Das posierte Tier. Zur Fotografie von Tierpräparaten«, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 38 (2018), S. 19-34. »Daher muss, wer heute ›Urbanität‹ sagt, auf die Differenzen und Ungleichgewichte in der Stadtgesellschaft Bezug nehmen, die Vielfalt der Lebensstile berücksichtigen, die Konflikte zwischen ihnen thematisieren und darum bemüht sein, zu einem Ausgleich zu kommen und Zusammenhalt zu fördern.« K. Selle/G. Aerni: »Sondierungen zur Urbanität«, S. 66; Dirksmeier, Peter: Urbanität als Habitus. Zur Sozialgeografie städtischen Lebens auf dem Land, Bielefeld: transcript 2009. Im Vergleich dazu sei verwiesen auf Stadtmetaphern wie Organismus und Maschine, oder auf den im postmodernen Diskurs vielfach verwendeten Bühnen- bzw. Spiegelbegriff. Sie stammen überwiegend aus dem Städtebau und sind von der Antike bis heute mit unterschiedlichen Bedeutungen und Ideen aufgeladen. Vgl. Hnilica, Sonja: Stadt-

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gleich komplexer, dynamischer, widersprüchlicher und prozesshaft gedacht und der Blick auf Stadtgesellschaften, Milieus, Verhaltensstile, Habitus usw. gerichtet werden: D.h. insbesondere subjektive Erfahrungsebenen (auch) als kritische Maßstäbe anzusehen, an denen städtische Realitäten letztlich gemessen werden können. Zu fragen ist daher: Wenn Stadt sich weiter verändert und bewegt, wie bewegen wir uns dann in ihr? Wie ist die Stadt als Bewegungsraum überhaupt erfahrbar und welche Fähigkeiten benötigen wir angesichts der rapiden Veränderungen und immensen Herausforderungen? Die folgenden Ausführungen widmen sich insbesondere der Bewegung des Gehens in Städten. Aus kulturhistorischer Perspektive wird angeknüpft an das Format des Stadtspaziergangs sowie an Eckpunkte von Walter Benjamins Beschreibung des modernen Flanierens. Am Beispiel der Stadt New York, die Einblicke in die Vielfalt der »postmodern geographics« (Edward Soja) liefert und von einem immens spannungsgeladenen Nebeneinander unterschiedlicher Raumstrukturen ebenso wie von einem klar strukturierten Stadtmodell (Raster) geprägt ist, erhält das Gehen in der Megastadt besondere Bedeutung und wird in zeitversetzten visuellen Entwürfen in ihrer transformatorischen Qualität diskutiert. Damit werden Denkfiguren der klassischen Moderne (Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Franz Hessel) sowie performative Praxisformen der Kunstbewegungen seit den 1960er Jahren ebenso wie kartografische und performativ-soziale Projekte im gegenwärtigen öffentlichen Raum aufgerufen (vgl. Mapping a City, Urban Performance). Die Thematik »Stadt als Bewegungsraum« ist an den intermedialen Schnittstellen von Kunst- und Literaturtheorie sowie kulturwissenschaftlichen Diskursen der Urban Studies verortet und kann als Beitrag zu einer »integralen Stadtkultur« (Heinz Paetzold) verstanden werden.

How to use a City Eine Karte, genauer der Stadtplan von New York, ist es, den die österreichische Künstlerin Maria Lassnig (1919-2014) bei ihrem ersten Aufenthalt in New York 1968 in ihre Arbeit integrierte. Dabei handelt es sich um eine Zeichnung, die die Künstlerin, reduziert auf Kopf und Arme, in einer liegenden Haltung zeigt.

metaphern. Camillo Sittes Bild der Stadt im Architekturdiskurs, Wien: Selbstverlag 2006. Zu dem auch im Folgenden verwendeten Begriff der Atmosphäre s. Böhme, Gernot: »Die Atmosphäre der Stadt«, in: Gerda Breuer (Hg.), Neue Stadträume zwischen Musealisierung, Medialisierung und Gestaltlosigkeit, Frankfurt a.M.: Stroemfeld Verlag 1998 (Wuppertaler Gespräche 2), S. 149-162 und Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre, München: Fink 2006; Hasse, Jürgen: »Raum der Performativität. ›Augenblicksstätten‹ im Situationsraum des Sozialen«, in: Geografische Zeitschrift 98.2 (2010), S. 65-82.

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Abb. 2: Lassnig, Maria: »Selbstporträt in NYC, 1969«, in: Janine Latham (Hg.), Maria Lassnig. Woman Power: Maria Lassnig in New York 19681980, New York: Petzel 2016, S. 7.

Aus einer leicht erhöhten Position wird der Blick der Betrachterin zunächst auf ein maskiertes Gesicht gelenkt, das den oberen Bildbereich ausfüllt. Augen, Ohren und Haare sind von einer gelben Fläche verdeckt (s. Abb. 2). Die Arme liegen gekreuzt über der Brust und nehmen den unteren Bildbereich ein. Während Gesicht und Arme in einem roten Farbton gehalten sind, ist es eine grüne Fläche, die Hals und Oberkörper verdeckt. Bei intensiverer Betrachtung ist auf der grünen Fläche ein feines, grafisches Linienspiel zu erkennen, das Ausschnitte des New Yorker Stadtplans erkennen lässt. Lassnig hat dafür jene Stadtteile ausgewählt – Lower Manhattan, East Village und Soho –, die in Beziehung zu ihrem privaten Lebens-, Wohn- und Arbeitsumfeld stehen. Dem ersten Aufenthalt der Künstlerin in New York waren persönliche Schicksale vorausgegangen, so der Tod der Mutter oder auch die fehlende künstlerische Anerkennung sowie starke depressive Phasen, die die Künstlerin in New York zu bewältigen suchte. So stellt dieser erste Aufenthalt in der Megacity für Maria Lassnig eine existenzielle Umbruchszeit dar: Private Verlusterfahrung, sukzessive Loslösung von surrealistischen Tendenzen, verstärkte künstlerische Reflexion und

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Neuorientierung treffen dabei auf die vitale Alltagswirklichkeit und experimentelle Kunstszene Ende der 1960er Jahre. Das Selbstporträt von 1969 repräsentiert die malerische Konzeption der Body Awareness Paintings, zu der Maria Lassnig insbesondere durch ihren Aufenthalt in New York gefunden und die sie in den nachfolgenden Jahren weiter profiliert hat.10 In dieser Zeichnung erzählt die Künstlerin von ihren physischen Empfindungen, von Träumen und Sehnsüchten. Indem sie sich ausschnitthaft in den Stadtplan von New York einschreibt, liefert sie zugleich reale Bausteine für eine visuelle Narration. Für die Body Awareness oder Body Sensations Paintings wird der eigene Körper zum Motiv und Medium der Malerei, für die fortan die Verbindung von Innen- und Außenwelt kennzeichnend wird. Der Stadtplan als Decke, die zudeckt und Schutz bietet, oder der Stadtplan als navigierende Fläche, die Orientierung gibt, Verlust und Verirren aufhebt und zum aktiven Denken und produktiven Handeln motiviert, sind ganz unterschiedliche Abstraktionswege, die die Künstlerin in liegender Haltung und rezeptiv erprobt. Fragmentierung und Farbreduktion, das Spiel mit Oberfläche und Grund, mit Flächigkeit und Plastizität, mit Blickverweigerung und -aufforderung lassen die Zeichnung zu einer autobiografischen Notiz werden. Die eingenommene Haltung der Künstlerin auf, unter oder im Stadtplan von New York, die zugleich an einen schlafenden oder meditativen Zustand erinnert, suggeriert zugleich Abwendung, Zurückgezogenheit und Schutzbedürftigkeit. Ist es einerseits die Draufsicht, die es der Betrachterin ermöglicht, einen Überblick über das Dargestellte zu erlangen und als Außenstehende in Distanz zu Stadt und Künstlerin gehen zu können, d.h. dem Zugriff von Raum und Körper gleichsam entrissen zu werden, so ist es andererseits das Liniengeflecht, das eine intensivere Erkundung einfordert. Die zarten, zugleich fragmentierten Linien fordern Nähe ein, schicken die Betrachterin auf Spurensuche und verwickeln sie auf diese Weise geradezu in das urbane Geflecht von New York. In einer zehn Jahre späteren Arbeit erscheint Maria Lassnig geradezu erstarkt und befreit von ideologischen Festlegungen und privaten Krisen. So spricht sie in ihren Künstlertexten und Tagebuchaufzeichnungen immer auch von »Freiheit« – eine Freiheit, die sie erst in New York gefunden habe. In Woman Power (1979) ist es die Filmfigur King Kong, die Lassnig als Motiv auswählt und deren überdimensionierten kraftvollen Habitus sie sich symbolisch einverleibt: Unbekleidet und mit geschlossenen Augen erhebt sie sich über die anonyme Silhouette von Manhattan und geht aufrecht und selbstbewusst auf die Betrachterin zu (s. Abb. 3). Doch das Gehen

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Ausführlicher zu den »Körperbewusstseinsbildern« s. Autsch, Sabiene: »Maria Lassnig: ›Die Wohlstandsgesellschaft‹. Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden, in: Martina Dobbe/Gundolf Winter (Hg.), 10 x Malerei. Rubenspreis der Stadt Siegen in Werken der Sammlung Lambrecht-Schadeberg, Siegen 2002 (Museum für Gegenwartskunst Siegen), S. 149-158.

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Abb. 3: Lassnig, Maria: »Woman Power, 1979«, in: Janine Latham (Hg.), Maria Lassnig. Woman Power: Maria Lassnig in New York 1968-1980, New York: Petzel 2016, S. 35.

mit den merkwürdig verkürzten, nahezu amputierten Beinen scheint den Körper nur provisorisch aufrecht zu halten und besitzt ebenso wenig Bodenhaftung. Die fragmentierten Beine korrespondieren mit den verdeckten und geschlossenen Augen; das eingeschränkte Gehen kann in Analogie zu einem eingeschränkten Sehen gesehen werden. So sind auch hier, wie im Selbstporträt von 1969, die Augen der Künstlerin wie durch eine Art Binde verdeckt und geschlossen. Nicht das, was sie sieht, sondern wie sie sich spürt, wird zum Bild. Parallel zu ihrer introspektiven Körperwahrnehmung bleibt sie immer auch im Außen verankert. Ihre Arbeiten basieren auf einem gründlichen Studium der Realität. Dennoch gehen die sensiblen Beobachtungen weit über die Wiedergabe des rein Sichtbaren hinaus. Ihre Motive haben sich zunehmend vom Gegenstand entfernt, lösen sich vom realen urbanen

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Erscheinungsbild und transformieren sich in Atmosphären, Strukturen, Streifen und Schatten. Manhattan ist in dieser Arbeit geprägt von diesem Sehen. Der Stadtteil repräsentiert sich in Woman Power als Modulsystem, bestehend aus geometrischen Formen, Quadraten und Rechtecken. Aus diesem patchworkartigen Gebilde eines Stadtkörpers erhebt sich der überdimensionierte weibliche Körper, der die Künstlerin in Figur und Pose einer Medienfigur zeigt. Die Figur zeigt Lassnig aber auch als Malerin einer abstrakten Figuration. Das angedeutete Gehen durch die Stadt wird zu einem eigenwilligen Durchschreiten der Abstraktion. Subjekt und Stadtraum begegnen sich hier über die Verschaltung von gleichsam eingeschränkten Bewegungen in einem Bildraum, der zwischen Figuration und Abstraktion zu oszillieren beginnt. In den Tagebuchaufzeichnungen der Künstlerin finden wir dieses Oszillieren wieder, das sich wie eine eigene visuelle Kartografie liest: July 4th, 1979. I am living in a skryscraper for the first time […]. The view is fairytalelike. I look over the right at the Empire State Building […] with its orange, blue and white light. On the left the two lights of the tallest Building in the world, the World Trade Center. These New York silhouettes form the foreground for a glowing red ball of a sun being immersed in the blue-green evening sky […].11 Es scheint geradezu so, als öffne die Künstlerin den Bildraum für die Stadt und »entwickel[e] diesen zu einem weitgestreckten Sinnfeld […], indem sie ganz unterschiedliche Überlegungen und Gedankenspiele zusammenbringt.«12 Die subjektive Stadterfahrung wird in eine gesteigerte Wahrnehmungserfahrung transformiert, was im Beispiel von Maria Lassnig zugleich eine malerische Konzeptionalisierung bewirkt, wobei das Körperliche in den Werkprozess mit einzufließen beginnt. New York wird in seiner charakteristischen architektonischen Struktur geradezu atmosphärisch transzendiert und als Lichtfarben und Silhouetten beschreibbar. Wie eng in diesem Beispiel Körper und Stadt, der vitale Rhythmus der Stadt mit den geradezu kürzelhaften Selbstdarstellungen verschaltet werden, darauf machen insbesondere die Notizen der Künstlerin aufmerksam.13

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Lassnig, Maria: »Summer in New York, 1979«, in: Janine Latham (Hg.), Maria Lassnig. Woman Power: Maria Lassnig in New York 1968-1980, New York: Petzel 2016, S. 60-61, hier S. 60. Pakesch, Peter: Maria Lassnig. Körperlichkeit und Abstraktion, in: Joseph Imorde/Eva Schmidt/Christian Spies (Hg.), Sammlung Lambrecht-Schadeberg. Rubenspreisträger der Stadt Siegen. Museum für Gegenwartskunst Siegen. München: Hirmer 2015, S. 279-283, hier S. 280. Vgl. Autsch, Sabiene/Öhlschläger, Claudia/Süwolto, Leonie (Hg.): Kulturen des Kleinen. Mikroformate in Literatur, Kunst und Medien, Paderborn: Fink Verlag 2014.

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Gehen in der Stadt Atmosphären, Situationen, Spuren und Spüren Maria Lassnig liefert mit den Body Awareness Paintings zugleich ein Modell für die subjektive Erfahrung der Stadtwirklichkeit. War es zu Beginn das Liegen mit geschlossenen Augen inmitten des Kartenmaterials, so ist es in Woman Power das aufrechte Gehen, worüber Kopf und Beine verschaltet sind, wodurch jene Höherstellung symbolisiert wird, die den Menschen als reflektiertes und selbstbestimmtes Wesen auszeichnet. Das Material der Stadt liegt nicht mehr fragmentarisch auf der Künstlerin, sondern die Künstlerin nutzt fortan systematisch das Material, das ihr New York liefert und bestimmt auf diese Weise selbst, wie sie sich in dieser verortet. New York erscheint in Woman Power als Ausschnitt eines Stadtteils, der in seiner »atmosphärischen Präsenz« überschau- und begehbar und somit von der Künstlerin in dieser Form zu bewältigen ist. Da die atmosphärische Präsenz in der Wahrnehmung aber nie an allen Orten der Stadt zugleich und in gleicher Intensität lebendig ist, bleibt die Atmosphäre der ganzen Stadt diffuser als die räumlich begrenzter Orte. […] Konkret lokalisierbar ist eine Atmosphäre insbesondere an einem überschaubaren Ort. Der spürbare Ausdruck ihrer Wirklichkeit erwächst aus einer situativen Synthese all dessen, was in einer Gegend zur Erscheinung kommt. Wirksam werden dann die Dinge an ihren Orten, die Temperatur der Luft, das Wehen des Windes, das natürliche oder künstliche Licht […].14 Im Gehen entwickelt sich somit eine Wechselbeziehung zwischen der Künstlerin als Fußgängerin und dem durchquerten Raum, was in der dargestellten fragmentierten Körperform und modulartigen Stadtstruktur als eine noch vorläufige, unabgeschlossene und bruchstückhafte Wechselbeziehung interpretiert werden kann. Möglicherweise handelt es sich dabei auch um eine sogenannte »Herumwirklichkeit«, die Jürgen Hasse im Zusammenhang mit der Dynamisierung von (aktiven und passiven) Bewegungsrhythmen im städtischen Raum anführt, die im Beispiel von Woman Power auch mitzuschwingen scheinen, ohne dass sie sich motivisch konkretisieren, oder in einem semiotischen Sinne »lesbar« wären.15 So treffen wir im Gehen nicht nur auf Dinge oder Spuren, sondern es sind immer auch die Spuren, die wir im Gehen hinterlassen bzw. es sind die Spuren anderer, die wir übergehen, die sich in den Raum eingeschrieben haben. Das Gehen wird so zu einem permanenten Überschreiten und Überschreiben von Spuren; es erzeugt darüber

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Hasse, Jürgen: »Atmosphären der Stadt – Stadt als Gefühlsraum«, in: Kunstforum International 218 (2012), S. 132-147, hier S. 133. Ebd., S. 135.

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unregelmäßige Gebrauchsmuster und beeinflusst rückwirkend wieder unser Gehverhalten. Die Stadt ist nicht nur ein Raum voller Spuren, die den Gehenden vom Weg und Verfolgen einer Spur abbringen können, sondern die Spuren erhalten durch ihre Überlagerungen und Überschneidungen im urbanen Raum erst ihre Plastizität, die durch den Gang durch die Stadt wie Fundstücke aufgelesen werden können.16 Die Gesamtheit dieser Bewegungen, die Dinge, Zeichen und Spuren sind es, die dem Raum seine Textur verleihen, der sich auf diese Weise in ein Geflecht von beweglichen Elementen [transformiert; SA]. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen […].17 Die Stadt als Bewegungsraum verlagert die Perspektive auf Erlebnisqualitäten, auf die Relevanz von Atmosphären eines Ortes, auf Wirklichkeiten jenseits der Dinge, auf bewegende Momente, Situationen, Eindrücke. Im Gehen erschließt sich der Bewegungsraum, der Raum des städtischen Herum in anderen Perspektiven und Achtsamkeiten als fahrend in einem Automobil und wieder anders (scheinbar »still«-)stehend. Im subjektiven Erleben verwischt die Grenze zwischen der Bewegung des Körpers im physischen Raum und dem leiblichen Gefühl vitalen Sich-selbst-Bewegens.18 Der Bewegungsraum bestimmt daher nicht nur die subjektive Einstellung zu diesem Raum. Wie am Beispiel von Maria Lassnig gezeigt werden konnte, ist es vor allem ein Einlassen auf die Bewegungen der Megacity, die sinnliche Orientierung am Rhythmus des urbanen Raums, was materielle und immaterielle Phänomene gleichermaßen umfasst. Das Gehen als ein Sich-Selbst-Bewegen ermöglicht habituelle Anpassung und Teilhabe am Prozess der Bewegung, worüber der Gehende sich in Raum und Zeit verortet. Kulturelle und anthropologische Überlegungen zum Bewegungsraum finden sich in Ansätzen der Psychogeografie und der Spaziergangsforschung formuliert. In diesem Zusammenhang erwähnenswert sind Ivan Chtcheglov und Guy Debord, die im Kontext der Situationistischen Internationale (19571972) kritische Äußerungen zum Stadtraum mit einem neuen urbanen Verständnis

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Vgl. dazu ausführlicher die einleitenden Überlegungen von Szepanski, Birgit: Erzählte Stadt – Der urbane Raum bei Janet Cardiff und Jeff Wall, Bielefeld: transcript 2017, bes. S. 43-45 und den darin enthaltenden bibliografischen Verweis auf Schaub, Mirjam: »Die Kunst des Spurenlegens und -verfolgens. Sophie Calles, Francis AlŸs᾽ und Janet Cardiffs Beitrag zu einem philosophischen Spurenbegriff«, in: Sybille Krämer et al. (Hg.), Spur. Spurenlesen als Orientierungstechnik und Wissenskunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 121-144. de Certeau, Michel: Kunst des Handelns. Aus dem Französischen von Ronald Vouillié, Berlin: Merve 1988, S. 218. J. Hasse: »Atmosphären der Stadt«, S. 143.

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verbunden haben.19 Die Kritik Chtcheglovs bezog sich, vereinfacht gesprochen, auf die fehlende Poesie der Stadt, was seiner Meinung nach zu einem Erstarren ihrer Strukturen geführt habe. Er plädierte für eine variable Stadt und einen experimentellen Stadtraum, die alle Sinne der Bewohner aktivieren, das psychische Erleben und Verhalten positiv prägen. Insbesondere ging es Chtcheglov um eine Architektur, die »poetische Situationen« hervorbringe, um so der gegenwärtigen Langeweile zu begegnen. Durch die Stadt zu gehen, sah er daher als Akt einer Selbsterkundung, denn »in jedem Ort haben sich Schichten unserer affektiven Erinnerung abgelagert.«20 Die Stadt, die für ihn mehr Museum und Archiv war, beherberge Mythen, Geheimnisse, Erzählungen, Träume, die unsere Identität ausmachen und die es gilt, insbesondere beim Gehen, immer wieder (neu) zu entdecken. »Nur wer sich enorm müde läuft, kann noch geheimnisvolle Namen auf den Strassenschildern entdecken – den letzten Stand des Humors und der Poesie.«21 Demgegenüber sah Guy Debord die Stadt als ein Gewebe. In seiner 1956 entworfenen Theorie des Umherschweifens spricht er von Mikrozonen und unterschiedlichen Elementareinheiten, die durch den städtischen Charakter des »Umherschweifens« in ihrer Kleinheit und Kürze erfahren und erforscht werden können. Das Umherschweifen, Herumtreiben oder Sich-treiben-lassen sieht Debord als eine experimentelle Verhaltensweise des »beschleunigten Durchgangs« durch verschiedene Umgebungen, die zugleich emotionale Bindungen zu einem Ort schafft.22 Ohne beide Ansätze vertiefen zu wollen, kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass das Gehen erstens eine Bewegungsleistung darstellt, die zur Produktion des urbanen Raums beitragen soll, zweitens, diesen dadurch zugleich verlebendigt und drittens vom Gehenden zugleich angeeignet werden kann. Der französische Soziologe und Kulturphilosoph Michel de Certeau (1925-1986) lieferte mit seiner Theorie des Alltagslebens und des Verbraucherverhaltens einen weiteren Ansatz, wodurch

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Unter dem Pseudonym Gilles Ivain veröffentlichte Chtcheglov 1958 seine Formel für einen neuen Urbanismus, worin der Begriff der Psychogeografie zum ersten Mal auftaucht. »Allen Städten haftet etwas Geologisches an […]. Wir bewegen uns in einer geschlossenen Landschaft, deren Markierungen uns ständig zur Vergangenheit hinziehen. Zwar erlauben uns gewisse bewegliche Winkel und flüchtige Perspektiven in originelle Auffassungen des Raums durchzublicken, aber dieser Blick bleibt bruchstückhaft.« Zitat s. Lacroix, Alexander: »Psychogeografie. Die Kunst des Umherschweifens«, in: philosophie Magazin Wandern, Sonderausgabe vom 10. Juni 2018, S. 52-53. S. auch die umfassende Textsammlung der Situationisten: Mc Donough, Tom (Hg.): The Situationist and the City, London: Verso 2009; Sadler, Simon: »The Situationist City Owen Hatherley: The Situationists and the City. Critic Guides«, in: Frieze 2010, https://frieze.com/article/situationists-and-city Zit. n. A. Lacroix: »Psychogeografie«, S. 52 Ivain, Gilles: »Formular für einen neuen Urbanismus«, in: Zeitschrift der Situationistischen Internationale, online verfügbar unter www.si-revue.de Zitate s. www.si-revue.de/theorie-des-umherschweifens

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die Bewegung im urbanen Raum spezifiziert werden kann.23 Seine Überlegungen, die er am Beispiel von Manhattan exemplifizierte, erhalten in diesem Zusammenhang ihre Relevanz durch eine differenzierte Perspektive auf den Stadtraum und ein dadurch bedingtes Verhalten in ihm. Ganz im methodischen Sinne der Diskursanalyse differenziert de Certeau den Stadtraum in einen optischen und in einen handlungsweisenden Umgang und koppelt beide Praktiken außerdem an zwei Denkfiguren: einerseits an den Fußgänger, andererseits an den Voyeur. Der Autor liefert mit der Beschreibung von Manhattan zugleich auch eine Anleitung zum Benutzen der Stadt: Von der 110. Etage des World Trade Centers sehe man auf Manhattan. […] Auf die Spitze des World Trade Centers emporgehoben zu sein, bedeutet dem mächtigen Zugriff der Stadt entrissen zu sein. Der Körper ist nicht mehr von den Straßen umschlungen, die ihn […] drehen und wenden; er ist nicht mehr Spieler oder Spielball von dem Wirrwarr der vielen Gegensätze und von der Nervosität des New Yorker Verkehrs erfasst. Wer dort hinaufsteigt, verlässt die Masse […]. Seine erhöhte Stellung macht ihn zu einem Voyeur. Sie verschafft ihm Distanz. Sie verwandelt die Welt […] in einen Text, den man vor sich unter den Augen hat.24 Ausschlaggebend ist die jeweilige Positionierung des Stadtnutzers: zum einen als Voyeur, der aus der Distanz von oben auf die Stadt herunter blickt, zum anderen als Fußgänger, als den »gewöhnlichen Benutzer der Stadt«, der sich unten (down) inmitten der Stadt befindet, […] wo die Sichtbarkeit aufhört. Die Elementarform dieser Erfahrung bilden die Fußgänger, […] deren Körper dem mehr oder weniger deutlichen Bild eines städtischen ›Textes‹ folgen, den sie schreiben, ohne ihn lesen zu können. […] Die Wege, auf denen man sich in dieser Verflechtung trifft – die unbewussten Dichtungen […] entziehen sich der Lesbarkeit. Alles geht so vor sich, als ob eine Blindheit die organisierenden Praktiken der bewohnten Stadt charakterisiere. Die Netze dieser voranschreitenden und sich überkreuzenden ›Schriften‹ bilden ohne Autor und Zuschauer eine vielfältige Geschichte, die sich in Bruchstücken von Bewegungsbahnen und in räumlichen Veränderungen formiert: im Verhältnis zu dem, wie es sich darstellt, bleibt diese Geschichte alltäglich, unbestimmt und anders.25 Aus beiden Perspektiven, des Fußgängers und des Voyeurs, wird Stadt somit nicht nur unterschiedlich erfahren und erfasst, sondern durch klassifizierende Verfah-

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S. ausführlicher Bernardy, Jörg/Klimpe, Hanna: »Michel de Certeau. Kunst des Handelns«, in: Frank Eckardt (Hg.), Schlüsselwerke der Stadtforschung, Wiesbaden: Springer SV 2016, S. 173-186. Vgl. M. de Certeau: Kunst des Handelns, S. 218. Ebd., S. 181-182.

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ren auch unterschiedlich organisiert. Die Panorama-Stadt, so de Certeau, transformiert sich in ein gewaltiges Textgewebe. »Die Spiele der Schritte sind Gestaltungen von Räumen. Sie weben die Grundstruktur von Orten.«26 Die Fußgänger als die gewöhnlichen Benutzer der Stadt leben »jenseits der Schwellen, wo die Sichtbarkeit aufhört.«27 Ihre Körper und Bewegungen folgen dem Schriftbild des »städtischen Textes« wie einer »blinden Beweglichkeit«.28 Körper und Bewegungen des gleichsam aktiven Fußgängers repräsentieren, vereinfacht gesprochen, ein unbewusstes, repetitives Navigationssystem mit »stabilen Taktiken«, das nicht nur handlungsleitend, sondern vor allem identitätsbildend ist.29 Das Gehen selbst kann dabei als Raum einer Äußerung verstanden werden, die sich, um noch einmal de Certeau zu zitieren, »von Schritt zu Schritt [verändert, S.A.]; ihr Umfang, ihre Aufeinanderfolge und ihre Intensität verändern sich je nach den Momenten, den Wegen und den Gehenden. Diese Äußerungen sind von unbestimmter Vielfalt. Man könnte sie also nicht auf eine graphische Linienführung reduzieren.«30

Durch Manhattan? Mit diesen Überlegungen kann auf ein Projekt von Niklas Maak (*1972) und Leanne Shapton (*1973) übergeleitet werden. Das Künstlerpaar ist, entgegen der Überlegung von de Certeau, entlang einer willkürlich in den Stadtplan gezogenen Linie durch Manhattan gegangen und hat sich auf diese Weise als Fußgänger in die Dinglichkeit und Materialität des urbanen Raums eingeschrieben. Das Projekt des Paares ist dabei geleitet von der Frage: Wie erzählt man von einer Stadt – und was erzählt die Stadt, wenn man sie nicht nur nach Punkten absucht, an denen sich etwas Bedeutendes oder Bekanntes befinden soll; was findet man, wenn man nicht einfach Orte aufsucht, von denen man gehört hat, und so einem vorgezeichneten Weg folgt – sondern wenn man einfach losgeht, vom südlichsten Punkt der Insel bis zu ihrem nördlichen Ende, wenn man eine Linie zieht vom Staten Island Ferry Terminal nach oben und dann hinaufwandert entlang dieser Linie bis zur 22th Street […], die »die Bewegung der Besiedlung Manhattans nachzeichnet?«31 (s. Abb. 4) Die Linie, die so leitend für einen (anderen) Weg und sinnstiftend für (neue) Erfahrungen wird, steht zugleich als Impuls für eine Narration, die sich aus den 26 27 28 29 30 31

Ebd., S. 188. Ebd., S. 181. Ebd., S. 182. Ebd., S. 186 und S. 189. Ebd., S. 192. Maak, Niklas/Shapton, Leanne: Durch Manhattan, München: Hanser 2017, S. 6.

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»Tausenden von Geschichten und Dingen entlang der Linie zusammenfügt.«32 Die in den Stadtplan Manhattans gezeichnete Linie ist somit mehr als ein Impuls; sie ist Thema und Motiv, zugleich integraler Bestandteil einer fragmentierten Narration und konstellierenden Bildkomposition, die aus der Bewegung des Gehens resultiert. Der von Shapton/Maak herausgegebene, aus visuellen und textuellen Versatzstücken zusammengetragene Band muss deshalb mit in die Betrachtung integriert werden. Er bildet den Prozess des Stadtspaziergangs im Sinne einer ästhetischen Tiefenbohrung in die materiellen Schichtungen des urbanen Raums Manhattans in einer spezifischen Anordnung ab. In Kombination von Texten und Bildern, die Praktiken des assoziativen Schreibens ebenso wie gestisch schnell ausgeführte, überwiegend ungegenständliche Tusche- bzw. Aquarellzeichnungen erkennen lassen, werden die subjektiven Erfahrungen des Künstlerpaares in einer globalisierten und durchrationalisierten Stadt wie New York darstellbar. In der vorgelegten, 211 Seiten umfassenden Buchform entfaltet das kooperative Projekt eine eigene ästhetische Qualität an den intermedialen Schnittstellen von Kunst und Literatur. Gestaltung und Anordnung von Text und Bild sind collagehaft, raumgreifend und pendeln zwischen Abstraktion und Figuration. Die Seiten sind unterschiedlich gestaltet. Auffällig sind Doppelseiten, wobei der Text in einigen Beispielen ganz an den Rand rückt und den Zeichnungen gleichsam den Raum überlässt. Daneben gibt es Seiten, die vollständig aus Text oder nur aus einer Zeichnung bestehen. Dem Notieren von knappen Szenen und Momenten entspricht ein gestischer Pinselduktus, der die Schnelligkeit des Auftragens der Farbe nachvollziehbar und an einigen Stellen im Farbauftrag und Wasserverlauf auch sichtbar macht. In den Zeichnungen von Shapton wird kein illusionistischer oder dreidimensionaler Raum realisiert, der den Stadtraum Manhattans mimetisch abbildet. Vielmehr ist es der Akt des Zeichnens und des Schreibens, der den Raum öffnet und gleichsam formelhaft die Prozesshaftigkeit des zeitlich und räumlich begrenzten Projektes nachvollziehbar macht. Das Moment des Transitorischen wird durch die Art der Anordnung zusätzlich unterstützt. Der Band folgt inhaltlich der Linie von Süden nach Norden und gliedert die einzelnen Kapitel nach der Topografie in Streets, Avenues, Ecken, Heights, Hills und Parks. Eine Ausnahme bilden Einstieg (Ferry Terminal I und II) und Ende (Der Abend über der Stadt), wobei das letzte Kapitel die wahrgenommenen Eindrücke noch einmal stark atmosphärisch auflädt und transzendiert: Sonne, Mond, Lichter und Lichtschauer, Dunst, Dunkelheit und Helligkeit bilden die Metaphern für die Konstituierung des Bewegungs- oder besser eines urbanen »Augenblicksraums« (Jürgen Hesse). Die Hinweise auf die Subway 1, das Edge Hotel, den Freedom Tower, die St.-Sava-Church etc. und die Nennung von Institutionen und Personen (Secret Service, Gary Greengrass, Donald Trump, Cat Power u.a.) verleihen 32

Ebd., S. 8.

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dem Erzählten seine topografische Authentizität. Die eigentlichen Akteure aber sind die Stimmungen, das Vorübergehende, Kurzlebige, Aufblitzende. Einige der Erzählungen folgen diesem Muster und lassen Bezüge zu Maria Lassnigs und de Certeaus Beschreibungen von Manhattan erkennen, wenn es heißt: »Vom Hotelzimmer aus sah man, wie der Dunst dunkler wurde und das Funkeln der Stadt stärker, und man sah die schmale Stange von 432 Park Avenue.«33 Der Hinweis auf bauliche Formen, auf Architektur, Kunst oder Design findet sich in fast allen Erzählungen wieder. Im letzten Kapitel ist es der Hinweis auf abstrakte Kunst, die als Bild über dem Bett des Hotelzimmers hängt, »ein Muster aus bunten Dreiecken«,34 wodurch der Augenblicksraum in seinem transformatorischen Charakter zusätzlich aus dem gerade noch gegenständlich fassbaren Hier und Jetzt des Autors grundiert wird. Knappe Angaben, etwa, dass der Fahrstuhl defekt ist und nur ein Buchstabe L (= Lobby) aufblinkt, leiten vielfach die zeitlichen und räumlichen Übergänge ein. Die Zeichnung nimmt die Knappheit und Kürzelhaftigkeit des Textes auf, wenngleich die Bilder nicht als Antwort oder als Analogie auf den Text verstanden werden können. In diesem letzten Beispiel aus dem Band formiert sich ein aus vier einzelnen Linien zusammengesetztes L zu einem Buchstaben, der sich auf das blinkende L des Fahrstuhls bezieht, von dem im Text die Rede ist (s. Abb. 5). Der Buchstabe nimmt die ganze rechte Seitenhälfte ein. Seine mittige Platzierung weist ihm zugleich eine besondere Aufmerksamkeit und Bedeutung zu. Zu vermuten ist daher auch, dass der Buchstabe L auch als Abkürzung bzw. als Signet von Leanne (Shapton) verstanden werden könnte, die damit ihre Bilderreihe autorisiert und zugleich ihren Weg entlang der Linie durch Manhattan als rätselhafte Chiffre beendet (L= Last (engl.)). Die Abkürzung L. findet sich darüber hinaus in einigen Erzählungen wieder, in denen der Autor Niklas Maak über seine Kollegin/Partnerin und ihre spezifische Zeichenpraxis spricht. In einem Beispiel, das betitelt ist mit 188th Street, geht es gar nicht um eine Straße in Manhattan, sondern um eine Autofahrt des Künstlerpaares von Berlin nach München.35 Auf dieser Fahrt zeichnet Shapton ununterbrochen und hat sich ein Atelier im Wagen eingerichtet, der aufgrund des überhöhten Tempos geblitzt wird, sodass das »mobile Studio« somit fotografisch dokumentiert ist. Deutlich wird am Beispiel dieser Erzählung vor allem aber die Übersetzung der Realität in Momente, in geometrische Formen und abstrakte Empfindungen und Stimmungen. Der Hinweis auf das Fenster, aus dem Shapton während der Fahrt schaut, kann zudem als symbolischer Raum des Übergangs, als ein gläserner und somit transparenter Übergang von Innen- und Außenwelt ver-

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Ebd., S. 208. Ebd. Ebd., S. 173-175.

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standen werden, in dem stets beide Welten durchscheinen, sich überlagern und in dieser Überlagerung präsent sind. Einige von L. Bildern wurden ganz zu abstrakten Mustern, Hieroglyphen, die nur noch eine Farbstimmung, ein untergründiges Formgedächtnis aufbewahrten, und trotzdem ergaben die an der A9 aufgesammelten Formen und Stimmungen, alle zusammengesehen, so etwas wie ein Stimmungsbild des ganzen Landes in rätselhaften Chiffren. Sie hat eine umwerfende Fähigkeit, nicht die Form, sondern das Wesen einer Sache, und nicht den Ort, sondern die Stimmung eines Moments zu malen; die Formen von Bäumen, Straßen, Zeichen und Landstrichen stolpern durch diese Bilder oft nur wie Dinge, die überrascht wurden, wie man ihrem Kern auf die Spur kommt.36 Als Literat und als Künstlerin treffen sich Maak und Shapton und gehen gemeinsam als »Fußgänger« entlang der Linie durch Manhattan. Die Linie schreibt somit den Weg vor, der zu gehen ist und entfaltet darüber einen geradezu autoritären Charakter. Entlang dieser Linie spüren sie Menschen und Dinge auf, die sich im Kleinen, Flüchtigen und Abseitigen jenseits der Touristenpfade in Lebensgeschichten, Körperhaltungen, szenischen Momenten usw. in die Stadt eingeschrieben haben und vom Künstlerpaar nunmehr auf-gesammelt werden. Shapton/Maak gehen gemeinsam »durch Manhattan«, durchqueren die Stadt, die sie kennen, jetzt als Fremde, als »Transients«.37 Sie erforschen Manhattan mittels Visual History und produzieren auf diese Weise nicht nur andere Geschichten, sondern einen insgesamt »anderen Raum«. Der Band repräsentiert einen solchen anderen, hybriden Raum, der sich in der Qualität atmosphärischer Anmutungen vermittelt. Durch Manhattan oszilliert zwischen Dokumentation, Tagebuch und ästhetischer Forschung und repräsentiert im Format des Buches zugleich einen mit Dispositiven, Verteilungen und Zustandsformen gefüllten Raum, der eine mäandernde Lesart und ein konstellierendes Bilddenken einfordert. Shapton/Maak erzählen auf diese Weise von ihrer Wirklichkeit von Manhattan: Von einer Stadt der »Spuren«, der »gleitenden Identitäten« und »unscharfen Grenzen« – eben als eine in alle Lebensbereiche fließende Welt, die den Menschen vollständig umgibt und ihm in dieser Form immer auch existenzielle Fragen stellt.38

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Ebd., S. 173. Vgl. Löbbermann, Dorothea: »Weg(be)schreibungen, Ortserkundungen. Transients in der amerikanischen Stadt«, in: Robert Stockhammer (Hg.), TopoGraphien der Moderne. Medien zur Repräsentation und Konstruktion von Räumen, München: Fink 2005, S. 263-285. Vgl. B. Szepanski: Erzählte Stadt, S. 19.

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Leine, Linie, Lines Abschließende Überlegungen Immer mehr Menschen wollen heute in Städten leben. Globalisierung, Migration, Urbanisierung und Digitalisierung pluralisieren Lebenswelten und Lebensstile und erweitern die Formen des Öffentlichen sowie den öffentlichen Raum. »In Städten und megaurbanen Zonen verdichten sich die Menschen-, Ressourcen-, Warenund Kapitalströme. […] Die Menschheit durchläuft heute eine Veränderung globalen Maßstabs: Sie wird zu einer urbanen Spezies.«39 Im Zuge der »urbanen Wende« (urban transition) erscheinen Städte zunehmend durch gegenläufige Tendenzen, z.B. von Verdichtung und Leere gekennzeichnet, was nicht nur Auswirkungen auf die Stadtplanung, sondern insbesondere auch auf das Stadtleben und die Erfahrung von Stadt hat.40 Städte der Gegenwart artikulieren sich zunehmend als »Bewegungsräume«, als lebende Ensembles, die das Momenthafte und den Augenblick betonen, auf flüchtige Erlebnis- und Vitalqualitäten und plurale Intensitäten setzen, wie Jürgen Hasse es formuliert.41 Benötigen wir spezifische affektive Dispositionen, um Städte gegenwärtig zu erfahren? Sind eine hinreichend differenzierte Sensibilität, kreative, gestaltende Kompetenzen möglicherweise sogar Bedingungen, um Stadt in ihrer fluiden atmosphärischen Qualität wahrzunehmen und sich (s)einen eigenen Raum darin gleichsam zu erarbeiten?42 Am Beispiel der Megacity New York konnte das Gehen als eine gesteigerte städtische Existenzform identifiziert werden, das in den ausgewählten Beispielen aber weder intentions- noch ziellos erfolgte. Simon Strauß beschreibt in seinem Reisebericht das sommerlich überhitzte New York als eine »Stadt ohne Anfang und Ende: Grenzenlose Projektionsfläche« und verweist zugleich auf die »langen Wege«, die durch das schachbrettartige

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P. Bianchi: »Der urbane Blick«, S. 45. Vgl. stellvertretend Rem Koolhaas, der mit seinen Publikationen Delirious New York (1978), vor allem aber mit S M L XL (1995) den Architekturdiskurs seit den 1970er Jahren massiv geprägt, gleichzeitig immer wieder auf fehlende Theorien und einen Utopieverlust in der Stadtplanung hingewiesen hat. S. auch Kolhaas, Rem: »(K)Ein urbanes Manifest«, in: Kunstforum International 218 (2012), S. 84-91. Vgl. J. Hasse: »Atmosphären der Stadt«, S. 132-147. »Atmosphären spiegeln die Wirklichkeit einer Stadt auf der Ebene ihres Erlebens wider. Damit öffnet sich zwar ein Spiegel der Subjektivität, deshalb aber nicht a priori auch ein Feld der Beliebigkeit, konstituiert sich Subjektivität doch auf zwei dialektisch ineinander verwobenen Ebenen: zum einen entsteht sie auf dem biografischen Hintergrund persönlicher Erfahrungen und Prägungen, hat also einen im engeren Sinne individuellen Rahmen. Zum anderen steht dieser aber nie außerhalb der Gesellschaft, ist vielmehr durch sie bedingt. […] Wie die Rede über Städte nur im Rahmen einer Referenzkultur konsistent sein kann, muss sich auch die Thematisierung von Atmosphären der Stadt in diesem Rahmen bewegen.« Ebd., S. 145.

»Durch Manhattan«

Straßenmuster der Stadt führen.43 Viele Wege durch die Megacity sind aufgrund ihres Repräsentationscharakters vorgegeben wie Broadway oder Fifth Avenue, andere Wege werden reaktiviert, wie die ehemalige Bahntrasse High Line,44 wieder andere Wege sind völlig unbekannt und werden in Blogs als Online-Stadtführer zum Nachgehen angeboten.45 Es besteht kein Zweifel, dass das Gehen in Städten, insbesondere das Format des (geführten) Stadtspaziergangs auch eine lukrative Touristenattraktion darstellt. »Andere« Wege zu gehen, wie es in Anzeigen und Werbungen für Städte vielfach offeriert wird, bedeutet neben aller Eventisierung immer auch ein Einlassen auf Unbekanntes und Unentdecktes, Erfahrungen machen in der Fremde und mit dem Fremden und auf diese Weise immer auch einen (neuen) Weg zu sich selbst zu finden; den Weg durch die Stadt als Teil des eigenen Lebensweges zu erfahren. In den ausgewählten Beispielen ist das Gehen zwar das Thema, gleichwohl ist es als Bewegungsmotiv weder in den Fotografien der New York City Dogs, noch in den Malereien von Maria Lassnig, oder in den Zeichnungen von Leanne Shapton bzw. in den Texten von Niklas Maak evident. In dem hier eröffneten kultur- und kunsthistorischen Kontext konnten das Gehen und der Stadtspaziergang durch New York einerseits als ästhetisches Beteiligungsformat, andererseits als urbanes Erzählformat identifiziert werden. Das Material des urbanen Bewegungsraums sind Modelle und Kulissen (Rachael Hale McKenna), Atmosphären (Lassnig), Spuren, Parastrukturen und Mikrozonen (Shapton/Maak); die Wirklichkeit des Bewegungsraums spiegelt sich auf der Ebene ihres subjektiven Erlebens wider. In den ästhetischen Entwürfen von Lassnig und dem Künstlerpaar Shapton/Maak wurde New York durch die aufmerksame Beobachtung und ein forschendes Sehen im Gehen in seiner rhythmisierenden Qualität bestätigt und so das Bild von New York als ein sich bewegender, »gleichförmiger Lavastrom« (H. Paetzold) fortgeschrieben. Das Gehen in der spezifischen urbanen Struktur von New York bleibt somit Herausforderung und Abenteuer und ist 43 44

45

Strauß, Simon: »Vorstellung eines Lebens«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 12. August 2018, S. 57-58. Sternfeld, Joel: Walking the High Line. Steidl/Pace/MacGill Gallery 2002; David, Joshua/Hammond, Robert (Hg.): High Line, the inside-story of New York City’s park in the sky. New York: Farrar, Straus and Giroux 2011; High Line Walkway in New York City, dazu ausführlicher s. unter www.nynjtc.org/park/high-line Ein Beispiel ist der New Yorker Matt Green, der seit 2011 die gesamte Millionen-Metropole zu Fuß abläuft und jeden Tag in seinem Blog I’m Just Walkin᾽ tagebuchartig veröffentlicht. Greens »innerstädtische Weltreise« will einen Beitrag dazu leisten, langsamer zu reisen und aufmerksamer auf sich und seine Umwelt zu schauen: »I᾽m walking every street in New York City. This is the counterpoint to my walk across the US. Instead of seeing a million places for just a minute each, I᾽m going to spend a million minutes exploring just one place. By the time I finish walking every block of every street in all five boroughs, I᾽ll have traveled more than 8,000 miles on foot — all within a single city.« Weitere Informationen s. https://imjustwalkin. com/

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gekoppelt an ästhetische Erfahrungen, worin Walter Benjamin in Analogie zum Flanieren eine spezifische Form der Kultivierung sah und diese als Kunstfertigkeit bezeichnete. Das Gehen ist also mehr als eine von den Gehenden ausgeübte Tätigkeit oder Fähigkeit; sie basiert vielmehr auf einer grundsätzlich »dynamischen Bewusstseinseinstellung der Offenheit für das Unerwartete und das nicht schon vorab Gedeutete.«46 Das Gehen als kulturelle Praxis erschöpft sich aber weder in einer »Haltung der entspannten Aufmerksamkeit«, noch im Sehen und Lesen der kleinen Formen, der Dinge und Zeichen bzw. im Entziffern des Materials des städtischen Gewebes der Stadt. Die ausgeführten Beispiele haben auch deutlich gemacht, dass der Umgang mit dem Stadtmaterial ebenso entscheidend ist: Dazu gehört neben den genannten Tätigkeiten insbesondere auch eine zu leistende Arbeit mit dem Erlebten, d.h. mit der generierten Datenmenge der Stadtrealität umzugehen, wozu u.a. Sammeln, Aufzeichnen, Übersetzen, Entziffern, Ordnen und Anordnen gehören. Hierin begründet sich letztlich die Relevanz einer mit dem Gehen eng verbundenen ästhetischen Erfahrung im Sinne von Kant und Adorno und in Anknüpfung an die ästhetischen Debatten der letzten Jahrzehnte (Christoph Menke, Juliane Rebentisch u.a.). Vermerkt werden kann, dass ästhetische Erfahrungen in diesem Zusammenhang an den Rändern des Stadt- und Sehfeldes geschehen und das Noch-Nicht-Gesehene, das Kleine und Unscheinbare dabei immer mehr ins Zentrum rücken. Das Gehen bewirkt demzufolge ein Anders-Sehen, ein Anders-Ordnen und Anders-Wissen, das aus dem Umgang mit dem Unbestimmten und einer grundlegend produktiven Verstehensirritation resultiert. Das Gehen im unbekannten urbanen Raum stärkt die Kompetenz des Verknüpfens und das Vermögen, Zusammenhänge eigenständig zu erkennen. Zugleich kann das Gehen das Bewusstsein für die Grenzen der eigenen Bewegung im Bewegungsraum der Stadt entwickeln, für das Formate gefunden werden müssen, die sich gegen jede Form von Abschluss, Fixierung und Bestimmtheit wenden. Urbane Bewegungsräume sind dichte Räume, die Klarheit und Ungewissheit, Fremdes und Vertrautes, Linearität und Zerstreuung immer auch mitproduzieren. Dichte Räume bieten Materialien, die ihre unterschiedlichen Gravuren hinterlassen. Dichte Räume können damit das einander Begegnen von schöpferischen Produkten gewährleisten. Demzufolge ist Stadt medial, oder anders formuliert: ein Übersetzungsraum, selbst Übersetzung, weil den Transport von Gedanken immer etwas ermöglichen muss, womit die Stadt schließlich an Materielles gebunden ist.47

46 47

Paetzold, Heinz: »Phänomenologie der Kultur des Flanierens«, in: Kunstforum International 218 (2012), S. 104-115, hier S. 108. Vgl. B. Szepanski: Erzählte Stadt, S. 23.

»Durch Manhattan«

Die Megastadt New York rückt, wie gezeigt werden konnte, in ihrer Unmittelbarkeit die inneren Bilder der Stadtnutzer in einen realen Kontext, gleichzeitig werden Wirklichkeit und Identität im Prozess des Gehens erst hervorgerufen. Im Gehen werden Erinnerungen und Erfahrungen, aber auch Handlungen und Geschichten generiert, in den Ort eingefügt, zugleich zerstreuen sie dort. Das Gehen, das bei den New York City Dogs medial und motivisch stillgestellt ist und fotografische Inszenierungsstrategien zutage förderte, bei Lassnig als Reflexionsprozess in fragmentarischer Form zum Ausdruck gebracht wurde, kann bei Shapton/Maak als Recherchemittel verstanden werden, das zu einem Suchen von Schwellenorten, von Schichten und Strukturen eingesetzt wird, die ein Bild von Stadt in ihren spezifischen zeitlichen und räumlichen Überlagerungen hervorbringen. Die ästhetischen Entwürfe machen die daran beteiligten transformatorischen Praktiken und Strategien sichtbar und zeigen darüber verschiedene, miteinander verwobene Wahrnehmungs- und Übersetzungsprozesse auf. Darüber kann Stadt gegenwärtig als ästhetischer Resonanzboden, als ein Netz aus Bezügen, Beziehungen und Querverweisen verstanden werden, was den Stadtbenutzer zu einem Denken in Konstellationen herausfordert.

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Abb. 4: Maak, Niklas/Shapton, Leanne: Durch Manhattan, München: Hanser Verlag 2017, S. 5.

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Abb. 5: Maak, Niklas/Shapton, Leanne: Durch Manhattan, München: Hanser Verlag 2017, S. 209.

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Raumvertiefung Digitale Stadterkundungen Markus Greulich/Simon Oberthür/Nicole M. Wilk

Die Vermessung der Welt mittels digitaler Anwendungen hat längst begonnen. Von der Durchdringung der Gesellschaft zeugen nicht nur Twitter, Facebook und WhatsApp. Der digitale Wandel hat inzwischen alle Lebensbereiche erobert und nicht zuletzt auch unsere Wahrnehmung von Stadträumen. Für viele erscheinen heutzutage Reiseführer ebenso überflüssig wie klassische Stadtpläne und Karten – und, beobachtet man Menschen im Stadtraum, so ist der klassische Faltplan zur Orientierung eine Seltenheit geworden. Das Smartphone ermöglicht einen schnellen und zumeist auch durchaus kompetenten Zugriff auf den Raum, durch den wir uns bewegen. Mit diesem kleinen Beispiel lässt sich gut illustrieren, was der Medientheoretiker Friedrich Kittler zu Beginn der 1990er Jahre meinte, als er die These aufstellte, dass nicht der Mensch die Technik macht, sondern die Technik eigentlich erst den Menschen.1 Das war im ausgehenden Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts eine kalkulierte Provokation – heute werden ihm wohl nur noch wenige widersprechen wollen. In diesem Beitrag gehen wir der Frage nach, in welcher Weise die Multimodalität mobiler Anwendungen unsere Wahrnehmung von Raum – und hier insbesondere von Stadtraum – verändert. Wir haben dies mit ›Raumvertiefung‹ benannt und werden im Folgenden insbesondere darauf fokussieren, in welcher Art und Weise die technischen Möglichkeiten unsere Wahrnehmung von Stadtraum verändern, wie Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart, wie Multiperspektivität unsere veränderte Wahrnehmung von Raum, Zeit und Geschichte prägt. Wir möchten diese Fragen vor dem Hintergrund eines Forschungs- und Lehrprojekts vorstellen, das wir in den Jahren 2014-2016 an der Universität Paderborn realisieren konnten. Es widmete sich der Konzeption einer mobilen Anwendung zum historischen Paderborn, oder, um ganz genau zu sein: der 1

Kittler, Friedrich: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig: Reclam 1993, S. 77: »Womit schon gesagt ist, daß Menschen die Informationsmaschinen nicht erfunden haben können, sondern sehr umgekehrt ihre Subjekte sind.«

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agilen Software-Entwicklung und der Vermittlung vormoderner Artefakte. Ziel war es, durch eine gemeinsame Kooperation von Kulturwissenschaftler*innen und Informatiker*innen den Prototypen einer Historischen-Paderborn-App zu entwickeln, den wir kurz HiP-App genannt haben. Dieses Projekt erhielt 2015 den Forschungspreis der Universität Paderborn und betonte in besonderem Maße neben der Forschung auch die akademische Lehre:2 So haben wir die aus diesem Projekt hervorgegangenen Ergebnisse nicht nur auf einer Fachtagung zu den digitalen Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig vorstellen können,3 sondern auch ganz bewusst die Frage nach neuen Lehrkonzepten im Bereich der Hochschuldidaktik zweimal auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Hochschuldidaktik (DGHD), 2015 an der Universität Paderborn und 2016 an der Ruhr-Universität Bochum, zur Diskussion gestellt. Im Folgenden möchten wir auf der Basis dieses Forschungs- und Lehrprojekts der Frage nach der Wahrnehmung von Stadtraum mithilfe multimodaler Anwendungen nachgehen. Zunächst werden wir (I.) dieses Projekt etwas ausführlicher vorstellen und dabei auf grundlegende Aspekte eingehen, die mit der Konzeption und Entwicklung einer mobilen Anwendung zur Stadterkundung einhergehen. Daran anschließend werden (II.) Faktoren der agilen und partizipativen Software-Entwicklung vorgestellt werden, die letztlich grundlegend für das FrontEnd und damit die Nutzer*innen-Oberfläche mobiler Anwendungen sind. Von dort führt der Weg zumindest kurz (III.) zur Geschichte Paderborns und seines Stadtraums und schließlich (IV.) zu medienlinguistischen Aspekten – und genau zu jenen Raumvertiefungen, die durch multimodale Anwendungen ermöglicht werden.

Das historische Paderborn digital Erobert hat der digitale Wandel nicht nur unseren Alltag, sondern nicht minder auch die klassischen deutschen Geistes- und Kulturwissenschaften. Das

2 3

Vgl. Paderborner Universitätszeitschrift (PUZ) 2 (2015), S. 50-51. https://www.uni-paderborn.de/fileadmin/marketing/puz/puz-2015-2.pdf Vgl. folgende Beiträge im Abstractband der Tagung: Greulich, Markus/Karthaus, Nicola/Schmidt, Ariane: »Ins Leben gerückt. Zum Potential mobiler Anwendungen für die Vermittlung vormoderner Artefakte«, in: Elisabeth Burr (Hg.), Dhd 2016: Modellierung – Vernetzung – Visualisierung. Die Digital Humanities als fächerübergreifendes Forschungsparadigma. Universität Leipzig 7.-12. März. Konferenzabstracts, Leipzig 2016. S. 70-73. Stog, Kristina/Wilk, Nicole M.: »Digitalisierung von geschichtlichem Wissen im Raum und raumgebundener Erinnerungskultur – am Beispiel von Straßennamen«, in: Burr, Modellierung – Vernetzung – Visualisierung (2016), S. 73-75. Senft, Björn/Oberthür, Simon: »Auf dem Weg zu einer experimentellen und evidenzbasierten Softwareentwicklung in den Digital Humanities«, in: Burr, Modellierung – Vernetzung – Visualisierung (2016), S. 75-78.

Raumvertiefung

betrifft den Alltag wissenschaftlichen Arbeitens mit Datenverarbeitung, onlinePublikationen und E-books ebenso wie ein Feld, das mit dem Begriff der Digital Humanities bezeichnet wird; ein Begriff, der schillernd und komplex zugleich ist. Anne Burdick, Johanna Drucker und andere haben bereits 2012 in einem richtungsweisenden Sammelband darauf hingewiesen, dass der Bereich der Digital Humanities sich nicht in der Entwicklung und Anwendung von Tools und Datenbanken erschöpft, sondern dass dieser Schnittbereich Möglichkeiten eröffnet, die mit einer Erweiterung der Geisteswissenschaften einhergehen; neue Fragen und neue Arbeitsmethoden provozieren.4 Für uns bedeutete dies zugleich, dass konsequenter Weise nicht nur die Forschung, sondern auch die Lehre neu zu perspektivieren waren. Unser interdisziplinäres Forschungs- und Lehrprojekt war eine interfakultäre Kooperation und für mehrere Semester konzipiert. Es ging auf eine Initiative der mit dem Paderborner Mittelalterzentrum IEMAN assoziierten Promovierenden und Habilitierenden aus den Fächern Germanistische Mediävistik, Geschichte und Kunstgeschichte zurück. Hier entstand die erste Konzeption, die schließlich durch Kolleg*innen aus den Fächern Informatik und germanistische Sprachwissenschaft erweitert wurde. Von 2014-2016 entwickelten wir in enger Kooperation von Informatik und Kulturwissenschaften gemeinsam dieses Projekt. Die Entwicklung verdankte sich ganz wesentlich dem persönlichen und vor allem auch dem privaten Engagement aller am Projekt Beteiligten – das betrifft die Bereitschaft, sich auf ein interdisziplinäres Wagnis einzulassen ebenso, wie die Beteiligung an Vorträgen und Präsentationen. Der digitale Wandel betrifft nun – es wurde bereits erwähnt – nicht nur die Forschung, sondern nicht minder die universitären Aspekte von Lehre und Praxis. In unserem Projekt war daher die Informatik nicht der Dienstleister für die Kulturwissenschaften und die Kulturwissenschaften nicht Content-Lieferanten für die Informatik, sondern – basierend auf den theoretischen Implikationen von Digital Humanities – ging es uns ganz wesentlich um neue Konzepte zu interdisziplinärer Forschung und Lehre sowie einer Verzahnung der unterschiedlichen beteiligten Fächer. Nur so war (und ist) aktuellen Entwicklungen in den Digital Humanities Rechnung zu tragen. Aus genau diesem Grund war die Historische-Paderborn-App auch zugleich Forschungsgegenstand und -infrastruktur, die durch ihren grundlegend evolutiven Charakter vielfältige Forschungsfragen erzeugte. Unser Ziel war es, mithilfe einer mobilen Anwendung, den Stadtraum Paderborn in seinen historischen Dimensionen erleb- und erfahrbar zu machen. Die App sollte durch ein interaktives Front-End die Nutzer*innen anregen, sich intensiver

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Burdick, Anne/Drucker, Johanna/Lunenfeld, Peter/Presner, Todd/Schnapp, Jeffrey: Digital_Humanities, Cambridge: The MIT Press/Massachusetts Institute of Technology 2012.

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mit der Stadtgeschichte, zugleich aber auch mit allgemeinen Fragen der Kulturgeschichte auseinanderzusetzen. Ergebnis dieser intensiven Zusammenarbeit ist ein Prototyp der Historischen-Paderborn-App, der eine Erkundung des Paderborner Stadtraums ermöglicht und den Schwerpunkt auf Karl den Großen und seine Bedeutung für Paderborn setzt. Darauf werden wir noch ausführlicher zurückkommen.5 Grundsätzlich stellt sich zunächst die Frage, was eine mobile Anwendung bei der Wissensvermittlung leisten kann und soll. Geht es um den städtischen Raum oder historische Artefakte, so ist unbedingt zu beachten, dass der Fokus nicht auf dem mobilen Endgerät, sondern auf dem Objekt oder dem umgebenden Raum liegen sollte. Für mobile Anwendung besitzt daher die Situierung im Raum großes Gewicht: Zentral ist dabei das Betrachten des Objekts vor Ort. Darüber hinaus können multimodale Präsentationsformen ebenso wie Audiodateien Anleitungen zum eingehenden Betrachten zur Verfügung stellen, die den Blick lenken und schulen sollen. Was weiterhin für zeitgemäße Anwendungen zu vermeiden ist, ist ein Stadtführer 1.0. Man kann sich weder darauf beschränken, ausschließlich Kartenmaterial zur Verfügung zu stellen, noch kann man sich darauf beschränken, Artikel im Stil von online-Lexika – wie etwa Wikipedia – zu produzieren. Wir haben daher für den Protoypen der HiP-App auf ansprechende Weise detaillierte und fachlich sinnvoll aufbereitete Materialien der Kunstgeschichte, Geschichtswissenschaft und der Germanistik zur selbständigen historischen Erkundung erarbeitet. Durch ein interaktives Front-End sollte es die Nutzer*innen anregen, sich intensiver mit der Stadtgeschichte, zugleich aber auch mit allgemeinen Fragen der Kulturgeschichte auseinanderzusetzen. Von großer Wichtigkeit war daher die Aufbereitung der Materialien durch abwechslungsreiche, ansprechende Präsentationsformen. Das Smartphone bietet – wie andere mobile Endgeräte – die Option der Medienintegration. Daher kommen Text, Bild und Audio zum Einsatz. Darüber hinaus wurden 3D-Rekonstruktionen und interaktive Elemente integriert. Die interaktiven Elemente ermöglichen vertiefende Ebenen einzufügen, die den Nutzer*innen weiterführendes Material zur Verfügung stellen. Kunstwerke und andere Objekte können also innerhalb der mobilen Anwendung nicht nur schriftlich oder mündlich erläutert werden, sondern es können auch singuläre Details hervorgehoben oder verlorene Sinnzusammenhänge visualisiert werden.6 Für die multimodale Umsetzung der fachwissenschaftlichen Beiträge aus den Bereichen der Geschichte, Kunstgeschichte, Linguistik und der Literaturwissenschaft hatten wir uns auf ein grundlegendes kooperatives Modell nicht nur für die

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Vgl. Abschnitt III dieses Beitrags. Darüber hinaus werden Literatur- und Quellenverweise auf der untersten Ebene der Anwendung angeboten, die sowohl die Möglichkeit zur selbständigen Auseinandersetzung bieten als auch die wissenschaftliche Nachvollziehbarkeit gewährleisten.

Raumvertiefung

wissenschaftliche Ebene, sondern ebenso für die Lehre verpflichtet: Nachdem sich die interfakultäre Projektgruppe von Nachwuchwissenschaftler*innen im Wintersemester 2013/2014 konstituiert hatte, begannen Studierende der Informatik seit dem Wintersemester 2014/2015 das Back-End der HiP-App zu entwickeln. Parallel zur studentischen Projektgruppe der Informatik erarbeiteten Studierende der Kulturwissenschaften im Sommersemester 2015 in fachspezifischen Seminaren die historischen Inhalte und mögliche Darstellungsformate für die App. In interdisziplinären Teams entstanden Materialsammlungen, die anschließend in das BackEnd eingespeist wurden. Im Fokus des interdisziplinären Lehrprojekts standen somit neben der Aufbereitung wissenschaftlicher Inhalte v.a. Aspekte des ›forschenden Lernens‹7 und Fragen der Medienkompetenz. In einer einwöchigen, vom Mittelalterzentrum IEMAN ausgerichteten Herbstakademie wurden im September 2015 die studentischen Materialsammlungen kritisch reflektiert.8 Wir haben die Studierenden unserer Lehrveranstaltungen eingeladen, gemeinsam und fächerübergreifend die Bearbeitung der im Back-End bereits eingestellten Materialsammlungen vorzunehmen. Dabei war uns die Mischung der Teilnehmer*innen sowie die Methodenverschränkung sehr wichtig. So wie wir als Lehrende interdisziplinär arbeiten, so haben auch unsere Student*innen sich in interdisziplinären Teams zusammengefunden. Exemplarisch für die Methodenverschränkung steht der Ansatz des Design Thinking, mit der wir in der Herbstakademie gearbeitet haben.9 Dieser an der Stanford University entwickelte Ansatz gelangt seit längerem v.a. in der Wirtschaft und Industrie zum Einsatz. Mit ihm war es möglich, in interdisziplinären Teams neue, kreative und nutzerzentrierte Ideen zu generieren und ganzheitliche Lösungen für komplexe Fragestellungen zu entwickeln.10 Für die Studierenden ermöglichte die interdisziplinäre Herbstakademie einen Einblick in unterschiedliche Fachgebiete und in unterschiedliche Arbeitsweisen. Doch auch ganz konkrete Fragen konnten beantwortet werden. So wurden u.a. Reflexionsprozesse über Entstehungsweisen und Optionen mobiler Anwendungen generiert. Die Konzeption der Herbstakademie ermöglichte darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit alternativen Wegen der Wissensvermittlung, zu der wir auch das Design Thinking zählen. 7

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Vgl. die Beiträge in: Huber, Ludwig/Hellmer, Julia/Schneider, Friederike Schneider (Hg.): Forschendes Lernen im Studium. Aktuelle Konzepte und Erfahrungen, Bielefeld: UVW 2009. Erstmals wurde der Begriff diskutiert in: Bundesassistentenkonferenz (BAK): Forschendes Lernen – Wissenschaftliches Prüfen (= Schriften der BAK), Bonn: BAK 1970. Vgl. Greulich, Markus/Karthaus, Nicola: »Digital Humanities und Design Thinking«, in: Paderborner Universitätszeitschrift (PUZ) 2 (2015), S. 36-37. Vgl. u.a. Curedale, Robert: Design Thinking Process and Methods, Topanga, CA: Design Community College 2019. Vgl. hierzu Abschnitt II dieses Beitrags.

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Letzteres erbrachte nun für die Historische-Paderborn-App eine ganze Reihe von wichtigen Ergebnissen. Zunächst ermöglichte das Design Thinking eine kreative Bearbeitung der Materialsammlungen im Back-End sowie die kooperative Entwicklung innovativer Präsentationsformen. Darüber hinaus wurden die anvisierten Stadtrundgänge konkretisiert. Die im Design Thinking entwickelten Ideen und Verknüpfungen wurden von den Teilnehmer*innen ebenfalls ins Back-End eingespeist. Ein wichtiger Output der Herbstakademie war insbesondere die Konkretisierung der Karlsroute durch Paderborn. Bevor wir darauf zurückkommen, sollen mit der partizipativen und agilen Software-Entwicklung zunächst weitere Aspekte kooperativer Zusammenarbeit im Bereich der Digital Humanities erläutert werden.

Software-Entwicklung im Team Moderne Software-Entwicklung (beispielsweise agile Softwareentwicklung nach Scrum)11 stellt die Erwartungen und Anforderungen der Nutzer*innen und deren Partizipation aktuell immer mehr in den Vordergrund. Nutzerorientierte Gestaltung (User Centered Design) hilft, frühzeitig zukünftige Nutzer*innen in den Entwurfsprozess einzubinden und gemeinsam die Software zu gestalten.12 Nutzer*innen können hierbei ihr Domänenwissen einbringen, die Softwareentwickler die technischen Aspekte, beispielsweise mögliche Lösungselemente oder die Art der Umsetzung. Das ist wichtig, da alle Beteiligten an einem Softwareprojekt unterschiedliche mentale Modelle und somit unterschiedliche Sichten auf ein Softwareprojekt mitbringen. Klassische Softwareentwicklung nach dem Wasserfallmodel bezieht Nutzer*innen meistens nur in einer initialen Phase der Anforderungserhebung ein. Wichtig ist die Erkenntnis, dass Kund*innen zu Beginn zumeist Anforderungen nicht präzise definieren können, die zu einer für sie optimalen Softwarelösung führen, da ihnen die einzelnen Lösungselemente und deren Möglichkeiten meist nicht bekannt sind. Es gilt somit, gemeinsam die richtigen Fragen zu identifizieren, Nutzer von Produkten und Dienstleistungen frühzeitig zu integrieren, neue und ungewohnte Perspektiven zuzulassen und iterative, anpassbare Ergebnisse zu erzielen und gleichzeitig Projekt- und Entwicklungsrisiken zu reduzieren.13 Der agile und partizipative Softwareentwicklungsprozess 11 12

13

Gloger, Boris: Scrum: Produkte zuverlässig und schnell entwickeln, München: Carl Hanser Verlag 5 2016. Abras, Chadia/Maloney-Krichmar, Diane/Preece, Jenny: User-centered design. Bainbridge, W. Encyclopedia of Human-Computer Interaction. Thousand Oaks: Sage Publications 37.4 (2004), S. 445-456. B. Senft/S. Oberthür: »Auf dem Weg zu einer experimentellen und evidenzbasierten Softwareentwicklung in den Digital Humanities«, S. 75-78.

Raumvertiefung

nach Scrum hilft mit seinen verschiedenen iterativen Entwicklungsphasen. Bei diesen stehen Transparenz, Überprüfung und Anpassung im Vordergrund. Nach jedem kurzen Entwicklungszyklus (den so genannten Sprints) erfolgt eine Phase, in der die Ergebnisse des Sprints gemeinsam mit verschiedenen Beteiligten (beispielsweise auch den Nutzer*innen) abgeglichen werden. Hierbei werden Anforderungen, Pläne und das Vorgehen für den nächsten Zyklus angepasst. Implizite Nutzeranforderungen: Warum ist es so schwer, eine passende/optimale Lösung zu generieren? Wie bereits erwähnt, ist hier ein elementares Problem die Erhebung der Anforderungen. Das Wissen der Nutzer*innen lässt sich hierbei in verschiedene Kategorien einteilen: • • •



Stilles Wissen: Nutzer*innen haben Informationen und können diese nutzen, wissen aber nicht, wie sie diese ausdrücken können. Fehlende oder verdeckte Informationen: Manche Informationen sind den Nutzer*innen bewusst und könnten erfasst werden, wurden es aber nie. Domänenwissen: Nutzer*innen verfügen über detailliertes Wissen im Kontext der Anwendung. Oft ist dieses Wissen nur in den Köpfen der Nutzer*innen und nicht dokumentiert. Verlorene Informationen: Erkenntnisse, die im Entwicklungsprozess nicht dokumentiert werden, gehen leicht verloren.

  Design Thinking14 bildet für das eingangs skizzierte Szenario einen geeigneten Methodenbaukasten und ist als iterativer Prozess zu verstehen. Mit Design Thinking können nutzerorientierte Ergebnisse zur Lösung komplexer Probleme erstellt werden. Die Methode wurde speziell für Ingenieur*innen entwickelt, damit deren Kernkompetenzen (Rationalismus, Analytik, Intellektualität) um eine weitere, kreative Ebene erweitert werden. Empathie, Interpretation und Intuition sollen im Entwicklungsprozess verankert werden. Die Nutzer- und Kundenorientierung wird durch einen gemeinsamen Prozess gefördert, an dem möglichst viele Stakeholder beteiligt sind. Die Methode kann dabei nicht nur in den frühen Phasen einer Entwicklung eingesetzt, sondern kann als durchgehende Methode fortwährend profiliert werden. Dabei werden die folgenden Phasen durchlaufen: • • •

Phase 1: Verstehen (Sichtweisen von Beteiligten sammeln) Phase 2: Beobachten, einfühlen und vertiefen (Bedürfnisse identifizieren) Phase 3: Standpunkte und Herausforderungen definieren (Bedürfnisse dokumentieren)

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Uebernickel, Falk/Brenner, Walter/Pukall, Britta/Naef, Therese/Schindlholzer, Bernhard: Design Thinking: Das Handbuch, Frankfurt a.M.: Frankfurter Allgemeine Buch 2015.

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• • • •

Phase 4: Kreative Ideen finden (Brainstorming durchführen und Ideen einsortieren) Phase 5: Lösungen definieren und prototypisch umsetzen (z.B. PapierPrototypen oder Rollenspiele erstellen) Phase 6: Lösung testen (Präsentieren, ausprobieren, Feedback einholen) Phase 7: Reflektieren (die nächsten Schritte definieren, ggf. die in Phase 3 definierten Standpunkte neu definieren)

Die Vorteile des Einsatzes von Design Thinking konnten bei der Durchführung der prototypischen Entwicklung der HiP-App praktisch aufgezeigt werden.15 Durch den praktischen Ansatz, bei dem die schnelle Erprobung anhand von Prototypen im Vordergrund steht, wurden beispielsweise nach kürzester Zeit anhand von Papierprototypen Problemstellungen im Bereich Usability diskutiert. Bei einer klassischen Entwicklung mit aufwendiger Entwurfsphase wären diese Diskussionen erst zu einem deutlich späteren Zeitpunkt erfolgt. Da solche Entscheidungen aber oft essenziell für die Auswahl von Lösungselementen sind, wird der Entwicklungsprozess verkürzt und die Qualität der Lösung deutlich gesteigert. Die Reflexion der Lösungselemente erfolgt agil, Erkenntnisse können direkt aufgenommen und umgesetzt werden. Zusätzlich erfolgt eine gesteigerte Schärfung des Problembewusstseins bei allen Beteiligten. Die Methodik ermuntert zur Kreativität und fördert Abweichungen von klassischen Lösungen und Differenzierung. Sie bietet bzw. erzwingt sogar einen Raum für Neues und verliert die Nutzer*innen nicht aus dem Auge. Visualisierung und Interaktivität werden gefördert und explizit erwünscht: Sie bietet somit eine Brücke zwischen: real und virtuell, Grafik und Text, Prototyp und Konzept und erleichtert damit die interdisziplinäre Kommunikation abseits eingefahrener Fachtermini und -konzepte. Insbesondere dadurch, dass im Kontext der Raumvertiefung durch eine App für mobile Endgeräte neue Konzepte notwendig waren und nicht auf etablierte Lösungselemente zurückgegriffen werden konnte, spielte die Methode ihre Vorteile voll aus und wurde durch unsere Erfahrungen bekräftigt. In der klassischen Entwicklung wird nach der Erhebung der Anforderung eine längere Entwicklungsphase eingeschoben, an deren Ende eine konkrete Lösung steht. Wird dann bei der Abnahme festgestellt, dass die Lösung nicht im Sinne der Nutzer*innen ist, erfolgt dieser Erkenntnisgewinn recht spät. Durch den Einsatz von einfachen Prototypen und Rollenspielen, die im Rahmen des Design Thinking in wenigen Minuten/Stunden entstehen, kann diese Rückkopplung zwischen Entwickler*innen und Nutzer*innen viel früher – und durch die Zeitersparnis viel öfter – erfolgen. Besonders durch die direkte Beobachtung des Umgangs mit den Prototypen oder in

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M. Greulich/N. Karthaus: »Digital Humanities und Design Thinking«, S. 36-37.

Raumvertiefung

den Rollenspielen kann diese Phase auch schon recht früh sehr intensiv erfolgen. Gleichzeitig werden recht früh implizite Anforderungen aufgedeckt.

Paderborn – Geschichtsorte – Sichtbarmachung16 Ein (praktisches) Ergebnis der interfakultären Kooperation und der partizipativen und agilen Softwareentwicklung ist der Prototyp eines Stadtrundgangs zu Karl dem Großen und Paderborn. Das ist ebenso einleuchtend wie gewagt, denn einerseits ist aus der Zeit Karls des Großen nicht viel erhalten. Andererseits ist er für die Entwicklung der Stadt Paderborn keineswegs unbedeutend und sein Name ist im Stadtbild (z.B. Karls-Schule und Karlsplatz) ebenso präsent, wie es zahlreiche bildliche Darstellungen des Frankenkönigs in Paderborn gibt. Der Stadtname ›Paderborn‹ erscheint erstmals in Geschichtsquellen des Frühmittelalters und ist dabei mit dem Jahre 777 und den Sachsenkriegen verbunden. Für die lateinischen Chronisten war es eine besondere Herausforderung, die volkssprachliche Bezeichnung des Ortes (Paderborn gehört historisch zum altsächsischen Sprachgebiet) in die Chronistik einzufügen. Die Verfasser schrieben daher den Siedlungsnamen auf unterschiedliche Weise: Paderbrunnon,17 Patresbrun,18 Padresbrunnon,19 Paderbrunnen20 oder Padrabrunno.21 Das bedeutet zugleich auch,

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Die folgenden Textpassagen beruhen auf den Audio- und Textdateien des Stadtrundgangs zu Karl dem Großen, die in kooperativer Zusammenarbeit der am Projekt beteiligten Kulturwissenschaftler*innen entstanden. Besonderer Dank gilt der Historikerin Dr. Nicola Karthaus für die geschichtswissenschaftlichen Aspekte und die sondierte Quellenarbeit, Ariane Schmidt-Chandon für die kunsthistorischen Aspekte und Kristina Stog für Textkritik und stetige Unterstützung. Annales Mosellani ad a. 777: habuit Karolus conventum Francorum, id est Magiscampum, in Saxonia ad Paderbrunnon et ibi paganorum Saxonum multitudo maxima baptizata est. Zitiert nach: Annales Mosellani, ed. Johann Martin Lappenberg, in: MGH SS 16, Hannover: Hahn (ND 1994), S. 494-499, hier S. 496. Annales Sancti Amandi ad a. 777: Karlus plactitum habuit ad Patresbrun. Zitiert nach: Annales S. Amandi, ed. Georg Heinrich Pertz, in: MGH SS 1, Hannover: Hahn 1826 (ND 1976), 6-14, hier S. 12. Annales Laureshamenses ad a. 777: Habuit Carlus conventum Francorum, id est Magiscampum, in Saxonia ad Padresbrunnon, et ibi paganorum Saxonum multitudo maxima baptizata est. Zitiert nach: Annales Laureshamenses, ed. von Georg Heinrich Pertz, in: MGH SS 1, Hannover: Hahn 1826, S. 22-39, hier S. 31. Annales regni Francorum ad a. 777 : Tunc domnus Carolus rex synodum publicum habuit ad Paderbrunnen prima vice. Zitiert nach : Annales regni Francorum inde a. 741 usque ad 829, qui dicuntur Annales Laurissenses maiores et Einhardi, ed. Friedrich Kurze (= MGH SS rer. Germ. 6), Hannover: Hahn 1895 (ND 1950), S. 48. Annales regni Francorum ad a. 777: […] ad locum, qui Padrabrunno vocatur, generalem populi sui conventum in eo habiturus […].Zitiert nach: Annales regni Francorum, S. 49.

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dass noch vor dem Erscheinen Karls des Großen an dieser Stelle eine Siedlung existierte. Das Jahr 777 markiert ein wichtiges Ereignis in der fränkischen Geschichte: Zum ersten Mal hielt ein fränkischer König außerhalb seines Kernlandes eine große Reichsversammlung ab. Auf Reichsversammlungen besprach der König mit den Adligen wichtige politische und militärische Entscheidungen – auch wurden Gesetze erlassen, Gerichtsentscheidungen gefällt, Streitigkeiten geschlichtet und Urkunden ausgestellt. In Paderborn nahmen neben den Franken auch viele Sachsen teil. Sogar arabische Gesandte aus dem fernen Spanien sollen den Weg nach Paderborn gefunden haben.22 Wie war es dazu gekommen? Paderborn gehörte im 8. Jahrhundert zum Siedlungsgebiet des Volksstamms der Sachsen. Sie siedelten in einer Region, die sich von der Elbe bis zur Ems und von der Nordsee bis nach Fritzlar und Büraburg erstreckte. Gegen diesen Volksstamm führte Karl der Große ab 772 einen erbitterten Krieg, den er erst mehr als dreißig Jahre später, zum Anfang des 9. Jahrhunderts, für sich entscheiden konnte. Die Vielzahl der militärischen Aktionen und Reaktionen ist kaum zu überschauen. Der Historiker Hans-Dieter Kahl hat deshalb versucht, die Sachsenkriege in drei große – wie er es nennt – ›Eskalationsstufen‹ zu gliedern:23 In den Jahren von 772 bis 775 verfolgte Karl der Große noch keine Strategie in Sachsen. Primär ging es um die Sicherung der fränkischen Grenze bzw. die Anerkennung der fränkischen Hegemonie. Gleichwohl begann der Konflikt 772 mit einem ungeheuerlichen Affront: Karl ließ die Irminsul zerstören, ein sächsisches Heiligtum, vermutlich eine große hölzerne Säule oder ein Baumstamm (oder stumpf) in der Nähe des heutigen Obermarsberg. Die Sachsen waren noch nicht christianisiert und verehrten dort ihre Götter. Karl der Große erbeutete bei dieser militärischen Aktion zugleich Gold und Silber und konnte seine Gefolgsleute belohnen.24 Mit seiner Militärexpedition gegen das aufständische Grenzvolk zeigte er sich aber auch als starker und machtvoller Herrscher. Doch dann ließ Karl das Thema Sachsen zunächst auf sich beruhen. Aber die Sachsen rächten sich für die Zerstörung ihres Heiligtums. Sie überfielen fränkisches Gebiet, griffen dort Häuser und Kirchen an und versuchten sie

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Annales regni Francorum ad a. 777 : Etiam Hispaniae, hi sunt Ibin al Arabi et filius Deiuzefi, qui et latine Ioseph nominatur, similiter et gener eius. Zitiert nach: Annales regni Francorum, S. 48. Vgl. Kahl, Hans-Dieter: »Karl der Große und die Sachsen. Stufen und Motive einer historischen ›Eskalation‹«, in: Herbert Ludat/Christoph Schwinges (Hg.), Politik, Gesellschaft, Geschichtsschreibung. Giessener Festgabe für Frantisek Graus zum 60. Geburtstag, Köln/Wien: Böhlau 1982, S. 49-130. Annales regni Francorum ad a. 772: Et inde perrexit partibus Saxoniae prima vice, Eresburgum castrum coepit, ad Ermensul usque pervenit et ipsum fanum destruxit et aurum vel argentum, quod ibi repperit, abstulit. Zitiert nach: Annales regni Francorum, S. 32.

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niederzubrennen.25 Das konnte Karl als rex christianus, als christlicher König keinesfalls auf sich beruhen lassen. 776 griff er die Sachsen erneut mit einem groß angelegten Feldzug an.26 Was mit kleineren militärischen Strafexpeditionen als Geplänkel an der Grenze begonnen hatte, das wurde nun zu einem offenen Krieg. Zwischen den Jahren 776/77 und 785 entwickelte sich der Grenzkonflikt zu einem offenen Krieg: Nicht mehr Bestrafung der Sachsen, sondern Unterwerfung und Eingliederung war jetzt das Ziel. Karl verband diese politische Strategie mit einer religiösen: der Missionierung und Christianisierung der Sachsen. Auf einer Reichsversammlung in Quierzy beriet sich der König damals mit seinen Adligen und beschloss, »das treulose und wortbrüchige Volk der Sachsen mit Krieg zu überziehen, bis sie entweder besiegt und zum Christentum bekehrt oder ganz ausgerottet waren«.27 Sicherlich stellt der um 814/17 schreibende Autor die Ereignisse rückblickend aus einer spezifischen politischen und erinnerungskulturellen Perspektive dar – vor allem die Alternative ›Tod oder Taufe‹. Aber selbst ein kleineres karolingisches Annalenwerk berichtet, Karl sei 775 gegen die Sachsen vorgerückt und habe dort sehr viele getauft und noch mehr getötet.28 In diese Zeit fällt auch die bereits erwähnte und wohlbedachte Reichsversammlung von 777 in Paderbrunnon, mit der Karl seinen Herrschaftsanspruch für die gewonnenen, also die sächsischen Gebiete markierte. Die Zeit zwischen 785 bis 804 ist als Konsolidierungsphase anzusehen. Langsam begannen sich die Verhältnisse in den eroberten sächsischen Gebieten zu stabilisieren. Der Widerstand der Sachsen schien nun endgültig gebrochen zu sein. Letzte lokale Konflikte wurden zerschlagen. Markiert wird der Sieg etwa durch die Taufe des sächsischen Anführers Widukind, der zu den entschiedensten Gegnern Karls in der Chronistik avanciert. Im Jahr 799 trafen sich Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn – eine folgenschwere Begegnung an der Pader. Leo III. hatte aus Rom fliehen müssen. Die Geschichtsbücher berichten, Attentäter hätten ihn während einer Prozession 25 26

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Vgl. Annales regni Francorum, S. 36. Annales regni Francorum ad a. 776: Et inde fugam arripientes Saxones, persecute sunt eos Franci interficientes illos usque ad flumen Lippiam, castro salvato; et cum victoria reverse sunt Franci. Zitiert nach: Annales regni Francorum, S. 46. Annales regni Francorum ad a. 775: Cum rex in villa Carisiaco hiemaret, consilium iniit, ut perfidam ac foedifragam Saxonum gentem bello adgrederetur et eo usque perseveraret, dum aut victi christianae religioni subicerentur aut omnino tollerentur. Zitiert nach: Annales regni Francorum, S. 41. Deutsche Übersetzung nach: Becher, Matthias: »Der Prediger mit eiserner Zunge. Die Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen durch Karl den Großen«, in: Hermann Kamp/Martin Kroker (Hg.), Schwertmission. Gewalt und Christianisierung im Mittelalter, Paderborn: Schöningh 2013, S. 23-52, hier S. 32. Annales regni Francorum ad a. 775 : in ipso anno perrexit Karlus super Saxones, et plurimos ex ipsis ad baptismi gratiam perduxit, et multos pluriores interfecit. Zitiert nach : Annales regni Francorum, S. 63.

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am Markustag (25. April) angegriffen, ihn festgesetzt und versucht, ihm die Zunge abzuschneiden und die Augen auszustechen.29 Karl der pater Europe,30 wie ihn das so genannte Paderborner Epos tituliert, empfing den Papst in seiner Pfalz, die als aula regalis in den Quellen erscheint.31 Der nach einer Zerstörung durch die Sachsen wieder neu errichtete Steinbau muss prächtig ausgestattet gewesen sein. Worüber genau sich der Frankenkönig und der Papst 799 in ihren Gesprächen austauschten, ist in den historischen Quellen nicht verbürgt. Doch es erscheint kaum als Zufall, dass Karl, nachdem er Leo III. wieder in Rom installierte, am Weihnachtstag des Jahres 800 – also nur ein Jahr später – in Rom zum Kaiser gekrönt wurde. Damit war Karl der Große der erste weströmische Kaiser seit 476, dem Jahr der Absetzung des Kaisers Romulus Augustulus. Er schloss hierdurch an die antike Vorstellung eines römischen Weltreiches (des Imperium Romanum) an. Durch die Salbung in Rom wurde er zum Novum Imperator – ein bedeutender Machtzuwachs. Diese Krönung zum Kaiser, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf ein Treffen in Paderborn 799 zurückgeht, begründete eine über eintausend Jahre währende Kaisertradition im deutschsprachigen Raum. Aber: Was ist aus jenen Jahren, was ist von 799 noch sichtbar in Paderborn? Anhand der Paderborner Kaiserpfalz möchten wir zu einem Aspekt kommen, der eine besondere Herausforderung birgt: die Gleichzeitigkeit von historisch Unzeitgleichem. Damit befinden wir uns zugleich im Zentrum des Themas der ›Raumvertiefung‹. Das repräsentative Gebäude, das sich mit den großen Rundbogenfenstern deutlich vom Bodenniveau abhebt, sieht so aus, wie man eine Kaiserpfalz imaginiert. Aber: Es handelt sich keineswegs um die aula regalis Karls des Großen. Zu sehen ist eine neuzeitliche Rekonstruktion der Pfalz, basierend auf ihrem architektonischen Zustand aus dem frühen 11. Jahrhundert. Sie beherbergt heute das Museum in der Kaiserpfalz. Mittels farblicher Markierung ist es möglich, auf dem Display eines Smartphones auf eine etwa 31x10 m große, rechteckige Fläche hinzuweisen, die durch Bruchsteinmauern abgegrenzt wird. Dies sind die aus konservatorischen Gründen aufgemauerten Fundamente der sogenannten aula regia, der Königshalle Karls des Großen. Die unscheinbare Fläche kann durch eine mediale Erweiterung des Raumes hervorgehoben und damit in besonderer Weise sichtbar gemacht werden. Damit ist zunächst eine veränderte Wahrnehmung des Raums gegeben.

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Vgl. Annales regni Francorum, S. 107. Brunhölzl, Franz : »Karolus Magnus et Leo papa, Edition und Übersetzung«, in : Karolus Magnus et Leo papa. Ein Paderborner Epos vom Jahre 799. Mit Beiträgen von Helmut Beumann, Franz Brunhölzl, Wilhelm Winkelmann (= Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 8), Paderborn: Bonifacius-Druckerei 1966, S. 54-97, hier v. 504. Ebd., v. 433.

Raumvertiefung

Abb. 1: Farbliches Hervorheben der karolingischen Pfalzanlage

Foto: Kristina Stog.

Durch das Einspielen historischer Aufnahmen ist eine weitere Vertiefung des Raumes auf andere Weise möglich. Vor einhundert Jahren wäre es weder möglich gewesen, die Rekonstruktion der Pfalz aus dem 11. Jahrhundert, noch die Grundmauern der karolingischen aula regia sehen zu können. Denn dieses Areal war bis zum Zweiten Weltkrieg mit Fachwerkhäusern bebaut. Nach deren Zerstörung stieß man 1963 bei Erschließungsarbeiten auf ältere Gebäudemauern. Man beschloss, eine archäologische Untersuchung des Areals vorzunehmen. Die systematischen Grabungen begannen 1964 und wurden unter der Leitung von Wilhelm Winkelmann 14 Jahre lang fortgeführt.32 Sie erbrachten eine Sensation: den archäologischen Nachweis einer in ihrer Existenz zuvor durchaus umstrittenen Kaiserpfalz in Paderborn.33 Einen Überblick über die verschiedenen mittelalterlichen Gebäudereste aus unterschiedlichen Jahrhunderten können historische Fotografien leisten, die durch 32

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Einen Überblick über die Dokumentation der Ausgrabungen gibt Mecke, Birgit: »Die Ausgrabungen der Jahre 1963 bis 1978«, in: Sveva Gai/Birgit Mecke, Est locus insignis…: Die Pfalz Karls des Großen in Paderborn und ihre bauliche Entwicklung bis zum Jahr 1002. Die Neuauswertung der Ausgrabungen Wilhelm Winkelmanns in den Jahren 1964-1978, Bd.1 (= Denkmalpflege und Forschung in Westfalen 40,2), Mainz: von Zabern 2004, S. 9-44. Mitte des 20. Jahrhunderts schrieb der Domkapitular Alois Fuchs, dass »für eine [karolingische] Pfalz in Paderborn nicht nur alle urkundlichen Bezeugungen fehlen, sondern auch alle Baureste, die für die charakteristischen Pfalzgebäude: den Reichssaal und die Pfalzkapelle, sprechen könnten.« Fuchs, Alois: »Zur Frage der Bautätigkeit des Bischofs Badurad am Paderborner Dom«, in: Westfälische Zeitschrift 97 (1947), S. 3-34, hier S. 5.

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Abb. 2: Historische Entwicklung der Pfalzanlagen in Paderborn/ Standbilder aus dem Slider in der App

Grundrisse aus: Gai, Sveva/Mecke, Birgit: Est locus insignis...: Die Pfalz Karls des Großen in Paderborn und ihre bauliche Entwicklung bis zum Jahr 1002. Die Neuauswertung der Ausgrabungen Wilhelm Winkelmanns in den Jahren 1964-1978, Bd.1 (= Denkmalpflege und Forschung in Westfalen 40,2), Mainz: von Zabern 2004, S. 108, 139 und 166 (von links nach rechts).

Bildbearbeitung und farbliche Markierungen auch für Nichtspezialist*innen lesbar werden. Beispielhaft ist dies etwa auf der Homepage des Museums in der Kaiserpfalz geleistet worden.34 Eine Fotografie zeigt hier die Ausgrabungen Mitte der 1960er Jahre. Die Aufsicht vom Domturm herab zeigt die gesamte Grabungsfläche. Farblich unterschiedlich markiert, werden hier die karolingischen Überreste ebenso ersichtlich wie die ottonisch-salische Pfalz. Mithilfe der medientechnischen Integration historischer Fotografien und ihrer Bearbeitung ist es damit möglich, den Stadtraum – vor Ort – historisch zu vertiefen; heute nicht mehr Sichtbares sichtbar zu machen. Gleiches gilt für die Gestalt jener aula regia Karls des Großen, in der sich die folgenschwere Begegnung zwischen Papst Leo III. und Karl dem Großen ereignete. Aufgrund der erhaltenen Bruchsteinmauern geht man davon aus, dass es sich um ein einfaches rechteckiges Steingebäude handelte.35 Trotz der geringen Größe wird es seinerzeit die Sachsen vor Ort in Staunen versetzt haben: Steinbauten 34 35

Vgl. https://www.kaiserpfalz-paderborn.de/de/das-museum/entdeckung-der-kaiserpfalz/ Vgl. Gai, Sveva: »Der Bau der Aula (776)«, in: Sveva/Mecke, Est locus insignis (2004), S. 103-114, hier S. 103.

Raumvertiefung

waren in dieser Region eine absolute Ausnahme.36 Und noch etwas muss sie überrascht haben: Dieses Gebäude aus Stein war zweigeschossig und ragte wahrscheinlich fünf bis sechs Meter in die Höhe. Für die Zeit des ausgehenden 8. Jahrhunderts sicherlich ein beeindruckender Bau. Spätestens nach der Zerstörung beim Sachsenaufstand 778 hatte die wiederaufgebaute aula regia ein repräsentatives Obergeschoss und ein kellerartiges Untergeschoss mit fünf Wirtschaftsräumen.37 Sichtbar ist heute indes nur noch der Grundriss im Untergeschoss. Diese wenigen Beispiele, vorgeführt anhand der karolingischen aula regia als Bestandteil der karolingischen Pfalzanlage, können illustrieren, welche Möglichkeiten sich durch mobile Anwendungen für die Vertiefung des Stadtraums ergeben: zum einen hinsichtlich der Sicht- und Erkennbarkeit von Dingen im Raum, zum anderen hinsichtlich der historischen Dimensionen von Stadtraum. Diese Optionen haben ganz wesentlich mit der Frage zu tun, wie mobile Anwendungen unsere Wahrnehmung von Stadtraum verändern können und wie sie Raumvertiefungen ermöglichen – ein Thema, das aus medienlinguistischer Perspektive den Abschluss unseres Beitrags bildet.

Medienlinguistische Motivation Aus medienlinguistischer Sicht gilt es, technische Innovationen kritisch zu begleiten, aber auch die Potenziale der digitalen Wissensvermittlung auszuloten. Dabei werfen mobile Medien durch ihre Dynamiken der Speicherung und Performatisierung in besonderer Weise Fragen der Raum- und Zeitkonzeption auf. Raumbezogen bildet das Smartphone eine Schnittstelle zwischen physischem und virtuellem Raum. Aus diesem Grund überlagern sich in der Nutzung verschiedene Zeigehandlungen, mit denen historische Artefakte im öffentlichen Raum situiert, imaginiert und zeitlich profiliert werden. Die zeitliche bzw. historische Dimension erfährt mit den mobilen Medien besondere Effekte der Verräumlichung: Erinnerungspraxis wird kontextspezifisch raum- und körpergebunden aktualisiert. Durch den Einsatz des Smartphones und durch seine spezifischen Remediatisierungen der Wissenskommunikation konstituiert und erneuert sich das kollektive Gedächtnis in der performativen Orientierung im Raum. Für die mobilen Medien besteht somit durch ihre intensive Vernetzung durativer Textualität und transitori-

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Vgl. Gai, Sveva: »Die Pfalzenarchitektur der Karolingerzeit«, in: Ebd., S. 185-198, hier S. 195. Vgl. S. Gai: »Der Bau der Aula (776)«, S. 107.

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scher Performanz38 eine besondere Affinität zur Geschichte, ihrer Darstellung und Vermittlung.39 Bei der App-Entwicklung lag die Herausforderung darin, über die reine Deskription bestehender Kommunikationsangebote zur Stadtgeschichte und ihrer Kritik hinauskommen. In enger Kooperation mit den App-Entwickler*innen aus der Informatik bestand die Chance, neue Features experimentell einzusetzen, um zu einer Einschätzung zu gelangen, wie genau der Einsatz des Smartphones historische Narrationen hervorbringt und variiert, d.h. im Vergleich zu Darstellungen in klassischen Medien verändert. Im Zuge der Mediatisierung entwickeln sich viele Textsorten in digitalen Medien weiter, indem sie sich ausdifferenzieren und mit sprachlichen und visuellen Mustern aus anderen multimodalen Gattungen verbinden. Stadtgeschichts-Apps setzen aus Büchern und Filmen bekannte Verfahren wie Kontrastbildung oder Verlaufsillustration (z.B. per Zeitstrahl) ein, um die aktuelle Wahrnehmung mit geschichtlichen Informationen anzureichern. Kombiniert werden Elemente von Reiseführern, Geschichtsschreibung, Gästeführung und Wegbeschreibungen. Doch eine innovative Ressource für die App stellt neben den GPS-basierten Diensten vor allem die Augmented Reality dar. Sie ist insbesondere dafür verantwortlich, dass mit dem Smartphone eine eigene Medienepistemologie des Historischen entsteht.40 Ihre Chance liegt vor allem darin, Deutungsprozesse selbst medial zu repräsentieren, also Quellen, Grabungsergebnisse und Funde der Historiker*innen und Archäolog*innen räumlich zu situieren, und auch mittelalterliche Handschriften, Karten und Annalen für eine Interpretation urbaner Kunst und Architektur anschaulich zu machen. Damit wird weniger Geschichte ontologisiert als ein So-ist-esgewesen, sondern vielmehr Wissen zeitgeschichtlich versioniert.41 Bezogen auf die Stadtgeschichte Paderborns rückt so etwa in den Blick, dass die Ausgrabung am Ostportal des Doms lange Zeit aufgrund ihrer Nähe zur aula regia als Thron Karls des Großen galt, wohingegen man auf der Basis neuerer Grabungsergebnisse zu 38

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Vgl. Jäger, Ludwig: »Gedächtnis als Verfahren – zur transkriptiven Logik der Erinnerung«, in: Stephanie Wodianka/Dietmar Rieger (Hg.), Mythosaktualisierungen, Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform, Berlin/New York: de Gruyter 2006, S. 5779. Vgl. Pogačar, Martin: »Culture of the Past. Digital Connectivity and Dispotentiated Futures«, in: Andrew Hoskins (Hg.), Digital Memory Studies. Media Pasts in Transition, London/New York: Routledge 2018, S. 27-47. Vgl. Peschl, Markus F.: »Socio-Epistemological Engeneering: Epistemological Issues in Mobiles Learning Technologies. Theoretical Foundations and Visions for Enabling Mobile Learning Labs«, in: Kristóf Nyíri (Hg.), Mobile Understanding. The Epistemology of Ubiquitous Communication, Wien: Passagen Verlag 2006, S. 145-157. Vgl. Wilson, Shaun: »Remixing Memory in Digital Media«, in: Joanne Garde-Hansen/Andrew Hoskins/Anna Reading (Hg.), Save As…Digital Memories, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009, S. 184-197.

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der Erkenntnis gelangt ist, dass es sich doch nur um eine funktionale Steintreppe handeln muss. Mit der App bot sich nun die Chance, durch das Interface zwischen Stadtraum und Virtualität ein Nebeneinander von Deutungen zu veranschaulichen und so verschiedene Entwürfe historischer Narrativität abwechselnd zu zeigen. Die mobile Wissensvermittlung ist kein linearer Lern- und Entdeckungsprozess. Vielmehr findet durch die Nutzung der App ein permanenter Wechsel vom physischen zum hybriden Raum statt. Solcherart Abgleichprozeduren fördern als eine Art Double-Loop-Learning die Bildung von Metawissen.42 In der Kontextualisierung und Rekontextualisierung wird der Wissensprozess durch die Frage gerahmt, wie und warum wir etwas wissen, und wie sich (historisches) Wissen verändert. Burdick et al. sehen die Chancen des digitalen Lernens in der Spaltung bzw. Aufteilung zwischen dem Was, d.h. den Inhalten, und dem Wie der Aufbereitung, d.h. der sprachlichen und bildlichen Darstellung. This division helps us understand the ways in which the diversity of humanities knowledge is regularly (and not always unfairly) stereotyped as a dry, rarefied, canonized set of objects, disciplinary practices, and media forms. The ›how‹ requires attention to design, format, medium, materiality, platform, dissemination, authorship, and audience, things that are all taken for granted or assumed to be implicit, value-neutral, secondary, or even irrelevant when scholars turn over their manuscripts to a university press. But there is nothing neutral, objective, or necessary about the format of a book, the space taken by a page, the medium of paper, or the institution of a press. In fact, the ›what‹ is shaped by the ›how‹ in a profoundly recursive, process-oriented manner.43 Was für traditionelle Medien hinlänglich bekannt ist, dass nämlich Gestaltung den Inhalt verändert, gilt für digitale Medienprodukte in besonderem Maße. Zudem liegt im How der Gestaltung mobiler Wissensformate das große Versprechen der Digital Humanities, den Metaprozess der Wissensgenese mitzuerzeugen und im Interface einer App zu zeigen. In einer eher medienkritischen Sicht allerdings wird die partizipatorische Medienkultur mit dem Schlagwort »sharing without sharing« belegt, bei der die Vielfalt der Gestaltung das Was, also das Wissen selbst, überschattet. Das Aufbereiten und die Konnektivitätspraktiken des Teilens, Likens, Verlinkens etc. drängen das, was geteilt und weitergeleitet wird, in den Hintergrund.44 Eine andere weitaus produktivere Seite dieser Spaltung ist die Überwindung der zeitlichen Distanz: Geschichtliches rückt näher an die kunstgeschichtlichen

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Vgl. M.F. Peschl, »Socio-Epistemological Engeneering«, S. 152. A. Burdick et al.: Digital_Humanities, S. 76. Vgl. Hoskins, Andrew: »The Restless Past. An Introduction to Digital Memory«, in: ders., Digital Memory Studies (2018), S. 1-24, hier S. 2.

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Artefakte und historischen Gebäude heran. Die Präsenz und die dauernde Aktualisierung von Erinnerung, Vergangenem und geschichtlichem Wissen werden von Laurence Scott auch als vierte Dimension beschrieben. Und in einer Diagnose von Hoskins ist den digitalen Medien die Wiederbelebung der Vergangenheit eingeschrieben.45 Vergangenes erscheint als Netzwerk, als Archiv und Zeichen einer unmittelbaren Präsenz. Im Zusammenhang mit der Mediatisierung der Erinnerung stellt Hoskins fest: Social memory is not only directed and made visible through new technologies but it is also reflexively formed through media cultures and practices very much part of the schemata of modern memory.46 Für die mediale Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit werden in der Medientheorie des Raumes zwei Gefahren beschrieben, und zwar das Ignorieren der physischen Welt sowie das Unsichtbarwerden der Schnittstelle zwischen digitalem und physischem Raum, wodurch beide vollständig verschmelzen. Es war ein Anliegen der App-Gestaltung, beides zu vermeiden: Der urbane Raum sollte Ausgangspunkt für die multimodale Erzählung sein, und das digitale Interface sollte Werkzeuge und Methoden des wissenschaftlichen Prozesses sichtbar machen. Erst unter dieser Voraussetzung erzeugt die App einen neuen, vermittelten Raum. Nach Brantener und Rodrígez-Amat wird der mediated space geformt durch die Konvergenz von Geosphäre (materieller, physischer Welt) und Infosphäre (symbolischer Repräsentation von Welt).47 Dieser Raum an der Schnittstelle zwischen dem digitalen und dem physischen Raum ist in besonderer Weise mit der Subjektivität und der persönlichen Erinnerung von Akteuren verknüpft. Reading spricht vom Smartphone als »Memobile«48 und bezeichnet damit eine neue digitale Gedächtnisform. In der Nutzung des Smartphones existiert somit nicht nur die doppelte Räumlichkeit wie in der Kinosituation, d.h. eine Kopräsenz von Raum der Mediennutzung, dem Kinoraum, und dem medialen Bewegungsraum, den der Film zeigt. Hinzu kommt eine dynamische Schnittstelle im Zentrum des Subjekts als »wearable link between the private

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Ebd., S. 5. Hoskins, Andrew: »Mediatisation of Memory«, in: Garde-Hansen/Hoskins/Reading, Save As…Digital Memories (2009), S. 27-43, hier S. 33. Brantner, Cornelia/Rodríguez-Amat, Joan Ramon: »Mediatisierung und Visualisierung von Ort und Raum: Zur Erforschung partizipativer digitaler Praktiken in Geomedien im Rahmen sozialer Proteste«, in: Katharina Lobinger/Stephanie Geise (Hg.), Visualisierung – Mediatisierung. Bildliche Kommunikation und bildliches Handeln in mediatisierten Gesellschaften, Köln: Halem Verlag 2015, S. 257-277, hier S. 262. Reading, Anna: »Memobilia: Mobile Phones Making New Memory Forms«, in: dies./GardeHansen/Hoskins, Save As…Digital Memories (2009), S. 81-95, hier S. 88.

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and the public«.49 Dieses Selbstobjekt, getarnt als modisches Accessoire, stellt eine Erweiterung des Körpers dar, die kommunikatives und kulturelles Gedächtnis zusammenführt. Memobilia are a memory form that is lived and embodied, as well as beeing transformed, or rather mobilised, into cultural mnemotechnique or memories selected and edited by media organisations and public institutions and – via network cultures – memobilia are then easily transferred back to the domain of the private individual and lived experience once again.50 Schon de Certeau hat beschrieben, wie individuelles Handeln einen Ort in einen Raum verwandelt.51 Ein Raum ist somit ein Ort, mit dem man etwas macht. Räume werden als Handlungsräume durch verschiedene Aktivitäten wie Gehen und Betrachten oder Interaktionen wie Zeigen und Erklären hervorgebracht. Sind diese Aktivitäten mediengestützt, geht es nicht nur darum, die Stadt mit anderen Augen zu sehen, ihre Historie verfügbar zu machen, sondern auch darum, sie immer wieder neu in einer potenziell endlosen Versionierung des Wissens in persönliche Geschichten zu verwandeln.52 Diese mobile Medienrezeption ist jedoch nichts völlig Neues. Das Überschreiben von Materiellem mit einer Wissensstruktur leisten auch Karte und Stadtführer oder ein Kopfhörer mit Audioguide. Die Neuerfindung der Stadt durch den Walkman beschreibt de Souza e Silva folgendermaßen: Like the Walkman user who ›reinvents‹ the city soundscape by replaying its original soundtrack with the sound that comes from the device, the cell phone user also reinvents urban spaces, no longer disconnecting from them, but connecting in a different way.53 Das Smartphone erschafft neue Räume mit einem Mix aus individueller und kollektiver Erinnerung. Erinnerung ist damit nach van Dijk »mediated memory«54 in hybriden Räumen in Abhängigkeit von sozialen Praktiken, mit denen Räume als Geschichtsräume hervorgebracht und genutzt werden. These spaces, which are social spaces formed by the constant mobility of users who carry important, we should be aware that the way we use specific interfaces 49 50 51 52 53

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Ebd., S. 91. Ebd., S. 88. De Certeau, Michel: Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, S. 218. Vgl. S. Wilson: »Remixing«, S. 186-188. De Souza e Silva, Adriana: »Interfaces of Hybrid Spaces«, in: Anandam Kavoori/Noah Arceneaux (Hg.), The Cell Phone Reader. Essays in Social Transformation, Frankfurt a.M./New York u.a.: Peter Lang 2007, S. 19-43, hier S. 30. Vgl. van Dijk, Jose: Mediated Memories in the Digital Age, Palo Alto: Stanford University Press 2007.

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never depends solely on the technological innovations but rather on the social use we make of them.55 In diesen Kreislauf der mobilen Wissensvermittlung werden Techniken traditioneller Medien stets integriert, dazu gehört z.B. die Analogie, die sich als Formvergleich auch in der historischen Abhandlung findet. Eine typische diagrammatische Darstellung zur Analogie ist das Übereinanderlegen von Grundrissen, wie etwa für die Pfalzanlagen Karls des Großen. Aus der sichtbaren Differenz wird ein Funktionsunterschied abgeleitet: In der Symmetrie der Gebäudeanordnung in Ingelheim und Aachen spiegelt sich die antike Bautradition mit dem Palast als Vorbild. Die Pfalz dient der Repräsentation von Herrschaft. Einen Gegensatz dazu bildet die Schlichtheit der Paderborner Kaiserpfalz mit ihrer asymmetrisch eingezogenen Stadtmauer. Die Paderborner Pfalz hat eine vollkommen andere Funktion: Sie ist v.a. Verteidigungsanlage zur Zeit der Sachsenkriege.56 Linguistisch betrachtet werden Beziehungen, die das Räumliche mit dem Zeitlichen zusammenspannen und an einem Sprecherzentrum ausrichten, durch Deixis gestiftet. Bühler unterscheidet zwischen zwei bzw. drei deiktischen Hauptfällen.57 Im zweiten Hauptfall versetzt sich das Ich in einen Vorstellungsraum und imaginiert dort eine Handlung. Diese Versetzung wird bei jeder App-Nutzung initiiert, wenn auf dem Display ein Foto oder ein Video des aktuellen oder historischen Stadtraums erscheinen. Für die raumbasierte App ist eher der erste Fall der Deixis interessant, wenn ein Vorstellungsobjekt in den aktuellen Wahrnehmungsraum projiziert wird, auf das sich ein deiktischer Ausdruck, z.B. das Adverb hier bezieht. Befindet man sich etwa in den Resten der karolingischen Pfalz, lässt sich mit der Aussage »Hier befand sich die aula regia von Karl dem Großen« die Ausstattung der Aula imaginieren. Der Effekt entsteht auch durch die Bodenmarkierungen zwischen Dom und Bartholomäuskapelle (vgl. Abb. 3). Die hellen Steine signalisieren: An diesem Ort befand sich die Basilika Karls des Großen. Grundsätzlich findet sich das auch in Büchern, wenn z.B. das Foto einer heutigen Ausgrabungsstätte von der farbigen Rekonstruktion der historischen Anlage überlagert wird. Augmented Reality kann im Smartphone diese Zeitversetzung eindrucksvoll erzeugen, indem z.B. eine mittelalterliche Reisegruppe auf dem Hellweg eingeblendet wird. Die Aktualisierung kann Insignien des Vergangenen und der Bewegung tragen, z.B. durch einen Sepia-Filter als Anspielung auf ein älteres Medium oder durch tänzelnde Staubpartikel als angedeutete Bildstörung auf einer abgespielten 55 56

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A. de Souza e Silva : »Interfaces«, S. 40. Vgl. Grewe, Holger: »Archäologie der Architektur«, in: ders. (Hg.), Auf den Spuren Karls des Großen in Ingelheim. Entdeckungen – Deutungen – Wandlungen, Ingelheim am Rhein: Imhof Verlag 2014, S. 31-43, hier S. 40-41. Stukenbrock, Anja: Deixis in der face-to-face-Interaktion, Berlin/New York: de Gruyter 2015, S. 6-8.

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Abb. 3: Pflastermarkierungen kennzeichnen den Standort der ersten Basilika Karls des Großen in Paderborn

Foto: Nicole M. Wilk.

Celluloidfilmrolle. Auf diese Weise wird beispielsweise in einem Audiovideo-Guide der Gedenkstätte Deutscher Widerstand über die Berliner Widerstandsgruppe Rote Kapelle eine Fotografie aus den 1930er Jahren durch einen Bewegungsfilter animiert.58 In diesem ortsbezogenen Kommunikationsangebot werden, wie so häufig, auditive und visuelle Ressourcen multimodal vielseitig eingesetzt, so dass die unterschiedlichen zeichenhaften Elemente auf verschiedene Zeitschichten ausgerichtet sind. Die temporalen Switches werden über die Akustik eingeleitet mit Straßenverkehrsgeräuschen für die moderne städtische Umgebung oder mit historischen

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Vgl. https://www.gdw-berlin.de/vertiefung/links-apps/avg-deutsch/

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Fotos und typischer Musik aus den 1930ern für die NS-Zeit. Auch kann eine bestimmte Schicht der Vergangenheit über das Konzept der Zeitzeugenschaft aufgerufen werden: Die Sprecherin Eva Schulze-Boysen, die aus dem AGIS-Flugblatt von 1942 vorliest, ist die Nichte von Harro Schulze-Boysen, einem der Verfasser des oppositionellen Dokuments. Oft aber verbleibt die Deixis im Verweisraum der App. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn ein Rundgang abgebildet wird. In der App der Berliner Gedenkstätte sind zwei Nachfahren von Widerstandskämpfern zu sehen, die direkt im Stadtraum gefilmt wurden. Dadurch verdoppelt sich der Raum auf dem Display, es entsteht eine mobile Kinosituation, mit der die Interface-Qualität einer App lange nicht ausgeschöpft ist.

Abb. 4: Virtuelle Straßenöffnung auf dem großen Domplatz in Paderborn: Augmented Reality macht den mittelalterlichen Hellweg sichtbar

Foto: Nicole M. Wilk. Bildmontage: Simon Atzbach.

Genau wie die historische Quelle, etwa ein Flugblatt, Annalen oder Handschriften, können Grabungsergebnisse gemäß dem ersten Hauptfall der Deixis Evidenz für die historische Situation geben. Denkbar ist dies z.B. über die Veranschaulichung einer Straßenöffnung (vgl. Abb. 4). Als semiotische Modalität wird der Raum aber erst dann genutzt, wenn er sich nicht auf dem Display verdoppelt, sondern als Rahmen dient, in den Objekte insertiert werden, wenn man das Gerät entsprechend positioniert. Erst dann kommt der Betrachterstandpunkt als subjektive

Raumvertiefung

Origo in der Memobilia ins Spiel. Im Kontrast dazu steht der objektive Betrachterstandort, verkörpert durch die Koordinaten einer Karte, in der deiktische Bewegungen durch Pfeile oder Farbwechsel veranschaulicht sind. Raum wird als Modalität in eigenem Recht erst dann genutzt, wenn räumliche Strukturen rekontextualisiert werden, also mobile Endgeräte so zu platzieren sind, dass sich der Wahrnehmungseindruck des aktuellen Raums durch die Spiegelungen der historischen Begebenheiten verändert, indem z.B. wie in oben genannter Gendenkstätte-App auf einer Parkbank das Schild „Nur für Arier“ erscheint. Dasselbe geschieht, wenn sich Information an Räumliches anheftet, von dem aus ein Stück mittelalterliche Geschichte gefasst wird. So wäre bezogen auf die Stadtgeschichte Paderborns z.B. das 1000 Jahre alte Katzenkopfsteinpflaster auf dem kleinen Domplatz Ausgangspunkt für eine archäologische Spurensuche nach der mittelalterlichen Handelsstraße, dem Hellweg, den es ja als Straße bis heute gibt. Abschließend soll der dritte Hauptfall der Bühler’schen Deixis auf die App bezogen werden. Er beinhaltet das Zeigen auf ein Objekt kurz hinter der Wahrnehmungsschwelle und bietet so die Chance, über ein Dahinten zu spekulieren, von dem man kein sicheres Zeugnis mehr hat, wie z.B. mittelalterliche Grubenhäuser oder Zelte, die Karls Heer um die steinerne Pfalzanlage herum aufgeschlagen haben soll. Das mobile Medium kann somit das Historische im Möglichkeitsraum einfangen und dabei mittelalterliche Geschichte ganz unterschiedlich lesbar machen. Diese kann als Herrschergeschichte erzählt werden, gleichsam aber auch als instrumentalisierte Geschichte der Kaiserzeit im 19. Jahrhundert, oder aber als Mediengeschichte, die weiterwirkt, da wir etwa bis heute die in karolingischer Zeit entstandenen Kleinbuchstaben verwenden.

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Paris in vielen Augenblicken geliefert Le Panorama und die serielle Ästhetik des städtischen Lebens Jens Ruchatz

»C’est Paris tout entier qui tient dans ces pages, l’immense ville, non pas immobile et froide, mais vivante, saisie sous ses aspects innombrables, avec sa physionomie, son mouvement et son atmosphère«,1 so formulieren die Verleger den Anspruch von Paris instantané, einem an der Wende zum 20. Jahrhundert erschienenen Lieferungswerk. Doch was motiviert die Werbung zu dem vollmundigen Versprechen, dass auf diesen Seiten ganz Paris seinen Platz finde? Immerhin handelt es sich, wie der Werbetext selbst hervorhebt, um eine riesige Stadt, die sich selbst von der Vielzahl der in dem Band versammelten Fotografien allenfalls in Ausschnitten einfangen lässt. Auch noch als Reklame muss die Aussage für die Zeitgenossen eine gewisse Sinnhaftigkeit beanspruchen, um das Produkt überzeugend anzupreisen. Die Tragfähigkeit des Versprechens wird, so die meinem Aufsatz zugrundeliegende These, durch die Medien sichergestellt, die in Paris instantané zusammenkommen: die Momentfotografie einerseits, die serielle Publikation des Lieferungswerks andererseits. In einer medienwissenschaftlichen Betrachtung möchte dieser Beitrag exemplarisch zeigen, wie Medienspezifik an der Formung eines jeweils spezifischen Bildes der Stadt beteiligt ist. In diesem Zusammenhang werden Medien nicht als unwandelbare, durch ihre Technik ontologisch fixierte Gegebenheiten vorausgesetzt, sondern als dynamischer Möglichkeitshorizont medialer Formbildung, dessen Grenze sich in kontinuierlichem Wandel befindet. Jede Aktualisierung einer medialen Form gewinnt ihren Sinn vor dem Hintergrund des Mediums, umgekehrt arbeitet jeder Gebrauch eines Mediums zugleich an dessen fortlaufender Konstituierung mit, insofern er sich auf die gegebenen Voraussetzungen bezieht, diese affirmiert oder modifiziert. In diesem Sinn gilt es nicht, durch die mediale Form das Wesen des Mediums, was auch immer das sein könnte, zu ergründen, sondern der Begegnung der Fotografie mit einem periodischen Printmedium in einer historisch spezifischen kulturellen

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Paris instantané, 1 (o.J. [1898-1899]) [= Le Panorama, 104], Lieferumschlag.

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Situation nachzugehen um aufzuzeigen, wie das Bild der Stadt in diesem spezifischen Fall mediengebunden erzeugt wird. Für die medienhistorische Situierung der Fotografie in Paris instantané spielen zunächst technisch begründete Möglichkeitszuwächse, die sich auf den Gebrauch des Mediums ebenso wie auf seine Bildformen auswirken, eine zentrale Rolle. Hier wird es vor allem um die Verkürzung der Belichtungszeiten gehen, deren kulturelle Formatierung unter dem Begriff ›Momentfotografie‹ oder, in unserem Fall, ›photographie instantané‹ gefasst wird. Weiterhin geht es nicht allein um die Fotografie als chemotechnisches Verfahren der Bilderzeugung, sondern um ihre fotomechanische Reproduktion im Printformat, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts rasch verbreitet. Die drucktechnische Reproduktion im Halbtonverfahren bildet die Grundlage dafür, dass fotografische Bilder in solcher Fülle verfügbar werden, dass sie sich so wirksam im gesellschaftlichen Diskurs einnisten. Die druckförmige Vervielfältigung der Fotografie bildet den Nexus zur Publikationsform des Lieferungswerks. Weil die Lieferungen darauf abzielen, in ein buchförmig gebundenes ›Werk‹ zu münden, so dass die serialisierte Genese meist keine allzu offensichtlichen Spuren hinterlässt, ist die Medialität des Lieferungswerks bislang kaum konturiert oder überhaupt beforscht worden. Der Lieferumschlag, auf dessen Innenseite sich das eingehende Zitat findet, ist eigentlich nicht dazu gedacht, in den fertigen Band einzugehen, so dass man den Buchseiten die originäre Publikationsform normalerweise nicht ansieht. Ich möchte aufzeigen, dass die serielle Publikation dennoch auch im Lieferungswerk einen wichtigen Faktor für die Gestalt und die Bedeutung des Inhalts bilden kann, gerade wenn es sich um ein auf Bildern basierendes Lieferungswerk handelt. Das Lieferungswerk lässt sich als eine Ausprägung der Printpublikation beschreiben, die zwischen den Polen Buch und Zeitschrift changiert, insofern sie sich von einer tendenziell journalförmigen Publikationsform in eine stark buchaffine finale Speicherform transformiert. Insofern wird das Lieferungswerk in der Regel im Verhältnis zu benachbarten printmedialen Publikationsformaten bestimmt. Der Bibliothekswissenschaftler Frank Heidtmann situiert das Lieferungswerk innerhalb des Universums fotografischer Distributionsmöglichkeiten, indem er es von der Serie abgrenzt. Das Lieferungswerk habe »einen begrenzten Umfang«, der »meist […] schon bei der Ankündigung […] genannt« werde.2 Das entscheidende Bestimmungsstück des Lieferungswerks ist demnach nicht einfach, dass die serielle Distribution begrenzt ist, sondern vielmehr, dass die angestrebte Geschlos-

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Heidtmann, Frank: Wie das Photo ins Buch kam: der Weg zum photographisch illustrierten Buch anhand einer bibliographischen Skizze der frühen deutschen Publikationen mit Original-Photographien, Photolithographien, Lichtdrucken, Photogravüren, Autotypien und mit Illustrationen in weiteren photomechanischen Reproduktionsverfahren, Berlin: Berlin Verlag Arno Spitz 1984, S. 448.

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senheit von Anfang an bewusst gemacht wird, selbst wenn sich die angestrebte Zahl der Lieferungen im Laufe der Zeit häufig ändert, so dass ein Lieferungswerk am Ende »viel umfangreicher […] als angekündigt« ausfallen kann. »Die erscheinenden Teile können quasi bibliographisch selbständig mit Interimstitelblättern oder mit Titelblatt-Umschlägen ausgestattet sein; schließlich erscheint bei einem Lieferungswerk die Titelei, meist auch ein Buchdeckel oder eine Mappe.«3 Um auf potenzielle Änderungen im Lieferungsverlauf reagieren zu können, werden Titelei, Register und Einband, die erforderlich sind, um aus den sukzessiv ausgelieferten Komponenten ein veritables Buch zu machen, erst am Ende der Distribution zugänglich gemacht. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts war die auf Lieferungen aufgeteilte, häufig durch Subskriptionsmodelle finanzierte Publikation der Normalfall für aufwändig illustrierte Bände.4 Auf dem Fotografiemarkt bezeichnet ›Serie‹ hingegen eine sehr viel lockerer definierte Gruppierung, die zwar dazu motivieren möchte, mehr als ein einzelnes Bild zu erwerben, aber weder in Bezug auf die Abgeschlossenheit noch auf die Untergliederung in definierte Einheiten jenseits des einzelnen Bildes auch nur annähernd so konturiert ist.5 Bei der Serie handelt es sich oft schlicht um eine Sammlung thematisch verwandter Bilder, die für die Vermarktung in einem Katalog zusammengestellt wurden, aber nie für serialisierte Distribution gedacht waren. Im Rahmen der Erforschung von Journalliteratur wird das Lieferungswerk hingegen von der Zeitschrift abgegrenzt. Die meiste Forschung bezieht sich hier auf die serielle Publikation von Romanen in Heften, wie im Falle der – illustrierten – Shilling Numbers von Charles Dickens, die von den Formatbedingungen der Zeitschriftenpublikation unterschieden werden. In der Zeitschriftenforschung wird die Zeitschriften-Nummer, die eine miszellane, magazinförmige Zusammenstellung von diversen Inhalten diverser Autorschaft versammelt, infolgedessen von dem zwar in Lieferungen segmentierten, aber bereits auf Kohärenz getrimmten part-issue unterschieden, das die ursprüngliche serielle Binnengliederung im Endprodukt ›Buch‹ vielfach ausstreicht. Um keine bleibenden Spuren zu hinterlassen, können einzelne Nummern sogar mitten in einem Satz enden, der dann in der nächsten Folge des Lieferungswerks fortgeführt wird.6 Wenn ein Lieferungswerk allerdings

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Ebd. Zum Bedeutungsspektrum von Serialität in der Fotografie des 19. Jahrhunderts siehe Ruchatz, Jens: »›Ein Foto kommt selten allein‹. Serielle Aspekte der Fotografie im 19. Jahrhundert«, in: Fotogeschichte 18, 68/69 (1998), S. 31-46. Vgl. Jammes, Isabelle: Blanquard-Evrard et les origines de l᾽édition photographique française, Genf: Droz 1981, S. 61-62; Griffiths, Antony: The Print Before Photography. An Introduction to European Printmaking 1550-1820, London: The British Museum 2016, S. 170, 186-190 u. 356361. Vgl. Damkjær, Maria: »›Split […] Peas‹. Mrs Beeton and Domestic Time, Decomposed«, in: Rob Allen/Thijs van den Berg (Hg.), Serialization in Popular Culture, New York/London: Routledge

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Bilder zusammenträgt, sieht die Binnenstruktur oft weniger stringent aus. Bilder werden zwar nicht auseinandergerissen, doch steigert sich dafür häufig die Diversität der Inhalte. Eben dies soll im Folgenden als eine lieferungswerkgerechte Umsetzung von Miszellaneität, einer neben Serialität grundlegenden Basiskategorie von Zeitschriftenmedialität,7 eingehender beleuchtet werden. Schließlich verzichtet das Lieferungswerk meist auf die Koppelung an die Außenzeit. Auch wenn die Auslieferung periodisch in Heften erfolgt, so sind die einzelnen Lieferungen in der Regel nur durchnummeriert und nicht, wie bei der Zeitschrift, datiert. In der Binnengliederung stehen die Lieferungen also zueinander in einem Verhältnis der Sukzession, haben aber keinen festen Ort im Verhältnis zur Außenzeit. Hier schlägt der weniger auf Aktualität setzende Charakter des Zielmediums Buch durch. Wenn im Folgenden die mediale Bedingtheit von Paris instantané ausgearbeitet wird, dann gilt es aufzuzeigen, wie diese Publikation an der Schnittstelle spezifischer printmedialer und fotografischer Medialität ein bestimmtes Bild von Paris entfaltet. Um die Spezifik dieser Publikation näher bestimmen zu können, werden als Kontrastfolie zunächst frühere Fotopublikationen herangezogen.

Facetten der steinernen Stadt Dass Paris so eng mit der Geschichte der Fotografie im 19. Jahrhundert verknüpft ist, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass einer der beiden anfangs wichtigen fotografischen Prozesse, die Daguerreotypie, in dieser Stadt zur Marktreife geführt und 1839 der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Dies brachte es mit sich, dass Paris zu den frühesten fotografisch dokumentierten Orten gehörte, denn nicht nur der Erfinder Louis Jacques Mandé Daguerre, sondern viele der frühesten Praktiker der Fotografie waren dort aktiv. Auch der Erfinder des zweiten grundlegenden Verfahrens, der Engländer William Henry Fox Talbot, konnte gar nicht anders, als nach Paris zu kommen, um dort die Meriten seiner Erfindung zu bewerben. Im Gegensatz zu Daguerres Verfahren, das Unikate auf spiegelnden Metallplatten erzeugte, handelte es sich bei Talbots im selben Jahr vorgestellten Kalotypien um Abzüge nach Papiernegativen, also um grundsätzlich zu vervielfältigende Fotografien.

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2014, S. 47-61. Im Vergleich zur Zeitschriftenpublikation stellt die Literaturwissenschaft als weitere typische Kennzeichen der part-issue-Publikation heraus: auktoriale Kontrolle und Präsentation, Konzentration auf einen Haupttext und Zurichtung auf den resultierenden Band; Brake, Laurel: »Media History: the Serial and the Book«, in: dies., Print in Transition, 1850-1910, London: Palgrave 2001, S. 27-86. Die ausgearbeiteten Enden der Fortsetzungsromane, wie sie beispielsweise viele von Charles Dickensʼ Shilling Numbers aufweisen, sind nur eine Option. Vgl. Mussell, James: The Nineteenth-Century Press in the Digital Age, Basingstoke: Palgrave 2014, S. 49-56.

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Als Talbot im Jahr 1843 nach Paris reiste, um angehende Praktiker der Kalotypie zu schulen, ergriff er ganz selbstverständlich die Gelegenheit, in der Stadt auch Fotos anzufertigen.8 Von seinem Zimmer im Hotel de Douvres aus, wo der Brite passenderweise abgestiegen war, fertigte er einige Fotografien des Boulevard des Capucines an. Mit diesen Aufnahmen greift Talbot eine fotografische Praxis auf, die gerade für die Pioniernutzer typisch ist. »Chacun voulut copier la vue qui s’offrait de sa fenêtre«,9 so erinnert sich Marc Antoine Gaudin, ein sehr aktiver Pionier der Daguerreotypie. Auch weil das Fotografieren immer an einen Raum gebunden war, in dem man die Platten selbst chemisch anfertigte und entwickelte, bot es sich an, zuerst das festzuhalten, was einen am nächsten umgab. Mit seiner Aufnahme des Boulevard du Temple spiegelt Talbot aber nicht nur ein populäres Bildsujet, sondern liefert gezielt einen Beitrag zu der Reihe von Fotografien Pariser Boulevards, anhand derer die Fotografie – zunächst als Daguerreotypie – nicht nur in Paris, sondern in den europäischen Metropolen bekannt gemacht worden war.10 Wie wichtig ihm dies gewesen sein muss, zeigt sich darin, dass er eine der in Paris angefertigten Aufnahmen auswählte, als er 1844 die erste Lieferung seines Buchs The Pencil of Nature zusammenstellte. Die II. Tafel des Pencil of Nature trägt den Titel View of the Boulevards at Paris und erschien gemeinsam mit einer Teilansicht des Queen’s College in Oxford, einer Großaufnahme einer Porträtbüste aus Talbots Privatbesitz sowie zwei Fotos, die aufgereihte Sammlungen von Porzellanund Glasartikeln zeigen. Die Vielfalt der Gegenstände, die innerhalb nur einer Lieferung zusammengebracht wurden, verweist auf das Konzept des Projekts, die vielschichtigen Eigenschaften und Leistungen des neuen Abbildungsverfahrens an heterogenen Beispielen aufzuzeigen. Die zeitschriftenaffine Miszellaneität der Bildsujets ist aber zugleich ein strukturelles Merkmal, das die Distributionsform des Lieferungswerks in The Pencil of Nature hinterlassen hat. Wie beliebig fortsetzbar die Serie eigentlich angelegt ist, zeigt sich, wenn der im Vorlauf ausgegebene Plan, »to publish the work in 10 or 12 monthly parts, in quarto, price fifteen shillings each. Each part containing four plates, with descriptive letterpress«,11 laufend und oh8

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Zu Talbots Reise und der fotografischen Ausbeute siehe Schaaf, Larry/de Saint-Ours, Édouard: »Panoramas & urban observatories: photographic experiments from a Parisian hotel«, auf: The Talbot Catalogue Raisonné, 13th April 2018, https://talbot.bodleian.ox.ac.uk/ 2018/04/13/panoramas-urban-observatories-photographic-experiments-from-a-parisianhotel/; dies.: »Historical Value in Talbot’s 1843 Paris Boulevards«, auf The Talbot Catalogue Raisonné, 20th April 2018, https://talbot.bodleian.ox.ac.uk/2018/04/20/historical-value-inhenry-talbots-1843-paris-boulevards/ Gaudin, Marc Antoine : Traité pratique de photographie. Exposé complet des procédés relatifs au Daguerréotype, Paris : J.-J. Dubochet et Cie. 1844, S. 7. Vgl. Bigourdan, Jean-Louis : »1839 : Les ›vues de Paris‹ et l’introduction du daguerréotype en Europe«, in : Paris-Musées (Hg.), Paris et le daguerréotype, Paris : Paris Musées 1989, S. 31-35. Diese Ankündigung wird wiederholt abgedruckt in: A Monthly List of New Books Published in Great Britain sold by Mr. C. Muquardt, New Series XX (1.3.1844), S. 79; New Series XXI

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ne weitere Begründung abgeändert wird. Schon die erste Lieferung im Juni 1844 weicht von den Ankündigungen ab, indem sie den Lieferumfang auf fünf Abzüge monatlich ausdehnt, zugleich den Preis auf 12 Shillings senkt und dies nun als neuen Distributionsmodus setzt. Die zweite Lieferung lässt allerdings bis Dezember auf sich warten, enthält dafür aber sieben Abzüge, während die folgenden vier Lieferungen jeweils drei Fotografien umfassen und bis zum April 1846 völlig unregelmäßig erscheinen.12 So wird die Komplettierung von The Pencil of Nature nahezu zwei Jahre dauern, in denen lediglich 24 Abzüge zusammenkommen. Man benötigte also die doppelte Zeit, um auch nur die Hälfte des angekündigten Volumens zu erreichen. Die Lieferschwierigkeiten gingen hauptsächlich darauf zurück, dass die Vervielfältigung durch die serielle Anfertigung individueller Abzüge vom Originalnegativ bewerkstelligt wurde, was sich nicht so leicht realisieren ließ wie erhofft. Die Herausforderungen reichten von zu wenig Sonnenstunden über die konstante optische Qualität der Abzüge bis hin zu ihrer Haltbarkeit unter Lichteinwirkung. Wichtiger als die Frage nach den Ursachen ist allerdings die nach dem ›Werk‹, das durch die Lieferungen entsteht. Die fortlaufende Veränderung des Lieferumfangs und Erscheinungsrhythmus, die durch die allmähliche, serielle Konstituierung des Bandes ermöglicht wird, verdeutlicht, dass es sich hier mitnichten um ein geschlossenes Werk im engeren Sinn handelt: Es ist nicht davon auszugehen, dass Talbot von Anfang an über einen klaren Plan verfügte, mit welchen Aufnahmen er die schon variabel angekündigten ›zehn oder zwölf Lieferungen‹ zu bestreiten gedachte. Er wählte die Aufnahmen erst im Laufe der Zeit aus, nutzte also die Flexibilität der seriellen Distribution, den Schluss bei Beginn der Lieferungen noch nicht festlegen zu müssen. Aus der Logik serieller Distribution erwächst im Pencil of Nature eine nicht stringente Reihung von Fotografien, die sich prinzipiell beliebig weiter fortsetzen ließe und insofern eher abgebrochen als abgeschlossen erscheint.13 Die serialisierte Publikationsform des Lieferungswerks scheint hier von der Pflicht zu buchförmiger Stringenz freizustellen. Die unterbrochene und zeitlich zerdehnte Distribution begünstigt mithin eine Form der Miszellaneität, die – ähnlich wie bei der Zeitschrift im engeren Sinn – sowohl innerhalb als auch zwischen den Lieferungen zum Tragen kommt. The Pencil of Nature als Pionierleistung des Fotobuchs anzusehen, erscheint daher zumindest diskutabel, wenn man den

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(1.4.1844), S. 83; New Series XXII (1.5.1844), S. 87; New Series XXIII (1.6.1844), S. 91. Erst die nach dem Erscheinen publizierte Anzeige, New Series XXIV (1.7.1844), S. 95, nennt dann fünf Abzüge für 12 Shillings. Zur Aufgliederung der Lieferungen siehe Schaaf, Larry J.: »Third Census of H. Fox Talbot’s The Pencil of Nature«, in: History of Photography 36.1 (2012), S. 99-120, hier S. 100-101. Dazu passt, dass die letzte Lieferung in den einschlägigen Verzeichnissen auch nicht als solche gekennzeichnet wird; vgl. A Monthly List of New Books Published in Great Britain sold by Mr. C. Muquardt, New Series, XLVI (May 1, 1846), S. 180.

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Werkcharakter zu dem Kriterium erhebt, anhand dessen ein Fotobuch sich von lediglich fotografisch illustrierten Büchern absetzt.14 Weil der Bildzusammenstellung der inhaltliche Zusammenhang abgeht, kommt der jedem Bild beigegebenen »letterpress« eine zentrale Rolle zu. Jede Kalotypie wurde auf Papier aufgezogen und mit einem auf ein separates Blatt gedruckten Text ausgeliefert. Formal spiegelt die wechselnde Ausführlichkeit der druckschriftlichen Kommentare die strukturelle Inkohärenz des Lieferungswerks, doch vermögen diese die Bilder unter einem geteilten Thema zu verknüpfen. Die sprachlichen Erläuterungen schließen die einzelnen Bilder nicht aneinander an, sondern machen sie als exemplarische Fälle einer Medialität der Fotografie lesbar. In ihrer Summe explorieren die Texte, was mit Fotografie zeitgenössisch möglich ist, und imaginieren darüber hinaus künftige Möglichkeiten. Sie weisen die Leser/Betrachter auf die besonderen Eigenschaften fotografischer Bilder hin und überlegen von dort ausgehend, wie sich das Medium nützlich machen kann. Zu Recht ist The Pencil of Nature daher nicht nur als Buch zu würdigen, das anhand von Fotografien von Fotografie handelt, sondern zugleich als – selbstreflexives – Ausloten der Potenziale von Fotografie-Wort-Beziehungen.15 Freilich untersucht Talbot die Fotografie nicht nur als Medium schlechthin, sondern ist, wie oben bereits erwähnt, vor allem bemüht, sein eigenes Verfahren ins rechte Licht zu rücken. In den Ankündigungen von The Pencil of Nature wird ganz explizit das Ziel ausgegeben, die Meriten der Kalotypie bekannt zu machen und damit der Daguerreotypie nachzuziehen: The Daguerreotype is now well known to the public, having been extensively used for taking portraits from the life, while the English art (called Photogenic Drawing, or the Calotype) has been hitherto chiefly circulated in private societies, and is consequently less generally known. It has been thought, therefore, that a collection of genuine specimens of the art, in most of its branches, cannot fail to be interesting to a large class of persons who have hitherto had no opportunity of seeing any well-executed specimens.16

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In The Photobook von Martin Parr und Gerry Badger wird Werkhaftigkeit als Bestimmungsstück des Fotobuchs gesetzt, ohne diese im Fall von The Pencil of Nature zu problematisieren; vgl. Parr, Martin/Badger, Gerry: The Photobook. A History, Bd. 1, London/New York: Phaidon 2002, S. 6-11 u. S. 22. Vgl. Armstrong, Carol: Scenes in a Library. Reading the Photograph in the Book, 1843-1875, Cambridge, Mass./London: MIT Press 1998, S. 20 u. S. 110-112. A Monthly List of New Books XX, S. 79, sowie die Wiederabdrucke der Anzeige. Die geringere Verbreitung der Kalotypie hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass die Daguerreotypie weltweit – bis auf England und Wales – lizenzfrei praktiziert werden konnte, während Talbots Verfahren durch ein Patent geschützt war.

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Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass Talbot den vielfach ausgestellten Daguerreotypien der Pariser Boulevards eine kalotypierte Version hinzufügt. So ordnet sich die Kalotypie des Boulevard des Capucines ebenso in die Reihe der existierenden Daguerreotypien ein wie in die Auffächerung fotografischer Bildmotive, die The Pencil of Nature of Nature zusammenstellt.

Abb. 1: Henry William Fox Talbot: »View of the Boulevards of Paris«

Salzpapierabzug, 1843, Bildgröße: 16,4 × 21,4 cm, 1844 publiziert in Talbot: The Pencil of Nature, Tafel II, [Sammlung: The J. Paul Getty Museum, Los Angeles].

In der Fototheorie wird die Tafel II (Abb. 1) vor allem in Bezug auf die fotografische Darstellung von Details zitiert. Talbot fordert auf, man solle die Fülle der abgebildeten Schornsteine bewundern, »for the instrument chronicles whatever it sees, and certainly would delineate a chimney-pot or a chimney-sweeper with the same impartiality as it would view the Apollo of Belvedere.«17 Darüber hinaus werden implizit weitere Eigenschaften des fotografischen Bildes angesprochen, so die Bedeutung der raumzeitlichen Situierung, indem Talbot ausführt, an welchem Ort, zu welcher Zeit und unter welchen Lichtverhältnissen er seine Kalotypie aufgenommen hat und wie sich diese Umstände im Bild niedergeschlagen haben. Schließlich – und das ist in Bezug auf das Folgende wesentlich – thematisiert die Beschreibung das Verhältnis der Fotografie zur Darstellung menschlicher 17

Talbot, Henry William Fox: The Pencil of Nature, London: Longmans 1844-1846, np. Plate II.

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Aktivität. Dem Akzent auf die neutrale, nicht subjektiv gefilterte Darstellungstechnik steht nämlich, ohne dass es Talbot ausspricht, entgegen, dass keine Menschen auf dem Boulevard zu sehen sind. Um dies zu kompensieren, interpretiert Talbot die Spuren, die menschliche Aktivitäten im Bild hinterlassen haben: they have just been watering the road, which has produced two broad bands of shade upon it, which unite in the foreground, because, the road being partially under repair (as is seen from the two wheelbarrows, &c. &c.), the watering machines have been compelled to cross to the other side.18 In einer mise-en-abyme wird der Spurcharakter der Fotografie so noch einmal verdoppelt und ins Bild hinein verlegt: So wie eine Fotografie als indexikalischer Verweis auf einen bestimmten Raum-Zeit-Ausschnitt interpretiert werden kann, so ist die Verfärbung der staubigen Straße die Spur einer vergangenen Aktivität, die den Boulevard bewässerte. Weiterhin werden die Leser/Betrachter auf Kutschen hingewiesen, die am Straßenrand auf Gäste warten, sich also künftig bewegen werden. Mit diesen Kunstgriffen versucht die Beschreibung die Menschenleere des abgebildeten Boulevards zu kompensieren, ohne explizit auf sie hinzuweisen. So überspielt Talbot die Diskrepanz, dass mit der bewegten Wirklichkeit ein zentrales Moment dessen, was die Stadt ausmacht, aus dem fotografisch fixierten Ausschnitt herausfällt. Indem die Beschreibung unseren Blick über den Reichtum all dessen führt, was auf der Aufnahme zu sehen ist, lenkt sie von dieser Leerstelle des fotografisch Unsichtbaren ab und lädt die Betrachter ein, das auf dem Bild fehlende Leben imaginär zu ergänzen.19 Dass die fotografierte Stadt zunächst nur aus unbeweglichen, größtenteils steinernen Objekten bestand, war schon den frühesten Betrachtern von Daguerreotypien aufgefallen. Weil die Fotografien die Wirklichkeit ansonsten so minutiös aufzeichneten, fiel das Verschwinden aller bewegten Objekte besonders auf.20 Diesen Zwiespalt bringt ein österreichischer Kunstkritiker auf den Punkt, der eine 1839 in 18 19

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Ebd. Das Unvermögen der Fotografie, bewegtes Stadtleben fotografisch festzuhalten, taucht in The Pencil of Nature doch noch auf, kurioserweise an einer Stelle, wo Menschenleere nicht als Defizit ins Auge fällt, weil dort ein paar Männer posiert haben, um der langen Belichtungszeit ein Schnippchen zu schlagen: »If we proceed to the City, and attempt to take a picture of the moving multitude, we fail, for in a small fraction of a second they change their positions so much, as to destroy the distinctness of the representation.« H. Talbot : The Pencil of Nature, Tafel XIV. Vgl. Rice, Shelley : »Paris en daguerréotypes : un moment et non un lieu«, in : Paris-Musées (Hg.), Paris et le daguerréotype, Paris : Paris Musées 1989, S. 15-21. Interessant ist, dass Daguerre dieselbe Strategie der imaginären Belebung verfolgt, wenn er den ihn im Jahr 1839 besuchenden Alexander von Humboldt dazu auffordert, auf einer Daguerreotypie des Louvre nach darauf eingefangenen Strohhalmen zu suchen, um in diesem Detail die Spur eines vorbeigefahrenen Wagens zu erkennen; siehe den Brief von Alexander von Humboldt an Carl

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Wien veranstaltete Ausstellung einiger Daguerreotypien rezensiert. Während ihn bei der Fotografie eines Interieurs die Menschenleere nicht zu irritieren scheint, empfindet er sie bei einem Motiv aus Paris als unpassend. Dieses Bild, »den Dom Notredame präsentirend, hat die Dimensionen einer Landschaft en miniature, sieht aber als eine solche betrachtet, kahl und leblos aus, da es von jeder Art der Staffage entblößt ist.«21 Das verwendete Vokabular legt nahe, dass die Irritation nicht primär aus dem Abgleich mit der vorausgesetzten Bewegtheit urbanen Lebens herrührt, sondern vielmehr aus der Abweichung zur Darstellungskonvention, die bei einer Ansicht aus einer Stadt eben »Staffage« verlangt. Wie die Fotografie sich in dieser Hinsicht zu tradierten Bildmedien positioniert, lässt sich am besten in einer Publikation erkennen, die fotografiebasierte Stadtdarstellungen in verschiedenen Reproduktionsverfahren – fotomechanischen wie händisch-künstlerischen – miteinander konfrontiert. Weil sich die Direktpositive der Daguerreotypie, anders als Talbots Kalotypien, nicht für die Reproduktion eigneten, profitierte zunächst die Druckgrafik vom neuen Bildmedium und setzte die Aufnahmen manuell in Lithografien, Radierungen und Stiche um. Gerade mit Stadtansichten von Paris wurden rasch einige Alben auf den Markt geworfen,22 die in plakativen Titeln wie Paris daguerréotypé eine Beziehung zum neuen Medium herstellten, die man den Bildern meist nicht ansah.23 Die Affinität der druckgrafischen Umsetzungen zu Stadtdarstellungen ergab sich an der Schnittstelle der Nachfrage auf dem Markt für Drucke zu den abbildungstechnischen Möglichkeiten der Daguerreotypie. Mit den Excursions daguerriennes erscheint ab 1840 ein ambitioniertes Lieferungswerk, das dezidiert das Fotografische in den Vordergrund stellt, um die Realitätsstreue der versammelten Stadtansichten zu markieren: »Grâce à la précision soudaine du Daguerréotype, les lieux ne seront plus reproduits d’après un dessin toujours plus ou moins modifié par le goût et l’imagination du peintre.«24

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Gustav Carus vom 25.2.1839, zit.n. Schwarz, Ingo: »Carl Gustav Carus und Alexander von Humboldt – Briefwechsel«, in: HiN X.18 (2009), S. 5-29, hier S. 11-12. Preyßner, Karl: »Aus der Kunstwelt«, in: Allgemeine Theaterzeitung und Originalblatt für Kunst, Literatur, Musik, Mode und geselliges Leben 32 (31.8.1839), S. 847. Vgl. Paris-Musées (Hg.) : Paris et le daguerréotype, Paris : Paris Musées 1989, S. 259-261. Paris daguerréotypé lautete der auf die einzelnen Tafeln gedruckte Titel einer durchnummerierten Serie von Lithografien, die buchförmig zusammengefasst wurde als Philippon, Charles (Hg.): Paris et ses environs reproduits par le daguerréotype, Paris: Aubert et Cie . 1840. Die zweifarbig gedruckten Lithografien negierten freilich sowohl vom optischen Eindruck her, der eher summarisch als detailorientiert ausfällt, als auch in der durchgehenden Ausgestaltung bewegter Situationen (besonders markant in der Marktszene auf Tafel Nr. 4) die Herkunft aus der Daguerreotypie. Lerebours, Noël-Paymal : »Avis de l’éditeur«, in : André Rouillé (Hg.), La Photographie en France. Textes & Controverses: une Anthologie, 1816-1871, Paris: Macula 1989, S. 60-61, hier S. 60. Die in dieser Edition fehlerhafte Angabe des Verfassernamens wurde berichtigt.

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Um dem optischen Eindruck der scharf zeichnenden Daguerreotypien möglichst nahe zu kommen, hatte sich der Verleger Noël-Paymal Lerebours gegen die kostengünstigere Anfertigung von Lithografien und für die Aquatinta-Radierung entschieden.25 Um die fotografischen Abbildungen möglichst exakt zu übertragen, griff man auf fotografieaffine, da den Interpretationsspielraum minimierende Reproduktionsverfahren zurück. Zunächst wurde die Daguerreotypie auf Papier durchgepaust und dann die entstandenen Konturen mit dem Stichel auf die Stahlplatte übertragen.26 In gewissem Widerspruch zur Unparteilichkeit der Daguerreotypie, die Lerebours selbst ja zur Interpretation des Malers kontrastiert, besteht er zugleich darauf, dass in der Ausgestaltung durchaus künstlerische Elemente erhalten bleiben, dass mathematische Genauigkeit und Inspiration integriert werden.27 Am sinnfälligsten wird die Vermittlung der Fotografie mit der tradierten Bildkultur, wenn in den Tafeln der Excursions daguerriennes Staffagefiguren die Bildräume beleben, die in den daguerreotypierten Vorlagen nicht vorhanden sein konnten. Diese mutwillige Ergänzung lässt sich durchaus als implizite Kritik am Abbildungsvermögen der Daguerreotypie verstehen, deren scheinbar unparteiliche Genauigkeit in prekärem Kontrast zur unübersehbaren Auslöschung aller bewegten Objekte stand. Das Geleitwort moderiert allerdings den Bruch zur Fotografie : »Les vues gravées seront animées par des figures. Lorsque les épreuves faites sur les lieux n’en auront pas, on y suppléera par quelques groupes pris dans des croquis tracés d’après nature dans les mêmes

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Zu datieren ist die Verlagsmitteilung mit Sicherheit auf das Jahr 1840, weil es im Futur das Lieferungskonzept (für den ersten Band) ankündigt: »Ce nouveau recueil sera publié par livraisons de quatre planches, accompagnés d’un texte explicatif dû à des écrivains distingués.« Ebd., S. 61: »C’est parce que l’aqua-tinte est le genre qui ressemble le plus à la nature, qu’on s’y est arrêté. On a choisi l’acier pour base de travail, parce qu’il permet d’unir la finesse à la solidité.« Mit einer klareren Betonung der Nähe zur fotografischen Vorlage siehe Lerebours, N[oël].-P[aymal].: »Avis aux souscripteurs« [1843], in: ders. (Hg.), Excursions daguerriennes, 2. Bd., Paris : N.-P. Lerebours 1843-1844, o.S. : »nous avions choisi l’aquatinte parce que c᾽est le genre qui se rapprochait peut-être le plus des modèles que nous avions à reproduire.« Eine solche Durchpausung aus einer anderen Umsetzung ist dokumentiert in Paris-Musées (Hg.): Paris et le daguerréotype, Paris: Paris Musées 1989, S. 260, Abb. 2. Für eine exemplarische Gegenüberstellung von – spiegelverkehrter – Daguerreotypievorlage und Radierung siehe Bajac, Quentin/Planchon-de Font-Réaulx, Dominique (Hg.): Le daguerréotype français. Un objet photographique, Paris : Réunion des Musées Nationaux 2003, S. 356-357. N.-P. Lerebours : »Avis de l’éditeur«, S. 60-61 : »La préparation première, toute mathématique, la justesse rigoureuse des lignes principales ne refroidissent pas l’œuvre et ne gênent en rien l’inspiration de l’artiste. Après avoir obtenu le report sur acier d’un calque à la pointe sèche, par lequel la marche du travail se précise, la part spéciale de l’artiste, dans l’exécution, est de compléter par la couleur l’expression des sites, des monuments ou des objets représentés.« Hier spielt Lerebours auf die Handkolorierung an, die für die gedruckten Exemplare der ersten Serie zur Wahl stand.

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localités.«28 Es handelt sich also nicht einfach um eine formelhafte Ergänzung von Staffage. Vielmehr werden die Betrachter darauf hingewiesen, dass die Figuren auf den Stichen – ebenso wie die Daguerreotypien – vor Ort aufgenommen wurden. Unabhängig davon, ob dies auch tatsächlich der Fall war, wird im Vorwort zu den Excursions daguerriennes die Mediendifferenz von technischer und künstlerischer Abbildung gestärkt, indem sie zumindest teilweise relativiert wird. Talbot kannte die Umsetzungen der Daguerreotypie in Druckgrafik, erwähnte er diese doch, um seine Publikation des Pencil of Nature dagegen zu kontrastieren. In den Vorankündigungen betont er, dass sein Positiv-Negativ-Verfahren die Vervielfältigung ohne einen solchen Medienwechsel erlaube: It must be understood that the plates of the work now offered to the public are the pictures themselves, obtained by the action of light, and not engravings of them. This explanation is necessary, because some well-executed engravings have been published in France in imitation of photography, but they want the character of truth and reality which that art so eminently possesses. Indeed it is easy to see at once that the figures of men and animals in the foreground of the French engravings have been added only from the artist’s fancy. The plates of the present work will be executed with the greatest care, entirely by optical and chemical processes. It is not intended to have them altered in any way, and the scenes represented will contain nothing but the genuine touches of nature’s pencil.29 Zu Recht lenkt Talbot den Blick auf die Staffagefiguren, um seine fotografischen Abzüge von der druckgrafischen »imitation of photography« abzuheben. Solange fotografische Abbildungsverfahren nicht in der Lage sind, bewegte Menschen abzubilden, gibt es kein Bildelement, das die Differenz beider Abbildungsverfahren deutlicher anzeigt. Zweischneidig erweist sich die Argumentation, den gegenüber der grafischen Abbildung gesteigerten Realitätsanspruch der Fotografie gerade am Fehlen der »figures of men and animals« festzumachen, ließe sich doch ebenso ausführen, dass die Hand des Künstlers nur das manuell hinzufügt, was die technische Abbildung ausblendet und dennoch notwendig ist, um den Realitätseindruck zu komplettieren. Talbot scheint das Fehlen von Personen auf seinen Kalotypien indes nicht als Abweichung von der Wirklichkeit, sondern lediglich von einer nicht objektivierbaren künstlerischen Konvention anzusehen. Aus Talbots Bemerkungen darf man folgern, dass er die Excursions daguerriennes zwar kannte, dass er aber den erst im Frühjahr 1843 begonnenen Folgeband noch nicht gesehen hatte, dessen erste Lieferungen bereits erschienen waren, als

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Ebd., S. 61. Siehe textgleich die Anzeigen in A Monthly List of New Books Published in Great Britain sold by Mr. C. Muquardt, XX (1.3.1844), S. 79; XXI (1.4.1844), S. 83; XXII (1.5.1844), S. 87; XXIII (1. 6.1844), S. 91.

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die Vorbereitungen für The Pencil of Nature einsetzten.30 Die mehr als ein Jahr nach Abschluss eines ersten Bandes von 60 Tafeln aufgenommene Fortsetzung wusste mit einer Neuerung aufzuwarten, durch welche die Mediendifferenz zwischen Druckgrafik und Fotografie nicht diskursive Behauptung blieb, sondern für alle anschaulich zu greifen war. Im Avis aux Souscripteurs gibt Lerebours an, dass die lange Verzögerung aus dem Warten auf eine technische Reproduktionsmöglichkeit resultierte. In der Zwischenzeit hatte der Physiker Hippolyte Fizeau ein Verfahren entwickelt, mit dem man eine belichtete Daguerreotypie so ätzen konnte, dass sie eine brauchbare Tiefdruckplatte ergab.31 Die Druckplatte entstand damit nicht mehr durch manuelle Umsetzung und künstlerische Interpretation, sondern technisch durch chemische Einwirkung auf die fotografische Abbildung. Da die chemische Anfertigung der Druckplatte mit der mechanischen Herstellung im Druck zusammengeht, handelt es sich um ein frühes Experiment in fotomechanischer Vervielfältigung. Gleich mit der den zweiten Band eröffnenden Lieferung erhielten die Subskribenten eine erste Tafel, die mit Fizeaus Prozess erstellt war. Aufgrund von Schwierigkeiten bei der Herstellung wurden allerdings nur drei von 52 Bildtafeln fotomechanisch erzeugt. Im Hintereinander der Tafeln braucht es aber auch nicht mehr, um den Bruch zwischen beiden Verfahren, zwischen künstlerischer und technischer Reproduktion, sinnlich nachvollziehen zu können.32 Die Vergleichbarkeit wurde nicht zuletzt durch eine gegenüber dem ersten Band gesteigerte thematische Homogenität unterstützt. Kamen im ersten Band 60 Ansichten zusammen, die von Reisen durch verschiedene europäische Länder, den Nahen Osten, Nordafrika und Nordamerika mitgebracht worden waren, so legte der zweite Band den Schwerpunkt explizit auf die Denkmäler Frankreichs. Zu den vier Tafeln zu Paris, die schon der erste Band enthalten hatte, trat im zweiten Band eine Folge von fünfzehn Bildern hinzu. Die Einfügung der Bilder in das gebundene 30

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Dass Talbot die Excursions Daguerriennes gesehen hatte, ist umso wahrscheinlicher, als diese auch in London zu subskribieren waren; siehe hierzu den Prospekt zum 2. Band, den Nouvelles excursions daguerriennes, in : Lerebours, N[oël].-P[aymal]. : Traité de Photographie. Derniers perfectionnements apportés au Daguerréotype, Paris : N.-P. Lerebours 4 1843, Anzeigenanhang, S. 15. Zur Lieferfolge der Excursions Daguerriennes siehe Giles Hudson : »Dating Excursions daguerriennes«, in : matters photographical, 24.11.2018, https://mattersphotographical. wordpress.com/2018/11/24/excursions-daguerriennes/ Das Verfahren wird in seinen Prinzipien skizziert in der Beschreibung zur ersten nach diesem Verfahren reproduzierten Tafel »Un des bas-reliefs de Notre-Dame de Paris«, in: N.-P. Lerebours: Excursions daguerriennes, 2. Bd., o.S. Eine ausführlichere technische Beschreibung findet sich in Lerebours, [Noël-Paymal]/Secretan, [Marc]: Traité de Photographie, 5. Aufl., Paris: Lerebours et Secretan 1846, S. 210-215. Siehe N.-P. Lerebours : »Avis aux souscripteurs« : »Nos souscripteurs remarqueront que la planche ci-jointe a été obtenue par des moyens purement chimiques, et sans aucune retouche d’artiste; nous n᾽avons pas hésité à la présenter telle qu᾽elle est, pensant bien qu᾽on apprécierait les ressources immenses qu᾽un habile graveur saurait tirer d᾽un pareil résultat.«

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Endergebnis ist insofern bemerkenswert, als sich die finale Anordnung grundsätzlich von der ausgelieferten Reihenfolge unterschied. Die jeweils vier Tafeln einer Lieferung setzten sich mal mehr, mal weniger miszellan zusammen, so dass sie jeweils für den Themenumfang des Gesamtprojekts einstehen konnten. Weil die Tafeln selbst weder nummeriert noch paginiert ausgeliefert wurden, war ihnen die spätere Ordnung nicht schon eingeschrieben. Auch das zweiseitig bedruckte Textblatt, das jeder Tafel beigegeben wurde, gab keine logische Ordnung zwischen den einzelnen Blättern vor, sondern entwickelte einen in sich geschlossenen Zugriff auf das jeweilige Motiv.33 Erst das der jeweils letzten Lieferung beigegebene Inhaltsverzeichnis unterlegt den Bildtafeln dann eine alphabetische Ordnung, die auf der obersten Hierarchieebene Länder, auf der zweiten Ebene die Orte in diesem Land sortierte.34 Die Anordnung folgt damit gewissermaßen der Logik eines Registers. Jedenfalls sorgte das Prinzip dafür, dass alle Bilder von Paris hintereinander folgten. Die gleich zu Beginn ausgelieferte, mit Fizeaus Prozess fotomechanisch erstellte Tafel, ein Relief von der Kathedrale Notre-Dame darstellend, fand ihren Platz also nicht am Anfang des Bandes, sondern inmitten der Pariser Ansichten, als Abschluss von vier Tafeln zu Notre-Dame: eine Gesamtansicht der Fassade, anschließend, gewissermaßen herangeschnitten, deren Portalzone, dann eine Ansicht auf den Chor vom Seineufer aus, sowie eben das besagte Relief als Ausschnitt, dessen Position in der Architektur im Kommentar allerdings nicht einmal erwähnt wird. Ans Ende der ›Bildstrecke‹ zu Notre-Dame gehängt, gibt die fotomechanisch reproduzierte Tafel einzig Anlass, »[l]es merveilleux résultats photographiques récemment obtenus« zu lobpreisen und über die Chancen, die in der drucktechnischen Umsetzung von Fotografie liegen, nachzudenken: »La chimie remplace ici graveurs et dessinateurs.«35 Diese Tafel, die als Detail aus dem Motivrepertoire der

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Das schließt nicht aus, dass manchmal kuriose Effekte entstehen, so wenn der Text zur als erster eingebundenen Abbildung von Notre-Dame mit einer Bemerkung einsetzt, die von der Reihenfolge der zugrunde liegenden Lieferungen zeugt: »Voici la quatrième fois que la cathédrale de Notre-Dame de Paris fournit un sujet à nos excursions«; Anonym: »NotreDame«, in: N.-P. Lerebours: Excursions daguerriennes, 2. Bd, o.S. Zur Variabilität der BildSchrift-Verbindungen in den Excursions siehe Marta Caraion: Pour fixer la trace: photographie, littérature et voyage au milieu du XIXe siècle, Genf: Droz 2003, S. 91-100. Die Gestaltung der Tafeln und Lieferungen präjudizierte keine bestimmte Ordnung, so dass nach Abschluss der Lieferungen auch andere Bindungen angeboten werden konnten. So wurden die Bilder aus der ersten und der zweiten Lieferung kombiniert und in einer analogen Logik zu den Lieferungsbänden gegliedert: Das erste Album umfasste die Bilder aus Frankreich, das zweite die aus Italien, das letzte die übrigen Länder; vgl. N.-P. Lerebours/M. Secretan: Traité de Photographie, S. 280. Challamel, Joseph : »Un des bas-reliefs de Notre-Dame de Paris«, in : N.-P. Lerebours : Excursions daguerriennes, 2. Bd, o.S.

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Excursions eigentlich herausfällt, fungiert primär als Exemplar des neuen Druckverfahrens. Für den Medienvergleich der Stadtdarstellungen relevant ist hingegen die Abbildung, mit der die lange Reihe von Pariser Motiven eingeleitet wird. Es handelt sich dabei um die fotomechanische Wiedergabe einer Daguerreotypie des Hôtel de Ville, aufgenommen vom Rive Gauche der Seine, so dass der räumliche Kontext des Gebäudes – der Rathausvorplatz wie auch der im Vordergrund liegende Pont d’Arcole – ins Bild gerückt werden (Abb. 2).

Abb. 2: Noël-Paymal Lerebours: »Hôtel-de-Ville de Paris«

Druck einer mit dem »procédé Fizeau« geätzten Daguerreotypie, 1843-1844, Bildgröße: 13,5 × 19,1 cm, Seitengröße: 26 × 38 cm, in: Lerebours: Excursions Daguerriennes, 2. Bd, n.p.

Der Vorplatz fällt durch seine relative Helligkeit als leere Fläche ins Auge, die nur am Rand durch Schattenwürfe und ein paar parkende Kutschen belebt wird. Vom rechten Bildrand in die Tiefe führt die Brücke, die scheinbar zu nichts dient, weil sich niemand über sie bewegt. Der Eindruck ist der einer gespenstisch entleerten Stadt, umso mehr, als der zugehörige Text anders als Talbots Beschreibung nicht anregt, die Flächen imaginär mit Leben anzufüllen, sondern lediglich Ereignisse aus der Geschichte des Pariser Rathauses aufzählt. Die einzige fotomechanisch erstellte Stadtansicht36 sticht gegenüber den sie umgebenden Radierungen 36

Bei der dritten Abbildung, die die Angabe »gravée par le procédé Fizeau« trägt: »Maison élevée Rue St . Georges par M. Renard« (und die im Inhaltsverzeichnis nicht auftaucht), handelt

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heraus, weil diese sämtlich durch Figuren belebt sind. Im Park der Tuilerien sieht man beispielsweise Spaziergängerinnen und spielende Kinder, der Arc de Triomphe wird von einigen Besuchern besichtigt und von ein paar Kutschen umrundet. Die dargestellten Figuren sind dem Ort angepasst und unterstreichen anekdotisch dessen Bedeutung, stellen aber kaum so etwas wie urbanes Leben dar. Außerdem werden Personen im Bildraum als Maßfiguren benötigt, die – verschwindend klein in Szene gesetzt – die immense Größe der architektonischen Monumente erfahrbar machen. Mehr als eine Ergänzung im Sinne der Naturtreue liegen hier Muster romantischer Stadt- und Landschaftsdarstellung vor, die das faktografische Interesse hinter ästhetischem Wohlgefallen einsortieren.37 Es könnte der Eindruck entstehen, dass die manuelle Umarbeitung der Aufnahme in die Druckplatte sogar gewollt ist, um die Defizite der Fotografie korrigieren zu können, statt das Eigenartige der neuen Bildform zu konservieren. Mit Blick auf die in den verschiedenen Reproduktionsweisen von Fotografien artikulierte Mediendifferenz wird man allerdings davon ausgehen müssen, dass die Entleerung des Stadtraums von bewegten Objekten tolerierbar ist, sobald ein Bild erkennbar fotografisch ist. Der Reiz früher fotografischer Stadtbilder, ob kalotypiert oder daguerreotypiert, basiert darauf, dass die diverse Fülle dessen, was sich an Unbewegtem in die Bilder eingeschrieben hat, hinreichend Leben aufweist. Mit einem kursorischen Blick auf ein drittes Lieferungswerk, das nun ganz der französischen Hauptstadt gewidmet ist, möchte ich der Frage auf den Grund gehen, was solche Stadtdarstellungen motiviert, auf denen, technisch bedingt, maßgebliche Aspekte des Städtischen ausgeklammert bleiben. Ende 1852 nahm der renommierte Kunstverleger Goupil die Lieferungen für Paris photographié. Vues et monuments auf.38 Die dreißig Tafeln, auf die das Werk angelegt war, erschienen in Lieferungen zu je fünf auf Karton aufgezogenen Salzpapierabzügen, die auch separat zu erwerben waren.39 Auf schriftliche Erläuterungen verzichtet dieses Lieferungswerk völlig. Der Karton, auf den die Abzüge montiert sind, trägt den Titel der Serie sowie die laufende Nummer der Platte, die Bezeichnung des Motivs, den Namen des Fotografen sowie Verleger und Kopieranstalt. Auch dieses ›fotografierte Paris‹, für das François Auguste Renard, seines Zeichens Architekt, den Großteil

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es sich um die daguerreotypierte Reproduktion eines anderen Bildes, einer Architektenzeichnung der Fassade eines Pariser Wohnhauses. Vgl. M. Caraion : Pour fixer la trace, S. 90. Anonym : Paris Photographié. Vues et moments, Paris : Goupil 1852 [Fotografien von FrançoisAuguste Renard et Charles-Henri Plaut]. Zu den Kopieranstalten, die sich daran versuchten, Abzüge für solche Publikationen in möglichst großer Zahl, in konstanter Bildqualität und dazu noch kostengünstig zu produzieren, vgl. Renié, Pierre-Lin: »De l’imprimerie photographique à la photographie imprimée«, in: Études photographiques 20 (2007), http://journals.openedition.org/etudesphotographiques/925.

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der Aufnahmen besorgte, wird von Stein dominiert, der sich die Bildfläche nur mit Straße und Himmel, manchmal auch mit der Seine und ein paar eingesprenkelten Bäumen teilen muss. An die Stelle des spontanen Blicks aus dem häuslichen Fenster, mit dem die Fotografie von Paris begann, sind auch hier die mittlerweile geläufigen, allmählich als Wahrzeichen der Stadt kanonisierten Motive gerückt, die größtenteils schon für die Excursions daguerriennes ausgewählt worden waren: Notre-Dame, der Louvre, die Place de la Concorde, der Arc de Triomphe…: eine homogene, kaum miszellane Zusammenstellung der Bauwerke einer Stadt.40 Die entsprechenden Ansichten, nicht zuletzt die des Hôtel de Ville, unterscheiden sich nur geringfügig von ihren daguerreotypierten Vorläufern, weil sie von einem vergleichbaren Standpunkt aufgenommen wurden. Sie gleichen den ein Jahrzehnt älteren Fotografien weiterhin, indem sie nach wie vor keine der sich auf den Straßen bewegenden Passanten und Verkehrsmittel verzeichnen (Abb. 3). Manche Zeitgenossen scheint dies aber nicht zu stören. Vielmehr wird die Freistellung der Bauten von allem Ablenkenden als besondere Leistung gewürdigt, die helfe, die Stadt zu verstehen. So schreibt Ernest Lacan im seinerzeit gewichtigsten Pariser Fotografie-Organ La Lumière: Les monuments de Paris sont en quelque sorte l’histoire de son passé, écrite en lettres de pierre par les générations elles-mêmes. Les grandes époques, les grands règnes ont tracé tour à tour leur page impérissable de ce livre sublime […]. Que de variété, que de contrastes, que d’enseignements dans ces admirables chefsd’œuvre que nous rencontrons à chaque pas dans Paris, et devant lesquels nous passons indifférents! En les isolant et en les offrant à l’œil avec tous leurs détails, la publication de M. Renard nous force à leur rendre l’admiration que nous leur devons.41 Diese Sicht auf das steinerne Paris geht darauf zurück, dass man die gebaute Stadt als eine Ablagerung von Geschichte entdeckt hatte, die es – sogar über die großen Monumente hinaus – zu würdigen und wenigstens bildlich zu konservieren galt. Zunächst in Zeichnungen, bald aber schon in Fotografien, wurde die Architektur

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Lacan, Ernst : »Paris photographié. Vues et monuments. Par M. Renard«, in : La Lumière 3, 5 (29.1.1853), S. 18-19, hier S. 19 führt die ersten zwanzig Motive auf : »le Louvre, les Invalides, la place de la Concorde, les Tuileries, l᾽Arc-de-Triomphe de l’Étoile, l᾽église Saint Étienne-duMont, la place Vendôme, l᾽abside de Notre-Dame, le Pont-Royal, le quai de l’Horloge, l’église Notre-Dame, une vue prise du pont de la Concorde, l’Institut, l’Hôtel-de-Ville, le Panthéon, la tour de l’Horloge au Palais-de-Justice, la gare du chemin de fer de Strasbourg, Saint-Vincentde-Paul et la colonne de Juillet.« E. Lacan : »Paris photographié«, S. 19. Mit scharfem Blick identifiziert Lacan durchaus Spuren der Zeitlichkeit, wenn er die fotografische Fixierung von mittlerweile Verschwundenem ebenso erwähnt wie den Effekt der Langzeitbelichtung auf die Darstellung eines Springbrunnens.

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Abb. 3: François-Auguste Renard: »Eglise Saint-Étienne de Mont«

Salzpapierabzug, 1852, Bildgröße: 16 × 22 cm, Seitengröße: 30 × 42,3 cm, in: Paris photographié, Tafel 7.

einer Stadt dokumentiert, die sich gerade einer radikalen Erneuerung unterzog. Fotografen wie Henri le Secq in den 1850er Jahren oder Charles Marville in den 1870ern wurden beauftragt, die Teile von Paris, deren Zerstörung bevorstand, wenigstens in Bildform für die Nachwelt zu erhalten. Insbesondere als Mittel, um stadtgeschichtliche Darstellungen zu illustrieren, wurden die exakten und repro-

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duzierbaren fotografischen Dokumente geschätzt.42 Zugespitzt wird der Fokus auf die steinerne Stadt im Begriff des Monuments, der bereits für das Programm der Excursions daguerriennes leitend war.43 Die Betrachtung von Paris als eine Sammlung ausgewählter Monumente wurde dadurch befördert, dass im 19. Jahrhundert nicht mehr allein Überreste der Antike als denkmalwürdig galten und man zunehmend auch jüngere bauliche Zeugnisse, etwa die aus dem Mittelalter stammenden Kirchen, als künstlerische Leistung schätzte.44 Für diese Auffassung der Stadt war das Leben auf der Straße sekundär. Um der Geringschätzung des auf den Straßen wimmelnden Lebens den Gipfel aufzusetzen, sinniert Lacan darüber, wie wohltuend es doch sei, die riesenhaften Bauten in seinem Sessel zu betrachten, statt sich den Unannehmlichkeiten der Straße aussetzen zu müssen: C᾽est quelque chose aussi que de pouvoir, tout en restant dans son fauteuil, au coin de son feu, contempler à loisir les gigantesques portails, les frontons animés, les colonnades majestueuses, sans craindre le chariot qui vient, ou le passant qui vous heurte, ou la pluie qui tombe. Comme on étudie bien aussi et comme on comprend mieux!45 Der Pariser Lacan behauptet hier keck, die Sesselreise dem schlichten Gang vor die Haustür vorzuziehen. Die von Menschen entleerte Stadtdarstellung der frühen Fotografie korrespondiert ideal mit einem Blick, der das Treiben auf den Straßen nicht vermisst, sondern sich freut, dies ignorieren zu dürfen. Er distanziert sich vom Belebten als wesentlichem Teil der Stadt, ohne dessen Fehlen auf den Bildern überhaupt noch zu erwähnen – es ist für Fotografiekundige wohl auch zu erwartbar.

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Vgl. de Wolf, Joke : »›Documents, vues et reproductions‹. Parisian photographs as administrative viewing tool«, in: Steffen Haug/Gregor Wedekind (Hg.), Die Stadt und ihre Bildmedien. Das Paris des 19. Jahrhunderts, Paderborn: Wilhelm Fink 2018, S. 73-91; Clark, Catherine E.: Paris and the Cliché of History. The City and Photographs, 1860-1970, Oxford: Oxford UP 2018, S. 13-21. So im Prospekt für die zweite Serie in N.-P. Lerebours: Traité de photographie, Werbeanhang, S. 12, der das fortgesetzte Aufzeichnen sämtlicher Denkmäler als Fluchtpunkt definiert: ein Projekt, »qui ne sera jamais complet tant qu’un monument, ancien ou moderne, n’aura pas conquis sa place dans cet admirable album des temps passés et du temps présent.« Diese Erweiterung wird in den Excursions Daguerriennes auch explizit thematisiert; vgl. z.B. den Text von de Contencin: »Métropole de Reims«, in: N.-P. Lerebours: Excursions Daguerriennes, 2. Bd., o.S. E. Lacan : »Paris photographié«, S. 19.

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Stadt, foule und Momentfotografie In seiner Besprechung von Paris photographié lobt Lacan, wie unverstellt diese Publikation den Akzent auf die Monumente lege. In diesem Zusammenhang wird das Unvermögen der Fotografie, bewegte Objekte zu fixieren, in die Leistung umgedeutet, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und die dauerhaften Spuren der Vergangenheit zu isolieren. Das bewegte Geschehen, das beim Gang durch die Straßen die Wahrnehmung auf sich zieht, erscheint als störende Ablenkung, der sich durch die Kontemplation der Architekturfotografien entkommen lässt. Erst wenn die Fotografie das Akzidenzielle abgezogen hat, wird die in Stein eingeschriebene Stadtgeschichte eigentlich freigelegt. Andere Zeitgenossen widersetzen sich einer solchen auf die Spuren der Vergangenheit reduzierten Betrachtung und feiern stattdessen gerade die Bewegung, die durch den architektonisch aufgespannten Raum wogt. Die Essenz der Stadt bildet für sie die überfordernde Fülle gleichzeitiger Eindrücke, das Fragmentierte, Instabile und Flüchtige, die Menschenmenge, die sich auf den Boulevards bewegt. Gerade in Bezug auf Paris wird diese neue Auffassung der Stadt, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts Ausdruck verschafft, verbunden mit einer neuen ästhetischen Erfahrung, als deren Protagonist eine neue Figur hervortritt: der Flaneur.46 Der heute bekannteste Protagonist solch einer ›romantischen‹ Perspektive auf die Stadt ist der französische Dichter Charles Baudelaire, der in der Stadt das Zeitgemäße, mit anderen Worten: das Moderne, findet und ins Zentrum der ästhetischen Praxis rückt. Das Ziel eines Peintre de la vie moderne, so der Titel seines berühmten, 1863 zunächst in drei Lieferungen publizierten Essays, bestehe darin, gerade im Gegenwärtigen und Flüchtigen das Schöne und historisch Gültige zu entdecken und Form werden zu lassen: »La modernité, c᾽est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l᾽art, dont l᾽autre moitié est l᾽éternel et l᾽immuable.«47 Inbegriff des modernen Lebens ist für Baudelaire die Großstadt, auf deren Boulevards die »foule«, die Menge, entlangfließt. Um hier mitspielen zu können, muss der moderne Künstler selbst Flaneur werden, mit der Menge mitschwimmen, um die chaotische Komplexität des durch und durch bewegten Stadtraums selbst zu erfahren. Der Flaneur lebt in der Menge, ist zugleich Teil und Beobachter:

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Turcot, Laurent : »Promenades et flâneries à Paris du XVIIe au XXIe siècle. La marche comme construction d’une identité urbaine«, in : Rachel Thomas (Hg.), Marcher en ville. Faire corps, prendre corps, donner corps aux ambiances urbaines, Paris: éditions des archives contemporaines 2010, S. 65-84, hier S. 70-76 zeigt auf, wie diese Praxis des Spazierens, die sich daran vergnügt, spazierend das soziale Geschehen der Menge minutiös zu beobachten, herausbildet und bereits seit den 1830er Jahren in Büchern reflektiert wird. Baudelaire, Charles : »Le Peintre de la Vie Moderne«, in : Le Figaro 10, 916 (26.11.1863), S. 1-5 [Kap. I-IV]; 917 (29.11.1863), S. 1-5 [Kap. V–IX]; 918 (3.12.1863), S. 1-5 [Kap. IX-XIII], hier 916, S. 5.

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La foule est son domaine, comme l’air est celui de l’oiseau, comme l’eau celui du poisson. Sa passion et sa profession, c’est d’épouser la foule. Pour le parfait flâneur, pour l᾽observateur passionné, c᾽est une immense jouissance que d’élire domicile dans le nombre, dans l᾽ondoyant, dans le mouvement, dans le fugitif et l᾽infini.48 Für den Flaneur vollzieht sich die Erfahrung der Stadt nicht in der eingehenden Betrachtung ihrer Monumente, sondern in der Beobachtung von Augenblicken des flüchtigen Lebens, die von den in Bewegung befindlichen Menschen fortlaufend neu erschaffen werden. Die foule und der Flaneur, dauerhaft mobil und ohne festes Ziel, befinden sich geradezu am genauen Gegenpol zu einer Auffassung der Stadt, die sich in der Kontemplation der steinernen Zeugnisse ihrer Geschichte verwirklicht. Der moderne Künstler, wie er Baudelaire vorschwebt, entwickelt das Dauerhafte gerade aus dem Instabilen, Zufälligen und Flüchtigen, lebt als Flaneur in und mit der Menge, geht aber zugleich über deren Erleben hinaus, indem er durch seine Einbildungskraft das Flüchtige in künstlerischen Formen zu verdichten mag.49 Der Künstler darf sich also nicht über die Menge erheben, sondern muss in sie eintauchen, muss sich mit ihr bewegen und die Eindrücke einsaugen, bevor er später aus dem Gedächtnis eine künstlerische Sublimierung anfertigen kann.50 Die bewegte Menge in ihrer Bewegtheit zu erfassen, erfordert mithin einen selbst bewegten, dynamischen Beobachter: On peut aussi le comparer, lui, à un miroir aussi immense que cette foule; à un kaléidoscope doué de conscience, qui, à chacun de ses mouvements, représente la vie multiple et la grâce mouvante de tous les éléments de la vie. C’est un moi insatiable du non-moi, qui, à chaque instant, le rend et l’exprime en images plus vivantes que la vie elle-même, toujours instable et fugitive.51 Um das Vermögen des flanierenden Künstlers zu beschreiben, zieht Baudelaire hier als Metapher optische Apparaturen heran, die allerdings durch Instabilität und Wandelhaftigkeit gekennzeichnet sind. Die Fotografie als Speichermedium, das Momenten Dauer verleihen kann, wird in diesem Zusammenhang jedoch nicht erwähnt.

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Ebd., S. 4. L. Turcot: »Promenades et flâneries à Paris«, S. 74 präpariert im zeitgenössischen Diskurs eher ein distanzierteres Verhältnis heraus: »En revanche, le flâneur […] prend peu à peu la place de spectateur. Une distance s’impose. Spectateur de plus en plus passif, le flâneur regarde d’un point de vue éloigné la scène qu’il observe sans y prendre part.« Doetsch, Herrmann: »Momentaufnahmen des Flüchtigen. Skizzen zu einer Lektüre von Le Peintre de la vie moderne«, in: Karin Westerwelle (Hg.), Charles Baudelaire. Dichter und Kunstkritiker, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 139-162. Zum Gedächtnis als unverzichtbarem Filter des flanierenden Künstlers, »comme assailli par une émeute de détails«, vgl. C. Baudelaire : »Le Peintre de la Vie Moderne«, 918, S. 1-2. Ebd., 917, S. 4.

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Dass Baudelaire dem Maler – und nicht dem Fotografen – zutraut, die Modernität der Großstadt zu fassen, hat nicht vorrangig damit zu tun, dass sich die dynamischen Konstellationen der Menge für die fotografische Aufzeichnung zu schnell verflüchtigen. Das Manko der Fotografie besteht vor allem darin, dass sie für Baudelaire immer bloße Technik bleibt und nie Kunst werden kann, da sie die Fülle der Details nicht zu bändigen vermag.52 Weil den mechanisch erzeugten Bildern alles Schöpferische abgeht, sind sie nicht in der Lage, das Gegenwärtige in einer gültigen Form zu synthetisieren, in der das Momentane mit dem Wesentlichen verschmilzt. Von Zeitgenossen werden für die Wahrnehmungsform des Flaneurs jedoch durchaus fotografische Metaphern in Anschlag gebracht. Ein paar Jahre früher als Baudelaire beschreibt der Schriftsteller und Historiker Victor Fournel die ästhetische Praxis des Flanierens anhand von Fotografie. In einem Buch mit dem programmatischen Titel Ce qu’on voit dans les rues de Paris unterscheidet er zunächst zwei Varianten des Flanierens. Während der einfache Flaneur »observe et réfléchit«, »toujours en pleine possession de son individualité«, gehe ein badaud bis zur Selbstaufgabe in der Menge auf : »Le badaud, sous l’influence du spectacle devient un être impersonnel; ce n’est plus un homme, il est public, il est foule.«53 Ein solcher »badaud intelligent et consciencieux, qui remplit avec scrupule ses devoirs, c’est-à-dire qui observe tout et se souvient de tout, peut jouer les premiers rôles dans la république de l’art.«54 Es ist dieser, von Baudelaires Flaneur abweichende Akzent auf die komplette, nicht-hierarchische Speicherung sämtlicher Eindrücke, der die Stadterfahrung des badaud mit der Fotografie kurzschließt. Fournel charakterisiert den badaud nämlich als un daguerréotype mobile et passionné qui garde les moindres traces, et en qui se reproduisent avec leurs reflets changeants, la marche des choses, le mouvement de la cité, la physionomie multiple de l’esprit public, des croyances, des antipathies et des admirations de la foule.55 An sich ist Fournel, darin nicht anders als Baudelaire, ein äußerst kritischer Betrachter der zeitgenössischen Fotografie. Für die Porträtfotografie, die sich in den 1850er Jahren zur »portraituromanie« popularisiert hatte, hat er nur Spott übrig.56

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Als berühmte Verurteilung der Fotografie siehe Charles Baudelaire : »Lettre à M. le directeur de la Revue française sur le Salon de 1859« [Kap. I u. II], in : Revue française XVII, 158 (10.6.1859), S. 257-266, hier S. 262-266. Fournel, Victor : Ce qu’on voit dans les rues de Paris, Paris : Adolphe Delahays 1858, S. 263. Ebd., S. 261. Ebd. Ebd., S. 399 : »Je trouve qu’il [le daguerréotype] n’a rien de commun avec l’art, qu’il en est et qu’il en sera toujours l’antipode, la négation complète, quelque progrès qu’on se flatte de lui faire accomplir. Qu’est-ce, je vous prie, que cette machine, sans âme ni intelligence, qui met

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Wie passt dann die Daguerreotypie57 zum badaud? Zum einen imaginiert Fournel eine ideale, gar nicht existente Fotografie. Diese soll so mobil sein wie der Flaneur in der Menge. Dem stehen die langen Belichtungszeiten entgegen, die zur Stillstellung nicht nur der fotografierten Objekte, sondern auch der Kamera selbst zwingen, die auf ein Stativ montiert werden muss. Wechselnde Lichtreflexe und Bewegung wird man mit der Daguerreotypie nicht abbilden. Zum anderen soll es sich um eine leidenschaftliche, fühlende Daguerreotypie handeln, womit Fournel der fotografischen Platte menschliche Sensibilität zuschreibt und damit prinzipiell die Fähigkeit, ein persönliches, künstlerisches Bild zu erzeugen. Mit diesen beiden Eigenschaften benennt er aber vielmehr die Defizite, die es zu überwinden gilt, damit die Daguerreotypie als Metapher für die Wahrnehmungsweise des badaud gelten kann. Wofür die Fotografie allerdings wie nichts anderes steht, ist die unparteilich genaue Aufzeichnung, die »moindres traces« der Dinge erfasst und speichert, ohne zu fragen, was relevant ist. Kehrt man die Richtung der Metapher um, dann wird die Fotografie zum Medium »qui observe tout et se souvient de tout«. Insofern manifestiert sich die Differenz zwischen Baudelaire und der von Fournel präferierten Form flanierender Observation: Während der von Baudelaire beschriebene Maler das Gedächtnis als Selektionsinstanz nutzt, um das Flüchtige auf sein Wesentliches zu reduzieren, will Fournels badaud die Wirklichkeit möglichst unparteilich und exakt erfassen und in all ihrer Heterogenität belassen. Die ästhetische Sensibilität des badaud genügt freilich sich selbst und zielt nicht darauf, als peintre de la vie moderne durch Kunst zu kommunizieren. Ändern wir die Betrachtungsrichtung, so sehen wir, dass von der Fotografie allerdings Beziehungen zur Menge auf den Pariser Boulevards ausgehen. Die Anstrengungen, bewegte Objekte fotografisch festzuhalten, knüpfen sich häufig an das urbane Leben und das Motiv der foule. Versuche, die erforderliche Belichtungszeit signifikant zu verkürzen, sind seit der Frühzeit der daguerreotypischen Praxis dokumentiert. Schon 1841 begann man in Bezug auf die Daguerreotypie von ›instantanés‹, von Momentaufnahmen, zu sprechen,58 die in der Lage seien, das

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une ride au lieu d’un pli, une grimace en place d’un sourire, qui joue bêtement dans le même moule la beauté et la laideur, la jeunesse et la caducité, le terre-à-terre et l’idéal.« Vgl. ebd., S. 384-400. Weil der kritisierte Erfolg der Porträtfotografie im carte de visite-Format mit dem Positiv-Negativ-Verfahren auf nassem Kollodium verbunden ist, wirkt es umso abwegiger, dass Fournel auch hier noch von der Daguerreotypie spricht, zumal sich als generischer Term für das Medium längst ›photographie‹ eingebürgert hatte. In der Neuauflage von 1867 ist dann in einer neu hinzugekommenen Passage zu Erinnerungsbildern von ›photographie‹ die Rede, während ›daguerréotpye‹ weiter als Metapher des badaud wie auch in Bezug auf das Porträt stehen bleibt; siehe Fournel, Victor: Ce qu’on voit dans les rues de Paris, erweiterte Aufl., Paris: E. Dentu 1867, S. 268, 310-311 u. 400-416. Explizit in Bezug auf den Begriff ›instantané‹ formulieren Gaudin, [Marc-Antoine]/Lerebours, N[oël].-P[aymal]. : Derniers perfectionnements apportés au Daguerréotype, Paris : N.-P. Lerebours/Bachelier 1841, S. 43 : »qu’on peut actuellement faire des épreuves instantanées. Nous

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städtische Leben im Vollzug festzuhalten. In der Kunstpresse wird berichtet : »M. Gaudin obtient des épreuves instantanées, c’est-à-dire des groupes de personnages en action, des vues du Pont-Neuf avec les voitures et les piétons en marche«.59 Die Momentaufnahme als neue Kategorie fotografischer Bildlichkeit wird hier geradezu gleichgesetzt mit der Stadtaufnahme, dem Fixieren der bewegten Personen und Fahrzeuge auf den Straßen. Mit gleicher Stoßrichtung hatte François Arago der Akademie der Wissenschaften im Januar des Jahres berichtet, Daguerre sei es gelungen, die Belichtungsdauer auf ein bis zwei Sekunden zu reduzieren: »Le nouveau procédé permettra de copier des objets mobiles, tels que les arbres agités par le vent, les eaux courantes, la mer pendant la tempête, un navire à la voile, les nuages, une foule agitée et en marche.«60 Die spärlichen heute noch erhaltenen Bildergebnisse, in denen auch nur Spuren von Bewegtem zu sehen sind, sprechen allerdings eher für die Unzulänglichkeiten und Schwierigkeiten als für die Perfektion der Verfahren.61 Der französische Fotohistoriker André Gunthert hat daraus gefolgert, dass die photographie instantané noch lange vorwiegend einen immer wieder aktualisierten Mythos statt eine relevante Praxis darstellte.62 In Frankreich wird in Aussagen zur Momentfotografie bis in die 1870er Jahre hinein stets dieselbe stereotype Liste an Motiven wiederholt. Damit wird kein technischer Maßstab aufgerufen, sondern eine Kunstform imaginiert, die auf der Höhe der zeitgenössischen Kunst ist, welche die Landschaftsdarstellung ebenso durch bewegte Elemente dynamisiert, wie sie das moderne Alltagsleben als Gegenstand entdeckt.63

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disons instantanées, car les vues sont reproduites en un dixième de seconde. On y distingue les voitures et les personnes en mouvement.« An anderer Stelle im selben Band (ebd., S. 6) formuliert man den Anspruch zurückhaltender : »avec le même appareil ainsi perfectionné, en faisant usage du bromure d’iode, nous faisons des vues en moins d’un dixième de seconde et des portraits à l’ombre en une fraction de seconde. Dans les premières, les personnages, les voitures, les chevaux qui n’ont pas un mouvement trop rapide sont représentés sur l’épreuve; de là à l’instantanéité il n’y a pas loin.« André Gunthert sieht in diesen frühen Interventionen nicht nur, aber primär Imaginationen der zukünftigen Fotografie, ein »instantané annoncé«; vgl. Gunthert, André: La conquête de l’instantané. Archéologie de l’imaginaire photographique en France (1841-1890), Phil. Diss. Ehess Paris 1999, S. 80-92. Anonyme : »Des nouveaux procédés de la photographie« [1841], in : A. Rouillé, La photographie en France, S. 79-81, hier S. 81 [Hervorhebungen im Original]. Für die mutmaßlich gemeinte Aufnahme vgl Q. Bajac/D. Planchon-de Font-Réaulx : Le daguerréotype français, S. 268. François Arago, 1841, zit.n. A. Gunthert : La conquête, S. 82. Für Bildbeispiele, die zeigen, wie rudimentär die Verbesserungen sich meist in den Bildern niederschlugen, siehe z.B. Paris-Musées (Hg.): Paris et le daguerréotype, S. 99, S. 102 -105 u. S. 136-142, sowie breiter Q. Bajac/D. Planchon-de Font-Réaulx: Le daguerréotype français, S. 262-275. A. Gunthert : La conquête, S. 96-122. Vgl. ebd., S. 155-158.

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Die Darstellung der Menge auf den Boulevards der Großstadt ist fester Bestandteil dieser für die Zukunft imaginierten fotografischen Ästhetik. Während die Momentfotografie bis zum Durchbruch der Gelatinetrockenplatte in den 1880er Jahren generell ein Experimentierfeld blieb, so gelang es der Fotografie der bewegten Menge doch, sich um 1860 in einem sehr spezifischen Feld, der stereoskopischen Fotografie oder Stereografie, zu habitualisieren. Der im Laufe der 1850er Jahre zur Dominanz gelangende Negativ-Positiv-Prozess mit Nasskollodium, der die Bereitung der Negativplatte unmittelbar vor der Aufnahme erforderte, reduzierte die Belichtungszeit zwar gravierend, erlaubte Momentaufnahmen im engeren Sinn aber nur unter exzeptionellen Bedingungen. Mit der Stereografie waren weitere technische Festlegungen verbunden, durch die es möglich wurde, belebte Straßen aufzunehmen. Den Lichteinfall auf die fotografische Platte so zu steigern, dass sich die Belichtungszeit hinreichend verkürzen ließ, erforderte möglichst gut belichtete Szenerien in Außenräumen, eine Verkleinerung der Bildfläche sowie ein Objektiv mit kurzer Brennweite. Weiterhin galt es, die Kamera so aufzustellen, dass sie eine gewisse Distanz zu den bewegten Objekten einhielt und die Bewegung möglichst in Richtung der Blickachse erfolgte. All diese technischen Anforderungen konnte die Stereografie erfüllen. Dass die Einzelbilder – für die Zeit – ungewöhnlich klein ausfielen – ein genormtes stereoskopisches Einzelbild umfasst nur 8x8cm – machte nichts aus, weil man die Bilder sowieso durch einen Apparat anschauen musste, um das virtuelle Raumbild wahrnehmen zu können. Wenn man durch die Okulare des Stereoskops schaute, konnte man sich in das Bild vertiefen, nicht selten unterstützt durch Vergrößerungslinsen. Distanz zu den Objekten wahrten Stereografien schon aus kompositorischen Gründen, weil sie die im Bild versammelten Objekte so anordnen mussten, dass sie bei der Betrachtung räumlich gestaffelt erschienen. Im Jahr 1859 führten Edward Anthony in New York und George Washington Wilson in Edinburgh erfolgreich die belebte Stadtszene als stereografisches Motiv ein.64 Seit 1860 wurden auch zu Paris entsprechende Aufnahmen angeboten, von auswärtigen Fotografen wie William England ebenso wie von ortsansässigen Anbietern wie Hyppolite Jouvin, Ernest Lamy oder Ferrier & Soulier.65 Der kommerzielle Erfolg dieser »vues animés« oder »vues instantanés« stellte sicher, dass sich solche Bilder rasch ins Standardrepertoire der Stereografie einfügten.

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Fanelli, Giovanni/Mazza, Barbara : Paris animé, Paris instantané. Photographie stéréoscopiques, 1850-1900, Lilles/Rennes : Éditions Ouest-France 2014, S. 12; Lorch, Gerlind-Anicia : Ferne Länder in 3-D. Die stereoskopische Reisefotografie von William England (ca. 18301896), Phil. Diss. Universität Hamburg 2016, S. 131-133; Prodger, Phillip: Time Stands Still: Muybridge and the Instantaneous Photography Movement, Stanford/Oxford: The Iris & B. Gerald Cantor Center for Visual Arts/Oxford University Press 2003, S. 88-96. Einen guten Überblick über die Bildproduktion bieten G. Fanelli/B. Mazza: Paris animé.

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Auf der Ausstellung der Société Française de Photographie im Jahr 1861 fallen dem Kunstkritiker Philippe Burty »les instantanéités« ins Auge, qui, prises au milieu des villes, les rendent avec les voitures qui roulent, les chevaux qui trottent, les passants qui marchent, flânent ou causent, c’est-à-dire avec leur physionomie réelle, absolue, vivante, à un moment donné du jour ou de la saison.66 Die der Stadtfotografie neu zugewachsene Zeitlichkeit ist es, die Burty beeindruckt, was er in der Betonung der Verben und in einer Kette von Adjektiven wie »vivante« zum Ausdruck bringt. Erst die zeitliche Dimension der Abbildung, das Erfassen des Lebens zu einem konkreten Zeitpunkt, erlaubt es, die »physionomie réelle« der Stadt einzufangen. Wie durchgreifend die fotografische Wahrnehmung der Stadt durch die Momentaufnahme revolutioniert wird, spricht schon aus diesen wenigen Zeilen. Auch wenn die bewegten Passanten sich nun ins fotografische Bild einschreiben, so wird die bewegte Menge doch nicht zum Fokus der Bilder. Vielmehr bilden die Menschen und Fahrzeuge einen Teil der Wirklichkeit, der sich in das architektonische Ensemble einfügt. Anders als noch in den Excursions Daguerriennes handelt es sich hier aber nicht mehr um Staffage, um Figuren aus dem Standardrepertoire, die nach ästhetischen Prinzipien im Bild verteilt werden, um den architektonischen Raum anekdotisch zu beleben. Die Zeitgenossen erkennen den Unterschied und zeigen sich fasziniert, dass ihnen die Stereografien ein ›optisch-Unbewusstes‹ im Sinne von Walter Benjamin offenbaren,67 die zufälligen Haltungen und Konstellationen, die beiläufig von der Kamera eingefangen wurden.68 Der Stadtraum zeigt sich nun als Verschränkung von bewegten Menschen einerseits, von Straßen und Gebäuden, die die Perspektiven festlegen, andererseits. Die ›animierten‹ 66

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Burty, Philippe : »La Photographie en 1861«, in : Gazette des Beaux-Arts 11, 3 (Sept. 1861), S. 241249, hier S. 246. Burty führt zwar nicht aus, dass es sich um Stereografien handelt, doch ist technisch nichts anderes denkbar. Auf der Ausstellung der Société Française de Photographie, die Burty bespricht, waren tatsächlich zahlreiche »vues stéréoscopiques« zu sehen, nicht zuletzt von Ferrier & Soulier, die seit 1860 entsprechende Stadtansichten von Paris angefertigt hatten. Weiterhin führt der Aussteller Lefort als Stereografien explizit »divers sujets animés«. Zur Ausstellung siehe Catalogue de la Quatrième Exposition de la Société Française de Photographie comprenant les œuvres des photographes français et étrangers, 6. Ausg., Paris : Société Française de Photographie 1861, S. 22 u. S. 34; zur Stereoproduktion von Ferrier & Soulier siehe A. Gunthert : La conquête, S. 171-175. Benjamin, Walter: »Kleine Geschichte der Fotografie« [1931], in: ders., Medienästhetische Schriften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 300-324, hier S. 303. Vgl. G.-A. Lorch: Ferne Länder, S. 134-136; Ulrich Pohlmann: »›Alles wie durch einen Zauberschlag gebannt‹. Zur Darstellung des Straßenlebens in Fotografien des 19. Jahrhunderts«, in: Karin Sagner/Max Hollein, Gustave Caillebotte. Ein Impressionist und die Fotografie, AusstKat. Schirn Kunsthalle Frankfurt a.M./München: Hirmer 2012, S. 138-151, hier S. 143-146.

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Stadt-Stereografien sind durchweg von einem erhöhten Standpunkt, häufig von Fenstern oder Balkonen, die auf die Boulevards blicken, aufgenommen.69 Die vues instantantanés verweisen somit nicht auf einen ›Fotografen des modernen Lebens‹, der sich in dieses Leben begeben muss, um es darzustellen. Die Stereografien des bewegten Stadtlebens beruhen nicht auf einer bewegten Perspektive, sondern verweisen auf einen distanzierten Standpunkt, der die Geschehnisse aus der Distanz erfasst. Außer in den Fällen, in denen gezielt Ereignisse oder Feste ausgewählt werden,70 ist das, was gerade in der Menge passiert, selten der Auslöser für die Aufnahme. Das Etikett Paris instantané, mit der das Lieferungswerk aus den späten 1890er Jahren überschrieben ist, etabliert sich in den frühen 1860er Jahren bereits für fotografische Stereokarten. Einige der Anbieter von Stereografien versehen die Benennung des Bildmotivs nicht einfach mit dem Zusatz ›vue instantané‹, sondern ziehen Stadt und fotografisches Verfahren zum Kürzel Paris instantané zusammen, die als Titel der Serie71 fungiert. Dieser Serientitel findet sich dann auch teils gedruckt, teils gestempelt auf den Karten wieder, auf die die stereoskopischen Aufnahmen aufgezogen sind (Abb. 4).72 In der Formel Paris instantané, die das intervenierende Bildmedium ausklammert, wird die Stadt als Bildgegenstand mit dem Abbildungsverfahren zusammengeschweißt. Die Bezeichnung legt nahe, dass durch die – nicht explizit genannte – Vermittlung der Momentfotografie ein neues Paris sichtbar wird, dessen Lebendigkeit im unvermeidlichen Zufall des nicht-wiederholbaren Augenblicks hervortritt. Zu tun haben wir es nicht mit Momentaufnahmen von Paris, sondern eigentlich mit einer sich in Momente aufgliedernden Stadt. Das Etikett Paris instantané ergibt zunächst vor allem deswegen Sinn, weil in den 1860er und 1870er Jahren der überwiegende Teil der fotografischen Produktion zu Paris nach wie vor die unbelebte, steinerne Stadt der Monumente vorzeigt. 69

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A. Gunthert: La conquête. S. 170 hat aufgezeigt, dass dieser Standpunkt nicht nur der stereoskopischen Tiefenstaffelung dient, sondern auch die Bewegung der Menschen relativ zur fotografischen Platte mindert und so schärfere Bilder ermöglicht. Lorch: Ferne Länder, S. 77, S. 81 u. S. 148-149 übersieht diesen technischen Aspekt und betont allein die perspektivische Überschau. Vgl. Pellerin, Denis : La photographie stéréoscopique sous le second empire, Paris : Bibliothèque nationale de France 1995, S. 46-47. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch des Fotografiemarkts sind ›Serien‹ teilweise offene, teilweise geschlossene Mengen an Fotografien, die allerdings nur selten seriell distribuiert werden. Es handelt sich um eine Kategorie, die in Fotokatalogen thematisch verbundene Fotografien versammelt und numerisch ordnet, um das Angebot zu strukturieren, aber auch um die Kunden anzuregen, mehr als das Einzelbild zu erwerben. Vgl. die Abbildungen in G. Fanelli/B. Mazza: Paris animé. Mit dem Etikett arbeiten Ernest Lamy: Abb. 28 u. 70; Auguste Houssin: Abb. 34, 38 u. 42; Florent Grau, Abb. 60; Hyppolite Jouvin, Abb. 49, 53 u. 64; Alexandre Bertrand, Abb. 72; mit einem weiteren Bild von Lamy P. Prodger: Time Stands Still, S. 71.

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Abb. 4: Anonym [Ernest Lamy]: »Boulevard des Italiens«

Albuminabzüge, frühe 1860er Jahre, Stereokartenformat: 8,5 × 17,5 cm, aus der Serie Paris instantané, Nr. 26.

Es gewinnt aber zunehmend ein Eigenleben, das, wie das noch zu besprechende Lieferungswerk, über die Blütezeit der stereoskopischen Fotografie hinausreicht. Verwendet wird es später auch für Abzüge im Kabinettformat, die sich von den unbelebten Ansichten der Konkurrenz absetzen.73 Dass die Präferenz der Konsumenten automatisch der momentfotografischen Variante gilt, ist allerdings keinesfalls ausgemacht. Die Formel Paris instantané bleibt beliebt, als die Momentfotografie mit der Bromsilbergelatine-Platte sich noch einmal transformiert und zu einer verbreiteten Praxis wird. Die Gelatinetrockenplatte verkürzt die erforderliche Belichtungszeit so weit, dass bewegte Objekte nun ohne besondere Vorkehrungen scharf abgebildet werden. Für das Fotografieren ist ebenso prägend, dass die Verkürzung der Belichtung es schließlich erlaubt, aus der Hand zu fotografieren. Zur Beweglichkeit der Kamera trägt außerdem bei, dass die Trockenplatte die Nabelschnur vom Fotografieren zur Dunkelkammer kappt. Weil man in der Kamera nun mehrere Platten für den geeigneten Augenblick bereithalten kann, wird es leichter, sich unter die Menge zu mischen und das Leben auf frischer Tat zu ertappen. Die Momentfotografie erweist sich so als weniger technischer, denn ästhetischer Faktor. Gunthert hat dargelegt, dass die technische Innovation des instantané ein eigenes fotografisches Genre begründet, dessen Themen und Formen sich erstmals nicht mehr aus ästhetischen Vorbildern der Malerei ergeben, sondern aus dem Experimentieren 73

Kabinett-Abzüge mit dem Label ›Paris instantané‹ bietet beispielsweise Jules Hippolyte Queval, Markenzeichen Q.V., an.

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der Amateure mit den neuen Möglichkeiten.74 Die Motive ergeben sich aus der Begegnung einer beweglich gewordenen Kamera mit dem erkennbar Bewegten und Flüchtigen, die das neu gewonnene Vermögen der Fotografie aufzeigt. Es liegt nahe, dass dies auch der fotografischen Entdeckung der Stadt neue Perspektiven eröffnet, kann sich die Kamera nun doch endlich mit der foule bewegen, um deren Lebenswelt fotografisch zu dokumentieren. An der Wende zum 20. Jahrhundert verleihen diese Entwicklungen auch der Formel Paris instantané neuen Schwung, der sich nicht nur in unserem Lieferungswerk, sondern unter anderem auch in Serien von Bildpostkarten niederschlägt. Unter diesem Namen bringt die Firma Lévy et Fils kurz nach 1900 eine 24teilige Serie stereografischer Postkarten auf den Markt (Abb. 5). Dem stereoskopischen Effekt geschuldet, behalten die Ansichten die geläufige Ausrichtung auf die Blickachsen der Boulevards bei, nähern die Kamera aber dem Straßenniveau an, so dass auf den meisten Bildern das städtische Geschehen in den Vordergrund rückt.75 Eine weitere Postkarten-Serie eines anonymen Verlegers setzt, oftmals vignettiert, Szenen aus dem Stadtleben wie das Warten auf den Bus, Schlafende auf einem öffentlichen Platz (Abb. 6) oder das Treiben vor der Börse in Szene. Sobald die Momentfotografie, rein technisch gesprochen, zum Standard der Fotografie geworden ist, transformiert die Etikettierung Paris instantané ihre Bedeutung: Sie markiert nicht mehr die Differenz zur Langzeitbelichtung, die alles Bewegte aus den Bildern tilgt, sondern bezeichnet fortan eine bestimmte Art von Motiven, gewissermaßen ein spezifisches Subgenre innerhalb des Genres. Unter dem Titel Paris instantané darf man Impressionen aus dem Leben der foule auf den Straßen erwarten. Das Label führt aber auch ein Eigenleben, das über dieses Genre hinausgeht. Auch das im Dezember 1889 begonnene Experiment, in Paris eine Tageszeitung mit fotografischen Bildnachrichten zu etablieren, gibt sich den Titel Paris-Instantané.76 74

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Vgl. Gunthert, André : »Esthétique de l’occasion. Naissance de la photographie instantanée comme genre«, in : Études photographiques 9 (2001), S. 64-87, http://journals.openedition. org/etudesphotographiques/243. Datieren lässt sich die Postkartenserie durch das 1901 eingetragene Markenzeichen L.L., das auf den ursprünglichen Firmennamen Léon et Lévy zurückgeht; siehe: http://dictionnairedesorientalistes.ehess.fr/document.php?id=173.Die Serie Paris instantané verbindet das alte Geschäftsfeld (Stereografie) mit dem neuen der Postkarte. Zur Postkartenproduktion des Hauses siehe Schor, Naomi: »Cartes Postales. Representing Paris 1900«, in: David Prochaska/Jordana Mendelson (Hg), Postcards. Ephemeral Histories of Modernity, University Park, Pa.: The Pennsylvania State University Press 2010, S. 1-23. Vgl. z.B. Le Liseur : »Paris au jour le jour«, in : Le Figaro 36e année, 3. Série, Nr. 12 (12.1.1890), S. 2 : »On m’envoie les premiers numéros d’une publication nouvelle, assez originale, le Paris instantané, qui réalise le reportage photographique quotidien.« Nach einer Unterbrechung wird das Projekt am 22. Mai 1899 weitergeführt und Paris instantané zu einer täglichen Beilage der Zeitung Le Matin. Derniers télégrammes de la nuit ; siehe Anonym : »Paris instantané«, in : Le Matin 7, 2282 (22.5.1890), S. 1 : »Il fallait donc trouver le moyen d’abréger ces délais,

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Abb. 5: Anonym [Verlag L.L. (Lévy fils et Cie.)]: »La Station du Métropolitain à la Porte Maillot« und »Le Pont des Saints-Pères«

Collotypie auf Stereo-Ansichtskarte, um 1900, Postkartenformat: 9 × 14 cm, aus der 24teiligen Serie Paris instantané, Nr. 3 u. 5.

Die Augenblicklichkeit erstreckt sich in diesem Zusammenhang nicht allein auf die Aufnahme der Pressefotografien, sondern dehnt sich auf deren instantane drucktechnische Umsetzung in eine tagesaktuelle Nachricht aus. Der spezifische Bezug auf Paris ergibt sich dabei zwangsläufig, weil die versprochenen Fotonachrichten vom Tage mehrheitlich aus der Stadt stammen müssen. Das Etikett Paris instantané wird im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts so vertraut, dass es gelegentlich auch in anderen Bereichen der Kultur aufgegriffen wird. Am 27. November 1890

de transporter, instantanément aussi, l’image obtenue de l’objectif sous la presse de l’imprimeur de tirer à des milliers exemplaires la représentation du fait, le jour même où il s’est produit.«

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Abb. 6: Anonym [kein Verleger, nur Hinweis »importé«]: »Une sieste. Place de la République«

Collotypie auf Ansichtskarte, gelaufen 1901, Postkartenformat: 9,1 × 14,2 cm, aus einer Serie Paris instantané.

feiert im Théâtre de Cluny eine »grande revue à spectacle« mit dem Titel Paris instantané Premiere, ein Jahresrückblick in komischen und spektakulären Nummern, wie er seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem festen Teil des Spielplans geworden war.77 Der Name passt zweifelsohne ideal auf das Vorhaben, das Zeitgeschehen in Nummern kondensiert zu kommentieren. Die in der Presse abgedruckten Rezensionen geben allerdings keinen Hinweis, dass, dem Titel gemäß, in diesem Jahr eine besondere Beziehung zur Momentfotografie gemeint war. Paris instantané ist außerdem der Titel eines Chansons, das die Sänger Charlus sowie Dumoraize in den späten 1890er Jahren aufführen.78 Der innerhalb der periodischen Publikationsreihe Le Panorama publizierte Band Paris instantané, dem wir uns nun endlich zuwenden können, greift mit seinem Titel einen gut eingeführten Begriff auf, der einerseits einer bis in die Anfänge der stereofotografischen Massenproduktion zurückreichenden Tradition angehört, sich andererseits in eine zeitgenössische Kon77

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Vgl. Lemaire, Hippolyte : »Théâtres«, in : Le Monde illustré 34, 1758 (6.12.1890), S. 482-483; Stoullig, Edmond : »Art dramatique«, in : Courrier de l’Art 10, 49 (5.12.1890), S. 390-391. Zur Theatergattung der revue de fin d’année siehe Charle, Christophe : »Le carnaval du temps présent. Les revues d’actualités à Paris et à Bruxelles, 1852-1912«, in : Actes de la recherche en sciences sociales, 186-187 (2011), S. 58-79. Vgl. z.B. Anonym : »Paris La revue des concerts«, in : L’Art lyrique et le music-hall 1, 14 (26.4.1896), S. 4; Anonym : »Revue des concerts à Paris«, in : L’Art lyrique et le music-hall 1, 34 (6.9.1896), S. 5.

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junktur einfügt, in der dieser Begriff für diverse Publikationsformate in Anschlag gebracht wird, die allerdings über einen gemeinsamen Nenner verfügen.

Miszellane Augenblicke als Schlüssel zur bewegten Stadt Die genannte Publikation stelle, so vermerkt ein Ausstellungskatalog zu Fotobüchern über Paris, »einen radikalen Übergang vom traditionellen Reisealbum zum Paris-Bildband dar«.79 Dies trifft einerseits zu, insofern Paris instantané eine Sammlung von Bildern bereitstellt, die als vorgefertigte Zusammenstellung autotypisch reproduzierter Fotografien komplett erworben werden konnte. Ein Buch tritt damit an die Stelle des Albums, für das Interessierte eine eigene Auswahl an Fotografien erwerben und nach eigenem Geschmack anordnen. Bemerkenswert ist zweifelsohne, dass eine solche Pionierpublikation gleich 320 Seiten stark ausfällt und mehr als 500 Bilder umfasst.80 Andererseits ist die Titulierung als Bildband entschieden zu relativieren, weil Paris instantané nicht als Fotobuch, sondern als Lieferungswerk in die Welt kam und diese Genese, wie ich zeigen möchte, markante Spuren hinterlassen hat. Das lässt sich direkt an der im zitierten Katalog abgebildeten Fassung des Bandes ablesen, die nicht vom Verlegereinband umschlossen wird, sondern von einem Buchdeckel, den der vom Käufer der Lieferungen beauftragte Buchbinder eigens für dieses Exemplar erstellt haben wird.81 In themenaffiner Gestaltung – mit farbig gedrucktem Stadtwappen auf weißem Grund (Abb. 7) – bot indes der Verlag Material für den Buchbinder (»cartons-reliures«) ebenso an wie Kartons, in denen man die erworbenen Hefte einfach ablegen konnte (»cartons-emboîtages«). Nach der letzten Lieferung bot er selbst die Sammlung fertig im Verlagseinband an. Der heutige antiquarische Markt belegt allerdings, dass viele Hefte weder in der einen noch in der anderen Variante zusammengeführt wurden. Es fragt sich überdies, wie viele Käufer versehentlich oder absichtlich keinen kompletten Satz erworben hatten. In abgeschwächter Form blieben den sammelnden Käufern auch jenseits 79

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Adam, Hans-Christian: »Paris und der frühe Bildband. Ätzen, kopieren, kleben, drucken. Von Versuchen, das Foto ins Buch zu bekommen«, in: Hans-Michael Koetzle (Hg.), Eyes on Paris. Paris im Fotobuch, 1890 bis heute, Ausst.-Kat. Deichtorhallen Hamburg, München: Hirmer Verlag 2012, S. 30-39, hier S. 37. Affirmativ zitiert diese Stelle Pohlmann: »›Alles wie durch einen Zauberschlag gebannt‹«, S. 150. Mit dieser runden Bilderzahl wirbt der Verleger, etwa in La Revue illustrée 29, 1 (15.12.1899), o.S. Dass die Käufer das Binden selbst in Auftrag gaben, galt bis ins 19. Jahrhundert hinein auch für Bücher. Die Kommerzialisierung des Buchmarkts sorgt allerdings dafür, dass in den Buchhandlungen zunehmend fertig gebundene, rascher konsumierbare Bücher standen. Nur für das Binden periodischer Publikationen blieben die Käufer noch verantwortlich, konnten dafür entweder den vom Verlag angebotenen Umschlag erwerben oder sich vom Buchbinder einen mehr oder weniger aufwändigen Ersatz fertigen lassen.

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des selbst zusammengestellten Fotoalbums Freiheitsgrade erhalten. Ich lege im Folgenden daher Wert darauf, Paris instantané als jene Vermittlung von Zeitschrift und Buch zu betrachten, die ein Lieferungswerk darstellt. Die folgenden Analysen orientieren sich an der These, dass dieses printmediale Hybrid es in besonderem Maße vermag, die kaleidoskopische Bewegtheit der Stadt auszudrücken.

Abb. 7: Verlagsumschlag für das Lieferungswerk Paris instantané von Le Panorama, 34 × 26, 8 cm.

Betrachtet man die Publikationsweise von Paris instantané eingehender, dann stellt sich die Situation noch komplizierter dar, so dass ein wenig weiter ausgeholt werden muss, um die spezifische Strategie einordnen zu können. Unter dem Titel Le Panorama beginnt der Kunstverlag Ludovic Baschet Anfang 1895 Sammlungen gedruckter Fotografien zu publizieren. Mit der Veröffentlichung von Les merveilles de France, Algérie, Belgique, et Suisse konzipierte man ein erstes Lieferungswerk, das zunächst auf 16 Nummern angelegt war und mit Fortschreiten der Publikation – angeblich wegen des Erfolges – auf 25 Lieferungen aufgestockt wurde. Diese Veröffentlichung orientiert sich explizit82 am Erfolgsmodell des amerikanischen Vortragsreisenden John L. Stoddard, der zunächst durch seine Lichtbildvorträge

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Vgl. Anonym : »Les livres d’étrennes«, in : Revue illustrée 12, 1 (15.12.1896), S. 29-32, hier S. 3132.

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bekannt geworden war.83 Durch die neue Option, autotypisch reproduzierte Fotografien preisgünstig per Druck zu vervielfältigen, wurde Stoddard angeregt, sein bestehendes Bildarchiv auszuwerten. Unter dem Titel Glimpses of the World. A Portfolio of Photographs of the Marvelous Works of God and Man schrieb er 1892 in den USA eine erste Sammlung von gedruckten Reisefotografien zur Subskription aus. Der Erfolg muss ihm recht gegeben haben, denn ab 1894 gab er dieselbe Zusammenstellung nicht nur in diversen, wiederum serialisierten Neuauflagen heraus, sondern brachte sie nach demselben Rezept weltweit in Übersetzungen auf den Markt. In Frankreich erschien das Lieferungswerk als Portfolio de Photographies des villes, paysages et peintures célèbres, in Deutschland als Im Fluge um die Welt. Sammlung von Photographien der hervorragendsten Städte, Gegenden und Kunstwerke.84 Auch italienische, polnische und japanische Ausgaben sind nachgewiesen. Nicht nur der Titel, auch die durch das charakteristische Querformat ermöglichte Größe der Foto-Reproduktionen,85 ließ keinen Zweifel, dass es hier um die Bilder selbst ging. Der den Bildern zugeordnete Text wurde petit gesetzt auf einen dünnen Streifen unter den Bildern marginalisiert, so dass er ja nicht zu viel Aufmerksamkeit beanspruchte. Indem Stoddard als erster die neuen Reproduktionsmöglichkeiten nutzte, um schlicht Fotografien als solche – und nicht als sekundäre Illustration – zugänglich zu machen, hatte er offenbar eine Marktlücke entdeckt. Die durch die massenhafte Vervielfältigung im Druck ohnehin rapide gesunkenen Kosten wurden, dem Vermarktungsprinzip des Lieferungswerks entsprechend, durch die serialisierte Auslieferung noch einmal gestreckt und erschienen so noch günstiger. Jede Lieferung enthielt 16 Aufnahmen, geschützt durch einen charakteristischen orangefarbenen kartonierten, jeweils entsprechend nummerierten Lieferumschlag. Nach der letzten der wiederum 16 Lieferungen konnte man mit vom Verleger bereitgestellten Register, Innentitel und Buchdeckel die einzelnen Lieferungen zu einem Buch binden lassen. Stoddard ordnet die Bilder allerdings nicht im Sinne einer Reise um die Welt, wie es einer linearen, auf buchaffine Schließung hin orientierten Logik entsprochen hätte, sondern mischt ganz im Gegenteil

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Zur Person siehe Cox, Michaelene: The Politics and Art of John L. Stoddard. Reframing Authority, Otherness, and Authenticity, Lanham, MD u.a.: Lexington Books 2015, zur Publikationstätigkeit leider nur kursorisch S. 32-33. Stoddard, John L. (Hg.): Im Fluge durch die Welt. Sammlung von Photographien der hervorragendsten Städte, Gegenden und Kunstwerke von Europa, Asien, Afrika, Australien und Nordund Südamerika, Chicago u.a.: The Werner Company o.J. [1894]; ders. (Hg.) : Portfolio de Photographies des villes, paysages et peintures célèbres, Chicago : The Werner Co. O. J. [1894]. Eine Auffälligkeit im Vergleich zur Zeitschriftenpublikation ist, dass die Titel eine Sammlung von Photographien ankündigen, wohingegen in Zeitschriften dieser Zeit typischerweise noch von Reproduktionen nach Fotografien die Rede ist. Die Abbildungen weisen eine Größe von 25,5cm x 20cm auf einem Blatt von 33,8cm x 27cm auf.

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die Bilder durch, so dass man in jeder Nummer für sich genommen eine virtuelle Reise um die Welt unternehmen kann, die in den ersten acht Lieferungen stets in Paris beginnt und in Nordamerika endet. Die für die Zeitschrift charakteristische miszellane Struktur wird für das verwandte Publikationsformat des Lieferungswerks transformiert in die geografische Durchmischung innerhalb der einzelnen Lieferung. Wenn die Nummern schließlich sukzessiv angeordnet werden, ergibt sich eine befremdlich zirkuläre Struktur, in der geografisch Benachbartes zyklisch wiederkehrt, manchmal sogar im Rhythmus von exakt 16 Seiten. Da die Seiten durchweg unpaginiert sind, kann nicht einmal ein abschließendes Register Ordnung herstellen. Dafür fallen Pannen beim Binden ebenso wenig ins Gewicht wie das Fehlen einzelner Seiten oder Hefte. Stoddards Vorwort verdeutlicht, dass Miszellaneität gezielt herbeigeführt wurde: »Manchem mag scheinen, als fehle diesen Blättern die rechte Harmonie, weil sie aus allen Ländern so bunt durcheinander liegen. Allerdings ist ihre Mannigfaltigkeit gross, und doch entwarf sie alle derselbe Künstler – unsere Sonne – und jedes Bild bleibt Theilchen derselben Erdkugel.«86 Hinreichende Harmonie wird folglich schon dadurch hergestellt, dass es sich um Fotografien handelt, die allesamt auf dem Erdball gelegene Orte zeigen. Indem Stoddard seine Zusammenstellung mit »florentinischen Mosaiktischen« vergleicht, »deren Oberfläche aus glattpolirten, werthvollen Steinen besteht, die eben durch ihre Verschiedenheit ein umso vollendeteres Ganzes bilden«,87 rechtfertigt er die mutwillige Durchbrechung der geografischen Ordnung als geradezu ästhetischen Mehrwert. Es ließe sich freilich genauso behaupten, dass, indem die Komposition auf der Ebene der einzelnen Lieferung ansetzt, das Zeitschriftenprinzip ›Miszellaneität‹ in eine für das Liefe-

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Stoddard, John L.: »Vorwort«, in: ders., Im Fluge durch die Welt, o.S. Ebd. Es gibt eine frühe Version von Stoddards Portfolio, bei der die Blätter nur einseitig bedruckt sind, so dass sie sich nachträglich neu ordnen ließen. Den Auftakt zu dieser Fassung bildet jedenfalls ein Inhaltsverzeichnis, das den Fotos eine lineare Ordnung zu einer Weltreise, beginnend in Paris, endend in Kalifornien, vorschreibt. Dafür, dass sie nicht von Anfang an so geordnet ausgeliefert wurden, könnte sprechen, dass schon dieser Band im Vorwort die zitierte Rechtfertigung aufweist. Siehe Stoddard, John L.: Glimpses of the World. A Portfolio of Photographs of the Marvelous Works of God and Man. Containing a Rare and Elaborate Collection of Photographic Views of the Entire World of Nature and Art, Chicago: Photo Publishing Co. 1892 [siehe hier die digitalisierte Version in https://archive.org/details/glimpsesofworldp00stod]. Die ab 1893 durch die Educational Publishing Company in den USA und ab 1894 durch die Werner Company international vertriebene Fassung enthält dieselbe Auswahl von Aufnahmen, bedruckt die Blätter allerdings beidseitig, so dass eine nachträgliche Neuordnung ausgeschlossen, die Durchmischung aber gleichwohl angestrebt wird. Nur auf der Innenseite der Lieferumschläge bleibt das geografisch geordnete Verzeichnis der Bilder vorhanden.

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rungswerk gangbare Variante umgesetzt wird.88 Auch wenn das Resultat der Lieferungen von außen buchförmig erscheint, so ist es, wie bereits der Titel Portfolio offenlegt, strukturell nicht buchaffin angelegt. Für Les merveilles wurde Stoddards Modell zunächst bis ins Detail übernommen: das markante, für Druckpublikationen äußerst ungewöhnliche Querformat, der Umfang von 16 Seiten und 16 Lieferungen, der wöchentliche Erscheinungsrhythmus wie auch das Organisationsprinzip der Miszellaneität. In Details wurde die Ausstattung verbessert: Manche Tafeln sind einfarbig getont oder weisen Farbverläufe auf, die einen Himmel röten oder das Meer im Vordergrund blau färben. Besonders ins Auge fällt, dass die Gestaltung dem Namen Le Panorama alle Ehre macht, indem sie das Querformat einmal pro Nummer übersteigert, um auf der mittleren Doppelseite eine panoramatische Fotografie zu zeigen. Die Binnenstruktur von Les merveilles beschreibt der Verleger paratextuell – im Lieferumschlag – als »série d’albums«.89 Diese Bezeichnung trifft insofern gut, als sie dem Aspekt Rechnung trägt, dass die einzelnen Lieferungen – als geschlossene Alben – einer eigenen Dramaturgie folgen. Der Begriff des Albums trägt semantisch das Prinzip der individuellen Zusammenstellung von Bildern in sich, auch wenn er sich im 19. Jahrhundert nicht mehr ausschließlich auf die idiosynkratischen, von einzelnen Sammlern zusammengestellten Ordnungen bezieht, sondern – wie eben auch bei Le Panorama – immer häufiger auch für eine verlegerische Auswahl beansprucht wird.90 In jedem Fall ist ein Album eine Sammlung von Bildern, die – wie das Portfolio – nicht den Verpflichtungen einer eher buchtypischen Stringenz unterworfen ist. Der Begriff der ›Serie‹ scheint hier zwei Dinge zu bedeuten: die serielle Distribution in einem Nacheinander von Alben, aber eben auch eine lockere Verbindung der Elemente, die eher dem Prinzip der Ähnlichkeit (series) als dem der linearen Fortsetzung (serial) folgt. Und so reklamiert der Lieferumschlag Diversität als das die Zusammenstellung der Bilder leitende Strukturprinzip : »Nous avons apporté, dans leur groupement, la plus grande diversité : En regard d’une plage connue,

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Es ist bezeichnend, dass in diesem Fall der Innentitel erstaunlicherweise dauerhaft an den periodisch verteilten Ursprung des Bandes erinnert, heißt es dort doch: »sold only by subscription«, »publié hebdomadairement«, »erscheint wöchentlich«. Siehe zuerst J. Stoddard: Glimpses, o.S. Lieferumschlag zu Les merveilles de France 1 (o.J. [1895]) [= Le Panorama, 1]. Die Begrifflichkeit einer ›Serie‹ von Alben oder Lieferungen wird in den Selbstbeschreibungen auf den Lieferumschlägen beibehalten. Vgl. Lecca, Benedict: »Before Photography: The Album and the French Graphic Tradition in the Early Nineteenth Century«, in: Stephen Bann (Hg.), Art and the Early Photographic Album, Washington/New Haven/London: National Gallery of Art/Yale University Press 2011, S. 31-54, hier S. 33-34 u. S. 37.

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nous mettrons un paysage africain; à côté d’une toile, d’une statue, d’un portrait célèbre, une merveille de l’art monumental.«91 Der Erfolg von Les Merveilles ermutigte den Verleger, das Publikationsformat selbst zu serialisieren. Le Panorama lässt eine zweite Serie von Alben zum Salon des Jahres 1895 folgen, für die eine Auswahl der ausgestellten Gemälde und Skulpturen reproduziert wurde.92 Die wesentlichen Parameter bleiben konstant: die Konzentration auf reproduzierte Fotografie (und sei es fotografische Kunstreproduktion), das breite Panoramaformat, der Umfang von 16 Seiten, das Strukturprinzip der Miszellaneität sowie die Mündung in eine buchförmige Sammlung, für die man Titelei und Buchdeckel erwerben kann. Nach diesem Muster wird in den nächsten Jahren eine abwechslungsreiche Vielfalt von Themen publiziert. Neben den turnusmäßig wiederkehrenden Heften zum Salon zählen dazu Serien zu aktuellen Ereignissen wie dem Staatsbesuch des russischen Zaren oder auch ein nur drei Hefte umfassendes Album zum Griechisch-Türkischen Krieg, ein Album mit den beliebtesten Bühnenschauspielerinnen und Tänzerinnen (Nos jolis actrices), mit Paris la Nuit und Paris s’amuse zwei Serien zum Pariser Nachtleben, in denen momentfotografisch anmutende Ansichten aus den Café Concerts sich abwechseln mit posierten Szenen, nicht selten leicht anzüglichen Charakters. Das Prinzip der Miszellaneität regiert also nicht nur die Zusammenstellung innerhalb der ›Alben‹ und einer ›serie dʼalbums‹, sondern auf der Makroebene sogar die Serialisierung der Serien. Die verkürzte Laufzeit der Serien zielte darauf, die Diversität weiter zu maximieren.93 Der Lieferrhythmus lässt sich – ohne Angaben auf den Umschlägen – schwer rekonstruieren. Im Jahr 1896 gibt sich Le Panorama vorübergehend den Untertitel

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Les merveilles de France, 1 (o.J.) [= Le Panorama, 1], Lieferumschlag. Zu Diversität als Leitprinzip der Zusammenstellung siehe auch Bouillon, Marie-Ève: »Le Panorama. Merveilles de France, Algérie, Belgique, Suisse. Périodique populaire du tourisme par la photographie«, in : Études photographiques 31 (2014), https://journals.openedition.org/etudesphotographiques/3401. Lieferumschlag zu Le Panorama-Salon de 1895, 1 (o.J. [1895]) [= Le Panorama, o.Nr.] : »Le succès de notre publication Le Panorama (Merveilles de France, d’Algérie, de Belgique et de Suisse) dont un million trois cent soixante mille livraisons ont été répandues dans le monde entier, nous a montré à quel point le publique s’intéresse aux publications artistiques. Nous lui offrons donc, dans le même format, et sous le même aspect que Le Panorama, un album d’œuvres d’art qui, par le luxe du papier et de l’impression, par la finesse et la perfection des gravures méritera un succès au moins égal.« In den Nummern zum Salon wird besonders viel mit farbigem Druck gespielt, insbesondere in den zwei Themen-Nummern zur Aktmalerei. Nos jolis actrices, Nr. 1 (o.J. [1896]) [= Le Panorama, 33], Lieferumschlag : »À ses qualités, reconnues de tous […] nous en ajouterons une autre qui a bien son prix : la diversité. […] Loin de nous attarder longtemps sur un même sujet, nous varierons tous les mois à peu près, le genre de nos reproductions.«

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hebdomadaire,94 verspricht also Lieferungen im Wochenrhythmus. Doch schon im Lauf des Jahres reduziert sich dies auf den wenig konkreten Hinweis »publication périodique«,95 der, ohne Angabe von Publikationsdaten auf den Umschlägen, keine Schlüsse auf den Erscheinungsrhythmus zulässt. Weiter erschwert wird der Überblick dadurch, dass es ab 1898 zur Normalität wird, dass sich mehrere Serien gleichzeitig in Auslieferung befinden. Während jede unter einem Thema geführte Serie für sich als Lieferungswerk auftritt, das wenigstens oberflächlich auf Geschlossenheit hin orientiert ist, weist die übergeordnete Ebene von Le Panorama – als fortlaufende Serie von abgeschlossenen Serien – Züge der Zeitschrift auf. Dieser übergreifende Zusammenhang wird auf dem Lieferumschlag nicht nur durch den Titel Le Panorama angezeigt, der das fortgesetzte Publikationsformat und nicht das einzelne Lieferungswerk meint, sondern zusätzlich, indem nicht nur die Nummer der Lieferung innerhalb der laufenden Serie angegeben wird, sondern, wenn auch nur klein, zugleich serienübergreifend – gezählt vom ersten Heft von Les merveilles aus – die Position innerhalb von Le Panorama. Wenn man, wie vorgesehen, die einzelnen Serien zum Buchbinder bringt und die Lieferumschläge vor dem Binden entfernt, dann werden beide numerischen Ordnungen freilich spurlos getilgt. Paris instantané wird als 17. Serie in dieser Reihe mit der laufenden Nummer Nr. 104 begonnen.96 Die erste Lieferung lag Ende Juni 1898 in den Buchläden, die letzte Nummer erschien erst ein Jahr später, Ende Juni 1899.97 Da sie anfangs parallel 94

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Das gilt für die Serien Nos jolis actrices [= Le Panorama, 33-37], Nos musées nationaux [= Le Panorama, 38-42] sowie Les Cinq journées russes [= Le Panorama, 53-55]. Zuletzt erscheint der Hinweis auf dem Lieferumschlag von Paris qui s’amuse, 2 (o.J. [1896-1897]) [= Le Panorama, 57]. Auch ohne eine solche Nennung auf dem Lieferumschlag erscheint die alljährliche Serie zum Salon bis 1899 jeweils im Wochenrhythmus, um die Publikationslaufzeit mit der Dauer der Ausstellung zu harmonisieren. Lediglich bis zum Abschluss der Serie Paris [qui] s’amuse [= Le Panorama, 65] wird die Angabe auf der Innenseite des Lieferumschlags noch spezifiziert als »Publication Périodique (Il paraît trois numéros par mois)«. Zuvor abgeschlossen waren : Les merveilles de France, Algérie, Belgique, et Suisse (25 Hefte), Le Panorama-Salon de 1895 (7 Hefte), Nos jolis actrices (5 Hefte), Nos Musées Nationaux : Le Louvre/Le Luxembourg (5 Hefte); Le Panorama – Salon 1896 (10 Hefte), Les cinq journées russes. Cherbourg, Paris, Versailles, Chalons (3 Hefte), Paris [qui] s’amuse (10 Hefte), Le Panorama – Salon 1897 (10 Hefte), La Guerre Gréco-Turque (3 Hefte), Le Président de la République française. En Russie : Les fêtes de l’alliance (6 Hefte); Le Président de la République française. En Russie : Les fêtes de l’alliance (6 Hefte), L’Armée Française par Edouard Détaille (7 Hefte); La Guerre Hispano-Americaine (1 Heft). Davor beginnen, aber mit der Publikation von Paris instantanée überschneiden sich : L’exposition universelle de 1900, reproduction en couleurs des projets officiels (2 Hefte); Paris la Nuit (10 Hefte); Le panorama Salon de 1898 (10 Hefte). Aus Nachrichten in anderen Zeitschriften lässt sich der ungefähre Erscheinungszeitraum rekonstruieren: Als Beleg für die erste Lieferung siehe Anonyym: »Paris instantané«, in: La Dépêche. Journal de la Démocratie 29, 10.903 (24.6.1898), S. 3, respektive für die letzte Lieferung Anonym : »Revue bibliographique«, in : Le Rappel 10.701 (28.6.1899), S. 3; Anonym : »Biblio-

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zu drei weiteren Serien läuft, wird Paris instantané zunächst nur sporadisch bedient, während die zweite Hälfte der Nummern unmittelbar aufeinanderfolgend erscheint. Das Programm, das sich Paris instantané auferlegt, schließt direkt an die mit der Momentaufnahme verbundene Vorstellung der Stadt an: C’est Paris tout entier qui tient dans ces pages, l’immense ville, non pas immobile et froide, mais vivante, saisie sous ses aspects innombrables, avec sa physionomie, son mouvement et son atmosphère.98 Durch die Kontrastierung zur ›kalten‹, bewegungslosen Stadt der herkömmlichen Fotografie erscheint ihre momentfotografische Darstellung immer noch als Innovation. Obgleich die Momentfotografie beim Erscheinen von Le Panorama schon ein gutes Jahrzehnt praktiziert wird, trifft es zweifellos zu, dass sie zuvor weder in diesem buchaffinen Publikationsformat noch in so großem Format aufgetreten war.99 So ist es kein Wunder, dass die technische Leistung im weiteren Verlauf des Aufrisses herausgestellt wird: Nous avons voulu n’offrir au public que des documents rigoureusement photographiques. Or, la photographie est un outil admirable et décevant qui demande à être manié avec une grande délicatesse. Nos opérateurs sont parvenus – après combien d’efforts! – à obtenir des clichés où l’ensemble n’est pas sacrificié aux détails, où les premiers et les derniers plans se fondent dans une harmonieuse exactitude. Le présent album est la plus hardie application qui ait été faite des nouveaux procédés de fabrication.100 So unbearbeitet, wie behauptet, kommen die gedruckten Fotos freilich nicht daher. Zahlreichen Abbildungen lässt sich ohne weiteres ansehen, dass stark retuschiert graphie«, in : La Chronique des Arts et de la Curiosité 23 (17.6.1899), S. 212; sowie Anonym : »Bibliographie«, in : L’Œuvre d’art 7, 147 (15.6.1899), o.S. 98 Dieses und die folgenden Zitate stammen aus dem Ankündigungstext, der als Vorankündigung auf die Lieferumschläge von Panorama-Salon de 1898, 5 (o.J. [1898]) [= Le Panorama, 103] sowie Paris la Nuit, 6 (o.J. [1898-1899]) [= Le Panorama, 105] gedruckt wird, und die Innenseite des Umschlags von Paris instantané, Nr. 1-7 [= Le Panorama, 104, 110, 113, 115, 118 u. 120], ziert. Als werbende Ankündigung erschien der Text auch in anderen Periodika, etwa in: Le Journal amusant 51, 2191 (27.8.1898), S. 7. An Stelle des Prospekts, der üblicherweise der Publikation von Lieferungswerken vorausgeht, um mit einem Plan der Lieferungen für Subskribenten zu werben, tritt bei dem preisgünstigen und in großer Auflage in den Buchhandlungen vorrätigen Le Panorama der Lieferumschlag. 99 Die Mobilisierung der Kamera geht zwingend einher mit der Verkleinerung der Negative, was bei der Anfertigung der Abzüge den bis dato unüblichen Schritt der Vergrößerung erfordert. Dies ist der Bildqualität nicht zuträglich und stellt die ohnehin anspruchsvolle Umsetzung in ein ästhetisch befriedigendes Druckbild vor Herausforderungen. 100 Ankündigungstext in: Paris instantané, 1, Lieferumschlag, o.S.

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wurde. Die Beschreibung legt ohnehin ebenso großen Wert darauf, die Behauptung technischer Brillanz mit Begrifflichkeiten zu durchsetzen, die aus dem ästhetischen Diskurs herrühren. In einem recht schematischen Rückgriff auf die Debatten um den Kunststatus der Fotografie wird der charakteristische Detailreichtum der Fotografie versöhnt mit dem künstlerischen Eindruck von Ganzheit, der dem technischen Bild im Medienvergleich zur Kunst so oft abgesprochen worden war.101 Für das hier verfolgte Thema steht jedoch im Vordergrund, wie stark die an die Käufer gerichteten Zeilen die gelungene Darstellung von Paris an die Abbildung des Bewegten und der foule einerseits, die Fülle der Eindrücke andererseits binden, zwei Anforderungen, die von der seriellen Publikation von Momentaufnahmen ideal erfüllt werden. Als Marker für Paris wird der architektonisch gebildete Stadtraum zwar aufgerufen, er bildet aber nur die Bühne, auf der sich einzelne Szenen des Straßenlebens der foule auffächern: Paris est là, ses monuments, ses chefs-d’œuvre, ses promenades, ses rues… Et dans ce décor changeant, la foule passe! Foule laborieuse, foule indolente, foule d’en haut et d’en bas : le ministre qui revient de l’Élysée, le mitron qui suit la musique militaire, l’étranger qui baguenaude, l’homme du peuple qui se rend à son travail en sifflant une chanson. Et, parmi cette cohue, apparaît une fleur d’esprit et de grâce, – le délice des yeux, – la Parisienne!102 Das Bild der Stadt, das Paris instantané entwirft, stellt demnach die Menschen scharf, die sich – Individuen und Teil der Menge zugleich – durch die Straßen bewegen. Der Ankündigungstext schließt mit einer Erneuerung des Versprechens aus dem ersten Satz der Beschreibung – dem denkwürdigen Zusammentreffen von Lebendigkeit und Vollständigkeit: »Il restera comme un tableau brillant et complet de la vie contemporaine.«103 Noch mehr als Stoddards Portfolios versteht sich Le Panorama als reine Bildersammlung, in der nicht einmal die spärlichen Worte, die auf dem Lieferumschlag erschienen, in der Endform als Vorwort erhalten bleiben. Wer Paris instantané nur als Buch kennenlernt, bekommt also noch weniger paratextuelle Rahmung, als diejenigen, die die Nummern fortlaufend erworben haben. In der gebundenen Fassung folgen dem Schmutztitel, der lediglich den Reihentitel Le Panorama anführt, und der Titelseite direkt die Fotografien. Fortan wird der sprachliche Diskurs mar-

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Vgl. Kemp, Wolfgang: »Theorie der Fotografie 1839-1912«, in: ders. (Hg.), Theorie der Fotografie I, 1839-1912, München: Schirmer Mosel 1980, S. 13-45, hier S. 13-18. 102 Ankündigungstext in: Paris instantané, 1, Lieferumschlag, o.S. 103 Ebd.

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ginalisiert zur simplen Bildunterschrift, die hier regelmäßig dreisprachig: Französisch, Englisch, Deutsch auftaucht, als Zugeständnis an touristische Käufer.104

Abb. 8a/b: Gesamtansicht von Paris instantané, 1, [S. 1-16], HalbtonReproduktionen, Seitengröße jeweils 34 × 26,8 cm.

Die den Band wie die erste Lieferung (Abb. 8 a/b) einleitende Aufnahme ist von der Pont de la Concorde aufgenommen und zeigt eine durch die nach hinten fluchtende Linie des Flusses bestimmte Stadtlandschaft. Solch eine dynamische Verbindung von Vordergrund und Hintergrund, die den Blick durch die Fluchtlinien in den Bildraum und damit ins Heft einlädt, eröffnet fast alle Nummern. Die Absicht, potenzielle Käufer, die ins Heft hineinblättern, optisch mitzunehmen, ist unverkennbar. Angesichts der formalen Gestaltung irritiert die Motivwahl allerdings: Der Fotografie ist durchaus eine gewisse Zeitlichkeit eingeschrieben, weil das Gegenlicht und die hinter einer Wolke verborgene Sonne das spezifische Wetter akzentuieren und den Eindruck einer Abenddämmerung erwecken. Momenthaftigkeit wird ein Betrachter hier allerdings kaum assoziieren, zumal abseits der Wolken, einer Rauchfahne und den kleinen Wellen auf der Seine, keine bewegten Objekte, vor allem keine Menschen, zu erkennen sind. »La nuit tombe, de lourds 104 Im Publikationsjahr 1898 wirft die Weltausstellung von 1900 schon ihre Schatten voraus. So sei der Band auch gerichtet an »tous ceux qu’attirera en 1900 l’Exposition universelle«; Paris instantané, 8 u. 10 [= Le Panorama, 121 u. 123], Lieferumschläge.

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nuages planent sous un ciel orageux. […] Il semble que la ville s’endorme sur les bords du fleuve aux flots argentées«,105 würde man wohl eher als finales Bild erwarten.

Abb. 9: Paris instantané, 1, [S. 2], Halbton-Reproduktionen, Seitengröße: 34 × 26, 8 cm.

Die erste Doppelseite schaltet dann aber sofort um und bietet genau jenes Leben dar, dessen Einschlafen auf der vorhergehenden Seite vermeldet wurde. Auf der linken Seite (Abb. 9) zeigt der obere zweier extrem querformatiger Bildstreifen eine Menschenmenge von hinten, die auf etwas für die Betrachter Unsichtbares blickt, wohingegen der untere Bildstreifen ein potenzielles Blickobjekt, Angler am Seineufer, zeigt. Im Hintergrund der Aufnahme erkennt man wieder Schaulustige auf einer Brücke. Auf der rechten Seite findet sich ein seitengroß reproduziertes Foto der Pont au Change, auf der eine an der Brüstung aufgereihte Menge von Betrachtern steht, die auf die Seine, insbesondere auf ein Boot mit Anglern, herabgaffen. Links unten den Bildraum des großen Fotos beschneidend, findet sich ein frei gestelltes Bild eines Hafenarbeiters. Die Lebendigkeit trifft hier nicht nur die Bildobjekte, sondern auch das Layout der Seite, das mit den Bildformaten spielt. Wie zu dieser Zeit üblich, sind alle fotografischen Reproduktionen von einer dünnen 105 Paris instantané, 1, [S. 1]. Um Seitenangaben machen zu können, wo keine Paginierung vorgegeben ist, wurde jedes Heft von Seite 1 bis 16 durchgezählt.

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Linie umfangen, die als Rahmung den Bildcharakter der Fotografie wahrt.106 Paris instantané durchbricht diesen Rahmen jedoch immer wieder, so dass der Raum geradezu hinauszufließen scheint. Die Ausschnitthaftigkeit des fotografischen Bildraums, die medienspezifische Verbindung des Gezeigten zum kontingent aus dem Kader Ausgeschlossenen, wird hier sichtbar. Die vorwiegende Richtung der Durchbrechung öffnet den Bildraum virtuell zum Betrachter der Bildseite hin. Die miseen-page von Paris instantané greift hier Layoutstrategien auf, die in der Zeitschrift schon länger erprobt wurden und das Verhältnis von Bild, Schrift und Printmedium aushandeln. In diesem Sinn etabliert Paris instantané bereits auf den ersten Seiten der Lieferung das Prinzip einer Flexibilität, das die Vielfalt der Themen gerade nicht durch ein strenges Layout kontrolliert.

Abb. 10: Paris instantané, 1, [S. 5], Halbton-Reproduktionen, Seitengröße 34 x 26, 8 cm.

Mit der Bildunterschrift La tentation stellt die folgende Doppelseite einer seitengroßen Abbildung von Kirchgängerinnen, die vor der Église de la Madeleine auf den Beginn der Messe warten, drei kleinere Bilder gegenüber, auf denen sich Passanten vor Schaufenstern drängen (Abb. 10). Während die Auslagen eines Modegeschäfts für die Bildbetrachter verdeckt sind, weist uns der Bildtext darauf hin,

106 Siehe Gretton, Tom : »Le statut subalterne de la photographie«, in : Études photographiques 20 (2007), S. 34-49. http://journals.openedition.org/etudesphotographiques/927

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dass die eigentliche Attraktion in der Menge der Betrachterinnen liege: »Le plus bel étalage n’est pas dans les magasins!«107 Paris instantané empfiehlt den Lesern somit, den Blick eines Voyeurs anzunehmen, der durch die abgebildeten Fotografien gewährt wird. In der darunter platzierten Aufnahme findet sich ein Verkäufer eines Schmuckgeschäfts, der die Bildbetrachter – gewissermaßen durch den Fotografen hindurch – fixiert, während sie selbst von hinten ungesehen die Schaufensterbetrachter beobachten können. Paris instantané verdoppelt den Blick des Flaneurs, indem es seine Rezipienten auf Höhe des Trottoirs stellt und sie die flanierende Menge betrachten lässt. Fotografien, die das Betrachten als Zug des Pariser Lebens darstellen, durchziehen alle Hefte. Auch in der ersten Lieferung wird das Motiv weiter durchgespielt. Die nächste Doppelseite kombiniert den Morgenspaziergang des französischen Präsidenten Félix Faure, der vor dem Arc de Triomphe gezeigt wird, mit zwei Fotografien des Publikums eines Marionettentheaters, das sich am anderen Ende der ChampsElysées befindet. Die doppelseitig gedruckte Panorama-Aufnahme zeigt den Pariser Karneval ›mi-carème‹ auf dem Vorplatz der Oper. Es wurde ein leicht erhöhter Standpunkt gewählt, der es einerseits erlaubt, Personen im Bildvordergrund noch als Individuen auszumachen, andererseits die gesamte versammelte Menge abzuschätzen, die dem Umzug der Karnevalskönigin beiwohnt. Die anschließende Doppelseite zeigt das Leben im Jardin du Luxembourg. Während ein seitenfüllendes Bild den belebten Park vor dem Hintergrund des Palais du Luxembourg zeigt, greifen die vier übereinander gelagerten Fotos auf der linken Seite einzelne Szenen heraus (Abb. 11). Auf zwei der Aufnahmen betrachten Besucher Skulpturen im Park. Das nächste Thema beim Weiterblättern sind die Boulevards: Auf der linken Seite wird das Geschehen auf den Trottoirs eingefangen, das um einen Zeitungskiosk herum passiert, während die rechte Seite den dichten Verkehr auf der Fahrbahn ins Zentrum rückt. Die letzte Doppelseite greift das Schauen erneut auf, indem sie auf zwei ganzseitigen Aufnahmen Darbietungen von jonglierenden und turnenden Akrobaten vorführt. Die Komposition beider Fotos wird dominiert durch die halbkreisförmige Anordnung der Zuschauer. Die letzte Aufnahme der ersten Lieferung führt uns weit weg von solch populären Schauattraktionen zur kulturellen Elite. Vor dem Institut de France sehen wir eine nur spärlich belebte Szenerie: »(1 h.) Les immortels se rendent à la séance.«108 Die ›unsterblichen‹ Akademiemitglieder werden dem Zeitregime der Momentfotografie unterworfen, wenn sie zu einem spezifischen, flüchtigen Zeitpunkt auf dem Weg zur Sitzung abgebildet werden. Die Zusammenstellung und Anordnung der Bilder basiert auf Variabilität. Nachdem in der ersten Lieferung zentrale Motive durch thematisch einheitliche

107 Paris instantané, 1, [S. 5]. 108 Paris instantané, 1, [S. 16].

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Abb. 11: Paris instantané, 1, [S. 10], Halbton-Reproduktionen, Seitengröße 34 × 26, 8 cm.

Doppelseiten eingeführt wurden, steigern die folgenden Nummern die Durchmischung, indem Themen oft nur noch seitenweise durchgehalten werden und selbst in diesem Rahmen stark variiert auftreten können. Zugleich werden immer wieder Aspekte eingestreut, die – wie das Treiben auf der Place de la Concorde, die Attraktionen auf dem Jahrmarkt Foire du Trône oder eines der Pferderennen in Chantilly, Auteuil oder Longchamp – sogar mehr als zwei Seiten am Stück gewährt bekommen. Für den Tiergarten im Jardin des Plantes, den Großmarkt von Les Halles sowie die Schlösser von Fontainebleau und Versailles werden schließlich sogar thematisch geschlossene Nummern reserviert.109 Ein Prinzip, das diese Auswahl systematisch und erwartbar reguliert, wird bewusst vermieden. Wie ein von der foule mitgerissener Flaneur sollen die Betrachter von Paris instantané nicht ahnen können, was ihnen auf der nächsten Seite begegnen wird. Die forcierte Diversität wird inhaltlich strukturiert durch die variierte Wiederkehr bestimmter Gesichtspunkte und Motive, deren Abfolge und konkretes Auftreten allerdings 109 Die ›Themennummern‹ sind : Zoo im Jardin des Plantes (Paris instantané, 10), Fontainebleau (Paris instantané, 14), Versailles (Paris instantané, 17), Les Halles (Paris instantané, 18), Les environs (Paris instantané, 19). Anders als angekündigt, erscheinen die Hefte zur Banlieue also auch nicht als »trois derniers numéros« [Paris instantané, 8 u. 10, Lieferumschlag], sondern verteilt.

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stets arbiträr bleiben.110 Die aus der ersten Lieferung bekannten Themen werden fortgeführt und durch ein paar hinzukommende ergänzt. Immer wieder begegnet man der Menge vor Schaufenstern, beim Blick von der Brücke, im Park, beim Angeln, am Kiosk, beim Radfahren, als Besucher von Pferderennen, Jahrmärkten und Schaustellungen.111 Die ›Augenblicke von Paris‹ präsentieren sich so als zufällige Konstellationen, in denen sich immerhin Ähnliches vollzieht. Das Zentrum, um das die fotografische Bildwelt von Paris instantané gravitiert, ist die Menge. Den verschiedenen Formatierungen der Fotos in der mise-en-page entsprechen diverse Erforschungen des Daseins der foule: Während die seitengroßen Aufnahmen den Blick meist auf das Verhältnis der Menge zum steinern fixierten Stadtraum lenken und zum allmählichen Entdecken von Details einladen, bieten die kleineren Aufnahmen Scharfstellungen von lokalen Situationen, in denen die Figuren der Menge als solche im Zentrum stehen. Wenn mehrere Fotos auf einer Seite zusammengestellt werden, können sich zwischen den Bildern Überlagerungen ergeben, die bestimmte Aspekte betonen. Die inhärente Mobilität der foule kann die Momentfotografie nur fassen, indem sie punktuell Konstellationen herausgreift und deren Vorläufigkeit im Zusammenspiel der Bilder impliziert. Jede Szene wird von darauffolgenden, ähnlichen wie ganz anderen, abgelöst. Näher ist die Fotografie einem zweiten Grundcharakteristikum der Menge: ihrer Neigung zum Schauen. Die Auswahl der Fotos in Paris instantané trägt dem Rechnung, indem sie die foule immer wieder beim Betrachten vorführt: als Menge, die sich um Sichtbares – Schaufenster, Akrobaten, Pferdehändler, Zoogehege, Angler an der Seine, Feste, Skulpturen in den Parks, Pferderennen und anderes mehr – versammelt. In zahlreichen Aufnahmen sind auch Passanten eingefangen, die den Blick der Kamera erwidern, den Zuschauenden zuschauen. Der Akzent liegt in vielen Bildzusammenstellungen nicht auf dem, was die Leute anschauen, sondern auf dem Anschauen selbst. Häufig sehen wir die Zuschauenden als Gruppe von hinten, ohne dass wir das Objekt des Blicks überhaupt erkennen können (Abb. 9, 10 u. 11). Gerade auch als auf die Menge Blickende werden die Betrachter von Paris instantané mit der Menge, die ihnen fotografisch vorgeführt wird, gleichgesetzt. Nicht von ungefähr richtet sich die Publikation zunächst an die Einheimischen,112 die das Lieferungswerk – anders als die meisten Paris-Reisenden – im Buchladen 110

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Zu dieser Arbitrarität zählt auch, dass das Lieferungswerk hier – anders als die typische Zeitschrift – keine zeitliche Korrespondenz zur Außenwelt zeigt: So erscheint beispielsweise der Karneval in den ersten beiden Lieferungen im Juni, während Weihnachten in zwei weit auseinanderliegenden Nummern (Paris instantané, 3, [S. 14]; 16, [S. 2]) auftaucht. Um nur ein Beispiel herauszugreifen, sei hier die Frequenz des Motivs der Angler aufgezeigt. Es erscheint in Paris instantané, Nr. 1, [S. 2-3]; Nr. 3, [S. 6 u. 12]; Nr. 5, [S. 10]; Nr. 6, [S. 1]; Nr. 13, [S. 10]; Nr. 16, [S. 4]. Vgl. Paris instantané, 8 u. 10, Lieferumschlag : »Paris instantané constituera pour les Parisiens […] un inappréciable souvenir de l’incomparable ville, capitale du monde.«

Paris in vielen Augenblicken geliefert

Heft für Heft erwerben können, um ihre Stadt im Bild neu und anders zu entdecken, nämlich als Teil einer im Augenblick ertappten foule. Auf der einzelnen Seite, von Seite zu Seite, von Lieferung zu Lieferung, in Bezug auf die Bildmotive ebenso wie auf die mise-en-page der Bilder, wird Variation und Diversität betont, um damit das der buchtypischen Stringenz entgegengesetzte Prinzip der periodischen Publikation zu realisieren. Das Organisationsprinzip der Miszellaneität erscheint geradezu ideal, um die vielfältige, überraschungsreiche, komplexe Erfahrung der foule in der modernen Stadt im Print zu realisieren, nicht in einem Bild, sondern in einer Reihe von Bildern, die heterogen und offen organisiert wird. Wie vortrefflich sich das Prinzip des Lieferungswerks hierfür eignet, zeigt sich in der Organisation der Lieferungen. Werden als Umfang von Paris instantané zunächst zehn Nummern angegeben, so wird im Umschlag zur 8. Lieferung auf einmal mitgeteilt, dass sich das Programm nun geändert habe: A la demande d’un grand nombre de nos lecteurs, et en présence du succès de notre publication, nous porterons à 20 le nombre des livraisons de Paris Instantané. Il était difficile, en effet, de reproduire, en 10 livraisons seulement, les aspects innombrables de l’immense ville, avec ses monuments, son animation et ses attractions.113 In der Ausdehnung der Lieferungen steckt folglich nicht nur eine Aussage über die Nachfrage durch die Kunden, sondern auch eine über die Stadt Paris, deren Bilder letztlich ›unzählig‹, unerschöpflich scheinen. Nicht allein das Ende nach zehn Lieferungen, sondern die Abschließbarkeit an sich, wird zur Disposition gestellt. Auch nach 20 Lieferungen könnte Paris instantané prinzipiell weitergeführt werden. Eine unmissverständliche Schlussformel fehlt. Die Andeutung eines Endes mag man in den Motiven der letzten Seiten erkennen. Auf der letzten Doppelseite geht Paris instantané erstmals in den Pariser Untergrund. Die linke Seite zeigt Bilder vom Bau der U-Bahn, der auf das Großereignis der Weltausstellung 1900 vorausweist, zu dem diese eröffnet werden soll. Ein offizieller Souvenirband zur Weltausstellung wird von Le Panorama in 20 Lieferungen herausgebracht. Die vorletzte Seite zeigt Abwasserleitungen, damit gewissermaßen die Unterseite des urbanen Lebens über der Erde. Auf der letzten Seite finden sich schließlich vier Aufnahmen vom Friedhof Père Lachaise, unter anderem ein Foto der Mur des Fédérés, wo 48 Kommunarden von der Armee erschossen wurden. Indem bildliche Orte erkundet werden, in denen in verschiedener Hinsicht das städtische Leben endet, ist immerhin motivisch ein Abschluss angedeutet, wenngleich es nicht das erste Mal ist, dass Bilder der Friedhöfe erscheinen.114 113 114

Paris instantané, Nr. 8 [= Le Panorama, 121], Lieferumschlag. Aufnahmen von Pariser Friedhöfen finden sich zuvor in Paris instantané, 8, [S. 16]; 9, [S. 13]; 13, [S. 3]; 16, [S. 5].

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Eine Auffälligkeit der Fotografie in Paris instantané ist, dass überhaupt kein Wort über die Bildautoren verloren wird.115 Die zitierte Programmatik des Lieferungswerks spricht schlicht von »nos opérateurs«. Das wurde in vorhergehenden Bänden von Le Panorama anders gehandhabt. In Nos jolis actrices, Paris s’amuse und Paris la nuit finden sich beispielsweise Studioaufnahmen von Berühmtheiten, bei denen die bekannten Ateliers als Rechteinhaber ihr Logo an die Aufnahme koppeln. Manchmal firmieren die Bildproduzenten und Bildverlage bereits auf den Lieferumschlägen und Titelseiten, sicherlich im Sinne einer Werbung mit etablierten Namen aus der Branche.116 Die Namensnennung ruft Marken- und Bildrechte, vielleicht noch das Renommee auf, nicht aber Autorschaft in einem kunstbezogenen Sinn.117 Man darf vermuten, dass die Fotografen von Paris instantané größtenteils aus jenem Kreis von Amateuren stammen, die sich als Pioniere die neue Technik experimentierend erschlossen hatten und bei der Publikation nicht vorrangig an die kommerzielle Auswertung ihrer Bilder oder die Etablierung ihres Namens dachten. Zweifelsohne sind mehrere Fotografen am Werk, deren Bilder vom Verlag zusammengestellt wurden. Der Verzicht auf die Nennung der Fotografen kann aber auch den Eindruck verstärken, dass die Stadt selbst es ist, die jene Augenblicke des Lebens hervorbringt. In diesem Sinne hatten die frühen Fotografiediskurse die Denkfigur kultiviert, das technische Abbildungsverfahren ermögliche, dass sich die Wirklichkeit selbst abbilde. Die Ausblendung von Autorschaft verstärkt in diesem Sinn den Realitätseffekt. Gemünzt auf die Fotografie der städtischen Menge, ließe sich auch daran denken, dass Paris instantané die Fotografen gewissermaßen zu badauds erklärt, welche die distanzierte Individualität des flâneur an die foule abgeben und allein als deren

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Bei fünf Abbildungen, fast alle im seitenübergreifenden Panoramaformat, hat ausnahmsweise der Fotograf Alfred Ehrmann, durch die Signatur des Negativs, seinen Namen im Bild hinterlassen: Paris instantané, 8, [S. 4-5]; 11, [S. 8-9]; 15, [S. 8-9 u. S. 16]; 19, [S. 8-9]. Als Pionier des momentfotografischen Genres taucht Ehrmann auch bei Gunthert auf, aber ohne Hinweise auf eine professionelle Fotografentätigkeit; A. Gunthert: La conquête, S. 306 u. S. 319. Dies gilt etwa für die Serien Les merveilles (Neurdein Frères), Panorama-Salon de 1895 (Neurdein Frères), Nos Musées Nationaux : Le Louvre/Le Luxembourg (Adolphe Braun) oder Les Saisons (Studio Reutlinger). Auf die Dominanz des Markenzeichens deutet außerdem hin, dass sich – wenn auch eher selten in Paris instantané – die chemischen Reproduktionsanstalten, welche die Druckplatten anfertigen, mit ihren Signets in den Bildern verewigen. Genannt werden international agierende Betriebe wie Angerer & Goetschl aus Wien, die für die meisten Panoramen verantwortlich zeichnen, André & Sleigh aus England, sowie H. Reymond und Ducourtioux aus Frankreich. Unter einigen Aufnahmen (Paris instantané, 1, [S. 7]; 3, [S. 15]; 11, [S. 3]) findet sich der Hinweis, »Agrandissement d’une épreuve obtenue avec le Vérascope Richard«, einer Kamera, die auf einigen der Lieferumschläge beworben wird. Abermals ist hier bemerkenswert, dass die Nennung eines Markennamens für einen technischen Apparat wichtiger als diejenige der fotografischen Urheber zu sein scheint.

Paris in vielen Augenblicken geliefert

anonymer Agent fungieren. Die städtische Menge ist dann zugleich Gegenstand und Autor der Fotos: In Paris instantané bildet sich die foule gewissermaßen selbst ab.

Resumée Paris instantané verschmilzt Momentfotografie, die durch Rasterung druckreif geworden ist, mit dem Publikationsformat des Lieferungswerks, um Paris in einer Form darzustellen, die nicht mehr das statische Monument, sondern das städtische Leben in seiner Dynamik in den Mittelpunkt stellt. »[L]e but est de reproduire les mille aspects de la capitale et de sa vie quotidienne,«118 vermeldet die Werbung. Abbildungswürdig ist nun nicht mehr allein eine Reihe kanonisierter Monumente, sondern das alltägliche Leben, so wie es sich in Konstellationen verdichtet, die sich im fotografierten Augenblick manifestieren. Die Stadt wird aufgefächert in ›instantanés‹, die Raum- vor allem aber Zeitschnitte in das belebte Gewebe der Stadt legen. Die Fragmentarität der fotografischen Momentaufnahme begünstigt die fortlaufende Verknüpfung und Durchmischung der Bilder. Der paradoxe Anspruch die »mille aspects de la capitale«, »ses aspects innombrables«, »Paris tout entier«, also die Gesamtheit aller Facetten einzubeziehen, kann indes nur eingelöst werden, indem das Publikationsvorhaben zugleich seriell und miszellan angelegt wird. Die Ordnung der Bilder ist auf allen Ebenen – auf der Seite, in der Lieferung, in der periodischen Publikation – auf Diversität hin ausgerichtet, die einerseits mit jedem Blättern Unerwartetes offenbart, das sich nicht aus dem Vorhergehenden ableiten lässt, durch wiederkehrende Momente allerdings eine Struktur erhält, die das Spezifische des Pariser Lebens formulieren kann. Dies kann im Format eines bildzentrierten Lieferungswerks leichter gelingen, weil von einer auf serialisierte ›Alben‹ basierten Struktur nicht die lineare Stringenz eines Buchs erwartet wird. Die typisch serielle Mischung von Variation und Wiederholung drückt auf den ersten Blick schon die Gestaltung der Lieferumschläge aus, die sich zwar grafisch gleichen, aber die Farbe des Papiers und der Schrift jedes Mal anders kombinieren (Abb. 12). Die Entfaltung der unzähligen Facetten der Stadt wird durch das Nebeneinander von Geschlossenheit und Offenheit des Lieferungswerks, das zwischen Zeitschrift und Buch changiert, gefördert. Einerseits sollen die gesammelten Nummern nach der zwanzigsten Lieferung zwischen zwei stabile Buchdeckel wandern, die das Pariser Wappen tragen. Die Aufbewahrungsform drückt als solche aus, dass das, was hier gesammelt wurde, nicht 118

Anonym: »Paris instantané«, in: Journal amusant 52, 2217 (25.2.1899), S. 7; Anonym, in: Chronique des Arts 37 (26.11.1898), S. 338. Die Textidentität lässt vermuten, dass hier Formulierungen des Verlags kopiert wurden.

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nur zum unmittelbaren Konsum bestimmt ist, sondern ebenso eine gewisse Dauer beansprucht: Parisern wie Touristen soll Paris instantané als »inappréciable souvenir de l’incomparable ville«119 dienen.

Abb. 12: Eine Auswahl von Lieferumschlägen von Paris instantané, Größe 34 × 26, 8 cm.

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Paris instantané, 8 u.10, Lieferumschlag.

Paris in vielen Augenblicken geliefert

Der auf dem Einband zu lesende Sinnspruch des Pariser Wappens, »fluctuat nec mergitur«, ruft in Erinnerung, wie sehr sich in der Geschichte der Stadt Dauer und fortdauernder Wandel verbinden. Dem offenen, der Zukunft zugewandten Charakter der Stadt wird die serielle Publikationsweise gerecht. Die Serialisierung, welche die Anordnung der fotografischen Augenblicke antreibt, wird zwar verlegerisch mit der letzten Lieferung abgeschlossen, ist aber als in den vorgehenden Lieferungen aktualisiertes Prinzip eigentlich endlos fortsetzbar. Stets werden sich neue, wenn auch mehr oder weniger ähnliche Konstellationen der Menge im Stadtraum ergeben, die Gegenstand einer Fotografie werden können. Anschaulich wird die Vorläufigkeit jedes Abschlusses dadurch, dass sich Paris instantané selbst ad hoc zehn Lieferungen mehr gestattet. Weil diese Nummern nicht grundsätzlich anders als die vorhergehenden angelegt sind, könnte man die Serie mühelos weiter verlängern, obgleich sie am Ende auf schon 500 Abbildungen angeschwollen ist. Die besondere Verbindung von Offenheit und Schließung, Dynamik und Stillstellung, ist dem von gedruckten Fotografien grundierten Lieferungswerk eigen, das als Publikationsformat gedruckter Fotografie nur für eine kurze Phase relevant bleibt. Diese medienspezifische Ausdrucksform weicht nach der Jahrhundertwende rasch einer stärkeren Differenzierung der Medienformate von Buch und Zeitschrift, die eine Entscheidung für das eine oder andere fordern. Paris instantané zeigt an, welchen Verlust an Ausdrucksmöglichkeiten diese Entwicklung bedeutet. Diese Besonderheit findet Ausdruck in einer Formulierung, mit der La Chronique des Arts, ein Supplement zur Gazette des Beaux-Arts, für Paris instantané wirbt, obwohl es sich doch um Bilder ohne Autor handelt: »on n᾽avait pas encore mieux démontré, jusqu᾽à présent, à quel point la photographie peut être un art.«120

120 Anonym, in: Chronique des Arts 37 (26.11.1898), S. 338.

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»Mehr als ein Bildbuch: ein Übungsatlas.« Die Großstadt im Fotobuch der Weimarer Republik Mareike Stoll

Für Aenne

Die Großstadt tritt ins Buch Pünktlich zum Weihnachtsgeschäft veröffentlicht der Rudolf Mosse Verlag Anfang Dezember 1925 das Fotobuch Amerika. Bilderbuch eines Architekten von Erich Mendelsohn.1 Es präsentiert Ansichten amerikanischer Großstädte, richtet sich damit an ein ebenso architektur- wie amerikainteressiertes Publikum und ist gleichzeitig eines der ersten Fotobücher überhaupt.2 Allein das Format gibt Aufschluss über die Erfahrung gänzlich verschiedener Größenverhältnisse in Amerika, denn mit den Abmessungen von 34,5 x 24,2 cm ist es ein »ungewöhnliches Großformat« auch für Fotobücher.3 In der ersten Auflage sind 77 Fotografien auf 82 Seiten zu sehen, die in der zweiten Auflage nur zwei Jahre später auf 100 Bilder ausgeweitet werden.4

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Mendelsohn, Erich: Amerika. Bilderbuch eines Architekten, Berlin: Rudolf Mosse Verlag 1 1926 (2. Auflage 1928). Das Publikationsjahr ist 1926, in der Tat wurde es aber schon im Dezember 1925 an die Buchhandlungen ausgeliefert. Siehe hierzu ausführlich Jäger, Roland: »Bilderbücher eines Architekten. Erich Mendelsohn im Rudolf Mosse Buchverlag, Berlin«, in: Manfred Heiting/Roland Jaeger (Hg.), Autopsie. Deutschsprachige Fotobücher 1918 bis 1945, Bd. 1, Göttingen: Steidl 2012, S. 174-187. Zur Entstehung des Fotobuchs in der Weimarer Republik siehe weiterführend Stoll, Mareike: ABC der Photographie. Photobücher der Weimarer Republik als Schulen des Sehens, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2018. Sowie zum Amerikanismus dieser Zeit R. Jäger: »Bilderbücher eines Architekten«, S. 174-187; Molderings, Herbert: »Amerikanismus und Neue Sachlichkeit in der deutschen Fotografie der zwanziger Jahre«, in: ders., Die Moderne der Fotografie, Hamburg: Philo fine arts 2008, S. 71-91; sowie die Rezension zum Reprint von Banham, Peter Reyner: »Amerika, Bilderbuch eines Architekten by Erich Mendelsohn«, in: Journal of the Society of Architectural Historians 38.3 (1979), S. 300-301. R. Jäger: »Bilderbücher eines Architekten«, S. 176. In der ersten Auflage werden die Bilder und deren Autoren jedoch nicht genauer gekennzeichnet. In der zweiten Auflage wird dies korrigiert und der hier ergänzte Untertitel selbst

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Abb. 1: Mendelsohn, Erich: Amerika. Bilderbuch eines Architekten, Berlin: Rudolf Mosse Verlag 21928, Einband. © Erich Mendelsohn Nachlass, Kunstbibliothek zu Berlin/The Getty Research Institute, Courtesy Kicken Berlin.

Entstanden war es auf einer mehrwöchigen Reise durch die USA, die der Berliner Architekt Erich Mendelsohn im Oktober 1924 unternahm. Auf dem Programm standen die großen amerikanischen Metropolen: New York City, Buffalo, Chicago, Detroit sowie kleinere Universitätsstädte. Während dieser Reise, die vom Rudolf

trägt schon den Hinweis darauf, dass nicht alle Bilder von Mendelsohn sind: »Mit 100 meist eigenen Aufnahmen des Verfassers.« Siehe weiterführend hierzu ebd., S. 178-181.

»Mehr als ein Bildbuch: ein Übungsatlas.«

Mosse Verlag finanziert wurde, schrieb Mendelsohn tagebuchartige ausführliche Briefe an seine Frau Luise in Berlin, um die vielen Eindrücke festzuhalten, die auf ihn einwirkten.5 Für die geplante Publikation wurde er aber auch zum Fotografen: »Ich habe wie wild photographiert!« schrieb er an Luise.6 Die Briefe an seine Frau wiederum bilden die Grundlage für die kleinen Texte, die später neben den Bildern abgedruckt werden, sowie für ein, zwei weitere Artikel, die vorab im Berliner Tageblatt erschienen, das ebenfalls vom Rudolf Mosse Verlag herausgegeben wurde.7 Bereits die Ankunft des Schiffes im New Yorker Hafen ist für Mendelsohn bemerkenswert. Er skizziert die »ersten Risse der Umgebung«, und schreibt von der »fieberhafte[n] Erregung an Bord« angesichts des zu erwartenden Landgangs und der Skyline von Manhattan.8 Der atemlose Telegrammstil bricht in dem Moment in den Brief ein, als Mendelsohn über die Architektur zu sprechen beginnt: »Plötzlich aus Abendnebeln für einen Augenblick – Woolworth Building. Schemenhaft, hoch oben im Himmel. Niemand dachte so hoch hinauf. Dann Dunst des Abends, Hafenstille, […].«9 Das plötzliche Aufblitzen des hohen Gebäudes im Kontrast zur Stille des Wartens hat fast selbst etwas Fotografisches, ähnelt einem Schock. Und tatsächlich dominieren in den Aufzeichnungen aus New York jene Gegensätze, die auch das Fotobuch prägen, durchdringt das Gesehene jedes aufgeschriebene Wort. Der Architekt Mendelsohn fängt die Gegensätze mit der Kamera ein und skizziert in den Briefen pointiert, wie New York City den europäischen Besucher gänzlich vor den Kopf stößt, vor allem bedingt durch das städtebauliche Durch- und Nebeneinander. Die »Hafenstille« der Ankunft wird schon bald von den architektonischen Höhepunkten und Straßenschluchten der Stadt abgelöst, denn die Kathedrale des Kommerzes oder »Cathedral of Commerce«, wie das Woolworth Building auch genannt wurde, ist das treffende Symbol dieser Metropole, in der Kirchtürme längst nicht mehr zu den höchsten Gebäuden zählten und die Grundstückspreise explodiert waren.10 Dies führte stadtplanerisch dazu, dass man architektonisch »so hoch

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Diese Briefe sind seit 2014 digitalisiert und im Erich Mendelsohn Archiv (EMA) online verfügbar. Die Archive der Kunstbibliothek in Berlin, als Teil der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz und das Getty Research Institute, Los Angeles haben den Briefwechsel zwischen Erich und Luise Mendelsohn, die beide in der Zeit von 1910-1953 geschrieben haben, verfügbar gemacht. Bienert, Andreas/Wim de Wit (Hg.), EMA – Erich Mendelsohn Archiv. Der Briefwechsel von Erich und Luise Mendelsohn 1910-1953, Mit Textbeiträgen von Regina Stephan und Moritz Wullen, Version März 2014, Kunstbibliothek – Staatliche Museen zu Berlin & The Getty Research Institute, Los Angeles, 2014. http://ema.smb.museum/de/briefe Zitiert nach: R. Jäger: »Bilderbücher eines Architekten«, S. 175. Ebd., S. 176. Erich Mendelsohn an Luise, 11. Oktober 1924. http://ema.smb.museum/de/briefe Ebd. Erich Mendelsohn an Luise, 16. Oktober 1924. http://ema.smb.museum/de/briefe

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hinauf« denken musste, wie Mendelsohn schreibt, um genug Wohn- und Arbeitsraum zu schaffen, also schwindelerregende 40-geschossige Hochhäuser baute. Es sind die extremen Widersprüche, die das Städtebild in den USA prägen und die Mendelsohn auf seiner Rundreise nachhaltig beeindrucken. Sie machen das »Problem Amerika« aus, wie er in der Einleitung zum Fotobuch schreibt. An Luise formuliert er es so: Ich gehe als Beobachter durch die Straßen, Avenuen wie Hochhaustäler, verstört durch die unvorhergesehenen Ausmaße dieser Kolonialstadt, dieses ungeordnete wilde Wachstum, in dem, völlig undemokratisch, die einzelne Geldmachtwillen ihre 20-50 Stock hohen Individualitäten aufgerichtet haben. […] Ein Konglomerat von märchenhaftem Reichtum und Notarmeen, Häuser von 6 m Front, 2 Stock hoch, neben 20 m mit 30 Stockwerken. Alle Stile der Geschichte dicht neben einander […].11 Die architektonische Form der Stadt ist in seinen Augen so stark vom Kapitalismus geprägt, dass sie fast die Züge einer Stadt verliert: In ihrer Widersprüchlichkeit ist sie »ungeordnet«, »undemokratisch«, »wild« – und verrät auch, was Städtebau in den Augen Mendelsohns nicht sein sollte. Das heterogene Gesicht von New York City als melting pot bringt er schließlich so auf den Punkt: »Das ist keine Stadt im europäischen Sinn, das ist die Welt, ganz, in einem Topf.«12 So ist es kein Zufall, dass Amerika mit seinen Großstadtansichten eines der ersten Fotobücher überhaupt ist. Für ein Buch über Städte, die so anders sind als die europäischen und die dadurch völlig neue Seherlebnisse einfordern, muss man, so scheint es, eine mediale Form finden, die diese neue Wahrnehmung erfahrbar werden lässt. Das Fotobuch, das um 1924 in Deutschland entsteht, hat wesentlich mit der Großstadterfahrung der Montage zu tun und ist eine Reflexion auf die veränderten, intermedialen Wahrnehmungsräume in diesem Kontext.13 In Deutschland entstehen sie deshalb zu diesem Zeitpunkt, da Fotopublikationen hier ästhetischen, drucktechnischen, medienspezifischen und journalistischen Rahmenbedingungen ausgesetzt sind, die eine Auskopplung von Fotografie im Buch begünstigen.14 Deutschsprachige Fotobücher der Weimarer Republik strahlen schnell inspirierend 11 12 13

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Ebd. Ebd. Siehe weiterführend M. Stoll: ABC der Photographie, S. 36-40 und S. 49-105. Sowie Stoll, Mareike: »Die Stadt im Fotobuch. Abisag Tüllmanns ›Großstadt‹ (1963) und Jitka Hanzlovás ›Hier‹ (2013)«, in: Burcu Dogramaci/Désirée Düdder/Stefanie Dufhues/et al. (Hg.), Gedruckt und erblättert. Das Fotobuch als Medium ästhetischer Artikulation seit den 1940er Jahren, Köln: Walther König 2016, S. 200-211. Insbesondere im Vergleich zu den USA, Frankreich und England lässt sich nachzeichnen, dass die mediale Konstellation in Deutschland besonders günstig war, um das Fotobuch als Medium zu ermöglichen. Hinzu kommen die besonderen Akteure, die das Fotobuch in diesem Kontext in die Welt bringen, die Typograf_innen und Buchdrucker_innen, Verleger_innen

»Mehr als ein Bildbuch: ein Übungsatlas.«

Abb. 2: Mendelsohn, Erich: Amerika. Bilderbuch eines Architekten, Berlin: Rudolf Mosse Verlag 2. Auflage 1928, S. 16- 17, Fotografie von Erich Mendelsohn © Copyright: Erich-Mendelsohn-Nachlass, Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin/The Getty Research Institute, Courtesy Kicken Berlin.

auf die europäischen Nachbarn aus, auf Frankreich etwa, wo mit Germaine Krulls Métal Ende 1927 ein erstes Fotobuch in Frankreich veröffentlicht wird, das stark von Krulls künstlerischer Ausbildung in Deutschland und Frankreich geprägt ist.15 Auch Moï Vers Paris, das 1931 erscheint, ist wesentlich von der Bauhaus-Ästhetik seines Autors beeinflusst. Die konsequente Nutzung von Doppelbelichtungen hat sich der besonderen Dynamik des Urbanen verschrieben und lässt es zu einem der experimentellsten Fotobücher über Großstädte zu dieser Zeit werden.16 Die Entstehung des Fotobuchs zu dieser Zeit aber lässt sich nicht ohne Stadterfahrung und die veränderten Seherfahrungen im urbanen Raum denken. Das hängt sowohl mit dem Medium der Fotografie als auch mit dem des Buchs zusammen, denn Buchexperimente erproben das Neue Sehen typografisch und experimentieren oft mit fotografischen Abbildungen, sie loten dabei auch die Grenzen des Buchs und seiner Lesbarkeit aus. Das wiederum ist bedingt durch die neuen Leseerfahrungen

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und Fotograf_innen, die auf besondere Weise von der kreativen Infrastruktur der Weimarer Republik profitierten und in ihr experimentieren konnten. Krull, Germaine: Métal, Paris: Librairie des Arts decoratifs 1927. Moï Ver: Paris. 80 photographies de Moï Ver, Paris: Editions Jeanne Walter 1931.

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in der Stadt (an Reklame-Wänden aus dem S-Bahnfenster, auf Litfaßsäulen, Bussen oder in der U-Bahn) und hat mit der dort ubiquitär vorhandenen Fotografie zu tun. Fotobücher, so meine These, erklären die fotografische Wahrnehmung in diesem Kontext zum Desiderat: Sie muss trainiert werden. Fotobücher sind dann Lesefibeln für das Erlernen des ABC der Fotografie, es geht also um eine Medienkompetenz in Bezug auf das Bilderlesen.17 Die veränderte Großstadterfahrung mit Simultaneität von Sinneseindrücken und Beschleunigung findet im Fotobuch ihren kongenialen Rahmen und ist dadurch parallel zum Film zu sehen. Denn Mendelsohns Amerika nutzt die medialen Vorzüge des Fotobuchs als heterogenem Buchobjekt, das die Sequenz der Fotografien im Raum des Buchs wie in einem »Buchkinema« zeigt.18 Alternativ zum Film allerdings bietet das Buch den Vorteil, dass es aktiv gehalten und erblättert wird, dass die Betrachtenden flexibler sind im Zugriff auf das Gesehene.19 Auf der rechten Seite sehen wir die Fotografien, links sind kleine Texte, welche die visuelle Botschaft der Fotos kommentieren und unterstreichen.20 Die architektonische Fremdheit und das visuelle Schwindelgefühl einer großen Stadt wie New York, Buffalo, Detroit oder Chicago, die den europäischen Betrachter Mendelsohn und seine Leser_innen inmitten der Straßenschluchten überfallen, werden Teil der Bildsequenz, wenn auf eine ruhige Frontalansicht eine Froschperspektive oder eine Wendung um 180 Grad folgt, die den Blick in die Gegenrichtung der Straße zeigt. Die Unterschiede zu städtebaulich viel homogeneren europäischen Großstädten der 1920er Jahre, insbesondere zu Berlin, in dem es noch keine Wolkenkratzer gibt, liegen auf der Hand und fallen sofort ins Auge, machen aber gerade den ästhetischen Reiz dieses Fotobuchs im Sinne eines Reiseberichts aus.21

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Siehe ausführlicher hierzu M. Stoll: ABC der Photographie, S. 107-147. Mendelsohn zeigt auch eine Abwicklung von vier Bildern, die einen besseren Eindruck eines Straßenzugs geben sollen. Vgl. E. Mendelsohn: Amerika, S. 24-30. Zum Stichwort Buchkinema siehe: Stetler, Pepper: »The New Visual Literature: László Moholy-Nagy’s Painting, Photography, Film«, in: Grey Room 32 (2008), S. 88-113, hier S. 100-102 sowie den von ihr zitierten Molzahn, Johannes: »Nicht mehr lesen! Sehen!«, in: Das Kunstblatt 12 (1928), S. 78-82. Ausführlicher hierzu M. Stoll: ABC der Photographie, S. 243-251. In der ersten Auflage ist der Text mittig zum Bild angeordnet, in der zweiten Auflage rutscht er ans obere Seitenende. Zu den Unterschieden zwischen der ersten und zweiten Auflage siehe ausführlicher R. Jäger: »Bilderbücher eines Architekten«, S. 174-187. In der Rezension von 1979 schreibt der Architektur-Historiker Banham, dass Mendelsohns Publikation in der ersten Auflage an eine hastig zusammengebastelte Diashow eines begeisterten Reisenden erinnere, weil sich einige Tippfehler und falsche Zuordnungen eingeschlichen haben. Diese Fehler jedoch wurden in der 2. Auflage berichtigt. Siehe: P. R. Banham: »Amerika«, S. 300-301.

»Mehr als ein Bildbuch: ein Übungsatlas.«

Was ist ein Fotobuch? An dieser Stelle mag es hilfreich sein, den Begriff des Fotobuchs genauer zu definieren. Am Beispiel von Amerika ist zunächst festzuhalten, dass dies zur Gattung der Bildbände über Städte zählt. Mit einer bestimmten Anzahl von Fotografien (meist sind es 60, 70 oder 80, manchmal 100, in Mendelsohns Fall sind es in der ersten Auflage 77, in der zweiten 100) werden architektonische Ikonen einer Metropole vorgestellt: Berlin, Paris, oder Hamburg. Sie stehen in der Tradition bebilderter Reiseführer und kaum eine Form des fotografisch illustrierten Buchs ist in den 1920ern so populär wie das Städte-Bilderbuch. Das allein reicht allerdings nicht aus, um sie als Fotobücher zu bezeichnen, denn diese Bücher würden auch mit Radierungen, Lithografien, Zeichnungen oder einer älteren Form der bildlichen Darstellung funktionieren, da diese vor allem als Illustrationen verwendet werden. Wenn die Fotografie als Fotografie nichts strukturell Neues hinzubringt, ist ein fotografisch illustriertes Buch noch kein Fotobuch im engeren Sinne. Das jedoch ist eines der zentralen Elemente des Fotobuchs: Es besteht aus Fotografien, die sich nicht durch andere Bilder ersetzen lassen, ohne ein grundlegend anderes Buch daraus zu machen. (Die Frage ist also: geht es um die Fotografie oder um das, was auf dem Bild zu sehen ist?) Mit anderen Worten: Das Fotobuch ist nur dann ein Fotobuch, wenn die Fotografie darin wesentlich ist, das Buch also von dem, was die Fotografie ist, definiert wird. Wie genau das aussieht, und was die Fotografie im Fotobuch mit dem Buch und mit der Person macht, die das Buch in der Hand hält, will ich im Folgenden zeigen. Amerika bietet so ungewöhnliche Perspektiven, wie etwa den Blick auf das Equitable Trust Building in New York (Abb. 2), die so nur die Fotografie zeigen kann. In der Fotobuchforschung war die Definition des Mediums bis dato alles andere als eindeutig, zum Teil sind die Ausschlusskriterien unscharf, zum Teil die Positionen in sich widersprüchlich. Einige Theoretiker betrachten fast alle fotografisch illustrierten Bücher als Fotobücher, engere Definitionen des Begriffs fokussieren die primäre Rolle des visuellen Arguments im Sinne eines Foto-Essays, das wiederum nicht exklusiv dem Buch vorbehalten ist.22 Im Rahmen meiner Analyse ist ein Foto22

Für eine wissenschaftliche Übersicht über die verschiedenen Positionen und deren Vorzüge sowie Limitationen siehe Stoll, Mareike: Schools for Seeing: German Photobooks between 1924 and 1937 as Perception Primers and Sites of Knowledge, Unveröffentlichte Dissertation, Princeton 2015, sowie M. Stoll, ABC der Photographie, S. 43-46. The Photobook, das 2015 erschien, ist eine Kompilation verschiedener Aufsätze, die sich ebenfalls mit der Begrifflichkeit des Fotobuchs auseinandersetzen. Vgl. di Bello, Patrizia/Wilson, Colette/Zamir, Shamoon (Hg.): The Photobook. From Talbot to Ruscha and Beyond, London/New York: I.B. Tauris 2015. Für einen frühen Aufsatz im englischsprachigen Raum siehe auch Jennings, Michael W.: »Agriculture, Industry, and the Birth of the Photo-Essay in the Late Weimar Republic«, in: October 93 (2000), S. 23-56.

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buch ein Buch, das sich vom privaten Fotoalbum dadurch unterscheidet, dass es in einem kleinen oder großen namhaften Verlag erscheint. Es enthält eine Folge von Fotografien, die bewusst zusammengestellt wurde und es weist insgesamt wenig Text auf. Auch ist es ein Buch, das sich durch den Titel und durch andere Elemente auf Sprache bezieht, das fotografische Bild aber steht im Zentrum des Fotobuchs. Ob es klein ist oder so schwer, dass man es als Sumo-Buch bezeichnet, verändert an der Grundidee des Fotobuchs wenig, auch wenn die haptische Dimension überaus relevant ist, da sie die Wahrnehmung der Bilder definiert.23 Auch am Bauhaus und im Umkreis des Werkbundes wurde eifrig mit Buchgestaltung experimentiert. In diesem Umfeld entwickelte sich das Fotobuch, das die Bildsequenz des Foto-Essays mit dem gedruckten Buch verbindet, die typografisch gestaltete Seite in Kombination mit der Fotografie nutzt, um neue Präsentationsformen zu erproben. Das Fotobuch ist in diesem Kontext aber auch eine verlangsamte und verlangsamende, komplexe Form der Präsentation von Fotografie, im Gegensatz zu den oben genannten anderen Erscheinungsformen und Publikationszusammenhängen fotografischer Bilder. Im Übrigen wird der Begriff »Fotobuch« in den späten 1920er Jahren in Deutschland, als das Medium zu seiner originären Form fand, noch synonym mit Bildband, Bildwerk, Bilderbuch oder Bildbuch verwendet.24 Erst später setzt sich also der Begriff Fotobuch als Bezeichnung durch. So ist auch der Titel Mendelsohns zu verstehen: Bilderbuch eines Architekten. In einer zeitgenössischen Rezension schrieb der russische Konstruktivist El Lissitzky kurz nach Erscheinen des Buchs 1926 über einige der ungewöhnlichen Perspektiven, die das Buch von Mendelsohn vor dem Auge der Rezipient_innen ablaufen lässt wie einen Film. Er gibt gleich eine Gebrauchsanweisung für die geneigten Leser mit an die Hand: »Das Buch muss man über den Kopf heben und drehen, um einige Fotografien zu verstehen.«25 Durch diesen Verweis auf das Dynamische aber erhält das Buch filmische Qualität: Die Betracher_innen halten es in Händen und tauchen ein in die beschleunigte Wahrnehmung der Straßenschluchten, durch die sich die Bewohner dieser großen Stadt im Eilschritt bewegen. Wir

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Wie oben erwähnt, ist die Größe des Amerika-Buchs auch ein Hinweis auf die Aussage der Sequenz, weil die Bilder zum einen von den gänzlich ungewohnten Größenverhältnissen in den USA erzählen, zum anderen auch ein Eintauchen in die Stadtwahrnehmung ermöglichen. Vgl. Jäger, Roland: »Die Fülle der neuen Bildbücher. Eine begriffsgeschichtliche Skizze zum ›Fotobuch‹«, in: Heiting/Jaeger, Autopsie (2012), S. 24-29, hier S. 24. El Lissitzkys Besprechung von Erich Mendelsohns Amerika: Bilderbuch eines Architekten erschien auf Russisch als »Glaz architektora« (dt. Das Auge des Architekten), in: Stroitel’naja promyšlennost (dt. Bauindustrie) 2 (1926), S. 144-146; übersetzt erschien sie als »Das Auge des Architekten«, in: Sophie Lissitzky/Jen Lissitzky (Hg.), El Lissitzky: Proun und Wolkenbügel, Dresden: Verlag der Kunst 1977, S. 64-69. Siehe ausführlicher hierzu auch Molderings, Herbert: »Die Geburt der modernen Fotografie«, in: ders., Die Moderne der Fotografie (2008), S. 15-44, sowie R. Jäger: »Bilderbücher eines Architekten«, S. 174-187.

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sehen das dichte Gedränge der Menschen auf den Treppen zur U-Bahn und hören deren ächzendes Geräusch beim Einfahren in den U-Bahnhof. Diese Gebrauchsanweisung, die El Lissitzky seiner Buchbesprechung mitgibt, verrät uns auch etwas über die Sehgewohnheiten von Fotografie und Architektur zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Sie versucht den visuellen Schock, von dem Mendelsohn in seinen Briefen schreibt und den er in die Gestaltung des Fotobuchs überträgt, für zeitgenössische Betrachter_innen in etwas Produktives umzulenken. Sich in den großen Metropolen zurechtzufinden, will gelernt sein und das junge Medium des Fotobuchs ist ein geeignetes Mittel, wenigstens die visuelle Wahrnehmung zu schulen. Denn Fotografie ist in der Großstadt allgegenwärtig und wird ebenso eifrig produziert, wie sie rezipiert wird. Eben weil das so ist, gibt es auch einen schnell wachsenden Bedarf an Orientierung im »Bildermeer« und viele Autoren, die sich zu Wort melden. Es gibt verschiedene enthusiastische Vertreter, die sich von der Neuen Sachlichkeit der Fotografie auch eine neue Gestaltung der Gesellschaft erhoffen und auf der anderen Seite einige Kritiker, die vor der Manipulierbarkeit des Menschen durch fotografische Bilder warnen.26

Schulen des Sehens Dem einen wie dem anderen Lager aber geht es darum, dass wir Fotografien lesen lernen müssen, um die Bilder nicht nur passiv zu konsumieren. Das ist ein

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Siegfried Kracauer war sicherlich einer der versiertesten Kritiker des fotografischen Bildes, wie es in den Illustrierten auftrat, sah jedoch ein großes Potenzial im Film, wenn er richtig eingesetzt würde. Vgl. den Essay Kracauer, Siegfried: »Die Photographie« (1927), in: ders., Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 21-39. Einer der stärksten Gegner der Fotografie, der sehr genau das politische Potenzial einer Manipulierbarkeit erkannte, war der späte Walter Benjamin, vor allem im Kunstwerk-Aufsatz. Einige Fotografen der Neuen Sachlichkeit hatten in der Weimarer Republik die Fotografie als neutral etablieren wollen und gehofft, mit einem Fokus auf das »Fotografische der Fotografie« alle anderen Dimensionen ausblenden zu können (so etwa Albert Renger-Patzsch, den Benjamin genau dafür in seiner Kleinen Geschichte der Photographie kritisiert). Ihnen wäre entgegenzuhalten, dass Fotografie als Medium immer Spuren ihrer eigenen Zeit in sich trägt, die unter veränderten politischen Vorzeichen und bei anderen Fotografen umso deutlicher sichtbar werden. So etwa bei August Sander, der in seinem großangelegten Projekt der Menschen des 20. Jahrhunderts eine andere Sachlichkeit, eine der Typologie, vorlegen wollte. Dieses Projekt wurde von den Nationalsozialisten als zu sozialkritisch bezeichnet und schließlich verboten: Das 1928 erschienene, nur einen Ausschnitt abdeckende Antlitz der Zeit blieb lange die einzige Form, in der das Projekt veröffentlicht vorlag. Erst posthum erschienen alle Mappen der sieben geplanten Bände. Vgl. Fotografische Sammlung, SK Stiftung Kultur, Köln (Hg.): August Sander. Menschen des 20. Jahrhunderts. Gesamtausgabe in 7 Bänden, München: Schirmer/Mosel 2002.

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Grund dafür, warum in dieser Zeit so viele Fotobücher publiziert werden: Sie sollen eine Schule des Sehens sein, so wie wir uns in der Großstadt mit ihren Herausforderungen des engen Zusammenseins so vieler Menschen (damit sind die architektonischen Herausforderungen ebenso gemeint wie die der Infrastruktur, der olfaktorischen, visuellen, akustischen und auditiven Reize) zurechtzufinden lernen müssen.27 Die Großstadt wird in der jungen Weimarer Republik zum sozialen und damit auch zum künstlerischen Laboratorium, zum Ort für gesellschaftliche Spannungen und zum zentralen Schauplatz politischer und ästhetischer Lösungsversuche sowie diverser Utopien. Gleichzeitig aber sind die Fotobücher selbst wunderbare Schauplätze (und »Spielwiesen«) des Visuellen. 1926, als das Buch von Erich Mendelsohn erscheint, sind wir bereits mitten in der intermedialen Zeit der Großstadt der Weimarer Republik und ihrer turbulenten Erforschung in Kunst, Philosophie und Fotografie angekommen. Mendelsohns Bilderbuch gibt Einblicke in die Gegensätze zwischen alten Sehgewohnheiten und einem neuen, amerikanischen und europäischen Verständnis von Großstadt. Die experimentelle Fotografie, das Neue Sehen, bieten so viele ungewöhnliche Perspektiven, dass das Drehen eines Buchs tatsächlich hilfreich ist, um sich an neue Sehgewohnheiten anzupassen. Mit El Lissitzkys pragmatischem Vorschlag, das Amerika-Buch zu drehen, um die Wahrnehmung in der Großstadt nachzuvollziehen, sind wir also mitten in der Debatte um die neue Fotografie und die Schulung einer neuen Wahrnehmung durch die Fotografie im Medium Fotobuch. Dass das fotografische Bild im Buch zum Film werden kann, hatte so auch der ungarische Avantgarde-Künstler und Medientheoretiker László Moholy-Nagy formuliert und dabei seinen Fortschrittsglauben als Technikoptimismus propagiert. Es ist ein ähnlicher Gedanke wie der von El Lissitzky, er ist aber stärker von MoholyNagys Technophilie geprägt: Das menschliche Sensorium, so seine These, lässt sich durch die Erfahrungs- und Wahrnehmungswelt der Großstadt effizienter machen. Dazu eignet sich die neue Fotografie hervorragend, man muss sie nur lesen lernen und auch zu nutzen wissen. Somit ist Moholy-Nagy einer derjenigen, die den Begriff des Neuen Sehens entscheidend geprägt haben. Im Rahmen der Bauhausbücher hat er sich auch durch seine radikale Neuinterpretation der Buchgestaltung einen Namen gemacht und die Diskussion um Fotografie entscheidend mitgeprägt. Er verstand es auf beeindruckende Weise, die zeitgenössischen Medien von ihren Möglichkeiten her zu denken. Sein Bauhaus-Buch Malerei, Photographie, Film wurde 1924 konzipiert, aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten aber konnte es erst 1925 erscheinen.28 27

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Immer noch aktuell dazu: Simmel, Georg: »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. I, Gesamtausgabe Band 7, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 116-131 sowie M. Stoll: »Die Stadt im Fotobuch«, S. 200-211. In einer überarbeiteten Neuauflage wird es 1927 noch einmal ergänzt, d.h. die Texte, Bildkonstellationen und Seitenzahlen ändern sich. Auch bekommt es einen neuen Titel: die Or-

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Abb. 3: Moholy-Nagy, László: Malerei, Fotografie, Film (Reprint der 2. Auflage von 1927), München: Albert Langen 21927, S. 122-123 © Copyright: Hattula Moholy-Nagy, VG-Bildkunst 2020, Courtesy Kicken Berlin.

Moholy-Nagys Buch ist kein Fotobuch, steckt aber den Rahmen für Fotobücher ab. Mithilfe der konstruktivistischen Typografie entsteht hier ein Buch, das Fotobücher mit ihrer Kombination aus Bild und Text eigentlich erst ermöglicht und ein produktives Nachdenken darüber anregt. Der Titel seines Buchs ist Programm: Er schlägt eine Bewegung des Fortschritts von der Malerei über die Fotografie zum Film vor, versteht alle drei Medien aber als produktiv. Insbesondere in Bezug auf die Fotografie und den Film ist das überraschend: Sein Ideal ist das der Teilhabe an Fotografie und am Film, also die produktive Nutzung der Fotografie – er sieht das Fotografieren als revolutionäres Instrument für die Kommunikation. Sein besonderer Ansatz ist in der Betonung der Produktion zu sehen, die über die reine Reproduktion (oder passive Rezeption) hinausgeht und vor allem »neue Beziehungen« erschaffen soll.29 Der fotografische Apparat erlaubt dem Menschen, Dinge zu sehen und zu erforschen, die vorher dem bloßen Auge unzugänglich waren, die »Hygiene des Optischen«, wie Moholy-Nagy es nennt, soll die Menschheit befreien – es klingen hier der Fortschrittsglaube und eine ganz eigene Medienutopie

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thografie wurde von der vermeintlich altertümlich wirkenden »Photographie« zur modernen Schreibweise »Fotografie« geändert. Damit haben wir es mit dem seltenen Fall zu tun, dass sich der Titel eines Buches in der zweiten Auflage ändert. Moholy-Nagy, László: Malerei, Photographie, Film, München: Langen 1925, S. 28.

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an.30 Fotografie solle zum künstlerischen Ausdruck, zur Gestaltung benutzt werden; der fotografische Apparat sei »das verlässlichste Hilfsmittel zu den Anfängen eines objektiven Sehens«.31 Denn obwohl die Fotografie »schon über hundert Jahre alt ist«, sei es erst in den letzten Jahren gelungen, »die Gestaltungskonsequenzen zu erkennen. Seit kurzem erst ist unser Sehen reif geworden zur Erfassung dieser Zusammenhänge.«32 Moholy-Nagy begreift fotografisch illustrierte Bücher in den 1920er Jahren als Wahrnehmungsschulung im Sinne eines Trainings für eine nahe Zukunft. Sein Buch ist somit ein pädagogisches und utopisches Manifest, als solches ist es auch vor allem in der Forschung verstanden worden. Die amerikanische Fotohistorikerin Pepper Stetler hat jedoch darauf hingewiesen, dass es zu kurz greift, wenn man nur auf den Inhalt schaut.33 Mit ihr will ich Moholy-Nagys Malerei, Photographie, Film als ein typografisch aufwendig gestaltetes Buch verstehen, das als visuelles Objekt sein eigenes Programm umsetzt. Die Typografie involviert die Rezipient_innen aktiver in den Leseprozess als es andere Bücher bis zu diesem Zeitpunkt taten. Im Zusammenspiel aus fotografischem Bild, typografisch gestalteter Doppelseite und Sequenz der Bilder erschafft Moholy-Nagy den Prototypen eines Fotobuchs.34 Moholy-Nagy hatte schon 1924 damit begonnen, sein Bauhausbuch zusammenzustellen und formulierte darin eine radikale Idee der Fotografie als Prothese für den Menschen.35 Das gut gestaltete Buch, das Fotografie und Typografie umfasst, könne die Funktion eines Katalysators übernehmen und das darin trainierte Lesen von Fotografien sogar zu einer Kulturtechnik werden. Und tatsächlich, für MoholyNagy scheint die Kombination von Buch und Fotografie das ideale Medium zu sein für die Anpassungen an die sich verändernde Welt der Moderne, insbesondere an die multisensorischen Herausforderungen des Großstadtlebens.36 Fotografie, die konstruktivistische Malerei und letztlich das Gesamtkunstwerk Film stellten für ihn die geeigneten Mittel dar, um eine »Hygiene des Optischen« zu erreichen, die

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Moholy-Nagy war ganz optimistisch: »Die Menschen schlagen einander noch tot, sie haben noch nicht erfasst, wie sie leben, warum sie leben […] Langsam sickert die Hygiene des Optischen, das Gesunde des Gesehenen durch.« Ebd., S. 36. Ebd., S. 26. Ebd., S. 5. P. Stetler: »The New Visual Literature«, S. 88-113. Siehe weiterführend hierzu M. Stoll: Schools for Seeing, S. 61-77. L. Moholy-Nagy: Malerei, Fotografie, Film, München: Langen 1927, S. 26: »d.h. der fotografische Apparat kann unser optisches Instrument, das Auge, vervollkommnen bzw. ergänzen.« Andrea Nelson etwa betont: »While this book confirmed the relevance of photographic technology to the pedagogical methods and utilitarian enterprises of the Bauhaus, it also revealed Moholy-Nagy’s aspirations to educate the general public in the skills of visual literacy.« Nelson, Andrea: »László Moholy-Nagy and Painting Photography Film: A Guide to Narrative Montage«, in: History of Photography 30.3 (2006), S. 258-269, hier S. 259.

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aufklärend wirken sollte.37 Sein Bauhausbuch Nr. 8 ist nach den Prinzipien der Neuen Typografie gestaltet, die ein leichtes Erfassen von Inhalt möglich machte und ein demokratisches, egalitäres Element hat: »Die Eindeutigkeit des Wirklichen, Wahren in der Alltagssituation ist für alle Schichten da.«38 Moholy-Nagys Buch ist kein Fotobuch im engen Sinne, bereitet aber die Fotobücher der späten 1920er Jahre vor, nicht zuletzt, weil es einen Bildteil enthält, der zum genauen Lesen einlädt und eine eigene visuelle Argumentation vorstellt.39 Seine theoretischen Essays, die den ersten Teil des Buches bilden, widmen sich unter anderem verschiedenen fotografischen Verfahren, der Buchgestaltung und der Zukunft des Films. Sie legen das Fundament für seine revolutionäre Medientheorie. So entwickelt Moholy-Nagy zu Beginn des Buchs zunächst das pädagogische Programm der Assimilierung an die Großstadt sowie an die neuen Herausforderungen der von Technik geprägten Welt und erläutert, warum dies überhaupt notwendig ist. Die Simultaneität der verschiedenen Sinneseindrücke habe einen zuweilen überwältigenden Effekt, die Wahrnehmung müsse also geschult werden. Durch die Riesenentwicklung der Technik und der Großstädte haben unsere Aufnahmeorgane ihre Fähigkeit einer simultanen akustischen und optischen Funktion erweitert. Schon im alltäglichen Leben gibt es Beispiele dafür: Berliner queren den Potsdamer Platz. Sie unterhalten sich, sie hören gleichzeitig: die Hupen der Autos, das Klingeln der Straßenbahn, das Tuten der Omnibusse, das Hallo des Kutschers, das Sausen der Untergrundbahn, das Schreien des Zeitungsverkäufers, die Töne eines Lautsprechers usw. und können diese verschiedenen akustischen Eindrücke auseinanderhalten. Dagegen wurde vor kurzem ein auf diesen Platz verschlagener Provinzmensch durch die Vielheit der Eindrücke so aus der Fassung gebracht, dass er – trotz des immanenten Gefahrgefühls – vor einer fahrenden Straßenbahn wie angewurzelt stehen blieb (1924). Einen Analogfall optischer Erlebnisse zu konstruieren liegt auf der Hand. Ebenso analog, dass moderne Optik und Akustik, als Mittel künstlerischer Gestaltung verwendet, auch nur von einem für die Gegenwart offenen Menschen aufgenommen werden und ihn bereichern können.40

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L. Moholy-Nagy, Malerei, Photographie, Film (1925), S. 36 (siehe Anmerkung 31). Ebd. Ebd., S. 45: »Ich lasse das Abbildungsmaterial getrennt vom Text folgen, da es in seiner Kontinuität die im Text erörterten Probleme Visuell deutlich macht.« [Herv. i.O.] L. Moholy-Nagy, Malerei, Photographie, Film (1925), S. 33-35, Das simultane oder Polykino. [Herv. i.O.]

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Er schlägt eine Brücke zu den optischen Erlebnissen und spricht sich erklärtermaßen für die Sehschule durch die Fotografie als erstem Schritt zum Film aus. Dem Textteil folgt eine Bildsequenz, die Fotopaare präsentiert. Im dritten Teil des Buchs finden wir eine weitere Bildsequenz, das typografisch aufwendig gestaltete »Typofoto«, wie Moholy-Nagy es nennt, also die Kombination von Fotografie und Typografie (Abb. 3). Es ist ein Filmskript für einen Film, der jedoch nie realisiert wurde. Es trägt den Titel Dynamik der Großstadt – auf 7 Doppelseiten entfaltet sich vor den Augen der Leser ein komplexes visuelles Netz aus Verweisen, durch das wir durch typografische Elemente gelenkt werden. Man liest, springt durch die visuellen und grafischen Elemente zu den Fotos, dann wieder zum Text. Es ist die Idee eines Films über die Großstadt, die Buch geworden ist – es ist die Großstadt im Buch, oder besser noch: die Großstadt als Buch, so wie Moholy-Nagy sie sich ausgedacht hat. Abb. 4: Moholy-Nagy, László: Malerei, Fotografie, Film (Reprint der 2. Auflage von 1927), München: Albert Langen 21927, S. 134-135 © Copyright: Hattula Moholy-Nagy, VG-Bildkunst 2020, Courtesy Kicken Berlin.

Moholy-Nagy schreibt dazu in den Vorüberlegungen: Die Elemente des Visuellen stehen hier nicht unbedingt in logischer Bindung miteinander, trotzdem schließen sie sich durch ihre photographisch-visuellen Rela-

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tionen zu einem lebendigen Zusammenhang raumzeitlicher Ereignisse zusammen und schalten den Zuschauer aktiv in die Stadtdynamik ein.41 Wenn wir nach dem Durchblättern der Sequenz auf der letzten Seite und beim Wort »Ende« angekommen sind, haben wir gelernt, uns auf den Doppelseiten zurecht zu finden und können auch die Aufforderung, »das Ganze rasch noch einmal durch [zu] lesen« entziffern, ohne das Buch drehen zu müssen oder über den Kopf zu halten. Wenn wir das tun, das ganze Buch oder die Dynamik der Großstadt rasch noch einmal lesen, dann bekommt auch der Doppelpunkt seinen Sinn, der nach dem Wort »Ende« steht, der also der Anfang einer Wiederholung ist, kein Endpunkt. Dieses Prinzip der Wiederholung als Form der Einübung des Gesehenen ist für das Medium Fotobuch auf maßgebliche Weise relevant.

Das Fotobuch als Wahrnehmungsfibel In einer berühmt gewordenen Besprechung verschiedener Fotobücher aus dem Jahre 1931 schreibt Walter Benjamin dem Fotobuch Antlitz der Zeit von August Sander die Charakteristika eines »Übungsatlas« zu.42 In Kleine Geschichte der Photographie spricht Walter Benjamin im Herbst 1931 davon, dass Fotobücher eine politische Funktion des Sehen-Lernens übernehmen könnten. Benjamin schreibt darin über eines der berühmtesten Fotobücher, über August Sanders Antlitz der Zeit, das in 60 Portraits einen Querschnitt der deutschen Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt zeigt.43 Benjamin hatte sich bei dieser Wortschöpfung des »Übungsatlas« auf Alfred Döblin berufen, der das Vorwort zu Sanders Fotobuch geschrieben hatte und darin auf dessen Wissenschaftlichkeit verwies, indem er den Begriff des »Lehrmaterials« heranzog und von einer »vergleichende[n] Photographie« sprach.44 In seinem Text baut Benjamin darauf auf und führt den Begriff konsequent auf den 41

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L. Moholy-Nagy, Malerei, Photographie, Film (1925), S. 114: »Der Film ›Dynamik der Großstadt‹ will weder lehren, noch moralisieren, noch erzählen; er möchte visuell, nur visuell wirken. Die Elemente des Visuellen stehen hier nicht unbedingt in logischer Bindung miteinander, trotzdem schließen sie sich durch ihre photographisch-visuellen Relationen zu einem lebendigen Zusammenhang raumzeitlicher Ereignisse zusammen und schalten den Zuschauer aktiv in die Stadtdynamik ein.« [Herv. i.O.] Benjamin, Walter: »Kleine Geschichte der Photographie« (1931), in: ders., Gesammelte Schriften II.1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 368-385, hier S. 381. Sander, August: Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts, München: Transmare & Kurt Wolff 1929. Döblin, Alfred: »Vorwort«, in: A. Sander, Antlitz der Zeit (1929), S. 12-13: »Wir haben ein herrliches Lehrmaterial vor uns. […] Wie es eine vergleichende Anatomie gibt, aus der man erst zu einer Auffassung der Natur und der Geschichte der Organe kommt, so hat dieser Photograph vergleichende Photographie getrieben […]. […] die Bilder sind im ganzen ein blendendes Material für die Kultur-, Klassen- und Wirtschaftsgeschichte der letzten dreißig Jahre.«

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(anatomischen) Atlas zurück, nimmt jedoch auch die historischen Verweise Döblins auf, macht also das Fotobuch zu einem »Übungsatlas« im politischen Sinne. Er schreibt: Über Nacht könnte Werken wie dem von Sander eine unvermutete Aktualität zuwachsen. Machtverschiebungen, wie sie bei uns fällig geworden sind, pflegen die Ausbildung, Schärfung der physiognomischen Auffassung zur vitalen Notwendigkeit werden zu lassen. Man mag von rechts kommen oder von links – man wird sich daran gewöhnen müssen, darauf angesehen zu werden. Man wird es, seinerseits, den andern anzusehen haben. Sanders Werk ist mehr als ein Bildbuch: ein Übungsatlas.45 In dieser Wortkreation verbindet Benjamin zwei wesentliche Elemente des Fotobuchs: seine Nähe zu der jahrhundertealten Tradition der Atlanten, die in den Bibliotheken der Gelehrten ihren (schon aufgrund ihrer Größe) oftmals »gewichtigen« Platz haben und in den Fächern der Geografie, der Medizin und Geschichtswissenschaft Verwendung finden. Benjamin fügt dem Atlas aber noch das Üben hinzu – und unterstreicht damit eine Funktion, die der Atlas im Zusammenhang der Wissenschaft von Anfang an, also schon seit dem 16. Jahrhundert, innehat: In den Bildern selbst liegt ein Wissen, das der Atlas greifbar und lehrbar macht.46 So wird in medizinischen Atlanten das Pathologische vom Normalen unterscheidbar, indem dort beides vergleichend nebeneinandersteht.47 Mit dem Wort »üben« aber rückt Benjamin die intellektuelle Tätigkeit in die Nähe der Schule und öffnet den Begriff des Atlas somit für ein Lesen-Lernen von Fotografien. Ein Atlas, so legt es Benjamins Beschreibung nahe, steht in enger Verbindung zur Fibel als einem Instrument zum Lesen- und Schreiben-Lernen. Was genau jedoch mit dem Fotobuch geübt und einstudiert werden soll, deutet Benjamin in seinem Text nur an: Die von Sander im Fotobuch präsentierten Gesichter und Körperhaltungen der Fotografierten sind von ihrer gesellschaftlichen Position, ihrer politischen Haltung und den sozialen Erfahrungen geformt und gezeichnet. Diese Spuren in Gesichtern zu lesen, wird – folgt man Benjamins Logik – in den Jahren nach 1931 »zur vitalen Notwendigkeit« für ein Leben in Deutschland werden.48 Sanders Fotobuch ist somit ein Übungsatlas der fotografischen Alphabeti45 46

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W. Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie« [1931], S. 381. Siehe Großer Atlas zur Weltgeschichte und Carl-Diercke Schulatlas, beide beim Westermann Verlag verlegt. Weiterführend: Black, Jeremy: »Historical Atlases«, in: The Historical Journal 37.3 (1994), S. 643-667, hier S. 646 und 654. Daston, Lorraine/Galison, Peter: »The Image of Objectivity«, in: Representations. Special Issue: Seeing Science 40 (1992), S. 81-128, hier S. 117. So sollten Atlanten helfen »to acquire an ability to distinguish at a glance the normal from the pathological, the typical from the anomalous, the novel from the unknown«. W. Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, S. 381.

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sierung, die auch eine politische Dimension bekommt. Darüber hinaus aber lässt sich in seinem Buch auch die Bewegung hin zur Großstadt ablesen. Von den Bauern, mit denen das Buch beginnt, gibt es eine Bewegung hin zum Leben in der Stadt, bis hin zum Elend des Arbeitslosen der Großstadt, mit dem das Buch endet. Die Großstadt gilt es aus den Gesichtern zu lesen, die Sander fotografiert hat. Aus den Gesichtern, die von Reichtum und Privileg erzählen, ebenso wie aus denen, die von Wohnungsnot und Entbehrungen gezeichnet sind.

Das vergleichende Sehen im Fotobuch 1930 riefen der Kunstkritiker Franz Roh und der Grafiker Jan Tschichold eine Reihe kleinformatiger Fotobücher ins Leben, die sie Fototek nannten und dem Werk zeitgenössischer Fotografen widmen wollten.49 Sie orientierten sich dabei an der ein Jahr zuvor erschienenen epochalen Publikation Foto-Auge: 76 Fotos der Zeit, bei der beide schon erfolgreich zusammengearbeitet hatten und die im Zusammenhang mit der einflussreichen Werkbund-Ausstellung Film und Foto in Stuttgart erschien.50 Die beiden ersten Bände der Fototek, wieder von Tschichold gestaltet, stellten monografisch jeweils 60 Fotografien eines Fotografen im handlichen Format zwischen DIN A4 und DIN A5 vor. Die Fotografien des Avantgardisten László Moholy-Nagy erschienen im ersten Band, der zweite Band war der weit weniger bekannten Fotografin Aenne Biermann gewidmet.51 Anhand dieses kleinen Fotobuchs von 1930 gilt es nun, grundlegende Fragen zum Fotobuch zu stellen.52 Die Montage der fotografischen Bilder zu einer Folge sowie deren Platzierung auf der Doppelseite im Buch führen zu konkreten Fragen, die für jedes Fotobuch relevant sind, die aber immer anders beantwortet werden: Ist eine Fotografie zu sehen (wie im Beispiel Erich Mendelsohns) oder sind zwei Fotografien nebeneinandergestellt? Warum sind es diese Bilder, die hier kombiniert werden, auf einer Doppelseite und nacheinander in der Sequenz? Wie sind sie auf dieser Doppelseite positioniert, gibt es einen Abstand zum Seitenrand oder füllt die Fotografie

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Zur Reihe »Fototek« siehe Jaeger, Roland: »Bücher der Neuen Fotografie. Die Reihe Fototek im Verlag Klinkhardt & Biermann, Berlin«, in: ders./Heiting, Autopsie (2012), S. 332-343. Ebd., S. 335; siehe auch Stetler, Pepper: »Franz Roh and the Art History of Photography«, in: Mitra Abbaspour/Lee Ann Daffner/Maria Morris Hambourg (Hg.), Object:Photo. Modern Photographs: The Thomas Walther Collection 1909-1949. An Online Project of The Museum of Modern Art, New York: The Museum of Modern Art 2014, S. 1-10. Biermann, Aenne: 60 Fotos, Berlin: Klinkhardt & Biermann 1930. In diesem Jahr ist ein Reprint des Fotobuchs erschienen: Koetzle, Hans-Michael (Hg.): Aenne Biermann. 60 Fotos, Berlin: Klinkhardt & Biermann 2019. Ausführlicher zum Werk Aenne Biermanns und zum Fotobuch siehe M. Stoll: ABC der Photographie, S. 2-251.

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die Seite? Wie verhalten sich die visuellen, auch sprachbildlichen Elemente – wie etwa Bildtitel oder Seitenzahlen – zu den Fotografien? Welche Maße hat das Buch (wie groß ist es und wie schwer, ist es leicht zu handhaben oder schwer?), wie fühlt sich das Papier an, hat es eine glatte Oberfläche oder ist es stumpf? Damit ist auch gefragt: Welche kognitiven und haptischen Prozesse werden mobilisiert, wenn Fotografien und Buch zusammenkommen? Biermanns Buch produziert durch die Anordnung auf der Doppelseite sofort den Effekt des vergleichenden Sehens, weil die Augen der Rezipient_innen die Seite als Ganzes wahrnehmen, mit verschiedenen Blickbewegungen alle Elemente der Doppelseite abtasten und sich zwischen ihnen hin und her bewegen. Der weiße Rand um die Fotografien, die Seitenzahl oder Abbildungsnummer und der Bildtitel werden so Teil des Bildes, werden vom vergleichenden Blick erfasst, und alles kommt in einer Bildkonstellation zusammen.

Abb. 5: Biermann, Aenne: 60 Fotos, Berlin: Klinkhardt & Biermann, 1930, Bildpaar 9/10 © Copyright: Public Domain.

Als fünftes Bildpaar in Biermanns Buch sehen wir rechts ein Bild zweier Kinderhände und Schreibübungen, links die Fotografie eines weißen Eies, das in zwei

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Teile aufgebrochen ist.53 Das Eigelb in der größeren Schale wird von der leeren, weißen Hülle der oberen, kleineren Schale komplementiert. Die Kontraste zwischen dunkel und hell, zwischen voll und leer bestimmen das Bild. Die Augen der Betrachtenden werden dazu angeregt, sich zwischen den Formen hin und her zu bewegen, weil sich in beiden Gefäßen eine Lichtquelle spiegelt. Die Schatten auf dem dunkleren Untergrund wiederum kontrastieren mit dem Weiß der Eischale. Im rechten Bild sind die Grautöne der Schreibunterlage und der Kinderhände und -arme dem Untergrund auf der linken Fotografie ähnlich, das Weiß des Heftes spiegelt die weiße Eischale im linken Bild. Der Kopf des Kindes ist nur durch die Konturen angedeutet, die als Schatten auf den linken Arm und einen Teil des Heftes fallen. Dieser Schattenriss findet sein visuelles Echo in der zerbrochenen Schale des Eies. Mehr noch, die Geste der Kinderhände schafft einen Hohlraum, der einem Ei ähneln könnte. So beginnen das »zerbrochene Ei« und die Kinderhände eine Geschichte von Ursache und Wirkung zu erzählen, aber auch von zeitlicher Umkehr und Wiederherstellung, wie es nur die Fotografie vermag: Indem die Aufnahme des Eies auf der linken Seite, die Hände auf der rechten arrangiert sind, ergibt sich eine Bewegung aus »geöffnet« und »geschlossen« – das Ei ist geöffnet, die Kinderhände sind geschlossen. Weil die Augen der Rezipient_innen hin und her wandern, wird das zerbrochene Ei in den geschlossenen Kinderhänden aufgehoben und wieder zusammengefügt. Auf den Heftseiten sehen wir Schreibübungen, die fein säuberlich die linke, im Foto angeschnittene Seite ausfüllen. Einige Wörter sind zu entziffern: »Andenken« etwa steht dort, oder »dauern«, und – schon auf der nächsten Seite – »zurechtfinden«. Diese Wörter sind in Silben aufgebrochen, verlangsamen und erleichtern so den Schreib- und Leseprozess. In einer anderen, erwachsenen, leserlichen Handschrift, die sehr wahrscheinlich der Lehrperson zuzuordnen ist, steht »fleißig« als Lob unter dem Geschriebenen. Im Lernprozess des Lesens und Schreibens wird kognitiv jener Vorgang der Dekomposition (des Auseinandernehmens oder Lesens) und Rekomposition (des Wiederzusammensetzens oder Schreibens) unendlich oft vollzogen, bis er zum fast körperlichen Automatismus wird, schreibt Henri Bergson um 1900 in seinen Überlegungen zu Erinnerung, Gedächtnis und Geist.54 Diese Kette von Aktionen aber 53

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Dass Text und Bildunterschriften in diesem Fotobuch dreisprachig vorliegen, lässt sich als Weiterführung der Prinzipien der internationalen Ausstellungen, insbesondere von FotoAuge, sehen. Ganz nebenbei aber lernt der/die aufmerksame Leser_in zwei fremdsprachliche Vokabeln für das jeweils Abgebildete. Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Essays zur Beziehung zwischen Körper und Geist. Jena: Eugen Diederichs 1908, S. 72: »Die Erinnerung der auswendig gelernten Aufgabe hat alle Merkmale einer Gewohnheit. Wie eine Gewohnheit wurde sie durch Wiederholung derselben Anstrengung erworben. Wie eine Gewohnheit erforderte sie zuerst die Zerlegung und alsdann die Wiederzusammenfügung der ganzen Handlung. Und endlich hat sie sich, wie

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beschreibt präzise die Leseerfahrung bei der Rezeption eines Fotobuchs, wo die Betrachter_innen die Doppelseiten in die konstitutiven Elemente zerlegen, um sie dann zueinander in Beziehung zu setzen und zum Ganzen der Sequenz zu re-montieren. In Bezug auf die Fotografie ist die Umkehrung von geöffnetem zu geschlossenem Ei allein durch das Blättern und die Imagination möglich.55 Die Fotografie des Eies impliziert die Handbewegung, die das Ei in zwei Teile aufgebrochen hat, während die Geste des Schreibens in den nun ruhenden Händen angedeutet wird. In beiden Bildern hat eine Bewegung bereits stattgefunden, in beiden haben sich also Zeit und ein Bewegungsablauf eingeschrieben, die an die Idee von Reproduktion geknüpft sind. Als Thema dieser Doppelseite ist so die fotografische Reproduktion benannt, wie sie offensichtlich dem Fotobuch zugrunde liegt. Hinzu kommen noch weitere Dimensionen der Reproduktion: die metaphorische Ebene vom fotografischen Positiv und Negativ sowie die biologische Reproduktion, die das Ei (und das Kind) erzeugt hat. Mit dem Ei ist darüber hinaus die Frage nach Ursprung und Original gestellt, die sich als Verweis auf zeitgenössische Debatten um Fotografie als Kunst lesen lässt.56 Gleichzeitig ist damit humorvoll die sprichwörtliche Henne aufgerufen, die Fotografin Aenne Biermann also, die hier ihre eigene Tochter fotografiert hat.57 Schließlich geht es auch um die Reproduktion von Wissen im Prozess des Lesen- und Schreiben-Lernens auf den abgebildeten Heftseiten. So ist in dieser Doppelseite nicht nur eine Geschichte des Sehens impliziert, vielmehr werden auch Prozesse der Aufzeichnung, des Lesens und der Wahrnehmung aufgerufen. Diese Seite in Biermanns Buch lässt sich also als Verweis auf eine Wissensvermittlung durch Fotografie lesen. Sie ist eine Einladung zur Interaktion mit einem Wissen, das nur die Fotografie anzubieten vermag. Wenn man sich darauf einlässt, eine fotografische Konstellation langsam zu lesen, also die visuellen Elemente zueinander in Beziehung zu setzen, öffnet sich der – dem Fotobuch als Medium eigene – Reflexionsraum für die Rezipient_innen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel des Augenpaares mit den Tafeln 47 und 48. Die Doppelseite zeigt zwei Augen in Nahaufnahme und bezieht sich da-

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jede gewohnheitsmäßige Übung des Körpers, in einem Mechanismus gespeichert, den ein beginnender Impuls vollständig in Bewegung setzt, in einem geschlossenen System automatischer Bewegungen, welche einander in derselben Ordnung folgen und dieselbe Zeit beanspruchen.« Ein Trickfilm etwa könnte genau dies durch die bloße Umkehr der Bildfolge zeigen. Für die Imagination eines/r Fotobuchleser_in aber vollzieht sich das Hin und Her zwischen »auf« und »zu« beim gemeinsamen Erfassen beider Fotografien, wie sie sich auf der Doppelseite präsentieren. Siehe beispielsweise Franz Rohs Einleitung zu Biermanns Buch. Roh, Franz: »Der literarische Foto-Streit«, in: Biermann: 60 Fotos (1930), S. 3-5. Ganz nebenbei lässt sich dies auch als augenzwinkernde, da weibliche Alternative zur oft männlich dominierten Geschichte von (Sprach-)Ursprungstheorien sehen.

»Mehr als ein Bildbuch: ein Übungsatlas.«

Abb. 6: Biermann, Aenne: 60 Fotos, Berlin: Klinkhardt & Biermann 1930, Bildpaar 47 /48 © Copyright: Public Domain.

mit auf die zeitgenössische Diskussion um das Neue Sehen und die Physiognomie. Biermanns Doppelseite im Fotobuch bietet jedoch eine poetische und idiosynkratische Antwort auf dieses Thema. In ihrer Foto-Zusammenstellung ist eines der Augen geöffnet und schaut direkt in die Kamera, das andere ist geschlossen. Unwillkürlich beginnen die Betrachtenden, zwischen beiden Bildern hin und her zu springen. Weil die Augen so sehr in Nahaufnahme fotografiert und so dicht aneinander montiert sind, ergänzen wir sie zu einem Gesicht. Bei genauer Betrachtung aber stellt sich heraus, dass die Augen »vertauscht« sind: Beide lassen die Nasenwurzel erkennen, aber an den Außenseiten des Buchs. Das rechte Auge der/des Portraitierten müssten wir der Konvention gemäß im Bild links sehen, es ist aber auf der rechten Seite abgebildet; das linke Auge der Person ist linkerhand montiert. Beim genaueren Hinsehen wird darüber hinaus deutlich, dass es sich um zwei verschiedene Gesichter handelt, deren Augenausschnitt wir als Paar präsentiert bekommen und durch unseren Blick zu einem Gesicht zusammenmontieren. Indem die Augen der Betrachtenden aber zwischen beiden hin und her wandern, ergibt sich eine Kippbewegung, die letztlich die fotografierten Augen mobilisiert: Das eine geöffnete Auge, das im Moment des Blicks eingefroren ist, und das geschlossene Auge, das sich (im fotografischen Raum) nie wieder öff-

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nen wird, fügen sich zur Blinzelbewegung eines, wenn auch montierten, Auges. Sie spiegeln also den Blick der Rezipient_innen und den Akt des Sehens und bringen darüber hinaus die Mechanik der Fotografie selbst ins Bild. Die Montage der Doppelseite hebt die Denkarbeit hervor, die mit dem Betrachten der Fotografien einhergeht. Mit der Mobilisierung des Betrachter_innenblicks wiederum wird genau diese Aktivität gedoppelt. Darüber hinaus rückt die Aufnahmesituation in den Blick: Der Auslöser der Kamera, das Öffnen der Linse für den kurzen Moment der Aufnahme – all das ist auch in diesem Fotopaar eingeschlossen. Das geöffnete und geschlossene Auge in Kombination geben die menschliche Wahrnehmung wieder, aber sie unterteilen den Wahrnehmungsakt in zwei zeitliche Abschnitte; beide werden in einer fotografischen »Pause« für immer fixiert. So wird sichtbar, was sonst unsichtbar bleibt: Das Auge als Aufnahmeinstrument wird als Äquivalent zur Kamera situiert, während es selbst zum Aufgenommenen wird, zum Objekt vor der Kamera also. Diese Verschränkung hat nicht zuletzt mit der Präsentation zu tun, die unwillkürlich an die Projektion auf einer Filmleinwand erinnert. Im Zusammenhang mit der Kunstgeschichte als »Disziplin des Sehens« steht die fotografische Konstellation, wie sie Biermanns Fotobuch anbietet, aber auch konzeptionell der Doppelprojektion im abgedunkelten Raum nahe, die aus Schwarz-Weiß-Dias bestand.58 Als Herzstück der Bildwissenschaft, von Hermann von Helmholtz und Heinrich Wölfflin propagiert, ist das vergleichende Sehen ein kognitiver Akt des Sehenlernens durch den Vergleich.59 Biermanns Foto-Augenpaar macht den Wahrnehmungsprozess sichtbar und beleuchtet gleichzeitig, dass es sich dabei um ein Zusammenspiel aus Konstruktion, Reproduktion und Wiedererkennung handelt. Dieses Fotopaar fungiert als visueller Katalysator, weil es die Rezipient_innen zum Nachdenken anregt über die Prozesse des Sehens und der fotografischen Fixierung des Sehvorgangs, wie er hier dargestellt ist. Anders als das Einzelbild im Fotobuch (mit einer leeren weißen Seite als Gegenüber), erfordert das Bildpaar ein begriffliches Erfassen, da es im Vergleich operiert. Das Einzelbild erlaubt eine andere Art von (eventuell emotional vertiefender) Kontemplation, unterstreicht auch der Fotohistoriker Peter Geimer.60 58

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Weiterführend Bredekamp, Horst: »Kunsthistorische Erfahrungen und Ansprüche«, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bild und Medium. Kunstgeschichtliche und philosophische Grundlagen der interdisziplinären Bildwissenschaft, Köln: Herbert von Halem Verlag 2006, S. 1126; Ruchatz, Jens: Licht und Wahrheit. Eine Mediengeschichte der fotografischen Projektion, München: Wilhelm Fink 2003. Siehe weiterführend hierzu: Bader, Lena/Geier, Martin/Wolf, Falk (Hg.): Vergleichendes Sehen, München: Wilhelm Fink 2010. Geimer, Peter: »Vergleichendes Sehen oder Vergleich aus Versehen? Analogie und Differenz in kunsthistorischen Bildvergleichen«, in: Bader/Gaier/Wolf, Vergleichendes Sehen (2010), S. 45-69, hier S. 46. Mit Bezug auf Felix Thürlemann meint Geimer: »›Die vergleichende Betrachtung hingegen‹, schreibt Thürlemann, sei ›im Kern eine intellektuelle Operation. Die Wahrnehmung von Bildzusammenstellungen setzt beim Rezipienten die Fähigkeit zur Ka-

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Insofern verwundert es nicht, dass es in Biermanns Fotobuch nur Paare gibt, die gerade den Vergleich im Sehen trainieren. Im Fotobuch geht es also darum, Medienkompetenz auszubilden. Diese Alphabetisierung für Fotografie umfasst auch das Lesen der Kontexte (zunächst einmal der Seite und dann der Sequenz aus Bildern), umfasst schließlich auch das Lesen mit der Hand. Durch die Montage der Bildsequenz, die sich die Betrachtenden blätternd erarbeiten, wird ein vergleichendes Sehen eingeübt. So ist das Fotobuch eine aktive Schule des Sehens. Es lehrt die Betrachtenden in einem nächsten Schritt, die Erscheinungsformen der Fotografie in anderen medialen Kontexten, wie etwa der Montage der Fotografien in den Illustrierten oder im Kino, an der Litfaßsäule, auf Plakaten oder in der Werbung, zu erkennen, zu entziffern und zu dekonstruieren. Das Fotobuch entsteht als ein Medium, das den Betrachtenden die eigene Handlungsfähigkeit in Bezug auf fotografische Bilder vor Augen führt. Dies gelingt dem Fotobuch, indem es seinen Rezipient_innen die Bilder wortwörtlich an die Hand gibt. Das Umblättern der Seiten und das Halten des Buchs ergänzen die Wahrnehmung um ein wesentliches Element: die haptische Dimension. Diese führt dazu, dass die Hände mobilisiert werden, um die Bildfolge überhaupt erst in Gang zu setzen. Die so einsetzende selbstbestimmte Rezeption durch die Hände des Betrachtenden führt zu einer Trias von Auge, Hirn und Hand, die, anders als im Kino etwa, ein im vollen Wortsinn zu verstehendes Be-Greifen der Fotografie mobilisiert. Das Fotobuch wird so als ein pädagogisches Instrument erkennbar, das die Wahrnehmung von Fotografie auch in anderen Kontexten erleichtert und bewusster macht, weil es die Lese- und Wahrnehmungsgeschwindigkeit von Fotografie reduziert oder vielmehr den Betrachtenden deren Steuerung in die Hand und an die Hand gibt. Wie schnell oder langsam sie die Fotosequenz konsumieren, liegt bei den Betrachter_innen, und mit dieser Übertragung der Handlungsgewalt wird zur genaueren Betrachtung sowie zum Langsam-Lesen und -Sehen angeregt. Dadurch praktizieren die Leser_innen des Fotobuchs eine besondere Form des »vergleichenden Sehens«. Denn auch die Zusammenstellung des Buchs ist bereits einer vergleichenden und gegenüberstellenden Montage unterworfen, an der die Betrachtenden aktiv mitwirken, etwa indem sie die Bildfolge vom Ende her oder in der Mitte des Buchs beginnen. Insofern ist das Fotobuch als demokratisches und autonomieförderndes Instrument zu sehen, weil es neue Sehgewohnheiten erprobt. Im Fotobuch ist der entscheidende Faktor, dass der Fotografie ein Raum gegeben wird, in dem sie mit anderen Fotografien in Beziehung treten kann. tegorienbildung voraus. Sie besteht darin, das Gemeinsame und das jeweils Eigene der zu einem binären hyperimage zusammengestellten Bilder – sei es auf inhaltlich-ikonographischer, sei es auf formal-stilistischer Ebene – begrifflich zu fassen.‹«

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Die intensive Auseinandersetzung mit dem Buch bedeutet dann die Aneignung verschiedener Betrachter_innenstandpunkte und Haltepositionen. Darin liegt ein emanzipierendes, ja: politisches Moment in Bezug auf die ästhetische, fotografische Rezeption. Ein Fotobuch lässt sich in diesem Zusammenhang als intermediale Wahrnehmungstheorie in Buchform bezeichnen. Es stimuliert das Denken ebenso, wie es die Wahrnehmung, insbesondere mit Auge und Hand, anregt.

Ausblick In Erich Mendelsohns Amerika und László Moholy-Nagys Dynamik der Großstadt geht es um die Wahrnehmung in der Großstadt, in Aenne Biermanns 60 Fotos werden Auge und Hand so gegenübergestellt, dass uns unser eigener Umgang mit dem Fotobuch, der Vorgang des Sehens und Haltens, bewusst wird. So findet in allen drei Fotobuch-Beispielen ein Langsam-Lesen und Langsam-Sehen statt, das zur Reflexion des Gesehenen führt. Fotobücher der 1920er und 1930er Jahre fungieren somit als visuelle Katalysatoren, die ein kognitives wie haptisches Begreifen der Fotografie ermöglichen und eine fotografische Alphabetisierung zum Ziel haben. Denn Fotobücher in dieser Zeit sind nicht nur von den historischen und politischen Parametern geprägt, die dieses Medium überhaupt erst ermöglicht haben, vielmehr beinhalten sie auch eine Auseinandersetzung mit eben jenen Entstehungsbedingungen – diese sind technischer, historischer sowie medienspezifischer Art – und geben den Rezipient_innen darüber hinaus ein Instrument der Teilhabe an der zeitgenössischen visuellen Kultur an die Hand. Die im Buch gedruckte Fotografie aber verkompliziert den Akt des Lesens eines Buchs. Das fotografische Bild trägt immer einen Widerstand gegenüber der Sprache in sich; es offenbart einen Reichtum an Visualität und Kontext, der sich nicht ohne Reibung in Sprache übersetzen lässt. Vielmehr bleibt immer ein fotografischer Rest. Implizit ist damit auch gesagt, dass man Fotografien lesen lernen muss, dass es also um eine Medienkompetenz geht, die auch heute noch und vielleicht auf besondere Weise relevant ist. Es war der visionäre László Moholy-Nagy, der die Bedeutung der Fotografie an die Alphabetisierung knüpfte, indem er davon sprach, dass der/die Analphabet_in der Zukunft der »Photographieunkundige« sei.61 Wenn das Wissen, das sich durch Bücher vermittelt, ein kritisches Denken erlaubt, dann ermöglicht es auch, sich eine eigene Meinung zu bilden. Analog gilt dies für das Fotobuch: Wer Fotografien

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Walter Benjamin zitiert Moholy-Nagy in seinem Text über Karl Blossfeldts heute ikonisches Fotobuch Urformen der Kunst. Er ist mit Neues von Blumen betitelt und erschien zuerst 1928. Benjamin, Walter: »Neues von Blumen« (1928), in: ders., Gesammelte Schriften III, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 151-153, hier S. 151.

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nicht lesen kann, ist Manipulationen und Propaganda ausgeliefert. Walter Benjamin und Siegfried Kracauer verstehen das Lesen von Fotografie immer auch politisch. László Moholy-Nagy dagegen ist als Medienoptimist davon überzeugt, dass die Fotografie als Medium wie eine Prothese zur Verbesserung der mangelhaften menschlichen Sensorien diene. Das Fotobuch, wie es in den 1920ern entwickelt wurde, sollte genau die vielgestaltigen Gefahren des fotografischen Analphabetentums verhindern, die in dem oben Gesagten anklingen. Das heißt aber auch, dass es nicht nur ein Programm gab, sondern dass das Fotobuch eine Reihe verschiedener Aufgaben erfüllen sollte.62 Darin aber liegt gerade die Relevanz eines jeden Lesens, weil es eine Praxis ist und einer Alphabetisierung bedarf. Das Fotobuch unterzieht die Betrachtenden einer Übung, die die Wahrnehmung der Welt und der Fotografie als Technik verändert. Und genau darin unterscheidet sich das Fotobuch so erfolgreich von den Illustrierten etwa oder dem Kino. Denn Lesen, Sehen, intellektuelles und haptisches Erfassen werden im Fotobuch gleichzeitig trainiert. In einer Besprechung zu Blossfeldts Urformen der Kunst, das 1928 erscheint, schlägt Benjamin eine Brücke zum pädagogischen Programm des Bauhauses und zitiert Moholy-Nagy noch selbst ganz optimistisch: [Blossfeldt] hat bewiesen, wie recht der Pionier des neuen Lichtbilds, MoholyNagy hat, wenn er sagt: Die Grenzen der Photographie sind nicht abzusehen. Hier ist alles noch so neu, dass selbst das Suchen zu schöpferischen Resultaten führt. Die Technik ist der selbstverständliche Wegbereiter dazu. Nicht der Schrift- sondern der Photographieunkundige wird der Analphabet der Zukunft sein.63 Weil sich aber bewahrheitete, was der optimistische Moholy-Nagy vorausgesagt hatte – die Fotografie verdrängte in den bildüberladenen Illustrierten immer mehr den Text, wurde in der Werbung und zur politischen Propaganda benutzt –, wird umso deutlicher, worin die Dringlichkeit einer fotografischen Alphabetisierung

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Im Umkehrschluss aber heißt das auch, dass nie sicher ist, dass ein beabsichtigtes Programm auch eingelöst werden wird, weil das Medium des Fotobuchs so stark auf die Mitarbeit seiner Betrachter_innen angewiesen ist. Jede/r Leser_in bringt die eigenen Assoziationen und Gedanken ins Buch, der Raum zwischen den Bildern kann also nicht eindeutig festgeschrieben werden. Deswegen ist dieser Raum zwischen den Bildern auch ein Raum für Utopien: Verschiedene theoretische Stimmen der 1920er Jahre etwa haben betont, so z.B. Sergeij Eisenstein, dass man diesen Zwischenraum beliebig nutzen kann. Eindeutig demokratisch ist er nicht, die Manipulation durch die Zusammenstellung von Bildern ist immer auch eine Gefahr und ist in den 1930er Jahren durchaus auch ideologisch eingesetzt worden. Hierzu siehe etwa »Fotobücher in den späten 1930ern«, in: M. Stoll, ABC der Photographie, S. 208-240. W. Benjamin: »Neues von Blumen«, S. 151-152.

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zum analytischen und kritischen Lesen, einem Langsam-Lesen, besteht. Benjamin positioniert das Fotobuch mit dem Begriff des »Übungsatlas« bewusst gegen den Trend des schnellen Lesens und glaubte ab 1928 immer weniger daran, dass die utopischen Kräfte, die Moholy-Nagy zu erkennen meinte, sich gegen die Manipulation durchsetzen würden. Gerade weil die »Grenzen der Photographie […] nicht abzusehen« sind, bedarf es der Fotobücher als »Übungsatlanten«, die eine Alphabetisierung ermöglichen, um ein Langsam-Lesen einzuüben.64 In der Zeitspanne, die zwischen Moholy-Nagys medienoptimistischen Gedanken seines Bauhausbuchs von 1924/25 und dem warnenden Appell liegt, mit dem Benjamin seine Zeitgenossen dazu aufruft, Fotobücher als Übungsatlanten zu gebrauchen, hat sich die deutsche Gesellschaft entscheidend gewandelt. Das Fotobuch und mit Fotografien illustrierte Bücher bilden – exakter vielleicht als andere Medien es konnten – diese Verschiebungen in den Ansprüchen an die Fotografie ab. Während das Desiderat eines Lesen-Lernens von Fotografie mit Beginn der 1930er Jahre im nationalsozialistischen Deutschland immer dringlicher wurde, helfen uns die theoretischen Ansätze der 1920er Jahre zu verstehen, wie viel auf dem Spiel stand. Denn im Sinne der Alphabetisierung regen Fotobücher die Leser an, analytisch und – weil es um »greifbare« Kontexte geht – auch historisch, idealerweise sogar politisch zu lesen.65 Mit Walter Benjamin, dem dritten theoretischen Referenten dieses Aufsatzes, kippt genau dieser Aspekt der Wahrnehmungsschulung, den Moholy-Nagy vertritt, ins Politische: Eine Schule des Sehens in der Großstadt mit Fotobüchern heißt für Benjamin, dass die Fotobücher zu einem Übungsatlas werden – um politisch sehen zu lernen – und das heißt: menschliche Gesichter und Orte so lesen zu lernen, dass sie die menschlichen Zusammenhänge deutlich sichtbar werden lassen.66

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Benjamins Kunstwerk-Aufsatz, der 1935 entstand und zwischen 1936 und 1939 mehrere Überarbeitungen erfuhr, widmet sich insbesondere der Frage der vollständigen Ästhetisierung der Politik, wie sie vor allem durch die Fotografie und den Film umgesetzt werden. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Dritte Fassung« (1940), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 471-510, hier S. 510: Am Ende des Textes lesen wir: »Die Menschheit, die einst bei Homer Schauobjekt für die olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss ersten Ranges erleben lässt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt.« [Herv. i.O.] Zu den ästhetischen Strategien der Nationalsozialisten gehörte unter anderem auch, die Form der Neuen Sachlichkeit in Bereichen der Propaganda einzusetzen und für ideologische Zwecke zu nutzen, freilich mit den eigenen Inhalten gefüllt. Siehe hierzu: Rabinbach, Anson: »The Aesthetics of Production in the Third Reich« in: Journal of Contemporary History, Special Issue: Theories of Fascism 11.4 (1976), S. 43-73. Zu den »menschlichen Zusammenhängen« und einer Kritik an der Fotografie RengerPatzschs siehe W. Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, S. 368-385 sowie Stoll,

»Mehr als ein Bildbuch: ein Übungsatlas.«

Damals wie heute geht es darum, historisch und vor allem kritisch zu lesen: Die Ambiguitäten der Fotografie (in ihrer Funktion als Widerstand und in ihrer Käuflichkeit, als Aufklärerin und Komplizin der Manipulation) auszuloten. Medienkompetenz als demokratische Fertigkeit war in der kurzen Zeit der Weimarer Republik ein Hauptanliegen, so wie es im digitalen Zeitalter wieder Thema ist. Die Fragen nach der Zusammenstellung und Verfügbarkeit von Wissen, das sprachlich generiert wird und durch Fotografien untermauert oder unterlaufen werden kann, ist immer noch relevant. Ob auf einem Touchscreen oder einer Buchseite, die Bedeutung der Hand für die Verankerung eines auch körperlich gespeicherten Wissens und Sehens wird vielleicht immer noch unterschätzt. Für das Fotobuch als pädagogisches Instrument spricht gerade, dass das kritische und analytische Denken, das es lehrt, auf subtilen Verschiebungen der Wahrnehmung beruht, die sich im Vorgang des Umblätterns vollziehen. Das Fotobuch produziert keine schnell abzurufenden Ergebnisse, sondern regt immer wieder zum vergleichenden Sehen an, zum langsamen Lesen, bei dem das Haptische gestärkt wird und zum multisensorischen Denken führt. Es bedarf der Wiederholung, der Übung – und die Produzent_innen von Fotobüchern sind sich bewusst, dass jedes Lesen wieder eine andere Lesererfahrung erzeugt. In Zeiten des Populismus und der allzu oft stattfindenden Reduktion politischer sowie ideologischer Konflikte auf befremdliche Unterkomplexität ist das Fotobuch in seiner wunderbaren Fülle und Offenheit ein Refugium: weil es zu einer Kreativität im Sehen und Denken anregt, weil es neue Bezüge ermöglicht, ohne belehren zu wollen, und weil es Fragen stellt, ohne Antworten zu formulieren.

Mareike: »menschenleer. Der Tatort in Benjamins Schriften zur Photographie«, in: Carolin Duttlinger/Ben Morgan/Anthony Phelan (Hg.), Walter Benjamin und die Anthropologie, Freiburg i.Br./Berlin/Wien: Rombach 2012, S. 343-362.

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Terrains vagues in Schwarz-Weiß Pariser Stadtbrachen im Fotobuch der Nachkriegszeit Wolfram Nitsch

Fotobücher über Paris sind seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine erfolgreiche Gattung.1 Waren sie zunächst vor allem den Straßen und Monumenten im Zentrum der französischen Hauptstadt gewidmet, so haben sie nach und nach auch ihrer Peripherie Beachtung geschenkt. Das erste Fotobuch mit Bildern von Eugène Atget, 1930 von Berenice Abbott zusammengestellt, markiert einen Wendepunkt in dieser Entwicklung, da unter den rund hundert Aufnahmen dieses Archivars der Pariser Stadtlandschaft bereits einige die sogenannte »Zone« vor den Befestigungsanlagen zeigen, insbesondere die »Wellblechhütten der von Lumpensammlern bewohnten Vorstadt«, wie der Romancier Pierre Mac Orlan in seinem Vorwort betont.2 Gleichwohl zeigt der Band Atget, photographe de Paris noch nicht eine Art von Ort, die gerade den Stadtrand prägt und im Fotobuch der Nachkriegszeit eine wichtige Rolle spielt: das terrain vague. Im Folgenden will ich zwei prominente Beispiele für diese Wahlverwandtschaft untersuchen: La banlieue de Paris von Blaise Cendrars und Robert Doisneau sowie Paris insolite von Jean-Paul Clébert und Patrice Molinard. Ich werde darzulegen versuchen, dass beide Werke mit ihrer Aufmerksamkeit für die Pariser Stadtbrachen eine lange literarische und ikonografische Tradition aufgreifen, um ihre gegenstrebigen Tendenzen herauszustellen und ihr absehbares Ende anzudeuten.

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Siehe die reich illustrierten Überblicksdarstellungen von Koetzle, Hans-Michael: Eyes on Paris. Paris im Fotobuch (1890 bis heute), München: Hirmer 2011; Bouqueret, Christian: Paris. Les livres de photographie des années 1920 aux années 1950, Paris: Gründ 2012. Ich danke Gérard Macé für die Möglichkeit, einige schwer zugängliche Erstausgaben einzusehen. Eine französische Fassung des vorliegenden Beitrages erschien unter dem Titel »Terrains vagues en noir et blanc. La banlieue de Paris dans les albums photographiques dʼaprès-guerre«, in: Philippe Antoine/Danièle Méaux/Jean-Pierre Montier (Hg.), La France en albums (XIXe –XXIe siècles), Paris: Hermann 2017 (Colloque de Cerisy), S. 203-216. Sämtliche Übersetzungen französischer Originalzitate stammen vom Verfasser. »[…] les tôles ondulées de la banlieue occupée par les chiffonniers«. Mac Orlan, Pierre: Atget, photographe de Paris (1930), New York: Errata 2008, S. 5 des unpaginierten Anhangs; vgl. Abb. Nr. 61 u. 63.

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Physiognomie des terrain vague Zwischen Utopie und Heterotopie Was ist ein terrain vague? Der Begriff ist ebenso schwer zu bestimmen, wie er zu übersetzen ist, denn er weist einen etymologisch bedingten Doppelsinn auf.3 Das Adjektiv vague geht zum einen auf das lateinische Wort vacuus zurück. Dieser Etymologie entsprechend bedeutet terrain vague so viel wie ›leeres Gelände‹ im urbanen Raum, wie der Petit Robert definiert: »un terrain vide de cultures et de constructions, dans une ville«. Da die Stadt im Gegensatz zum Land ein voller Raum ist, bildet es eine Lücke oder einen Zwischenraum in der Stadtlandschaft oder — mit Philippe Vasset gesprochen — eine »weiße Zone« auf dem topografischen Stadtplan, der bebaute oder bepflanzte Gelände schwarz oder farbig darstellt.4 Zum anderen leitet sich französisch vague aber auch von lateinisch vagus her, einem Epithet, das sich jeglicher Bestimmung verweigert. Unter diesem Blickwinkel erscheint das terrain vague als unbestimmter Ort, als Raum ohne besondere Eigenschaften. Oft bietet es sich als solcher dar, weil es eine frühere Funktion verloren hat. Als Stadtbrache oder »tote Zone« zeigt es durch Schutt oder Abfall an, dass es früher als Wohngegend oder Industriegebiet diente.5 Kurz, das terrain vague ist ein leerer Ort ohne Form und Funktion, sozusagen das »Außen der Stadt« schlechthin.6 Gerade deshalb aber erscheint es zugleich als Möglichkeitsraum, als eine »Zone reiner Potentialität«.7 Gewiss lässt sich einwenden, dass dem Begriff des terrain vague wegen dieser Zweideutigkeit etwas »wohlfeil Poetisches« eignet. Aus diesem Grund spricht etwa Jean-Christophe Bailly lieber schlicht von Stadtbrache oder »délaissé urbain«.8 Doch deutet der Ausdruck gerade in seiner Unschärfe auf die ästhetische Dimension des so bezeichneten Ortes. Denn in der Regel spricht man von einem terrain vague, wenn es sich um ein betrachtetes oder sogar begangenes Gelände handelt,

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Vgl. Solà-Morales, Ignasi de: »Terrain vague«, in: Cynthia Davidson (Hg.), Anyplace, Cambridge, Mass.: MIT Press 1996, S. 118-123. Für eine ausführliche Diskussion des Begriffs sowie des damit bezeichneten Ortes siehe Vf.: »Terrain vague. Zur Poetik des städtischen Zwischenraums in der französischen Moderne«, in: Comparatio 5 (2013), S. 1-18; vor allem aber Broich, Jacqueline Maria/Ritter, Daniel: Die Stadtbrache als ›terrain vague‹. Geschichte und Theorie eines unbestimmten Zwischenraums in Literatur, Kino und Architektur, Bielefeld: transcript 2017 (machina, 12). Vgl. Vasset, Philippe: Un livre blanc. Récit avec cartes, Paris: Fayard 2007. Vgl. Doron, Gil: »›…those marvellous empty zones at the edge of cities‹. Heterotopia and the ›dead zone‹«, in: Michiel Dehaene/Lieben de Cauter (Hg.), Heterotopia and the city. Public space in a postcivil society, New York: Routledge 2008, S. 203-213. Sansot, Pierre: Poétique de la ville (1973), Paris: Payot 2004, S. 465. »[…] une zone vouée à la pure potentialité«. Ph. Vasset: Un livre blanc, S. 61. Bailly, Jean-Christophe: »Sur les délaissés parisiens«, in: ders., La phrase urbaine, Paris: Seuil 2013, S. 201-216, hier S. 202.

Terrains vagues in Schwarz-Weiß

um eine Brache, die ein Stadtspaziergänger erschließt und dadurch in eine Landschaft verwandelt. Darum ist das terrain vague zu einem Hauptort der literarischen Geografie geworden, die sich — in der Terminologie Michel de Certeaus — weniger mit abstrakten Raumordnungen als vielmehr mit konkreten »Raumpraktiken« und den damit verbundenen »Raumerzählungen« befasst.9 Das Subjekt, das sich an diesen Ort begibt, hat allerdings wenig mit dem Flaneur gemein, dem berühmtesten Beobachtertypus im modernen Großstadtroman. Es weist nicht dessen distanziert-gelassene Haltung, sondern vielmehr einen manischen Habitus auf. Ein typischer Besucher von terrains vagues ist der Herumtreiber oder Streuner (rôdeur), der den von Julien Gracq so bezeichneten »zones de libre vagabondage« verfallen scheint und in seiner »Manie«, sie ständig aufzusuchen, laut Jacques Réda einem profanen Kirchgänger ähnelt.10 Diese Vorliebe teilt er mit dem Vermesser (arpenteur), der terrains vagues freilich auf eine durchaus methodische Weise begeht. Dieser vor allem in der Literatur der Gegenwart verbreitete Beobachtertypus erkundet die weißen oder toten Zonen gemäß einem strengen Protokoll, wie man in Zones von Jean Rolin oder in Un livre blanc von Philippe Vasset nachlesen kann. Kann die Theorie des terrain vague auf verschiedenen Konzepten aufbauen, die im Zuge des topographical turn entwickelt wurden, so bleibt seine Geschichte noch weitgehend zu schreiben. Da sich der Begriff per definitionem auf den urbanen Raum bezieht, ist diese Geschichte eng mit der Stadtgeschichte verflochten. Im Hinblick auf Paris lassen sich vor allem zwei historische Momente der plötzlichen Ausbreitung von Brachen ausmachen, sowohl in der Innenstadt als auch am Stadtrand. Im Zentrum schlugen erst die gewaltigen Umbauten Haussmanns in der Mitte des 19. Jahrhunderts, dann auch die sogenannte »zweite Haussmannisierung« der 1960er und 1970er Jahre zahllose Zwischenräume ins monumentale Stadtbild von Paris.11 An der Peripherie hatten die letzte Befestigung sowie die definitive Entfestigung der Hauptstadt eine vergleichbare Wirkung: zunächst die Einrichtung einer »zone non aedificandi« vor dem ab 1844 errichteten neuen Festungswall; später die Schleifung dieser Fortifikationen in der Zwischenkriegszeit, die im Umfeld neuer Sozialbauten am Stadtrand zahllose Brachen aufriss. Diese zweite Sternstunde der Pariser terrains vagues missfiel dem auf eine saubere und züchtige Stadt bedachten Marschall Pétain dermaßen, dass sein Marionettenregime mit der Planung des

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Zu diesen Begriffen siehe Certeau, Michel de: L’invention du quotidien 1: Arts de faire (1980), Paris: Gallimard 1990, S. 137-191. Gracq, Julien: La forme d’une ville, Paris: Corti 1985, S. 63; Réda, Jacques, Châteaux des courants d’air, Paris: Gallimard 1986, S. 143. Vgl. Marchand, Bernard: Paris, histoire d’une ville. XIXe –XXe siècle, Paris: Seuil 1993, S. 288305.

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Boulevard Périphérique begann, um die anrüchige »Zone« so schnell wie möglich verschwinden zu lassen.12 In der Literaturgeschichte des terrain vague hallt dieser stadtgeschichtliche Hintergrund zweifellos wider. Verweisen die zahllosen Stadtbrachen in Zolas RougonMacquart auf die erste Haussmannisierung, so rufen diejenigen in Rédas Ruines de Paris die zweite auf. Gleichwohl schreiben sich diese Chronotope mindestens ebenso sehr in literarische Traditionen ein. Seit Balzac den in der Romantik entstandenen Begriff um 1830 erstmals für Pariser Orte gebrauchte, haben sich zwei Haupttendenzen seiner literarischen Verwendung herausgebildet. Bei manchen Autoren erscheint das terrain vague als utopischer Ort der Freiheit. So beschreibt Victor Hugo die »amphibische« Zone am alten Stadtwall als Abenteuerspielplatz, an dem sich die Kinder der Armen vergnügen können; und so charakterisiert Sartre die Brachen in amerikanischen Metropolen als »Landschaft in Bewegung«, die dem endlich von allem metaphysischen Ballast befreiten Menschen entgegenkommt.13 Andere Autoren hingegen gestalten das terrain vague als Heterotopie im Sinne Michel Foucaults, das heißt als ein quasi sakrales Gelände, an dem die im alltäglichen Raum herrschende Ordnung gewaltsam übertreten werden kann.14 Genau wie der nicht näher klassifizierbare Raum, in dem Balzacs Schwerverbrecher Ferragus am Ende seiner Laufbahn verschwindet, präsentiert sich das terrain vague am Friedhof Saint-Mittre, wo die Geschichte von Zolas Rougon-Macquart beginnt, als sinistrer Schauplatz im doppelten Zeichen von Erotik und Tod; und wenn André Breton »eines der schlimmsten terrains vagues von Paris« schildert, bezeichnet er es als »Geschlecht von Paris« und im gleichen Zuge als »heiligen Ort«.15 Beide Tendenzen zeichnen sich auch noch in den »humanistischen« Fotobüchern der Nachkriegszeit ab, die den Pariser Brachen vielleicht auch deshalb so viele Seiten einräumen, weil diese unter dem Vichy-Regime so schlecht angesehen waren. Die utopische Strömung dominiert etwa in Grand bal de printemps (1951) von Izis und Jacques Prévert, wo eine Aufnahme einen verträumten Jungen auf einer Brache am Stadtrand zeigt, während das begleitende Gedicht Exilé des vacances andeutet, er entdecke dort, umspielt von den »Algen des terrain vague«, das noch nie

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Siehe Cohen, Jean-Louis/Lortie, André: Des fortifs au périf. Paris, les seuils de la ville, Paris: Picard/Édition du Pavillon de l’Arsenal 1994, S. 233-263; Cannon, James: The Paris ›Zone‹. A cultural history, 1840-1944, London: Routledge 2015, S. 187-202. Hugo, Victor: Les misérables (1862), hg. v. Maurice Allem, Paris: Gallimard 1951 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 595-597; Sartre, Jean-Paul: »Villes d’Amérique« (1945), in: ders., Situations III, Paris: Gallimard 1949, S. 93-111, hier S. 105-106. Vgl. Foucault, Michel: »Des espaces autres« (1967), in: ders., Dits et écrits, Bd. 4, Paris: Gallimard 1994, S. 752-762. Balzac, Honoré de: Ferragus (1833), hg. v. Michel Lichtlé, Paris: Flammarion 1988, S. 204; Breton, André: Œuvres complètes, Bd. 1, hg. v. Marguerite Bonnet, Paris: Gallimard 1988-2008 (Bibliothèque de la Pléiade), S. 695 und Bd. 3, S. 892-893.

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gesehene Meer.16 Auch in Belleville-Ménilmontant (1954) von Willy Ronis kann man ein kleines Mädchen sehen, das in einer Baulücke neben der Metrostation Télégraphe seine Freiheit genießt. Dasselbe Fotobuch enthält aber auch die Aufnahme einer ziemlich sinistren, von Gewitterwolken überschatteten Brache mit der Legende: »Dies ist das Haus Usher mit seinen im Wandschrank erhängten Gedichten« (»Celle-ci est la maison Usher et ses poèmes pendus dans un placard«).17 Dieses Bild bestätigt die Auffassung des Vorwortautors Pierre Mac Orlan, den Fotografen zögen »stets von der Zeit gemartete Landschaften an« und die Fotografie sei eine »Sonnenkunst im Dienste der Nacht«, »un art solaire au service de la nuit«.18 Das hier erkennbare Doppelgesicht des terrain vague weist freilich nicht nur auf divergente Beschreibungstraditionen in der modernen Literatur zurück, sondern auch und vor allem auf ein nur wenige Jahre älteres Fotobuch, das entscheidend zu seiner fotografischen Karriere beigetragen hat.

La banlieue de Paris Lichtzonen und Schattenzonen Der Band La banlieue de Paris, 1949 erschienen, ist das Ergebnis einer engen künstlerischen Zusammenarbeit.19 Der Text von Blaise Cendrars wurde angeregt durch 135 Aufnahmen von Robert Doisneau, auf die er sich immer wieder bezieht und die im Anhang mit nachträglich vom Autor hinzugefügten Legenden erscheinen.20 In seinem Text präsentiert sich der weitgereiste Lyriker und Erzähler Cendrars als »Streuner« (»rôdeur«), der die Pariser Banlieue in alle Windrichtungen durchstreift, vom Süden über den Westen und Osten bis in den Norden. Wenn er nicht zu Fuß vagabundiert, benutzt er Verkehrsmittel, die den Zufallscharakter seiner Fortbewegung noch unterstreichen. In einem Vorortzug folgt er den »Abzweigungen, Weichenstellungen und Anschlüssen«, die allein der »Phantasie des schachspielenden Zugführers oder der Bilboquet spielenden Bahnhofsvorsteher« zu gehorchen scheinen; und sogar in seinem eigenen Wagen fährt er ohne bestimmtes Ziel in 16 17 18 19

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Prévert, Jacques/Bidermanas, Izis: Grand bal du printemps, Lausanne: La Guilde du Livre 1951, S. 102-103. »Celle-ci est la maison Usher et ses poèmes pendus dans un placard«. Ronis, Willy: BellevilleMénilmontant, Paris: Arthaud 1954, S. 49, S. 66. Vgl. Mac Orlan, Pierre: Écrits sur la photographie, hg. v. Clément Chéroux, Paris: Textuel 2011, S. 89, S. 139. Vgl. Hamilton, Peter: Robert Doisneau. La vie dʼun photographe, Paris: Hoëbeke 1996, S. 145179; Bochner, Jay: »Le décoffrage de la banlieue: texte et image«, in: Maria Teresa de Freitas/Claude Leroy/Edmond Nogacki (Hg.), Cendrars et les arts, Valenciennes: Presses Universitaires de Valenciennes 2002, S. 255-268. Cendrars, Blaise/Doisneau, Robert: La banlieue de Paris, Paris: Denoël 1983. Diese im Folgenden zitierte Neuauflage des Fotobuchs enthält allerdings nur 106 Aufnahmen.

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den »Tobbogan« der Unterführungen am Stadtrand ein.21 Im Verlauf seiner aleatorischen Promenaden entdeckt dieser Streuner gleich mehrere Brachen, die es ihm besonders angetan haben. Bereits im ersten Satz erwähnt er die »als Zigeunerlager begehrten terrains vagues in Richtung Arcueil«; und noch im letzten Kapitel, das von der »sinistren Banlieue« im Pariser Norden handelt, schildert er deren düstere Industrielandschaft an Hand von »terrains vagues unter tief hängenden Wolken und Rauchschwaden, zerrissen von den schrillen Pfiffen der durch Regenschauer dahinrasenden Lokomotiven«.22 Vor allem aber befasst sich Cendrars mit den Stadtbrachen auf einigen Bildern von Doisneau. Denn sein junger, damals noch kaum bekannter Mitarbeiter teilt sein Interesse für terrains vagues, und zwar in solchem Maße, dass er später erklären wird, er hätte nur ihretwegen zu fotografieren begonnen: »Meine Kindheit, das waren die terrains vagues. Ich fing mit dem Fotografieren an, um zu fixieren, was ich jeden Tag sah. Ich dachte, diese Banlieue würde verschwinden, alles wäre nur vorläufig«.23 Vermutlich deshalb stellt sich Cendrars den Fotografen im Vorwort zu ihrem zweiten und letzten Gemeinschaftswerk Instantanés de Paris »auf einem terrain vague« beim Bau der Kathedrale von Chartres vor.24 Mit dieser anachronistischen Fantasie betont er die enge Verbindung von Stadtbrache und Fotobuch, nicht ohne letzteres zur kollektiven Schöpfung vom Rang mittelalterlicher Kirchenbauten zu adeln. So bieten sich die in La banlieue de Paris erschlossenen Brachen dem Blick des Lesers in der doppelten Perspektive des Fotografen und des Schriftstellers dar. Diese sozusagen bifokale Präsentation lässt einen deutlichen Kontrast, manchmal sogar eine Kontroverse zwischen den beiden Künstlern erkennen. Doisneaus terrains vagues dienen oft als Schauplatz für populäre Idyllen. In den meisten Fällen geben sie dem freien Spiel von Kindern bescheidener Herkunft Raum. Fünf Aufnahmen der Sektion Gosses, einige davon übrigens viel älter als Cendrarsʼ Bildunterschriften zugeben, zeigen unbeschwerte Szenen dieser Art. Auf dem ersten Foto von 1934, nach einer Pariser Ausfallpforte La poterne des peupliers betitelt, sieht man einen Jungen über eine Brache der »Zone« springen, auf der sich nichts als ein toter Baum befindet.

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»[…] selon la fantaisie du chef de train qui joue aux échecs ou des chefs de gare qui jouent au bilboquet«. Ebd., S. 6, S. 44. »[…] les terrains vagues sous le ciel bas où traînent les fumées et que déchirent les coups de sifflet stridents des locomotives des trains fuyant sous les averses«. Ebd., S. 5, S. 42. »Mon enfance, c’était les terrains vagues. J’ai commencé à faire des photographies pour inscrire ce que je voyais tous les jours. Je pensais que cette banlieue foutait le camp, que c’était provisoire«. Zitiert bei Chevrier, Jean-François: »Du métier à lʼœuvre« (1980), in: ders./Agnès Sire, Robert Doisneau: Du métier à l’œuvre, Göttingen: Steidl 2010, S. 14-77, hier S. 25. Cendrars, Blaise: »Instantanés de Paris« (1955), in: ders., Le lotissement du ciel. La banlieue de Paris, hg. v. Claude Leroy, Paris: Denoël 2005, S. 439-441.

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Abb. 1: Robert Doisneau: La poterne des peupliers (1934) © Robert Doisneau/RAPHO.

Die spürbare Freude des Jungen wirkt dieser tristen Atmosphäre entgegen, ganz anders als auf Man Rays zwei Jahre zuvor aufgenommenem Foto Terrain vague, wo kein menschlicher Widerpart den verdorrten, von Schrott umgebenen Baum aufhellt.25 Mit ähnlicher Wirkung zeigt das Bild Ein altersloser Pfad einen kleinen Jungen, der mit einem Stück Abfall auf einer abschüssigen Brache Fußball spielt. Die Aufnahme, die ihm in der Erstausgabe gegenübersteht und in späteren Editionen nicht mehr erscheint, trägt ihren pluralischen Titel Terrains vagues ganz zu Recht, setzt sie doch eine zweistöckige Industriebrache ins Bild, wo eine Kinderschar zwischen rauchenden Rohren herumtobt, während drei Jungen sich in einem Höhleneingang verstecken. Auf dem Foto Die Graffitiwand stehen auf einer

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Siehe Ray, Man: Das photographische Werk, hg. v. Emmanuelle de l’Écotais/Alain Sayag, München, Schirmer/Mosel 1998, S. 66-67.

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leeren Schotterfläche zwei Mädchen, von denen eines auf einer baufälligen Mauer schreibt. Und auf dem Bild mit dem Titel An der Grenze der ehemaligen Zone spielen fünf Jungen Autofahren auf einem Wrack, das auf dem Gelände des geschleiften Festungswalls gestrandet ist.

Abb. 2: Robert Doisneau: La voiture fondue (1944) © Robert Doisneau/RAPHO.

Dieses Foto, das unter dem Titel La voiture fondue in Instantanés de Paris nochmals erschienen und zu einem der bekanntesten Doisneaus geworden ist, würdigt die Kreativität der Zonenkinder abseits der Schule und anderer Disziplinierungsanstalten.26 Wahrscheinlich geht darauf die berühmte Sequenz in Tatis Film Mon Oncle zurück, in der Monsieur Hulots Neffe der streng geregelten Welt eines bürgerlichen Vororts entkommt, um auf einer schrottübersäten Brache zu spielen. Wenn sich Cendrarsʼ Text auf diese Fotos bezieht oder ähnliche Szenen schildert, kehrt er im Gegenteil die dunkle Seite solcher Abenteuerspielplätze hervor. In 26

In seinem Kommentar zu diesem Foto in Instantanés de Paris (Nr. 100) spricht Doisneau von einem »elementaren Straßenspiel« (»jeu élémentaire de la rue«) und erklärt den späteren Titel mit dem kurz nach der Aufnahme erfolgten Verschwinden des Wracks: »Schon nach einem Monat versank das sanft dahingeschmolzene Auto in dem terrain vague« (»Il nʼa pas fallu plus dʼun mois pour que la bagnole, fondant doucement, soit aspirée par le terrain vague«). In seinem Fotobuch Gosses de Paris (Paris: Jeheber 1956) stellt er den Aufnahmen von Kinderspielen auf terrains vagues (S. 28, S. 29, S. 40, S. 51, S. 92, S. 93, S. 108), zu denen sich die eingefügten Gedichte von Jean Donguès seltsamerweise nie äußern, immer wieder Bilder von Schülern im Unterricht gegenüber.

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Montrouge beispielsweise beobachtet der aus der Stadt herausgetretene Streuner einige Jungen, welche die in La voiture fondue fixierte Szene zu wiederholen scheinen, sich jedoch deutlich von Doisneaus fröhlicher Bande unterscheiden: Rechts auf einem terrain vague tobten Jungen in einer kaputten Karrosserie herum und beschimpften ein auf dem links angrenzenden terrain vague stehendes Mädchen, das sich für gewöhnlich alles gefallen ließ, nun aber bereit schien, die Flucht zu ergreifen, wie eine Verrückte davonzurennen, sich wie ein Tier in seinem Bau zu verkriechen.27 Hier macht das fantasievolle Spiel im Autowrack nur eine Hälfte des Bildes aus: Als sich der Blick des Spaziergängers auf eine benachbarte Brache richtet, entdeckt er ein vereinzeltes, von den anderen ausgeschlossenes Kind, das zum Opfer kollektiver, vielleicht sogar sexueller Aggression zu werden droht. Ebenso wenig unschuldig wirken die Spiele, die er in einem »großen, verfallenen Gebäude« in Villejuif observiert. Auf der einen Seite ist diese abgelegene Ruine das »bevorzugte Revier der Jungen, welche die Schule schwänzen, um Ratten zu jagen«; andererseits dient sie der sexuellen Initiation der Mädchen, die ihrerseits den Unterricht ausfallen lassen, »um sich vor eine Mauer zu stellen, die nicht etwa der Klage dient, sondern obszöne Graffiti, Zeichnungen und Inschriften aufweist«.28 Mit dieser ergänzenden Bemerkung spielt Cendrars auf das Foto Die Graffitiwand an, auf dem doch nichts Obszönes zu sehen ist; erst unter seiner Feder und unter dem Eindruck des in der Legende hinzugefügten Untertitels (Initiation der Mädchen) verweist Doisneaus Bild auf die Aufnahmen, mit denen sein Kollege Brassaï zahllose nicht salonfähige Pariser Graffiti verewigt hat.29 Es hat also den Anschein, als wolle der Schriftsteller die Fotos seines Illustrators gezielt verfinstern, die dort ausgeblendeten Gewaltrituale sichtbar machen. Bei Cendrars ähnelt die Welt der auf den Brachen versammelten Kinder weniger dem von Jacques Prévert beschworenen Reservat der Faulenzer und Schwänzer, sondern vielmehr jenem wilden Rand urbaner Zivilisation, den Louis Calaferte bald darauf in Requiem des innocents beschrieben hat.30 27

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»À droite, dans un terrain vague, des gosses chahutaient dans une carrosserie déglinguée et houspillaient, à gauche, dans un terrain vague attenant, une fille qui se laissait faire par habitude, mais que l’on sentait prête à prendre la fuite, à se cavaler comme une idiote, à se réfugier dans sa tanière comme une bête«. B. Cendrars/R. Doisneau: La banlieue de Paris, S. 11. »[…] le terrain de chasse de prédilection des garçons qui font lʼécole buissonnière pour aller aux rats. […] un mur, qui nʼest celui des lamentations, mais des graffiti, dessins et inscriptions obscènes«. Ebd., S. 15. Siehe Brassaï: Graffiti (1960), Paris: Flammarion 2002. Siehe etwa Calaferte, Louis: Requiem des innocents (1952), Paris: Gallimard 2001, S. 16: sobald das »bevorzugte terrain vague« der Bande zum ersten Mal zur Sprache kommt, wird es mit der »wilden, lasterhaften, verbrecherischen« Welt der Kinder einfacher Herkunft in Verbindung gebracht. Ich danke Jean-Louis Garnell für den Hinweis auf diesen Text.

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Der Unterschied zwischen den beiden Perspektiven ist so offenkundig, dass Cendrars zweimal nach seinen möglichen Gründen fragt. Die eine von ihm erwogene Erklärung ist biografischer Art. Doisneau betrachte die Banlieue mit den Augen eines jungen Familienvaters, für den das »flüchtige Pittoreske« der Vorstadt die Übersetzung einer grundsätzlich optimistischen Weltanschauung, aber auch der Grundstein für eine Fotografenkarriere sei; er selbst hingegen durchstreife sie als »einsamer Weltenbummler« (»bourlingueur solitaire«) und nehme den Blickpunkt eines abgeklärten Beobachters ein, der aufgrund seiner langen Reiseerfahrung zum »Schwarzsehen, wenn nicht zu einem systematischen Pessimismus« neige.31 Tatsächlich gehen in seine Beschreibung der Pariser Peripherie oftmals kosmopolitische Reminiszenzen ein und verleihen ihr eine eigene Tönung. So kann er etwa vor den hier erkundeten terrain vagues nicht von jenen absehen, die er einst im Umland von Los Angeles kennenlernte: »jenen auf Brachen an der Pazifikküste verstreuten Negerlagern […], die den Matrosen beim Landgang Angst und Schrecken einjagen«.32 Zu dieser biografischen kommt außerdem eine mediologische Differenz. Angesichts von Doisneaus brieflicher Mitteilung, er habe einige der bestellten Bilder wegen schlechter Lichtverhältnisse leider nicht aufnehmen können, stellt Cendrars eine grundsätzliche Verschiedenheit von Fotoapparat und Füllfederhalter heraus: Gleichwohl darf man nicht vergessen, dass das fotografische Auge trotz fein abgestufter Einstellung und lichtstarker Objektive nicht überall einzudringen vermag und ihm gerade eine gewisse Schattenzone verborgen bleibt. Daher ist mein Text schwärzer als die Fotos, die er erhellen soll… […] Tatsächlich benötigt das Objektiv eine externe Lichtquelle, die dem Dargestellten zwar oft schmeichelt, ihm aber meistens die Würze nimmt, während meine Feder in der ätzenden Tinte der Nacht in ihrem Element ist; daher die Kluft zwischen meiner persönlichen, oft ernüchterten Sicht der Dinge und jener rührenden Freundlichkeit gegenüber den Gesichtern, die der enthusiastische, von seiner Maschine zu einem subjektiven — oder sollte ich sagen: politischen? — Optimismus bewogene Fotograf beweist.33 31 32

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»[…] au noir pour ne pas dire à un pessimisme systématique«. B. Cendars/R. Doisenau: La banlieue de Paris, S. 16-17. »[…] ces campements de nègres disséminés dans les terrains vagues le long de la côte du Pacifique […] et qui sont la terreur des matelots en bordée qui ont peur de se faire assassiner«. Ebd., S. 54. »Toutefois, il ne faut pas oublier que malgré le dégradé de la mise au point et la puissance des objectifs, l’œil photographique ne pénètre pas partout et qu’une certaine zone d’ombre justement lui est interdite. C’est pourquoi mon texte est plus noir que les photos qu’il est censé éclairer… […] Il est vrai que l’objectif a besoin d’une source de lumière externe qui, si elle est souvent caressante et illusionne, affadit tout la plupart du temps, alors que la plume est à l’aise dans l’encre corrosive de la nuit, d’où l’écart entre ma vision personnelle et souvent désenchantée et cette gentillesse attendrissante pour les visages qu’a le photographe

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Für Cendrars praktiziert der Fotograf demnach zwangsläufig eine lichte Kunst, während der Schriftsteller dank schwarzer Tinte die »Schattenzone« erkunden kann. Außerdem registriert jener immer nur einzelne Fragmente des städtischen Raums, die letzterer in einen größeren Kontext zu stellen vermag. Dieser zweite Hauptunterschied zwischen den beiden Medien kommt in einem kritischen Kommentar des Autors zu einem der ersten Fotos von Doisneau zur Sprache, das hier im Abschnitt Décors unter dem Titel Die kleinen Däumlinge beim Milchholen erscheint. Wo der Fotograf zwei Kinder beim Überqueren der Straße vor einer Molkerei festhält, erahnt der Schriftsteller einen nahenden Bus, der sie sogleich »überfahren wird«; für ihn lauert hinter der populären Idylle nur mörderischer Schrecken.34 Nach dem Vorbild von Balzacs Pariser Romanen, besonders von Ferragus, den er in einem kurz vor La banlieue de Paris entstandenen Artikel würdigt, betrachtet Cendrars die moderne Kapitale als monströse »Krakenstadt, die alle Einwohner insgeheim ihrer Substanz beraubt«.35 Indem er die Zuständigkeit des Fotografen auf die lichten Zonen begrenzt, widerspricht Cendrars der auf Roland Barthes vorausweisenden Auffassung Mac Orlans, die Macht der Fotografie bestehe darin, »den plötzlichen Tod herbeizuführen«, und die fotografische Darstellung der Welt stelle vor allem deren »tragische und phantastische Seite« heraus.36 Nach seiner eigenen Überzeugung liegt die besondere Kraft der Kamera im Gegenteil darin, vitale Bilder hervorzubringen und dadurch das politische Selbstbewusstsein der einfachen Leute zu fördern. Zum Beispiel kann sie aus der anonymen Menge in der Metro eine echte Gemeinschaft formen, wie Cendrars zum Bild Métro dʼAntony anmerkt: »Nur die Fotografie kann den Menschen jene Familienähnlichkeit verleihen, die mit der Schrift kaum wiederzugeben ist«.37 Oder sie kann den bescheidenen Bewohnern der Vorstadt die Hoffnung auf ein besseres Leben geben. Zur nicht geringen Überraschung des Lesers ist davon auch im letzten Satz des Fotobuches die Rede. In seinem Kommentar zur Porträtaufnahme Der Enkel von Israël aus Aubervilliers bekennt sich der streunende Beobachter der »banlieue sinistre« im Norden schließlich zum Optimismus seines Künstlerkollegen, dessen blinde Flecken er so hartnäckig aufgedeckt hat.

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enthousiaste porté par sa machine vers un optimisme subjectif ou dirais-je politique?« Ebd., S. 12, S. 17. Ebd., S. 9. »[…] une ville tentaculaire qui flétrit secrètement tous ses habitants et vide les personnages de leur substance«. Cendrars, Blaise: »Paris par Balzac« (1949), in: ders., Aujourdʼhui, hg. v. Claude Leroy, Paris: Denoël 2005, S. 189-202, hier S. 198; vgl. Russo, Maria Teresa: »Entre crimes et démesure: le Paris-palimpseste de Cendrars«, in: David Martens (Hg.), Blaise Cendrars. Un imaginaire du crime, Paris: LʼHarmattan 2008, S. 123-137. P. Mac Orlan: Écrits sur la photographie, S. 83, S. 89; vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989. »Seule la photo peut donner aux gens cet air de famille quʼil est quasi impossible de rendre par lʼécriture«. B. Cendrars/R. Doisenau: La banlieue de Paris, S. 17.

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Der kleine Junge, von Doisneau »in ganz und gar spiritueller Beleuchtung in einer schlammigen Kurve voller Reifenspuren photographiert«, lässt den Kommentator nicht etwa an einen schweren Verkehrsunfall denken, sondern vielmehr an David, der von seinem Sieg über Goliath träumt.38 Der Leser von La banlieue de Paris fährt gleichwohl fort, Doisneaus terrains vagues mit einem gewissen Argwohn zu mustern und auf alles zu achten, was die dort gespielten Spiele überschatten mag.

Paris insolite Bedrohliche und bedrohte Refugien Im Gegensatz zu La banlieue de Paris, einem erst später gebührend gewürdigten Werk, fand das Fotobuch Paris insolite sofort große Beachtung. Da der schon 1952 publizierte Text von Jean-Paul Clébert bei der Kritik sehr gut angekommen war, kam er schon zwei Jahre später erneut heraus, nunmehr mit einem Vorwort des Autors versehen und »beglaubigt durch 115 Fotografien von Patrice Molinard«.39 Der bibliophile Charakter der illustrierten Originalausgabe kontrastiert auffällig mit dem Thema des Buches, das ein geheimes Paris erkundet, eine »verbotene, den Eingeweihten vorbehaltene Stadt«.40 Dem Leser wird sie erschlossen durch den ehemaligen Stadtstreicher Clébert, der nunmehr als »dichtender Vagabund oder vagabundierender Dichter« auf den Spuren seines Nomadendaseins wandelt. Wie sein bewunderter Kollege Cendrars durchstreift er Paris als »Stadtwallstreuner« (»rôdeur de barrières«), geht dabei jedoch deutlich methodischer vor.41 Einerseits betreibt er eine »Ethnologie der Außenbezirke«, also Feldforschung vor der Haustür des Musée de lʼHomme, das dafür noch keine eigene Abteilung hat.42 Andererseits verfolgt er den Plan, eine Art Reisehandbuch gegen die üblichen Reiseführer zu schreiben: »Dies ist kein Baedeker für den Touristen«. Zur Realisierung dieses einigermaßen paradoxen Projekts orientiert er sich an den von ihm so genannten »Unterschichttouristen«, an Schnüfflern, Lumpensammlern oder Vagabunden. Während der Normaltourist auf seinem Stadtrundgang Monumente abklappert, die »mehr oder weniger künstliche Erinnerungen« hervorrufen, erschließen seine 38 39

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»[…] photographié en pleine illumination spirituelle dans un virage boueux et plein dʼempreintes de pneus«. Ebd., S. 55. Zur Geschichte dieses Fotobuches und seiner Wirkung auf die Pariser Schriftstellerzirkel, darunter auch die Situationisten, vgl. Sante, Luc: »On Paris vagabond«, in: The New York Review of Books 63.6 (2016), S. 30-32; zu Cléberts Bezugnahme auf die Literaturgeschichte der »Zone« siehe seinen Reiseführer La littérature à Paris (1992), Paris: Larousse 1999, S. 203-205. »[…] une cité interdite au public, réservée aux initiés«. Clébert, Jean-Paul/Molinard, Patrice: Paris insolite. Roman aléatoire (1954), Paris: Attila 2009, S. 65. Alle Zitate folgen dieser Ausgabe. »[…] la poésie des chantiers, des terrains encores vagues«. Ebd., S. 65, S. 82. Ebd., S. 23.

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eigenen Spaziergänge eine »poésie à lʼétat brut«, eine urbane »Poesie im Rohzustand«, die sich dem zahlenden Besucher verschließt. Diese Poesie aber besteht zu einem nicht geringen Teil in der »Poesie der Baustellen, der noch leeren Gelände«.43 Um sie auch sichtbar zu machen, hat Clébert seine Promenaden in Begleitung des Fotografen Molinard wiederholt, einem nicht nur preiswerteren, sondern dafür vielleicht auch geeigneteren Kollegen Doisneaus. Denn Molinard, so heißt es im Vorwort, habe die Gabe, seinen Aufnahmen »alles Pittoreske so weit wie möglich auszutreiben«.44 Außerdem, so lässt sich ergänzen, hat er die Standfotos zu Georges Franjus Dokumentarfilm Le sang des bêtes geschossen. Dieses Meisterwerk des Nachkriegskinos, im gleichen Jahr wie La banlieue de Paris herausgekommen, zeigt ebenfalls Pariser Brachen in doppelter Beleuchtung: Sieht man zunächst leere Gelände am Stadtrand mit spielenden Kindern, so tritt man anschließend in die benachbarten Schlachthöfe ein. Eine noch feiner abgeschattete Darstellung der hauptstädtischen terrains vagues bietet der illustrierte Anti-Baedeker Paris insolite. Denn die von Clébert und Molinard dargebotenen Brachen sind hochgradig zweideutige, ambivalente und provisorische Orte. Ihre Zweideutigkeit rührt daher, dass sie zugleich geschlossen und offen, abgeriegelt und doch betretbar erscheinen. Sie kommt in einer Überblicksdarstellung zur Sprache, die weder in einem Wörterbuchartikel noch in einem alternativen Reiseführer deplaziert wäre: Zum Kampieren in Paris (und ich benutze das Wort in seiner amtlichen, im Hinblick auf das fahrende Volk am Stadt- oder Dorfrand betonten Bedeutung) während der schönen Jahreszeiten, im Frühling und im Herbst, vor und nach der großen Wanderung, eignet sich nichts so sehr wie die terrain vagues (das heißt die leeren Gelände, um an die treffende erste, heute oft vergessene Lesart von vague zu erinnern), und dazu gehören die Hügel der Festungsanlagen, das Champ des Curés an der Porte dʼItalie, zugewachsene Stadien, die Buttes Chaumont, Abrissgebiete und Baustellen, das Motodrom von Montreuil… Hinter den Gittern, den halb verfallenen Mauern, den bemalten Bretterzäunen findet man immer Unterschlupf, Schatten, weichen Boden, Bretter und Pflastersteine für ein Winterquartier, Hecken als Windschutz, einen Winkel, wo einem kein Flic hinterherschnüffeln kann und auch gar keinen so großen Wert darauf legt.45 43

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Ebd., S. 33, S. 57-58, S. 65, S. 225. Cléberts anti-touristisches Programm erinnert an dasjenige Henri Calets, nach dem eine komplette Tour durch Paris zwecks Besichtung der terrains vagues in der »Zone« auch einen »kurzen Halt an der Porte des Lilas einschließen« müsste; siehe Calet, Henri: Huit quartiers de roture (1949), hg. v. Jean-Pierre Baril, Paris: Le Dilettante 2015, S. 77-78. Zur Tradition des Anti-Tourismus in literarischen Reiseberichten vgl. Urbain, JeanDidier: Lʼidiot du voyage. Histoires de touristes (1991), Paris: Payot 2002. »[…] banni[r] le plus possible le caractère de pittoresque«. J.-P. Clébert/P. Molinard: Paris insolite, S. 10. »Pour camper dans Paris (et je prends ici lʼacception du terme affiché pour la gouverne des forains et nomades aux abords des villes et villages) durant les belles saisons, printemps

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Obwohl der Autor die erste Etymologie des Adjektivs vague (›leer‹) herausstellt, macht er im Grunde doch vor allem die zweite geltend, da er den unbestimmten Status der Pariser Brachen betont. Unter Hinweis auf ihre Absperrung durch Gitter, Mauern und Zäune deutet er auf die Lücken und Breschen, die man dort immer finden kann; ohne ihre polizeiliche Überwachung zu ignorieren, zeigt er doch deren Grenzen auf und übernimmt selbst die Rolle eines Wegweisers für urbane Nomaden. Die Eigentumsfrage scheint nicht weniger ungeklärt. In der »Zone« am Stadtrand erscheinen die Brachen oft als »halbe terrains vagues«: der Beschilderung nach Privatgrundstücke, aber zugleich stets bereit, den erstbesten Besucher einzulassen.46 Eine Aufnahme Molinards von einer Brache voller Schilder, aber ohne Umzäunung führt diese seltsame Unbestimmtheit vor Augen. Dank dieser Unbestimmtheit finden Pariser Obdachlose jederzeit Zuflucht an solchen scheinbar herrenlosen Orten. Clébert nennt das Beispiel einer ganzen Familie, die nach ihrer Vertreibung aus verschiedenen Domizilen nunmehr ein »schmales, von Unkraut überwuchertes terrain vague« bewohnt, weil man dort einfach eintreten und sich einrichten kann. Dieselbe Familie hat jedoch auch die potenziellen Risiken einer solchen Ansiedlung kennengelernt; denn vor ihrem Rückzug auf die »Grünzeuginsel« wohnte sie »auf einem terrain vague an der Rue Mouffetard«, wo sie nur kurz zuhause war und bald vom Eigentümer — »in solchen Fällen kommt immer einer aus der tiefsten Provinz daher« — mit Schimpf und Schande davongejagt wurde.47 Der stets mögliche Hinauswurf der dort kampierenden Nomaden ist freilich nicht die einzige über den Brachen schwebende Gefahr. Clébert schildert auch Situationen, in denen ihre tiefgreifende Ambivalenz als zugleich intime und sinistre Orte zur Geltung kommt. So erinnert er sich an eine leidenschaftliche, aber gleichzeitig gefährliche Liebesbegegnung nahe der Porte dʼIvry, in einem der aufgelassenen Streckenabschnitte der Petite Ceinture. Diese parallel zu den äußeren Boulevards verlaufende Ringbahn zeigt alle Charakteristika eines terrain vague, da ihre »zugewachsenen Schottergräben zum Gehen, Lagern, Feuermachen, Kochen und Schlafen einladen« und man das Gelände trotz Absperrung betreten kann, »denn

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et automne, avant et après la grande vadrouille, il nʼest dʼexcellent que les terrains vagues (cʼest-à-dire vides, ce qualificatif ayant perdu sa première valeur pourtant judicieuse), et se comptent parmi eux les talus des fortifs, le Champ des Curés à la porte dʼItalie, les stades herbus, les Buttes Chaumont, les chantiers de démolition ou de construction, le motodrome de Montreuil… Derrière les grilles, les murs à demi écroulés, les palissades peintes, on est sûr de trouver abri-sous-roche, coin dʼombre, pan de terre douce, trou dʼhomme, planches et pavés propres à un séjour hivernal, taillis buissonneux abat-vent, où tous les flics ne peuvent fouiner, et sʼen foutent un peu«. Ebd., S. 212-213. Ebd., S. 87. »[…] le propriétaire (il en arrive toujours un du fond de sa province dans ces cas-là) l[a] foutant dehors avec pertes et fracas«. Ebd., S. 201-202.

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Abb. 3: Patrice Molinard, in: Clébert, Jean-Paul/Molinard, Patrice: Paris insolite. Roman aléatoire (1954), Paris: Attila 2009, S. 24 © Le nouvel Attila.

an bestimmten Stellen, die man kennen muss, gibt es Löcher, zerbrochene, verbogene oder verschobene Gitterstäbe, ausreichend für den Einstieg eines Menschen«. Clébert hat sie einst selbst genutzt, um sich dort mit einem Mädchen aus den nahen Sozialbauten zu vergnügen, doch er erinnert sich weniger an das heimliche Techtelmechtel als vielmehr an die »abschüssige Böschung, über die man ohne Vorsichtsmaßnahmen leicht zu zweit auf die Gleise rollte…«.48 Eine dieser Anekdote vorangestellte Fotografie macht deutlich, dass sogar noch eine Eisenbahnbrache 48

»[…] tranchées caillouteuses et herbues où lʼon est à lʼaise pour marcher, faire un camp, cuire la popote sur un feu discret et dormir des deux yeux […], car il y a des trous, des barreaux tordus, brisés, relevés à certains endroits quʼil faut connaître, suffisants pour le passage dʼun homme«. Ebd., S. 284-287. Zu den terrains vagues der Petite Ceinture vgl. J. Réda: Châteaux des courants d’air, S. 140-144.

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das mit dem Zugverkehr seit jeher verbundene Gefühl einer lebensgefährlichen Bedrohung auslösen kann.

Abb. 4: Patrice Molinard, in: Clébert, Jean-Paul/Molinard, Patrice: Paris insolite. Roman aléatoire (1954), Paris: Attila 2009, S. 24 © Le nouvel Attila.

In einem anderen verlassenen Graben der Petite Ceinture, nahe der Porte Montmartre gelegen, fühlt sich der Autor in anderer Weise bedroht. Angesichts anderer Streuner, die wortlos an den Gleisen entlang gehen, angesichts solcher »unheimlichen Gestalten, die plötzlich am oberen Grabenrand erscheinen«, gewinnt er den Eindruck, sich an einem »vielleicht poetischen, aber auf jeden Fall zwielichtigen Ort« zu befinden: »un lieu peut-être poétique, mais en tout cas sinistre«. Am Ende des Buches sieht sich der »Stadtwallstreuner« sogar gezwungen, »sehr weit, bis hin zum letzten echten Gebüsch« zu gehen, um nicht all »den Schnüfflern, den Span-

Terrains vagues in Schwarz-Weiß

nern, den Strolchen« zu begegnen, die sich wie er für die Brachen am Stadtrand interessieren.49 Wenn die leeren Gelände der Stadt manchmal bedrohlich wirken, so sind sie durch die moderne Stadtplanung doch auch selbst bedroht. Wie Clébert unablässig in Erinnerung ruft, handelt es sich um provisorische Orte, die den von LéonPaul Fargue schon unter der deutschen Besatzung prognostizierten »Tod der Zone« kaum überdauern werden.50 Natürlich ist ihm bewusst, dass die Modernisierung der Hauptstadt auch neue Brachen erzeugt oder dass Stadien und Grünflächen, die jetzt die Stelle alter Brachen einnehmen, gelegentlich »zurückfallen in den Zustand von terrains vagues«. Insgesamt jedoch scheint es ihm unvermeidlich, dass die »tosende Stadt« sich auf Kosten jener geheimen Orte entwickelt, die menschlichen wie nicht-menschlichen Vagabunden Zuflucht gewähren: »Der Bus, der die terrains vagues durchquert, ist aerodynamisch, und seine Schiebetüren verjagen die Spatzen«. Wohl deshalb spricht er vorsichtig von der Poesie der »terrains encore vagues«, sobald er dieses Kernelement der »poésie à lʼétat brut« in den Pariser Außenbezirken benennt.51 Und aus dem gleichen Grund findet er bestimmte Orte nicht wieder, als er seine Spaziergänge am Stadtrand in Gesellschaft des Fotografen nachvollzieht. Dennoch ergänzt dessen Objektiv das neu aufgelegte Protokoll seiner Promenaden um einen »Authentizitätsbeweis«, wie er im Vorwort schreibt.52 Durch die Zusammenarbeit mit Molinard ist Cléberts Paris insolite zu einem zweiten visuellen Hauptmonument einer ganz besonderen Art von Ort geworden, die man in der französischen Hauptstadt inzwischen fast vergeblich sucht. Die Neuausgabe des Fotobuchs von 2009 und seine kürzlich erschienene englische Übersetzung deuten vielleicht nicht nur auf seinen außergewöhnlichen Rang hin, sondern auch auf den anhaltenden, wenn nicht sogar anwachsenden Bann, in den Brachen urbane Wanderer schlagen.

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J.-P. Clébert/P. Molinard: Paris insolite, S. 88, S. 338-340. Siehe Fargue, Léon-Paul: »Mort de la zone«, in: ders., Déjeuners de soleil (1942), Paris: Gallimard 1996, S. 141-146. »Lʼautobus qui traverse les terrains vagues est aérodynamique et ses portes à coulisses font fuir les moineaux«. J.-P. Clébert/P. Molinard: Paris insolite, S. 58, S. 82, S. 92. Ebd., S. 11.

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Husten im Smog des Verlangens Großstadtlyrik und Luftverschmutzung Christoph Ribbat

Die toxische Metropole Für Menschen wie Ella könnte man Gedichte schreiben. Ihr voller Name: Ella Roberta Kissi-Debrah. Wohnhaft in London. Fußballerin, Skateboarderin, Rollschuhfahrerin. Begeisterte Leserin von Fantasy-Romanen. Tagebuchautorin. Klavier- und Schlagzeugspielerin. Gitarristin. Sängerin. Komponistin eigener Songs. Langfristiger Berufswunsch: Pilotin. Neun Jahre alt. Zuhause nur ein paar Meter entfernt von der South Circular Road in Lewisham, einer der am meisten mit Abgasen verseuchten Zonen des gesamten Großraums London. Geschüttelt von Asthma-Anfällen. Deshalb sechsundzwanzig Mal im Krankenhaus gewesen und dann zum siebenundzwanzigsten und letzten Mal. Am 15. Februar 2013 verstorben, betrauert von ihrer Mutter Rosamund Kissi-Debrah. Diese kämpft seitdem vor britischen Gerichten dafür, dass die verschmutzte Luft Londons offiziell als Todesursache ihrer Tochter anerkannt wird. »If it is proved,« so Kissi-Debrah, »that pollution killed Ella, then the government will be forced to sit up and take notice that this hidden but deadly killer is cutting short our children’s lives.«1 Der Erfolg vor Gericht soll das Problem der urbanen Luftverschmutzung im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung verankern. Ellas Geschichte steht nicht für sich allein. Menschen, die heute in Metropolen atmen, müssen damit rechnen, früher zu sterben als andere. Müllverbrennung, Autoverkehr, Fabriken, aber auch private Verbrennungsvorgänge (für das Heizen und Kochen) wirken zusammen. Abgase bringen weltweit sieben Millionen Großstädter pro Jahr um, weil diese chronische Atemwegskrankheiten, Lungenkrebs und Schlaganfälle bekommen. Das Einatmen toxischer Luft kostet mehr Menschenleben als AIDS, Diabetes und Verkehrsunfälle zusammengerechnet.2 Eine Studie in der Fachzeitschrift Atmospheric Environment zeigt, dass sich in den Megacities des 1 2

The Ella Roberta Family Foundation, »About Ella«. http://ellaroberta.org/about-ella/ Gardiner, Beth: Choked. Life and Breath in the Age of Air Pollution, Chicago: The University of Chicago Press 2019, S. 4.

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21. Jahrhunderts, etwa in Karachi, Dhaka, Peking, Kairo und Delhi, extrem hohe Sterblichkeitsraten beobachten lassen, die direkt auf die Verschmutzung der Luft durch Abgase und Mikropartikel zurückgeführt werden. 15.000 Bewohner Karachis sterben Jahr für Jahr an der belasteten Großstadtluft, über 7.000 in Dhaka.3 Die schlechte Luft ist kein Phänomen der Gegenwart: Schon im 17. Jahrhundert schrieben Beobachter über die »Hölle auf Erden« im von ständiger Kohleverbrennung verschmutzten London, vom »pestilent smoak«, von »pernicious Smoake«, der die Glorie der Metropole überschatte und der jedes Jahr einige hundert Menschen umbringe.4 Im späten 19. Jahrhundert inspirierte der Kohlendunst Londons diverse dystopische Erzählungen (auch, weniger düster, an den visuellen Effekten des Nebels interessierte Maler wie Monet). Diese Darstellungen zogen aber kaum systematische Untersuchungen und insbesondere keine politischen Maßnahmen nach sich.5 Erst in unserer Zeit widmen sich Wissenschaftler*innen der Großstadtluft extensiv und mit einer globalen Perspektive. Die Journalistin Beth Gardiner spricht in ihrer transnational angelegten Studie Choked vom »Age of Air Pollution«, das für unseren Planeten angebrochen sei. Auch Gardiner konstatiert, ähnlich wie Rosamund Kissi-Debrah, dass sich der öffentliche Umgang mit tödlicher Großstadtluft noch immer an einer Schwelle befinde: zwischen der Verharmlosung der Effekte und der Einsicht in die fundamentale Gefährdung von Stadtbewohner*innen.6 In den Großstädten der Gegenwart geht es derzeit also darum, die Geschichten, die von urbanen Erfahrungen erzählt werden, drastisch zu verändern – und damit wird Luftverschmutzung auch für Kultur- und Literaturwissenschaftler*innen interessant. Das »Age of Air Pollution« fordert dazu heraus, die Stadt nicht nur als räumliches Phänomen wahrzunehmen, nicht nur als zu beobachtenden, zu hörenden, zu erfahrenden oder zu ergehenden Raum, sondern als, und dies ist körperlich noch elementarer, einen Raum, in dem geatmet wird, und in dem aus diesem Akt, ohne den Leben nicht möglich ist, ein Akt der Selbstvergiftung geworden ist. Die chemischen und biologischen Prozesse, um die es hier geht, sind unsichtbar und komplex, selbst von Naturwissenschaftler*innen schwer zu durchschauen, von Laien kaum zu beobachten oder in Worte zu fassen. Auch deshalb haben urbane Diskurse, hat das kulturelle Netzwerk Großstadt der toxischen Kraft von Abgasen in den vergangenen zwei Jahrhunderten kaum genug Aufmerksamkeit geschenkt. José Luis Lezama etwa arbeitet das mit Blick auf das seit Jahrzehn3 4 5

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Gurjar, B. R. et al.: »Human Health Risks in Megacities Due to Air Pollution«, in: Atmospheric Environment 44 (2010), S. 4606-4613. Zitiert in: Corton, Christine L.: London Fog. The Biography, Cambridge, MA: Belknap 2015, S. 2-3. Brimblecombe, Peter: »Perceptions and Effects of Late Victorian Air Pollution«, in: Melanie DuPuis (Hg.), Smoke and Mirrors: The Politics and Culture of Air Pollution, New York: New York University Press 2004, S. 15-26. B. Gardiner: Choked, S. 5.

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ten versmogte Mexiko-Stadt heraus: Ob Luftverschmutzung als Problem wahrgenommen wird, hängt von diversen ökonomischen, ideologischen und politischen Faktoren ab, von der gesellschaftlichen Konstruktion des Problems.7 Diese Beobachtung gilt, das ist offensichtlich, für jedes scheinbar natürliche Phänomen von gesellschaftlicher Signifikanz. Allerdings: Von der Toxizität der unsichtbaren, reflexhaft von jedermann konsumierten Atemluft auszugehen, lässt den Aspekt der kulturellen und medialen Repräsentation des scheinbar natürlich Gegebenen noch einmal bedeutender werden.8 Eine frühe Studie spricht von den »un-politics of air pollution«. Der »Nicht-Politik« entspricht die Unsichtbarkeit, die Unerzählbarkeit des riskanten Einatmens in der Stadt.9 An diesen Punkt führt auch der Kampf von Rosamund Kissi-Debrah um eine gerichtlich anerkannte und legitimierte Anerkennung der Todesursache ihrer Tochter. Das Engagement dieser konkreten Stadtbewohnerin zielt darauf ab, Schadstoffe in der Luft als Akteure urbanen Lebens wahrzunehmen. Sie möchte, dass Personen und Institutionen die Existenz und die Auswirkungen tödlicher Abgase identifizieren, beschreiben und über die unmittelbare Gegenwart hinaus festhalten. In erster Linie geht es der trauernden Mutter darum, eine spezifische Erklärung für den Tod ihres Kindes zu finden. Aber da ist noch mehr. Für Rosamund Kissi-Debrah soll das Gerichtsurteil als eine Erklärung, folglich: eine wahre Erzählung dienen, die kulturellen Diskursen über urbanes Leben eine weitere Dimension hinzufügt. Es lohnt sich hier, der Frage nachzugehen, wie sich Großstadtdarstellungen bislang zur Frage der toxischen Luft verhalten haben. An welche Repräsentationstraditionen könnten heutige Auseinandersetzungen anknüpfen und von welchen setzen sie sich ab? Der Blick auf die Literaturgeschichte der verschmutzten Großstadtluft zeigt Optionen, den so wenig fassbaren und dennoch so toxischen Akt der Luftaufnahme in Texten zu komprimieren – und damit zum Teil urbaner Diskurse zu machen.

Rauchlose Luft, kurze Seufzer Wordsworth und Eliot Zuerst werden urbane Ökologen, das ist recht sicher, von prominenten GroßstadtTexten enttäuscht. Von der Romantik bis in die Gegenwart fließt zwar durchaus 7 8 9

Lezama, José Luis: »The Social and Political Construction of Air Pollution: Air Pollution Policies for Mexico City, 1979-1996«, in: DuPuis, Smoke and Mirrors (2004), S. 324-336. Zur komplexen Sichtbarmachung, Versprachlichung, Verwissenschaftlichung der Luft vgl. Connor, Steven: The Matter of Air: Science and the Art of the Ethereal, London: Reaktion 2010. Crenson, Matthew A.: The Un-Politics of Air Pollution: A Study of Non-Decisionmaking in the Cities, Baltimore: Johns Hopkins University Press 1971.

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eine Tradition literarischer Darstellung von Luftverschmutzung. Aber präsenter noch scheint die Tradition, Nebel bzw. Smog zwar wahrzunehmen, die giftigen Auswirkungen von Abgasen auf den menschlichen Körper jedoch zu ignorieren. William Wordsworths Sonett Composed upon Westminster Bridge, September 3, 1802 zeigt diese Nichtwahrnehmung auf besonders prägnante Weise. Wordsworth lässt das lyrische Ich von der Themse-Brücke auf die Großstadt London schauen, die in den frühen Vormittagsstunden noch zu ruhen scheint. Das Ich sieht Schiffe, Türme, Kuppeln, Theater und Gotteshäuser, sieht die Sonne aufsteigen, den Fluss dahinfließen, ist beeindruckt von der Majestät dieser Szene, dem noch ruhenden »mighty heart« der Großstadt, von der Art und Weise, wie London »the beauty of the morning« trägt, einem Kleidungsstück gleich. Nur en passant wird der so faszinierte Beobachter zum Kommentator der toxischen Stadtluft. Denn was er dort im Sonnenschein des frühen Morgens beobachtet, ist deshalb so hell und so funkelnd, weil genau das, was sonst das Stadtleben Londons bestimmt, noch nicht präsent ist. Alles, was das Gedicht sichtbar macht, ist: »bright and glittering in the smokeless air«. Wenn der »smoke« nicht zu sonstigen Tageszeiten omnipräsent wäre im London des Jahres 1802, dann würde Wordsworth es auch nicht explizit bemerken, dass die Luft nun, ganz früh am Morgen, rauchfrei ist, weil die Verbrennungsvorgänge in den Öfen und Schloten der Stadt noch nicht begonnen haben. Aber letztlich bleibt dies nur eine Anmerkung: Der Dichter spricht nicht über Luftverschmutzung, sondern über ihre Abwesenheit und die spektakuläre visuelle Pracht, die sie ermöglicht. Wie die Stadt funktioniert, wenn die Luft nicht mehr »smokeless« ist – das scheint der poetischen Beobachtung nicht wert. Eine ähnliche Verharmlosung lässt sich auch bei T.S. Eliot finden, dessen modernistische Lyrik allgemein für ihre Präzision, ihre Härte bekannt ist, auch für ihre apokalyptischen Evokationen des Waste Land der modernen Großstadt und, in The Love Song of J. Alfred Prufrock, für den unbarmherzigen Blick auf den Abendhimmel, der bei Eliot einem »patient etherised upon a table« gleicht. Anders als in Wordworths Sonnet dominiert der Smog bei Eliot tatsächlich das Stadtbild. In Prufrock bewegt er sich durch die Straßen und nähert sich den Häusern: the yellow fog that rubs its back upon the window-panes, The yellow smoke that rubs its muzzle on the window-panes, Licked its tongue into the corners of the evening, Lingered upon the pools that stand in drains, Let fall upon its back the soot that falls from chimneys, Slipped by the terrace, made a sudden leap, And seeing that it was a soft October night, Curled once about the house, and fell asleep.

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Der Nebel, der Rauch (für Eliot sind die Begriffe austauschbar) erscheint als elegantes, urbanes Tier, äußerst eindrucksvoll beschrieben, eindrucksvoller jedenfalls als die in Prufrock auf und ab gehenden Zeitgenossen, die Small Talk über Michelangelo machen, oder das lyrische Ich, das sich nicht entscheiden kann, einen Pfirsich zu essen oder nicht. Der Rauch macht die Großstadt fremd und verwirrend. Er wird zum Protagonisten, zum lebendigen Akteur im urbanen Raum. Aber letztlich wird die Luftverschmutzung nicht mit modernistischer Härte skizziert.10 Und auch in Eliots The Waste Land, einem prototypischen Text zur allumfassenden Krise der Moderne, dient der »brown fog of a winter dawn« zwar dazu, eine düstere urbane Szene zu etablieren: Unreal City, Under the brown fog of a winter dawn, A crowd flowed over London Bridge, so many, I had not thought death had undone so many. Sighs, short and infrequent, were exhaled. And each man fixes his eyes before his feet. Aber es wird, so apokalyptisch auch der Ton, keine Verbindung zum körperlichen Leiden der über die Brücke strömenden, zwischen Leben und Tod changierenden Passanten gezogen. Der Stadtbeobachter Eliot vernimmt keinen Husten, diagnostiziert keine Atemnot. Die kurzen Seufzer, die die Menschen ausstoßen, entstammen eher emotionalen Leiden als körperlichen: nicht der Atemwegserkrankung also, sondern der spirituellen Leere, der Vereinzelung, der Anonymität derer, die ihren Blick nur auf den Boden vor ihren Füßen richten.11

Poesie und Pollutrack Auch in Wordsworths und Eliots Zeiten waren die gesundheitlichen Folgen von Luftverschmutzung durchaus bekannt.12 Es wirkt nichtsdestotrotz anachronis-

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Eliot, T.S.: »The Love Song of J. Alfred Prufrock«, in: Nina Baym (Hg.), The Norton Anthology of American Literature. Shorter Sixth Edition, New York: Norton 2003, S. 1975-1979. Eliot, T.S.: »The Waste Land«, in: Baym, Norton Anthology (2003), S. 1981-1994. In der Erzählliteratur spielt der Smog Londons immer wieder eine Rolle, auch eine durchaus größere: bei Dickens trägt er dazu bei, die Stadt für seine Protagonist*innen noch verwirrender und mysteriöser zu machen, im späten 19. Jahrhundert wird er zum Emblem der sensationellen Verderbtheit der Großstadt, Mitte des 20. Jahrhunderts benutzt ihn die Autorin Lynne Reid-Banks, um die feindselige Umgebung rebellischer Frauenfiguren zu verstärken, und der afrokaribisch-britische Autor Samuel Selvon, um die Undurchdringlichkeit der britischen Großstadt für karibische Einwanderer zu unterstreichen. Zur Literaturgeschichte des Londoner Nebels vgl. Ch. Corton: The London Fog.

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tisch, mehr von ihren Gedichten zu verlangen: mehr präzise Beobachtung zur urbanen Toxizität, mehr ökologisches Bewusstsein. Dennoch erscheint die Großstadtlyrik, als in der Metropole entstandene, über und für (oder auch gegen) die Stadt verfasste Poesie, als das vielversprechendste Medium, um Luftverschmutzung so intensiv, so körperlich wie möglich zu reflektieren. Seit Baudelaire und Whitman und ihren Auseinandersetzungen mit Paris und New York City wirkt Lyrik als immens flexible, intime Reaktion auf urbanes Erleben – und als eine Kunstform, die die Stadt nicht als zufälliges Setting versteht, sondern als ständige Herausforderung an Sprache, an Metaphorik. Lyriker*innen sind Expert*innen für beide Felder: die Innerlichkeit des menschlichen Beobachters und die urbane Geografie.13 Die Literaturwissenschaftlerin und Lyrikerin Zoë Skoulding weist auf die zentrale Bedeutung des Körpers für das Erleben städtischer Räume und für die Produktion von Großstadtgedichten hin. Wenn sich die Flaneurin, der Skoulding nachspürt (und als die sich selbst versteht), durch die Stadt bewegt und Lyrik produziert, geschieht dies nicht aus einer autoritären, panoramahaften Totalperspektive. Die Poesie verdankt sich subjektiven, pluralen Wahrnehmungen. Skoulding bezieht sich dabei auf Hope Mirlees, die englische Lyrikerin, und ihr Paris: A Poem (1920), das modernistisches Experimentieren mit den spezifischen Erfahrungen der Großstadtpassantin verbindet. Skoulding macht deutlich, wie im Werk Mirlees, so wie in vielen anderen Großstadtgedichten, die Auseinandersetzung mit der urbanen Realität in allen sinnlichen Registern stattfindet: visuell, auditiv, und über den Geruchssinn – ob die Düfte von Lebensmitteln aufgenommen werden, von Rauch, von heißem Gummi, von menschlichen Exkrementen.14 Lyrik ist, folgt man diesen Ansätzen, sicher nicht das kulturell sichtbarste Medium im urbanistischen Diskurs, und wohl auch nicht an der Zusammenschau urbaner Phänomene interessiert, aber möglicherweise die Kunstform, die am ehesten in der Lage ist, die kaum beobachtbaren Prozesse des toxischen Atmens zu erfassen. In ihrem 2018 erschienenen Buch Respirer, dem ökologischen Wandel der französischen Hauptstadt gewidmet, preist die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo eine Technologie namens »Pollutrack«: ein Mess- und Darstellungssystem, das es Stadtbewohner*innen erlaubt, exakt festzustellen, welche spezifischen urbanen Orte welche Werte von Luftverschmutzung aufweisen. Die genaue Messung, lokal durchgeführt, ist Teil des Kampfes für eine gesündere Stadt. Pariser könnten nun, so Hidalgo, dank Pollutrack »la réalité de la pollution de l’air« identifizieren, ob für die Terrasse ihres Stammcafés, ob für den eigenen Balkon, oder für den Eingang

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Hollander, John: »The Poem of the City«, in: Stephen Wolf (Hg.), I Speak of the City. Poems of New York, New York: Columbia University Press 2007, S. xv-xxvii. Skoulding, Zoë: Contemporary Women’s Poetry and Urban Space. Experimental Cities, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013, S. 12.

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der Schule ihrer Kinder. Für Hidalgo handelt es sich um einen »appareil révolutionnaire«.15 Und möglicherweise kann Großstadtlyrik als eine Art erweitertes, literarisches »Pollutrack« dienen, als ein Messverfahren, das nicht nur die empirisch fassbaren Daten der Luftverschmutzung registriert, sondern auch die individuellen Reaktionen und Reflexionen von Stadtbewohner*innen. Eventuell hat sie so schon lange funktioniert: weit vor den technischen Neuerungen, die den »appareil révolutionnaire« ermöglichten.

Frank O’Hara, Poet des Smogs Auf der Suche nach einem Pollutrack avant la lettre führt der Weg fast automatisch in die Mitte des 20. Jahrhunderts. In diesen Jahren wurden westeuropäische und nordamerikanische Großstädte von besonders dramatischer Luftverschmutzung heimgesucht. Keines der Phänomene war so katastrophal wie der Smog von London im Dezember 1952, verursacht durch eine Inversionswetterlage und die extrem belastenden Abgase von Kohleheizungen. Der Smog kostete 12.000 Menschenleben und löste schwere Krankheiten bei 150.000 Stadtbewohner*innen aus.16 Auch das Los Angeles der Jahrhundertmitte, als sonnige Metropole imaginiert, erlebte immer wieder Smog-Tage, an denen sich eine Decke von grauem Dunst über die Stadt legte, das Atmen schmerzte, die Stadt scheinbar zu einem apokalyptischen Raum wurde.17 Die Farben Südkaliforniens verschwanden in der verschmutzten Luft – und dies genau zu der Zeit, als die Schlüsselindustrie der Metropole daran arbeitete, die Welt durch Technicolor als besonders verlockend und angenehm darzustellen.18 Über Donora, Pennsylvania, eine Industriestadt in Kessellage, legte sich 1948 eine Wolke, blockierte den Abzug der Fabrikabgase, tötete in den folgenden Tagen zwanzig Menschen und ließ Tausende schwer erkranken.19 Im Herbst 1953 entwickelte sich eine vergleichbare Situation in New York City. Auch hier verloren knapp zwei Dutzend Menschen ihr Leben, weil Abgase (von Kohlekraftwerken, Kohleheizungen, dem sprunghaft zunehmenden Autoverkehr, von siebzehntausend privaten Müllverbrennungsanlagen) nicht abziehen konnten.20 Luftverschmutzung, da15 16 17 18 19 20

Hidalgo, Anne: Respirer. Pourquoi Paris Se Transforme, Paris: L’Observatoire/Humensis 2018, S. 81-82. Winkler Dawson, Kate: Death in the Air. The True Story of a Serial Killer, the Great London Smog, and the Strangling of a City, New York: Hachette 2017. Jacobs, Chip/Kelly, William J.: Smogtown. The Lung-Burning History of Pollution in Los Angeles, Woodstock: Overlook Press, 2008, S. 20. Ebd., S. 12-41. Davis, Devra: When Smoke Ran Like Water. Tales of Environmental Deception and the Battle Against Pollution, New York: Basic 2002, S. 5-30. Goldstein, Eric A./Izeman, Marc A.: »Pollution«, in: Kenneth T. Jackson (Hg.), The Encyclopedia of New York City, New Haven: Yale University Press 1995, S. 914-916.

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von ist auszugehen, war zu dieser Zeit mehr als nur ein störendes Detail des städtischen Lebens, sondern eine tatsächlich tödliche Macht – und das befreite Atmen keine Selbstverständlichkeit. Die Suche nach Poeten des Smogs in dieser Epoche muss zwangsläufig bei Frank O’Hara Halt machen, dem bedeutenden Repräsentanten der »New York School«. Nicht nur fällt die produktivste Phase O’Haras in die Epoche der größten Luftverschmutzung. Auch verschreibt er sich wie kein anderer Lyriker der genauen Beobachtung der Großstadt. O’Haras Perspektive auf den urbanen Raum, bei ihm zumeist Midtown Manhattan, ist nicht die distanzierte, bewundernde Wordsworths, auch nicht der analytische Blick Eliots. Seine improvisierten Notizen geben das spontane, körperliche Sicheinlassen auf die Großstadt wieder: auf alle Eindrücke und Phänomene, die sie produziert. Die Gedichte, insbesondere die in der Sammlung Lunch Poems kompilierten, scheinen sich einem quasiautomatischen Schreiben zu verdanken, das selbst im öffentlichen Raum (und in der Mittagspause) stattfindet, so dass die urbane Dimension der Texte noch einmal potenziert wird.21 O’Hara, Arbeitnehmer in Manhattan und Konsument zur Mittagszeit, scheint alles zu erfassen: die Cheeseburger und den Papaya-Saft an den Imbissständen, das Leuchten von Neonreklamen, Katzen, die in Sägemehl spielen, das Klicken von hochhackigen Schuhen, die Krawatte, die im Wind weht, ein Hupkonzert, das Glänzen der verschwitzten Oberkörper von Bauarbeitern, aber auch: Erzählungen über rassistische Polizeigewalt. Aus den Gedichten lässt sich ein gelegentlich sehr hässliches, oft sehr attraktives New York rekonstruieren, in jedem Fall eine mit allen Sinnen registrierte Stadt.22 O’Haras Lyrik befasst sich auch mit der Smog-Metropole, wenn auch kaum auf plakative Weise. »I cough lightly in the smog of desire«, sagt das lyrische Ich in Rhapsody aus dem Jahr 1959, »and my eyes water achingly« – und damit referiert es die häufigsten Symptome, die New Yorker in ihrer verschmutzten Stadt zeigten. Rhapsody springt in der phänomenalen, vertikal aufragenden Großstadt hin und her, sieht sie als »jungle of impossible eagerness«. Ambivalent bleibt, wie sich das lyrische Ich verhält: ob es der Großstadt Herr werden kann oder ob es darin verloren zu gehen scheint. Hazel Smith erklärt zu Rhapsody, dass dieses Stadtgedicht keine romantisierende Einheit des Dichters mit »seinem« New York vorgebe, sondern nur beschränkte Eindrücke aneinanderreihe.23 Der leichte Husten, ausgelöst entweder durch »echten« Smog oder durch sexuelles Verlangen, unterstreicht noch die Fragilität des Beobachters. 21 22 23

Sweet, David L.: »Parodic Nostalgia for Aesthetic Machismo. Frank O’Hara and Jackson Pollock«, in: Journal of Modern Literature 23.3/4 (2000), S. 375-391. O’Hara, Frank: Lunch Poems, San Francisco: City Lights 1964 (siehe auch alle folgenden Referenzen zu diesem Band). Smith, Hazel: Hyperscapes in the Poetry of Frank O’Hara: Difference/Homosexuality/Topography, Liverpool: Liverpool University Press 2000, S. 66.

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Für einen amerikanischen Lyriker dieser Zeit ist es durchaus naheliegend, auf den Atem zu fokussieren: ihn nicht nur als Thema zu verwenden, auch als formellen Bestandteil des poetischen Texts zu definieren. Charles Olsons einflussreiches Manifest Projective Verse wies in den 1950er Jahren dem Atmen (wieder) zentrale Bedeutung für die Komposition von Lyrik zu. Allen Ginsberg sah sich als Teil einer neuen Generation amerikanischer Lyriker, die »our own personal physiologies and personal breathing rhythms« zum strukturellen Merkmal von Lyrik machte.24 Während bei Ginsberg, in Howl, aus diesen Atmenrhythmen aber ein quasi-musikalisches, vorwärtstreibendes Langgedicht wird, ist in Rhapsody, beim hüstelnden lyrischen Ich, kein durchgehender Rhythmus erkennbar. Eher zeigt sich hier ein stotterndes Bemühen, den surrealen Dimensionen New Yorks gerecht zu werden. Eine thematische Verbindung zwischen den Stadtbildern und den Smog-Symptomen zieht Rhapsody nicht. Der größere Kontext von Luftverschmutzung bleibt unsichtbar. Es bleiben rauschhafte, aufleuchtende Eindrücke, gesammelt von jenem labilen, hustenden, tränenden Sprecher, der nach einem »summit where all aims are clear« sucht, diesen offensichtlich nicht findet und der sich mit seinem so stabilen, aber auch tendenziell desinteressierten Liebhaber kontrastiert (»you were there always and you know all about these things/as indifferent as an encyclopedia with your calm brown eyes«). Ein Gedicht in Lunch Poems allerdings widmet sich der Luftverschmutzung mit wesentlich mehr Geduld. Song, entstanden 1959, reflektiert die Stadtwahrnehmung im Zeitalter von Ruß, Kohleheizungen, Müllverbrennungsanlagen (ohne diese Begriffe je zu nutzen). Hier handelt es sich tatsächlich um eine explizite literarische Reaktion auf das »Age of Air Pollution« – und um einen Kommentar zur Attraktion und zur Abschreckung durch toxisch-urbane Räume: Is it dirty does it look dirty that’s what you think of in the city does it just seem dirty that’s what you think of in the city you don’t refuse to breathe do you Das Atmen in der Stadt verdreckt – jedoch: Man atmet dennoch, weil man es muss oder weil man nur in dieser Stadt leben will. Aber solche ökologischen Überlegungen führen nicht, es wäre in O’Haras Œuvre auch extrem überraschend, zu einer politischen Argumentation. Song nimmt seine Leser*innen in romantische

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Kotynek, Roy/Cohassey, John: American Cultural Rebels: Avant-Garde and Bohemian Writers, Artists, and Musicians from the 1850s through the 1960s, Jefferson, NC: McFarland, 2008, S. 170.

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Kontexte mit, zieht den Vergleich zu erotischen Beziehungen, zu charakterlichen Problemen eines Liebhabers, ähnlich riskant möglicherweise wie das Atmen in der Großstadt, aber ähnlich unvermeidbar: someone comes along with a very bad character he seems attractive. Is he really, yes. Very he’s attractive as his character is bad. is it. Yes that’s what you think of in the city run your finger along your no-moss mind that’s not a thought that’s soot and you take a lot of dirt off someone is the character less bad, no. it improves constantly you don’t refuse to breathe do you Song gibt sich als einerseits philosophisches, andererseits triviales Gedicht, als Aufzeichnung eines Dialogs oder eines Selbstgesprächs, als eine Skizze, die urbanistische und intime Perspektiven zusammenbringt und im Refrain »you don’t refuse to breathe do you« die irrationale Attraktion zur Stadt wie zum Liebhaber bestätigt. Auch hier gibt es, ähnlich wie in Rhapsody, nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass der Ruß in der Luft der Stadt als größeres soziales und politisches Problem zu behandeln wäre. Genauso naiv wie die psychologische Expertise (»his character is bad«) geben sich die Aussagen über die von Abgasen verwandelte Stadt. Marjorie Perloff weist darauf hin, dass sich O’Hara hier deutlich absetzt von anderen Lyrikern seiner Zeit (Robert Lowell, Alan Ginsberg), die die Großstadt in düsteren, alptraumhaften Bildern evozierten – als Moloch.25 So schmutzig sein New York City auch erscheint, die Entscheidung für die Großstadt trifft Song dennoch, immer wieder. Man höre ja auch nicht zu atmen auf. O’Hara als Smog-Poeten zu rekrutieren, als frühen Warner im Zeitalter der Luftverschmutzung, scheint angesichts seines so besonderen Interesses für das Private, das Intime, das explizit Spontane kaum möglich. Die »un-politics of air pollution« finden sich auch bei ihm. Eine politische, schließlich noch aktivistische Perspektive auf die Luftverschmutzung könnte wohl nur dann eröffnet werden, wenn sich der Blick auf New York aus der Intimität heraus und ins Kollektive hinein bewegen würde: wenn nicht nur eine Person über die Attraktivität von Stadt/Liebhaber reflektierte, sondern die Luftverschmutzung zu einem sozialen Faktum würde. Ein Lyriker in O’Haras Epoche machte diesen Schritt, vom »smog of desire« zum realen Smog: Er schrieb jedoch nicht in New York, sondern in Berlin, der 25

Perloff, Marjorie: »The Ecstasy of Always Bursting Forth: Rereading Frank O’Hara«, in: Lana Turner 1.1 (2008), S. 194-206.

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Hauptstadt der DDR, wenn auch in der Auseinandersetzung mit einer amerikanischen ökologischen Katastrophe. Günter Kunerts Lied von einer kleinen Stadt, 1950 erschienen in Kunerts Lyrikband Wegschilder und Mauerinschriften, befasst sich mit dem tödlichen Smog von Donora, Pennsylvania: Kunert konstruierte eine Moritat auf die Opfer.26 Nicht die O’Harasche Flanerie bestimmt Kunerts Gedicht, sondern ein sozialistisch-realistisches Panorama der Industriestadt. Der Text schaut auf »Dampfmühlen,/Eisenbahnhöfe,/Stahlgießereien und/das große Zinkwerk«, darauf, dass in dieser Stadt »kein Gras grünt« und dass ihre Einwohner*innen, wenn sie zur »Schlafenszeit« das Licht ausschalten, »immer/quirlenden Rauch unter den/Decken ihrer Zimmer sehen, bevor sie die Augen schließen.« Kunert entwickelt eine düstere industrielle Vision, die sich Schritt für Schritt der ökologischen Katastrophe annähert. Er beschreibt, wie »sich Nebel senken und/vermischen mit Zinkdampf«, schaut auf »Qualm von den Mühlen,/von Eisenbahnhöfen,/von Gießereien –« und auf den »Freitag, der kommen wird,/pünktlich wie der Tod.« Es handelt sich hier um ein dystopisches Lied aus einem durch und durch deprimierenden Amerika, gesehen von der anderen Seite des ideologischen Konflikts in der Frühzeit des Kalten Krieges, von einem jungen Lyriker, der sich in Wegschilder und Mauerinschriften immer wieder damit befasst, vielleicht damit befassen muss, den Klassenfeind zu verdammen. Streikende, nicht-kommunistische Westberliner S-Bahn-Fahrer sind bei Kunert »Ratten«. Sein Gedicht mit dem eindeutigen Titel Die Notwendigkeit des Henkens zeigt, was mit missliebigen Individuen zu tun sei. Und während in Donora, Pennsylvania, Menschen ersticken, scheint in der Deutschen Demokratischen Republik die Luft sehr frisch: In Kunerts Gedicht Partei erläutert das lyrische Ich, dass die SED wie ein »älterer Bruder« für es sei, »der mir klare Luft bringt,/zum klar Atmen.« Auch Kunerts Blick auf den urbanen Kontext erscheint, von heute aus gesehen, nicht wie ein allzu nützlicher, weil ideologisch ein wenig eng gefasster Beitrag zum »Age of Air Pollution«. Und im Vergleich wird O’Haras nur scheinbar privatistische Smog-Lyrik vielleicht doch interessanter, relevanter, weil sie zumindest die präzise Beschreibung körperlicher Empfindungen im urbanen Kontext weiterentwickelt und somit immerhin den so oft ignorierten Ruß sichtbar macht und das Augentränen und die Atemnot festhält. Und es gibt in O᾽Haras Lunch Poems auch tatsächlich einen Moment, in dem eine Gruppe von New Yorker*innen, und das lyrische Ich ist ein Teil des Kollektivs, atemlos wird, im öffentlichen Raum. Aber es sind nicht die Müllverbrennungsanlagen oder Fabrikausdünstungen oder Dieselabgase, die den Atem stocken lassen, sondern der Auftritt von Billie Holiday in einem Club, als

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Kunert, Günter: Wegschilder und Mauerinschriften. Gedichte, Berlin: Aufbau 1950 (siehe auch alle folgenden Referenzen zu diesem Band).

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das Flüstern der Sängerin und das Spiel ihres Pianisten beim Publikum zur körperlich gespürten ästhetischen Ergriffenheit führt: »leaning on the john door in the 5 Spot/while she whispered a song along the keyboard/to Marc Waldron and everyone and I stopped breathing«.

Zwei Tonnen Stickoxide Das Gedicht, das die Luft säubert So stellt sich die Suche nach Poeten des Smogs und der Smogopfer wohl als falsch konzipiert heraus. Wer die Großstadtlyrik nicht als politische Propaganda versteht, sondern als Ausdruck einer individuellen Perspektive auf den urbanen Raum, der wird kaum ökologisch-politische Solidaritätsgedichte mit Smogopfern finden. Nach John Hollander, in der Nachfolge Baudelaires, verstehen Lyriker*innen die Großstadt selbst als Gedicht, »in an unwritten tongue«, als einen Text, den individuelle Lyriker*innen immer wieder übersetzen, »into a poet’s individual language«.27 Und nicht diese höchst individuellen Stadt-Übersetzungen in moderner und zeitgenössischer Lyrik werden in die Auseinandersetzungen um die Toxizität der Stadt eingreifen, um die Ella Kissi-Debrahs dieser Welt zu retten, sondern wohl eher die WHO-Studien, die öffentlichkeitswirksamen Wissenschaftsreportagen oder eben: Pollutrack selbst. Zu begrenzt scheint die Lyrik, um auf diesem Feld Wirkung zu zeigen. Allerdings gibt es da doch, in unserer Zeit, im »Age of Air Pollution«, ein Gedicht über das Atmen, das effektiv zur Verbesserung urbaner Luft beigetragen hat. Es handelt sich um einen explizit urbanistischen Text, ein nicht allzu ideologisches, schon eher: recht nuanciertes Gedicht. Und es wirkte ebenfalls in Großbritannien, wenn auch nicht in Ella Kissi-Debrahs, Wordsworths und Eliots London, sondern einige hundert Kilometer weiter nördlich, in einer Metropole des postindustriellen Nordengland, an der viel befahrenen A 57 in Sheffield, leicht westlich des Zentrums der Stadt. An einem hoch aufragenden Gebäude hing dort drei Jahre lang ein Plakat, zehn mal zwanzig Meter groß, und auf diesem befand sich jenes so exzeptionell und tatsächlich nachhaltig in die Realität eingreifende Gedicht des Autors Simon Armitage: In Praise of Air, eine nüchterne Ode, formal nah an der Prosa, narrativ, fast schon diskursiv. In vier Strophen erläutert es das atmende Leben des lyrischen Ichs: I write in praise of air. I was six or five when a conjurer opened my knotted fist

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J. Hollander: »The Poem of the City«, S. xv.

Husten im Smog des Verlangens

and I held in my palm the whole of the sky. I’ve carried it with me ever since. Let air be a major god, its being and touch, its breast-milk always tilted to the lips. Both dragonfly and Boeing dangle in its see-through nothingness. Among the jumbled bric-a-brac I keep a padlocked treasure-chest of empty space, and on days when thoughts are fuddled with smog or civilization crosses the street with a white handkerchief over its mouth and cars blow kisses to our lips from theirs I turn the key, throw back the lid, breathe deep. My first word, everyone’s first word, was air. Armitage löst sich von Stadt, Alltag, von spontanen Notizen, Beobachtungen, Konsumskizzen. Dies ist nicht der Text eines Flaneurs, kein Text über eine konkrete Stadt während der Mittagspause. In Praise of Air imaginiert das Verhältnis zwischen lyrischem Ich und Sauerstoff, entwirft die fiktive Vorstellung der von der Kinderhand eingefangenen Luft, der Luft als Schatz, aufbewahrt in einer verschlossenen Truhe, imaginiertes und doch reales Gegenmittel gegen die eindeutig reale Verschmutzung der Umwelt. Das Gedicht verbleibt nicht auf der persönlichen, der körperlichen Ebene: Es spricht eine ganze Generation von Lesern an, mit dem Imperativ, der Aufforderung: »Let air be a major god« und endet mit einem universalistischen Schlussakkord, der sein gesamtes Publikum, Gedichtleser*innen, Stadtmenschen, Menschen, als gleichberechtigte und gleich hoffnungsvolle Atmer*innen sieht: »My first word, everyone’s first word, was air.«28 Auf welche Weise hat In Praise of Air die Umstände urbanen Atmens verbessert? Weniger, vielleicht tatsächlich gar nicht, durch die Organisation von Worten, Bildern, Zeilen, viel eher dadurch, dass auf dem das Gedicht der Öffentlichkeit zeigenden Plakat, dieser 200 Quadratmeter großen Fläche, für das Auge nicht sichtbar eine Schicht von extrem kleinen photokatalytischen Partikeln aufgesprüht worden war. Im Licht – ob im Tageslicht von Sheffield oder in den Lichtern am Abend, bei Nacht – setzten diese Nanopartikel auf dem Gedicht und um das Gedicht herum aus dem Luftsauerstoff freie Radikale frei, die dann wiederum mit Regenwasser

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Armitage, Simon: »In Praise of Air« (2014), in: Catalytic Poetry 2014-2019, https://catalyticpoetry.org

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reagierten und so die Stickoxide der toxischen A 57 in ganz und gar harmlose Substanzen verwandelten. In Praise of Air, öffentliche urbane Lyrik, wirkte zwischen 2014 und 2017 auf Leser*innen und den urbanen Kontext, pries die Luft, schlug einen Weg vor, sie in Worte zu fassen, reinigte sie gleichzeitig und wurde dann, nachdem es mehr als zwei Tonnen Stickoxide aus der urbanen Atmosphäre entfernt hatte, wieder abgenommen, in zwölf Segmente aufgeteilt und zwölf Mal von Simon Armitage signiert. Danach wurde das zerstückelte Gedicht versteigert, um Geld für eine britische Stiftung einzubringen, die sich dem Kampf gegen Lungenkrankheiten widmet.29 Das, so scheint es, ist im Zeitalter der Luftverschmutzung die wahre Funktion von Lyrik für Menschen wie Ella Kissi-Debrah.

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o.A.: »In Praise of Air. Simon Armitage’s Sheffield Artwork to be Auctioned«. https://www.bbc. com; Dank an Boris Schüpp für seine Einschätzungen zu chemischen Details.

Klassenkampf und kulturelle Kommodifizierungen Ethnologische Beobachtungen zum Verhältnis von Unterschichts- und Populärkultur in Neapel Ulrich van Loyen

1 Zwischen 2013 und 2015 verbrachte ich rund anderthalb Jahre für eine Feldforschung zum Zusammenspiel von Volksreligion und Politik in der süditalienischen Metropole Neapel.1 Ich wollte herausfinden, ob die Umwälzungen innerhalb des klientelären Systems, die sich vor allem in den Praktiken und in der Rhetorik des Movimento Cinque Stelle (oder der Grillo-Bewegung) abzeichneten, einen Imaginations- und Resonanzraum besaßen, der ihr weitere kulturelle Ressourcen zuwachsen ließ. Zu diesem Zweck begab ich mich auf die Suche nach zwei Kulten, von denen jeder auf seine Weise einen Totenkult darstellte und von denen jeder das Selbstverständliche auflockerte, das heißt: die Kulturgebundenheit des Natürlichen auswies. Der Kult der anime sante del purgatorio (der »heiligen Seelen des Fegefeuers«) zum Beispiel thematisierte den Übergang des gestorbenen Menschen in seinen Verwandtschafts- und Sozialbezügen zum »gereinigten« Ahnen,2 er inserierte sich in die in Neapel verbreitete Praxis der Zweitbestattung, die der Reinigung der Beziehung gewidmet ist, die die Lebenden mit den Toten verbindet und die nicht erst seit Sigmund Freud als von »Gefühlsambivalenz«3 charakterisiert gilt. Die materielle Basis dieses seit dem 18. Jahrhundert nachgewiesenen Kultes bilden die Schädel anonymer Toter, an denen Neapel als vielfältig gefährdete Stadt reich ist – Naturkatastrophen und Epidemien haben stets erneut sowohl für die Notwendigkeit rascher Bestattung und raschen Vergessens als auch für das abrupte Hervortreten menschlicher Überreste gesorgt, beispielsweise anhand

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Vgl. van Loyen, Ulrich: Neapels Unterwelt. Über die Möglichkeit einer Stadt, Berlin: Matthes & Seitz 2018 Zur Geschichte des Kultes vgl. de Matteis, Stefano/Niola, Marino: Antropologia delle anime in pena. Il resto della storia. Un culto del purgatorio, Lecce: Argo 1993. Vgl. Freud, Sigmund: »Totem und Tabu«, in: ders., Studienausgabe Bd. IX: Fragen der Gesellschaft/Ursprünge der Religion, Frankfurt: S. Fischer 1982, S. 287-444.

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von Sturzfluten im Herbst und im Frühjahr. Mit den Schädeln, deren Träger im »Purgatorium« verortet werden, also in einer Zone, in der die Toten für die frommen Werke der Lebenden – etwa das Rosenkranzgebet – erreichbar bleiben, sie zugleich schon etwas von der unendlichen Macht und dem unendlichen Wissen Gottes profitieren, treten die Adepten des Kultes in Kontakt; sie säubern den Schädel, widmen ihm kleine Häuser, träumen seinen Besitzer, der im Austausch für die erwiesenen Wohltaten und besonders für die ihm geltenden Fürbitten seine Dienste in Aussicht stellt.4 Hier vollzieht sich mit anderen Worten ein idealer Tauschprozess, eine wirkliche Reziprozität ohne Hinterlist, die in gewisser Weise den Hintergrund abgibt für die familiär oft viel problematischeren und von unerfüllten Erwartungen durchzogenen Beziehungen, die eben oft über den Tod hinaus unrein bleiben. Das »affidamento«, die Übereignung der eigenen Toten an die anonymen Toten, wie man sie an Fürbitten oder noch deutlicher an der Metonymie von Schädel und Verwandtenfoto in den Krypten der neapolitanischen Innenstadt ablesen kann, zeigen die anime sante del purgatorio als exzentrische Figuren, mit denen das eigene Glück und die Einheit der Familie gesichert werden sollen. Im Vergleich zu dieser eher matrilokal vermittelten Devotion rückt der patrilineare Kult der Madonna dell’Arco den Ereignischarakter von familiärer Einheit – etwa der aus Vater, Mutter, Kind – ins Zentrum.5 Die von der Gottesmutter Maria erwiesene Gnade, die »Grazia«, ist es, der sich die Familie als solche verdankt – oft eine Rettung in höchster Not, eine wunderbare Heilung, in der die Familie, hindurchgegangen durch Leiden und Schmerz, zusammenfindet. Das gilt auch für Kernfamilien ohne Blutsverwandtschaft. Was im Kult der anime sante del purgatorio die Zweitbestattung, ist in dem der Madonna dell’Arco die Zweitgründung. In beiden Fällen reicht die Biologie nicht hin, um die Grundelemente des Lebens – Verwandtschaft, Familie – zu begründen, und in beiden Fällen wird die defizitäre Natur, die permanent zum Zweifeln Anlass gibt, durch eine Wette auf das Übernatürliche repariert. Während der Kult der anime sante del purgatorio ein durch und durch städtischer Kult ist und von der zunehmenden Verdichtung einer der lange Zeit größten Städte Europas seinen Ausgang nimmt, ist jener der Madonna dell’Arco durch die andauernde Bezogenheit von individuellem Lebenszyklus und Jahreszyklus geprägt, das heißt auch, er artikuliert die immer wieder gefährdete Grenze zwischen Stadt und 4

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Eine detaillierte Beschreibung in der frühen Nachkriegszeit liefert Peyrefitte, Roger: Du Vésuve à l’Etna, Paris: Flammarion 1952, S. 48-50. Außerdem aufschlussreich ist Luigi di Giannis Dokumentarfilm, Grazia e numeri (IT 1962, R: Luigi di Gianni), der die Totenkultpraktiken in der Altstadt und besonders in S. Gaudioso zeigt. Vgl. de Matteis, Stefano: La madonna degli esclusi, Neapel: D’Auria 2011, sowie van Loyen, Ulrich: »Nacht um Neapel. Ein Straßenkult und seine wüsten Wege«, in: Erik Wegerhoff (Hg.), On the Road/Über die Straße, Berlin: Wagenbach 2016, S. 155-177.

Klassenkampf und kulturelle Kommodifizierungen

Land. Neapel ist eine Stadt ohne weitere städtische Umgebung, sie ist Metropole mit einem großräumigen Hinterland, ihrem Einzugs- und Diffusionsgebiet, zu dem sie sowohl in Konkurrenz steht als auch dessen Attraktionspunkt bildet. Und während der Kult der anime sante ein Kult der Kritik war und ist, die die eigenen Verwandten in ihrer Unchristlichkeit und Unvollkommenheit ebenso trifft wie die Stadt als solche, so ist der Kult der Madonna dell’Arco eher ein Kult, durch den man die Übernahme des Unausweichlichen zelebriert, die Annahme dessen, was man nicht ändern kann, und der damit der heroischen Unterordnung unter das Faktische das Wort redet. Aber häufig muss man das Faktum erst akzeptieren, um Kritik äußern zu können, und umgekehrt.

2 Ich habe diese religiösen Praktiken skizziert, zum einen, weil sie in ihrer Komplementarität meine Feldforschung im zugleich zentralen wie peripheren, bereits von der Stadtplanung des frühen 19. Jahrhunderts marginalisierten Viertel Sanità anleiteten und ich überhaupt froh und dankbar war, dass es sie noch gab; zum anderen aber, weil beide Kulte bzw. Devotionen an der Grenze der Orthodoxie angesiedelt waren und immer wieder aus dem Bereich der Religion in den der Selbstdarstellung und -problematisierung einer bestimmten sozialen Gruppe wechselten. Mit einem Wort, der Kult der anime galt zur Zeit meines Eintreffens als ein Teil der städtischen Folklore; Schädel, Unterkirche etc. gehörten bereits zur Ikonografie der Stadt, so dass Personen, die den Kult praktizieren wollten, einerseits über diese Anverwandlung die Legitimität ihrer Praktik behaupten konnten, andererseits sie Gefahr liefen, selbst als Teil eines Zitats angesehen zu werden. Diese Selbsthistorisierung nahm ich in Neapel als einen geradezu zwanghaft ablaufenden Prozess wahr: Es waren ja nicht selten Nachfahren ehemaliger Totenkultadepten; Leute, die an den Orten der Verehrung der anime nur kurz gelebt hatten und jetzt zu ihnen zurückkehrten, die den Kult entdeckten und ihn als Symbol des neapolitanischen Sorgezusammenhangs – der Sorge um Lebende und Tote – propagierten. Wer sich ihm verschrieb, hatte oft nichts anderes, und verschrieb sich genau gesehen dem Versuch, aus dem Negativen – dem Tod, der Anonymität – das Positive zu gewinnen, das ihn über den Tag retten sollte. Natürlich wurde der Kult dadurch zwangsläufig als Erinnerung an einen Kult formatiert, ja erwuchs ihm seine gegenwärtige Legitimität geradezu daraus – seine offizielle/öffentliche als auch seine inoffizielle/geheime/mysteriöse: Denn als erinnernd an einen Kult rief man um Vergebung, das heißt man erhoffte seine Antwort seitens der Toten, brachte die Schädel und ihre Träger in Position, forderte sie heraus. Folklorisierung ist im Bereich der Religion nie harmlos, sondern stets doppelsinnig, und die Kultadepten der anime sante del purgatorio wussten dies genau.

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Ein ähnliches Angebot der allgemeinen Aneignung und positiven Zuschreibungen seitens der städtischen Gemeinschaft machte die Madonna dell’Arco nicht. Für viele meiner Gesprächspartner im Feld gehörte sie auf die Seite der »malavita«, des Einzugsbereichs der Mafia. Die Anhänger des Kultes nannte man »mariuoli«, ein pejorativer Ausdruck für Marienverehrer, der synonym auch für Betrüger und vor allem Kleinkriminelle gebraucht wird. Man kann mit Recht behaupten, dass die Anhänger von zwei Seiten ausgestoßen waren: von den organisierten Camorristi, die sich ihrer gelegentlich bedienten, auch, weil die »mariuoli« bei ihnen verschuldet waren, wie von den »onesti«, den ehrlichen Bürgern und Kirchgängern. Ein wenig auf das Eigentümliche dieses Kultes muss ich eingehen, um anschließend auf mein Thema im engeren Sinn kommen zu können. An seinem Ursprung steht die Legende um ein Marienbild, das um 1450 von einem Stein oder Ball getroffen wird, woraufhin es zu bluten anfängt und den Übeltäter durch die spanischen Besatzer aufgreifen lässt und zumindest nichts gegen dessen Hinrichtung unternimmt. Die Madonna dell’Arco ist von Anfang an mächtig und durchaus wehrhaft, man muss sich ihr vollkommen unterwerfen, um etwas zu erhalten. In der Mitte des 16. Jahrhunderts beginnen die in der Gegenreformation besonders aktiven Dominikaner sich für sie zu interessieren, sie bauen eine Kirche um das Bild, hegen es quasi offiziell ein, in der Hoffnung, so auch die wilde Religiosität der Neapolitaner domestizieren zu können. Dieses Anliegen schlägt fehl, führt allerdings zu dem Ergebnis, dass in der Dominikanerkirche und vor dem Bild von nun an der Widerstreit zwischen offizieller Religion und der wilden, sich über Dogmen und moralisches Räsonnieren hinwegsetzenden Volksreligion der Unterschichten stattfindet, durchaus als Klassenkampf zwischen Priestern und Laien.6 Die Stabilisierung besteht also in der Ritualisierung eines Konflikts, und damit ist die maximale Gewinnmarge bezeichnet, die jede Seite realisieren kann. Die Ritualisierung des Konflikts lässt zu, dass die Semantik des Wilden, des Ausgelieferten, des Erlösungsbedürftigen um die Adepten des Kultes herum – und ganz besonders auf

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Arnold Angenendt beschreibt im Offertorium. Das mittelalterliche Messopfer, wie seit dem Mittelalter die katholische Messe als Sühneritus für die Vergebung der Sünden funktionalisiert wurde und die Sühne auf der einen Seite zum steigenden Reichtum der Kirchen (mit immer mehr Altären für immer mehr Messen in einem Gotteshaus), auf der anderen Seite zu weitreichenden Anforderungen an die Reinheit der Zelebranten und der Zelebration führte. Das »popolo« der Madonna dell’Arco sucht seinerseits nach einem Penitenzritus, der den größtmöglichen Zugang zu den Sakramentalien gewährt, stellt dabei allerdings die Rolle der Priester und mit ihnen der Messe als wichtigstes Sühneritual in Frage. Das Sakramentalienkonzept der Amtskirche wird aufgegriffen und gegen seine Funktionäre in Anschlag gebracht; diese sind nunmehr nichts weiter als Wächter der Sakramentalien, und je exzentrischer die Laien als Kultadepten sich gebärden, desto unbeweglicher und statuenhafter werden die Priester und Mönche. Vgl. Angenendt, Arnold: Offertorium. Das mittelalterliche Messopfer, Münster: Aschendorff 2013.

Klassenkampf und kulturelle Kommodifizierungen

dem jährlichen Höhepunkt, der Wallfahrt zum Bild der Madonna dell’Arco – wuchern darf. Daraus entsteht das Bild des Outlaw, mit anderen Worten eine Unterschichtenvariante des Meisters der Liminalität, der in der Oberschichtenkultur – oder der Gelehrten- bzw. orthodoxen religiösen Kultur – als Heiliger oder Seher konzipiert ist.7 Der Outlaw bietet vielfältige Anschlüsse zum Alltagsleben des betreffenden Personenkreises, er erlaubt natürlich auch, der Situation des relativ ungeschützten Kleinkriminellen eine Präsentationsseite abzugewinnen. Nach innen nobilitiert diese, nach außen erscheint sie als Ideologie. Im heiligen Outlaw kommt zusammen, wovon zumindest für die offizielle Kirche fraglich ist, ob es zusammengehört. Das zeigt sich dann auch in der Übernahme bestimmter musikalischer Elemente, die die Anhänger der Madonna dell’Arco in den Vereinen, in denen sie sich organisieren – Vereine, die jeweils um bestimmte führende Familien oder um kleine topografische Einheiten, Gassen, Straßenzüge, herum gruppiert sind – auf ihren »uscite«, den rituellen Auszügen im Vorfeld der Wallfahrt, pflegen. Statt geistlichem Liedgut dröhnt dann der Soundtrack aus Ridley Scotts Gladiator durch die »vicoli«, gespielt von eigens angemieteten Blasmusikcombos, die in den Augen vieler Priester den ungezügelten dionysischen Charakter dieser Frömmigkeitspraxis noch unterstreichen. Der Outlaw zeigt sich ferner auf der Wallfahrt selbst, die gesäumt ist mit Ständen, auf denen man neben Marienbildern und Socken, die die Schuhe ersetzen, vor allem Spielzeuggewehre und andere Gegenstände findet, die den wehrhaften Charakter der Freunde der Madonna in der Bevölkerung manifestieren helfen. Dieser wird zwar spielerisch übertrieben, doch muss man sich davor hüten, daraus etwas Anderes ableiten zu wollen als seine Wahrheit. Der Kult der Madonna dell’Arco enthält mit anderen Worten eine ganze Reihe von Figuren und mimetischen Angeboten, mit denen sich die unteren Klassen die Werte der »höheren« Klassen übersetzen und glauben, sich ihnen anpassen zu können. Dies übrigens nicht erst seit gestern: Das zum Kult gehörende Vereinswesen und seine paramilitärischen Ausdrucksformen, in gewisser Hinsicht stets eine Persiflage des Militärs, gehen letztlich auf die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg zurück, als die süditalienischen Rekruten aus dem Isonzo-Gebiet und anderen traumatisierenden Frontstellungen zurückkehrten und soldatische Kultur – und damit verbundene soziale Aufstiegshoffnungen – in den spätfeudalen Süden brachten. Man kann dieser Mimikry leicht vorhalten, sie missverstehe ihre Vorbilder – ebenso wie man dies auch der Mimikry klassischer kolonialisierter 7

Liminalität ist die priesterliche oder allgemein geistliche Machtquelle, sie ist nicht konvertierbar in politische Macht mit ihren anderen Machtquellen (z.B. Schlachtenglück, Charisma). Der »Outlaw« hingegen beansprucht, eine Vermittlungsfigur zu sein (durch seine Grenzüberschreitung von Zivilisation und Wildnis, die ihn gleichermaßen als erlösungsbedürftig wie als erlösungsbringend charakterisiert). Vgl. auch Schüttpelz, Erhard: »Liminalität und Macht«, in: van Loyen, Ulrich (Hg.), Der besessene Süden. Ernesto de Martino und das andere Europa, Wien: Sonderzahl 2016, S. 218-238.

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Lebensformen vorgehalten hat, die ihre Kolonisatoren nachahmten, um an ihrer geheimnisvollen Macht zu partizipieren, die plötzlich in der verfremdenden Maske als gar nicht mehr rational und selbstevident erschien, sondern als maskierte Form der Gewalt.8 Auf der anderen Seite geht es auch darum, die Erfahrung des eigenen Lebenskontextes zu überhöhen, sie als »immer schon« legitimiert, als universalisierungsfähig vorzustellen. Das würde die mafiöse Gesellschaftsform einbegreifen, in der man nicht nach schuldig und unschuldig sortiert, sondern nach glücklich und weniger glücklich, in der man auf Zufall schiebt, was Teil einer Entscheidungskette ist. Auch diese sozialen und familiären Kontexte, so die Adepten der Madonna dell’Arco, dürfen rechtmäßig Anspruch auf Teilhabe am Universalen erheben, weil sie im Kern eine ebenso legitime Spiegelung der göttlichen Einrichtung der Welt sind, von der der Schmerz nicht abgelöst werden kann. Durch Familienund Strukturähnlichkeiten mit der höheren religiösen Welt verbunden, bleibt sie in deren Fleisch der Stachel, ihr andere Ab- und Zukünfte suggerierend, als sie zuzugeben bereit ist.

3 Während das Verhältnis von höherer und »niederer« Kultur im soeben vorgestellten Fall das einer eher einseitigen Annäherung ist, das darum den Ausbau von Brücken aus der umgekehrten Richtung eher verhindert – anders als im Fall der anime sante del purgatorio –, ist dennoch festzuhalten, dass die mafiöse und sich selbst fortwährend marginalisierende Welt der Unterschicht genug Faszinationspotenzial besitzt, damit andere Brücken des Austausches zwischen beiden Kulturen bzw. ›Parallelwelten‹, um ein gängiges deutsches Wort zu benutzen, errichtet werden können. Faszinationspotenzial, Angstlust, all das bezeichnet vielleicht ein eher fluides, jedenfalls unsicheres Fundament, was sich in der Art der Brücke niederschlägt. Aber möglicherweise ist das Bild der Brücke selbst nicht allzu gut gewählt. Versuchen wir es daher mit einer höheren Abstraktionsstufe. Der Austausch einer Kultur mit einer anderen, ganz gleich, ob es sich um verschiedene ethnische Gruppen oder um distinkte, historisch gewachsene Kulturen innerhalb einer ethnischen Gruppe, eines Nationalstaats oder ähnlichem handelt, verläuft in der Regel über Dinge mit zeichenhaftem Überschuss, über etwas, das

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Das vielleicht schlagendste Beispiel hierfür ist Jean Rouchs Dokumentarfilm Les maitres fous (FR 1955, R: Jean Rouch) mitsamt seiner Rezeptionsgeschichte. Hier wird anhand eines Besessenheitskults einer Gruppe von Hauka-Fremdarbeitern die rituelle Aneignung von bis zur Unkenntlichkeit entstellten europäischen Herrschaftskategorien (u.a. General, Lokomotive, Frau des Generals) vorgeführt.

Klassenkampf und kulturelle Kommodifizierungen

man mit Arjun Appadurai und Igor Kopytoff als »commodity«, als Kommodifizierung, bezeichnen kann.9 Eine Kommodifizierung ist allgemein ein Objekt von ökonomischem Wert, und eine kulturelle Kommodifizierung meint ein in der Regel immaterielles kulturelles Gut, eine Praktik, ein Ritual, einen Habitus, der in ein Objekt von ökonomischem Wert verwandelt wurde. Ökonomischer Wert ist keine Eigenschaft eines Dinges an sich, sondern zunächst ein Vorgriff auf ein Ding, eine der Sache angehängte Vorstellung, die von der Möglichkeit weiterer Wertketten abhängt, in die es sich einfügen kann – es ist, mit Georg Simmel und unter Rücksicht auf Kants Kategorientafel gesprochen, ein Urteil, und oft genug ein Urteil, das eine Reihe anderer Urteile über die Welt, über ihre Zukunft, nach sich zieht. Wertvoll sind Güter, wenn sie unserem Bedürfnis, sie zu besitzen, widerstehen, indem sie aus der unmittelbaren Sphäre unseres Machtbereichs herausgelöst sind (bzw. ihr Ursprung uns unverfügbar bleibt). Eine Möglichkeit, sie in unseren Bereich zu bekommen, ist der Tausch mit Personen, die sie in ihrem Bereich haben, und in diesem Tausch erhalten sie ihren Objektcharakter, oder etwas an ihnen – oder ihr Doppel – wird ein Objekt, das nun eine ökonomisch sinnvolle Definition – beispielsweise in Form eines Preises bekommt (einschließlich des Eintritts, den man für die Teilnahme an einem folkloristischen Event bezahlt). Dennoch kann man gerade kulturelle Kommodifizierungen in den wenigsten Fällen als 1:1-Übersetzungen eines zu einer distinkten Kulturgruppe gehörenden kulturellen Guts in ein ökonomisch wertvolles Objekt verstehen, das dann einer anderen Kulturgruppe zur Verfügung stünde. Vielmehr gerät man durch den Tausch bzw. Kauf in seinen Nahbereich, und das heißt, es ergibt sich eine Änderung in der kulturellen Topografie, deren Endresultat (aus Sicht der Veräußerer) weitaus weniger treffend mit Ausdrücken wie »Enteignung«, »Entfremdung« oder »Gentrifizierung« bezeichnet werden kann, als man annimmt. Heißt es doch häufig für die Konsumenten: »recevoir est reçu«, wie in Maussʼ klassischem Essay über die Gabe.10 Kulturelle Kommodifizierung ist keine Angelegenheit von Einzelobjekten, sondern von Serien, das heißt von zirkulierenden, aufeinander verweisenden Dingen mit einem symbolischen Überschuss, wie er Kleidung, Musik, aber auch Literatur anhaften kann. Mitunter agieren diese Medien als Formatierungen oder einfacher: Container für Aussagen, Riten, ein Habitus, der kulturell deutlich seitens einer bestimmten Gruppe markiert ist, so dass man sagt, er gehöre zu ihr. »Container« sind in dem Fall die Medien, über die wechselseitige Beziehungen hergestellt werden können, die also nicht nur in eine Richtung verkehren. Die Reversibilität darf man sich dabei nicht als Defizit der Leistung der kulturellen Kommodifizierung

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Vgl. Appadurai, Arjun: »Introduction«, in: ders./Igor Kopytoff (Hg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge: Cambridge University Press 1986, S. 10-24. Mauss, Marcel: »Essai sur le don. Forme et raison de l’echange dans les sociétés archaiques«, in: ders., Sociologie et antropologie, Paris: P.U.F. 1973, S. 149-279.

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vorstellen, dergestalt, dass sie die Inauthentizität des zum ökonomischen Objekt gewordenen Guts beglaubige, sie signiert im Gegenteil gerade die Authentizität des je wieder in ein kulturelles Gut zurückverwandelbaren ökonomischen Objekts.

4 Einen solchen Fall der Kommodifizierung im populärsten ökonomischen Medium, der Fernsehserie, möchte ich nun vorstellen, und damit doch noch einmal auf eine Übertragungsweise zu sprechen kommen, mit der selbst die Madonna dell’arco und ihre Anhänger bürgerlich satisfaktionsfähig wurden. Wie man auch in Deutschland weiß, reüssierte in den letzten Jahren im italienischen Fernsehen und etwas später auch auf arte die in Neapel gedrehte Serie Gomorra,11 inspiriert vom Verfahren des Zeitgeschichtlers und Journalisten Roberto Saviano, der unter dem gleichen Titel die Geschichte des Clans der Casalesi aus einem neapolitanischen Vorort erzählt hatte.12 Gomorra referierte nun aber eindeutig auf Neapel, auf ganz Neapel, bzw. dehnte sich aus als Begriff für einen immer größer werdenden Ausschnitt der ganzen verrufenen Welt, sprich für all jene, die ins Netz der neapolitanischen Camorra geraten. Die Camorra muss dabei nicht zuletzt selbst als ein Medium verstanden werden, die das Böse in der Welt zum Vorschein bringt. Wie der Kriminalerzählung, sei es im Buch, sei es im Film, kommt der Camorra deshalb selbst eine aufklärerische Rolle zu. Im Mittelpunkt der nunmehr drei Staffeln stehen Ereignisse, die sich allesamt so oder doch sehr ähnlich in Neapels Kriminalgeschichte der letzten Jahrzehnte zugetragen haben, allerdings konzentriert sich die Handlung auf wenige Protagonisten und auf kürzere Zeiträume. Diese Verdichtung löscht notwendigerweise etwas die Komplexität der handelnden Personen bzw. ihrer Motive. Handlungen sind nicht mehr das Medium, wodurch sich eine Person entwickelt, vielmehr drückt sich ein bestimmter Typus in einer bestimmten Handlungsweise aus. Das Umschlagen von Freundschaft in Verrat, von Zuneigung in schlichte Zweck-Mittel-Relationen, die Desillusionierung humanistischer Absichten, all dies wird in Gomorra von der ersten Staffel an eindrücklich vorgeführt. Man kann darin eine fortwährende Liquidierung der Moral sehen, die filmästhetisch gekonnt aufbereitet wird, man kann aber auch etwas an der Oberfläche kratzen, um historische Vergleiche anzustellen, und dann wird man relativ bald auf ein Phänomen stoßen, das einer der kreativsten Kulturhistoriker, Jacob Burckhardt, im hochgelobten Italien des Humanismus am Werk sah: den Renaissancemenschen als Macht-

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Gomorra. La Serie (IT 2014-2019, R: Stefano Sollima/Francesca Comencini/Cöaudio Cupellini). Vgl. Saviano, Roberto: Gomorra. Viaggio nell’impero economico e nel sogno di dominio della Camorra, Mailand: Mondadori 2006.

Klassenkampf und kulturelle Kommodifizierungen

menschen, der sich jeder ethischen und familiären Verpflichtung entwindet, der mithilfe seiner Familie zu Macht und Geld gelangt, nur um sich schließlich seiner Helfer mit oft grausamer Hinterlist zu entledigen.13 Die Überschreitung ethischer Grenzen in der Serie geht zuschauerseitig mit der Enttäuschung von Identifikationsangeboten einher: Figuren, die wie der von der Erbfolge des zentralen Clans ausgeschlossene Serienkiller Ciro Immortale durch Aussehen, Empathie und Verbindlichkeit zunächst bestechen, deren Loyalität zur Familie des Clanchefs auch dann nicht leidet, wenn dessen offenkundig unfähiger Sohn zum Nachfolger erkoren wird, entpuppen sich als skrupellose Mädchenmörder, die schließlich auch vor der Tötung ihrer eigenen Frau nicht zurückschrecken. Täuschung und Enttäuschung werden in den einzelnen Episoden von Gomorra gewissermaßen serialisiert. Das einzige, was nicht enttäuscht, ist die Täuschung selbst, das heißt der Stil, oder noch deutlicher: die Camorra als Stilphänomen. Etwas Ähnliches wird Jacob Burckhardt gemeint haben, als er von der ästhetischen Rechtfertigung des Politischen in der Renaissance gesprochen hat – Politik als Kunst, bar jeder Moral. Die Protagonisten der Serie führen als wahre Renaissancemenschen diese Logik vor, wobei dies nicht zuletzt ein Formeffekt in Richtung des Inhalts ist: Er ist nicht unwesentlich dem Serienformat geschuldet, so wie die Popularität des Serienformats die Fokussierung auf den Stil, und damit, wie ich meine, auf eine bestimmte Medialisierung kultureller Werte, das heißt ihre kulturelle Kommodifizierung, voraussetzt. Dass Politik selbst aus Stilfragen besteht bzw. Stilfragen zu existenziellen Fragen aufwertet, hat die realistische italienische Betrachtung übrigens schon früh und unabhängig von Jacob Burckhardt gewusst: Die Enzyklopädie Treccani von 1932 reiht auch den Faschismus unter den »stile«.14 Wenn man von der Analyse der Serie zurücktritt und sich außer für ihre immanenten Strukturen oder die angesprochenen Referenzen für ihre Produktion zu interessieren beginnt, wird man auf das ambivalente Verhältnis stoßen, das die Stadtbewohner zu Gomorra haben – wie vielleicht überhaupt zur Kommodifikation von Ansichten, die mit ihr zusammenhängen. Ich selbst erinnere mich an im Vorfeld der Dreharbeiten überall in der Stadt angebrachte Plakate, die dazu aufriefen, dieser Beschmutzung der Würde ihrer Bewohner keinen Vorschub zu leisten.

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Vgl. die zahlreichen Portraits mittelitalienischer Fürstendynastien (Borgia und Sforza) sowie den ersten Abschnitt (»Der Staat als Kunstwerk«): Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien: ein Versuch, Basel: Schweighauser 1860. Vgl. zur rein ästhetischen Fundierung des Renaissanceismus im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert auch Riedl, Peter Philipp: »Renaissancemenschen. Literarische Konstruktionen eines Figurentyps um 1900«, in: Thomas Althaus/Markus Fauser (Hg.), Der Renaissanceismus-Diskurs um 1900. Geschichte und ästhetische Praktiken einer Bezugnahme, Bielefeld: Aisthesis 2016, S. 71-99. »[U]n nuovo stile di vita italiano.« Vgl. »Enciclopedia Italiana (1932)«, in: Enciclopedia Treccani, www.treccani.it/enciclopedia/fascismo_ %28Enciclopedia-Italiana %29/

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Neapel war mehr als geteilt: Einerseits musste man sich dagegen wehren, als Gomorra, als Stadt von Elend und Gewalt, stereotypisiert zu werden, andererseits war und ist Gomorra ein Modus, mit dem man überhaupt wahrgenommen wird. Es ist schließlich eine Maske, in der man erscheinen darf, nebst den eigenen Ansprüchen an ein gutes Leben, an eine effiziente Verwaltung, an ein Schulsystem, das auch den minder Begüterten Chancen eröffnet. Die Maske heißt hier: Heilsbedürftigkeit herstellen durch zur Schau gestellte Heillosigkeit. Sie erinnerte zugleich an die Wochen Anfang 2012, als die Müllabfuhr streikte und Neapel Bilder von durch Müllsäcke unpassierbar gemachten Straßen lieferte. Die Straßen waren teilweise ohnehin unpassierbar, zumindest für jemanden ohne den lokal angeeigneten Mut und die überirdischen Fähigkeiten neapolitanischer Auto- und Mopedfahrer, aber die gestörte Infrastruktur so ins Fernsehen zu bringen, samt gestapelter Hindernisse, greinender Kinder und Mütter, und damit landesweit vor Augen zu führen, dass hier ein nationaler Notstandsplan her musste, dafür bedurfte es eines neapolitanischen Regisseurs. Und für Gomorra bedurfte es vor allem neapolitanischer Darsteller. Ein Bekannter, Sohn eines lebenslänglich im Hochsicherheitstrakt von Secondigliano einsitzenden Camorra-Bosses, von seinem Vater wie so viele Kinder der oberen »mala vita« für ein sozial prestigereicheres, legales Leben vorgesehen und in der Sanità zum Prinzipal eines Theaters aufgestiegen, versorgte die Filmcrew mit Statisten. Als öffentlichkeitswirksam sich die Fälle häuften, in denen Pusher vom Set, an dem sie Pusher darstellten, verhaftet wurden, offenbarte sich das zirkuläre Moment der Serie: Die Statisten spielten in einem Film, der es ihnen ermöglichte, sich selbst zu spielen, ihre eigene soziale Rolle und ihre familiäre Prekarität auszustellen, aber dies im Modus einer Fiktion, die nicht durch sie, sondern durch echte Schauspieler garantiert wurde, dank derer sie sie selbst sein durften. Es ist nicht verwunderlich, wenn die Schauspieler von Gomorra in der mündlichen Lokalberichterstattung quasi hagiographische Züge verliehen bekamen, oder wenn die Filmwelt von Gomorra ein mythologisches Eigenleben annahm. Schließlich gab sie den Horizont ab, vor dem sich das Dasein der kleinen Leute, vor allem der arbeitslosen, kleinkriminellen Jugendlichen »enthistorisierte«, wie es Ernesto de Martino, der Gründer der italienischen Religionsethnologie formuliert hätte.15 Diese Enthistorisierung bewirkte, dass, nun mit einem Ausdruck von Giorgio Agamben bzw. Martin Buber, alles war, wie es immer war, »nur ein klein wenig anders«, nämlich mit einer Art Aureole umgeben, die das Kennzeichen einer »höheren Wirklichkeit« ist.16 Am eigenen Leib glaubte ich nachvollziehen zu können, was die »Euheumeristik« der Renaissance und ihre fabelhaften Genealogien wirklich bedeutet haben, abseits philologischer Quisquilien. 15 16

Vgl. de Martino, Ernesto: Sud e magia, Mailand: Feltrinelli 1959. Vgl. Agamben, Giorgio: »Aureolen«, in: ders., Die kommende Gemeinschaft, Berlin: Merve 2003, S. 51.

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Die nachgerade kultische Verehrung der Serie spürte ich in meinem Viertel, in dem die Figuren des Films, Immortale, der gewiefte Boss Pietro Savastano – der dem tatsächlichen Boss Salvatore Lo Russo nachempfunden war –, seine Frau als unerschütterliche und unerbittliche Clanchefin in der Zeit seines Gefängnisaufenthalts, oder auch ihr Sohn »Genny« heiß diskutiert wurden, und zwar auf ihre interne Logik hin, darauf, wer demnächst wen umbringen müsse, jenseits von Gut und Böse. Gewiss senkte die Eigenschaft der Serie selbst, eine Geschichte von epischer Länge, verteilt auf ein oder zwei »puntate« pro Woche, die Geschehnisse und Personen in den Alltag meiner Mitbewohner ein und ließ sie zu ihren vertrauten Bekannten werden.17 Die Serie wirkte spürbar auf den Alltag in meinem Viertel zurück, was ich auch bemerkte, nachdem wieder einmal in einer realen nächtlichen Schießerei ein Querschläger einen unbeteiligten Jugendlichen getroffen hatte. Das hätte eine neue »puntata« ergeben. Wochen später begann ein italienweit erscheinendes Magazin, D(onna) Repubblica, ausgehend von Gomorra einen Bericht über die verlorene Jugend der Sanità.18 Als ich die Hochglanzfotos von Alfonso, Gennaro, Ciccio – allesamt Jungen zwischen zwölf und achtzehn – im Magazin sah, daneben las, was sie über die Serienhelden dachten, vor allem aber, wie sie beschrieben wurden, als sympathische Gangster »in miezz’a via«, kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Es war klar: Für die bürgerlichen Leser des Espresso vermittelte der Bezug auf Gomorra die Möglichkeit, die neapolitanische Halb- und Unterwelt zu folklorisieren und über die Jugendlichen, die in diese Welt hineinzuwachsen sich anschickten, bereits alles Wesentliche zu wissen. Dieses Wissen war diskursiv erwachsen – als Wissen über den Zusammenhang von Mafia, sozialer Immobilität, »Aberglaube«, Familismus – und in seiner Komplexität unauflösbar; es verlangte im Hier und Jetzt nach Bannung, nicht nach Behandlung, und bekam diese Bannung mit der Geschichte und vor allem den Bildern von Jugendlichen, die so waren, wie man es sich angesichts von Gomorra im Allgemeinen vorstellte, und zwar, weil sie die Serie adaptiert hatten. Denn für die bürgerlichen Leser der Repubblica und die bürgerlichen Zuschauer von Gomorra muss man festhalten: Wenn das Leben so ist, wie das (Bezahl-)Fernsehen es vorstellt, gibt es grundsätzlich wenig zu fürchten.

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Zu Rezeptionsmodi von Gomorra vgl. auch Renga, Dana: »Gomorra: la Serie: Beyond Realism«, in: The Italianist 36.2 (2016), S. 287-292. Sironi, Francesca/Spada, Mario: »Gomorra allo specchio«, in: D – Repubblica, vom 25.10.2017, https://d.repubblica.it/magazine/2017/10/27/news/serie_gomorra-3727840/

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5 Maskierungen schließen einander nicht aus. Und Maskierungen sind nicht in erster Linie Weisen, etwas zu verstecken, sondern dienen hauptsächlich dazu, etwas zur Erscheinung zu bringen. Zwei Jahre nach meiner Feldforschung führte ich eine Gruppe Kölner ResearchMaster-Studenten durch mein früheres Viertel. Es waren die Tage vor der Pilgerfahrt zum Bild der Madonna dell’Arco, die Ostertage, an denen die Vereinigungen mit ihren Musikanten und ihren Fahnenschwenkern die an den Hausmauern angebrachten Altäre besuchen, die eine Kopie des Bildes der Madonna zeigten, das ja wiederum nur ein Abbild ist. In jenen Tagen begleitete mich Marco Wilms, ein Berliner Filmemacher, der sich bereits durch die tollkühne Aufnahme besonders heftiger Szenen aus dem Straßenkampf Kairoer Künstler mit dem Mubarak-Regime einen Namen gemacht hatte (der Film heißt Art War, D 2016, R: Marco Wilms). Als er bei einer »funzione« vor einem Altar, bei der akrobatisch die Fahnen bewegt werden und die meist jungen Männer einen Wettkampf um ihre Ehre vor der Madonna aufführen, die Einladung zugerufen bekam, von einem höher gelegenen Balkon aus zu filmen, ließ er sich diese Chance nicht entgehen. Enthusiasmiert schwenkte Marco seine Kamera und forderte seine Gastgeber auf, für ihn zu posieren. Einige Minuten später wurde der Balkon geschlossen, niemand filmte mehr, und dann suchte jemand aus dem Haus nach mir. Ich stieg durch das heruntergekommene Treppenhaus, das nach Trockenbau aussah, aber wohl seit fünfzig Jahren in diesem Zustand verharrte, vorbei an Videokameras, die ganz sicher nicht von der Polizei installiert worden waren, bis ich im zweiten Stock auf einen massigen Türhüter traf, der mich anbrüllte, ich sei wohl von der Polizei und warum ich ihm diesen Kameramann, diesen Spion geschickt hätte. Meine Beteuerungen, mit der Polizei nichts zu tun zu haben, führten nur dazu, dass man mich einem feindlichen Clan zuordnete, was noch ungünstiger war. Nach einigen Wortwechseln zog mich ein anderer junger Mann in die Wohnung mit ihrem marihuanageschwängerten Rauch, schniefenden jungen Männern und neapolitanischer Neomelodici-Musik – einer vor allem auf Liebes- und Verbrecherleben abonnierten Variante populärer Musik, die orientalische, italienische und Rap-Motive miteinander kreuzt. Gerade »verhörte« man den Filmemacher, der sich dadurch anrüchig gemacht haben musste, dass er nicht nur die unten stattfindende Zeremonie, sondern die Gesichter seiner Gastgeber gefilmt hatte. Nachdem ich für Marco auf Italienisch bezeugen konnte, dass auch er weder ein Spion noch ein Mafiafilmer war, dass er vielmehr die arabische Revolution gefilmt hatte, wie wir anhand von YouTube-Trailern mit seinem Namen im Abspann vorführten, hatten wir den Respekt unserer Umgebung erworben: Araber also, echte Kämpfe, Blut, viel Blut. Ich verstand, dass die jungen Männer in der Wohnung zusammengekommen waren, um den Besuch »ihrer« Vereinigung der Madonna dell’Arco zu erleben, zu sehen, wie die Fahnen vor

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ihrem Hausaltar geschwenkt wurden und sich mit ihren Anliegen für die morgige Pilgerfahrt aufluden. Sie selbst, beschieden sie mir, konnten leider nicht teilnehmen, aber ihre jüngeren Brüder. Dadurch wurde klar, warum sie auf das Filmen ihrer Gesichter so nervös reagiert hatten: Sie befanden sich in diesem Raum entweder als »latitanti«, Flüchtige, oder unter Hausarrest. Wer unter Hausarrest stand, bewegte sich oft ein, zwei Straßenzüge weiter durch sein Viertel und wurde vor dem Eintreffen von Streifenwagen durch »sentinelli« gewarnt, ansonsten traf man sich unter Seinesgleichen. Die Pilgerfahrt zur Madonna dell’Arco bedeutete für sie den Besuch bei der »Mamma di tutti noi«, unserer aller Mutter, und zwar »di noi Criminali«, von uns Verbrechern. Diese mit stolzgeschwellter Brust vorgebrachte Erklärung bestärkte einmal mehr die Strategie, auf Marginalisierung durch Selbstmarginalisierung zu antworten, eine spezifische »kulturelle Intimität« (M. Herzfeld) zu beschwören, die durchaus mit der Umkehrung allgemein gültiger Werte operieren mochte. »Wie in Gomorra«, erklärte schließlich einer der Anwesenden, und schloss damit den Kreis der Medien und Masken. Der Mafia-Chic, den wir an ihrer Kleidung und ihrer Haartracht begutachteten, das Zitieren der Serienhelden, die wiederum eine lange Geschichte der Mafiazitate aufgriffen, war ja längst ein Teil der Populärkultur, der gewissermaßen an den Ort ihrer Herkunft zurückgespiegelt wurde, der inzwischen selbst alles andere als »ursprünglich« war, aber dessen Inauthentizität trotzdem als Chiffrierung der existenziellen Zerrissenheit durchgehen mochte, in der sich der Verbrecher im Medienzeitalter genauso fand wie der Adept des Kultes der Madonna dell’Arco, der als Outlaw in seiner sozialen Welt in der Wildnis lebte. Als ich am nächsten Morgen, wie seit 2014 an jedem Ostermontag mit meiner Vereinigung der Madonna dell’Arco – die ich während meiner Forschung in einer Gasse des Vico Carrette kennengelernt hatte, dort, wo ein Hauptumschlagsplatz für Drogen war, die man gelegentlich im Ladenlokal der Vereinigung versteckte – erschöpft vor dem Tor der Wallfahrtskirche ankam, auf durchgelaufenen Socken, während die anderen barfuß gegangen waren oder mancher den letzten Kilometer auf Knien zurückgelegt hatte, wir dicht gedrängt standen und ich die in wenigen Minuten einsetzenden »mosse epilettiche«, die Ohnmächte, Wein- und Schreikrämpfe der Kultadepten, die kaltherzigen Kommentare der Dominikaner, die bemühte Professionalität zutiefst verunsicherter Zivilschutzhelfer erwartete, während ich so an das letzte Jahr dachte, daran, wie Cenzino, der Gründer der Vereinigung, für seinen Bruder ins Gefängnis gegangen war, wie Davide, Schmuggler und Markenpirat, um seinen Sohn gekämpft und über wirklich jeden Kanal Spenden für ein sterbenskrankes Mädchen im Viertel organisiert hatte, aber auch wie ich selbst mir einbildete, alljährlich aus Freundschaft mit Menschen mitzukommen, mit denen mich außerhalb einer doch längst abgeschlossenen Forschung nichts mehr verband, während ich mir kurzum die Verstrickung von allem und jedem vor Augen führte, die nunmehr vor ihrem jahreszyklischen Höhepunkt stand – der

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»puntata« einer weiteren Serie gewissermaßen – verstand ich mit einem Mal, dass Masken (einschließlich der sozialen) einander rufen, dass sie selbst unabdingbare Voraussetzung jeglicher Kommodifizierung sind, da ihre Vorder- und Rückseiten nicht lediglich zu zwei getrennten Welten gehören, sondern diese Welten allererst trennen. Ich sah zu, ich spielte mit.

Urbane Arbeitsparadiese gestern und heute Martin Schneider And I was thinking to myself: ›This could be Heaven or this could be Hell‹ […]. ›Relax,‹ said the night man. ›We are programmed to receive. You can check-out any time you like But you can never leave!‹1 The Eagles: Hotel California

Einführung2 Im 19. Jahrhundert hat sich der Begriff Workingman’s Paradise für Stadtprojekte etabliert, die die Lebens-, Arbeits- und Wohnbedingungen der Industriearbeiter verbessern sollen.3 Jüngere Zeitungsartikel in Deutschland beziehen den Begriff des Arbeitnehmerparadieses auf Google und das spektakuläre, einer Stadt gleichende Firmengebäude Google-Plex.4 Meist schwingt in diesen Zitaten Ironie mit, und tatsächlich ist die titelgebende Formulierung urbane Arbeitsparadiese in doppelter Hinsicht paradox. Der Mensch muss ja überhaupt nur arbeiten, weil er aus dem Paradies vertrieben worden ist. Zudem stellt man sich den Garten Eden nicht urban, sondern ländlich vor. Viele Arbeitsparadiese waren von der Gartenstadtbewe-

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Robert Sutton hat in einem BBC-Video auf dieses Lied angespielt, um die Arbeitsumgebung bei Google zu charakterisieren. Vgl. das Video Life at Google. Inside Google᾽s lair – How Google employees work. https://www.youtube.com/watch?v=PA54HWLZ2e4 Für wertvolle Literaturhinweise und Kommentare zu einer Rohversion dieses Beitrags danke ich Dr. Katharina Radermacher. Vgl. etwa den Titel von Crawford, Margaret: Building the workingman᾽s paradise. The design of American company towns, London/New York: Verso 1995. Tiedge, Anja: »Arbeitgeber Google. Rein, raus, tschüs«, in: Spiegel Online vom 2.8.2013. https://www.spiegel.de/karriere/mitarbeiter-bei-google-bleiben-nur-gut-ein-jahr-a-914397. html; Riemann, Neele: Zum Arbeiten verführt? Entgrenzungserleben in modernen ITGroßunternehmen, Hamburg: Diplomica Verlag 2017.

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gung beeinflusst und auch heutige Firmenarchitekturen beschwören eine ländlich geprägte, vorkapitalistische Welt.5 Gestaltete Arbeitsparadiese, neutraler: Arbeitsumgebungen, sollen Beschäftigten ein gutes Leben und Arbeiten ermöglichen – und gleichzeitig Arbeitnehmer an das Unternehmen binden und deren Verhalten steuern.6 Aus diesem Grund sind Arbeitsumgebungen aus Sicht meines Faches – der Personalwirtschaftslehre – von Interesse. In diesem Beitrag untersuche ich für die beiden historisch wichtigsten Typen der Arbeitsumgebungen, die von Unternehmen planvoll gestaltet worden sind, nämlich für die Company Town und den modernen Unternehmenscampus, auf welche Weise die jeweilige Arbeitsumgebung das Beschäftigungsverhältnis und darin vor allem die Ausübung von Macht bestimmt. Drei theoretische Perspektiven werden miteinander verbunden: die Ökonomik des individuellen Beschäftigungsverhältnisses,7 die organisationstheoretische Analyse von Räumen (Space)8 sowie die Analyse von Macht in Organisationen.9 Arbeitsumgebungen verstehe ich als das gesamte Ensemble von Arbeitsorten, Wohnsiedlungen und Infrastruktur, das die Austauschbeziehungen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber – das Beschäftigungsverhältnis – einbettet. Company Town und Unternehmenscampus bieten attraktive Arbeits- und Lebensbedingungen, doch die Beschäftigten zahlen dafür einen Preis: Sie werden einer stärkeren Kontrolle ausgesetzt als in der traditionellen Arbeitsumgebung des modernen Kapitalismus, der Industriestadt, denn Arbeitgeber können in geplanten Arbeitsumgebungen vier Formen von Macht effektiv miteinander kombinieren. Dabei fällt auf, dass sich der Schwerpunkt verschoben hat: Macht beruht in der Company Town vor allem auf direktem Zwang, Manipulation und Ideologie, im Campus dagegen stärker auf dezentralen, wenig hierarchischen Machtmechanismen, die auf die Identitätsbildung der Beschäftigten zielen. Dies spiegelt den Übergang von der physischen Güterproduktion hin zur kreativen Produktion von Wissen wider.

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Seng, Eva-Maria: »Utopie und Architektur zu Beginn des 21. Jahrhunderts«, in: Alexander Amberger/Thomas Möbius (Hg.), Auf Utopias Spuren: Utopie und Utopieforschung. Festschrift für Richard Saage zum 75. Geburtstag, Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden 2017, S. 375-397. Borges, Marcelo J./Torres, Susana B.: »Company towns: concepts, historiography, and approaches«, in: dies. (Hg.), Company towns: Labor, space, and power relations across time and continents, New York: Palgrave Macmillan US 2012, S. 1-40; Littmann, William: »Designing obedience: The architecture and landscape of welfare capitalism, 1880-1930«, in: International Labor and Working-Class History 53 (1998), S. 88-114. Sadowski, Dieter: Personalökonomie und Arbeitspolitik, Stuttgart: Schäffer-Poeschel 2002. Taylor, Scott/Spicer, André: »Time for space: A narrative review of research on organizational spaces«, in: International Journal of Management Reviews 9 (2007), S. 325-346. Fleming, Peter/Spicer, André: »Power in management and organization science«, in: The Academy of Management Annals 8 (2014), S. 237-298.

Urbane Arbeitsparadiese gestern und heute

Die Analyse wirft ein Schlaglicht auf die entstehende Arbeitswelt, in der Wissensarbeit an Bedeutung gewinnt. Allerdings gelingt es den neuen Arbeitsparadiesen genauso wenig wie den alten, die Beschäftigten vollständig zu beherrschen: Wie ich abschließend argumentiere, spricht viel dafür, dass die kreativen Wissensarbeiter von morgen die Stadt als Arbeitsumgebung bevorzugen – und kein von einem einzigen Unternehmen dominiertes Umfeld.

Ausgangspunkt: Das Beschäftigungsverhältnis im Industriekapitalismus und die vier Gesichter der Macht Um Company Town und Unternehmenscampus als besondere Varianten von Arbeitsumgebungen zu würdigen, ist es als Ausgangspunkt sinnvoll, die Arbeitsumgebung, die mit dem Industriekapitalismus entsteht und für ihn charakteristisch ist, zu umreißen. Arbeitsumgebungen bestimmen das so genannte Beschäftigungsverhältnis, die ökonomische und soziale Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, deren Kern der Arbeitsvertrag ausmacht.10 Im Industriekapitalismus wird Arbeit überwiegend als abhängige Beschäftigung organisiert. Arbeitnehmer tauschen im Arbeitsvertrag ihre Arbeitsleistung gegen einen Preis, den Lohn. Obwohl die Vereinbarung formal frei ist, ist der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer in zweifacher Hinsicht überlegen. Zum einen besitzt er ihm gegenüber ein Weisungsrecht, also das Recht, Anweisungen zu erteilen, zum anderen verfügt er typischerweise über eine günstigere Verhandlungsposition im Vergleich zum Arbeitnehmer, weil dieser auf Beschäftigung angewiesen ist, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Arbeit ist eine besondere »Ware«, denn sie ist an die Person des Arbeitnehmers gebunden; Arbeitskraft ist in den Arbeitskräften verkörpert. Dies hat wichtige Konsequenzen. Erstens können Arbeitgeber, auch wenn sie dem Arbeitnehmer übergeordnet und überlegen sind, diesen nicht zu einer gewissenhaften Arbeitsleistung zwingen, sondern sind auf ein Mindestmaß an freiwilliger Kooperation des Arbeitnehmers angewiesen. Die Arbeitgeber erreichen dies durch eine Vielzahl von Anreizen und Kontrollen, die wiederum von der Arbeitsumgebung geprägt werden. Zweitens müssen Arbeitnehmer – von neuen Formen des Homeoffice abgesehen – vor Ort sein, um ihre Arbeitsleistung zu erbringen. Mit der Arbeitsumgebung gestalten Arbeitgeber gleichzeitig mit, wie die Beschäftigten leben: wie sie wohnen, zum Arbeitsort gelangen, mit anderen Beschäftigten in Kontakt kommen und ihre Freizeit verbringen. Damit besteht das Beschäftigungsverhältnis nicht nur aus einem ökonomischen Tausch, sondern enthält auch soziale Komponenten. 10

Zur Charakterisierung des Beschäftigungsverhältnisses siehe insbesondere D. Sadowski: Personalökonomie und Arbeitspolitik, 72-74.

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Im Industriekapitalismus ist das Beschäftigungsverhältnis typischerweise in eine Arbeitsumgebung eingebettet, die von Fabrik und Stadt geprägt ist. Die Fabrik konzentriert eine Vielzahl von Arbeitern an einem Ort. Dies ergibt sich nicht nur aus dem technischen Erfordernis, den Zugang zu Maschinen und Arbeitsmitteln zu ermöglichen, sondern dient vor allem dazu, die Tausenden Arbeitnehmer, die für die Massenproduktion notwendig sind, zu überwachen.11 Die Fabrik wiederum ist typischerweise in oder am Rand einer Industriestadt angesiedelt. Diese bietet den Fabriken alles, was sie an Infrastruktur benötigen:12 Straßen, Bahnhöfe, Elektrizität, Banken, Einkaufsmöglichkeiten, Schulen, und natürlich Arbeitskräfte. Diese Kombination aus Fabrik und Stadt hat sich erst im 19. Jahrhundert entwickelt und sie prägt das Beschäftigungsverhältnis bis heute. Dies wird im Kontrast zu vorindustriellen Arbeitsumgebungen deutlich. Freie Handwerker lebten und arbeiteten im eigenen Haus, es gab keine klaren Arbeitszeiten – und keinen Chef, denn der Handwerker war selbständig und lebte häufig auf dem Dorf oder in einer kleineren Stadt. Der abhängig beschäftigte Arbeiter lebt seit dem 19. Jahrhundert hingegen in einer großen Industriestadt. Für ihn sind Arbeit und Freizeit, Beruf und Privates örtlich und zeitlich getrennt. Er richtet sich nach dem Takt der Maschinen und festen Arbeitszeiten, die mithilfe der Stechuhr kontrolliert werden. Nach der Schicht verlassen die Arbeiter die Fabrik und gehen nach Hause oder nutzen Freizeitangebote, die die Stadt ihnen bietet. Die Räume (englisch »Space«), aus denen Arbeitsumgebungen bestehen, sind aus drei verschiedenen Perspektiven charakterisiert worden.13 Räume schaffen Distanzen. Die Industriestadt trennt Arbeits- und Wohnort und zieht gleichzeitig viele Arbeitnehmer in der Fabrik auf engem Raum zusammen. Menschen erleben Räume zudem auf ganz verschiedene Weisen. Riesige Fabrik- und monotone Wohnanlagen können, müssen jedoch nicht, die Arbeiter entfremden. Wohnungsmangel und miserable Hygienebedingungen in der Industriestadt haben jedenfalls die Suche nach alternativen Umgebungen ausgelöst. Im Folgenden umreiße ich Arbeitsumgebungen auch als Distanzen und Erlebnisräume, im Fokus steht jedoch die dritte Perspektive: Räume sind Ausdruck und Mittel von Macht, verstanden als die Fähigkeit, andere Personen zu beeinflussen, um Beziehungen oder die Güterverteilung

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Mokyr, Joel: »The rise and fall of the factory system: technology, firms, and households since the industrial revolution«, in: Carnegie-Rochester Conference Series on Public Policy 55 (2001), S. 1-45. Zur Bedeutung der Stadt, um Güterproduktion zu ermöglichen, Glaeser, Edward L.: »Introduction to ›Agglomeration Economics‹«, in: ders. (Hg.), Agglomeration economics, Chicago: University of Chicago Press 2010, S. 1-14; Harvey, David: Social justice and the city, Athens: University of Georgia Press 2010. S. Taylor/A. Spicer: Time for space, S. 325-334.

Urbane Arbeitsparadiese gestern und heute

zu verändern.14 Wie bereits erwähnt, ist im Beschäftigungsverhältnis eine überlegene Machtposition des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer angelegt. Diese Form von Macht lässt sich als Zwang charakterisieren und geht auf Max Webers Verständnis von Macht zurück, das auf eine direkte, personale Beeinflussung zielt. Wie nun zu zeigen ist, kommen in alternativen Arbeitsumgebungen weitere Facetten von Macht hinzu, die den Zwangscharakter des industriellen Beschäftigungsverhältnisses verstärken und verändern.

Company Town: Die Stadt als Unternehmen Die Company Town ist dadurch charakterisiert, dass ein einziges Unternehmen die Geschicke der Stadt so stark prägt, dass man beide nur schwer auseinanderhalten kann, wie ein Zitat eines Volkswagen-Mitarbeiters verdeutlicht: »Wenn man in Urlaub gefahren ist, hieß es: ›ach Wolfsburg, ja, Käfer, ach je. Sind Sie auch bei VW?‹«15 Andere Beispiele sind Lowell (Massachusetts) und ein Kartell von Textilunternehmen, Essen und Friedrich Krupp sowie Jamshedpur (Indien) und Tata Steel.16 Ein Unternehmen gründete in all diesen Fällen eine Stadt neu oder entwickelte einen kleineren Ort weiter, dehnte ihn um die Arbeitsstätten herum planvoll aus und schuf die notwendige Infrastruktur, Siedlungen und Freizeitmöglichkeiten. Der Arbeitgeber betreibt damit im Grunde die Stadt als Unternehmen. Die Verwaltungsvorschriften könnte man als eine erweiterte Betriebsordnung interpretieren. Volkswagenstadt war lange ein Synonym für Wolfsburg, das sogar in offiziellen Dokumenten verwendet wurde, und bis heute sind viele Stadträte gleichzeitig Beschäftigte des Unternehmens.17 Company Towns sind gewachsenen Industriestädten wie Manchester ähnlich, nur sollen sie geordneter und lebenswerter sein. Sie kompensieren Mängel der weitgehend ungeplanten, im Zug der Industrialisierung wuchernden Stadt: Wohnungsnot und überhöhte Mieten, fehlende Hygiene und Seuchen, gesundheitsschädliche Emissionen, fehlende Transportmittel und Schulen, aber auch aus Sicht

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Diese Arbeitsdefinition geben Fleming und Spicer, sich auf Hannah Arendt berufend. P. Fleming/A. Spicer: Power in management and organization science, S. 239. Zitiert nach Herlyn, Ulfert/Tessin, Wulf/Harth, Annette/Scheller, Gitta: Faszination Wolfsburg 1938-2012, Berlin: Springer-Verlag 2012, S. 93. Die grundlegenden Merkmale von Company Towns und viele Beispiele stellen in dichter Form dar: M. J. Borges/S. B. Torres: »Company towns: Concepts, historiography, and approaches«. Für eine umfassendere Darstellung historischer Beispiele in den USA und Großbritannien siehe Green, Hardy: The company town. The industrial edens and satanic mills that shaped the American economy, New York: Basic Books 2011. U. Herlyn/W. Tessin/A. Harth/G. Scheller: Faszination Wolfsburg 1938-2012, S. 43, S. 57-59.

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von Arbeitgebern und Reformern lasterhafte Freizeitaktivitäten oder politisch unerwünschtes Verhalten wie die Bildung von Gewerkschaften.18 Wie in der Industriestadt bleiben allerdings Arbeit und sonstiges Leben, Arbeitsstätten und Wohnsiedlungen weitgehend getrennt. Siedlungen und Fabrik werden so angeordnet, Verkehrswege so eingezogen, dass die Arbeiter zwischen den beiden Sphären leicht wechseln können. Lebenswerter als die Industriestadt soll die Company Town insbesondere dadurch werden, dass in die Stadt Elemente des Land- und Dorflebens integriert werden. Besonders weitgehend entwirft dies Ebenezer Howard in Großbritannien mit der Idee der Gartenstadt. Umgesetzt wurde sie nur in vereinzelten Siedlungen, in Deutschland zum Beispiel in Hellerau (Dresden) und der Margarethenhöhe (Essen).19 Doch tatsächliche Arbeitersiedlungen integrieren dörfliche Elemente, wenn sie Einfamilienhäuser mit einem Garten versehen, in dem Gemüse gezüchtet werden kann, oder wenn Wiesen und Wälder die Wohnviertel unterbrechen. Obwohl sie keine Paradiese sind, bieten Company Towns vielen Arbeitern Lohn, Sozialleistungen und eine urbane Umgebung, die vielfach besser ist als das, was ungeplant wachsende Industriestädte boten und bieten. Aus Arbeitgebersicht sind Company Towns funktional, um Fabrikarbeit zu organisieren. Arbeiter werden in die Stadt gelockt und gebunden. Dabei vertiefen Company Towns die Machtasymmetrie im Arbeitsverhältnis. Das geschieht zum einen dadurch, dass das Beschäftigungsverhältnis mehrdimensional wird.20 Der Arbeiter schließt mit Tata oder Volkswagen nicht nur einen Arbeitsvertrag, sondern auch Miet-, Kauf- und Versicherungsverträge. In den USA heißt diese Form des Beschäftigungsverhältnisses auch Welfare Capitalism – Wohlfahrtskapitalismus, weil das kapitalistische Unternehmen für die Daseinsvorsorge einsteht.21 In Deutschland ist besonders das Unternehmen Friedrich Krupp für seine betrieblichen Sozialleistungen bekannt geworden.22 Krupp war Arbeitgeber, aber auch Vermieter des Hauses, Besitzer der Konsum-Läden, Träger der Krankenhäuser sowie Renten-, Unfall- und Krankenversicherer. Diese Verträge sind nicht unabhängig voneinander. Wenn man entlassen wurde, verlor man den

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Vgl. Etwa M. J. Borges/S. B. Torres: »Company towns: Concepts, historiography, and approaches«. Vgl. anschaulich auch für andere Beispiele Jonas, Carsten: Die Stadt und ihre Geschichte. Utopien und Modell – und was aus ihnen wurde, Tübingen/Berlin: Ernst Wasmuth 2015. Dass genau dies die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer entscheidend schwächt, zeigt Oliver Williamson: The Economic Institutions of Capitalism. Firms, Markets, Relational Contracting, New York: The Free Press 1985, S. 35-37. Welche Rolle die Arbeitsumgebung – die Architektur und die Stadtplanung – für den Wohlfahrtskapitalismus hatte, zeigt Littmann am Beispiel von General Electric bei New York und International Harvester bei Chicago. W. Littmann: »Designing obedience«. Gall, Lothar: Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Berlin: Siedler 2000.

Urbane Arbeitsparadiese gestern und heute

Pensionsanspruch und musste das unternehmenseigene Wohnhaus verlassen. Damit sind Arbeiter dem Unternehmen als Arbeitgeber, Einzelhändler, Vermieter und Krankenversicherer faktisch ausgeliefert. Wenn das Unternehmen die Preise für Lebensmittel und Wohnungen bestimmt, bleibt vom Lohn oft wenig übrig. Wenn Arbeiter das Unternehmen verlassen, müssen sie oft auch die Stadt, die Nachbarn und Freunde aufgeben. Die mehrdimensionale Vertragsbeziehung etabliert ein ›Alles oder Nichts‹ für die Arbeiter. Dies kann als eine Form von Zwang interpretiert werden, der die Asymmetrie im Arbeitsverhältnis noch einmal verstärkt. Zwei weitere Facetten von Macht, nämlich Manipulation und Ideologie, kommen hinzu. Sie beruhen darauf, dass in der Company Town das Beschäftigungsverhältnis über eine ökonomische Beziehung hinausgeht und soziale Komponenten beinhaltet. Indem er Wohnraum bereitstellt, Freizeitmöglichkeiten schafft und Arbeitnehmer gegen Lebensrisiken versichert, übernimmt der Arbeitgeber die Daseinsvorsorge, die früher die Großfamilie und später der Sozialstaat übernahm, und erwartet im Gegenzug Loyalität. Das Beschäftigungsverhältnis nimmt damit paternalistische Züge an. Bei Krupp und Tata agierte lange der Eigentümer selbst als Patriarch. Mit dieser ungleichen, alle Lebensbereiche umfassenden Beziehung knüpft das Beschäftigungsverhältnis, das die Company Town schafft, an vormoderne Verhältnisse an und kommt damit den Erfahrungen der Beschäftigten nahe, die im 19. Jahrhundert aus den deutschen, polnischen und indischen Dörfern ins Ruhrgebiet oder nach Jamshedpur kamen. Solche Beschäftigungsverhältnisse schaffen hohe Erwartungen an Loyalität und Treue. Arbeitgeber erwarten beispielsweise, dass die Arbeiter keiner Gewerkschaft beitreten, die Arbeiter wiederum, dass der Arbeitgeber sie auch in Krisenzeiten weiterbeschäftigt. Das Engagement des Unternehmens in der Stadt ermöglicht es, Macht durch Manipulation auszuüben: Arbeitgeber können Regeln festlegen und öffentliche Debatten in bestimmte Bahnen lenken. In Wolfsburg waren der Bürgermeister und die Mehrheit der Stadträte gleichzeitig Mitarbeiter von Volkswagen.23 In US-amerikanischen Company Towns war auch die Zeitung im Besitz des Unternehmens und das Unternehmen Krupp achtete darauf, welche Druckerzeugnisse die Arbeitnehmer lesen durften.24 Das enge, auf beinahe familiären Beziehungen beruhende Arbeitsverhältnis lässt sich zudem als Machtausübung durch Ideologie interpretieren. Arbeiter verinnerlichen die Idee, das Unternehmen sei ihre Großfamilie, der sie angehören und deren Interessen mit den eigenen harmonieren. Diese Vorstellung bringt etwa der Begriff Kruppianer zum Ausdruck. Insgesamt kann die Company Town für Arbeitnehmer dann vorteilhaft sein, wenn die Macht des Unternehmens begrenzt bleibt, was in Wolfsburg wohl ins23 24

U. Herlyn/W. Tessin/A. Harth/G. Scheller: Faszination Wolfsburg 1938-2012, S. 57-59. L. Gall: Krupp, S. 232-233.

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gesamt gut gelang: Das Land, auf dem Wohnsiedlungen in Wolfsburg entstanden sind, gehörte nicht Volkswagen, sondern der Stadt. Der in den 1950er Jahren ausgebaute Sozialstaat reduzierte die Abhängigkeit der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber und die Gewerkschaft IG Metall übte eine rechtlich mandatierte Gegenmacht aus. Aus Arbeitgebersicht eignen sich Company Towns, um industrielle Massenproduktion zu organisieren. Seit den 1960er Jahren jedoch wird die Wissensarbeit bedeutsamer und mit ihr entwickelt sich als neue Arbeitsumgebung der Unternehmenscampus.

Campus: Das Unternehmen als Stadt Als der erste Corporate Campus oder Unternehmenscampus gilt die Connecticut General Insurance (CGI)-Zentrale in Bloomfield, Illinois, aus dem Jahr 1954. Bekannt ist auch das Union-Carbide-Gebäude. In den frühen Beispielen waren nur Hauptquartiere oder Forschungs- und Entwicklungsabteilungen großer Unternehmen dort untergebracht.25 Heute übt ein Großteil der Belegschaften in vielen Branchen kreative Arbeit oder Wissensarbeit aus, so dass der Campus ihnen eine produktive und inspirierende Arbeitsumgebung bietet. Das gilt zum Beispiel für die seit den 1990er Jahren entstandenen Projekte von Silicon-Valley-Firmen, allen voran das Google-Plex in Mountain View, Kalifornien. Das Buch und der Film The Circle stellen ebenfalls einen solchen Campus dar, der Google, Facebook und Apple nachempfunden ist.26 Ein Corporate Campus besteht meist nicht aus einem einzigen Gebäude, sondern aus einem Arrangement von Arbeitsräumen, Sportstätten, Restaurants, Geschäften, Parks und Wohnheimen. Über das IBM-Gebäude in Rochester soll ein Arbeitnehmer sich mit den Worten geäußert haben: »It was like working in a city … everything was available in that building. They didn᾽t want you to leave.«27 Campusse sind geplant, sehen jedoch aus wie gewachsene Dörfer. Von den echten Städten sind sie oft geografisch entfernt, die Arbeitnehmer pendeln mit dem Auto.28 Wie die Company Town soll auch der Campus alles bieten, was zu einer Stadt gehört, aber gleichzeitig ländlich-dörflich wirken.29 Daher ist der Campus niedrig, oft unregelmäßig gebaut und integriert Gärten.

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Für die Architektur des Corporate Campus mit historischen Beispielen siehe Kerr, Ron/Robinson, Sarah K./Elliott, Carole: »Modernism, Postmodernism, and corporate power: historicizing the architectural typology of the corporate campus«, in: Management & Organizational History 11 (2016), S. 123-146. E.-M. Seng: »Utopie und Architektur zu Beginn des 21. Jahrhunderts«. R. Kerr/S. K. Robinson/C. Elliott: »Modernism, Postmodernism, and corporate power«, S. 132. Ebd. E.-M. Seng: »Utopie und Architektur zu Beginn des 21. Jahrhunderts«.

Urbane Arbeitsparadiese gestern und heute

Angesichts der Gemeinsamkeiten wurde das Silicon Valley zwar als eine Neuauflage der Company Town interpretiert,30 doch der Campus ist als neuer Typus der Arbeitsumgebung zu interpretieren: Die Company Town sollte die Mängel der Industriestadt vermeiden, wohingegen der Campus in Konkurrenz zur Stadt treten will, indem er alles bietet, was die Stadt auch hat: Cafés, Kinosäle, Theater, Restaurants, Sportplätze und Swimming-Pools. Der Campus verkörpert das Unternehmen als Stadt. San Francisco oder New York, in deren Nähe so mancher Campus angesiedelt ist, werden zu Schlafstädten degradiert, in die man spät nachts pendelt – wenn überhaupt, denn oft bietet der Campus auch Übernachtungsmöglichkeiten. Der Übergang von Company Town zu Campus ist keine architektonische Mode, sondern eine Reaktion auf veränderte ökonomische Gelegenheiten. Rentabel ist für westliche Unternehmen immer seltener die massenhaft ausgeführte, standardisierte Handarbeit, immer häufiger die individuelle, kreative Kopfarbeit. Diese Entwicklung setzt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein, parallel zum Entstehen des Corporate Campus, und setzt sich nun beschleunigt in der Digitalisierung fort. Mit dem Campus implementieren Unternehmen eine Arbeitsumgebung, die Wissensarbeit ermöglicht. Kreativität und permanente Innovationen entstehen einerseits dadurch, dass Menschen ihre Ideen austauschen und sich gegenseitig inspirieren, andererseits durch konzentriertes Nachdenken, also tiefe Kopfarbeit (Deep Work).31 Darum zieht der Campus die kreativen Köpfe an einem Ort zusammen. Dies gilt ironischerweise auch für viele US-amerikanische IT-Unternehmen: So haben diese mit der Entwicklung des Computers und Internets das Homeoffice überhaupt erst ermöglicht, untersagen nun aber ihren Beschäftigten, zu Hause zu arbeiten.32 Um ihnen die Anwesenheit schmackhaft zu machen, bietet der Campus all die Annehmlichkeiten eines attraktiven Stadtzentrums. Die Arbeitsumgebung ist multifunktional. Orte für die Stillarbeit werden kombiniert mit Teamräumen, aber auch Cafés und Lounge-Ecken, in denen die Mitarbeiter sich spontan treffen. Dabei besteht moderne Ergonomie unter anderem darin, die Formen, Farben und Stimmungen der Räume so zu gestalten, dass sie zu neuen Ideen inspirieren oder konzentriertes Arbeiten erleichtern.33 Das Neben-

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English-Lueck, J. A.: »Silicon Valley reinvents the company town«, in: Futures 32 (2000), S. 759766. Cal Newport: Deep work: Rules for focused success in a distracted world, London: Hachette UK 2016. Viel beachtet wurde Yahoos Rückruf der Mitarbeiter in die Räume des Unternehmens, vgl. Matthias Kaufmann: Heimarbeit bei Yahoo. Rückrufaktion für lockere Mitarbeiter, in: Spiegel Online vom 27.2.2013. https://www.spiegel.de/karriere/yahoo-ohne-home-office-reaktionen-auf-marissa-mayers-ansage-a-885970.html Vgl. die Zusammenfassung bei Radermacher, Katharina/Schneider, Martin: »Das Potenzial der Unternehmensarchitektur im Rahmen des Employer Branding«, in: Personalquaterly 2017, S. 10-16.

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einander von Stillarbeitsräumen, Treffpunkten und Erholungsoasen ist produktiv, weil Geistesblitze oft ungeplant einschlagen, etwa beim Cappuccino oder bei der Gymnastik, und weil Nachdenken ohnehin nur für wenige Stunden am Stück möglich ist. Multifunktionalität bedeutet auch, dass die für Industriestadt und Company Town charakteristische Trennung von Arbeiten und Leben zugunsten einer Verschmelzung (Work-Life-Blending) aufgehoben wird. Der Arbeitgeber verzichtet darauf, die Arbeitszeit zu erfassen oder auch nur zu vereinbaren, denn der Wert von Ideen lässt sich ohnehin nicht in Zeiteinheiten fest umrechnen. Die flexiblen, aber langen Anwesenheitszeiten auf dem Campus, die der Arbeitgeber erwartet, bedeuten, dass Arbeit, Spaß, Erholung und Freizeit fließend ineinander übergehen und entgrenzt werden. Diese Vermischung oder Überblendung hatte der städtische Industriekapitalismus eigentlich überwunden – der Campus ist ein High-Tech-Dorf. Mit einer multifunktionalen Arbeitsumgebung, die Wissensarbeiter im Campus halten möchte, reagieren die Arbeitgeber auch auf eine Erosion traditioneller Machtbasen. Wissensarbeiter wie etwa IT-Experten, Führungskräfte und Wissenschaftler sind gut bezahlt und agieren oft auf globalen Arbeitsmärkten. Sie besitzen zur aktuellen Beschäftigung in der Regel gute Alternativen, die zudem nicht einmal weit sind, wenn der Campus in regionalen Biotopen wie dem Silicon Valley, München oder Tel Aviv liegt. Wissensarbeit lässt sich noch weniger überwachen als Handarbeit. Auch Manipulation und ideologischer Paternalismus greifen kaum noch: In der Informationsgesellschaft gelingt es lokalen Unternehmen nicht mehr, eine Meinungsführerschaft zu erlangen oder die Agenda der Beschäftigten zu bestimmen. Und selbst wenn die modernen High-Tech-Unternehmen eine Fülle von Sozialleistungen anbieten, wie z.B. Krankenversicherungen, so sind die Wissensarbeiter nicht empfänglich für eine Ideologie des Paternalismus, denn sie identifizieren sich vielmehr mit ihrem Beruf; es sind eher Professionals als Angestellte oder Arbeiter. Allerdings ist auch der Campus keine machtfreie Zone, vielmehr nutzen Arbeitgeber Mechanismen der Identitätsbildung,34 um Macht auszuüben. Sie stützt sich auf die Kombination von Campus-Arbeitsumgebung mit neuen Technologien. Wenn das Fließband in den Fabriken dazu diente, Arbeiter zu überwachen, so üben heute Big-Data-Technologien in Verbindung mit humanwissenschaftlichen Techniken die Rolle der Steuerung von Wissensarbeitern aus35 – und zwar so, dass die Wissensarbeiter sich letztlich selbst disziplinieren. Google versucht gar nicht erst, Wissensarbeiter zu indoktrinieren. Aber die Wissensarbeiter vermessen sich ständig selbst: Schon in das Personalauswahlverfahren sind Persönlichkeitstests integriert und im Arbeitsalltag werden ständig Fragen erhoben, Ergebnisse vermessen, 34 35

P. Fleming/A. Spicer: Power in management and organization science. Mau, Steffen: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 243-246.

Urbane Arbeitsparadiese gestern und heute

ausgewertet und mit anderen Daten zusammengebracht. Diese Form von Macht ist mit der Beichte verglichen worden:36 Selbstbeurteilungen beruhen darauf, dass Mitarbeiter zum Beispiel gestehen, dass ihre Kompetenzen in bestimmten Bereichen ausbaufähig sind. Indem sie gestehen, werden sie objektiviert, das heißt von einer lebendigen Person auf ein Profil in der elektronischen Personalakte reduziert – und indem sie gestehen, machen sie sich die Kriterien und Werte, die der Beurteilung zugrunde liegen, zu eigen (Subjektivierung). Diese Logik ist nicht neu, sie kommt seit einiger Zeit im 360-Grad-Feedback zum Einsatz, doch die digitale Technik ermöglicht permanente Feedback-Schleifen – von Kunden, Kollegen und Vorgesetzten – in Echtzeit. Der Campus unterstützt die digitale Technik durch die Anwesenheit und Sichtbarkeit aller: Es wird nicht nur transparent, ob und wie lange man da ist, sondern auch, ob man sich mit gesunder Ernährung und Sport seine Produktivität erhält. Foucault hatte die so genannte Disziplinarmacht noch als Panoptikum illustriert: als Gefängnis, in dem der Wärter alle beobachten kann.37 Der Campus entwickelt das Panoptikum weiter: Hier sind alle Wissensarbeiter gleichzeitig Insassen und Wärter.

Schluss: Zurück zur Stadt Company Town und Campus sind die zwei wesentlichen Versuche von Unternehmen, die Arbeitsumgebung nicht den Stadtplanern oder dem spontanen Wachstum von Städten zu überlassen, sondern sie selbst zu gestalten.38 Die Arbeitsbedingungen waren und sind oft besser als in verdreckten Industriestädten; Volkswagen, Krupp und Google sind Modelle für andere Unternehmen geworden. Doch gleichzeitig steuern und disziplinieren diese Arbeitsumgebungen die Beschäftigten. Selbst gelungene Beispiele dieser Arbeitsumgebungen sind daher ambivalent: Sie haben etwas vom goldenen Käfig oder der Atmosphäre des von den Eagles besungenen Hotel California, aus dem man zwar auschecken, das man jedoch nicht verlassen kann. Auffällig ist die Verschiebung der Machtbasen: Arbeitgeber können Wissensarbeiter kaum durch Zwang, Manipulation und Ideologie steuern und greifen deshalb auf die Macht der gegenseitigen Selbstdisziplinierung und Iden-

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Vgl. Insbesondere Bröckling, Ulrich: Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 15ff. sowie Weiskopf, Richard: »Gouvernementabilität: Die Produktion des regierbaren Menschen in post-disziplinären Regimen«, in: German Journal of Human Resource Management 19 (2005), S. 289-311. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, Die Geburt des Gefängnisses, 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977. Chance, Helena: The factory in a garden: A history of corporate landscapes from the industrial to the digital age, Oxford: Oxford University Press 2017.

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titätsbildung zurück – eine Technik, die subtiler, dezentraler und weniger hierarchisch vorgeht als traditionelle Formen von Macht. Gleichwohl dürfte der Campus die Ausnahme bleiben und sich nicht als dominante Arbeitsumgebung für die künftige Wissensarbeit durchsetzen. Vielmehr spricht viel für eine anhaltende und erneute Blüte der Stadt. New York ist seit Jahrzehnten eine Quelle kreativer Ideen.39 In China ist 1978 die Stadt Shenzhen als Sonderverwaltungszone entstanden und hat sich inzwischen zur innovativsten Stadt in China entwickelt, die Firmen aus der ganzen Welt anzieht.40 Drei Argumente sprechen für die Stadt als die präferierte Arbeitsumgebung der Wissensökonomie und gegen den Erfolg des Unternehmenscampus. Erstens sind die für die Wissensökonomie notwendigen Ressourcen in Städten konzentriert. Die Digitalisierung ist mit einer langsamen Revolution verglichen worden, die in ein zweites Maschinenzeitalter mündet.41 In dieser kombinieren Unternehmen alte und neue Technologien, Hardware und Software, Technik und Design zu neuen Produkten. Beispiele sind E-books, Online-Spiele, intelligente Maschinen und Haushaltsgeräte, neue Mobilitätskonzepte und digitale Plattformen. Man spricht heute oft nicht mehr von radikalen, sondern disruptiven Innovationen.42 Sie entstehen besonders gut, wenn Kunden ebenso wie Designer, Künstler, Produzenten, Kapitalgeber und Marketing-Agenturen vor Ort sind. Diese Kombination von Ressourcen und Kompetenzen findet man nur in Städten, nicht in einem einzigen Unternehmenscampus. Zweitens dürften die meisten Wissensarbeiter wohl die Stadt einem Campus vorziehen. Die modernen Wissensarbeiter – Künstler, Schriftsteller, Wissenschaftler, Designer und IT-Experten – bilden eine »kreative Klasse«, der nachgesagt wird, dass sie gerne so lebt wie früher die Bohème.43 Sie arbeiten in Cafés und zu selbst gewählten Zeiten. Städte sind für sie dann besonders attraktiv, wenn sie dort andere Wissensarbeiter treffen, die notwendige Infrastruktur vorfinden und eine weltoffene Atmosphäre vorherrscht. Richard Florida fasst dies zum Dreiklang Talente – Technologie – Toleranz zusammen.44 Es sind also harte und weiche Faktoren, die Städte zu einem beliebten und produktiven Standort machen. Wenn Städte 39 40 41 42 43 44

Currid, Elizabeth: »New York as a global creative hub: A competitive analysis of four theories on world cities«, in: Economic Development Quarterly 20 (2006), S. 330-350. Giesen, Christoph: »China Valley. Die Stadt aus dem Nichts«, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.03.2018, S. 16. Brynjolfsson, Erik/McAfee, Andrew: The second machine age: Work, progress, and prosperity in a time of brilliant technologies, New York/London: WW Norton & Company 2014. Christensen, Clayton M./Raynor, Michael E./McDonald, Rory: »What is disruptive innovation«, in: Harvard Business Review 93 (2015), S. 44-53. Florida, Richard: The rise of the creative class, revisited, New York: Basic Books 2011. Ebd. Regionen, die diese Faktoren zu einem hohen Grad aufweisen, sind tatsächlich innovativer, wie empirische Studien zeigen, vgl. etwa Rutten, Roel: »Openness values and regional innovation: a set-analysis«, in: Journal of Economic Geography 27 (2018), S. 148.

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diese Ressourcen bieten, wirken die aus der Stadtökonomik bekannten, sich selbst verstärkenden Effekte: Städte mit diversen Talenten werden tolerant, ziehen weitere Talente an und so fort. Eine Retorten-Stadt hochzuziehen, wie das mit Shenzhen gelungen ist, funktioniert allerdings nur selten: Die kreative Klasse scheint gewachsene, unfertige Orte zu bevorzugen, um sie dann zu verändern und zu gestalten.45 Ein durchgeplanter Campus kann all dies nicht bieten. Drittens dürften sich Wissensarbeiter künftig weniger über ein einziges Unternehmen definieren. Von abhängig beschäftigten Wissensarbeitern verlangen Arbeitgeber heute, dass sie sich selbst organisieren und unternehmerisch denken. Das ist wohl für die Innovationsfähigkeit wichtig, allerdings für die Unternehmen fatal: Viele Wissensarbeiter verstehen sich dann nicht mehr als abhängig Beschäftigte, erst recht nicht als Beschäftigte eines einzigen Unternehmens, sondern als »Arbeitskraftunternehmer«.46 Es ist bezeichnend, dass Google eine im Vergleich zu vielen anderen Unternehmen besonders hohe Mitarbeiterfluktuationsrate hat.47

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Hospers, Gert-Jan/van Dalm, Roy: »How to create a creative city? The viewpoints of Richard Florida and Jane Jacobs«, in: Foresight 7 (2005), S. 8-12. Voß, Gerd G./Pongratz, Hans J.: »Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft?«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50 (1998), S. 131158. A. Tiedge: »Arbeitgeber Google«.

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»Urban sein« Zur Kulturanalyse und Ethnografie des emphatisch Städtischen Moritz Ege

Was heißt es, »urban« zu sein und »urban« zu leben? Die ethnografische Stadtforschung ist ein interdisziplinäres Feld, das vor allem Soziologie, Ethnologie (bzw. Sozial- und Kulturanthropologie), empirische Kulturwissenschaft (bzw. Europäische Ethnologie) und Human- bzw. Kulturgeografie umfasst. Seit über hundert Jahren beschäftigt sie sich mit den Veränderungen von Lebensweisen durch Urbanisierung und mit den Alltagen verschiedener sozialer Milieus in ihrem städtischen Lebensumfeld und in ihrer Auseinandersetzung und ihren Wechselwirkungen mit dem städtischen Raum.1 Das Interesse der Stadtethnografie gilt auch der medialen Repräsentation von Städten und des Städtischen, aber in erster Linie gilt es der Frage, wie Menschen tatsächlich in Städten leben – und inwiefern sie »städtisch« leben: Eine grundlegende Überlegung lautet, dass sich das Leben verschiedener Gruppen nicht einfach in Städten abspielt, sondern dass sich dort zugleich so etwas wie »das Städtische« herausbildet, the urban in englischer Sprache, in einem übergreifenden, aber auch pluralen Sinn: das Städtische als Lebensform(en) oder Lebensweise(n), als Habitus, als Stil(e), als Arrangement(s) von Praktiken, Gewohnheiten, materiellen Gegebenheiten und Infrastrukturen.2 Abstraktionen wie »das Städtische« oder »das Urbane« sind freilich notorisch problematisch – was soll das eigentlich sein, wie lässt es sich bestimmen, und warum sollten wir überhaupt ein Interesse daran haben, solche Abstraktionen vorzunehmen? Ist es nicht eine seltsame, essentialistische und normativ-normierende Vorstellung, dass es so etwas in einem derart einheitlichen Sinn, der die Sache erst benennbar macht, wirklich gibt? Solch basale Fragen sind in der ethnografischen

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Vgl. z.B. Sampson, Robert J.: »The City for the Twenty-First Century«, in: Robert Ezra Park/E.W. Burgess (Hg.), The City. The Heritage of Sociology. Chicago/London: The University of Chicago Press 2019, S. vii-xiv; Schwanhäußer, Anja: Sensing the City: A Companion to Urban Anthropology (= Bauwelt Fundamente 155), Gütersloh/Basel: Birkhäuser 2016. Die ursprüngliche Vortragsform des Textes wurde für diesen Band weitgehend beibehalten.

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Stadtforschung durchaus umstritten, worauf auch in diesem Text noch zurückzukommen sein wird. Aber: Ich möchte in diesem Text nicht in erster Linie ideologiekritisch oder dekonstruktivistisch vorgehen und die problematischen Voraussetzungen und Aporien des Redens über das Urbane ›auseinandernehmen‹, sondern gerade jene Emphase zum Ausgangspunkt, zum Leitmotiv und zum Gegenstand meiner Überlegungen machen: die Emphase, die häufig im Spiel ist, wenn auf »das Urbane« und damit auch, subjektzentriert gedacht, das »Urban-Sein« Bezug genommen wird. Ich nehme diese Emphase gewissermaßen als soziale Tatsache, nicht einfach als wissenschaftlichen Fehler. Der übliche Begriff für diese Zusammenhänge ist offenkundig »Urbanität«.3 Mein Ausgangspunkt sind zunächst einmal aber – im ersten Teil des Aufsatzes – eher alltagssprachliche Verständnisse des Urbanen. Sie dienen als Grundlage für einige Überlegungen zu der Frage, was die ethnografische Stadtforschung in ihrer bisherigen Geschichte zum Verständnis des emphatisch Städtischen beigetragen hat – zweiter und dritter Teil des Aufsatzes – und, als Ausblick im letzten Teil des Textes, wie aktuelle stadtethnografische Studien das »Urban-Sein« konturieren. Der Schwerpunkt liegt also bei einer Vorstellung der relevanten, vor allem klassischen stadtethnografischen Traditionslinien. Bei allen Gefahren, die eine Verdinglichung und Essentialisierung des Sprechens über »das Urbane« mit sich bringen mag, halte ich es für wichtig, solche emphatischen Sprechweisen und Ästhetiken, die in unterschiedlichen Diskursen und sozialen Welten anzutreffen sind, einschließlich der Wissenschaften, ernst zu nehmen: Der Fokus auf das »UrbanSein« im emphatischen Sinn verweist nicht nur auf die Strukturierungen menschlichen Lebens durch gesellschaftliche Verhältnisse und Entwicklungen, oder auf Positionen innerhalb gesellschaftlicher Hierarchien und Ungleichheiten (obwohl er das sicherlich auch tut), sondern immer auch auf Arten und Weisen, sich innerhalb dieser Verhältnisse zu verhalten, sich ihnen nicht nur anzupassen, sondern sich auch zu ihnen zu verhalten, sich ihnen zu entziehen und spezifisch städtische Möglichkeiten zu nutzen, um neue Praktiken und Lebensweisen zu instituieren.

Urban sein/be(ing) urban: Schlaglichter »Urban« zu sein heißt, auch und gerade im Deutschen, immer schon und weiterhin mehr als einfach in einer Stadt zu wohnen. Sowohl das typisch Städtische als auch »das Urbane« haben im Zuge der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung und Selbstthematisierung durch Kunst, Wissenschaft, Alltagsverstand usw. auf vielfache Wei3

Vgl. als verdichteten Überblick z.B. Helbrecht, Ilse: »Urbanität – Ruralität. Versuch einer prinzipiellen Klärung und Erläuterung der Begriffe«, in: Dérive. Zeitschrift für Stadtforschung 76 (2019), S. 6-13.

»Urban sein«

se reflexiven Charakter. Treten wir also einen Schritt zurück und gehen unserem geteilten, vielleicht auch weniger geteilten, vorwissenschaftlichen Vorverständnis dessen nach, was es in unseren kulturellen Zusammenhängen bedeutet, »urban zu sein«. Welche Assoziationen, welche Konnotationen sind damit verbunden? Zunächst die einfachsten Bestimmungen: Der Duden nennt für das deutsche Adjektiv »urban« zwei Bedeutungen: erstens gebildet und weltgewandt, weltmännisch (sic!), wobei diese Bedeutung einem bildungssprachlichen Register zugeordnet wird (und eher höhere soziale Schichten meint), zweitens schlicht städtisch, für die Stadt, für städtisches Leben charakteristisch. Wir könnten auch sagen: emphatisch im ersten Sinn, deskriptiv im zweiten. Im Deutschen ist »urban« ein Fremdwort; insgesamt bleiben bei seiner Verwendung, stärker als beim Wort »städtisch«, die Ansprüche, die mit der ersten genannten Bedeutung verbunden sind, häufig erhalten – auch dann, wenn »urban« zunächst einmal nur »der Stadt/dem Städtischen zugehörend« meinen soll. In diesem Sinne sind in vielen Verwendungen beide Bedeutungen gleichzeitig präsent. Das Englische wiederum hat aus dem Lateinischen »urbanus« bzw. dem Mittelfranzösischen »urbain« zwei Wörter gemacht: »urban« und »urbane«.4 Das englische Wort »urban« entspricht dabei einerseits der zweiten, deskriptiven deutschen Bedeutung, also dem Städtischen, der Stadt zugehörigen, das englische Wort »urbane« dagegen der ersten Bedeutung, dem Weltgewandten. Soweit die Wörterbücher, die einige erste Orientierungspunkte für das Nachdenken über die historische und vergleichende Semantik des Urbanen geben. Was aber ist darüber hinaus mit der Rede vom »Urban-Sein« verbunden? Anstelle einer längeren kultur-, diskurs- oder wissenschaftsgeschichtlichen Abhandlung5 will ich hier nur schlaglichtartig und impressionistisch auf vier Bedeutungskomplexe aufmerksam machen, die aktuell eine gewisse Prominenz in diesem Zusammenhang besitzen. Erstens sind Städte zurzeit so etwas wie Hoffnungsträger progressiver Gesellschaftsentwürfe. »Urban« gilt in diesem Zusammenhang nicht selten als Synonym

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Die semantischen Unterschiede zwischen »cité« und »ville« sind wiederum der Aufhänger für Richard Sennett: vgl. ders.: Die offene Stadt: eine Ethik des Bauens und Bewohnens, München: Hanser 2018, S. 9. Vgl. z.B. Donald, James: Vorstellungswelten moderner Urbanität, Wien: Löcker 2005; Binder, Beate: »Urbanität als ›Moving Metaphor‹. Aspekte der Stadtentwicklungsdebatte in den 1960er/1970er Jahren«, in: Adelheid von Saldern (Hg.), Stadt und Kommunikation in bundesrepublikanischen Umbruchszeiten (= Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Bd. 17), Stuttgart: Steiner 2006, S. 45-66; Schlör, Joachim: Das Ich der Stadt: Debatten über Judentum und Urbanität 1822-1938, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005; Sennett, Richard: Civitas: die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag 2011; Hengartner, Thomas: Forschungsfeld Stadt: zur Geschichte der volkskundlichen Erforschung städtischer Lebensformen, Berlin: Reimer 1999.

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des Demokratischen und Fortschrittlichen. Die Logik funktioniert, über verschiedene Bereiche von Politik und Lebensweisen hinweg, so: Wenn auf der nationalen und auch supranationalen Ebene keine Entscheidungen getroffen werden, die die richtigen Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit geben, z.B. mit Blick auf Migration und Klimawandel, dann machen wir das eben auf städtischer Ebene. Die städtische Handlungsebene scheint vielen Akteurinnen und Akteuren geeigneter als die regionale oder nationalstaatliche oder auch supranationale, um progressive Politiken zu verwirklichen: Zum einen, weil hier, auf relativ kleinem Maßstab, direktere Beteiligung möglich ist, sei’s eher technokratisch durch Partizipationsprogramme6 oder radikal, z.B. im Sinn des »libertären Munizipalismus«.7 Zum anderen, weil (manche) »urbane« Milieus gesellschaftspolitisch eher liberale Wertorientierungen vertreten, wie diverse Umfragen zur räumlichen Verteilung von Wertewandel etc. zeigen,8 beziehungsweise weil »urbane« Milieus in Großstädten einen größeren Anteil der Bevölkerung ausmachen als in vielen Kleinstädten oder ländlichen Regionen – oder aber einfach erst in Städten eine kritische Masse bilden.9 Städte sind also grosso modo politisch »progressiver« als viele ländliche Regionen, Vorstädte und Zwischenstadt-Landschaften, so scheint es zumindest. Beispiele dafür, wie solche Hoffnungen verwirklicht werden sollen, finden sich in Idealen und konkreten Politiken von »Sanctuary Cities« und »Solidarity Cities«.10 Sie wollen auf unterschiedliche Weise (z.B. durch kommunale Ausweise, Nichtteilnahme an Abschiebeverfahren, kommunale Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge, Zusagen zur Aufnahme von Fluchtmigrantinnen und -migranten innerhalb internationaler Abkommen usw.) die nationalstaatliche Migrationspolitik kompensieren, unterwandern, aushebeln (oder, in manchen Fällen, auch nur ergänzen). Sie »re-skalieren«11 damit politische Handlungsräume, sie verändern die

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Baiocchi, Gianpaolo/Ganuza, Ernesto: Popular Democracy: The Paradox of Participation, Stanford, California: Stanford University Press 2017. Bookchin, Murray: »Libertarian Municipalism: An Overview.« The Anarchist Library. https:// theanarchistlibrary.org/library/murray-bookchin-libertarian-municipalism-an-overview Vgl. zusammenfassend Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin: Suhrkamp 2017. Vgl. dazu schon Park, Robert E.: »The City: Suggestions for the Investigation of Human Behavior in the Urban Environment«, in: Robert E. Park/Ernest W. Burgess/Roderick D. McKenzie (Hg.), The City, Chicago: University of Chicago Press 1925. Downes, Lawrence: »A ›Sanctuary City‹ Seizes the Moment, and the Name«, in: The New York Times, March 3 (2017); Christoph, Wenke/Kron, Stefanie (Hg.): Solidarische Städte in Europa. Urbane Politik zwischen Charity und Citizenship, Berlin: Rosa-Luxemburg-Stiftung 2019; Dieterich, Antje: Solidarity Cities. Lokale Strategien gegen Rassismus und Neoliberalismus (= unrast transparent/bewegungslehre 7), Münster: Unrast 2019. Glick Schiller, Nina/Çağlar, Ayse: »Towards a Comparative Theory of Locality in Migration Studies: Migrant Incorporation and City Scale«, in: Journal of Ethnic and Migration Studies 35.2 (2009), S. 177-202.

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Relevanz verschiedener Maßstabsebenen (scales). Weitere Beispiele sind Klimaabkommen und ökologische Selbstverpflichtungen auf städtischer Ebene, die weiter gehen als die staatlichen Abkommen, welche bekanntermaßen ohnehin nur selten eingehalten werden, z.B. durch Stadt-Netzwerke wie die »Gruppe der C40«. Für einen »neuen Munizipalismus«, eine neue Zentrierung der städtischen politischen Handlungsebene, begeistert sich die politische Linke in vielen Ländern, in Europa zuletzt mit einigen Erfolgen z.B. in Spanien.12 Hier sind die Städte und das Urbane gewissermaßen der Inbegriff zurückgewonnener politischer Handlungsmacht angesichts politischer »Backlashs« und des Siegeszugs rechter Bewegungen auf größeren Maßstabsebenen des Politischen. Im Hintergrund solcher Strategien steht häufig nicht nur eine Diagnose der räumlichen Verteilung sozial-moralischer Milieus, sondern die gewissermaßen stadtsoziologisch fundierte Überzeugung, dass der Alltagskosmopolitismus des städtischen Lebens, der Kosmopolitismus »von unten«, vor allem die Erfahrung von mehr oder weniger unspektakulärer, routinierter Konvivialität13 auf politische Orientierungen »abfärben« kann oder soll. Der zweite Bedeutungskomplex, der mir hier wichtig scheint, ist so etwas wie das Gegenstück des ersten. Wer seit Ende 2018 die Berichterstattung über die aktuellen Proteste der Gilets Jaunes in Frankreich verfolgt hat, dem ist vermutlich die Interpretation begegnet, dass diese »Gelbwesten« die Wut des ländlichen, abgehängten, peripheren Frankreich und seiner Bewohnerinnen und Bewohner auf die politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Eliten in Paris zum Ausdruck bringen.14 Die globalisierten Metropolen seien, so schreibt zum Beispiel der anlässlich dieser Proteste viel zitierte Geograph Christophe Guilluy, die neuen Zitadellen, die Festungen des 21. Jahrhunderts, in denen selbst für die untere Mittelschicht kein Platz mehr sei.15 Populistische Bewegungen der letzten Jahre wenden sich demnach nicht zuletzt gegen diese Konzentration von Kapital, lukrativer Arbeit, Reichtum und Konsumkraft, aber auch politischer Entscheidungsmacht und symbolisch-kulturellen Kapitals in den Städten, und damit auch gegen das symbolisch-kulturelle Kapital des Urbanen als abgeleiteter Überkatego-

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Brunner, Christoph/Kubaczek, Niki/Mulvaney, Kelly/Raunig, Gerald (Hg): Die neuen Munizipalismen: Soziale Bewegung und die Regierung der Städte, Wien: transversal texts 2017. Sandercock, Leonie/Lyssiotis, Peter: Cosmopolis II: Mongrel Cities in the 21st Century, London/New York: Continuum 2003; Heil, Tilmann: »Are Neighbours Alike? Practices of Conviviality in Catalonia and Casamance«, in: European Journal of Cultural Studies 17.4 (2014), S. 452470. Rucht, Dieter: Die Gelbwestenbewegung – Stand und Perspektiven. Ipb Working Paper Series, Berlin: ipb 2019. Guilluy, Christophe: Périphérique: Comment on a sacrifié les classes populaires. Paris: Flammarion 2015. Und: Guilluy, Christophe: »France Is Deeply Fractured. Gilets Jaunes Are Just a Symptom«, in: The Guardian, December 2 (2018), sec. Opinion.

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rie.16 Ich will auf die Frage, inwiefern diese Diagnose tatsächlich zutrifft, gar nicht weiter eingehen (das Problem ist m.E. real genug), sondern nur festhalten, dass »urban« in solchen Zusammenhängen in erster Linie auf unverdiente Privilegien verweist, die sich in Sozialfiguren oder auch kulturellen Figuren elitärer Stadtbewohner verdichten und auf Herabsetzungs- oder Nachrangigkeitserfahrungen unterschiedlichster Form verweisen, die nicht in Städten bzw. Metropolen lebende Menschen offenbar regelmäßig machen. Sie erinnern sich vielleicht noch an Jens Spahn und sein Berliner-Hipster-Bashing.17 Solche Figuren elitärer Urbanität gibt es in vielen Gesellschaften, als halber Amerikanist muss ich immer an die Figur der »elite urban liberals« im US-amerikanischen Diskurs denken.18 Zugleich werden in solchen Verwendungen auch die Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner insgesamt als elitäre Gruppe gezeichnet: Die Gelbwesten kommen in die Stadt und zeigen es den urbanen Eliten (und wenn sie selbst aus der Stadt kommen, sind sie nicht »Elite«). Man kann, denke ich, mit einer gewissen Sicherheit sagen, dass solche Gegenüberstellungen des Ländlich-Peripheren, wo das eigentliche »Volk« wohnt, das aber ausgeschlossen ist, und des Urbanen und Zentralen in den letzten Jahren in der politischen Rhetorik und in zeitdiagnostischen Diskursen erheblich an Bedeutung gewonnen haben, so alt sie auch sind. Aus der Perspektive der sozialwissenschaftlichen Stadt- und Urbanisierungsforschung ist das in gewisser Weise auch erstaunlich, weil dort in den letzten Jahrzehnten zwar viel über regionale Polarisierung und Fragmentierung geschrieben wurde, aber eigentlich eher die Aufhebung der Stadt-Land-Differenz und der Aufstieg von Zwischenformen, von exurbs oder der »Zwischenstadt« im Fokus des Interesses stand. Damit sind Veränderungen von Siedlungsformen gemeint: Mehr und mehr Menschen leben in Siedlungen, die weder »Dorf« noch »Kleinstadt« noch »Großstadt« sind, son-

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Offenkundig ist das keine neue Entwicklung; auch z.B. der begriffsprägende Populismus im frühen 20. Jahrhundert in den USA war ein emphatisch ruraler, anti-urbaner. Und: Auch in der Forschung, insbesondere der geografischen, aber auch der ethnologischen und empirisch-kulturwissenschaftlichen, ist das Stadt-Land-Verhältnis als Großthema zurückgekehrt; Urbanitätsbegriffe werden stärker als zuvor wieder über die Kontrastierung mit dem Ruralen bestimmt, vgl. z.B. I. Helbrecht: Urbanität – Ruralität; Schmidt-Lauber, Brigitta: »›Wir sind nie urban gewesen.‹ Relationale Stadtforschung jenseits des Metrozentrismus«, in: dies. (Hg.), Andere Urbanitäten. Zur Pluralität des Städtischen, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2018, S. 922. Spahn, Jens: »Berliner Cafés: Sprechen Sie doch Deutsch!« in: zeit online vom 23. Juli 2017. https://www.zeit.de/2017/35/berlin-cafes-hipster-englisch-sprache-jens-spahn Vgl. in diesem Sinne Hochschild, Arlie Russell: Fremd in ihrem Land: eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten, Frankfurt a.M./New York: Campus 2017. Zu kulturellen Figuren vgl. Ege, Moritz: ›Ein Proll mit Klasse‹: Mode, Popkultur und soziale Ungleichheiten unter jungen Männern in Berlin, Frankfurt a.M./New York: Campus 2013, S. 26-74.

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dern eher »Zwischenstadt«.19 Zugleich, und letztlich wohl wichtiger, verblüfft die neue Polarisierung von »Stadt und Land«, weil bereits Autoren wie Louis Wirth20 und Henri Lefebvre21 eine globale Urbanisierung in einem Sinn vorausgesagt hatten, der sich nicht in erster Linie auf die Siedlungsformen bezieht, sondern auf Lebens-, Wahrnehmungs- und Denkweisen: Selbst wenn die Menschen nicht in einem wörtlichen Sinn in Städte ziehen, so findet doch eine allgemeine, übergreifende »innere Urbanisierung«22 statt, wie es Gottfried Korff mit Blick auf das Berlin des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts nannte, eine Verallgemeinerung eines Habitus der Urbanität.23 Die kulturellen Orientierungen, die den gesellschaftlichen Wandel prägen, die Wahrnehmungsweisen, Äußerungsstile und Rhythmen, sind städtischen Ursprungs und in der einen oder anderen Weise städtischen Charakters. Das Internet hat die raumzeitliche Verdichtung kultureller Erfahrung24 nicht in die Welt gebracht, aber doch auf eine neue Stufe gehoben. Demnach erleben wir einerseits eine strukturelle Auflösung und Fragmentierung der Stadt-LandDifferenz, zumindest in mancherlei Hinsicht, aber zugleich, wie die Entwicklungen der letzten Jahre zeigen, sehr wohl auch eine sowohl ökonomische als auch symbolische Polarisierung und Zuspitzung, und damit neben der Verherrlichung auch eine Verdammung des »Urban-Seins«, ob wir sie nun als ressentimentgetrieben bezeichnen wollen oder nicht.25 Neben diesen beiden politischen Debatten möchte ich das dritte Schlaglicht auf das Feld von Konsum und Lebensstil setzen. Dass Urbanität und distinktionsorientierter Konsum eng miteinander verbunden sind, ist zunächst einmal eine eher

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Sieverts, Thomas: Zwischenstadt: Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land (= Bauwelt Fundamente 118), Braunschweig: Vieweg 1997. Wirth, Louis: »Urbanism as a Way of Life«, in: American Journal of Sociology 44.1 (1938), S. 124. Lefebvre, Henri: La Révolution urbaine, Paris: Gallimard 1970. Korff, Gottfried: »Mentalität und Kommunikation in der Großstadt. Berliner Notizen zur inneren Urbanisierung«, in: Hermann Bausinger/Theodor Kohlmann (Hg.), Großstadt. Aspekte Empirischer Kulturforschung, Berlin: Stiftung Preußischer Kulturbesitz 1985, S. 343-361. Kritisch dazu Prestel, Joseph Ben: »Gefühle in der Friedrichstraße. Eine emotionshistorische Perspektive auf die Produktion eines Stadtraums, ca. 1870-1910«, in: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 3.2 (2015), S. 23-42. Dirksmeier, Peter: Urbanität als Habitus: Zur Sozialgeographie städtischen Lebens auf dem Land, Bielefeld: transcript 2009. Harvey, David: The Condition of Postmodernity: An Enquiry into the Origins of Cultural Change, Oxford/Cambridge, Mass.: Blackwell 1989; Massey, Doreen B.: Space, Place, and Gender, Minneapolis: University of Minnesota Press 1994; Castells, Manuel: The Rise of the Network Society (= Information Age, Bd. 1), Oxford/Malden, Mass: Blackwell 2002. Koppetsch, Cornelia: »Rechtspopulismus, Etablierte und Außenseiter. Emotionale Dynamiken sozialer Deklassierung«, in: Leviathan Sonderband 32 (2017), S. 208-232.

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triviale Feststellung,26 deren Implikationen in der Stadtforschung auch vielfach nachgegangen wird. Es ist aber durchaus bemerkenswert, in welchem Maße das Wort »urban« selbst verwendet wird, im Deutschen als Anglizismus oder als mehr oder weniger unmarkiertes Fremdwort, um Waren und ihre Anbieterinnen und Anbieter semiotisch aufzuladen oder anzureichern, am bekanntesten wohl bei Urban Outfitters, die ja nicht nur eine Kette von Kleidungs- und Einrichtungsgeschäften ist, sondern über längere Zeit auch zu den umsatzstärksten Schallplattenhändlern der USA gehörte.27 In einigen Fällen wird das »Urban-Sein« dann tatsächlich zu einem Imperativ, dem konsumierend gefolgt werden kann und soll: Sei urban, be urban. Ein schneller Blick auf die Oberflächen der Konsumgesellschaft macht das deutlich:

Abb. 1: be urban

Google Bildersuche be urban (Ausschnitte), Dez. 2018.

Be Urban, das ist unter anderem ein Einrichtungsgeschäft in HannoverLaatzen, ferner ein Architektenbüro in München, das eine Partnerschaft mit Mini hat, eine Tanzschule in der belgischen Kleinstadt Maaseik (Flandern/Provinz Limburg), eine Wellness-App (Be Urban Wellness). Be urban ist ein ›Expo-Hotel‹ mit eher mäßigen Wertungen in Barcelona; ein Werbespruch von petit bijou, einem Bistro am Monbijoupark in Berlin – »Be Urban, Eat Fresh. Essen macht glücklich« – oder auch der Spruch auf einer wieder befüllbaren Trinkflasche (»Be Urban. Be Green«). Welches Versprechen mit dem Urbanen hier jeweils verbunden wird,28 bliebe aufzufächern. 26 27 28

Vgl. Kaschuba, Wolfgang: »Die Stadt, ein großes Selfie? Urbanität zwischen Bühne und Beute – Essay | APuZ.« bpb.de. 2017. »Urban Outfitters Doesn’t Sell the Most Vinyl‹, in: Billboard, September 24 (2014). Zum Versprechen als stadttheoretischer Kategorie vgl. u.a. Färber, Alexa: »How Does ANT Help Us to Rethink the City and Its Promises?«, in: Anders Blok/Ignacio Farías/Celia Roberts (Hg.), The Routledge Companion to Actor-Network Theory, London/New York: Routledge 2019, S. 264-272.

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Mein eigenes ästhetisches Gefühl empfindet solche Benennungen und Werbeslogans jedenfalls als tendenziell »too much«, als zu direkt, als eher scheiternde Kommunikation, auch als etwas, das eher nicht von EnglischMuttersprachlerinnen und Muttersprachlern formuliert wird. In den Be UrbanSlogans wird die allgemeinere kulturelle Logik der Kommodifizierung und des Konsums von Urbanität beziehungsweise von Zeichen des Urbanen und urbanen Atmosphären29 durch ihre aufdringlich wirkende, explizite Formulierung und ihr Generisch-Werden trivialisiert und fast schon entzaubert. Sie zeigen dadurch aber gerade, in welch selbstverständlicher Weise diese Logik ansonsten unsere Konsumlandschaften prägt, wie sehr das Urbane und die Kennzeichnung »urban« als Ideologeme oder Plastikwörter fungieren können. Gerade dadurch lässt sich auch erahnen, wie häufig ähnliche Bedeutungen konnotativ-assoziativ (und nicht, wie in diesen Fällen, denotativ) in Werbezusammenhängen evoziert werden. Solche Werbungen legen darüber hinaus offen, in vielleicht etwas unbedarfter Weise, wie sich im Konsumierbar-Werden von Urbanität insgesamt Ästhetik und Ethik vermischen, und zwar in einem mehrfachen Sinn: Erstens im Sinn von ethisch guter und richtiger, »grüner« städtischer Lebensweise, und zweitens im Sinn der Ästhetik der Existenz, der Arbeit am eigenen Selbst, durch Konsum, Selbststilisierung, Selbstfigurierung – durch »urbane Ethiken« in einem sehr speziellen Sinn.30 Auch Zeitschriften wie der Musikexpress-Stadtmagazin-Ableger me.urban versehen das Urbane in vergleichbarer Weise mit Emphase.

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Vgl. nur Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983; Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter: Neue Urbanität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987; Harvey, David: Rebel Cities: From the Right to the City to the Urban Revolution, London: Verso 2013. Ege, Moritz: »Urbane Ethiken und das Normative der Urbanität. Ein Diskussionsbeitrag«, in: Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.), Andere Urbanitäten. Zur Pluralität des Städtischen, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2018, S. 169-192.

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Abb. 2: München, Schlachthofviertel, 2019

Quelle: eigenes Foto.

Wie die obige Abbildung beispielhaft zeigt, ruft die Ästhetisierung und Ethisierung des Urbanen aber auch allerlei Sprach- und Sachkritik hervor. Diese Kritik scheint mir rundum nachvollziehbar. Solche Verwendungen entwerten das Wort »urban« in vielerlei Hinsicht. Trotzdem wäre es aus meiner Sicht zu einfach, in der Rede vom Urbanen nur ein Ärgernis zu sehen und im »Urban-Sein«-Wollen nur einen Effekt ideologischer Manipulation und postpolitischer Regierungstechniken. Nicht nur wäre eine solche Sicht historisch ausgesprochen seicht, zu fragen bleibt weiterhin, durchaus im Sinne der Kritischen Theorie und ihres Begriffs des Unabgegoltenen, ob solche Schlagwörter nicht doch auch – wie ideologisch und manipulativ auch immer – auf Vorstellungen von einem gelingenden, guten Leben verweisen, auf Imaginationen eines Lebens, das Möglichkeiten des Städtischen nutzt, die sich nicht in Konsum und Distinktion erschöpfen.31 Zum vierten und letzten Schlaglicht: Dem Oxford English Dictionary zufolge lautet eine separate Bedeutung von »urban« »of or relating to any of a variety of genres of popular music of a type chiefly associated with black performers; designating this type of music«.32 Urban Contemporary ist zum Beispiel ein Radioformat, das unter anderem Spielarten von HipHop und RnB umfasst. »Urban« ist dann so etwas wie eine Umschreibung von »Schwarz« im Sinne von African American. Das Wörterbuch verweist in diesem Zusammenhang also auf die Welt

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Ebd. OED online, https://www.oed.com/view/Entry/220386?redirectedFrom=urban#eid

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der Klassifikation populärmusikalischer Gattungen, deren »racial politics« ohnehin ein spannendes Thema sind;33 eine genealogische Linie zieht sich hier zur Unterscheidung von Country Blues und Urban Blues in und nach den »Great Migrations« von Afroamerikanerinnen und Afroamerikanern in die Nordstaaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.34

Abb. 3: Urban Music als Charts-Kategorie 35

Diese (umstrittene) Bedeutung des Wortes »urban« im US-amerikanischen Englisch hat in letzter Zeit auch im Deutschen an Relevanz gewonnen. So gibt es seit 2014 zum Beispiel die deutschen Urban Charts, die zuvor deutsche Black Charts hießen, erstellt von der Hamburger Agentur Public Music & Media.36 Sony Music hat eine Urban-Abteilung, deren Produktmanager Kristian Lesic 2016 vom Bayerischen Rundfunk (Puls) mit folgender Aussage zitiert wird: ›Urban Music‹ kommt von urbaner Musik, also Musik, die in der Großstadt groß geworden ist. ›Urban‹ ist auf jeden Fall ein politisch korrekterer Begriff als ›Black Music‹. ›Black Music‹ hat immer einen faden Beigeschmack, auch bei den ameri-

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Lena, Jennifer C.: Banding Together. How Communities Create Genres in Popular Music, Princeton: Princeton University Press 2012; Nathaus, Klaus: »From Versatility to Art and Authenticity: The Making of Popular Music’s Genre Matrix, 1890-1930«, in: MusikTheorie 30.1 (2015), S. 23-42. Keil, Charles: Urban Blues. Chicago: University of Chicago Press 1991. http://www.mtv.co.uk/music/charts/the-official-uk-urban-chart; https://www.rap2soul.de/ 2016/deutsche-urban-charts-kw-2016-26303. https://www.br.de/puls/themen/leben/black-music-meine-hautfarbe-ist-keinemusikrichtung-102.html

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kanischen Kollegen. Die Erklärung dahinter war, dass es für sie sehr ›offensive‹ ist und es hat irgendwie einen rassistischen Touch.37 Das Zitat verdeutlicht den euphemistischen Charakter des »Urbanen« in diesem Zusammengang. Die lexikalische Austauschbarkeit von »urban« und »schwarz« ist letztlich nicht weniger befremdlich als das, was der Musikmanager hier überwinden will. Inwiefern Musik, die in afrodiasporischen Traditionen steht, prinzipiell »städtischeren« Ursprungs ist als z.B. Schlagermusik, ließe sich trotz der angesprochenen genealogischen Linie sicherlich kontrovers diskutieren. Vor allem aber verbindet sich die Rede von »urban music«, »urban culture«, »urban fashion« und »urban populations« auch wieder, man ist versucht zu sagen »natürlich«, mit den »urbanen Paniken«, den aufgeregten Sicherheits- oder besser Unsicherheitsdiskursen, der Angst vor den »gefährlichen Klassen« in den Städten, die das Urbane als Angstraum imaginieren.38 Das gilt im US-amerikanischen Zusammenhang vor allem angesichts der Konnotationen von »urban« mit rassialisierten Krisen und Problemen.39 Hier wäre offenkundig noch einiges differenzierter zu betrachten; die bisherigen Überlegungen sollten aber zumindest exemplarisch zeigen, inwiefern solche Wortverwendungen dazu beitragen, das Wort »urban« und das »UrbanSein« mit einer Gemengelage von ästhetischen, sozialen und ethnischen Konnotationen anzureichern, in die sich verschiedene verräumlichte Ungleichheitsverhältnisse eingeschrieben haben, auch im Deutschen. Die eher positiven Konnotationen, einschließlich der symbolischen Umwertung bzw. Charismatisierung innerstädtischer Marginalität40 scheinen in Deutschland aber sogar noch stärker als im Englischen. In diesen Zusammenhang – den des dritten und des vierten Schlaglichts, vielleicht auch des ersten – passt auch, dass sich 2017 in Deutschland eine kleine Partei gegründet hat, die sich als die deutsche HipHop-Partei versteht, »HipHop-Werte« hochhält – »Repräsentanz, Identifikation, Teilhabe, individuelle Selbstentfaltung, kreativer Wettstreit und Machtkritik« – und als Parteibezeichnung Die Urbane gewählt hat (Die Anhänger der Partei werden im Parteiblog und in Anschreiben als »Urbanizzies« angesprochen). Diese Schlaglichter zeigen insgesamt, dass die Bedeutungen, die sich in der gegenwärtigen politischen und populärkulturellen Kommunikation am Wort »urban« und an den damit verbunden Vorstellungen festmachen, und die in verschiedenen

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Ebd. Tsianos, Vassilis: »Urbane Paniken. Zur Entstehung des antimuslimischen Urbanismus«, in: Duygu Gürsel/Zülfukar Çetin/Allmende e.V. (Hg.), Wer macht Demokratie? Kritische Beiträge zu Migration und Machtverhältnissen, Münster: edition assemblage 2013, S. 23-43. Sugrue, Thomas J.: The Origins of the Urban Crisis: Race and Inequality in Postwar Detroit, Princeton: Princeton University Press 2014. M. Ege: ›Ein Proll mit Klasse‹.

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Verwendungen mitschwingen können, weit über die Wörterbucheinträge hinausgehen. Jenseits aller genaueren inhaltlichen Bestimmungen lässt sich auch festhalten, dass vom Urbanen häufig mit einer starken Emphase gesprochen wird. Viele Verwendungen des Wortes »urban« sind also nicht einfach zuordnend, sie sind mit positiven oder negativen Wertungen und mit normativen Ansprüchen verbunden. Urban zu sein ist, zumindest in einigen Strängen dieses Diskurses, tendenziell erstrebenswert und es ist auch eine gewisse Leistung oder auch so etwas wie eine Chance. Offenkundig beschreiben dabei weder das schmeichelhafte kosmopolitische Selbstbild vom »Urban sein« in seinen verschiedenen Spielarten noch das polemische, populistisch-großstadtkritische Fremdbild vom elitären Städter noch das apokalyptische Bild urbaner Krisenräume oder die emphatische Beschwörung minoritär-urbaner Populärkultur einfach so die Wirklichkeit. Alle verweisen aber auf Aspekte oder Potenziale städtischen Lebens und können sich, wie derzeit in besonderem Maße sichtbar wird, mit größeren politischen Vorhaben/Projekten verbinden. Vor diesem Hintergrund geht der nächste Abschnitt der Frage nach, inwiefern in der ethnografischen Stadtforschung selbst solche emphatischen oder normativen Urbanitätsvorstellungen und -konzepte enthalten sind – und was die ethnografische Stadtforschung zu letzteren möglicherweise beigetragen hat. Ich tue das nicht, weil ich solche emphatischen Urbanitätsverständnisse per se irgendwie skandalös oder falsch fände. Mir geht es auch nicht darum, eine feinsäuberliche Trennung zwischen nüchternen wissenschaftlichen Begriffen auf der einen und wertenden, politischen oder populären Begriffen auf der anderen Seite einzufordern, sondern vielmehr darum, einen Graubereich von deskriptiven und normativen Aussagen im Sprechen über das Urbane, die Urbanität und das »Urban-Sein« genauer auszuleuchten. Damit möchte ich gewissermaßen zur Selbstaufklärung beitragen, zur gesellschaftlichen und insbesondere der kulturwissenschaftlichen Selbstaufklärung über unsere mehr oder weniger unbewusste Normativität. Das Ziel ist nicht, diese normative Ebene abzuschaffen, sondern sie explizit zu machen, sie genauer zu durchdenken und damit einerseits zu entschärfen und andererseits, wo angebracht, möglicherweise auch zuzuspitzen.

Urbanität als Lebensweise »Urban-Sein« in der (klassischen) ethnographischen Stadtforschung Also: Was heißt »urban sein«? Ich habe mit diesen kulturanalytischen Schlaglichtern begonnen, aber im Unterschied zu den meisten literaturwissenschaftlichen oder auch im engeren Sinne geisteswissenschaftlichen Disziplinen sucht die ethnografische Stadtforschung die Antwort auf solche Fragen eigentlich nicht in erster

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Linie bei den kulturellen Repräsentationen, sondern versucht, das Städtische oder Urbane als eine Gemengelage von Mustern sozialer Beziehungen zu begreifen, die sich institutionell und räumlich strukturieren, wobei dabei zunehmend auch (wieder) die Materialität des Städtischen und städtischer Infrastrukturen in den Blick gerät.41 »Ethnografie« bezeichnet eine Art von qualitativ-sozialwissenschaftlicher Forschung, die auf teilnehmender Beobachtung beruht, auf dem Forschen in den Alltagen der Forschungspartnerinnen und Forschungspartner, was eine längere Phase körperlicher Präsenz voraussetzt. »Ethnografie« ist aber auch so etwas wie eine Gattung wissenschaftlicher Texte, die aus dieser Forschungstechnik und einer Forschungshaltung, die tendenziell akteurszentriert ist, hervorgehen.42 Diese Forschungstechnik entstand in erster Linie in der Ethnologie des frühen 20. Jahrhunderts, die sich lange Zeit vor allem mit nichteuropäischen, als vormodern und traditional verstandenen Gesellschaften beschäftigte, und die Städte eher als Gefahren für das vermeintlich authentische »folk life« dieser Gesellschaften auffasste. Sie war zunächst nicht auf Städte fokussiert. Die ethnografische Stadtforschung im engeren Sinne beginnt deshalb nicht in der Ethnologie, sondern in der Soziologie der 1920er Jahre. Sie hat aber auch einen gewissen Vorlauf in der beobachtungsbasierten soziologischen Theorie, insbesondere in Georg Simmels folgenreichem, wohlbekanntem Aufsatz über die Großstädte und das Geistesleben aus dem Jahre 1903, der das Forschungsinteresse der frühen Stadtethnografie am Städtischen und am »Urban-Sein« prägte.43 Für Simmel (der an der geschäftigen Berliner Friedrichstraße wohnte) führen die vielen Reize, die im großstädtischen Alltagsleben auf die Stadtbewohnerinnen und -bewohner einwirken, einerseits zu einer kollektiven Abwehrhaltung, der »Blasiertheit« der Großstadtmenschen, wie er es nennt. Sie halten ihre Mitmenschen auf Abstand und begegnen ihnen, weil ihr »Nervenapparat« angesichts der schieren Vielzahl von Mitmenschen überfordert wäre, sachlich und intellektuell gefiltert, reserviert, vielleicht sogar berechnend, kühl, eben »blasiert«, »indifferent«, nicht mit der »Gemütshaftigkeit« des Kleinstädters. Städtische Begegnungen, so zunächst einmal Simmels Feststellung, sind meist anonym,

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Vgl. Blok, Anders/Farias, Ignacio (Hg): Urban Cosmopolitics: Agencements, Assemblies, Atmospheres. Questioning Cities, London/New York: Routledge 2016. Vgl. die Texte in Low, Setha M. (Hg.): Theorizing the City: The New Urban Anthropology Reader, New Brunswick, N.J: Rutgers University Press 1999; Ocejo, Richard E. (Hg.): Ethnography and the City: Readings on Doing Urban Fieldwork, New York: Routledge 2013; Duneier, Mitchell (Hg.): The Urban Ethnography Reader, New York: Oxford University Press 2014; Schwanhäußer, Anja: Kosmonauten des Underground: Ethnografie einer Berliner Szene, Frankfurt, a. M./New York: Campus 2010. Simmel, Georg: »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 116-131.

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oberflächlich, vorübergehend. Gerade die emotionale Reserviertheit und Indifferenz, die sich mit der Habitualisierung solcher Kontakte herausbildet, seien aber die Vorbedingung dafür, dass die Großstadtmenschen ein besonderes Maß und eine qualitativ neue Form von Individualität herausbilden und sich in neuer Art und Weise voneinander unterscheiden, differenzieren.44 Die Übermacht der vergegenständlichten, objektivierten, »kristallisierten« sozialen Verhältnisse im Allgemeinen, die dem und der Einzelnen in der Stadt begegnen, und an denen sich zunächst einmal nichts ändern lässt, und dazu die Freiheit von Vorschriften und sanktionierten Erwartungen an den Einzelnen durch einen verbindlichen, überschaubaren sozialen Kreis, führen zur verstärkten Spezialisierung und zur zunehmenden »Ausbildung persönlicher Sonderart« unter den Städterinnen und Städtern. Das Wesentliche der individuellen Freiheit bestehe darin, »daß die Besonderheit und Unvergleichbarkeit, die schließlich jede Natur irgendwo besitzt, in der Gestaltung des Lebens zum Ausdruck komme. […] erst unsere Unverwechselbarkeit mit anderen erweist, daß unsere Existenzart uns nicht von anderen aufgezwungen ist«.45 »Städtisch« oder auch »urban« zu sein, heißt für Simmel also nicht zuletzt, sich zu differenzieren, die eigene Freiheit zu nutzen, sich zu individualisieren, was sowohl sensuelle Vigilanz als auch emotionale Indifferenz voraussetzt, wie es Willy Hellpach zusammenfasste.46 Simmel betont, er wolle sich dieser Entwicklung menschlicher Subjektivität, bzw. – in seiner Sprache – des Geistes und des seelischen Daseins, nicht mit der »Attitüde des Richters« nähern, es sei nicht unsere Aufgabe, »anzuklagen oder zu verzeihen, sondern allein zu verstehen«,47 und gerade diese Haltung hebt ihn von vielen Zeitgenossen ab. Zugleich versieht er seine Städter-Figur mit einer gewissermaßen welthistorischen Bedeutung in der Entwicklung des »Geisteslebens«. Robert Ezra Park, der Simmel-Schüler, der die Chicago School of Sociology und damit die moderne soziologische wie auch ethnologische Stadtforschung begründete, schreibt 1925 in seinem programmatischen Aufsatz The City. Suggestions for the Study of Human Nature in the Urban Environment, die Stadt sei a state of mind, a body of customs and traditions, and of the organized attitudes and sentiments that inher in these customs and are transmitted with this tradition. The city is not, in other words, merely a physical mechanism and an artificial

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Lindner, Rolf: »Georg Simmel, die Großstadt und das Geistesleben«, in: Harald Mieg/Astrid O. Sundsboe/Majken Bieniok (Hg.), Georg Simmel und die aktuelle Stadtforschung, Wiesbaden: VS 2011, S. 29-37. G. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, S. 131. Hellpach, Willy: Mensch und Volk der Großstadt, Stuttgart: Enke 1952. G. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, S. 127.

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construction. It is involved in the vital processes of the people who compose it; it is a product of nature, and particularly of human nature.48 Rolf Lindner, auf dessen Argumentation ich mich hier stütze, hat in seinen Büchern zur Geschichte der Stadtforschung gezeigt, wie Park und die Chicago School die Simmel’sche Programmatik in der Midwest-Metropole in empirische Forschungsvorhaben überführten und damit rekontextualisierten und veränderten.49 Park, ein ehemaliger Journalist, schickte seine Studierenden an die unterschiedlichsten städtischen Orte, in die unterschiedlichsten städtischen Milieus, um sich vor Ort mit den Lebensweisen von Berufsgruppen und Einwanderer-Communities vertraut zu machen, »go get the seat of your pants dirty with some real research«, soll sein Standardspruch gewesen sein. Daraus entstanden zwischen 1917 und 1940 ungefähr 40 Bücher – über die »Gold Coast and the Slum«,50 den »Hobo«,51 »The TaxiDance Hall«,52 das jüdische Ghetto,53 die »Black Metropolis«54 und viele weitere Gegenstände. Über Parks methodologischen Naturalismus und die theoretischen Eigenheiten seines verhaltensökologischen Programms wäre viel zu sagen, an dieser Stelle seien nur einige Aspekte seines Verständnisses des »Urban-Seins« herausgestellt. Anstelle der »Primärbeziehungen« (Familie, Gemeinschaft, »ganzheitlich« und affektiv-körperlich) sind es für ihn vor allem »Sekundärbeziehungen«, die die städtische Sozialität dominieren: Beziehungen zwischen Funktions- und Rollenträgerinnen und -trägern, zwischen Angestellten und Kundinnen und Kunden, zwischen Schaffnerin bzw. Schaffner und Fahrgästen, nicht zwischen Menschen, die einander, ihre jeweiligen Zugehörigkeiten und Biografien usw. wirklich kennen würden. Dabei betont er zum einen die räumliche Seite der Differenzierungsprozesse, die Simmel beschrieben hatte, und zum anderen die soziale Seite der Individualisierungsprozesse. So bilden sich in Städten in einem quasi-natürlichen Prozess Nachbarschaften oder Gegenden heraus, räumliche Gebilde, in denen bestimmte Lebensweisen und Orientierungen gewissermaßen florieren. Zugleich

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R.E. Park: »The City«, S. 1. Lindner, Rolf: Die Entdeckung der Stadtkultur: Soziologie aus der Erfahrung der Reportage. Frankfurt a.M.: Campus-Verlag 2007.; Lindner, Rolf: Walks on the wild side: Eine Geschichte der Stadtforschung. Frankfurt a.M./New York: Campus 2004. Zorbaugh, Harvey Warren: The Gold Coast and the Slum: A Sociological Study of Chicago’s near North Side. Midway repr. Chicago: University of Chicago Press 1983. Anderson, Nels: The Hobo. The Sociology of the Homeless Man. Chicago: University of Chicago Press 1923. Cressey, Paul: The Taxi-Dance Hall: A Sociological Study in Commercialized Recreation and City Life. Chicago: University of Chicago Press 2018. Wirth, Louis: The Ghetto, Chicago: University of Chicago Press 1928. Drake, St Clair/Cayton, Horace R.: Black Metropolis: A Study of Negro Life in a Northern City, Chicago/London: The University of Chicago Press 2015.

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geht die angesprochene Differenzierung auch mit einer Herausbildung von Berufstypen einher, die zugleich so etwas wie städtische Sozialfiguren sind. Zwar gibt es ähnliche Berufe auch in Kleinstädten, aber diese Typen verkörpern in ihrer spezifischen Gestalt doch die Besonderheiten des Städtischen: The shopgirl, the policeman, the peddler, the cabman, the nightwatchman, the clairvoyant, the vaudeville performer, the quack doctor, the bartender, the ward boss, the strikebreaker, the labor agitator, the school teacher, the reporter, the stockbroker, the pawnbroker; all of these are characteristic products of the conditions of city life; each, with its special experience, insight, and point of view determines for each vocational group and for the city as a whole its individuality.55 Was das im Einzelnen heißt, führen die Studien der Chicago School vor Augen. Sie zeigen, wie fremd, und zugleich verständlich und erklärbar dasjenige sein kann, was sich in unmittelbarer räumlicher Nähe befindet. Damit werden die Stadtethnografin oder der Stadtethnograf (zu dieser Zeit allerdings eher letzterer), ähnlich der Reporterin und dem Reporter, die sich gleichermaßen, so Lindner, mit einer gewissen Sensibilität, aber auch großer emotionaler Distanz und mit einem Willen zum Verstehen, nicht zum Beurteilen, ihren Gegenständen nähern, in gewisser Weise selbst zur urbanen Figur, zur Figur der Urbanität in einem emphatischen Sinn: zum einen, weil er/sie sich durch die Stadt und unter unterschiedlichen Menschen zu bewegen versteht, und zum anderen, weil er/sie das in jenem Modus »sensueller Vigilanz und emotionaler Indifferenz«56 betreibt, tendenziell auch im Modus der »kühlen« moralischen Indifferenz, nicht des reformerischen Eifers. Die Chicago School untersuchte also die unterschiedlichen Typen und Milieus, sie versuchte aber auch, die Stadt und das städtische Leben in einem weitergehenden, zusammenhängenden Sinn zu verstehen. Denn die Stadt mag ein »Mosaik kleiner Welten« (Park) sein, diese kleinen Welten und die Menschen in ihnen sind aber nicht notwendigerweise voneinander isoliert, sondern sie stehen miteinander in Verbindung und sie entfalten so etwas wie Wechselwirkungen. Städte sind geprägt, so fasste Parks Student und Kollege Louis Wirth es 1938 zusammen, von einer gewissen Größe, von einer bestimmten Dichte, und von sozialer Heterogenität. So lässt sich das Städtische insgesamt definieren. Wirth beschreibt »Urbanism« in erster Linie als Lebensweise, als »way of life«57 unter städtischen Bedingungen. Urban zu leben, urban zu sein, heißt dann, so Wirths Simmel-Park-Synthese, mit den aus Größe, Dichte und Heterogenität der Stadt resultierenden Anforderungen und Möglichkeiten umzugehen. Das bedeutet auch – für die Geschichte moderner Subjektivitäten eine entscheidende Entwicklung – soziale Beziehungen im Sinne

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R.E. Park: »The City«, S. 14. W, Hellpach: Mensch und Volk der Großstadt. L. Wirth: »Urbanism as a Way of Life«.

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»segmentierter« oder »segmentärer« Rollen zu organisieren, nicht als »ganzheitlicher Mensch«. Wie Richard Sennett einige Jahrzehnte später zusammenfasst, werden in den Texten der Chicago School und vor allem bei Wirth in besonderer Weise die »Vorzüge des fragmentierten Selbst« hervorgehoben: In dieser Auffassung von der Stadt sind also nicht, wie für die Aufklärung, Einheit und Kohärenz die Mittel zur Entwicklung des Selbst – die Entwicklung des Selbst gründet vielmehr in einer immer komplexeren, fragmentierten Erfahrung der Außenwelt.58 Die Vielzahl von Interaktionen und Begegnungen, die Tendenz zur Mobilität, die der idealtypischen städtischen Existenz innewohnen, sorgen für eine komplexe räumlich-soziale Struktur, und die führe wiederum zu einer generelleren Toleranz für Instabilität, Unsicherheit und Kontingenz im Allgemeinen59 – und zur »sophistication« sowie zum »cosmopolitanism of the urbanite«.60 Gerade weil »the urbanite« sich gezwungenermaßen in unterschiedlichen sozialen Kreisen bewegt, weil er oder sie zu unterschiedlichen Gruppen gehört, ihnen zugeordnet wird und sich ihnen zuordnet, und in diesen Gruppen jeweils unterschiedliche Rollen spielt, oder spielen kann, gerade deshalb bildet er so etwas wie einen kosmopolitischen urbanen Habitus heraus. Auch aus solchen stadttheoretischen Überlegungen entstehen also wirkmächtige Figuren von emphatischer Urbanität, die in populäreren Wortverständnissen, wie sie in diesem Text eingangs erwähnt wurden, widerhallen – wobei auch Wirth so etwas wie Schattenseiten jenes urbanen Habitus erwähnt, durchaus im Sinne der zeitgenössischen Großstadtskepsis und Kulturkritik: die Tendenz zur Anomie und zur Manipulierbarkeit; auch werde die Tendenz zur Herausbildung von Individualität konterkariert durch eine Tendenz zur »kategorialen«, depersonalisierenden Sortierung der Zeitgenossen auf der Grundlage visueller Zeichen. Damit habe ich einige klassische stadtsoziologische Positionen, die aus der Stadtethnografie hervorgegangen sind, und in denen das Städtische auf emphatische Weise bestimmt wird, kurz vorgestellt. So einflussreich diese Überlegungen auch weiterhin sind, so ist sich die stadtethnografische Forschung doch weithin einig, dass wir an diesem so idealtypischen wie heroischen Bild des »Urban-Seins« letztlich nicht festhalten können, zumindest nicht in dieser Allgemeinheit. Das liegt zunächst einmal schlicht daran, dass diese Beschreibungen für viele, vielleicht sogar die meisten städtischen Existenzweisen nicht oder nur sehr eingeschränkt zutreffen, wie die Forschung seit den 1950er Jahren gezeigt hat; viele Großstadtbewohnerinnen und -bewohner pflegen Lebensstile und zeichnen sich durch Habitus

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R. Sennett: Civitas, S. 167. L. Wirth: »Urbanism as a Way of Life«, S. 16. Ebd.

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aus, die eher jenen der (karikierten) gemütsvollen Kleinstädter Simmels ähneln als dem »blasierten« Kosmopoliten.61 Innere Innenstadt, darum herum liegende Gebiete und Vorstädte unterscheiden sich ebenfalls. »Überdies erklären wirtschaftliche Lage, kulturelle Merkmale, Lebensstadium und Häufigkeit des Wohnungswechsels diese Lebensform besser als Anzahl, Dichte und Heterogenität der Bevölkerung«,62 so Herbert Gans. Somit stellt sich die Frage, ob sich überhaupt allgemeinere Bestimmungen städtischer Lebensweise und von Potenzialen des Städtischen formulieren lassen. Ulf Hannerz, ein schwedischer Ethnologe/Sozialanthropologe, der unter anderem in Zentralafrika und den USA geforscht hat, schlug 1980 eine systematisierende Unterscheidung vor, die für die ethnografische Stadtforschung in der Folgezeit wegweisend blieb. Ihr lag letztlich genau diese Frage, ob sich das »Urban-Sein« überhaupt in einem allgemeinen Sinn fassen lasse, zugrunde. Hannerz typisierte verschiedene Arten und Weisen, die Stadt und urbanes Leben ethnografisch zu denken. So gebe es zum einen die »anthropology in the city«.63 Seit den 1940er Jahren hatte sich die ethnologische Stadtforschung vor allem den Nachbarschaften zugewandt, den Dörfern in der Stadt, insbesondere Einwanderervierteln in Nordamerika, die nicht wenige ihrer Bewohnerinnen und Bewohner eher selten verließen. Die Lebensweisen dieser Menschen entsprechen, wie auch Gans meinte, nicht dem Bild, das Simmel, Park und Wirth entwerfen, und auch sie sind Städterinnen und Städter. In dieser »Ethnologie in der Stadt«, die sich methodisch eng an der klassischen dörflichen Feldforschung orientiert, sei die Stadt der Ort, aber das Städtische letztlich nicht der Gegenstand der Forschung. Zum anderen gebe es aber auch eine »anthropology of the city«64 – eine Ethnologie der Stadt oder des städtischen Lebens, die sich nicht nur den kleinen Welten in der Stadt widmet, sondern auch den Zusammenhängen zwischen diesen kleinen Welten, den Menschen, die sich zwischen solchen Welten bewegen, und den Institutionen und Bewegungen und Medien, die jenseits solcher territorialen Einheiten funktionieren. Darüber hinaus lässt sich auch eine Ethnologie/Anthropologie »ganzer« Städte entwerfen.65 Im Unterschied zur Chicago School der 1930er und 1940er Jahre stand 61

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Gans, Herbert J.: »Urbanität und Suburbanität als Lebensformen: Eine Neubewertung von Definitionen«, in: Ulfert Herlyn (Hg.), Stadt- und Sozialstruktur. Arbeiten zur sozialen Segregation, Ghettobildung und Stadtplanung. Dreizehn Aufsätze, München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung 1972, S. 67-90.; R. Lindner: Walks on the wild side. Ebd. S. 80. Hannerz, Ulf: Exploring the City. Inquiries toward an Urban Anthropology, New York: Columbia University Press 1980, S. 106. Ebd. Vgl. Lindner, Rolf: »Textur, Imaginaire, Habitus«, in: Helmuth Berking/Martina Löw (Hg.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung, Frankfurt a.M./New York: Campus 2008, S. 83-94; Egger, Simone/Moser, Johannes: »Stadtansichten. Zugänge und Methoden einer urbanen Anthropologie«, in: Johannes Moser/Sabine Hess/Maria Schwertl (Hg.),

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Hannerz nun ein sehr viel größerer Fundus von Studien und Theorien zur Verfügung, bei denen er sich bedienen konnte. Sie kamen aus der Ethnologie, insbesondere der Manchester-Schule der Sozialanthropologie um Max Gluckman, die in Zentral- und Südafrika forschte, und aus der entstehenden ethnologischen Netzwerkforschung, aber auch aus der Soziologie (z.B. dem symbolischen Interaktionismus und den Community-Studien) und aus der Geografie. Hannerz griff aber auch auf eher feuilletonistisch-essayistische und literarische Texte mit emphatischem Stadtbezug zurück, z.B. Jonathan Rabans Überlegungen über die Plastizität der Stadt als »Soft City«, ihre Gestaltbarkeit durch gewissermaßen heroisch urbane Städterinnen und Städter.66 Wirths Theorie der Segmentierung übersetzte Hannerz in ein rollentheoretisches Vokabular, wie es die Soziologie dieser Zeit prägte. In diesem Sinn spricht er vom persönlichen »Rollenrepertoire«, das Stadtbewohnerinnen und -bewohner haben, über das sie verfügen, und vom »Rolleninventar«, das in einer Stadt insgesamt zur Verfügung steht bzw. geschaffen wird. Unterschiedliche Typen von Stadtbewohnerinnen und -bewohnern haben demnach unterschiedlich umfangreiche und diverse Rollenrepertoires, die verschiedene Bereiche städtischen Lebens berühren, aufgrund sozialer Merkmale bzw. Markierungen sind ihnen unterschiedliche Rollen zugänglich oder versperrt; unterschiedliche Städte können sich auch durch verschiedene Rollenrepertoires auszeichnen oder durch unterschiedliche Gewichtungen und Bewertungen verschiedener dieser Rollen. Simmel, Park und Wirth konzentrierten sich in ihren Programmschriften jedoch, so Hannerz᾽ kritische Analyse, über weite Strecken auf einen besonderen Bereich städtischen Lebens, nämlich den Verkehr, die tendenziell anonymen Begegnungen im öffentlichen Raum, und entwickelten ihr (implizites) Verständnis von Rollen in einem entsprechenden Sinn. Andere Bereiche, in denen Menschen jeweils Rollen verkörpern, anderen Menschen begegnen und meist auch Netzwerke von Bekanntschaft und gegenseitiger Verpflichtung bilden, waren dabei aber ins Hintertreffen geraten. Hannerz systematisiert diese Bereiche (»domains«) städtischen Lebens als »(1) Household and kinship, (2) provisioning, (3) recreation, (4) neighboring, and (5) traffic«.67 Im Unterschied zur klassischen ethnografischen Stadtsoziologie habe sich die klassische ethnologische Stadtforschung, die »anthropology in the city«, vor allem auf die Bereiche (1) und (4) konzentriert, auf Haus und Verwandtschaft sowie auf die Nachbarschaftsbeziehungen, bzw. auf Lebensweisen, bei denen all diese Bereiche sich in ihrer räumlichen Ausdehnung in starkem Maße überlappen – auf das Dorf in der Stadt, auf die »urban villagers«. Der Clou

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Europäisch-Ethnologisches Forschen. Neue Ansätze und Methoden. Berlin: Reimer 2013, S. 175-203; Wietschorke, Jens: »Anthropologie der Stadt: Konzepte und Perspektiven«, in: Harald A. Mieg/Christoph Heyl (Hg.), Stadt: Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: J.B. Metzler 2013, S. 202-221. Raban, Jonathan: Soft City, London: Hamilton 1974. U. Hannerz: Exploring the City, S. 102.

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von Hannerz᾽ Argumentation lautet nun, verkürzt gesagt, dass Menschen in ihrer städtischen Existenz diese Bereiche und die damit zusammenhängenden sozialen Beziehungsnetzwerke in unterschiedlicher Form zusammenfügen und sich in unterschiedlicher Form durch sie bewegen. In diesem Sinne gibt es verschiedene Modi städtischer Existenz, verschiedene Modi, urban zu sein, die sich aber mit einem gemeinsamen Vokabular beschreiben und analysieren lassen. Sie machen in unterschiedlicher Weise und auch in unterschiedlichem Maße von den Potenzialen der Stadt und des Städtischen Gebrauch und sind in diesem Sinn auch, das wäre zumindest meine Lesart, in unterschiedlichem Maße und unterschiedlicher Weise urban.68 Eine solche Lebensweise nennt er »Einkapselung«, encapsulation – das ist das Modell vieler »urban villagers«.69 Hier ist es vor allem ein solcher Bereich, in dem – netzwerkanalytisch gesprochen – »Ego« ein dichtes soziales Netzwerk herstellt. Darüber hinaus werden die Möglichkeiten der Stadt aber kaum ausgeschöpft. Auch diese Existenz ist urban – im Sinne des Park’schen Mosaiks kleiner Welten, allerdings weniger im Sinn des »heroisch«-modernistischen Modells von Urbanität wie bei Wirth. Es ist eine Lebensweise, die in unterschiedlichen Gruppen vorkommt, unter alten Menschen, unter jungen, unter Einwanderern, die in ihrer Community bleiben, und in Eliten. Eine weitere Option ist die »segregativity«, oder anders gesagt, das Doppelleben: »The individual engaged in segregativity … has two or more segments in his network which are kept well separated.«70 So können verschiedene, möglicherweise für inkompatibel befundene Rollen gelebt werden; die städtische Anonymität erleichtert diese Abschottung verschiedener Netzwerke eines Individuums, die der- oder diejenige, die ein solches Doppelleben führt, aufrechtzuerhalten versucht. Gewissermaßen der urbane Normalfall ist dagegen die »Integrativität«: One individual’s network is spread among domains without very strong tendencies to concentration in any one. Network segments related to roles may vary in size and density depending on the nature of the activities concerned, but if it were not for ego’s mode of management of his entire network, links between them would probably be few or non-existent. In this case, however, ego has no policy of network segregation.71

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Eine ähnliche Klassifikation, allerdings hinsichtlich des Verhältnisses von Stadt und Ethiken der Lebensführung, habe ich in einem Aufsatz auszuarbeiten versucht: M. Ege: »Urbane Ethiken und das Normative der Urbanität«. Gans, Herbert: The Urban Villagers. Group and Class in the Life of Italian-Americans, New York/London: The Free Press; Collier Macmillan 1982. U. Hannerz: Exploring the City, S. 258. Ebd., S. 259.

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Die Überlagerung verschiedener Beziehungstypen aus verschiedenen Bereichen, zum Beispiel eines Nachbarschafts- und eines Arbeitsverhältnisses, die Multiplexität, ist in diesem Modus urbanen Lebens möglich und gewissermaßen vorgesehen. Die letzte Variante in Hannerz᾽ Systematisierung lautet »Solitude«, »a mode of existence by and large without significant relationships«.72 Städtisches Leben kann auch Einsamkeit bedeuten; nicht umsonst ist der »Kampf gegen die Einsamkeit« inzwischen Teil der sozialpolitischen Agenda.73 Noch einmal zusammengefasst: »encapsulation« ist eine Form städtischer Existenz mit einer einzelnen, meist eher kleinräumlich organisierten Menge von relevanten sozialen Beziehungen, »segregativity one with more sets, kept apart; integrativity one with more sets, brought together.«74 Sowohl das Muster der Trennung von Netzwerken, »Segregativity«, als auch das der Überlappung und Integration, »integrativity«, nutzen die Größe und Heterogenität der Stadt. Segregativität erhält die Abstände zwischen Menschen und Tätigkeiten, Integrativität schleift sie eher ab. Hannerz᾽ Modell ist eines der wenigen, die sowohl das tatsächliche städtische Leben im Sinne eines Netzwerks von Netzwerken abzubilden als auch die spezifischen Potenziale von Städten im Blick zu behalten und zu zeigen versuchen, wie diese Potenziale in verschiedenen städtischen Lebensweisen, verschiedenen Weisen des »Urban-Seins«, tatsächlich verwirklicht werden – oder eben auch nicht. Menschen sind für einander in Städten zumindest theoretisch »zugänglich«. Meist sind im Laufe eines Lebens verschiedene solcher Muster am Werk; man lebt eine Zeitlang »segregativ«, dann »integrativ«, dann vielleicht eher solitär – oder »eingekapselt«. Gerade diese potenzielle Dynamik charakterisiert das Städtische: where there were once no relationships, new contacts could come into being; relationships between strangers could change shape, becoming closer and more personal with new content.[…] The general point is that accessibility makes possible a certain fluidity in the structure of relationships. […] On the basis of demography alone – but again it is a matter of demographic possibilism – the urban condition creates notable opportunities for achieved as opposed to ascribed social relationships.75 Aus diesen Beziehungen setzt sich das städtische Leben zusammen, sie bilden dessen Struktur, aber es bleibt, so Hannerz, eine in vieler Hinsicht »fluide« Struktur – aufgrund der Neu-Kombinierbarkeit sozialer Beziehungen und Netzwerke, weil anonyme Fremde zu Bekanntschaften, Verbündeten, Partnern, Kunden, Gleichgesinnten, Betrogenen und so weiter werden können. Gerade die Kontakte aus den 72 73 74 75

Ebd., S. 260. Muehlebach, Andrea: The Moral Neoliberal: Welfare and Citizenship in Italy, Chicago: University of Chicago Press 2012. U. Hannerz: Exploring the City, S. 260. Ebd. S. 113-114.

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einen Netzwerkteilen können sich in anderen Situationen als vorteilhaft erweisen, »the particularistic criterion of the fluid society is ›Haven’t I seen this person before?‹«76 Was das z.B. für musikbasierte Subkulturen bedeuten kann, wie dort die Fluidität und Plastizität des Sozialen in der Stadt genutzt wird, lässt sich in einschlägigen stadtethnografischen Studien nachlesen.77 All das formuliert Hannerz lange bevor die Rhetorik des »Networking« hegemonial wurde und offensichtlich auch vor digitalen sozialen Netzwerken und lokativen Medien, die ja zum einen ähnliche und alternative Möglichkeiten jenseits analoger Raumordnungen und räumlicher Begrenzungen eröffnen, und zum anderen den städtischen Raum überlagern und bereichern.78 Auch die heutige Sozialkapitalforschung79 baut auf solchen Überlegungen auf, meist aber ohne Hannerz᾽ Suche nach dem Urbanen in einem emphatischen Sinn fortzuführen. Theorien spätmoderner Sozialität wie Zygmunt Baumanns »Liquid Modernity« bedienen sich ähnlicher Bilder des flüssigen Aggregatzustandes – nun freilich von spätmoderner Sozialität überhaupt, nicht des städtischen Lebens.80 Sich in dieser »Fluidität« städtischen Lebens bewegen zu können – das ist, wie Lyn Lofland, eine Soziologin und Stadtethnografin, in ihrem Buch A World of Strangers. Order and Action in Urban Public Space aus dem Jahr 1973 schreibt, die Fähigkeit und das sind die »Abenteuer versierter Städterinnen und Städter«, »adventures of skilled urbanites«. Für diejenigen, die das richtige Wissen und die passenden Fähigkeiten haben, kann die Stadt ein »setting for adventure« sein, »a place to confront new and diverse people and situations; a place to try out new and diverse identities.«81 Gerade dieses ludische Element des Urbanen steht auch im Zentrum der utopischen Komponente der neomarxistischen Stadttheorie Henri Lefebvres82 (und der Künstlerinnen und Künstler der Situationistischen Internationalen, die hier zumindest kurz erwähnt sein sollen). Lofland skizziert diesen »skilled urbanite« als stereotype, meist männliche Figur, die sich in der Popkultur ebenso findet

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Ebd. S. 274. Vgl. A. Schwanhäußer: Kosmonauten des Underground. Vgl. z.B. Hjorth, Larissa/Pink, Sarah: »New Visualities and the Digital Wayfarer: Reconceptualizing Camera Phone Photography and Locative Media«, in: Mobile Media & Communication 2.1 (2014), S. 40-57; Ritter, Christian/Schönberger, Klaus: »›Sweeping the Globe‹: Appropriating Global Media Content Through Camera Phone Videos in Everyday Life«, in: Cultural Analysis 15.2 (2016), S. 58-81. Blokland-Potters, Talja/Savage, Michael (Hg.): Networked Urbanism: Social Capital in the City. Aldershot, England/Burlington, VT: Ashgate 2008. Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2016; Bauman, Zygmunt: City of Fears, City of Hopes. London: Goldsmith’s College 2003. Lofland, Lyn H.: A World of Strangers. Order and Action in Urban Public Space, New York: Basic Books 1973, S. 158. H. Lefebvre: La Révolution urbaine.

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wie in alltäglichen Erfahrungen und weitergegebenen Erzählungen, als »star scholar of city know-how«, als »city slicker« und Kosmopolit, der »street-wise« ist und sich mit größter Gelassenheit, emotionaler Distanz und eben praktischer Kompetenz durch die städtische Vielfalt zu bewegen versteht, überall zurechtkommt, überall Einblicke und Kontakte hat und zugleich den Eindruck, den andere sich von ihm machen, in gewisser Weise zu kontrollieren oder zu manipulieren versteht. Es sind vor allem fiktionale Figuren wie Privatdetektive, Anwälte, verdeckte Ermittler, Zeitungsreporter, die diesen Typus verkörpern. Emma Peel ist in dieser Zeit eine der wenigen einschlägigen Frauenfiguren. The urbane hero is, of course, a fiction. But to say that he [sic!] is a fiction is not quite the same as saying that he is unreal. If no actual human being is quite like him, there are, nevertheless, undoubtedly many human beings who approximate him or who emulate him or who admire him. He embodies the characteristics, the know-how, the command over his complex environment that many urbanites would like to possess, for he is the man who walks with ease through the world of strangers.83 Die Anonymität und Fremdheit der anderen Menschen in der Stadt ist für »skilled urbanites« also ein Potenzial, etwas, auf das es sich einzulassen gilt, das sich aber auch ausschöpfen und ausnutzen lässt. Auch gewöhnlichere Städterinnen und Städter, so Lofland, nutzen die Stadt immer wieder als ein Experimentierfeld oder einen Abenteuerspielplatz, für »identity games«, »interactional games« und für »games of deception« wie »passing, performing, pretending«. Das »Spielerische« hat hier einen ungemein weiten Sinn, der eher analytischen Charakter hat, als dass er nah an der Alltagssprache wäre. Für ein alltagssprachliches Verständnis passen sicherlich nicht alle Beispiele, die sie nennt, im gleichen Maße unter die Überschriften »Urban Fun: Unconventional ›Games‹« und »Urban Fun: Conventional Encounters«, das Betteln zum Beispiel, auch das »passing« (in Sachen »Rasse«, Ethnizität, Geschlecht/Sexualität, Religion usw.) mit seiner eigenen Geschichte. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass Lofland von den »urbane heroes« spricht und nicht nur von den »urban heroes«. Hier geht es um das »Urban-Sein« im emphatischen Sinn; im Deutschen wäre »urbane Helden« im aktuellen Sprachgebrauch vermutlich eine bessere Übersetzung als »städtische Helden«. Wo Hannerz die strukturelle Seite der fluiden Sozialität betont, die Netzwerke und das Netzwerk von Netzwerken, stellt Lofland jedenfalls die performative und situative Seite in den Vordergrund, und zugleich die ludische. Solchen Fähigkeiten der urbanen Gelassenheit und einem gewissermaßen hedonistischen Optimismus kommt in der »Welt der Fremden« auch hier eine gesellschaftliche Bedeutung zu, die weit über solche spielerischen Episoden hinausreicht. Urbane »Abgebrühtheit«, Unaufgeregtheit, Am83

L. Lofland: A World of Strangers, S. 160.

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biguitätstoleranz und die Bejahung von Heterogenität sind erstrebenswerte Ziele, gerade angesichts der umfassenden »urban crisis« dieser Zeit (also der 1960er und 1970er Jahre), der Krisen und Konflikte, der »race riots«, steigender Verbrechensraten, vernachlässigter segregierter Wohngebiete, »white flight« usw. resümiert Lofland: »To become not merely urban but urbane, this is an exacting task.«84

Abgesänge, Klagelieder und Kritiken der ethnografischen Stadtforschung In den Folgejahrzehnten und in der Gegenwart hat die ethnografische Stadtforschung tatsächlich häufig sehr viel stärker das Scheitern von Urbanität und damit die zunehmende Unmöglichkeit des »Urban-Seins« im emphatischen Sinn thematisiert. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür sind seit den 1970er Jahren die einflussreichen Schriften von Richard Sennett,85 Schüler u.a. von Hannah Arendt, die vor allem historisch argumentieren und ethnografisches Material und eigene Alltagsbeobachtungen mit »hoher Theorie« zusammenführen. Auf der einen Seite konstatiert Sennett die gegenseitige Abschottung sozialer Milieus und Einkommensgruppen bzw. Klassen, die Persistenz von Rassismus, die sicherheitstechnische Aufrüstung und Militarisierung von Städten wie New York City, auf der anderen Seite die konsumgesellschaftliche Standardisierung und die »Rekuperierung« städtischer Räume, die einer »wahren Urbanität« im Wege stehen. Von Urbanität ist also gerade in der Ära der Krise des Fordismus und des entstehenden Neoliberalismus, deren Beginn mit der Finanzkrise New York Citys Mitte der 1970er Jahre zusammenfällt, auffällig oft eher in der Tonlage von Abgesängen und Klageliedern die Rede, oder dann – vor allem in den 1980er Jahren – im Sinne einer kommerziellen Simulation, die auf den Ruinen einer »echten« Urbanität eine artifizielle errichtet.86 »Urban« ist hier tendenziell ein Krisenbegriff, auch wenn stadtethnografische Autorinnen und Autoren immer wieder die Würde des Lebens in urbanen Krisensituationen betonen.87 Der Befund ist also kompliziert: Einerseits ist in der Stadtforschung seit langer Zeit ständig in der einen oder anderen Weise von Urbanität und vom »Urban-Sein« die Rede, implizit und auch explizit. Die Stadtforschung hat diese Vorstellungen 84 85

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Ebd., S. 180. Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: die Tyrannei der Intimität [1977], Frankfurt a.M.: Fischer 2004; R. Sennett: Civitas; R. Sennett: Die offene Stadt: eine Ethik des Bauens und Bewohnens. H. Häußermann/W. Siebel: Neue Urbanität. Anderson, Elijah: Code of the Street: Decency, Violence, and the Moral Life of the Inner City. New York u.a.: Norton 1999; Duneier, Mitchell/Carter, Ovie/Hasan, Hakim: Sidewalk, New York: Farrar, Straus and Giroux 2000.

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nicht nur rezipiert, sondern mit geprägt. Andererseits lässt sich aber auch konstatieren, dass positive, emphatische Bezugnahmen auf das »Urban-Sein« und seine Potenziale in den letzten Jahrzehnten in vielen Fällen zunehmend skeptischer diskutiert wurden und werden, zumindest innerhalb jener Bereiche der interdisziplinären, eher sozialwissenschaftlich orientierten Stadtforschung, die sich im weiteren Sinne als einem kritischen Paradigma verpflichtet begreift. Insbesondere im Lager der neomarxistischen Stadtforschung, die sich in besonderem Maße auf Henri Lefebvre beruft, steht der Urbanitätsbegriff häufig tendenziell unter Ideologieverdacht, nicht zuletzt deshalb, weil er in so starkem Maße eine kulturelle, vielleicht sogar ästhetische Kategorie ist und weil das Sprechen über das »UrbanSein« nicht sofort zu einer Analyse der zentralen Ungleichheitsverhältnisse und ihrer strukturellen Ursachen überleitet, sondern vielleicht sogar von ihnen ablenkt. Dem wäre aber entgegen zu halten, dass sowohl bei Lefebvre selbst als auch bei Sennett (oder auch bei David Harvey oder Ida Susser) emphatische Urbanitätsbegriffe im Hintergrund der kritischen Gesellschaftsdiagnosen stehen. Auch diese materialistischen Autorinnen und Autoren messen die »schlechte« Wirklichkeit an emphatischen Begriffen des Urbanen, die einen Möglichkeitshorizont bilden, den zu vergessen ein politischer Fehler wäre. Autorinnen und Autoren der postkolonialen Theorie wie Jennifer Robinson wiederum kritisieren die klassischen Urbanitätstheorien, insbesondere die der Stadtsoziologie und der Stadtplanung für ihre eurozentrischen Vorannahmen und ihren impliziten normativen Charakter.88 In vielen Zusammenhängen haben letztere tatsächlich eine autoritäre Ausrichtung und sind in problematischer Weise normativ und normierend, wie Robinson kritisiert.89 Das gilt vor allem in modernisierungstheoretischen Zusammenhängen, wenn sich Ideale des »Urban-Seins« mit emphatischen Konzepten oder Dispositiven des Modernen, »Zivilisierten«, Zeitgenössischen und Europäischen verbinden. Damit ist eine fundamentale Kritik der emphatischen Rede vom »Urban-Sein« angesprochen, die in vielem von dem, was hier referiert wurde, präsent war, aber noch einmal explizit thematisiert werden sollte: Emphatische Urbanitätsverständnisse beziehen sich häufig affirmativ auf Lebensweisen privilegierter städtischer Gruppen, die so zur Norm werden, an der andere zu messen sind. Das ist in kolonialen Städten so (nicht aber z.B. in den Analysen der sozialanthropologischen 88

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Vgl. auch Amin, Ash/Graham, Stephen: »The Ordinary City«, in: Transactions of the Institute of British Geographers 22.4 (1997), S. 411-429; AbdouMaliq, Simone: »People as Infrastructure: Intersecting Fragments in Johannesburg«, in: Public Culture 16.3 (2004), S. 407429; Robinson, Jennifer: Ordinary Cities: Between Modernity and Development, London/New York: Routledge 2006; Schmidt-Lauber, Brigitta/Wolfmayr, Georg: »Doing City. Andere Urbanität und die Aushandlung von Stadt in alltäglichen Praktiken«, in: Zeitschrift für Volkskunde 112.2 (2016), S. 187-208; B. Schmidt-Lauber: »›Wir sind nie urban gewesen‹«. Die folgenden vier Absätze sind in leicht veränderter Form aus M. Ege: »Urbane Ethiken und das Normative der Urbanität« übernommen.

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Manchester-School), und insgesamt im Rahmen kolonialer und postkolonialer Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten, aber nicht nur dort. Einen Höhepunkt solcher Vorstellungen formulierte, um nur ein Beispiel zu nennen, das diese Normativität illustriert, der Soziologe Edgar Salin in einer folgenreichen Rede vor dem Deutschen Städtetag im Jahr 1960, die den bundesrepublikanischen Urbanitätsdiskurs der Folgejahrzehnte prägte: Urbanität vermochte ihm zufolge nur unter besonders günstigen historischen Bedingungen überhaupt zu entstehen, in der klassischen Antike (Rom, Athen) bedeute sie »Bildung«, »Wohlgebildetheit an Leib und Seele und Geist« und »fruchtbare Mitwirkung des Menschen als Poliswesen in seinem ihm und nur ihm eigenen politischen Raum«.90 Zeitgenossen könnten überhaupt nicht urban sein. In solchen Entwürfen des Urbanen entstehen zugleich – von der Ausgrenzung des räumlich nicht-urbanen einmal abgesehen – auch negative, stereotype Bilder unzureichender Urbanität, unzureichend urbaner Lebensweisen. Sie gehen mit Verachtung einher und können als Legitimation für Ungleichheiten bis hin zu Vertreibungen ungewünschter Gruppen aus städtischen Zentren dienen.91 Insgesamt gewinnt in vielen Ländern schon in den 1950er Jahren ein Argumentationsmuster an Bedeutung, in dem »Urbanität« (ein Wort, das sich im Deutschen erst zu dieser Zeit verbreitet) gewissermaßen eingeklagt wird: Urbanität als explizites Leitbild im Zusammenhang einer gesellschafts- oder kulturkritischen Defizitdiagnose. In der europäischen Nachkriegszeit folgt auf die Ära der Stadterneuerungen in vielen Ländern eine vielstimmige, laute Kritik an der unwirtlich-funktionalen Stadt, die normative Urbanitätsbegriffe und die Frage nach dem richtigen urbanen Leben der Folgejahrzehnte stark prägen sollte. In den USA steht Jane Jacobs mit ihrem Hohelied auf die Urbanität des Greenwich Village und die Interaktionsund Beobachtungsdichte auf dem Bürgersteig (»eyes upon the street«) für eine eher bürgerlich-liberale Linie emphatisch-normativer Urbanitätsvorstellungen mit anti-hegemonialem Gestus.92 Im westdeutschen Kontext sind für die mittleren 1960er Jahre neben Alexander Mitscherlich Autorinnen und Autoren wie Wolf Jobst Siedler und Elisabeth Niggemeyer zu nennen, deren Buch und Film Die gemordete Stadt die Frage der Urbanität besonders drastisch behandelten und über das »Verlöschen des eigentlich Städtischen« in Berlin klagten, ausgehend freilich vor allem von Fragen des Städtebaus.93 Der Fokus liegt in diesen Debatten meist eher auf der gebauten 90

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Salin, Edgar: »Urbanität«, in: Deutscher Städtetag (Hg.), Erneuerung unserer Städte. Vorträge, Aussprachen und Ergebnisse der 11. Hauptversammlung des Deutschen Städtetages, Stuttgart: Kohlhammer 1960, S. 9-34. Vgl. B. Binder: »Urbanität als ›Moving Metaphor‹«. Jacobs, Jane: The Death and Life of Great American Cities, New York: Vintage 1961. Mitscherlich, Alexander: Die Unwirtlichkeit unserer Städte: Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965; Siedler, Wolf Jobst/Niggemeyer, Elisabeth/Angreß, Gina: Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum, Berlin: Herbig 1964.

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Stadt und ihren Infrastrukturen als auf der gelebten Urbanität, der Lebensführung in der Stadt, bzw. wird letztere stark aus ersterer abgeleitet. Gerade auch die sozialdemokratische »Neue Kulturpolitik« in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren, die im Wesentlichen eine kommunal-städtische Kulturpolitik war, führte diesen Diskursstrang fort. Sie lässt sich in besonderem Maße als Geschichte normativer Urbanitätsbegriffe und emphatischer Bezüge auf die Bedingungen des »UrbanSeins« lesen. 1973 bekannte sich der Deutsche Städtetag zum Beispiel zu der These, der »Grad der Urbanität einer Stadt« könne daran abgelesen werden, in welchem Maße die Kulturpolitik die Aufgabe erfülle, die Stadt mit kulturellen Aktivitäten zu durchdringen; alle Städte müssten urbaner werden – so dass auch die Menschen urbaner werden können, so ließe sich ergänzen. Insgesamt verbanden sich in der postfaschistischen Bundesrepublik – offenbar sehr viel stärker, eindeutiger und utopischer als in den meisten anderen Kontexten – emphatisch-normative Vorstellungen des Städtischen mit quasi-eschatologischen Begriffen von Demokratie, Kultur und Bildung.94 Die Kernbegriffe dieses (dem eigenen Anspruch nach) emanzipatorischen Urbanitätsverständnisses lauteten »Kommunikation gegen Vereinzelung, Spielraum gegen die ›Zwänge des heutigen Lebens‹ und Herausforderung der Reflexion gegen »bloße Anpassung und oberflächliche Ablenkung«, wie Beate Binder zusammenfasst.95 Angestrebt wurden, explizit oder implizit angelehnt an Autoren wie Louis Wirth, »Dichte«, »Erlebnisvielfalt« und »Orte für spontane Kontakte mit unbekannten Menschen«. Im Bereich der städtischen Kulturpolitik und der Stadtentwicklung veränderten sich diese Urbanitätskonzepte im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre in Richtung städtischer »Erlebnisqualitäten« und »neuer Urbanität«, die der Wirtschaftsförderung dienen sollten, wie sich bei Autoren wie Hartmut Häußermann und Walter Siebel nachlesen lässt.96 Solche Dynamiken haben seitdem sicherlich nur an Bedeutung gewonnen – auch sie lassen sich an dieser Stelle aber nicht weiter vertiefen. Insgesamt bleibt angesichts dieser kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte dieser Klagelieder über verlorene Urbanität und deren versteckte Normativität festzuhalten, dass sich die Frage, was im »Urban-Sein« steckt, in einigen wichtigen Debattensträngen der soziologischen und ethnologischen Stadtforschung auf eine eher diskursanalytische Ebene verschoben hat: Von Interesse ist dann weniger das »Urban-Sein«, von Interesse sind die Implikationen und Machteffekte des Sprechens und Schreibens über das »Urban-Sein«. Das hat ohne Frage erhebliche analytische Reflexivitätsgewinne mit sich gebracht und dem Sprechen 94

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Ditt, Karl: »Die Kulturpolitik des Deutschen Städtetages 1947-2010«, in: ders./Cordula Obergassel (Hg.), Vom Bildungsideal zum Standortfaktor: Städtische Kultur und Kulturpolitik in der Bundesrepublik (= Forschungen zur Regionalgeschichte 72), Paderborn: Schöningh 2012, S. 335-370. B. Binder: »Urbanität als ›Moving Metaphor‹«, S. 56. H. Häußermann/W. Siebel: Neue Urbanität.

»Urban sein«

über das Urbane die Naivität genommen. Es passt auch zur strukturellen Reflexivität von urbaner Politik und kulturalisierter Ökonomie, die »das Urbane« auch als ästhetischen Wert zu produzieren versuchen. Die Schlaglichter im zweiten Teil dieses Beitrags haben ja illustriert, wie schwer das analytisch-wissenschaftliche Sprechen vom »Urban-Sein« heute von politischen und kommerziellen Verwicklungen zu trennen ist, und wie widersprüchlich und uneindeutig diese Verwicklungen und Assoziationen des »Urban-Seins« sind. Einige Hintergründe dieser Verwicklungen habe ich in der Folge aufzuzeigen oder zu entwirren versucht. Ich denke aber nicht, dass das Konstatieren solcher Verwicklungen und die kritische Analyse der Verwendung von emphatischen Urbanitätsbegriffen am Ende dieser Auseinandersetzung stehen sollten. Dazu bleibt die Frage, welche Potenziale das »Urban-Sein« weiterhin birgt und bergen kann, viel zu reizvoll und spannend. Sowohl innerhalb der ethnografischen Stadtforschung als auch in angrenzenden Bereichen von Kunst und sozialen Bewegungen werden solche Fragen immer wieder neu aufgeworfen – vom alltäglichen Leben »der Vielen« gar nicht erst zu reden.

Urbanes Charisma? Ein Ausblick Abschließend will ich auf ein jüngeres Beispiel eingehen, das die Aktualität dieser Problematik wie auch die Beziehungen zu den Klassikern der Stadtethnografie illustriert. Thomas Blom Hansen und Oskar Verkaaik, zwei niederländische Ethnologen, die vor allem in Südafrika arbeiten, haben 2009 einen Aufsatz über Urban Charisma veröffentlicht, in dem sie diese Fragen noch einmal neu stellen. Mit Blick auf die ethnografische Stadtforschung halten sie fest, dass in den Jahrzehnten zuvor zwar sehr viel über Städte, aber erstaunlich wenig über »the urban as a kind of sociality, a mental condition but also a way of being in the world«97 geschrieben wurde, ganz im Sinn der Diagnose im letzten Abschnitt. Sie sehen das als ein großes Defizit an, dem sie abhelfen wollen – durch einen neuen Fokus auf »urbanes Charisma«. Die populäre Kultur bringt, wie sie schreiben, das Urbane ständig mit hervor, Bilder des Städtischen machen einen wesentlichen Teil unserer visuellen Kultur und Konsumkultur aus. Zugleich finde sich in Filmen und in der Literatur zu solchen Fragen aktuell sehr viel mehr und auch Interessanteres, um die Dynamiken des »Urban-Seins« in Gegenwartsgesellschaften greifbar zu machen, als in der Ethnografie. Damit stellen sie der eigenen Disziplin kein gutes Zeugnis aus, betonen aber die Dringlichkeit ihres Anliegens. Blom Hansen und Verkaaik treffen dabei eine Unterscheidung, die in solchen argumentativen Zusammenhängen durchaus typisch ist: Sie unterscheiden zwischen westlichen Städten, in denen das 97

Blom Hansen, Thomas/Verkaaik, Oskar: »Introduction – Urban Charisma: On Everyday Mythologies in the City«, in: Critique of Anthropology 29.1 (2009), S. 12.

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Urbane weitgehend eingehegt und letztlich vorwiegend als Simulakrum existiere, durchaus im Sinn der zitierten Abgesänge und Klagelieder auf Urbanität in der Gesellschaft des Spektakels, und auf der anderen Seite postkolonialen Städten des globalen Südens, wie diejenigen, in denen sie vor allem forschen, in denen dem »Urban-Sein« ganz andere Bedeutungen zukommen. In den wohlhabenderen Teilen der Welt würde die »Seele der Stadt« immer wieder beschworen, um Lebensstile zu vermarkten und mit kommerziellen Mitteln kulturelle Identitäten zugänglich zu machen, die als urban gelten, vor allem mithilfe von Design, Kunst und Musik. Urbanes »Charisma«, verstanden als »the unique, or the vaguely magical power of presence, style, seduction and performance« sei hier ein »widely marketed and desired object of self-making, within the reach of those with sufficient skill and purchasing power«.98 Dabei würden fragwürdige, ideologische Mythen der ständigen Neuerfindung des bürgerlichen Selbst reproduziert – während gleichzeitig die tatsächlichen »popular neighborhoods« und ihre Bewohnerinnen und Bewohner an die Ränder der Stadt gedrängt werden. In so unterschiedlichen Städten des globalen Südens wie Nairobi, Kairo oder Mumbai finde dagegen ein sehr viel direkterer antagonistischer Kampf um Räume statt, ein »jockeying over space«, in dem das »urbane Charisma« so etwas wie eine materielle Gewalt sein kann.99 Das gilt ihnen zufolge vor allem in Städten, in denen zwischen kolonialen Stadtzentren oder Neustädten auf der einen Seite und informellen Siedlungen oder informell begonnenen Siedlungen auf der anderen Seite unterschieden werden muss. Durch letztere zieht sich etwas, das sie »urban infra-power« nennen, rhizomatische Netzwerke von Beziehungen, »a web of connections and structures of solidarity, fear, desire and affect that traverse communities and neighborhoods«.100 Diese Infra-Macht verkörpert sich ihren Beobachtungen zufolge in charismatischen »urbanen Typen« oder Figuren: Diese »urban specialists« können den »ordinary dwellers in slums and popular neighborhoods«101 aufgrund ihres Rufs, ihrer Fähigkeiten und ihrer Beziehungsnetzwerke die unterschiedlichsten Dienstleistungen und Wissensformen vermitteln. Die Formulierungen von Blom Hansen und Verkaaik verdienen es an dieser Stelle, ausführlicher zitiert zu werden: We may call these figures hustlers, big men, community workers, brokers or even gangsters. These figures are supposed to be in the know, supposed to have access to resources and knowledge that are not readily available to ordinary people. The magicality of these connections derives from their extra-local connections to centres of power – a gangster king, powerful elite figures, high-level politicians, high98 99 100 101

T. Blom Hansen/O. Verkaaik: »Introduction – Urban Charisma«, S. 6-7. Ebd. Ebd., S. 20. Ebd., S. 16.

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ranking bureaucrats, powerful religious institutions – sites and figures of an outside and radically different order, suffused with both benevolent and dangerous powers. The charisma of such figures is powered by a fantasmic surplus – rumours and circulating stories of certain deeds of these individuals, their past life and career and so on. These are semi-public lives akin to the classical images of the ritual specialist and the diviner whose powers derive from an invisible realm of the sacred and the dangerous. The full expanse and heterogeneity of the city can be read and interpreted through these figures.102 Auch diese Figuren sind, wie die Autoren zeigen, in gewisser Weise immer schon Medienfiguren, die zum Beispiel in Südafrika in Popsongs und Filmen mythisiert werden, sie sind aber auch sehr viel mehr als das, sie prägen das gelebte städtische Leben in seiner imaginären wie auch handlungspraktischen Dimension. Solche Formulierungen ähneln offenkundig in bemerkenswerter Weise den älteren Ausführungen von Robert Ezra Park oder Lyn Lofland über städtische »Typen« und den gekonnten, versierten Umgang mit den Potenzialen von Städten und den Potenzialen des Städtischen, sie geben ihnen aber auch eine neue Akzentuierung. Blom Hansen und Verkaaik schreiben ganz in diesem Sinn, dass diejenigen, die von sich behaupten, die »urban world« zu kennen und sie in gewisser Weise zu kontrollieren, damit auch Erzählungen über die Stadt prägen, die, an latente Potenziale städtischen Lebens anschließen: »[…] they are able to convert the opacity, impenetrability, historicity and latent possibilities of urban life into a resource in their own self-making.«103 In diesem Sinne nutzen sie das »charisma of the city«, um ihr eigenes »charisma in the city« zu füttern. Wir sind am Ende dieser Ausführungen also bei einer Neuauflage von Mythen des »Urban-Seins« angelangt, und erneut problematischerweise auch bei ausgesprochen männlichen Figuren von gewissermaßen heroischer Urbanität, nähern uns diesen Mythen mit Blom Hansen und Verkaaik aber nicht primär in kritischer Absicht, sondern eher mit einem Interesse daran, ihre Formen überhaupt erst einmal zu verstehen und die performative Wirksamkeit gerade der mythischen Anteile solcher Figuren nachzuvollziehen. Die »charismatischen« urbanen Figuren, von denen hier die Rede ist, sind offenkundig alles andere als harmlos. Sie sollten auch nicht naiv moralisch als gegenhegemonial-progressive Kraft »von unten« verstanden werden. Aber sie sind eben ein wichtiger Bestandteil der Städte, mit dem sozusagen zu rechnen ist, der das Funktionieren und Nicht-Funktionieren von Städten prägt. Und insofern, als sie die Potenziale des Städtischen zu nutzen verstehen, verdichtet sich in ihnen so etwas wie ein utopisches und zugleich dystopisches Moment, weil sie zeigen, was Menschen aus sich und in der Stadt machen

102 Ebd. 103 Ebd., S. 8.

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können. Die Rolle solcher urbanen Charismatikerinnen und Charismatiker mit der von Menschen, die in anderer Weise urban leben, abzugleichen, bleibt eine Herausforderung, wenn wir Städte besser verstehen wollen. Sind die Städte des globalen Südens in dieser Hinsicht nun wirklich als rundum andersartig einzuschätzen als diejenigen des globalen Nordens? Herrscht hier die vollständige Kommodifzierung, die Totalität einer Gesellschaft des Spektakels, und herrschen dort nur die personalisierte »infra-power« und das »urbane Charisma« solcher Figuren, die anderswo undenkbar sind? Und was heißt angesichts des heutigen, global dezentrierten Kapitalismus überhaupt »Norden« und »Süden«? Ich habe diese Fragen so formuliert, dass es schwer ist, sie zu bejahen oder schnell zu beantworten, weil ich denke, dass es sich lohnt, ihnen auch mit Blick auf hiesige Städte nachzugehen, mit allen Komplikationen, Abwägungen, Vermittlungen, die dafür notwendig sind.

Autorinnen und Autoren

Autsch, Sabiene, Prof. Dr., Professorin für Kunst/Kunstgeschichte und ihre Didaktik, Universität Paderborn Ege, Moritz, Prof. Dr., Professor für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universität Göttingen Greulich, Markus, Dr., bis 04/2019 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Paderborn Nitsch, Wolfram, Prof. Dr., Professor für Romanische Literaturwissenschaft, Universität zu Köln Oberthür, Simon, Dr., R&D Manager Digital Security, SICP/Universität Paderborn Öhlschläger, Claudia, Prof. Dr., Professorin für Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Universität Paderborn Ribbat, Christoph, Prof. Dr., Professor für Amerikanistische Literatur- und Kulturwissenschaft, Universität Paderborn Ruchatz, Jens, Prof. Dr., Professor für Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt audiovisuelle Transferprozesse, Philipps-Universität Marburg Schneider, Martin, Prof. Dr., Professor für Personalwirtschaft, Universität Paderborn Stoll, Mareike, Dr./PhD, Wissenschaftliche Referentin, weißensee kunsthochschule berlin/ Exzellenz-Cluster »Matters of Activity. Image Space Material«, Humboldt-Universität zu Berlin Utz, Peter, Prof. Dr., emeritierter Professor für neuere deutsche Literatur, Universität Lausanne/Schweiz van Loyen, Ulrich, Dr. Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Medienwissenschaftlichen Seminar, Universität Siegen Wilk, Nicole M., PD Dr., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Paderborn

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Maria Björkman (Hg.)

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Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf

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Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

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