Staatskultur im Wandel: Beiträge der 69. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung vom 14. bis 16. März 2001 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428509157, 9783428109159

Gibt es eine Staatskultur im Sinne einer Art des Tätigwerdens, einer eigenen spezifischen Erscheinungsweise bzw. der Sel

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Staatskultur im Wandel: Beiträge der 69. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung vom 14. bis 16. März 2001 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428509157, 9783428109159

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Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 150

Staatskultur im Wandel Beiträge der 69. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung vom 14. bis 16. März 2001 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Hermann Hill

Duncker & Humblot · Berlin

Staatskultur i m Wandel

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 150

Staatskultur im Wandel Beiträge der 69. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung vom 14. bis 16. März 2001 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Hermann Hill

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Staatskultur im Wandel : Beiträge der 69. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung vom 14. bis 16. März 2001 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer / Hrsg.: Hermann Hill. Berlin : Duncker und Humblot, 2002 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer ; Bd. 150) ISBN 3-428-10915-5

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 3-428-10915-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©

Vorwort

Seit der Ernennung des ersten Beauftragten der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien (BKM), Michael Naumann, im Herbst 1998 ist das spannungsvolle Thema „Staatskultur - Kulturstaat" wieder in den Mittelpunkt kulturpolitischer Diskussionen gerückt. Befürchtungen wurden laut, ein Bundeskulturminister oder Kulturbeauftragter führe zu einer Aufwertung der Bundeshiltuipolitik zulasten der Kulturpolitik der Länder und verstoße damit gegen die im Grundgesetz implizit verankerte Kulturkompetenz der Länder. Dabei habe sich der föderale Bundesstaat als „ideales Gehäuse für die Vielfalt der Kultur" bewährt 1. Diese kulturelle Vielfalt spiegelt sich auch im Begriff des Kulturföderalismus wider, der durch die deutsche Einheit nicht nur an Facettenreichtum gewonnen hat, sondern durch Art. 35 des EinigungsVertrages - Schutz und Förderung von Kultur und Kunst als Aufgabe der Länder und Kommunen entsprechend der Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes; lediglich übergangsweise Mitfinanzierung des Bundes von einzelnen kulturellen Maßnahmen und Einrichtungen zur Förderung der kulturellen Infrastruktur in den ostdeutschen Ländern - bestätigt wurde. Dennoch bleibt unklar, nach welchen Kriterien dieser Schutz und diese Förderung zuerkannt wurde und unter welchen Gesichtspunkten - gesamtdeutsche Tradition, regimekritische Haltung oder einfach nur Zufall? - DDR-Kultur in die neue Bundesrepublik transferiert wurde. Doch nicht nur bundespolitische Ereignisse, auch der Prozeß der Europäischen Integration hat zu einer Neubelebung des Themas Kulturstaat/Kulturnation beigetragen. Nach Art. 151 (ex-Art. 128) des EG-Vertrages trägt die Europäische Gemeinschaft zur Entfaltung und Förderung der mitgliedstaatlichen Kulturen unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt bei, um „tolerante Neugier auf die kulturellen Leistungen der Mitgliedstaaten zu wecken und zu pflegen" 2. In diesem Zusammenhang stellt sich zunächst die Frage, wie deutsche Kultur in den europäischen Kontext einzubringen ist: Sollte die Bundes» und Hauptstadtkultur ausschließlich nationale Kultur vertreten oder „ i m Gespräch mit Europa die föderale Struktur" betonen und sich hieraus profilie1

Peter Häberle, Kulturhoheit im Bundesstaat - Entwicklungen und Perspektiven, AÖR 124 (1999), S. 549 (S. 553). 2 Michael Naumann, Zentralismus schadet nicht, DIE ZEIT vom 2.11.2000, S. 59.

Vorwort

6

ren 3? Hinzu kommt die Suche nach einer die Kultur der Mitgliedstaaten integrierenden und übergreifenden europäischen Kultur: Nur die Summe nationaler Staatskulturen in Verbindung mit einer gemeinsamen europäischen Kultur sichert das Fundament des gemeinsamen europäischen Hauses. Derzeit befinden sich viele nationale Staats- und Regierungskonzepte im Umbruch. Das bislang vorherrschende Staatsverständnis des hierarchisch gegliederten, hoheitlich-handelnden Staates hat sich vor allem durch gesellschaftliche Veränderungen gewandelt. Erwartet wird der partnerschaftliche Staat, der gemeinsam mit Wirtschaft und Gesellschaft nach Lösungen sucht, im Zusammenspiel aller Akteure die gesetzten Ziele gemeinsam erreicht und staatliche Entscheidungen nachvollziehbar vorbereitet und verwirklicht 4 . Dieses Verständnis vom aktivierenden Staat zeigt auch Auswirkungen auf die Kultur von Staat und Verwaltung und auf ihre Vertreter: Ein auf Zusammenarbeit gründendes Verhältnis von Staat und Gesellschaft drückt sich nicht nur in der Aufgabenverteilung, sondern auch in der persönlichen Begegnung aus. Der Bürger sucht in Politik und Verwaltung nicht den bürokratischen Staatsbeamten, sondern einen Partner für die Lösung seiner Probleme, dem er gleichberechtigt gegenübertritt. Diese Bürgerorientierung in der Verwaltung setzt sich fort in der persönlichen oder medial inszenierten Präsenz politischer Entscheidungsträger: Der,»Kanzler zum Anfassen" oder der „Medienkanzler" unterstreichen das Bild einer kooperativen Staatsfuhrung und partnerschaftlichen Verwaltungskultur. Von daher gab auch die Entwicklung zur Informations- und Mediengesellschaft, zur Freizeit- und Spaßgesellschaft der Diskussion um Kultur im allgemeinen und um den Kulturbegriff im besonderen eine neue Richtung. Die neuen Medien, vor allem das Internet, stellen völlig andere Anforderungen an traditionelle Kulturtechniken. Werden Staatskultur und staatstragende Symbole bislang eher hoheitlich-herrschaftlich verstanden - im Zeitalter von Medienpräsenz und Marketing künftig durch Corporate Design und mediale Inszenierung abgelöst? Was unterscheidet die Kultur einer Online-Verwaltung von einer traditionellen Behördenkultur? Stellt das klassische Theater noch eine attraktive Alternative zur Eventkultur als „Triumph der Massenkultur" 5 dar; sind Klassikinterpretationen international berühmter Orchester hinsichtlich ihres kulturellen Gehaltes aktueller Rock-, Techno- oder Hip-Hop-Musik gleichzusetzen?6 Auch erscheinen etwa Möglichkeiten der Stiftung Lesen, ihrem Auf-

3

Häberle, Kulturhoheit im Bundesstaat, S. 573. Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Moderner Staat - Moderne Verwaltung. Das Programm der Bundesregierung, Berlin 1999. 5 Horst Opaschowski, Jugend im Zeitalter der Eventkultur, Aus Politik und Zeitgeschichte Β 12/2000, S. 17 (S. 21). 6 Julian Nida-Rümelin, Perspektive 2000, Kulturpolitische Mitteilungen 89, 11/2000, S. 24 (S. 26). 4

Vorwort

trag gemäß das Lesen in der Medienkultur zu stärken, vor dem Hintergrund der Informationsflut im multimedialen Zeitalter begrenzt. Mit diesen und weiteren Fragen um das Thema „Staatskultur im Wandel" befaßte sich die 69. Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften vom 12. bis 14. März 2001. Die Referate und die Podiumsdiskussion der Tagung, die sich mit dem Kulturthema den „weichen" Faktoren von Staat und Gesellschaft, Politik und Verwaltung näherte, werden im vorliegenden Band veröffentlicht. An dieser Stelle sei insbesondere den Referenten der Tagung gedankt, die in ihren Beiträgen die Breite des Themas Kultur - Staatskultur - Kulturstaat reflektiert und dokumentiert haben, sowie dem Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme des Bandes in die Schriftenreihe der Hochschule. Danken möchte ich auch dem Haus der Geschichte in Bonn, das uns anläßlich der Tagung die Ausstellung „Deutschlandbilder - Das vereinigte Deutschland in der Karikatur des Auslands" leihweise zur Verfügung gestellt hat, sowie Herrn Thomas Mank, Berlin, der im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung eine Einführung in die Ausstellung gegeben hat. Frau Monika John-Koch hat wie immer mit großem Einsatz in sorgfältiger Weise die Redaktion des Tagungsbandes übernommen. Ihr gebührt mein besonderer Dank.

Speyer, im Dezember 2001

Hermann Hill

Inhaltsverzeichnis

Staatskultur - Kulturstaat Von Max-Emanuel Geis

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Kulturstaat - Staatskultur Von Oliver Scheytt

27

Staatssymbole/Staatszeremoniell Von Jürgen Hartmann

39

Bauten, die Staat machen - Bauten der Bundesrepublik Deutschland in Berlin Von Florian Mausbach

53

Auftritt und Erscheinungsbild der Bundesregierung Von Peter Ruhenstroth-Bauer

77

Politikinszenierung in der Mediengesellschaft Von Hans Mathias Kepplinger

89

Staats- und Verwaltungsmodernisierung in der Informationsgesellschaft Von Gerhard Schindler

109

Stadtkultur Von Raimund Bartella

119

Kulturarbeit im ländlichen Raum zur Stärkung des Kreisbewusstseins Von Hans-Günter Henne/ce

127

Von den Schwierigkeiten der Integration von Staatskultur der DDR Von Herbert Schirmer

149

10

Inhaltsverzeichnis

Gemeinsame europäische Verwaltungskultur? Von Reinhard Priebe

159

Corporate Identity und Stadt-Design Von Nikolaus Münster

173

Netzkultur Von Peter Weibel

183

Jugendkultur - Gegenkulturelles Ereignis oder staatstragender Event? Von Eike Hebecker

191

Fragen an die Kultur im 21. Jahrhundert Von Hermann Glaser

201

Podiumsdiskussion: Kultur im Bundesstaat - Vielfalt oder nationale Einheit?

Autorenverzeichnis.

207

227

Staatskultur - Kulturstaat Von Max-Emanuel Geis I. Begriffliches 1. Zur Dialektik von Kultur und Staat Die Dialektik von Staat und Kultur hat seit jeher eine anregende Basis für Erörterungen philosophischer, historischer und juristischer Art abgegeben. Eine der bekanntesten Darstellungen ist die „Potenzenlehre" des berühmten Basler Historikers Jacob Burckhardt , in der er die wechselseitigen Verflechtungen und Bedingtheiten von Staat, Kultur und - als dritte Potenz - der Religion aufzeigt 1. So gehört es zum Gemeingut kulturhistorischer Erkenntnisse, dass der Staat selbst eine Manifestation der Kultur ist, ebenso wie man sich weitgehend einig ist, dass das Blühen und Wachsen einer Kultur regelmäßig des staatlichen Schutzes bedarf. So war auch die verbale Verknüpfung von ,»Kultur" und „Staat" im Kulturstaatsbegriff fast zwangsläufig. Freilich ist sein Inhalt entscheidend davon abhängig, wie man seine Bestandteile definiert: Für den Begriff des Staates mag dies noch vergleichsweise einfach sein, für den Bereich der Kultur ist es schon sehr viel schwieriger, gibt es doch eine breite Palette von Kulturbegriffen. Grob gesehen, gibt es zwei Gruppen von Kulturdefinitionen: enge und weite. Die engen sind meist mehr oder weniger idealistisch geprägt: Sie verstehen Kultur als Inbegriff des Wahren, Guten und Schönen oder wenigstens als gegenüber anderen Lebensbereichen abgegrenzte Sektoren, in denen anders als in der Wirtschaft das Geistige, das Wertbezogene regiert. Ein anderes, aber immer noch enges Verständnis fasst unter dem Oberbegriff Kultur die Bereiche Kunst, Bildung und Wissenschaft zusammen2. Staat und Kultur sind danach also zwei verschiedene „Reiche", die sich allerdings partiell überschneiden können eben im Kulturstaat. Die weiten Definitionen kommen aus der soziologischen oder anthropologischen Ecke und ordnen praktisch alle Manifestationen, in denen der Mensch 1 Jacob Burckhardt , Weltgeschichtliche Betrachtungen (1870), Ausgabe Kröner, Stuttgart 1978, S. 81 ff. 2 Grdl. Thomas Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, Tübingen 1969.

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Max-Emanuel Geis

seine gestaltenden Hände im Spiel hat, dem Kulturbegriff unter. So lautet etwa die exemplarische Definition von Mühlmann im „Wörterbuch der Soziologie", Kultur sei „die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung, einschließlich der sie tragenden Geistesverfassung, insbesondere der Wert-Einstellungen" 3. Nach einer so weiten Definition ist der Staat dann selbst eine Manifestation der Kultur. Kultur wird so zum Megabegriff, der Begriff „Kulturstaat" wird dann allerdings zu einer Tautologie.

2. Folgerungen für den Kulturstaatsbegriff Eine verbreitete Meinung in Wissenschaft und Politik geht ohne weiteres davon aus, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Kulturstaat sei. Hiergegen ist verständlicherweise kaum Widerspruch erkennbar, denn der Begriff „Kulturstaat" ist kritikresistent. Er gehört zum Gemeingut in Rechts- und Staatslehre und Kulturpolitik und ist schon wegen seines gravitätischen Klangs gern gebraucht, sei es als Bestandteil von Regierungserklärungen 4, parlamentarischen Beschlussempfehlungen, Gesetzesbegründungen5 usw. In der rechts wissenschaftlichen Literatur ist er besonders beliebt als einleitende oder abschließende Floskel von Abhandlungen6, mit denen enger begrenzte Themen in den Kontext der weiteren Sicht eingeordnet werden. Die Tücke liegt indes im Detail: Hängt - wie erwähnt - der Begriffsinhalt von Kulturstaat davon ab, was man unter Kultur versteht, so wird seine Brisanz deutlich, wenn man analysiert, welche Systeme unter Berufung auf ein zuvor zurechtdefiniertes Kulturstaatsverständnis schon legitimiert worden sind. Dies reicht vom idealistischen Kulturstaatsbegriff, der als Inkarnation der sittlichen Vernunft den höchsten Idealen des Wahren, Guten und Schönen verpflichtet ist, zum nationalsozialistischen Kulturstaatsbegriff, der die deutsche Kultur arisch und alles andere als minderwertig, wenn nicht sogar entartet definiert, bis

3 Wilhelm E. Mühlmann, Stichwort „Kultur", in: Wilhelm Bernsdorf (Hrsg.) Wörterbuch der Soziologie, Bd. 2, Frankfurt 1972, S. 479; weitere Nachw. bei Max-Emanuel Geis, Kulturstaat und kulturelle Freiheit, Baden-Baden 1990, S. 182, Fn. 339. 4 Vgl. nur die Regierungserklärung von Helmut Kohl vom 18.3.1987 (BT-Plen.Prot. 11/4. Sitzung, S. 64); ferner die BT-Drs. 10/2262, S. 3; 10/5836, S. 4; 11/4488, S. 4; 11/5469, S. 10. 5 Vgl. S. 9 der Begründung zum Regierungsentwurf des Kultur- und Stifiungsförderungsgesetzes - KultStiftFG (BR-Drucks. Nr. 258/90 v. 20. 4. 1990), das am 13. 12. 1990 verkündet wurde (BGBl. I, 2775). 6 Vgl. etwa Michael Ronellenfitsch, Aktive Toleranz in der streitbaren Demokratie, in: Karl-Hermann Kästner (Hrsg.), Festschrift für Martin Heckel zum 70. Geburtstag, Tübingen 1999, S. 427 ff. (445).

Staatskultur - Kulturstaat

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hin zum Selbstverständnis der DDR als sozialistischem Kulturstaat 7 auf der Grundlage eines sozialistischen Menschenbildes. Methodisch hat dies zur Konsequenz: Der Kulturstaatsbegriff ist ein Blanke ttbegriff, der je nach Kulturverständnis unterschiedlich aufgefüllt werden kann (und worden ist!). Dies zeigt schon die Vielzahl der in den letzten Jahrzehnten vertretenen Kulturkonzeptionen im Recht - Stichworte: klassisches und offenes Kulturkonzept. Als Ergebnis dieses Schrittes ist damit festzuhalten: Vor einer allzu kritiklosen Bejahung des Kulturstaatsbegriffs ist zu warnen. Soll er nicht nur deskriptiv, sondern als normatives Begründungselement verwendet werden, so ist das jeweilige Vor-Verständnis unbedingt zu hinterfragen und offen zu legen, da man sich sonst u. U. ungewollte geistige Väter einhandelt, von denen man gar nicht gezeugt sein will. Ähnlich verhält es sich mit der „Staatskultur", die meist als Synonym missbraucht wurde, um eine Verwendung der Kultur zu politischen Zwecken zu rechtfertigen 8. Im folgenden soll jedoch die Perspektive auf den Begriff des Kulturstaats fokussiert werden, da in ihm die Diskrepanz zwischen behaupteter und tatsächlicher Tradition am greifbarsten wird.

3. Besondere Konnotationen des Kulturstaatsbegriffs a) Von der Tücke eines Schlüsselbegriffs Zu dieser inhaltlichen Varianz kommt: Der Begriff Kulturstaat ist ein Schlüsselbegriff Als solcher ist er tendenziell gefährlich, weil er kritikresistent ist: Wer ihn besetzt, profitiert von den positiven Konnotationen und Assoziationen, die der Begriff Kultur weckt und macht sie sich zunutze. Wer also den Begriff Kulturstaat gebraucht, reklamiert quasi das Geistige für sich und argumentiert von sicherer Warte aus. Andersherum begibt sich derjenige ins argumentative Out, der sich gegen den Kulturstaatsbegriff ausspricht. Er gerät in einen Begründungsnotstand, weil er darlegen muss, warum er gegen eine Verbindung von Staat und Kultur ist, warum er sich auf die Seite der Nicht-Kultur schlägt - ein Manöver, das unweigerlich ins Abseits führt, weil es den Widersprechenden dazu führt, Sakrosanktes anzutasten. Diese Beobachtung lässt sich literarisch erhärten; wer die Begriffsgeschichte des Kulturstaats beobachtet, stellt fest, dass es wenig Versuche gibt, sich mit 7 Dazu Markus Heintzen, Erziehung, Wissenschaft, Kunst, Sport, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts (HbStR) Bd. IX, Heidelberg 1997, §218, Rdn. 2 ff. 8 Ähnlich skeptisch zu diesen Begriffen schon Günter Reuhl, Kulturstaatlichkeit im Grundgesetz, JZ 1981, S. 321 ff.

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Max-Emanuel Geis

dem Begriff und seinen historischen Implikationen inhaltlich ernsthaft auseinander zu setzen9. Die letzte Weihe hat dem Begriff das Bundesverfassungsgericht in zwei argumentativ völlig unnötigen obiter dicta 10 verliehen, in denen es vom „kulturstaatlichen Selbstverständnis" der Bundesrepublik Deutschland sprach, was von der Literatur alsbald übernommen und zementiert worden ist 11 .

b) Folgerungen für Argumentationen mit dem Kulturstaat Gerade weil der Begriff so kritikresistent zu sein scheint, ist aber Vorsicht geboten, da mit dem Gebrauch zwangsläufig das Vorverständnis übernommen wird. So ist es eine mittlerweile nicht mehr ganz unbekannte Erkenntnis, dass die Verwendung des Kulturstaatsbegriffs über Jahrzehnte nahezu völlig auf eine einzige Publikation zurückging, nämlich den von rhetorisch-monolithischer Wucht geprägten Essay „Zur Problematik des Kulturstaates" von Ernst Rudolf Huber aus dem Jahre 1958 12 . Er entwickelt in fünf dialektisch fortschreitenden Stufen ein groß angelegtes Programm, wie ein moderner Kulturstaat beschaffen sein müsse. Auf der ersten Stufe stehe die Staatsfreiheit der Kultur als Postulat des freien Wirkens der kulturellen Kräfte. Der Staat sei aber nicht im klassisch liberalen Sinn von der Welt des Geistes ausgeschlossen. Vielmehr trete neben die Freiheit der Kultur der Staatsdienst an der Kultur, d. h. die positive Zuwendung durch Schutz, Pflege, Vermittlung und Förderung der Kultur. Auf einer dritten Stufe ergebe sich aus diesem Auftrag an den Staat die Befugnis zur aktiven Gestaltung der Kultur: Der Staat müsse Kultur definieren dürfen und innerhalb der Kultur verbindlich über die Rangordnung entscheiden können. Die offensichtliche Antithese zwischen kultureller Freiheit und staatlicher Kulturgestaltungsmacht löst Huber in einer vierten Stufe durch einen Rückgriff auf die dialektische Philoso9 Erstmals wohl Reuhl, JZ 1981; weiter Werner Maihofer, Kulturelle Aufgaben des modernen Staates, in: Ernst Benda/Werner Maihofer/Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts (HdbVerfR), Berlin/New York 1983, 2. Aufl. 1994, S. 1201 ff. (1215 ff); Geis, Kulturstaat, S. 33 ff.; skeptisch jetzt auch Klaus Stern, Kulturelle Werte im deutschen Verfassungsrecht, in: Karl-Hermann Kästner (Hrsg.), Festschrift für Martin Heckel zum 70. Geburtstag, Tübingen 1999, S. 857 ff. (864). 10 BVerfGE 35, 79 (114); 36, 321 (331). 11 Ulrich Scheuner, Die Bundesrepublik als Kulturstaat, in: Gesellschaft für Rechtspolitik (Hrsg.), Bitburger Gespräche Jahrbuch 1977 - 78, Trier 1978, S. 113 ff.; Maihofer, Kulturelle Aufgaben, S. 953 (977 ff.); Rupert Scholz, in: Maunz-Dürig, Komm. z. GG, Stand 2001, Art. 5 Abs. 3 Rdn. 8; Helmuth Schulze-Fielitz, Art. 35 EinigungsV Freibrief für eine Bundeskulturpolitik, NJW 1991, 2456 ff.; weit. Nachw. bei Geis, Kulturstaat, S. 16 Fn. 6. 12 Erschienen 1958 als Heft 212 der Reihe „Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart"; neu abgedruckt bei Peter Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982, S. 122 ff.

Staatskultur - Kulturstaat

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phie Hegels auf: Kulturstaat sei ein Staat nur in dem Maß, in dem gleichzeitig die Kultur über den Staat und der Staat über die Kultur herrsche. Die Endstufe des Huberschen Gedankengebäudes besteht in der Aussage, dass der Kulturstaat selbst ein Kulturgebilde sei. So sei der Kulturstaat als Synthese die „Wirklichkeit der sittlichen Idee", eine ausdrückliche Anknüpfung an den Staatsbegriff Hegels in § 257 dessen berühmter Rechtsphilosophie. Kulturstaatliches Handeln ist damit allein aus der Existenz des Staates legitimiert. Ich habe an anderer Stelle ausfuhrlich dargelegt, dass dieses Konzept, das lange völlig allein auf der kulturrechtlichen Flur stand, eine beispiellose Rezeption erfuhr 13 . Besonders bemerkenswert war, dass sich aufgrund der dialektischen Struktur des Werks mit ihren diametral verschiedenen Aussagen jede Meinung die ihr genehmen Elemente entnehmen konnte; so wurde Huber als literarischer Vater von sowohl etatistisch-autoritären als auch individual-freiheitlichen Aussagen zum Verhältnis von Staat und Kultur. Ferner entwickelte sich eine Art „Schneeballeffekt": Die Generation der Erst-Rezipienten legte wiederum den Grundstein für ganze Zitatenfamilien. So stieg eine ursprüngliche Einzelstimme zu einem kulturverfassungsrechtlichen Dogma auf 14 . Die bereits erwähnte Adelung durch das Bundesverfassungsgericht und die Aufnahme in die Scholzsche Kommentierung von Art. 5 Abs. 3 GG im Grundgesetzkommentar von Maunz/Dürig war nur der architektonische Schlussstein. Die hegelianische Wurzel wurde über all dem indes vergessen bzw. kritiklos mit übernommen 15. Auch heute sind die Spuren dieser Konzeption immer noch auszumachen, vor allem in der Kulturpolitik. Hier nur soviel vorweg: Wann immer versucht wird, den Staat als Kulturstaat zu apostrophieren und aus dieser quasi ontologischen Prämisse die Befugnis zur Kulturgestaltungsmacht herzuleiten - unabhängig von den normativierten verfassungsrechtlichen Eckwerten - kann man sicher sein, dass der Hubersche Ansatz - so gut wie immer unreflektiert - dahinter steckt. Dies gilt für die immer wieder umstrittene Kulturkompetenz des Bundes ebenso wie fur die Befugnis zum Kulturrichtertum im Bereich des leistenden Staates. Nur wer um die Zusammenhänge weiß, erkennt die Gefahr argumentativen Glatteises; man möchte gleichsam ausrufen: „Cherchez le Huber".

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Geis, Kulturstaat, S. 33 ff. Ausf. Geis, Kulturstaat, S. 39; ebenso jetzt Katharina Ahrendts, Die normative Kraft der Wiederholung, Forum Recht 1998, S. 40 (42). 15 Krit. auch Reuhl, JZ 1981, S. 325. 14

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I I . Historisches 1. Vorbemerkung Man kann gegen meine Ausführungen einwenden: Nun gut, die Episode Huber war ein dogmatischer Irrweg, aber er schöpft die Kulturstaatstradition in Deutschland nicht aus. Vielmehr weise der Begriff eine mittlerweile über 200jährige Geschichte mit gefestigten Inhalten auf. Auch diese Hoffnung ist indes trügerisch: Die Begriffsgeschichte des Kulturstaats ist beileibe nicht Ergebnis einer kontinuierlichen Rechtsentwicklung wie beim Rechtsstaat oder auch - mit Einschränkungen - beim Sozialstaat. Kulturstaatsdenken ist vielmehr zyklisch, es ist von ebenso eruptiven Konjunkturen wie Phasen der Stagnation gekennzeichnet, die alle auf prägnante Weise mit der deutschen Geschichte verknüpft sind. Im Wesentlichen können wir vier „hohe Zeiten" des Kulturstaatsdenkens unterscheiden, die ich kurz skizzieren möchte.

2. Der Kulturstaat als Ersatz für den Nationalstaat (Fichte, Görres) Vater des Kulturstaatsbegriffs ist Johann Gottlieb Fichte 16 . In seinen „Reden an die deutsche Nation" erhebt er den deutschen Kulturstaat zum Ideal. Der Grund: Deutschland steckte in der tiefsten Depression durch die Niederlagen gegen Napoleon, vor allem nach dem Trauma von Jena/Auerstedt. Der erhoffte territoriale Nationalstaat war weiter denn je entrückt. So bedient sich der Nationalismus als Ersatz für die ersehnte Staatlichkeit des Kulturstaatsideals, in dem die nationale Identität wo nicht durch eine Zentralgewalt, so doch durch das Bewusstsein eines gemeinsamen kulturellen Erbes hergestellt werden soll. In den Schriften seines Zeitgenossen Görres erhält dieser Gedanke noch einen signifikanten antifranzösischen Touch: Der deutsche Kulturstaat - Hort deutscher Kultur - wird als Gegenmodell zum imperialistischen Frankreich Napoleons skizziert und wird mithin als Instrument politischer Integration durch Abgrenzung gegenüber dem Erbfeind operationalisiert. Diese Verwendung als ausschließlicher „Kampfbegriff' erklärt vielleicht das Paradox, dass der Kulturstaatsbegriff da, wo man ihn eigentlich vermutet, nämlich im Kontext der preußischen Bildungsreform unter Wilhelm von Humboldt, überhaupt keine Rolle spielt. Danach dümpelt er eher lustlos dahin und verschwindet fast zwangsläufig in der Versenkung, als 1871 der deutsche Nationalstaat errichtet wird - leider aber nicht als Manifestation eines Sieges der deutschen Kultur über verächt-

16

Nachw. bei Otmar Jung, Zum Kulturstaatsbegriff, Meisenheim am Glan 1976, S. 10 ff.; und Geis, Kulturstaat, S. 123.

Staatskultur - Kulturstaat

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lieh beäugte welsche Dekadenz, sondern auf der martialischen Basis der Siege von Düppel, Königgrätz und Sedan: das Deutsche Reich von 1871 ist seiner Genese nach Machtstaat, nicht Kulturstaat. Gründerzeitliche Ökonomie und wilhelminischer Militarismus verdrängen den Kulturstaatsbegriff in die Staatsphilosophie, wo er nunmehr die noch bei Huber andauernde Liaison mit dem Hegeischen Vernunftstaat eingeht. Abgesehen von einer kleinen Renaissance wiederum als Kampfbegriff im Kulturkampf, in dem der deutsche nationale Kulturstaat dem Ultramontanismus entgegengesetzt wird.

3. Der Kulturstaat als Gegenmodell des preußisch-wilhelminischen Machtstaats Der hegelianische Kulturstaat und die idealistische Orientierung am Wahren, Guten und Schönen sind es auch, die nach dem Zusammenbruch des wilhelminischen Polizei- und Militärstaates die Diskussion in der Weimarer Republik prägt. Kurz gefasst: Wieder einmal setzt Deutschland und hier v. a. wieder Preußen nach dem Versagen der Macht auf das alte Kapital der Kunst, Wissenschaft und Sittlichkeit und bestimmt damit vor allem das bildungspolitische Ideal 17 . Auch hier ist die neuhegelianische Ausrichtung prägend, die durch den Richtungsstreit in der Weimarer Staatsrechtslehre noch verstärkt wird 1 8 . Eine vertiefte dogmatische Beschäftigung mit dem Begriff findet aber nicht statt.

4. Der Kulturstaat als Gegenmodell des nationalsozialistischen Unrechtsstaates Obwohl Deutschland im Dritten Reich wiederum der Pest des Militarismus verfiel, trat der Kulturstaatsbegriff diesmal nicht zurück. Schlimmer jedoch: Er wurde umdefiniert im Sinne der neuen nationalsozialistischen Kulturvorstellung und dazu verwendet, um die nazideutsche Leitkultur als allein gültige zu propagieren 19. Es wird dann kaum überraschen, dass die nächste Welle des Kulturstaatsdenkens alsbald nach 1945 einsetzt: Wieder einmal soll die Besinnung auf den guten alten Kulturstaat der deutschen Bildung dazu helfen, auf den Trümmern 17

Etwa bei Eduard Spranger und Carl Heinrich Becker, vgl. Geis, Kulturstaat, S. 100 ff. 18 Als Vertreter sind u. a. zu nennen: Josef Kohler, Max Ernst Mayer, Othmar Spann, Julius Binder, Nachw. bei Geis, Kulturstaat, S. 149. 19 Etwa bei Wilhelm Sauer, Rechts- und Staatsphilosophie, Stuttgart 1936, S. 212 ff.; Julius Binder, System der Rechtsphilosophie, Berlin 1937, S. 323; Wilhelm Glungler, Theorie der Politik, München 1939, S. 327, 332.

2 Hill

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Max-Emanuel Geis

deutscher Staatlichkeit ein neues, besseres und geläutertes Staatswesen zu errichten. Entsprechende Konzepte wurden von den Staatsrechtslehrern Hans Peters und von Heinz Nawiasky, dem „Vater" der Bayerischen Verfassung von 1946 vorgelegt. Und wieder hält sich der Kulturstaat nur einige Jahre in der Dogmatik, etwa bis zu dem erwähnten Essay von Ernst Rudolf Huber 1957, um dann vom Wirtschaftswunder und der 68er Zeit verdrängt zu werden. In der Folge diimpelt er eher unbeachtet dahin und findet eine Nische in der Dogmatik der Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG. In der sozialdemokratischen Bildungsreform mit ihrer Fixierung auf das Sozialstaatsprinzip spielt er ebenso wenig eine Rolle wie bei den Ostverträgen. Während das Thema „Kultur" in den 80er Jahren deutlich an politischem Stellenwert gewinnt 20 , wird der Kulturstaatsbegriff zunehmend vermieden oder bleibt merkwürdig unkonturiert. Dem entspricht es, wenn sich die sog. Denninger/Oppermann-Kommission 1983 zwar für die Aufnahme der Kultur als Staatsziel in das GG ausspricht (neben dem Umweltstaat), dabei aber den Begriff des Kulturstaats bewusst nicht adaptiert 21 . Der Kommissionsbericht blieb überdies - jedenfalls für den Kulturbereich - ohne legislatorische Folgen und wurde vor allem durch die Umbrüche der Wiedervereinigung erst einmal in den Hintergrund gedrängt. Damit sind wir schon bei der letzten Phase:

5. Der Kulturstaat als Staat der Wiedervereinigung Seine (vorläufig) letzte große verfassungsrechtliche Phase erlebte der Kulturstaat im Zuge der deutschen Wiedervereinigung. Erfreulich ist, dass diesmal die Debatte nicht wieder durch eine militärische Niederlage ausgelöst worden ist. Dagegen sollte der Begriff als Vehikel dienen, das gespaltene staatliche Bewusstsein der beiden deutschen Teilstaaten durch die Erinnerung an eine gemeinsame, integrierende Kultur kitten zu helfen. So wurde der Kulturstaatsbegriff in die seinerzeitige Verfassungsdebatte neu eingeführt, vor allem von den Kulturverbänden, aber auch von der Wissenschaft 22. Noch in der nachrevo20 Exemplarisch für diese Zeit das „Kulturpolitische Wörterbuch" (hrsg. von Wolfgang Langenbucher, Stuttgart 1983) und die Schriften von Olaf Schwencke und Hilmar Hoffmann; Udo Steiner/Dieter Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42, Berlin/New York 1983, S. 7 ff, S. 46 ff. 21 Bundesminister des Innern/Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge. Bericht der Sachverständigenkommission, Bonn 1983, Rdn. 169 ff, 208. 22 Vgl. dazu Max-Emanuel Geis, Ergänzung des Grundgesetzes um eine „Kulturklausel"?, ZG 1992, S. 38 (39 m. weit. Nachw.); aus der verfassungsrechtlichen Literatur v. a. Peter Häberle, Verfassungspolitik für die Freiheit und Einheit Deutschlands, JZ 1990, S. 359 (362 f.), wieder abgedruckt in: Bernd Guggenberger/Tine Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, München 1991, S. 242 (252 f.).

Staatskultur - Kulturstaat

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lutionären DDR selbst, im Beschluss der Volkskammer über staatliche Pflichten zum Schutz und zur Förderung von Kultur und Kunst vom 7.3.1990, wurde die Staatsmacht auf Wesen und Merkmale eines (freiheitlichen) Kulturstaats verpflichtet und Kunst und Kultur zu den Grundwerten staatlicher Identität erhoben. Erstmaligen normativen Ausdruck auf Bundesebene fand das Kulturstaatsprinzip dann in Art. 35 Abs. 1 Satz 3 des Einigungsvertrages vom 31.8.1990, in dem es heißt: „Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschland in der Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab" 23 .

Mit dieser Formulierung sollten über den abstrakten Integrationszweck hinaus Legislative und Exekutive in Bund und Ländern zur Wahrnehmung ihrer kulturellen Aufgaben verpflichtet, die kulturelle Komponente allen staatlichen Handelns hervorgehoben und damit zumindest verbaliter einer rein ökonomischen Betrachtung der Wiedervereinigung entgegengewirkt werden. In Art. 35 Abs. 2 EinigungsV (Schutz kultureller Substanz) wurde sogar die Garantie eines wie auch immer gearteten „kulturellen Mindeststandards" gesehen24. Tatsächlich wurden in der Folge gerade auch die neuen Bundesländer als Kulturstaaten charakterisiert, um daraus ein - politisch sehr begrüßenswertes - Prinzip optimaler Kulturförderung abzuleiten25. Auch dieser Impetus ebbte aber nach einiger Zeit wieder ab, die Anzahl der juristischen Veröffentlichungen, in denen der Kulturstaatsbegriff speziell aus der Perspektive der Wiedervereinigung gesehen wurde, liegt deutlich unter 10(!) 26 . Als die Gemeinsame Verfassungskommission, die sich ebenfalls mit dem Problem neuer Staatszielbestimmungen auseinander zu setzen hatte, 1994 ihren Abschlussbericht vorlegte 27 , wurde eine Aufnahme des Kulturstaatsbegriffs oder verwandter Formulierungen nicht mehr befürwortet 28. Die Nachtragsbände des Handbuchs des deutschen Staatsrechts erwähnen den Begriff Kulturstaat als solchen entweder gar nicht, skeptisch29 oder nur im Zusammen-

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Hervorhebung d. Verf. Schulze-Fielitz, NJW 1991, S. 2456 (2567). 25 Bodo Wiegand, Die neuen Bundesländer als Kulturstaaten, LKV 1995, S. 55. 26 Vgl. neben Wiegand, LKV 1995, S. 55; noch Schulze-Fielitz, NJW 1991, S. 2456; Michael Kilian, Die Erhaltung der kulturellen Substanz der neuen Bundesländer in Art. 35 II EV, LKV 1992, S. 241 (243 f.) 27 BT-Drs. 12/6000, S. 15 ff., 65 ff. 28 BT-Drs. 12/6000, S. 68 ff, 75 ff 82 f. 24

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Armin Dittmann, Föderalismus in Gesamtdeutschland, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts (HbStR) Bd. IX, Heidelberg 1997, § 205 Rdn. 22. 2'

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hang mit seinem Schicksal in der Verfassungskommission 30. Tatsächlich ist nach der Zäsur 1994 die dogmatische Ausstrahlungskraft erst einmal wieder gebremst. Erst ab 1998 wird der Begriff im Zusammenhang mit dem geplanten „Kulturbeauftragten des Bundes" und mit der sog. Hauptstadtkultur neu aufgenommen. Als Fazit dieses historischen - zugegeben parforceartigen - Überblicks lässt sich festhalten: Von einer gefestigten Tradition des Kulturstaatsbegriffs kann auch nach 1990 schlechterdings nicht die Rede sein; zu groß ist die Divergenz der Inhalte, die unter diesem Signet versammelt wurden, zu blankettartig die damit verbundenen Aussagen.

I I I . Dogmatisches 1. Kulturstaat als Staatsziel Ich habe versucht zu skizzieren, dass der Kulturstaat ungeachtet seiner mangelnden Konturiertheit weitgehend kritiklos als Eigenschaft der Bundesrepublik Deutschland reklamiert wird und als (ungeschriebene) Staatszielbestimmung anerkannt ist. Soweit dies einen eher deklaratorischen, beschreibenden Charakter hat, wäre dagegen auch wenig einzuwenden. Tatsächlich aber wird dem Begriff auch rechtliche Relevanz eingeräumt, wie es sich eben fur eine echte Staatszielbestimmung gehört. Wir haben bereits gesehen, dass der Kulturstaatsbegriff massiv von einem etatistischen Staatsverständnis geprägt ist, das von der Hegeischen Rechtsphilosophie gespeist wird, das Kultur als abstrakte, von den Individuen unabhängige Größe versteht und dem Staat als Verkörperung der objektiven Vernunft eine umfassende Kulturgestaltungsmacht einräumt. Diese umfasst die uneingeschränkte Definitionsbefugnis über und die qualitative Differenzierungsbefugnis innerhalb der Kultur. Aufgrund ihrer blendenden dialektischen Argumentation konnten liberale wie konservativ geprägte Autoren die ihnen genehmen Elemente entnehmen. Da der staatsphilosophische Hintergrund des begrifflichen Konzepts lange kaum beachtet wurde, fanden so unbemerkt rein etatistische Elemente in die kulturverfassungsrechtliche Dogmatik Eingang, ohne dass die inneren Widersprüche zum System des Grundgesetzes näher untersucht worden wären. Dies gilt in besonderem Maße für die Begründungsversuche staatlicher Kulturgestaltungsmacht. Von den Verfechtern des Kulturstaatsbegriffs wird zwar betont, dass

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Etwa Hans Hugo Klein, Kontinuität des Grundgesetzes und seine Änderung im Zuge der Wiedervereinigung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts (HbStR) Bd. VIII, Heidelberg 1995, § 198 Rdn. 70; Heintzen, Erziehung, Rdn. 19.

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dieser im Zeichen der freiheitlich-demokratischen Ordnung einen ganz neuen Gehalt gewonnen habe31. Beispiele auch aus der jüngsten Zeit 32 belegen jedoch, dass Entstehungs- und Begründungszusammenhang eines Rechtsbegriffs nicht so völlig voneinander zu trennen sind, als dass sich nicht doch ein (meist unbewusster) falscher Zungenschlag einschleichen könnte 33 . Will man deutlich machen, dass der Staat dazu verpflichtet ist, den kulturellen Bereich zu fordern und zu schützen, so ist dies statt mit dem Begriff des Kulturstaats weitaus besser mit der neueren Formulierung vom staatlichen Kulturauftrag (Häberle, Grimm, Steiner) zu bewerkstelligen, der nicht etatistisch, sondern grundrechtlich fundiert ist 34 . Zwei Felder sind es vor allem, in denen der Kulturstaat als Vehikel fehlender Normen herhalten muss: als Ersatzkompetenz des Bundes im Kulturbereich und als Legitimation für aktive Kulturgestaltung auch in grundrechtsrelevanten Bereichen.

2. Kulturstaat als Kompetenztitel im föderalistischen Staatsaufbau Eine ganz wesentliche Funktion des Kulturstaatsbegriffs - jenseits der abstrakten Staatslehre - besteht darin, als Ersatzkompetenz des Bundes zu fungieren. Dabei ist der typische, vielfach zu beobachtende Argumentationsmodus der Folgende: Zunächst wird - quasi als ontologisches a priori - festgestellt, dass die Bundesrepublik Deutschland ein Kulturstaat ist. Diese Feststellung fällt wie eingangs dargestellt - unter die Kategorie „sakrosankt" und wird unter pauschalierendem Hinweis auf die historische Entwicklung unter einem Generalverweis auf die genannten Stellen bei Ernst Rudolf Huber oder Rupert Scholz im „Maunz/Dürig" abgesichert. Sodann wird aus der Eigenschaft, Kulturstaat

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Sieghard von Köckritz, Kulturföderalismus und Kulturförderung, Kulturpolitische Mitteilungen Heft 52 1/1991, S. 32 (33); Helmuth Schulze-Fielitz, Buchbesprechung, ZRP 1991, S. 271. 32 Etwa Eberhard Seybold, Bauästhetisches Ortsrecht, Regensburg 1988, S. 68 ff., 133 f; weit. Nachw. bei Geis, Kulturstaat, S. 44 ff. 33 So beruft sich Thomas Oppermann, Ergänzung des Grundgesetzes um eine Kultur (Staats) Klausel, in: Günter Püttner (Hrsg.), Festschrift für Otto Bachof zum 70. Geburtstag, München 1984, S. 3 ff, noch 1984 auf eine angebliche ungebrochene deutsche Kulturstaatstradition. Zur Begriffssoziologie solcher „Traditionen" und ihrer Brüchigkeit ausf. Alexander Blankenagel, Tradition und Verfassung, Baden-Baden 1987, S. 253 f.; und Geis, Kulturstaat, S. 33 ff. m. zahl. Nachw. 34 Vgl. Peter Häberle, Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders. Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, S. 1 (34 ff); Steiner/Grimm, Kulturauftrag; Maihofer, Kulturelle Aufgaben, S. 1201 (1219 ff); ähnlich jetzt Marcus Filibrandt, Privatisierung kultureller Aufgaben am Maßstab der Grundrechte, Verwaltungsrundschau 2001, S. 5(6, 8).

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zu sein, eine originäre Kulturgestaltungsmacht des Staates abgeleitet. Diese Gestaltungsmacht haftet dem Kulturstaat also wesensmäßig an; ist also auch die Bundesrepublik als solche Kulturstaat, erlangt der Bund dadurch einen eigenen, sektoral nicht begrenzten Kompetenztitel im Eingriffs- wie im Leistungsbereich. Anschauungsfälle für eine eigene, recht selbstbewusst praktizierte Bundeskulturpolitik 35 sind gar nicht so selten und oft spektakulär; prägnante Beispiele sind die seinerzeit beabsichtigte Gründung einer Bundeskulturstiftung, die dann allerdings wegen massiven Länderprotests als Kulturstiftung der Länder in deren Trägerhoheit überführt worden ist. Ebenso bezeichnend war 1998 die Berufung auf das Kulturstaatsprinzip bei der Schaffung der Schlüsselposten des Bundeskulturbeauftragten bzw. Kulturstaatsministers. Die kompetenzielle Ersatzfunktion wird besonders im Vergleich mit den real existierenden landesverfassungsrechtlichen Kulturstaatsklauseln deutlich. Gerade für Art. 3 der Bayerischen Verfassung - dem Prototyp aller Kulturstaatsklauseln - hat die Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs bezeichnenderweise die Konsequenz aus deren spärlicher inhaltlicher Aussagekraft gezogen und sie in mehreren Schritten vom verbindlichen objektiven Recht auf einen politischen Programmsatz heruntergestuft 36. Die dargestellte Verwendung des Begriffs durch den Bund begegnet daher grundsätzlichen Bedenken: Zuzugeben ist, dass der Bereich der Kultur keinem Exklusivrecht der Bundesländer unterliegt; auch die Artt. 73, 74 GG enthalten ja durchaus kulturell relevante Kompetenzen. Auch der Begriff der Kulturhoheit meint dies nicht, sondern bezeichnet vielmehr nur die grundsätzliche Vermutung zu Gunsten der Länderzuständigkeit. Schließlich ist nicht zu leugnen, dass die Wiedervereinigung eine besondere Situation mit sich gebracht hat. Sieht man in der Integrationsfunktion des Staates eine der wesentlichen Bedingungen von Staatlichkeit37, so kann die kulturelle Integration der Bürger auch auf der Ebene des Bundes hiervon nicht ausgeschlossen sein. Diese Mitwirkung kann sich gleichwohl nicht außerhalb der föderalistischen Ordnung bewegen.

35 Zu diesem „Selbstbewusstsein" vgl. etwa die „Grundsätze und Ziele der staatlichen Kulturpolitik" (BT-Drs. 11/4488); sowie Hanns E. Hieronymus, Deutsche Nationalstiftung für Kunst und Kultur, WissR 8 (1975), S. 203 (209 ff); und von Köckritz in: Kulturpolitische Mitteilungen, Heft 52 1/1991, S. 32 (33); weit. Nachw. bei Geis, ZG 1992, S. 42. Krit. schon Ekkehard Wienholtz, Arbeit, Kultur und Umwelt als Gegenstände verfassungsrechtlicher Staatszielbestimmungen, AöR 109 (1984), S. 532 (544); und Schulze-Fielitz, NJW 1991, S. 2456 (2458 ff.). 36 BayVerfGH N.F. 3, 15 (28); 13, 109 (125); 23, 32 (44); 28, 107 (118). Ausf. hierzu Jung, Zum Kulturstaatsbegriff, S. 79 ff. 37 Im Anschluß an Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1929), wieder abgedruckt in: Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 3. Aufl. Berlin 1994, S. 136 ff.

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Immerhin werden im Staatsrecht neben den positivierten Kompetenzen auch ungeschriebene Bundeskompetenzen kraft Natur der Sache anerkannt. In der Vergangenheit wurden diese in der Lehre restriktiv, in der politischen Praxis aber extensiv gehandhabt. Der Bereich der „gesamtdeutschen" Angelegenheiten, d. h. der Bereich, der konsequenterweise nur vom und für den gesamten Staat zu leisten ist, gehört in diese Kategorie. Zählt man - neben dem „klassischen Bereich" der Finanzzuständigkeit38 - hierzu auch das Anliegen, die über 40 Jahre nicht nur staatlich, sondern auch kulturell gespaltene Identität wieder herzustellen, so liegt hierin ein legitimer Bereich bundeskulturpolitischen Handelns. Doch ist dieser Fall dann auch wahrheitsgemäß als ungeschriebene Kompetenz kraft Natur der Sache auszuflaggen: Es ist offen zu legen, dass diese Ausnahmecharakter hat und der Bund für entsprechende Aktivitäten quasi die Beweislast trägt. Diese Kompetenz ist außerdem zeitabhängig: Stellt sich heraus, dass das angestrebte Ziel stückweise realisiert wird, hat der Bund seine Aktivität peu à peu zurückzunehmen 39. Insofern gilt das Erforderlichkeitskriterium des Art. 72 Abs. 2 GG entsprechend. Dieser Ansatz ist einer Gestaltungsmacht kraft Kulturstaatlichkeit entschieden vorzuziehen. Denn diese argumentiert quasi außerhalb der Kompetenzordnung auf ontologischer Basis und ist daher inhaltlich nicht limitiert: Wenn es nämlich das „Wesen" des Staates ist, Gestaltungsmacht auszuüben und dies auch für die Kultur gilt, wäre ja der Bund danach nicht begründungspflichtig für kulturelle Aktivitäten, da er nur das tut, was seinem Wesen gemäß ist. Daher ist der Kulturstaatsbegriff ein hervorragendes Vehikel, die Unterstützung des fördernden Staates wieder zu befördern, was die Stellung der Länder auf dieser ihnen verbliebenen Domäne gerade wegen der schleichenden Auszehrungstendenz erheblich gefährdet. Als Fazit ist zu ziehen: Der Kulturstaatsbegriff darf nicht dazu verwendet werden, neben den ohnehin gegebenen Bundeskompetenzen kraft Natur der Sache eine parallele, unkonturierte Kulturkompetenz des Bundes zu begründen.

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Vgl. hierzu und zur Geschichte Hans-Herbert v. Arnim, Finanzzuständigkeit, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts (HbStR) Bd. IV, Heidelberg 1999, § 103, Rdn. 55,60. 39 Ähnlich für konkurrierende Gesetzgebungskompetenzen Stefan Oeter, in: Hermann v. Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck (Hrsg.), Bonner Grundgesetz Kommentar, 4. Aufl., München 2000, Art. 72 Rdn. 121; skeptisch Christoph Degenhart, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl., München 1999, Art. 72 Rdn. 38.

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3. Kulturstaat „gegen " Grundrechte Eine weitere Funktion kann ich hier nur streifen: Im Bereich des Baurechts ist nicht zu leugnen, dass Bauten zumindest dann, wenn sie architektonisch eine individuelle Gestaltung aufweisen, als ,3aukunst" dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG unterfallen können. In diesem Fall können sich freilich erhebliche Reibungsflächen sowohl mit dem Bauplanungsrecht (im Merkmal des „SichEinfiigens" in § 34 BauGB) als auch den bauordnungsrechtlichen „Verunstaltungsverboten" ergeben. Als krasses Beispiel: Die Walhalla bei Regensburg oder Schloß Neuschwanstein wären heutzutage im baurechtlichen Außenbereich nach § 35 BauGB nicht genehmigungsfähig, ebenso wenig wie eine reetgedeckte Friesenkate in einer alpenländisch geprägten Neubausiedlung. U m hier allfällige Einschränkungen des Art. 5 Abs. 3 GG vornehmen zu können, bedarf es aber einer verfassungsimmanenten Schranke, die dem BauGB und den Landesbauordnungen nicht ohne weiteres untergeschoben werden kann. Zwar gibt es Stimmen, die auf das Selbstgestaltungsrecht der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 GG verweisen, dies setzt aber voraus, dass die Gemeinden ihre Planungshoheit auch ausüben (was in den Fällen der §§ 34, 35 BauG gerade noch nicht der Fall ist). Auch in diesem Dilemma bleibt - will man fragwürdige Uminterpretationen der grundrechtlichen Schutzbereiche vermeiden - nach Knies und Seybold 40 nur der Rückzug auf die kulturstaatliche Befugnis des Staates, im Interesse eines geordneten Erscheinungsbildes von Gebäuden ein Wort mitreden zu können. Auch hier wird der Kulturstaat also zu einer dogmatisch vom Grundgesetz nicht vorgesehenen verfassungsimmanenten Schranke uminterpretiert.

I V . Resümee Zusammenfassend halte ich fest: -

-

Die Berufung auf den Kulturstaat ist jeweils mit Vorsicht zu genießen. In der Vergangenheit war sein Gebrauch immer mit ganz bestimmten politischen Zielsetzungen, ja Hintergedanken verbunden. Die vielbeschworene Kulturstaatstradition ist eine schillernde Legende, der Kulturstaatsbegriff eine Büchse der Pandora, der jeder entnimmt, was er gerne möchte. Der Kulturstaatsbegriff hat zwar eine Vielzahl von möglichen Inhalten erfahren, die dogmatische Ausformung selbst blieb dabei aber stets oberflächlich und unreflektiert. Als vorherrschend hat sich gleichwohl ein etatisti-

40 Wolfgang Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, München 1967, S. 227; Seybold, Bauästhetisches Ortsrecht, S. 68, 133 f.; zum Problem Geis, Kulturstaat, S. 42 ff.

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scher Einschlag herausgebildet, der bis in die jüngste Zeit in der Anwendung von Verfassungs- und Verwaltungsrecht seine Nachwirkungen gefunden hat. In jedem Fall sollte der Begriff auf seine deskriptive Funktion beschränkt bleiben. Die mit ihm erstrebten normativen Folgen können besser und dogmatisch widerspruchsfrei entweder mit dem grundrechtlich fundierten Kulturauftrag des Staates oder über eine maßvolle und kontrollierte Handhabung ungeschriebener Bundeskompetenzen erreicht werden.

Kulturstaat - Staatskultur Von Oliver Scheytt Begrifflichkeiten spielen eine große Rolle in diesen Tagen. Staatskultur, Kulturstaat, Staatsymbole, Staatszeremoniell, Staatsarchitektur, Staatsmodernisierung, Stadtkultur, Verwaltungskultur, corporate identity, Stadtdesign, Vielfalt oder Einheit - so lauten die Titel der Vorträge und Diskussionen. Es ist bestimmt nicht meine Rolle, schon alle Begriffe, Titel und Thesen, Temperamente hier zu Beginn der Tagimg säuberlich zu ordnen, sondern besteht eher darin, einen thematischen Aufriss zu geben und auch ein wenig zu provozieren. Meine Perspektive dabei ist die der Kulturpolitik und der Kulturpraxis. Die Kulturpolitische Gesellschaft bemüht sich darum, die kulturelle Praxis politisch zu reflektieren und daraus kulturpolitische Programme zu entwickeln. Mein Arbeitshintergrund ist zudem, in einer Stadt - der sechstgrößten der Bundesrepublik, in Essen - tagtäglich kulturpolitische Konzepte in die Praxis umzusetzen. Dazu gehört auch die Arbeit am Begriff. Deswegen möchte ich mit einem Zitat beginnen, um vielleicht auch die Begrifflichkeit ein wenig zu konkretisieren. Das Zitat stammt von Stefan Raab: „Wadde hadde dudde da? wadde hadde dudde da? wadde hadde dudde da? Wadde hadde dudde da? Hadder denn da wat, un wenn ja, wat hadder da, hadder da wat glatt, oder hadder da wat haar da hadder da wat, wat sonst keiner hat oder hadder dat auf dat, dat wadder da hat dat wadder da hat, dat hadder nu ma da dabei war ja gar nicht klar dat dat dat da war wat dat war, dat war unklar und darum sammer domma bidde, wadde hadde dudde da?"

Mit diesem Text hat unsere Nation, unsere „Kulturnation", im letzten Jahr einen Grand-Prix d'Eurovision, den europäischen Schlagerwettbewerb bestritten. Warum habe ich diesen Text von Stefan Raab, der ja die deutsche Nation bei einem wichtigen Ereignis repräsentiert, zitiert? Vielleicht, weil im gesamten Text zwanzigmal „da" und dreiundzwanzigmal „dat" vorkommt und ich auch noch aus dem Ruhrgebiet komme? Oder weil ich den Wahrheitsgehalt des Satzes von August Everding belegen wollte: „Nur wo Kultur ist, lässt sich Schwachsinn ertragen"? Nein, der Grund ist vielmehr, dass dieser Text von Stefan Raab starke Bezüge zu unserem Thema hat. Denn wenn wir in diesen Tagen von Kultur sprechen, darf die gesellschaftliche Realität nicht ausgeblendet werden. Wir müssen die verschiedenen Erscheinungsformen der Kultur in unserem Kulturstaat im Blick behalten: In diesem Text von Stefan Raab klingt das weiße Rauschen der

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Multimedialität, ja das multimediale Blabla nun wirklich in besonderer Weise an. Da meiner Ansicht nach auch dieses weiße Rauschen unseren Kulturstaat, unser kulturelles Leben durchaus beeinflusst, ist auch der Text „Wadde hadde dudde da ..." offensichtlich gesellschaftliche Realität, um die sich eine Staatskultur und auch eine Kulturstaats-Diskussion nicht drücken darf. Meine Ausführungen sind in drei größere Teile gegliedert: Der erste ist überschrieben mit „Kulturstaat, Kulturpolitik und Kulturpraxis im Wandel". Der zweite Hauptteil umfasst die Themen Föderalismus, Kooperation und Sicherung der kulturellen Grundlagen. Und der letzte bezieht sich auf die Staatskultur, das Kulturleitbild und die Kultur in der Bundeshauptstadt.

I. Kulturstaat, Kulturpolitik und Kulturpraxis im Wandel 1. Von der „Kulturfür

alle" zur „Kultur von allen "

„Kultur für alle", das Schlagwort der Neuen Kulturpolitik in den 70er Jahren, steht dafür, dass ein weiter Kulturbegriff Eingang gefunden hat in die kulturpolitischen Programme. Es geht um mehr als nur um das Wahre, Schöne, Gute. Aus Kunstausschüssen wurden Kulturausschüsse. Damit wurde deutlich: Kunst ist nicht der alleinige Gegenstand von Kulturpolitik. Kultur ist, wie der Mensch lebt und arbeitet. Dem entspricht auch der bis heute gültige Programmsatz der Kulturpolitischen Gesellschaft aus ihrem Gründungsjahr 1976: „Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik". Deutlich geworden ist mittlerweile, dass sich die kulturelle Praxis vor allem in den Kommunen durch die neue Kulturpolitik auch gewandelt hat. Nicht revolutionär, aber evolutionär, denn immer noch fließt ein Großteil der Finanzmittel in die klassischen Kulturinstitutionen, also in Theater, Museen, Orchester, Musikschulen, Bibliotheken. Aber es gibt inzwischen auch eigenständige Einrichtungen der Soziokultur und die Soziokultur ist auch zu einem durchgängigen Prinzip, zu einem Arbeitsprinzip geworden. Dabei ist uns klar: Kultur durchdringt den Alltag; Kultur ist als klassische Aufgabe der öffentlichen Verwaltung anzusehen. Diese politisch-praktische Entwicklung in den Kommunen hat aber noch nicht sehr nachhaltige Auswirkungen auf unser Kulturstaats Verständnis. Dieses wird immer noch in erster Linie mit dem klassischen Kulturkanon identifiziert. Dabei sollte uns klar sein: Die Kultur und ihre Entwicklung sind dynamischen Prozessen ausgesetzt. Die Kultur wird nicht nur von öffentlichen Kultureinrichtungen geprägt, sondern von einer Vielfalt von Trägern in gesellschaftlichen, bürgerschaftlichen und vor allem auch im wirtschaftlichen Leben bis hin zur „Kulturindustrie". Also können wir festhalten: Kultur ist kein Monopol staatlicher und kommunaler Instanzen, sie lebt von der Vielzahl der Anbieter. Auch unsere Rolle als Rezipienten von Kultur und Kunst ist vielfältig und ständigen Wandlungen unterworfen. Gehen wir nur ins Theater oder nicht auch gerne ins

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Kino? Sind wir mehr durch Popmusik oder mehr durch Oper beeinflusst? Ziehen wir wirklich immer die Autorenlesung dem Fernseh-Krimi vor? Singen wir nicht auch gerne einmal in der Badewanne und nicht nur im Kirchenchor? Die unterschiedlichen Generationen haben unterschiedliche kulturelle Verhaltensweisen wie auch zwischen den verschiedenen deutschen Staaten sich ganz unterschiedliche Entwicklungen ergeben haben.

2. Kennzeichen D - Staatsquote, Staatsknete oder Massenkultur „Kennzeichen D " - so ist diese Tagung überschrieben. Haben die Verantwortlichen für diese Themenwahl auch an die tiefgründige Bedeutung dieses Zeichens gedacht? Mich erinnert „Kennzeichen D " an zweierlei. Erstens an den Titel einer Fernsehsendung, die sich seit Jahrzehnten mit deutsch-deutschen Befindlichkeiten auseinandersetzt. Und zweitens im ursprünglichen Sinn an das ovale schwarz-weiße millionenfach aufgeklebte Herkunftsmerkmal auf dem Hinterteil des liebsten Kindes der Deutschen, des Autos. Mit Fernsehen und Auto sind die beiden wahrscheinlich wichtigsten Kultgegenstände des Kulturstaats Deutschland angesprochen. Ich behaupte, mit diesen verbringen wir neben der Arbeit die meiste Zeit im Leben, das Bett einmal ausgenommen. Fernsehen hat kulturtragende Bedeutung und ist auch staatsrelevant. Die Bedeutung des Kulturfaktors Fernsehen auf unsere Gesellschaft ist nicht zu unterschätzen. Dabei geht es mir hier nicht um die Anteile von Kultursendungen im Fernsehen und deren Einschaltquoten. Aber die Bedeutung des Fernsehens auf unser Leben, auf unser kulturelles Leben, wird oft aus kulturpolitischen Diskussionen ausgeblendet. Eine entscheidende Forderung möchte ich hier kurz benennen: Wir müssen die Medienkompetenz stärken und dabei hat die Schule, haben die kulturellen Bildungseinrichtungen, die Musik- und Kunstschulen und Bibliotheken außerordentlich wichtige Funktionen, die leider (noch) nicht hinreichend gerade auch von den Ländern in den Blick genommen werden. Wir brauchen Handlungsprogramme nicht nur in der Bildungs-, sondern auch in der Kulturpolitik, um Medienkompetenz zu stärken. Das Auto hat ebenfalls staatstragende Bedeutung, ist eindeutig ein Kultobjekt. Dabei ist der Volkswagen, also der VW-Käfer mit seiner Erfolgsgeschichte als „global player" trotz belastender Vergangenheit - aus dem Dritten Reich ja noch stammend, aus Deutschlands düstersten Zeiten - ein überragender deutscher Mythos des 20. Jahrhunderts geworden. VW-Käfer ist der Inbegriff aller erdenklichen deutschen Tugenden: Ausdauer, Bescheidenheit, Einfallsreichtum, Ehrlichkeit, Leistungsfähigkeit, Sparsamkeit und Zuverlässigkeit, wie der

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Literaturwissenschaftler Erhard Schütz in einer kürzlich veröffentlichten Analyse belegt1. Der Volkswagen ist deutsche Wertarbeit und er wurde nicht nur Teil der Kulturgeschichte Deutschlands. Interessanterweise wurde dieser deutsche Exportartikel auch Element der nationalen Kulturgeschichte der USA. Welche kulturgeschichtliche Bedeutung der Trabbi oder der Wartburg für die DDR hat, müsste vielleicht noch genauer untersucht werden. Kennzeichen D, kurzum machen wir damit deutlich: Mit unseren Autos und unserer Fernsehkultur gehören wir zu einem Staat. Die Globalisierung löst diese Betrachtung nicht auf, doch sind wir insoweit einem gewaltigen Wandel unterworfen. Die Auflösung von Kulturen, nicht nur Unternehmenskulturen, durch Fusionen wie von Daimler-Chrysler, sind hochspannende Ereignisse der letzten Zeit, die auch unsere kulturelle Bewusstseinslage - so behaupte ich - in den nächsten Jahren noch weiter verändern werden. Damit sind wir bei einem sehr wichtigen Befund, der bei den Themen und Diskussionen in den nächsten Tagen nicht ausgespart werden sollte. Nach den Titeln der Vorträge sieht es so aus, als sei die staatlich-kommunal finanzierte Kultur die allein prägende unseres Kulturstaates. Wenn wir aber danach fragen, „Was prägt uns tatsächlich, unseren Kulturstaat?", dann müssen wir auch danach fragen, welchen Beitrag Kulturindustrie und die Wirtschaft zur Entwicklung unseres Staates und unseres kulturellen Verhaltens leisten. Ich rufe ins Bewusstsein: Fernsehen, Mode, Konsumgüter, auch die Globalisierung sind entscheidende kulturelle Entwicklungsfaktoren. Die sogenannte Massenkultur hat also entscheidenden Anteil an der Realität des Kulturstaates Deutschland und an den Rahmenbedingungen auch für unsere Staatskultur. Dem Ideal des Rechts- und Kulturstaates des 19. Jahrhunderts entsprach die Forderung, dass der Staat „mit den Bildungswerten des kulturbewahrenden Humanismus oder des freiheitlichen Kulturfortschritts" zu durchdringen sei, wie es Ernst Rudolf Huber 1957 in seiner Antrittsvorlesung „Zur Problematik des Kulturstaats" formuliert hat.2 Wir erleben heute, dass die jüngere Generation nicht mehr als klassische Bildungsbürger nachwächst. An die Stelle des Bildungsbürgertums steht heute zunehmend ein Kulturbürgertum. Das Kulturbürgertum wählt sehr bewusst aus den unterschiedlichen Optionen von Kulturangeboten aus. Als praktisches Beispiel kann ich nennen: Nicht die Gesamtzahl der Theaterbesucher geht zurück, aber die Zahl der Abonnenten. Der kurzfristige Entschluss zu einem Kulturge1 Erhard Schütz, Der Volkswagen, in: Etienne Francois/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, München, 2001, Bd. 1, S. 352 ff. 2 Abgedruckt in: Peter Häberle (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, Darmstadt 1982, S. 122.

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nuss steht also ebenso auf der Agenda des Kulturbürgertums wie die Ausprägung verschiedener Lebensstile mit kulturellen Mitteln, Imagefaktoren usw. Der Bildungsträger setzt auf Tradition, der Kulturbürger frönt stärker auch dem Zeitgeist. Während der Bildungsbürger sagt „Ich weiß, wie es geht, was ich denke und tue, ist fundiert, mir ist wichtig, dass die Kulturpflege funktioniert", sagt der Kulturbürger „Ich will wissen, wie es gehen könnte, was ich denke und tue, überlege und entscheide ich im Einzelfall. Schön, wenn ich dazu viele Möglichkeiten zur Auswahl habe. Mir ist wichtig, dass der Kulturbetrieb möglichst viele Angebote und Events für mich abwirft". Und nicht alle, aber mancher Kulturbürger wünscht sich dabei: Jedem das Seine, mir das Meiste. Das Verlässliche an der neueren Kulturentwicklung ist daher, dass es eine Kontinuität der Paradigmenwechsel gibt, einen permanenten Horizont von Veränderungen, und das macht es schwierig, das Verbindende und Verbindliche des Kulturstaates und der Staatskultur herauszuarbeiten. Ein entscheidendes Element an Verbindendem ist die Sprache, die deutsche Sprache. Wir alle wissen selbst um die Probleme, die auch aufgeklärte Staaten damit haben, wenn mehrere Sprachen innerhalb eines Staates amtlich als verbindlich gelten - Schweiz, Belgien oder Kanada als Beispiel genannt. Wir haben diese deutsche Sprache und ich glaube, dass es wichtig ist, sie nicht nur als verbindendes, sondern auch als verbindliches Element unseres Kulturstaates zu definieren. Ich fasse zusammen: Die Übergänge zwischen den verschiedenen Kulturformen sind so fließend geworden, dass Kulturpolitik allein mit der Betonung von Gegensätzen der Kulturformen nicht auskommt. Kulturpolitik muss in Zukunft mehr Gestaltungskraft für das Zusammenspiel von Staat, Markt und drittem Sektor entfalten. Nicht die Abgrenzungs-, sondern die Allianzfähigkeit ist gefragt. 3. Kulturstaat Deutschland: Von der Bonner zur Berliner Republik Seit 1989 sind wir dabei, unsere kulturellen Institutionen im Geflecht von Bund, Ländern und Kommunen neu zu justieren. Seit der Einrichtung des Bundestagsausschusses für Kultur und Medien und der Institution eines Kulturstaatsministers gilt dies umso mehr. Es kann festgehalten werden, dass das öffentliche Bewusstsein von Kulturforderung, Kulturdiskussion gestiegen ist. Die Transparenz in der Bundeskulturpolitik ist erhöht worden und es gibt einen neuen Stellenwert von Kultur insgesamt. Natürlich geht es dabei auch immer wieder um Geld, um „Staatsknete". Ohne die scheint in der Kultur nichts zu gehen, deshalb wird sie auch eingefordert. Wie Nestroy schon sagte: „Die Phönizier haben das Geld erfunden, aber warum nur so wenig?". Das ist ein Problem für alle Kulturschaffenden, nicht nur für die Theaterleute. Kulturpolitik ist aber auch ohne Moos nicht machtlos. Schon in der relativ kurzen Zeit dieser

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neuen Institutionen der „Berliner Republik" hat sich gezeigt, wie wichtig es ist, dass beim Bund Ansprechpartner für die Künstlerschaft und (offizielle) Akteure für die gesamtstaatlichen kulturellen Entwicklungsprozesse existieren, die mehr als nur Repräsentationsfunktionen wahrnehmen. Es ist in letzter Zeit sowohl in der Diskussion um die Konstituierung und die Arbeit dieser neuen Institutionen als auch in der allgemeinen kulturpolitischen Debatte erneut deutlich geworden, dass der Kulturstaat einen öffentlichen Gestaltungsanspruch hat, dessen Ausübung auch ein öffentlicher Diskurs zugrunde gelegt werden sollte. Dies lässt sich aus folgender Erkenntnis herleiten: (Wert-)Entscheidungen im Kulturbereich sind nicht einseitig zu fällen, sondern sollten auf der Basis von im Konsens erarbeiteten Kriterien und Maßstäben gefällt werden. Keiner hat den Kulturstaat oder die Kulturhoheit „allein für sich gepachtet". Jeder sollte vielmehr soweit in der Kulturforderung oder in Kulturinstitutionen mitgestalten, wie er tatsächliches Engagement einbringt und Verantwortung übernimmt.

I I . Föderalismus, Kooperation und Sicherung der kulturellen Grundlagen 7. Kooperativer

Kulturföderalismus

und die Kulturhoheit der Länder

„Kulturhoheit ist Verfassungsfolklore" - dies war ein verbaler Missgriff des vormaligen Kulturstaatsministers, aber im Kern hatte Herr Naumann recht. Die Länder nehmen meines Erachtens ihre Kulturkompetenzen viel zu wenig wahr. Warum gibt es nur vier Bundesländer, die Musikschulgesetze haben? Warum machen uns nur die neuen Länder vor, wie Aktivitäten auf diesem Feld auszusehen haben? Ich freue mich, dass Brandenburg ein eigenes Musikschulgesetz erlassen hat. Hier in Westdeutschland, aber auch in Ostdeutschland kämpfen die kommunalen Spitzenverbände - ich war sieben Jahre selbst beim Deutschen Städtetag - dagegen und sagen, die „Freiheit der kommunalen Selbstverwaltung" ist in Gefahr, wenn Kulturfachgesetze erlassen werden. Kulturhoheit im hoheitlichen Verständnis von Kulturförderung, das ist in der Tat völlig veraltet. In der Kulturpolitik geht es um Allianzen, um das Herstellen von Konsens, um Kommunikation. Hoheitliches Verhalten führt nicht weiter. Durch qualifizierte Rahmengesetze kann eine Grundlage dafür geschaffen werden, Kultur nachhaltig zu fordern. So lässt sich etwa im Musikschulbereich auch sicherstellen, dass es nicht noch mehr solcher Äußerungen gibt wie die, die ich aus MecklenburgVorpommern von einem Landrat gehört habe: „Na ja, die öffentliche Musikschule, wenn wir die weiter fördern, machen wir ja den Privaten Konkurrenz". Ich erinnere an Stefan Raab! Der kooperative Kulturföderalismus sollte das Leitbild sein, aufgeklärt, aufgeteilt und aufgemischt: Wir müssen die Kulturszene immer wieder aufmi-

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sehen, Innovationen fördern. Dabei wird die einseitige Durchsetzung von Strukturen und Ideen langfristig keinen Erfolg haben, sondern es geht um eine sensible und kluge Moderation auf der Basis eines öffentlichen Kulturauftrags. Das gilt auch für die Stadtkultur und den Trägerpluralismus, den wir in der Stadt haben. 2. Stadtkultur

und Trägerpluralismus

Die Förderung der Vielfalt allein kann nicht das Programm städtischen Kulturhandelns sein. Die verschiedenen Kulturformen und die Relationen zwischen ihnen sind bei der Ausgestaltung konkreter Förderstrukturen und -modelle zu beachten, wobei die politische Gestaltungskraft der Stadt zu sichern ist. Die Trägervielfalt, durch die das Kulturleben der Bundesrepublik Deutschland geprägt ist, das Wechselverhältnis zwischen Mehrheiten und Minderheiten und die unterschiedlichen Prägungen der verschiedenen Generationen machen es schwer, die tatsächlichen Entscheidungsgründe für kulturpolitische Entscheidungen auch herauszuarbeiten. Wir haben einen komplexen „Bauchladen" von Argumentationen für die Begründung öffentlichen Handelns in und für die unterschiedlichsten Kultureinrichtungen. Diese Komplexität muss im Einzelfall reduziert werden. Die Komplexitätsreduktion darf sich nicht darin erschöpfen, dass etwa in einer Stadt lediglich ein modus vivendi der unterschiedlichen Kulturformen gefunden wird, sondern wir müssen uns immer wieder neu entscheiden, wie viel Geld geben wir ins Theater, wie viel Geld geben wir für ausländische Kulturgruppen, wie viel Geld geben wir für Soziokultur usw. Wir wissen alle, wie schwer es ist, da Umverteilungen vorzunehmen. Und die Begründungsmuster werden immer wieder perpetuiert und es werden immer wieder dieselben angewandt. Wo bleibt die freie Spitze, wo bleiben die Gestaltungsmöglichkeiten? Deswegen ist es so wichtig zu reflektieren, warum welche Programme verfolgt werden. Der von mir betonte öffentliche Gestaltungsanspruch hat zur Konsequenz, dass wir für jeden einzelnen Bereich den öffentlichen Auftrag herausarbeiten müssen: Bei der Musikschulförderung haben wir etwa ganz andere Begründungsmuster und Begründungslinien als bei der Frage, ob wir noch ein Heimatmuseum fördern sollten oder ob wir eine Kunstausstellung, ein einzelnes Projekt fördern sollten. Es gibt ganz unterschiedliche Begründungsstränge und leider wird in der Kulturpolitik alles in einen Topf gepackt und dann gesagt: Es handelt sich um eine freiwillige Aufgabe. Ich begrüße sehr, dass Julian NidaRümelin gesagt hat, man solle darüber nachdenken, in den Ländern auch Gesetze zu erlassen, in denen die Pflichtaufgabe Kultur allgemein festgeschrieben wird. Ich bin davon überzeugt, dass Rahmenregelungen so ausgestaltet werden können, dass für diese freiwilligen Selbstverwaltungspflichtaufgaben der Kommunen immer noch in hinreichendem Maße individuelle Gestaltungsmöglichkeiten bestehen bleiben. 3 Hill

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3. Sicherung der kulturellen

Grundlagen als Hauptaufgabe der Kulturpolitik

Für die kulturelle Grundversorgung möchte ich Ihnen vier Schritte vorschlagen als Modell. In einem ersten Schritt geht es darum, den öffentlichen Auftrag herauszuarbeiten für jeden einzelnen Kulturbereich. Aus diesem öffentlichen Auftrag folgt ein Qualitätsstandard. Es ist etwa nicht gleichgültig, wieviel Bibliotheksbände man hat, um eine Bibliotheksvorsorge in einer Stadt sicherzustellen. Also sind Qualitätsstandards für die Auftragserfüllung zu definieren. Im dritten Schritt werden Handlungsprogramme entfaltet, Landes- und kommunale Handlungsprogramme. Und erst auf der vierten Stufe kommt dann die Frage, wen beziehen wir ein in diese Verantwortung, in diese Verantwortungspartnerschaft? Den Bürger, indem er Gebühren bezahlt, die Wirtschaft, indem sie sponsert oder auch in eine gemeinsame Trägerschaft eintritt (public-privatepartnership). Zusammengefasst lässt sich dieses Modell also in folgendem Satz skizzieren: Aus dem öffentlichen Auftrag erwächst ein Qualitätsanspruch, der durch staatliches Handeln zu garantieren ist; diese Verantwortung umfasst ein entsprechendes Kulturangebot, das mehr ist als ein unverzichtbares Minimum und eingelöst wird auch in Partnerschaft mit Bürgern, Wirtschaft und anderen Trägern. I I I . Staatskultur, Kulturleitbild und Kultur in der Bundeshauptstadt 7. Staatskultur Der Begriff „Staatskultur" erscheint problematisch. Weder im kulturpolitischen Wörterbuch Bundesrepublik Deutschland - DDR im Vergleich von 1983 noch in den ambitionierten Werken zur Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland von Jost Hermand oder Hermann Glaser noch in dem grundlegenden Werk von Thomas Oppermann zum Kulturverwaltungsrecht noch im neuen Metzler-Lexikon „Kultur der Gegenwart" wird er ausgewiesen. In allen genannten Werken kommt dieser Begriff „Staatskultur" gar nicht vor. Auch viele andere Bücher zur Kulturpolitik führen das Stichwort nicht auf. Aber die Presseartikel der letzten zwei, drei Jahre sind voll von diesem Begriff, offensichtlich durch die neue Bedeutung der Kulturpolitik auf der Bundesebene. Lediglich in einem Buch aus dem Jahre 1989 von Fohrbeck/Wiesand, einer Studie „Von der Industriegesellschaft zur Kulturgesellschaft", die im Auftrag des Bundeskanzleramtes in dessen Schriftenreihe als Band 9 erschienen ist, ist das Einleitungskapitel überschrieben „Staatskultur, Kulturstaat und Kulturgesellschaft". Darin heißt es: „Ein Blick in die Geschichte der Kulturpolitik, die noch kaum systematisch aufgearbeitet ist, zeigt allerdings, daß schon immer mit Kultur Politik gemacht wurde, im Inneren wie nach außen. So sind etwa die Monumentalbauten und Kunstschätze des al-

Kulturstaat - Staatskultur

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ten Ägypten, die auch dem heutigen »Entwicklungsland* zu internationalem Respekt (und zu touristischen Einnahmen) verhelfen, in ihrem absoluten Gestaltungsanspruch kennzeichnend für ein auch später noch tradiertes (hochkulturelles) Verständnis von Staatskultur. Ähnlich brachte später die Kirche als zumindest Teilhaber an der weltlichen Macht solche Gestaltungsansprüche an der materiellen wie an der geistigpolitischen und individuell-verinnerlichten Kultur in das gesellschaftliche Kräftespiel ein."3

Fohrbeck/Wiesand führen aus, dass es bis heute Vorstellungen eines absoluten Sinngebungs- und Ausdrucksmonopols zentraler staatlicher Stellen gibt. Ich habe mir dieses Zitat zum Anlass genommen, über das Innen und Außen nachzudenken und über das Ausdrucksmonopol des Staates.

2. Symbolik, Image, Identität Staatskultur ist die Antwort auf die Frage: Wie gibt sich der Staat? Oder anders formuliert: Was ist das kulturell Verbindende, das durch den Staat möglicherweise Verbindlichkeit erlangt? Symbolik nach innen und außen spielen dabei eine entscheidende Rolle. Dabei geht es natürlich auch - wie bei jeder Form von Kultur - um ratio und emotio. Ein besonderes Beispiel für Staatskultur ist die Nationalhymne, ohne Zweifel ein herausragendes kulturelles Symbol unseres Staates. Nationalhymnen haben nach innen die Funktion der Identifikation des Staatsvolkes und nach außen die Funktion der Repräsentation. Über die Entwicklungsgeschichte der Nationalhymne nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden deutschen Staaten gibt es interessante neuere Untersuchungen, insbesondere zur Suche nach der Nationalhymne der DDR und dem „richtigen Lied" für die Bundesrepublik Deutschland.4 Für die Bundesrepublik wurde die alte Melodie genommen, aber die dritte Strophe ausgewählt. Wie sich das entwickelt hat, insbesondere unter dem Anlass der Olympischen Spiele, bei denen ja eine Hymne gespielt werden sollte, ist bei Kiesel/Pape näher beschrieben.5

3 Karla Fohrbeck/Andreas Johannes Wiesand y Von der Industriegesellschaft zur Kulturgesellschaft?, München 1989, S. 1. 4 s. dazu Helmuth Kiesel/Birgit Pape, Zur Schröder-Hymne ein Kaninchenfell! Die Hymnen-Debatte von 1950-1952 unter besonderer Berücksichtigung von Gottfried Benns Anmerkungen zu Rudolf Alexander Schröders Entwurf für eine neue deutsche Nationalhymne, in: Cornelia Blasberg/Franz-Josef Deiters (Hrsg.), Geschichtserfahrung im Spiegel der Literatur, Tübingen 2000, S. 290 ff. 5 Kiesel/Pape, Zur Schröder-Hymne ein Kaninchenfell!, S. 290, fuhren aus, dass bei den Olympischen Winterspielen 1952 in Oslo wegen des Widerstandes gegen das „Lied der Deutschen" aus der Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven „Freude schöner Götterfunken" gespielt wurde.

3*

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Staatskultur entäußert sich, das wird schon an diesem Beispiel deutlich, also auch in Handlungen, in gemeinsamen Handlungen und Zeremonien, aber auch in Objekten. Objekte der Staatskultur sind nunmehr in Berlin in reicher Zahl vorhanden. Die Diskussionen in letzter Zeit ranken sich um das HolocaustMahnmal, haben sich gerankt um den Umgang von Helmut Kohl mit der Pietà von Käthe Kollwitz. Jedes dieser Objekte und die entsprechenden Auseinandersetzungen sind detailliertere Untersuchungen und Reflexionen wert. Ein herausragendes Beispiel für eine Verwandlung eines Symbols unseres Staates ist der Reichstag. Die Verpackung des Reichstags durch Christo ist Beleg dafür, wie eine Kunstaktion, also die Handlung eines Künstlers, ein architektonisches Symbol unseres Staates in eine andere Form der öffentlichen Wahrnehmung gebracht hat. Das Interessante bei diesem Ereignis ist, dass diese Initiative nicht vom Staat ausging, nein, sogar gegen staatliche Beharrlichkeiten kämpfen musste. Sie ging vom Künstler aus und ist über mehr als zwei Jahrzehnte mit privater und medialer Unterstützung realisiert worden. Norman Foster hat dann auch den architektonischen Ausdruck gefunden, der uns alle so fasziniert. Damit hat der Reichstag heute eine völlig andere Funktion in unserem Bewusstsein erhalten.

3. Kulturleitbild

statt Leitkultur

Der Begriff der Staatskultur erscheint uns problematisch, da er impliziert, dass es Kultur von Staats wegen gäbe. Kann der Staatskultur ein Leitbild zugrunde gelegt werden? Die Staatskultur in der Berliner Republik sollte sich meines Erachtens dadurch auszeichnen, dass sie jene Symbole nach innen und außen entwickelt, pflegt und fordert, die einen demokratischen und pluralen Kulturstaat auszeichnen, also eher das Verbindende als das Verbindliche herausstellen. Elemente eines solchen Leitbildes können sein: -

-

demokratisches Verhalten und gesellschaftliches Engagement Sensibilität, Bescheidenheit, Aufgeschlossenheit, Toleranz, und auf dieser Grundlage die Bereitschaft zum (selbst)kritischen Dialog zwischen Mehrheiten und Minderheiten ein unverkrampftes, humorvolles, kulturell geprägtes Selbstbewusstsein eine „offene" Kultur in der Hauptstadt ohne Deutschtümelei oder Imponiergehabe eine europäische Orientierung.

Ob zu diesem Leitbild passt, dass ein Bundeskanzler von Stefan Raab in einem anderen Lied mit dem Satz zitiert wird: „Bitte hol mir mal 'n Bier", das möge jeder für sich selbst entscheiden.

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4. Kultur in der Bundeshauptstadt Aber das Kulturstaats-Leitbild oder Kulturleitbild, das sich in Berlin, in unserer Hauptstadt, präsentiert und uns repräsentiert, kann uns nicht gleichgültig sein. Kultur in Berlin ist nicht nur Kulminationspunkt dieser Stadt, sondern muss auch als Kulminationspunkt für die Staatskultur der Bundesrepublik erkannt werden. Früher galt die Gedächtniskirche als Sinnbild der Zerstörung des Zweiten Weltkrieges, der Reichstag als Sinnbild für Weimar und das Dritte Reich, das Brandenburger Tor als Sinnbild für die innerdeutsche Teilung. Heute ist die Gedächtniskirche kaum mehr auf Postkarten zu sehen, die aus Berlin versendet werden. Der Reichstag ist ein neuer Bundestag in der von mir beschriebenen Form und das Brandenburger Tor gilt als Symbol eher für Einheit als für Trennung und tritt nicht nur bei der Love Parade oder am 3. Oktober in besonderer Weise in Erscheinung. Schon an diesen Bemühungen zeigt sich, wie sehr sich Staatskultur in den letzten Jahren verwandelt hat. Ich plädiere dafür, dass die Hauptstadtkultur sich am Leitbild eines aufgeklärten Kulturstaatsverständnisses orientieren sollte. Deshalb sind die Hauptstadtkultur und der öffentliche Diskurs darüber ein Prüfstein für eine kulturverträgliche Staatskultur des Kulturstaates Bundesrepublik Deutschland.

Staatssymbole/Staatszeremoniell Von Jürgen Hartmann I. In seinen Gesetzen, Behörden, Beamten und Bescheiden erkennt man den Staat. Anschaulich1 aber wird er erst in seinen Symbolen und in seinem Zeremoniell. „Anschaulich" durchaus in einem zweifachen Sinne: Der Staat wird optisch sichtbar und er wird ästhetisch ansehnlich. Staatssymbole genießen einen besonderen strafrechtlichen und völkerrechtlichen Schutz; sie unterscheiden sich schon dadurch von politischen Symbolen, die zudem nur auf Teilaspekte einer Gesellschaft verweisen: die Faust oder die Rose auf die Arbeiterklasse, das Parlamentsgebäude (Reichstag!) auf die politische Klasse oder auf die politische Institution Parlament. Die politischen Symbole sind Unterfälle der symbolischen Politik 2 . Es geht also um die Farben Schwarz-Rot-Gold, um die Flagge, das Bundeswappen, die Hymne, die Orden, den Gedenktag, um die Hauptstadt sowie um die staatlichen Symbole der Bundesländer 3. Staatszeremoniell findet sich einmal in dem Umgang mit den Staatssymbolen, insbesondere mit der Flagge und mit den Orden, dann aber auch im Parlament, im Gerichtssaal, bei Staatsbesuch, Staatsakt und Staatsbegräbnis, im diplomatischen Verkehr, bei den Streitkräften mit Schwerpunkten bei der Marine und beim Wachbataillon, und nicht zuletzt in der staatlichen Rangordnung. Übergreifend finden sich weiterhin noch durchaus beachtliche Bestände des Kanzleizeremoniells, etwa bei Anschriften oder Anreden sowie im diplomatischen Schriftverkehr, des Kleiderzeremoniells, ζ Β. im Uniformwesen oder beim Robenzwang, und des Tafelzere1

Vgl. Peter Schneider, Verdichtete Anschaulichkeit des Staates, NZZ vom 9./10. April 1989. 2 Murray Edelman , Politik als Ritual, Frankfurt 1976; Ulrich Sarcinelli, Symbolische Politik. Zur Bedeutung symbolischen Handelns in der Wahlkampfkommunikation der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1987; Luden Sfez, La symbolique politique, Paris 1988. 3 Amtstrachten und Amtsgebäude zählen nicht zu den Staatssymbolen. Erstere gehören zum Kleiderzeremoniell, letztere sind allenfalls Orte eines Zeremoniells (ζ. B. Reichstag, Neue Wache). Α. A. Roman Herzog, in: Maunz-Dürig, Komm. z. GG, Art. 22 Rn. 5.

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moniells. Auch grobe Strickpullover und exklusive Tennisschuhe, die eine Zeitlang von Abgeordneten einer bestimmten Partei bevorzugt wurden, waren, wenn auch kein staatliches, so doch ein politisch eingesetztes Kleiderzeremoniell. Alles in allem also ein durchaus beachtlicher Rahmen, innerhalb dessen Bilder und Abläufe die Beziehungen zwischen Staat und Bürger, aber auch die Beziehungen zwischen den Staaten untereinander gestalten und bestimmen4. In Deutschland wird diese Beziehung überwiegend als eine eindimensionale Angelegenheit wahrgenommen, in der sich der Staat an den Bürger wendet. An einem Tag der öffentlichen Beflaggung, ob am 1. Mai oder am 3. Oktober, werden die Amtsgebäude beflaggt, kaum je aber ein privates Gebäude. Dennoch gibt es gar nicht so seltene Fälle, in denen die Bürger selbst Staatssymbole einsetzen; jeder kennt das Bild einer Zuschauertribüne bei einem FußballLänderspiel. Was geschieht da eigentlich? Im Grundgesetz, Art. 22, steht nur: „Die Bundesflagge ist schwarz-rotgold." 5 Dieser kürzeste Artikel des Grundgesetzes dient immerhin den Verfassungsrechtlern als Begründung und als Auftrag für den Einsatz staatlicher Symbole 6 . Den Bürger wird dieser Artikel, wenn er ihn denn überhaupt kennt, kaum beschäftigen. Der eine Bundesflagge schwenkende Bürger will wohl in erster Linie die auf dem Spielfeld agierenden Spieler seiner Mannschaft anfeuern. Er macht den einzelnen Spieler darauf aufmerksam, daß er dort unten nicht für sich, zum Vergnügen oder zum Gelderwerb, spielt, auch nicht für seinen Verein, sondern für sein Land, und daß sein Spiel nicht nur die anwesenden Fans interessiert, sondern eine Vielzahl von Landsleuten, die sich am deutlichsten durch die gemeinsame Flagge manifestieren. Er sorgt sodann für Stimmung im Stadion, indem er andere anregt, ihm gleich zu tun oder doch zumindest ihre Zustimmung auf andere, meist lautstarke Weise zum Ausdruck zu bringen. Er antwortet möglicherweise den Anhängern der gegnerischen Mannschaft, die ihre Nationalfarben schwenken oder, was man immer häufiger sieht, ihre Gesichter in den Nationalfarben schminken. Nicht zuletzt gibt er sich zu erkennen, identifiziert sich mit seinen Landsleuten auf dem Spielfeld und auf den Tribünen, identifiziert sich mit seinem Land.

4 Dazu ausführlich und mit weiterer Literatur Jürgen Hartmann, Staatszeremoniell. 3. Aufl., Köln 2000. 5 In der Weimarer Reichsverfassung lautete Art. 3 Satz 1 : „Die Reichsfärben sind schwarz-rot-gold." 6 Herzog, in: Maunz-Dürig, Komm. z. GG, Art. 22 Rn. 26, Rn. 38; BVerfGE 81, 278 = NJW 1990, S. 982.

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Hier findet also eine höchst ausdrucksstarke nicht-verbale Form der Kommunikation statt. Weniger überschwenglich geschieht gleiches auch durch Flaggenbräuche in einer Laubenkolonie oder in einem Yacht-Club, eher dezent und gerade noch sichtbar auch durch die Knopflochminiatur des Bundesverdienstkreuzes. Nichts anderes geschieht, wenn der Staat seine Symbole zeigt oder sein Zeremoniell entfaltet. Er unterhält eine non-verbale politische Kommunikation. Genauer gesagt, er macht ein Angebot zur Kommunikation. Der Bürger ist jedenfalls in demokratisch verfaßten Staaten - nicht gezwungen, auf dieses Angebot einzugehen. Man kann ihn nicht dazu zwingen, sich beim Erklingen der Nationalhymne zu erheben. Die meisten Bürger werden jedoch auf das Angebot der Kommunikation reagieren. Sie erheben sich beim Lied der Deutschen, singen mit - auf den Lippen der Fußballspieler von den Fernsehkameras stets genau verfolgt - , sie tragen, sofern sie damit ausgezeichnet wurden, das Bundesverdienstkreuz, sie verwenden Autoaufkleber mit Nationalfarben oder mit Landeswappen. Selbst wenn sie sich nur fragen, aus welchem Anlaß denn gerade geflaggt ist, wirkt das staatliche Kommunikationsangebot. Aber auch wenn die Reaktionen des Bürgers nicht ohne weiteres erkennbar sind, findet die über Symbole und Zeremoniell ausgelöste politische Kommunikation statt. Der Bürger nimmt das Gemeinwesen wahr, er identifiziert sich mit ihm - und gelegentlich tut er auch genau das Gegenteil. Die Ereignisse der Jahre 1989/1990, der Zusammenbruch des Ostblocks und die Einigung Deutschlands waren Sternstunden für die Staatssymbolik. Rußland7, Polen, Ungarn und einige andere kehrten zu ihren alten, vorrevolutionären Staatswappen und Farben zurück. Die Symbole der DDR verschwanden; DDR-Orden und -Uniformteile landeten massenweise auf Trödelmärkten. In Deutschland erhielt in Art. 2 Abs. 1 EV die Hauptstadt erstmals eine gesetzliche Grundlage 8. Dem folgten übrigens alle neuen Bundesländer, die, anders als die Länder des alten Bundesgebietes, ihre Landeshauptstädte in ihren Verfassungen festschrieben. Auf Berlin mußten die zugehörigen Hauptstadtfunktionen, etwa der Sitz einiger oberster Verfassungsorgane, später durch Gesetz9 oder entsprechende Organentscheidungen übertragen werden.

7 Das zaristische Wappentier kontrastiert dort mit der ebenfalls wieder eingeführten Stalin'schen Nationalhymne; vgl. FAZ vom 23. November und 16. Dezember 2000. 8 Freilich hatte die DDR, im Widerspruch zum Viermächte-Status der Stadt, in Art. 1 ihrer Verfassung vom 6. April 1968 (Gesamt-)Berlin zur Hauptstadt der DDR erklärt. 9 Gesetz zur Umsetzung des Beschusses des Deutschen Bundestages vom 20.06.1991 zur Vollendung der Deutschen Einheit (Berlin-Bonn-Gesetz) vom 26. April 1994, BGBl. S. 918.

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Die Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold haben durch den Einigungsprozeß merklich an Symbolkraft gewonnen. Jedem sind noch die Bilder der Montagsdemonstrationen vor Augen, zunächst mit Kerzen in den Händen der Teilnehmer, dann aber immer mehr mit schwarz-rot-goldenen Fahnen aller Art. Eine besonders expressive, wenn auch anfangs gewiß noch strafbare Form der politischen Kommunikation betrieben diejenigen, die aus den DDR-Fahnen die DDR-Embleme herausgetrennt hatten und mit dem verbliebenen Torso ihrer Meinung Ausdruck verliehen. So eindeutig dieses Bekenntnis zu Farben und Flagge war, so kritisch waren die Stimmen zur Nationalhymne und zum Nationalfeiertag, letztere bis heute andauernd. Die Feuilleton-Seiten der Zeitungen öffneten sich einer kulturkritischen Debatte zu der Frage, welche Melodie und welcher Text in einem vereinten Deutschland als Hymne denn in Betracht komme. Die ZEIT 1 0 befragte 34 Intellektuelle und Politiker dazu. Etwa die Hälfte der Befragten sprach sich für die dritte Strophe des Deutschlandliedes aus, Golo Mann und Wolf Jobst Siedler sogar für alle drei Strophen. Martin Walser, Wolf Biermann und Anlje Vollmer sowie einige andere hielten es dagegen mit der Brecht'sehen Kinderhymne. „Anmut sparet nicht und Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand, daß ein gutes Deutschland blühe wie ein andres gutes Land." Die Eisler'sche Hymne „Auferstanden aus Ruinen" hatte nur noch in Hans Modrow einen Befürworter gefunden. Um diese Debatte zu beenden, schrieb Bundespräsident von Weizsäcker am 19. August 1991 an den Bundeskanzler einen Brief, der mit den Worten endete: „Die 3. Strophe des Liedes der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben mit der Melodie von Joseph Haydn ist die Nationalhymne für das deutsche Volk." Dies entsprach nicht dem bisherigen Rechtszustand, der nach einer Pressemeldung des Bundespräsidialamtes vom 2. Mai 1952 das Hoffmann'sche Lied mit allen drei Strophen anerkannt hatte, auch wenn aus außenpolitischer Rücksichtnahme nur die dritte gesungen werden sollte 11 . Bundeskanzler Kohl antwortete daher unter dem 23. August deutlich vorsichtiger und sprach nicht von der Nationalhymne, und er sprach nicht vom deutschen Volk, als er von Weizsäcker bestätigte, daß die 3. Strophe Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland sei 12 . Ein bemerkenswerter Dissens!

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Ausgaben Nr. 25 und 26 vom 15. und 22. Juni 1990. Eckardt Klein, in: Dolzer/Vogel (Hrsg.), Bonner Kommentar, Art. 22 Rn. 88; Günter Spendet, Zum Deutschland-Lied als Nationalhymne, JZ 1988, S. 748; Hans Hattenhauer, Deutsche Nationalsymbole, München 1984, S. 69. 11

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Der Briefwechsel ist abgedruckt in: Bulletin der Bundesregierung vom 27. August 1991, S. 713.

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Die juristische Literatur beschäftigte sich in dieser Zeit intensiv mit der Frage, ob ein Schriftwechsel zwischen zwei obersten Staatsorganen hinreichende Rechtsgrundlage für eine verbindliche Nationalhymne sein könne 1 3 . Anläßlich des 10. Jahrestages der Einheit Deutschlands entbrannte ein Streit um das richtige Datum für einen deutschen Nationalfeiertag. In die Debatte, welches Ereignis denn nun des Feierns würdig sei, der 17. Juni 14 , der 3. Oktober 15 , der 9. Oktober 16 oder der 9. November 17 soll nicht eingegriffen werden. Zu einer objektiven Beurteilung der möglichen Anlässe eines kollektiven Erinnerns fehlt ohnehin der notwendige zeitliche Abstand. Angemerkt werden soll nur, daß die Schweiz ganze 600 Jahre brauchte, um einen nationalen Konsens für den 1. August als nationalen Feiertag zu finden 18. Immerhin noch 90 Jahre brauchte Frankreich, um am 14. Juli 1880 erstmals die Erinnerung nicht etwa an die belanglose Munitionsbeschaffungsaktion der Erstürmung der Bastille zu feiern, sondern die Erinnerung an das weitaus versöhnlichere Föderationsfest am gleichen Tag des Jahres 1790. So viel Zeit zur Verklärung eines nationalen Ereignisses hat sich die deutsche Geschichte leider nie geleistet. Neben diesem inhaltlich-politischen Streit gab es aber auch eine verfassungsrechtliche Debatte darüber, wie ein nationaler Gedenktag eigentlich zustande kommt. Der Streit war verbunden mit einer Polemik, die dem damaligen Bundeskanzler Kohl vorhielt, die Entscheidung zugunsten des 3. Oktober, wie schon zuvor einige andere Entscheidungen in Sachen Staatssymbolik19, im Alleingang getroffen zu haben20. Im allgemeinen wird nämlich eine Kompetenz des Bundespräsidenten für die Schaffung von Staatssymbolen, zum Teil im Zu-

13 Vgl. Christian Tünnesen-Harmes/Jörn Westhof, Hymne kraft Briefwechsel?, NJ 1993, S. 60, mit weiteren Hinweisen. 14 Am 17. Juni 1953 fand in der ehemaligen DDR ein Volksaufstand gegen die Verkündung neuer Arbeitsnormen statt, der blutig niedergeschlagen wurde. 15 Den 3. Oktober 1990 hatte ein Beschluß der Volkskammer als den Tag des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik bestimmt. 16 Der 9. Oktober 1989 war der Tag einer dramatischen Montagsdemonstration in Leipzig. 17 Am Abend des 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer geöffnet. 18 Dazu Hans Conrad Peyer, Wurde die Eidgenossenschaft 1291 gegründet?, NZZ vom 5./6. Januar 1991, S. 53; vgl. auch Peter Häberle, Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, Berlin 1987, S. 40 ff. 19 Vgl. etwa die Kontroverse um die Gestaltung der Neuen Wache, in Auszügen bei Christoph Stölzl (Hrsg.), Die Neue Wache Unter den Linden, Berlin 1993, S. 189 ff.; oder die Einflußnahme auf die Architektur des Kanzleramtes, dargestellt bei Heinrich Wefing, Der Kanzler als Bauherr, FAZ vom 12. Dezember 2000. 20

Wilhelm Hennis , Aus Kohls Erbe. Warum wir den 3. Oktober und nicht den 9. November als nationalen Feiertag begehen, FAZ vom 28. September 2000, S. 57.

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sammenwirken mit anderen obersten Verfassungsorganen, angenommen21. Bei Flagge, Orden, und Staatswappen ist diese Kompetenz auch gesichert. Allein in Sachen Nationalfeiertag verneint Herzog 22 unter Hinweis auf den Gesetzesvorbehalt eine Zuständigkeit des Bundespräsidenten. In der Tat war der 17. Juni durch Bundesgesetz23 zum Tag der Deutschen Einheit und, wohl unter Inanspruchnahme einer Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhang, auch zum gesetzlichen Feiertag erklärt worden. Zehn Jahre später - eine in der Entwicklungsgeschichte von Staatsfeiertagen offenbar kritische Zeitphase - gab es Diskussionen um den 17. Juni, so daß eine förmliche Proklamation des Nationalfeiertags durch den Bundespräsidenten 24 erforderlich wurde. Die Proklamation nennt unverhohlen die Defizite, die dem Feiertag damals anhafteten. Unter Rückkehr zur Kompetenzregelung des Grundgesetzes wird festgestellt, daß es die Bundesländer waren, die den 17. Juni in ihren jeweiligen Feiertagsgesetzen zum „stillen Feiertag erhoben" haben. Dann aber wird gesagt, daß dieser Tag „nicht den Feiertagen zugerechnet werden (darf), die zur Entspannung, Erholung oder gar dem Vergnügen dienen" 25 . Die Proklamation hatte also keineswegs, wie Herzog meint, nur „deklamatorischen" Charakter. Sie versucht vielmehr, offenkundig gewordene Legitimationsmängel des einfachen Bundesgesetzes auszugleichen, indem sie diesem eine besonders begründete Widmung des Nationalfeiertages hinzufugt. Dafür nahm der Bundespräsident jene Kompetenz in Anspruch, die ihm auf dem Gebiet der Staatssymbolik ansonsten unbestritten zukommt. Bundeskanzler Kohl hatte schon früh auf das Thema eines neu zu bestimmenden Nationalfeiertags hingewiesen. Noch ohne ein Datum nennen zu können, hatte er in einem ZDF-Interview am 18. Juni 1990 26 recht genau seine Vorstellungen von einem nationalen Feiertag dargelegt. In der Regierungserklärung vom 23. August 1990 27 kam er auf den von der Volkskammer beschlossenen Tag des Beitritts, den 3. Oktober, zu sprechen und sagte: „Es wird ein großer Tag in der Geschichte unseres Volkes sein". Erst als diese Hinweise Kohls ohne erkennbares Echo sowohl seitens der übrigen Verfassungsorgane wie sei21

Eckardt Klein, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts I, Heidelberg 1995, § 17 Rn. 16; ders., Bonner Kommentar, Art. 22 Rn. 61; Herzog in: Maunz-Dürig, Komm. z. GG, Art. 22 Rn. 32 und Art. 60 Rn. 40. 22 In: Maunz-Dürig, Komm. z. GG, Art. 60 Rn. 48. 23 Gesetz vom 4. August 1953, BGBl. S. 778. 24 Vom 11. Juni 1963. Als Bekanntmachung des Bundesministers des Innern abgedruckt in: BGBl. I, S. 397. 25 Schon in dieser Proklamation taucht die später von Willy Brandt aufgegriffene Formulierung auf, daß „was zusammengehört... wird auch wieder zusammenkommen". 26 „Was nun, Herr Kohl", veröffentlicht vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung am 19. Juni 1990. 27 Stenograph. Protokolle Deutscher Bundestag, 11/221, S. 17439 A.

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tens der Medien geblieben waren, holte er am 29. August 1990 die Zustimmung der Ministerpräsidenten 28, die schon wegen der Länderzuständigkeit für das Feiertagsrecht angeraten war, ein und schlug die Verankerung im Einigungsvertrag vor 29 . So haben wir als Rechtsgrundlagen für den Nationalfeiertag des 3. Oktober ein Bundesgesetz30 und die Feiertagsgesetze der Länder; es fehlt die Widmung, die zwar nicht rechtsbegründend, wohl aber symbolbegründend ist und damit ein unverzichtbarer Bestandteil der über den Weg der Staatssymbole geführten politischen Kommunikation.

II. Bei allen Staatssymbolen, die bisher in die Betrachtung einbezogen wurden, sind wir auf Phänomene der politischen Kommunikation gestoßen. Was hat es auf sich mit dieser Kommunikation, daß der Staat sie mittels einer eigenen, rechtlich besonders geschützten Zeichenwelt führt? Von allen anderen Mitteln der politischen Kommunikation unterscheiden sich Symbole und Zeremoniell durch ihre Eignung und durch ihre Bestimmung, in einem umfassenden Sinne die Staatsidee als ganzes sichtbar zu machen31. So verwendet der Staat Zeichen, Bilder und Abläufe, um sein Selbstverständnis zu äußern. Er erläutert seinen Herrschaftsanspruch, legitimiert und sichert ihn gleichzeitig. Man mag dies im Ablauf eines Staatsaktes erkennen, deutlicher noch in einer Parade, sei es nun die Parade zum 14. Juli in Frankreich oder diejenige zum Jahrestag der Oktoberrevolution in der ehemaligen Sowjetunion. Auch der Ablauf eines Staatsbesuchs gibt dazu Anlaß; ein Paradebeispiel wäre die Besuchspolitik von Erich Honecker in den letzten Jahren der DDR. Sodann verweist der Staat mit den genannten Mitteln auf seine grundlegenden Werte, etwa auf seine Einheit, seine Würde ( ζ. B. mit der Würde des Gerichts oder der Würde eines Parlaments), auf seine Ordnung, durchaus im Sinne 28 Hennis , Aus Kohls Erbe, geht freilich davon aus, daß die Frage eines Nationalfeiertages „die Länder doch eigentlich gar nichts anging". 29 Das entsprechende Protokoll findet sich in dem Band „Dokumente zur Deutschlandpolitik, Deutsche Einheit 1989/90", bearb. von Hanns Jürgen Küsters, München 1998, S. 1508 f. 30 Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag vom 24. September 1990, BGBl. II, S. 889. 31 Das würde die Nationalhymne nicht ausschließen, die ja ihre Wirkungen nicht entfaltet, wenn sie zum nächtlichen Abschluß eines Rundfunkprogramms erklingt - wozu überhaupt ? - oder wenn man sie auf einem Tonträger anhört, sondern erst dann, wenn sich Anlaß des Spielens Melodie, Text, Gesang und weitere Gesten zu einer corporate acoustics fugen.

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einer Wohlordnung, aber auch auf seine staatliche Ordnung, etwa wenn er, undenkbar in einem zentral organisierten Gemeinwesen, neben den eigenen Symbolen auch Staatssymbole seiner Länder mit gleicher Wertigkeit zuläßt. Er verweist auf Harmonie, auf Friedfertigkeit und so fort. Schließlich erzählt uns ein Staat in seinen Symbolen und in seinem Zeremoniell von seiner Geschichte; er verweist auf die historischen Wurzeln, auf die er sich bezieht, auf seine Gründungsgeschichte, gelegentlich auch auf Revolutionen oder Freiheitskriege. Für einen Aspekt einer Staatsidee erscheint diese Funktion des Sichtbarmachens sogar wesensnotwendig. Es ist die Repräsentation, freilich keineswegs in dem Sinne, wie der Begriff etwa bei den Repräsentationskosten auftaucht, obwohl die tatsächliche Nähe beider Begriffe geradezu verblüfft, sondern in dem Sinne, wie das Bundesverfassungsgericht und eine umfangreiche gelehrte Literatur dieses Prinzip als die Bundesrepublik prägend hervorgehoben haben. „Repräsentation", so etwa Leibholz, „stellt die Herrschaft des Volkes als Einheit über das Volk als Vielheit sicher" 32 . In diesem Sinne aber wird Repräsentation unterhalb einer sehr theoretischen Ebene überhaupt nur über Symbole und Zeremoniell zunächst sichtbar und damit auch erfahrbar. Eindrucksvoll erläutert hat dies ein französischer Anthropologe, der vor einigen Jahren das repräsentierende Agieren des Staatspräsidenten Mitterrand auf einer Reise in die Provinz mit den Mitteln seiner Wissenschaft beobachtet hat. „Politik", so resümiert Marc Abélès, „bedeutet nicht nur Zugang zur Ausübung der Macht auf einem vorgegebenen Territorium; Politik bedeutet auch Errichtung einer öffentlichen Sphäre, Inszenierung der politischen Repräsentation und symbolhafte Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten. Die Ausübung politischer Repräsentation und die Führung der Geschäfte machen sich durch den Einsatz von Zeichen den Regierten sichtbar" 33 . Nur wenn - höchst ausnahmsweise - Repräsentation nicht stattfindet, dann bedarf es auch nicht des Zeremoniells. Das zeigt die athenische Polis des 5. Jahrhunderts vor Christus. Obwohl die Athener im Umgang mit den Göttern durchaus zeremonielles Verhalten einsetzten, sind für den gesamten staatlich/ öffentlichen Bereich keinerlei Staatszeremonien der Athener bekannt. Der Souverän, die Ekklesia, tagte unter freiem Himmel und war für jedermann zugäng-

32 Gerhard Leibholz, Artikel „Repräsentation" in: Evangelisches Staatslexikon, Sp. 2991. Zum Begriff im übrigen Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974. 33 Marc Abélès, Anthropologie de l'Etat, Paris 1990, S. 116 f.

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lieh, lediglich den jeweiligen Redner kennzeichneten die Athener durch einen Myrthenkranz 34 . Wo immer aber Repräsentation als politisches oder soziales Phänomen wirksam werden soll, bedarf sie der nichtverbalen Vermittlung durch Symbole und Zeremoniell.

III. Mit Staatsidee, Herrschaftssicherung und Repräsentation bewegt man sich auf einem ziemlich herausgehobenen Niveau der politischen Kommunikation. Es sind hoch komplexe und komplizierte Themen, die über einen Zeichencode vermittelt werden sollen. A n die Eindeutigkeit der Zeichen und an ihre Pflege wird man daher besondere Anforderungen stellen. Doch wie schon bei Hymne und Feiertag gesehen, ist diese Zeichensprache keineswegs eindeutig. Bei weiteren Symbolen bestätigt sich dieser Eindruck. Beschrieben und als Muster hinterlegt ist das Aussehen des Bundeswappens als „einköpfiger schwarzer Adler, den Kopf nach rechts gewendet, die Flügel offen aber mit geschlossenem Gefieder, Schnabel, Zunge und Fänge in roter Farbe" 35 . Aufgrund dieser heraldischen Beschreibung werden von den Organen der Bundesrepublik mindestens fünf Adler-Varianten mit zwei weiteren UnterVarianten amtlich geführt: -

-

Adler des Wappens, wie ihn die Bundesregierung auf den Amtsschildern ihrer Behörden führt, mit einer vom Bundesverfassungsgericht verwendeten Variante. Der Adler der Bundesdienstflagge. Der Adler der Standarte des Bundespräsidenten mit einer vom Bundesrat verwendeten Variante. Der Adler des Bundessiegels, wie man ihn auch auf Münzen oder in dem Medaillon des Bundesverdienstkreuzes erkennt. Seit 1997 schließlich den „dynamisierten" Signet-Adler 36 .

Hinzufügen kann man dieser Liste noch den Adler des Bundestages, der sich trotz Norman Foster in den Sitzungssaal des Reichstags hinüber retten konnte. Es herrscht also eine ausgesprochene Artenvielfalt und entsprechend vielfältig

34 Raban von Haehling, Repräsentation antiker Staaten: Persepolis und Athen, in: Jörg-Dieter Gauger/Justin Stangl (Hrsg.), Staatsrepräsentation, Berlin 1992, S. 37 (S. 49 ff.). 35 Bekanntmachung des Bundespräsidenten vom 20. Januar 1950, BGBl. S. 26. 36 Birgit Laitenberger/Maria Bassier, Wappen und Flaggen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder. 5. Aufl., Köln 2000, S. 13 Rn. 4.

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sind die populären Bezeichnungen des Wappentieres, von „Würdiges Geflügel der Macht" über „Pleitegeier" bis hin zur „Fetten Henne". Jeder verbalen Kommunikation würde man in einem solchen Falle mangelnde Präzision oder Doppelzüngigkeit vorhalten; in den Kategorien des Rechts würde man von einer rechtswidrigen Verwendung von Hoheitszeichen sprechen. Alles andere also als ein corporate design. Wohl weil Staatssymbole auch in der kommerziellen Werbung positiv besetzt sind und auf regionale Herkunft und Qualität hinweisen, haben einige Bundesländer, weil ihre Landesfarben nicht so eindeutige Unterscheidungskraft wie das bayerische Weiß-Blau besitzen, ihre Landeswappen verstümmelt 37. In Rheinland-Pfalz ist der einzige republikanische Bestandteil des Staatswappens, die Volkskrone aus Weinlaub, einer solchen Verstümmelung zum Opfer gefallen, so daß für Marketingzwecke allein die auf eine feudale Vergangenheit hinweisenden Bestandteile des Wappens übrigblieben. Ein heraldisches Unding! An anderer Stelle 38 habe ich den Umgang mit der Flagge kritisiert und behauptet, daß ein Rundgang an irgendeinem Tag der offiziellen Beflaggung der Dienstgebäude durch irgendeine deutsche Stadt zeigen würde, daß jede dritte Flagge falsch hängt. A m häufigsten wird dabei wohl gegen die Regelung der Beflaggungszeiten 39 verstoßen, sodann gegen die vorgeschriebene Reihenfolge mehrerer Flaggen 40 und schließlich gegen eine ästhetische Regel, daß die Flagge in einem angemessenen Verhältnis zum beflaggten Gebäude stehen soll 41 . Dergleichen Beispiele ließen sich fortsetzen, etwa beim Umgang mit dem Bundesverdienstkreuz oder mit der staatlichen Rangordnung. Es herrscht also ein ziemliches Sprachen-Wirrwarr. Wir haben es hier offensichtlich mit Kommunikationsdefiziten zu tun, deren Folgen nur schwer abzusehen sind. Gerade weil sich diese Art der politischen Kommunikation überwiegend auf emotionalen Ebenen abspielt, ist es schwer, die Reaktionen zu überprüfen. Man wird aber unterstellen dürfen, daß die Antworten des Bürgers

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So Nordrhein-Westfalen durch RdErl. d. IMNW vom 17.12.1984, MB1NW S. 1132; Rheinland-Pfalz durch RdSchr. d. Staatskanzlei vom 06.12.1989, Staatsanzeiger S. 1195. 38 Jürgen Hartmann, Selbstdarstellung der Bundesrepublik in Symbolen, Zeremoniell und Feiern, in: Jörg-Dieter Gauger/Justin Stangl (Hrsg.), Staatsrepräsentation, Berlin 1992, S. 181. 39 Z. B. Abschnitt V, Nr. 5 der Anordnung der Bundesregierung vom 23.05.2000, BAnz. Ausgabe vom 21.06.2000. 40 Z. B. Abschnitt V, Nr. 2 der Anordnung der Bundesregierung vom 23.05.2000; Zentrale Dienstvorschrift (ZDv) 10/8 des Bundesministers der Verteidigung vom 03.06.1983, Ziff. 415. 41 Abschnitt V, Nr. 3 der Anordnung der Bundesregierung vom 23.05.2000.

Staatssymbole/Staatszeremoniell

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keinesfalls präziser ausfallen werden als die Kommunikationsangebote seines staatlichen Gegenübers. Die vom Staat mit der Kommunikation beabsichtigte Integrationsleistung des Bürgers erfolgt also unter ungenauen und möglicherweise sogar falschen Prämissen; sie findet in vielen Fällen vermutlich überhaupt nicht mehr statt. So könnte es durchaus sein, daß es der Bürger gerade wegen solcher Ungereimtheiten vorzieht, die Staatssymbole nur an solchen Orten hervorzuholen, an denen man es nicht so genau nimmt und wo durchaus auch einmal die alte Reichskriegsflagge zwischen dem Schwarz-Rot-Gold erscheinen darf. Es könnte sein, daß darin einer der Gründe liegt, warum man das Bundesverdienstkreuz, obwohl vieltausendfach verliehen, so selten zu Gesicht bekommt, daß deshalb so mancher Richter oder Rechtsanwalt seine Robe nicht mehr anlegen möchte. Es könnte sein, daß man nur deshalb auf die Frage, wer denn den zweiten Platz im Staate nach dem Bundespräsidenten einnimmt, mindestens drei verschiedene Anworten erhält: der Bundestagspräsident, der ihn besetzt hält, der Bundesratspräsident, der ihn beansprucht und der Bundeskanzler, dem allein er zukommt. 1986 und 1995 hatte sich der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages mit Eingaben zu bestimmten Aspekten des militärischen Zeremoniells zu beschäftigen. Die erste Petition 42 äußerte im Zusammenhang mit der Entscheidung der UNO, das Jahr 1986 zum internationalen Jahr des Friedens zu erklären, die Bitte, die Bundesrepublik solle militärische Ehrenformationen bei Staatsempfängen durch zivile bürgerliche Ehrenformationen ablösen und ergänzen. In einer solchen Ehrenformation sollten „die Vertreter der verschiedenen Berufsgruppen in ihren typischen Berufskleidungen nebeneinander stehen; die Ärztin neben dem Schornsteinfeger usw. und auch Hausfrauen und Kinder dabei sein". 1995 wurde dieses Anliegen erneut vorgebracht 43, diesmal mit der Begründung, es entspreche weder dem Zeitgeist noch der demokratischen Grundhaltung, ausländische Staatsgäste mit militärischen Ehren zu empfangen. Diese Aufgabe sollte ein - so wörtlich - „gemischter, ziviler, multikultureller und altersunbegrenzter Chor" übernehmen. Auf den ersten Blick ein nicht unsympathischer Gedanke. Auch Herr von Weizsäcker soll ihn als „an sich interessant" befunden haben44. Der Petitionsausschuß beließ es dabei, daß ein „weltweit völlig unübliches Zeremoniell als beleidigend empfunden werden könnte".

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Abgedruckt in dem Pressedienst „heute im Bundestag" vom 24.06.1987. Mitteilung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages an den Verfasser vom 23.08.1995. 44 Die Ehrenbezeigung bleibt militärisch, Das Parlament. Ausgabe vom 11. Juli 1987, S. 16. 43

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Es ist richtig, daß ein hoher Staatsgast Anspruch auf militärische Ehren hat. Ob man ihm diese gewährt oder nicht, ist eine Frage der Diplomatie. Werden sie ihm aber gewährt, was die Regel ist, so erfolgen sie in einer symbolhaften Zeichensprache, die die Petenten nicht verstanden haben, die der Petitionsausschuß aber auch nicht zu erklären vermochte. Präsentiert eine Ehrenformation dem Ehrengast das Gewehr, so zeigen die Soldaten dem vorbeigehenden Gast das Gewehr umgekehrt, so daß dieser die leere Patronenkammer wahrnehmen kann. Weil das bei modernen Waffen offenbar nicht geht, benutzt das Wachbataillon der Bundeswehr für solche Anlässe ein ansonsten längst aus dem Verkehr gezogenes Gewehr, das 98 k. Eine Geste des Friedens also, ebenso wie das Salutschießen, das dem Gast das Freischießen der Rohre signalisieren soll, oder das militärische Grüßen, dessen Bewegung ursprünglich wohl das Visier öffnete, auf jeden Fall aber die Hand, auch heute noch, von der Waffe entfernt. Wie bei allen Gesten des Zeremoniells 45 handelt es sich auch hierbei um gemäß einem internationalen Code unmittelbar verständliche Unterwerfungsgesten. Welchen glaubhaften Grund sollten Kinder, altersunbegrenzte Chorsänger oder weiß gekleidete Ärztinnen haben, gegenüber einem ausländischen Staatsgast massenhaft archaische Unterwerfungsgesten auszuführen? Für wen könnten sie sprechen? Eine Kommunikation käme nicht zustande. Vielleicht wäre es bei etwas mehr Eindeutigkeit und Sorgfalt im Umgang mit den Staatssymbolen und dem Staatszeremoniell nicht zu den unsäglichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1990 46 gekommen, in denen das Gericht die Bestrafung einer Darstellung des Urinierens auf die Bundesflagge und einer verunglimpfenden Umdichtung des Textes der Nationalhymne als nicht mit der grundgesetzlichen Garantie der Meinungsbzw. der Kunstfreiheit vereinbar erklärte. Damit nicht genug, untersagt das Gericht dem Staat sogar, neue Symbole zu schaffen, deren Schutz mit der Meinungs- oder Kunstfreiheit in Konflikt geraten könnte. Man mag sich fragen, wie es die derzeitige Berliner Symbol-Überlast mit diesem Verbot denn hält. Dem Bundesverfassungsgericht war es nicht gelungen, sich von der aus der Weimarer Republik überkommenen Auffassung zu befreien, der Schutz der Symbole sei Bestandteil des Schutzes der Republik 47 . Diese defensive Einstellung zu den Symbolen hatte zwischen 1918 und 1933 durchaus einen staatspolitischen Sinn, der aber nach allem, was zwischenzeitlich geschehen war, 1990

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Dies hat Herbert Spencer, Die Principien der Sociologie, III. Bd., IV. Theil: Die Herrschaft des Ceremoniells, Stuttgart 1889, nachgewiesen. 46 BVerfGE 81, 278 = NJW 1990, S. 1982 und BVerfGE 81, 298 = NJW 1990, S. 1985. Beide Entscheidungen haben zahlreiche Besprechungen erfahren. 47 Alexander Graf zu Dohna überschrieb 1930 einen Aufsatz „Die staatlichen Symbole und der Schutz der Republik", in: Gerhard Anschütz/Richard Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, S. 200.

Staatssymbole/Staatszeremoniell

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nicht mehr von verfassungsrechtlicher Relevanz sein konnte. Eine zeitgemäßere Wertung der Symbole und des Zeremoniells als Bestandteile einer politischen Kommunikation, als Visualisierung der Repräsentation, hätte diese Gegenstände nicht zu latenten Bedrohungen der Kommunikationsgrundrechte des Artikel 5 GG herabgestuft, sondern sie in diesen Schutzbereich einbezogen. Ob mit einem anderen Ergebnis, mag durchaus dahingestellt bleiben.

IV. Man hat der alten Bundesrepublik vorgehalten, ihre Staatsidee sei aufgebaut gewesen auf der Illusion vom herrschaftsfreien Diskurs ungebundener Individuen 48 . Diese Vorhaltung, träfe sie denn zu, würde nicht nur den nachlässigen Umgang mit Symbol und Zeremoniell erklären. Auch die beiden kritisierten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erhielten wieder einen Sinn. Denn Staatssymbole und Staatszeremoniell sind nun einmal nicht zu trennen von der Ausübung von Herrschaft. Sie machen Herrschaft sichtbar, und indem sie sie sichtbar machen, begründen sie Herrschaft neu und festigen sie. Das ist seit 1989 und seit dem Wechsel der Hauptstadt wieder spürbarer geworden. Die Kontroversen um die Verhüllung des Reichstags, um die Neugestaltung der Neuen Wache Unter den Linden, um das Mahnmal Berlin-Mitte 49 haben die Medien dazu gebracht, Symbolen und Zeremoniell, die ja von Öffentlichkeit leben, ihre politischen Seiten zu öffnen. Politische Beobachter erkennen plötzlich die „Notwendigkeit öffentlicher Emotionen" und forschen in unserer jüngeren Geschichte nach „mythenfähigen" Ereignissen 50. Andere 51 machen in der Berliner Repräsentationsarchitektur einen Wandel der deutschen Selbstdarstellung aus, erfassen das WallotFoster'sche Reichstagsgebäude als „Kulisse zur Inszenierung des Politischen", konstatieren ganz allgemein eine „neue, durchaus nicht nur konservative Sehnsucht nach Symbolen". Die Bedeutung der symbolischen Politik hat in Berlin gewiß zugenommen. Was aber die Staatssymbole und das Staatszeremoniell angeht, so sind die Zei-

48 So zuletzt Konrad Schuller, Völker der Welt, schaut auf dieses Land, FAZ vom 11. November 20Q0. 49 Michael Jeismann (Hrsg.), Mahnmal Mitte. Eine Kontroverse, Köln 1999. 50 So Arnulf Baring , Die Berliner Republik. Erwartungen und Herausforderungen, Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Ausgabe vom 6. August 1999. 51 Heinrich Wefing, Republikanische Lockerungsübungen. Der Umzug nach Berlin und das Ende der Angst vor der Baugeschichte, Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Ausgabe vom 6. August 1999.

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chen nicht eindeutig. Da finden sich Hypertrophien wie mit Staatssymbolen überladene Staatsfotografien. Oder jene merkwürdige Veranstaltung am 9. November 2000 „für Menschlichkeit und Toleranz", die die Formenkataloge von Staatsakt und Demonstration, von Bühne und Straße, bis zur jeweiligen Unkenntlichkeit miteinander vermengte, dabei aber keinen Zweifel mehr daran ließ, daß die Illusion vom herrschaftsfreien Diskurs endgültig zerplatzt ist. Bei anderen Gelegenheiten wiederum werden zeichenhafte Bestätigungen offenbar geringer eingeschätzt, wird militärisches Zeremoniell in die Hinterhöfe Berlins verbannt, so als wolle man die Hauptstadt-Bürger fern halten von den Friedensgesten ihrer Bundeswehr. Dies geschieht nicht nur bei jedem Staatsbesuch so, sondern auch beim Zapfenstreich zu Ehren eines scheidenden Bundespräsidenten. A m Schloß Bellevue hängen gelegentlich die deutschen und ausländischen Fahnen in willkürlicher Ordnung und der Verteidigungsminister läßt sich vom Generalinspekteur den Rang ablaufen 52. Da hatte sich wohl jemand anhand der Preussischen Hof-Rang-Ordnung vom 7. Mai 187 1 5 3 sachkundig gemacht. Auf eine Staatsidee, sei es eine neue oder die alte, wird man aus solchen Episoden nicht schließen dürfen. Das Ergebnis gäbe gewiß Anlaß zur Besorgnis. Doch liegen hier Kapazitäten zur Kommunikation ungenutzt. Wenn der Staat sie nicht selbst ausfüllt, werden es andere tun, möglicherweise mit ungewollten Inhalten.

52 So beim Zapfenstreich zum Abschied des Bundespräsidenten Herzog am 17. Juni 1999, vgl. FAZ vom 19. Juni 1999 und meine Leserzuschrift in der Ausgabe vom 23. Juni 1999. 53 Rudolf Graf Stillfried, Ceremonial-Buch für den Königlich Preussischen Hof, Abschnitt X, Hof-Rang-Reglement, Berlin 1877, S. 43.

Bauten, die Staat machen Bauten der Bundesrepublik Deutschland in Berlin Von Florian Mausbach Über ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg und ein Jahrzehnt nach der staatlichen Wiedervereinigung sucht der deutsche Staat seine neue Rolle in der internationalen Gemeinschaft als Mitglied mit gleichen Rechten und Pflichten zu finden und nach außen darzustellen. Im Jahre 2000 wurde der Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin vollzogen. Bis dahin mußten neue Bauten errichtet und alte Gebäude hergerichtet werden. Zugleich mußte für Bonn ein neues Standortkonzept baulich vorbereitet werden. Eine große Aufgabe fur die Bauverwaltung des Bundes. Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung plant und errichtet die Bauten der Verfassungsorgane und der Ministerien in Bonn und im Ausland. In Berlin teilt es sich diese Aufgabe mit der halb privatrechtlichen Bundesbaugesellschafit und der Oberfinanzdirektion. Bevor wir uns den Bauten in Berlin zuwenden, noch ein kurzer Rückblick auf die Bonner Staatsarchitektur. Die provisorische Bundeshauptstadt Bonn hatte sich in den 50er und 60er Jahren in der bescheidenen Architektur der Zeit und als mehr zufällige Ansammlung einzelner Regierungsbauten entwickelt. Nur wenige Gebäude ragten durch architektonische Qualität heraus.

Presse- und Informationsamt

der Bundesregierung in Bonn

Architekt: Dirk Denninger, Bundesbaudirektion, Baujahr 1954-1955 In den 70er Jahren zeigte sich jedoch Unzufriedenheit mit der baulichen Selbstdarstellung der Bundesrepublik. 1971/72 sollte ein städtebaulicher Ideenwettbewerb helfen, die Bauten des Bundes besser in die Stadt Bonn zu integrie-

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