Öffentliche Verwaltung der Zukunft: Vorträge der 65. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1997 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428490448, 9783428090440

Im Anschluß an den Festakt zum 50jährigen Bestehen der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer fand am

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Öffentliche Verwaltung der Zukunft: Vorträge der 65. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1997 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428490448, 9783428090440

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Öffentliche Verwaltung der Zukunft

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 124

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Offentliehe' Verwaltung der Zukunft Vorträge der 65. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1997 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

herausgegeben von

Klaus Lüder

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Öffentliche Verwaltung der Zukunft: Vorträge der 65. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1997 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer / hrsg. von Klaus Lüder. Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer ; Bd. 124) ISBN 3-428-09044-6

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 3-428-09044-6

Vorwort Die 65. Staatswissenschaftliche Fortbildungstagung der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (damals noch: Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer) fand am 6. und 7. März 1997 im Anschluß an den Festakt zum 50jährigen Bestehen der Hochschule statt. In diesem Zusammenhang ist auch das gewählte Tagungsthema "Öffentliche Verwaltung der Zukunft" zu sehen. Es sollte Gelegenheit bieten, wissenschaftliche Analysen über die künftige Verwaltungsentwicklung und die Einflußfaktoren darauf aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven und auch im internationalen Kontext kennenlernen und erörtern zu können. Eingeleitet wurde die Tagung mit den im ersten Teil abgedruckten Grundsatzreferaten. Daran schlossen sich vier Foren zu den Themen - Bürger und Staat, - Staatsreform und Verwaltungsmodernisierung, - Systemwechsel und Verwaltungstransformation und - Europäische Integration an. Die auf den Foren gehaltenen Referate waren Kurzreferate. Für den Tagungsband haben die Referenten ihre Beiträge überwiegend in der ursprünglichen (Vortrags-)Form, zum Teil aber auch als überarbeitete und / oder erweiterte Version zur Verfügung gestellt. Das dadurch entstehende (quantitative) Ungleichgewicht wurde bewußt in Kauf genommen, da nie die Absicht bestand, mit dem Tagungsband eine umfassende und in jeder Hinsicht ausgewogene Publikation zum Tagungsthema vorzulegen. Dazu erscheint das Thema zu anspruchsvoll. Die Tagungsbeiträge sollen vielmehr für notwendig erachtete Diskussionen anstoßen und laufende Diskussionen weiterführen: Sie sind also eher als "Werkstattpapiere" denn als ausgereifte Arbeitsergebnisse zu verstehen. Für die Unterstützung bei der Redaktion und der Herstellung der Druckfassung dieses Bandes gilt mein herzlicher Dank Herrn Kollegen Heinrich Siedentopf und meinen Mitarbeitern Dipl.-Kfm. Ralf Gerhards und Helga Rink. Speyer, März 1998

Klaus Lüder

Inhaltsverzeichnis Begrüßung und Einführung in das Tagungsthema durch den Rektor der Hochschule ftir VerwaItungswissenschaften Speyer, Klaus Lüder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ERSTER TEIL

Grundsätzliches zum Tagungsthema: Befunde und Perspektiven Verwaltung und Verwaltungswissenschaft Von Thomas Ellwein t ..............................................................

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Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit Von Everhardt Franßen .............................................................

31

Verwaltungsmodernisierung und Verwaltungsbetriebslehre Von Helmut Brede ..................................................................

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Europäische Integration und EU-Mitgliedstaaten Von Gerard Marcou . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ZWEITER TEIL

Bürger und Staat Bürger und Staat: Landesbericht Neuseeland Von Andrew S. Butler ...............................................................

87

Bürger und Staat: Landesbericht Schweiz Von Jörg Paul Müller. ... . . . . .. . . . . ... . . ... . . ... ... . . .. . . . .. . . . . . . .. . . . .. . . . ... ... .. 103 Bürger und Staat: Landesbericht Vereinigte Staaten von Amerika Von Christian Sf/le .................................................................. 107 Das Verhältnis von Bürger und Staat in Deutschland und in den ausgewählten Ländern: Versuch eines Vergleichs Von Hans Herbert von Amim ....................................................... 123 DRITTER TEIL

Staatsreform und VerwaItungsmodernisierung Potentiale und Perspektiven der Verwaltungsmodernisierung Von Hermann Hill ................................................. . ............ . ... 129 Möglichkeiten der Schaffung finanzieller Handlungsspielräume Von Gisela Färber.................................................................. 137

8

Inhaltsverzeichnis

Innovationen und institutionelle Rahmenbedingungen Von Klaus Lüder .................................................................... 149 Modernisierung als Prozeß Von Helmut Klages ....................................................... . ......... 153 Modernisierungsfreude gegen Frust und Widerstand Von Rudolf Fisch ................................................................... 161 Alles geht nur mit aktiver Verwaltungspolitik und reformierter Staatstätigkeit Von earl Böhret .................................................................... 167 VIERTER TEIL

Systemwechsel und Verwaltungstransformation Transformation von Staatsaufgaben Von Klaus König ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Personelle Transformation in Ostdeutschland Von Hans-Ulrich Derlien ........................................................... 183 Gemeineuropäische Verwaltungsstrukturpolitik für die Staaten Mittel- und Osteuropas - Die Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer als Partner der Strukturintegration Von Rainer Pitschas .................................................. . ............. 189 Fortbildung in den Transformationsländern Von Günther Wurster ............................................................... 211 FÜNFTER TEIL

Europäische Integration Staatlichkeit im europäischen Integrationsprozeß Von Siegfried Magiera .............................................................. 219 Die Entstehung des Gemeinschaftsrechts, seine Umsetzung und Anwendung in den Mitgliedstaaten Von Heinrich Siedentopf .................................................... . ....... 223 Die Schengener Abkommen im Triadischen Integrationsmodell Europas Von Waldemar Schreckenberger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 227 Beschäftigungspolitik durch die Europäische Union? Von Dieter Duwendag ................................................ . ............. 255 Einige Entwicklungslinien des Föderalismus Von Stefan Fisch ........................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 269

Schlußwort des Prorektors der Hochschule rur Verwaltungswissenschaften Speyer, Siegfried Magiera .................................................................... 275 Verzeichnis der Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 277

Begrüßung und Einführung in das Tagungsthema durch den Rektor der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Klaus Lüder Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich freue mich, daß unsere Einladung zur 65. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung wiederum auf große Resonanz gestoßen ist, und ich heiße Sie alle an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer sehr herzlich willkommen, um mit uns über die "Öffentliche Verwaltung der Zukunft" zu diskutieren. Die Rolle von Staat und Verwaltung zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird bestimmt sein durch sich dramatisch wandelnde wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. - Die seit dem Fall des "Eisernen Vorhanges" beschleunigte Internationalisierung, ja Globalisierung der Wirtschaft hat in Deutschland, wie in anderen europäischen Ländern auch, zu einer "Standortkrise" geführt. Produktionen werden verstärkt ins Ausland verlagert, Dienstleistungen werden verstärkt aus dem Ausland bezogen. Nationale "Schutzzonen" sind nicht länger aufrechtzuerhalten. Der Staat ist gefordert bei gleichzeitig eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten. - Die fortschreitende europäische Integration, insbesondere die Einführung der Europäischen Währungsunion, wird das nationale Steuerungspotential vermindern. Konsens-Steuerung der Mitgliedstaaten wird an die Stelle isolierter nationaler Steuerung treten müssen. Wie und ob dies funktioniert, ist derzeit nicht absehbar. - Demographische und andere Entwicklungen haben dazu geführt, daß die tradierten Sozialsysteme den Anforderungen von Gegenwart und Zukunft nicht mehr genügen. Ein Umbau dieser Systeme mit dem Ziel, die Leistungsfähigkeit auch unter geänderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu gewährleisten, erscheint unausweichlich. - Die Gesellschaft als Ganzes ist auf dem Weg zu einer Wissens- und Kommunikationsgesellschaft (C. Böhret) mit Konsequenzen für Arbeit, soziale Strukturen und Lebensstile. Die Arbeitsstrukturen werden flexibler, die Menschen müssen mobiler werden (nicht nur im räumlichen Sinn), und die Halbwertzeit von Wissen und Fähigkeiten sinkt. "Lebenslanges Lernen" ist in einer solchen Gesellschaft nötiger denn je.

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Klaus Lüder

- Schließlich wird die Rolle von Staat und Verwaltung vermutlich auf lange Zeit durch finanzielle Knappheiten bestimmt sein. Dies schärft den Blick der Öffentlichkeit für die kritische Betrachtung des "Innenlebens" öffentlicher Institutionen: Staat und Verwaltung erweisen sich danach als "zu teuer", "zu groß", "zu ineffektiv" und "zu ineffizient". Miuelknappheit kann allerdings auch Innovationen auslösen und so zum Motor für Neuerungen werden, ohne allerdings die "Fahrtrichtung" ausschließlich bestimmen zu dürfen. Die Konsequenz aus den zu erwartenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen für das Subsystem "Verwaltung" ist die "Modernisierung", die "Reform". Sie wird aber vermutlich nur gelingen, wenn wir einen Quantensprung schaffen. Reform in kleinen Schritten schafft demgegenüber die Möglichkeit, daß sich widerstrebende Interessen formieren, Änderungen werden als marginal abgetan, Reformerfolge werden bei allem Aktionismus lange Zeit nicht sichtbar. Dies alles zusammengenommen läßt vermuten, daß ein derartiger inkrementalistischer Reformansatz mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Scheitern verurteilt ist. Derzeit absehbare und zum Teil schon eingeleitete Trends der Verwaltungsmodernisierung lassen sich mit den Schlag worten "Privatisierung", "Managerialisierung", "Wettbewerbsorientierung" und ,,(Informations-)Technisierung" umschreiben. - Privatisierung meint "Verschlankung" des Staates durch Übertragung von Aufgaben auf Private, ,,Fremdfertigung" statt "Eigenfertigung", aber auch Verselbständigung öffentlicher Einrichtungen in Privatrechtsform und damit Übergang von einer hierarchisch strukturierten Verwaltungsorganisation zu einem Netz lose gekoppelter Organisationseinheiten. - Managerialisierung im Gefolge der New Public Management-Bewegung zielt auf die Umstrukturierung der durch Privatisierung geschrumpften Kernverwaltung. Dezentralisierung, aufeinander abgestimmte Fach- und Ressourcenverantwortung, Globalsteuerung mittels Kontraktmanagement sollen gewährleisten, daß der Staat die ihm verbleibenden Aufgaben zielgenauer (effektiver) und wirtschaftlicher wahrnimmt. Kompetenzbündelung und Dezentralisierung sollen darüber hinaus die Anpassungsfähigkeit der Verwaltung an geänderte Umweltsituationen und -erfordernisse verbessern und die Reaktionsgeschwindigkeit solcher Anpassungen erhöhen. - Werden Verwaltungen einem Wettbewerb oder wenigstens einem Quasi-Wettbewerb in Form von Leistungsvergleichen, Kostenvergleichen, Markttests u. a. ausgesetzt, dann verbessert dies zweifellos die Chance, daß sie sich bei der Aufgabenwahrnehmung an den Präferenzen ihrer Klientel orientieren und daß sie knappe Ressourcen wirtschaftlich einsetzen. - Die dargestellten Trends der Verwaltungsmodernisierung mit ihren neuen Steuerungsformen erfordern auch die Umstrukturierung des Informationssystems der Verwaltung. Die geänderten Informationsanforderungen zusammen mit den sich

Begrüßung und Einführung

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rasant entwickelnden technischen Möglichkeiten lassen ein weiteres Vordringen der Informationstechnik in allen Bereichen bis hin zur "virtuellen Verwaltung" erwarten. Der schon angelaufene und sich in der Zukunft fortsetzende Umbau von Verwaltungsstrukturen und Verwaltungsprozessen und die daraus resultierenden, geänderten Anforderungen an die Verwaltungsführung haben spezifische Forschungsbedarfe, Umsetzungsbedarfe, Ausbildungs- und Fortbildungsbedarfe zur Folge. Sie beeinflussen insoweit auch die künftigen Aufgaben und das Selbstverständnis der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. - Der derzeit beobachtbare Trend der Verwaltungsmodernisierung ist insbesondere durch die Einfügung ökonomischer Elemente und Anreize in die Verwaltung und das Verwaltungshandeln gekennzeichnet. In diesem Zusammenhang kann nicht oft genug vor einer unmodifizierten Übernahme ökonomischer (speziell betriebswirtschaftlicher) Ansätze gewarnt werden. Kulturgrenzen überschreitender Transfer ist grundsätzlich problematisch. Dies ist im Prinzip auch akzeptiert - die Praxis sieht allerdings oft anders aus. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt darin, daß verwaltungsadäquate Konzeptionen und Verfahren (noch) nicht zur Verfügung stehen. Hier sind vorauslaufende angewandte Verwaltungsforschung und Praxistransfer ihrer Ergebnisse im Rahmen von Modellvorhaben, Pilotprojekten usw. das Gebot der Stunde. Daß sich die Hochschule Speyer und das Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung dieser Forschungsaufgabe angenommen haben, zeigt schon ein Blick auf die Liste der jüngst erschienenen Forschungsberichte und in den neuesten Arbeitsplan des Forschungsinstituts. Besonders hervorhebenswert erscheint daneben, daß sich die Speyerer Wissenschaftler auch der Mitwirkung an der Transferaufgabe nicht verschließen; viele von ihnen sind an Verwaltungsreformprojekten des Bundes, der Länder und der Kommunen in der einen oder anderen Form maßgeblich beteiligt und in Steuerungskommissionen der Gebietskörperschaften tätig. - Der traditionelle Schwerpunkt der Speyerer Ausbildung - das einsemestrige Ergänzungsstudium für Referendare - bietet nur sehr begrenzte Möglichkeiten, universitäre Ausbildungslücken im Hinblick auf gewandelte Berufsanforderungen zu schließen. Die Hochschule kann dies aber im Rahmen eines entsprechend strukturierten Aufbaustudiums tun. Für dieses zwei- bis dreisemestrige Aufbaustudium wird sie dann mehr Raum gewinnen, wenn sich die - allerdings auch schon vor 25 Jahren erklungenen - Unkenrufe (vgl. Ansprache des Rektors Herzog anläßlich des Festaktes zum 25jährigen Bestehen der Hochschule) vom Ende des juristischen Vorbereitungsdienstes in seiner jetzigen Form bestätigen sollten. Hinsichtlich künftiger Berufschancen sollte ein Vorteil der Absolventen des Speyerer Aufbaustudiums gegenüber Absolventen eines verwaltungswissenschaftlichen Simultanstudiums darin bestehen, daß sie eine "Doppelqualifikation" besitzen: Neben einem abgeschlossenen universitären Fachstudium haben sie ein überdisziplinäres verwaltungswissenschaftliches Studium absolviert.

Klaus Lüder

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Der international ausgezeichnete Ruf der Hochschule Speyer führt zu einer hohen Nachfrage ausländischer Interessenten nach Studienplätzen im Aufbaustudium. Zu den vielen Regionen der Welt, aus denen die Speyerer Auslandshörer stammen, sind in jüngster Zeit noch Mittel- und Osteuropa hinzugekommen. Dieser Ausbildungszweig erscheint somit ausbaufähig, und er ist sicher auch ausbauwürdig, obgleich nicht zu verkennen ist, daß die zu beachtenden personellen und finanziellen Restriktionen einem solchen Ausbau enge Grenzen setzen. - Der Umbau der Verwaltungen hat auf lange Zeit einen erheblichen Umschulungs- und Fortbildungsbedarf zur Folge. Dies gilt nicht nur für Verwaltungsangehörige, sondern auch für Mitglieder der Legislativorgane, die mit einem neuen Infonnationsangebot konfrontiert werden, mit dessen Hilfe sie die Exekutive anders als bisher steuern sollen. Auf die geänderten Fortbildungsanforderungen stellt sich die Hochschule Speyer derzeit mit einem umstrukturierten Fortbildungsprogramm ein, das die traditionelle "Grundlagenfortbildung" zugunsten von Projektfortbildung und Transferfortbildung in den Hintergrund treten läßt und das auch spezielle Fortbildungsveranstaltungen für Abgeordnete vorsieht. Diese Art der Fortbildung ist kürzer, aber auch problemnäher und intensiver. Im Rahmen der Projektfortbildung kann unmittelbar aus den Ergebnissen von Forschungsprojekten gelernt werden, während es bei der Transferfortbildung vor allem darum geht, daß "das Rad nicht mehrfach erfunden werden muß". Lernen aus den Erfahrungen anderer (national und international) ist hier die Devise. In diesem Zusammenhang kommt der am Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung eingerichteten "Wissenschaftliche Dokumentations- und TransfersteIle (WIDUT)" für Innovationen in den Bundesländern eine wichtige Rolle zu. Die diesjährige 65. Staatswissenschaftliehe Fortbildungstagung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, meine Damen und Herren, ist der skizzierten Problematik, also der künftigen Entwicklung von Staat und Verwaltung, aber auch der Verwaltungs wissenschaft gewidmet. Anlaß zu diesem "Blick in die Zukunft" waren nicht zuletzt das 50jährige Jubiläum der Hochschule und die Erkenntnis, daß in den kommenden 25 Jahren manches anders sein wird und manches anders gemacht werden muß als in den vergangenen 25 Jahren. Unter dem Titel "Öffentliche Verwaltung der Zukunft" sollen Entwicklungen, Folgeprobleme und Lösungsmöglichkeiten zu den Schlüsselbereichen - Bürgerorientierung - Verwaltungsmodernisierung - Verwaltungstransfonnation - Europäisierung aufgezeigt und diskutiert werden. In diesem Zusammenhang ist es uns ein Anliegen, die Leistungsfähigkeit des durch Überdisziplinarität, Internationalität und

Begrüßung und Einführung

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Praxisorientierung gekennzeichneten Speyerer Wissenschaftsansatzes deutlich zu machen und die Perspektiven der Verwaltungswissenschaften auszuloten. Die 65. Staatwissenschaftliche Fortbildungstagung weist auch insofern eine Besonderheit auf, als sie keinen wissenschaftlichen Leiter besitzt. Das Programm ist vielmehr ein Gemeinschaftswerk (fast) aller Speyerer Professorinnen und Professoren. Ich glaube, daß dieses Gemeinschaftswerk programmatisch gelungen ist, ich hoffe, daß es auch in der Umsetzung ein Erfolg sein wird, und ich bedanke mich bei den beteiligten Kollegen für die Kooperationsbereitschaft.

ERSTER TEIL

Grundsätzliches zum Tagungsthema: Befunde und Perspektiven

Verwaltung und Verwaltungswissenschaft Von Thomas Ellwein

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I. In den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts veröffentlichte Joseph von Sonnenfels die aus Vorlesungen hervorgegangenen "Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanzwissenschaft", widmete sie in der Tradition der Fürstenspiegell dem "allerdurchlauchtigsten großmächtigsten römischen Kaiser" und grenzte sie von der üblichen Kameralistik vor allem durch das Bestreben ab, vollständig, dennoch aber kurz zu sein 2 • Im ersten Band stellt er die Staats- und Verwaltungstätigkeit vor, was von der Regelung der Abdeckerei bis zum Verbot von Zweikämpfen reicht und die Anlage von Salzdepots ebenso einschließt wie die Maßnahmen zur Erhaltung der Reinlichkeit der Städte - sie setzt bei Sonnenfels eine interessante Kombination von Tätigkeiten der Hausbesitzer und Stadtverwaltung voraus. Weil Sonnenfe1s seinem Vorsatz treu bleibt und sich kurz faßt - die Staatstätigkeit wird auf 400 kleinen Seiten abgehandelt -, dennoch aber wo immer nötig argumentiert, kann man bis heute nachvollziehen, welches Wissen der Autor von einem Verwaltungsmann erwartete. Dieses Wissen war umfangreich. Die Verwaltungsschule in (Kaisers) Lautem, 1784 in die Heidelberger Universität eingegliedert, nannte 1792 in ihrem Lehrprogramm nicht weniger als 22 Lehrgebiete, wobei neben der Enzyklopädie der Staatswissenschaft und deren konkreter Form Philosophie und Politik, Natur-, Völker- und allgemeines Staatsrecht, Statistik, Finanzwissenschaft und natürlich auch die Landwirtschaft, die Forstwissenschaft oder die Bergwerkswissenschaft zu ihrem Recht kamen, von der reinen und der angewandten Mathematik ganz zu sChweigen3 • Man weiß, daß man das nicht überschätzen darf. Studenten mit eigenem Kopf gingen auch eigene Wege. Der Freiherr vom Stein war fleißig, I Vgl. zu ihr Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (Polizeiwissenschaft). Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Wissenschaft in Deutschland. Neuwied 1966; noch immer höchst informativ über den ersten in Deutschland berühmten Fürstenspiegel: Horst Krämer, Der deutsche Kleinstaat des 17. Jahrhunderts im Spiegel von Seckendorffs ,Teutschen Fürstenstaat'. 1922, Nachdruck Darmstadt 1974 mit einem Vorwort von Walter Hubatsch. Bei Seckendorff findet sich eine der ersten präzisen Aufgabenlehren. 2 Joseph von Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanzwissenschaft. Erster Theil, Dritte Auflage Wien 1770, hier: Vorrede. 3 Vgl. Thomas Ellwein, Die deutsche Universität vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Frankfurt/M. 2. Auflage 1992, S. 354 f.

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Thomas Ellwein

schreibt Max Lehmann4 , zu den juristischen Vorlesungen führte ihn aber nur der Gehorsam. Nach dem Studium war er zuerst Praktikant am Reichskammergericht. Seinen Dienst in Preußen begann er aber bekanntlich im Bergwerks- und Hüttenfach, wobei man von ihm kein Examen, nur gründliche Einarbeitung verlangte und ihn mit 24 Jahren zum Oberbergrat machte. Ein Verwaltungsmann mußte nicht alles, aber doch viel können und über das entsprechende Grundwissen verfügen. Was das noch im 19. Jahrhundert inhaltlich bedeutete, belegen eindrucksvoll das große Werk von Robert von Mohl 5 und die Unterschiede zu dem zwanzig Jahre jüngeren Handbuch von Moritz von Stubenrauch6 , der immer noch auf Vollständigkeit bedacht war und in der Sache argumentierte, sich aber schon stark an den österreichischen Behördenorganismus und Gesetzesbestand anlehnte. Was uns in solchen Werken, also nicht in den zahllosen kleineren Traktaten und Einzelschriften gegenübertritt, ist später hierzulande - in Australien oder Neuseeland galt Mohl bis in die Gegenwart als lesenswerter Klassiker - abfällig kritisiert, zumindest aber belächelt worden, weil es den Ansprüchen nicht mehr genügte, die sich im 19. Jahrhundert durchsetzten. Auf seine Weise und in seiner Zeit genügte es aber durchaus hohen Ansprüchen. Die der öffentlichen Verwaltung zugewandten Wissenschaften, unter welchen Namen sie auch auftraten, wollten zunächst beschreiben. Die topographische Staatskunde stand in Blüte, weil man vom Verwaltungsmann Kenntnisse über ,Land und Leute' erwartete7 • In der Beschreibung hatte auch die Verwaltung ihren Platz zu finden. Anschließend galt es zu klären, was diese Verwaltung auf welche Weise und warum sie es tun sollte. Dabei galten enge Begrenzungen als unerlaubt. Die einzelnen Inhalte des Staats- und Verwaltungshandelns waren als Teile eines Systems, mithin als etwas Zusammengehöriges und im Zusammenhang zu Sehendes zu verstehen; die Verfahrensweisen sollten im Sinne einer Handlungslehre auf ihre Möglichkeit hin befragt werden, weil das inhaltlich Wünschenswerte auch durchführbar sein mußte; die Frage nach den Normen, also nach dem Warum, verstand sich im Zeitalter der Aufklärung immer von selbst. Solche Ansprüche zwangen die Autoren dazu, sich zu begrenzen, weil sie Max Lehmann, Freiherr vom Stein. Göttingen, 4. Auflage 1925, S. 9. Robert von Mohl. Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates. 2 Bände, Tübingen 1832 und 1833. 3. Band: System der Präventiv-Justiz oder Rechts-Polizei. Tübingen 1934. 6 Moritz von Stubenrauch. Handbuch der österreichischen Verwaltungs-Gesetzeskunde. Nach dem gegenwärtigen Stand der Gesetzgebung. 2 Bände, Wien 1852. 7 Die Verflechtung der Themen zeigt sich, um wenigstens ein Beispiel zu nennen, das nicht zu den zahlreichen (nur) historisch-topographischen Beschreibungen gehört, besonders gut in dem vierbändigen Werk von earl Heinrich von Römer, Staatsrecht und Statistik des Churfürstentums Sachsen und der dabey befindlichen Land. Halle 1787 bis 1803. Nach dem Plan handelt der erste Teil von der kursächsischen Landeskunde und dem äußeren Staatsrecht (Beziehung zum Reich usw.), der zweite vom inneren Staatsrecht (Beziehungen zwischen Fürst und Ständen/Untertanen), der dritte von der Statistik, d. h. "von der inneren politischen und ökonomischen Verfassung". Der dritte, von C. G. Rößig bearbeitet, enthält "die Produkten-, Fabrik-, Manufaktur- und Handelskunde". 4

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Verwaltung und Verwaltungs wissenschaft

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allein arbeiteten, aber doch die Grenzen nicht zu eng zu ziehen, weil das nicht statthaft und schon durch die erhebliche Konkurrenz verboten war. Man konnte sich deshalb nur wenig spezialisieren und hatte so keine Probleme, sich einfach und verständlich auszudrücken. Das Was, Wie und Warum des Staatshandelns wurde damit in einer Weise traktiert, die der allgemeinen Auseinandersetzung und dem üblichen Gebrauch der ratio zugänglich war. Im gemeinsamen Raisonieren, was einmal nur bedeutete: von der Vernunft Gebrauch zu machen, schälte sich ein Kern von Gemeinsamkeiten heraus, spielten aber auch Subjektivismen eine große Rolle, waren Grenzüberschreitungen schon deshalb selbstverständlich, weil es feste Grenzen kaum gab - jeder Kameralist äußerte sich zu Fragen der Hygiene, des Straßenbaus oder der Stellung von Dienstboten - und herrschte eine bunte Mischung von Beschreibung des Ist- und Beschwörung des Soll-Zustandes, die aber doch wesentlich zum Fortschritt des Ganzen beitrug und es z. B. Robert von Mohl ermöglichte, 1832 das bislang im Zusammenhang mit dem Staat und seiner Verwaltung (Policey) Diskutierte noch einmal großartig zusammenzufassen. Was er zusammenfaßte war Staatswissenschaft, also ein Kind der Aufklärung mit allerdings eigenen Denk- und Argumentationsformen 8 , das weder predigen noch prophezeien, sondern eben aufklären - in unserem Falle paßt das auch semantisch und damit im Sinne von Kant den rechten Gebrauch der Vernunft ermöglichen und erweitern wollte. Der Austausch von Argumenten und Erfahrungen stand im Vordergrund, keineswegs die Vernünftelei, die man später all dem vorgeworfen hat.

11. Im 19. Jahrhundert löste sich allmählich die Rechtswissenschaft von den Staatswissenschaften. Das entsprach erstens einem allgemeinen Trend in der Wissenschaftsentwicklung9 ; zweitens war es Folge der methodologischen Modernisierung der Rechtswissenschaft; drittens hatte es entscheidend mit der deutschen Sonderentwicklung des Gesetzes als Führungs- und Steuerungsinstrument zu tun; viertens entsprach es auch Entwicklungen in der Verwaltung selbst. In der Wissenschaft mußten die zunehmende Fülle der Fragen und Antworten, die wachsende Stoffülle und der sich vermindernde Halbzeitwert des als gesichert geltenden Basiswissens durch Ausdifferenzierung bewältigt werden. Die Rechtswissenschaft erhielt ihr neues und strikter juridisches Element dadurch, daß das Privatrecht und 8 Im Unterschied zur philosophischen Aufklärung im engeren Sinne. Vgl. dazu Jürgen Mittelstraß, Neuzeit und Aufklärung. Studie zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie. Berlin 1970. 9 Vgl. Otto Brunner; Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter. Wien 5. Auflage 1965, Hans Maier a. a. O. und Thomas EI/wein, Die politikwissenschaftliche Regierungslehre und ihre Beziehung zur Verwaltungs- und Staatslehre, in: Hans-Hermann Hartwich I Göttrik Wewer (Hrsg.), Regieren in der Bundesrepublik I. Konzeptionelle Grundlagen und Perspektiven der Forschung. Opladen 1990, hier S. 25 ff.

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Thomas Ellwein

der Zivilprozeß ergänzt durch Strafrecht und -prozeß in den Vordergrund rückten und zunehmend die Ausbildung bestimmten. Zugleich mußte diese Wissenschaft sich aber stärker dem nunmehr konstitutionell formalisierten ,Gesetz' zuwenden, mit dem sich das Dargebot von herrschaftlichen Willensäußerungen nach Form und Inhalt veränderten, zugleich aber Fragen der Machtverteilung oder -begrenzung beantwortet wurden. Grundlegend wirkten sich die Veränderungen in der Verwaltung aus. Prototypisch kann man das an der Figur des preußischen Landrats erörtern, der bis in die siebziger 1ahre des 19. 1ahrhunderts hinein ohne nennenswerte Amtsausstattung in seinem Kreis für den größeren Teil der Agenda zuständig war, welche im Regierungspräsidium 25 bis 35 Beamte des höheren Dienstes bearbeiteten. Für eine Ein-Mann-Behörde als Arm einer großen und fachlich ausdifferenzierten Behörde galten eigene Regeln: Der Landrat mußte abgesehen von einem Kernbestand seiner Aufgaben eine Auswahl treffen, den örtlichen Bedingungen entsprechende Schwerpunkte bilden und es ertragen, daß er damit ggf. den Intentionen der Berliner Ministerien oder seines Präsidiums nicht entsprach er konnte sich aber nicht gleichzeitig erfolgreich um Meliorationen, die Errichtung von Sparkassen, die Beseitigung von Dungstätten an den Straßen oder die Gründung von Kriegervereinen kümmern und außerdem seine Gemeinden anhalten, das Notwendige für die Schule, die Armenfürsorge oder den Straßenbau zu tun 10. Von etwa 1860 ab änderte sich diese Grundsituation allmählich, weil zum einen mit der zunehmenden Kreisselbstverwaltung ganz neue Aufgaben anfielen, zum anderen die staatlichen Aufgaben an Umfang und Schwierigkeitsgrad zunahmen und zum dritten in immer mehr Gemeinden die Gemeindeaufgaben und mit ihnen die Gemeindeverwaltungen und -haushalte umfangreicher wurden, was wiederum Aufsicht erschwerte. In der Konsequenz wuchs nun auch die Kreisverwaltung, kam es zum Nebeneinander von staatlich besoldeten Mitarbeitern und denen der Selbstverwaltung und zu zunehmender Arbeitsteilung zwischen den Mitarbeitern, was diesen oft zu einer Spezialkompetenz verhalf, die im Einzelfall größer war als die des Landrats. Zugleich arbeiteten immer mehr Fachbeamte neben dem Landrat: Der Schulinspektor löste die geistliche Schulaufsicht ab; Ärzte erhielten Funktionen, die der Landrat zu berücksichtigen hatte; der Straßenbau erforderte ein eigenes Personal; der Kreis mußte sich schulisch betätigen und selbst Lehrer einstellen; nach der lahrhundertwende kamen die ersten Sozialarbeiter hinzu kurz: die Kreisverwaltung selbst differenzierte sich aus und die Behörden oder Dienststellen, mit denen sie es zu tun hatte, taten es auch. Damit veränderte sich die Rolle des Landrats grundlegend. Die Ein-Mann-Behörde wurde durch den Leiter einer ständig wachsenden Behörde abgelöst, dem es außerdem zukam, innerhalb des Kreisgebietes zu koordinieren oder auch zu moderieren. Die Verantwortlichkeit für Prozesse und das Zustandekommen von Entscheidungen trat in den Vordergrund. 10 Vgl. Thomas Ellwein, Der Staat als Zufall und als Notwendigkeit. Die jüngere Verwaltungsentwicklung in Deutschland am Beispiel Ostwestfalen-Lippe. Opladen Band 1 1993, Band 2 1997, hier Band 1.

Verwaltung und Verwaltungswissenschaft

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Diese Veränderung spiegelt wider, was sich überhaupt in der Verwaltung vollzog: Zum ersten kam es zur Professionalisierung im ganz allgemeinen Verständnis von hauptamtlicher Erledigung mehr oder weniger bestimmter Dinge. Zum zweiten führte das Nebeneinander von mehreren Professionalisten unvermeidlich zu deren Spezialisierung - enger, wenn man wenig ausgebildeten Mitarbeitern Aufgaben zur selbständigen Erledigung in einem genau begrenzten Rahmen zuwies, weiter, wenn der Kreisschulrat oder der Kreisphysikus ihre eigene Ausbildung ins Spiel brachten, ihre fachliche Kompetenz gegenüber der allgemeinen Zuständigkeit etwa des Landrates betonten und damit zugleich fachwissenschaftliehe Bezüge herstellten, die diesen Landrat anders als früher in Aufgabenbereichen, in denen er durchaus noch tätig war, zum Laien machten. Im Rahmen dieser Entwicklung erledigte sich die herkömmliche Verwaltungswissenschaft gewissermaßen von selbst. Der Überblick wurde immer schwieriger. In dem Maße, in dem Landwirtschaftsexperten, professionelle Straßenbauer, Schulfachleute, Mediziner, studierte Chemiker oder Physiker als Gewerbeaufsichtsbeamte tätig wurden oder ausgebildete Fürsorger die Armen- und vor allem die Jugendfürsorge in die Hand nahmen, vermehrten sich die Bezugswissenschaften der Verwaltung, kam es zur Symbiose zwischen einzelnen Verwaltungszweigen und je ihrer Wissenschaft und damit zu den allmählich sich ausbildenden Fachbruderschaften mitsamt ihrer besonderen Fähigkeit, unabhängig von der Verwaltungsführung eigene Standards zu entwickeln und sie in der Verwaltung durchzusetzen. Nicht genug damit: Die einzelnen Wissenschaften lösten sich nicht nur voneinander, um in Forschung und Lehre fortan ihren eigenen Weg zu gehen, was sich weithin schon im 19. Jahrhundert ereignete. Sie setzten auch selbst auf Spezialisierung und fachliche Ausdifferenzierung, was dann vor allem die Entwicklung in unserem Jahrhundert kennzeichnet, und leiteten damit einen Prozeß der immerwährenden Erweiterung der jeweiligen Wissenschaft ein, der zu einer Fülle von Spezialdisziplinen führte und mit ihnen zu wachsenden Verständigungsschwierigkeiten schon in der eigenen Disziplin. An den forstwissenschaftlichen Hochschulen oder Fakultäten kam es zur Unterscheidung der Forstpolitik von der Forstpolizei oder der Forstbetriebslehre; die Volkswirtschaftslehre, einmal ein zentraler Teil der alten Staatswissenschaften, bildete mehrere Zweige aus, unter denen so verschiedene wie die Sozialpolitik und die Finanzwissenschaft je auf ihre Weise auf die Verwaltung einwirken; die Betriebswirtschaftslehre trennte sich von der Volkswirtschaftslehre ab und beanspruchte einen eigenen Zugriff auf die öffentliche Verwaltung; alle angewandten Natur- und die Ingenieurwissenschaften produzierten Erkenntnisse, die von der Verwaltung aufzugreifen waren - man überlege nur, in welchem Maße Schutz und Nutzung des Wassers heute wissenschaftlich bestimmt sind und welche Disziplinen im Umweltschutz eine Rolle spielen, von der spezifischen Professionalisierung der Arbeit in den Kindertagesstätten oder den von den beteiligten Sozialarbeitern oft als fundamental empfundenen Unterschieden zwischen der Arbeit mit gefährdeten Jugendlichen und derjenigen, die ihm Rahmen der Jugendgerichtsbarkeit anfällt, einmal ganz abgesehen. Wissenschaftsentwicklung ist derart seit der Jahrhundertwende durch

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Spezialisierung gekennzeichnet, was sowohl mit dem zunehmenden Verlust des Verständnisses für Zusammenhänge und für die Folgen dort, welche ein Tun hier auslöst, einhergeht als auch mit dem unerschütterten Glauben an die Machbarkeit der Dinge. Wissenschaft ,kann' immer mehr und nutzt das um so mehr, als sie durch die Frage nach der Rechtfertigung des jeweiligen Tuns nicht sonderlich beeinträchtigt wird. Auch Verwaltung ,kann' offenbar immer mehr, was die Frage nach dem, was sie soll, in den Hintergrund drängt. Nicht nur Kasse, sondern auch Kapazität macht sinnlich - in unserem Falle Politiker in Bund, Ländern und Gemeinden. Verwaltungs- und Wissenschaftsentwicklung sind deshalb nebeneinander zu sehen, weil nur vor diesem Hintergrund zu verstehen ist, warum die alte Verwaltungswissenschaft sich auflösen mußte und in die entstehende Lücke neben vielen anderen Wissenschaften in besonderer Weise die Rechtswissenschaft einspringen konnte. Dazu mußte freilich auch diese sich ändern. Das erfolgte in einem zutiefst widersprüchlichen Prozeß: Einerseits war die ,neue' Rechtswissenschaft mit weitreichenden Folgen für die Juristenausbildung am Privat-, Straf- und Prozeßrecht orientiert und erhielt dabei durch die Arbeiten am neuen Strafgesetzbuch, vor allem aber am Bürgerlichen Gesetzbuch unerhörten Auftrieb. Andererseits dominierte spätestens von 1880 an in der deutschen Rechtsentwicklung quantitativ eindeutig das Verwaltungsrecht ll . Recht als solches mußte nach Form und Inhalt angepaßt werden, um dem stürmischen Wachstum der öffentlichen Verwaltung und ihres Tätigkeitsumfanges entsprechen zu können. Mit dem Verwaltungsrecht kam es recht eigentlich zur Rechtsspezialisierung, zur zunehmenden Auflösung der gemeinsamen Begrifflichkeit und zu der damit verbundenen Schwächung des Rechtsbewußtseins. Die meisten rechtstechnischen Probleme quantitativer wie qualitativer Art, von der zunehmenden Befristetheit bis zur Unüberschaubarkeit, für welche die Unkultur der Loseblattausgaben - und die nicht eingeordneten Nachlieferungen in den Behörden! - tagtäglich Zeugnis ablegen, sind letztlich Folgen der Entwicklung des weitverzweigten, hoch spezialisierten, sich ständig verändernden Verwaltungsrechts mit seiner bunten Mischung von Zielbestimmungen, Zuständigkeitsregelungen, Verfahrensvorschriften, Ermächtigungen und anderem mehr. Obwohl dieses Verwaltungsrecht in der Regel nur den Rahmen für Inhalt und Form des Verwaltungshandelns bereitstellt, oblag es zugleich immer mehr der Rechtswissenschaft, die Einheit der öffentlichen Verwaltung trotz deren notori11 In der später berühmten Zeitschrift für Praxis und Gesetzgebung der Verwaltung zunächst für das Königreich Sachsen (,Fischers-Zeitschrift') hieß es 1880 in Band 1 einleitend: "Im ganzen System des Rechts gibt es kein Gebiet, das in den letzten Jahrzehnten so jähe und tiefgreifende Wandlungen erfahren hat, als das Verwaltungsrecht. Der gewaltige (ökonomische und soziale Umschwung ... ist nicht nur die zwingende Veranlassung für eine durchgreifende Revision und Umarbeitung der bestehenden Verwaltungsgesetze in den europäischen Staaten geworden, sondern hat auch Koryphäen der Wissenschaft, die bisher diesem Theile des Rechts nur ein verhältnismäßig geringes Interesse zuwendeten, veranlaßt, sich eingehender mit demselben zu beschäftigen."

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scher Vielfalt zu konstruieren oder zu sichern und sie auf den Staat, das Recht, den politischen Willen, die Verfassung oder andere Konstrukte zu beziehen und so wenigstens gedanklich eine Identität herzustellen, die praktisch immer weniger bestand: Als nach 1919 die Reichssteuerverwaltung geschaffen wurde, gehörte es zu ihren großen Leistungen, aus dem zusammengewürfelten Personal der Anfangszeit durch Fortbildung und eigene Ausbildung möglichst bald einen eigenen Personalkörper zu schaffen 12, der in sich ebenso geschlossen war wie der der uniformierten Polizei, der Forst-, der Landwirtschafts- oder der Schulverwaltung und in dem die eigentliche Sozialisation der Mitarbeiter stattfand. Die Einheit der Verwaltung, ein wirksamer Mythos, der sich aber schon an der personellen Undurchlässigkeit von Staats- und Gemeindeverwaltung bricht, läßt sich begründen nur im Blick auf das Recht. Das ,nur' ist bewußt gewählt. Der rechtliche ist in der Praxis der Kindertagesstätten oder der Sammlung und Reinigung des Abwassers oder der Bewirtschaftung einer Mülldeponie oder selbst bei der Art und Weise, wie man im Sozialamt mit einem Antrag auf Hilfe in einer besonderen Lebenslage umgeht, immer nur ein Aspekt - oder praktischer: eines von mehreren Begriffsrastern mit unterschiedlichen Zwecken, die über die Wirklichkeit gelegt werden, ihr Eigenleben entwikkeIn und damit Wirklichkeit verändern. Verwaltungs wissenschaft, in der Hauptsache von der Rechtswissenschaft abgelöst, verschwand zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht ganz. Noch immer gab es, vor allem in den süddeutschen Ländern, bemerkenswerte Kompendien für die Bürgenneister oder Bezirksamtmänner, die auf Vollständigkeit zielten und verständlich sein wollten 13. Außerdem blieb so etwas wie eine beschreibende Verwaltungslehre übrig. Es gelang aber die inhaltliche Zusammenfassung der Tätigkeit der öffentlichen Hand nicht mehr, es gelang nicht einmal eine ernstzunehmende Systematisierung dieser Tätigkeit. Die Frage nach den ,Aufgaben' wurde spätestens von Max Weber als einfältig diskreditiert; der Staat sollte sich nicht durch seine Aufgaben, sondern durch seine Mittel von anderen Gebilden unterscheiden l4 . Die relative Beliebigkeit der öffentlichen Aufgaben, also ihre Abhängigkeit von Raum, Zeit, Bedürfnissen und Willensbekundungen wurde so zu einer absoluten. "In potentia, der Möglichkeit nach, ist daher jeder Staat gegenständlich allumfassend", stellt Herbert Krüger apodiktisch fest l5 , um dann den Unterschied zwischen totalitär und freiheitlich anzusprechen, nicht aber die Möglichkeit des überforderten Staates 16 oder der sich überschätzenden Politik. Über das Wie der Aufgabenerledigung mußte man nicht mehr reflektieren. Im Zweifel mußten sich fachwissenschaftliehe 12 Vgl. Ulrike Metzger I Joe Weinganen, Einkommensteuer und Einkommensteuerverwaltung in Deutschland. Ein historischer und verwaltungswissenschaftlicher Überblick. Opladen 1989. 13 Als Beispiel: Alben Jung, Der Badische Bürgermeister. Ein praktisches Handbuch. Heidelberg, 7. Auflage 1928. 14 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe Köln 1964, S. 1043. 15 Herben Krüger, Allgemeine Staatslehre. Stuttgart 1964, S. 761. 16 Thomas Ellweinl Joachim Jens Hesse, Der überforderte Staat. Baden-Baden 1994.

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und von der Rechtswissenschaft interpretierte Anforderungen ergänzen. Die Frage nach dem Warum erübrigte sich vollends, auch wenn sie in der deutschen Allgemeinen Staatslehre noch nachklang. Überwiegend setzte sich aber in Deutschland auch hier der Rechtspositivismus durch, der sich am Willen dessen, der Recht setzen kann, orientierte und die Begründung von Recht vernachlässigte oder überhaupt für unwissenschaftlich erklärte. Daß man so Gewohnheiten entwickelte, die auch den Willen des Führers unterstützten, bemerkte man erst spät und ein so bekannter Staatsrechtslehrer wie Theodor Maunz gar nicht.

III. Nach 1945 kam es zu vielen qualitativen, aber zu keinen fundamentalen Veränderungen. In Kürze: 1. Die Entwicklungstendenzen in der Wissenschaft beschleunigten sich noch einmal sprunghaft. Das hatte auch quantitative Ursachen. Die Vermehrung und Vergrößerung der Universitäten kam vorwiegend der Spezialisierung in Lehre und Forschung zugute. Die öffentliche Verwaltung erlebte ein Wachstum, das sich jedem historischen Vergleich entzieht, und verarbeitete es mittels ständig verfeinerter Arbeitsteilung, Ausdijferenzierung und Spezialisierung. Im engen Verbund mit ihren zahlreichen und sich weiter vermehrenden Bezugswissenschaften gelang ihr dabei eine Qualitätssteigerung, die nur Toren bestreiten, die freilich mit zunehmenden internen Koordinationsschwierigkeiten und oft mit großer Entfremdung von der Verwaltungsumwelt einhergeht. 2. Zugleich entstanden neue Ansätze einer Verwaltungswissenschaft. Sie entsprachen vielfach dem verwaltungsinternen Bedürfnis nach Modernisierung, das zu einem vergleichsweise breiten Erfahrungsaustausch in zahllosen Zeitschriften und zu enger Kooperation mit Bemühungen in der institutionalisierten Wissenschaft führte l7 . Diese selbst ließ Umrisse einer denkbaren Verwaltungswissenschaft erkennen, weil auf der einen Seite in der Rechtswissenschaft das Bestreben stärker wurde, in nachvollziehbarer Weise auf lebensweltliche Entwicklungen einzugehen, und auf der anderen Seite die auch institutionell erstarkenden Sozialwissenschaften, zuerst vor allem die Soziologie und die Politikwissenschaft, später auch die Betriebswirtschaftslehre und die Organisationswissenschaft im engeren Sinne die öffentliche Verwaltung in unterschiedlichen Zusammenhängen thematisierten und erste empirische Untersuchungen vornahmen 18 . Zahlreiche Impulse kamen auch aus den inzwischen etablierten Fachhochschulen für die öffentliche 17 Als aktuelles Beispiel für dieses Zusammenwirken von Praxis und Wissenschaft nenne ich Fritz Behrens u .a. (Hrsg.), Den Staat neu denken. Reformperspektiven für die Landesverwaltungen. Berlin 1995. 18 Vgl. Thomas Ellwein, Verwaltungswissenschaft: Die Herausbildung der Disziplin, in: Joachim Jens Hesse (Hrsg.), Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft. PVS-Sonderheft 13, 1982.

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Verwaltung. Ihr Ausbildungsangebot hat zudem beträchtlich zum grundlegenden Wandel der Verwaltung beigetragen, der sich nach 1945 vollzogen hat, weil in ihm die neue Qualifikation des gehobenen Dienstes eine große Rolle spielte 19 . Das Beispiel der Finanzverwaltung erweist sich hier als besonders eindrucksvoll, einer in der Regel guten Verwaltung also, die mit einem miserablen Regelwerk umgehen muß und einen nicht unerheblichen Teil dieser Miserabilität ausgleicht - ich drükke mich vorsichtig aus 20 . 3. Bei jenen Untersuchungen waren die Grenzen zwischen eigener Forschung und Beratung oft fließend, was mit der relativen Unzugänglichkeit der Verwaltung als Forschungsobjekt - der Forscher erhält als Berater leichter Zugang - und auch mit dem offenbar erheblichen Beratungsbedarf der Verwaltung in ihrem pennanenten Modernisierungsprozeß zusammenhängt. Der Vorwurf, die neue Verwaltungswissenschaft sei zuletzt nur eine von der Verwaltung gesteuerte Beratungswissenschaft, blieb jedenfalls nicht aus 21 . Tatsächlich fehlen der deutschen Verwaltungswissenschaft bis heute Elemente, die hierzulande als konstitutiv für eine Wissenschaft gelten: Es gibt keine institutionalisierte Ausbildung - Speyer bildet einen Sonderfall, indem es einen Teil der Tradition des Verwaltungsreferendariats pflegt, der Studiengang in Konstanz ist Unikat geblieben und findet trotz meßbarer Erfolge im zuständigen Ministerium kaum mehr Hilfe, was für die Potsdamer Bemühungen wenig Hoffnung läßt -, es gibt nicht einmal ansatzweise eine Definition des Gegenstandes dieser Wissenschaft, das Definieren wird sogar strikt abgelehnt und dann auf intellektuell wenig befriedigenden Umwegen doch ~ersucht22, und es fehlt ganz an theoretischer Klärung, wieweit die allgemein der Verwaltung zugewandte Wissenschaft sich mit den Erkenntnissen und Postulaten anderer und ihrer Anlage nach meist völlig andersartigen Wissenschaften auseinandersetzen kann und darf: Was im Gesundheitsamt geschieht, wird im Disput zwischen medizinischem Sachverstand und Politik vorbestimmt, was im Jugendamt geschieht, möchte die Lobby der Sozialarbeiter gern unabhängig vom Träger dieses Amtes 19 Vgl. Verband der Verwaltungsbeamten in Baden- Württemberg e. V. (Hrsg.), Verwaltung im Wandel der Zeit. Stuttgart 1987. 20 Zum Thema Joe Weingarten, Finanzverwaltung und Gesetzesvollzug. Anforderungen, Probleme und Vorgehen der Steuerverwaltung bei der Anwendung steuerrechtlicher Normen. Opladen 1993, und mein Versuch der Zusammenfassung unserer Untersuchungen in Ostwestfalen-Lippe in: Der Staat als Zufall a. a. O. Band 2. 21 Vgl. Wolfgang Fach, Verwaltungswissenschaft - ein Paradigma und seine Karriere, in: J. J. Hesse a. a. O. 22 Vgl. Ernst Forsthoff, Allgemeines Verwaltungsrecht. München verschiedene Auflagen, und dort die ersten Sätze: "Von jeher ist die Verwaltungsrechtswissenschaft um eine Definition ihres Gegenstandes, der Verwaltung, verlegen gewesen. Das hat seinen Grund nicht in der mangelhaften Durchbildung der Wissenschaft. Es handelt sich überhaupt nicht um einen behebbaren Mangel der Theorie. Vielmehr liegt es in der Eigenart der Verwaltung begründet, daß sie sich zwar beschreiben, aber nicht definieren läßt." Auch in der Wissenschaftspraxis wird dennoch definiert, wobei hilfsweise meist auf den Staat rekurriert wird. Vgl. z. B. Bernd Becker, Öffentliche Verwaltung. Lehrbuch für Wissenschaft und Praxis. Percha 1989, S. 110, und meine Kritik daran, in: Der Staat als Zufall a. a. O. Band 1, S. 24 f.

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durch den Bundesgesetzgeber geklärt wissen, die Mindestbreite für Straßen - etwas mehr als 6 Meter - ist als Standard im Zwiegespräch der Fachleute entwickelt worden, die Anforderungen an die Trinkwasserqualität werden von der politischen Führung gestellt, aber keinesfalls von ihr erfunden - kurz: Wer es mit der Verwaltung zu tun hat, hat es in Wahrheit mit Verwaltungen zu tun, die einige, oft überbetonte Gemeinsamkeiten haben, in der Hauptsache aber je eigenen, in der Regel wissenschaftlich begründeten Standards folgen, sich damit in ihrem fachlichen Modernisierungsprozeß deutlich unterscheiden und so in spezifischer Weise gegen eine kritische Diskussion abgesichert sind. Die Bemühungen um fachbezogene Politik-Analysen waren deshalb meist nur erfolgreich, wenn sie den methodischen Regeln für empirische Untersuchungen folgten, viele nachzufragende Teilthemen lediglich empirisch und deskriptiv behandelten und der Besonderheit von Untersuchungen in Verwaltungen, die in verschiedener Weise das Ergebnis mitbestimmen, auswichen 23 . Einmischung in andere Wissenschaften wurde dabei - oft mit Recht - nicht verziehen. Der Entwurf eines eigenen Modells von Verwaltung, anhand dessen sich Maßstäbe klären ließen, mißlang: Deutsche Verwaltungswissenschaft bleibt oft der deutschen Verwaltung distanzlos verbunden, was für die eher rechtswissenschaftlich orientierte mehr und die eher sozialwissenschaftlich orientierte etwas weniger gilt, weil sie stärker im internationalen Austausch 24 steht. Daß sie das nicht gegen die kritiklose Übernahme ausländischer Modelle immunisiert, wissen wir inzwischen. Das Modell ,Konzern Stadt' ist unter anderen Bedingungen von kommunaler Selbstverwaltung entworfen worden, als sie hierzulande herrschen. Berücksichtigt man aber den Kontext nicht, kann das leicht komisch werden. 4. Das allgemeine Raisonement funktioniert insofern nicht mehr. Niemand kann sich im Detail kritisch mit den Agenda eines größeren Ministeriums auseinandersetzen. Im Zweifel hält man ihm lächelnd vor, nicht auf dem neuesten Stand zu sein. Die Lebensdauer der Organisationspläne ist bekanntlich betrüblich kurz und Geschäftsverteilungspläne werden dem Kritiker im Zweifel vorenthalten. Vor allem aber kann niemand mit dem Sachverstand so vieler Experten mitsamt der hinter ihnen gescharten Klientelen konkurrieren. Es gibt deshalb hierzulande keine einzige Beschreibung dessen, was ein Ministerium wie und warum tut25 . Das Was ist für niemanden überschaubar; das Wie läßt sich nicht untersuchen; hinsichtlich des Warum wird auf das Gesetz verwiesen, ohne daß jemand ernstlich fragt, wie sich aus dem einschlägigen Gesetz der Beruf von Landesinnenministerien ergibt, die Farbtönung der Feuerwehrfahrzeuge so zu bestimmen, daß bei kleiner Abweichung vom vorgeschriebenen Rot umgespritzt werden muß, oder warum man im Stuttgarter Innenministerium acht Jahre an der Vorschrift für die (Feuerwehr-) Vgl. Adrienne Heritier (Hg.), Poliey-Analyse. PVS-Sonderheft 24/1993. Vgl. Joachim Jens HesselTheo A. J. Toonen (Hrsg), The European Yearbook of Comparative Government and Publie Administration, Vol. I. Baden-Baden I Boulder, Colorado 1995. 25 Details dazu in Thomas Ellweinl Joachim Jens Hesse, Staatsreform in Deutschland. Das Beispiel Hessen. Baden-Baden 1997. 23

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,Jacke 90' bastelt, um noch das letzte Strickbündchen festzulegen 26 - inzwischen ein Paradebeispiel für ausufernde Bürokratisierung, Gängelung der in der Sache zuständigen, vom Ministerium intellektuell aber für unzuständig gehaltenen Gemeinden, unsinniger ministerieller Tätigkeit, aber auch dafür, was von der frohgemut verkündeten Verwaltungs vereinfachung wirklich zu halten ist. Verwaltungswissenschaft soll sicher nicht das Geschäft der Bürokratiekritik übernehmen und sich nicht auf Strickbündchen einlassen. Sie muß sich aber ebenso mit dem ministeriellen Bereich beschäftigen wie sie das mit dem kommunalen längst tut, in dem sie dann auch ein deutliches Echo hervorruft. 5. Der Hinweis auf Schwierigkeiten und Defizite steht hier im Vordergrund; die zahllosen Bezüge zwischen Verwaltung und Verwaltungswissenschaft treten dagegen zurück. Ein Bericht über die Leistungen dieser Wissenschaft, die es unstrittig gibt, wofür viele Arbeiten auch aus Speyer Zeugnis ablegen, interessiert heute nicht. Das Jubiläum in Speyer soll nicht dem Jubilieren, sondern der Besinnung dienen. Unser Thema ist das ,und' zwischen Verwaltung und Verwaltungswissenschaft, ist das - auf den Punkt gebracht - eher zufallige, damit von Moden, Beratungsaufträgen, individuellen Neigungen geprägte Erscheinungsbild dieser Wissenschaft, die im guten Falle einige Nischen kompetent besetzt und es im besseren zu Kompendien bringt, welche in der bunten Abfolge aller nur denkbaren Themen zwar große Bereiche thematisch abdecken und damit etwas leisten, das aber nur durch Addition erreichen, weil sie gemeinsamen Grundfragen ausweichen27 . Additiv werden nebeneinander z. B. die Verwaltungsautomation untersucht und vorangetrieben, Delegation als Allheilmittel angepriesen und die Verminderung der Hierarchieebenen erprobt, neue Formen der Mitarbeiterführung gefordert, die Zusammenführung von Fach- und Ressourcenverantwortung vorgenommen oder insgesamt mit dem neuen Steuerungsmodell ganze Arsenale von Erneuerungsmethoden angeboten, aber auch - so in Hessen - die Stärkung des Regierungspräsidiums beschworen und ihm gleichzeitig die mittelinstanzliche Funktion in der Schulaufsicht ganz und in der Polizeiführung teilweise entzogen. Vereinfacht: Angesichts des Fehlens gemeinsamer Fragen, von Konzepten ganz zu schweigen, ist unter vielfacher Beteiligung der Verwaltungswissenschaft fast alles möglich. Im Ergebnis ist wie seit eh und je von Modernisierung, Reformen, Verschlankung usw. die Rede 28 , herrscht in der Verwaltung Unruhe, gibt es aber kaum Antworten auf die 26 Näheres berichtet dazu Andreas Müller, Wenn Beamte um ein Strickbündchen feilschen, in: Stuttgarter Zeitung vom 26. 11. 1996. 27 Als Beispiele nenne ich Klaus König I Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung in Deutschland. Baden-Baden 1996/97, und Roland RothlHellmut Wollmann (Hrsg.), Kommunalpolitik. Politisches Handeln in den Gemeinden. Opladen 1994. 28 In der ersten Regierungserklärung im neuen Land Nordrhein-Westfalen hieß es am 2. 10. 1996, die Verwaltungsreform sei besonders dringend, ihre Ziele seien Vereinfachung, Verbilligung, Volksnähe. In der ersten Regierungserklärung nach der Verabschiedung der neuen Verfassung hieß es in Hessen im Januar 1947, man habe jetzt eine Verfassung und müsse sich nur der Verwaltung zuwenden. Dabei sei vor allem auf Sparsamkeit, Volksnähe

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Frage, worauf das alles hinauslaufen soll. Verdächtig oft wird auch ein künftiger Zustand beschworen, so als ob ein neuer den alten Status ablösen und die Bewältigung des ständigen Wandels erübrigen könne. Man kann, um ein beliebiges Beispiel zu nehmen, nicht in den verbreiteten Ruf nach Verwaltungsmodernisierung einstimmen, ohne zu klären, ob dabei die allgemeinen Modernisierungstheorien ausreichen, ob die gesamte Verwaltung modernisiert werden muß, ob es diese Verwaltung als ein Ganzes überhaupt gibt - die berühmte Metatheorie mit dem Code der verbindlichen Entscheidung hilft dabei bestimmt nicht weiter, weil sie zuletzt das politisch-administrative System als unterscheidbar und damit isolierbar bezeichnet, was viel mit Max Weber und einer bestimmten Tradition zu tun hat, im Effekt aber doch nur als Axiom setzt, was Ergebnis theoretischer Klärung sein könnte, sicher aber nicht sein wird. So einfach macht es uns die Vielfalt nicht, in der uns Verwaltung gegenübertritt und der wir häufig aus Gründen der Bequemlichkeit mit fragwürdigen Vorstellungen von Einheitlichkeit gegenübertreten. Wo steht aber geschrieben, daß alle Ministerien in allen ihren Teilen gleich organisiert sein oder alle Amtsleiter einer Stadtverwaltung auf einer hierarchischen Stufe stehen müssen - der Leiter des Versicherungsamtes mit seiner Handvoll Mitarbeiter ebenso wie der des Tiefbauamtes? Was veranlaßt uns, analog zur Tradition der Unterscheidung von hoheitlicher und fiskalischer Verwaltung heute die Unterscheidung von Ordnungs- und Leistungsverwaltung wie ein Symbol vor uns herzutragen, so als ob wir seit Ernst Forsthoff's entsprechenden Anfangen nicht mehr über Macht und Einfluß, Interessen und Beteiligung nachgedacht und keine Diskussion z. B. über die verwaltete Schule geführt hätten, also über einen von der Staatsmacht geordneten Leistungsbereich, aus dem man in unserer liberalen Demokratie die unmittelbar Beteiligten, die Schüler, Lehrer, Eltern und die finanzierenden Gemeinden, möglichst ausschließt, damit sich Staatsmacht entfalten kann? Spielt sich das alles aber allein im Revier der Erziehungswissenschaft ab oder sind die Folgen des Verwaltens auch von anderen zu reflektieren? Oder: Warum beklagen wir uns allenthalben über die Inanspruchnahme der Gemeinden durch den Staat, ohne zugleich die grundlegenden Unterschiede zwischen staatlicher und kommunaler Politik zu reflektieren, die sich ja keineswegs darin erschöpfen, daß Kommunalpolitik als Selbstverwaltung begriffen und damit der Definitionsmacht des Staates unterstellt wird? Was zwingt uns, jede wissenschaftlich mögliche Qualifikation auch in der öffentlichen Hand zu nutzen und damit viele ihrer Tätigkeiten womöglich überzuqualifizieren, so als ob der Spruch: das Beste sei gerade gut genug, unumstößliches Gesetz sei?

IV. Natürlich antworte ich hier entschieden: Etwas radikaler und damit wissenschaftlicher darf Verwaltungs wissenschaft schon sein, wenn auch sicher nicht in und Selbstbeschränkung der Politik zu achten. "Wir wollen nur regieren". 50 Jahre später fallen einem dazu nur tibetanische Gebetsmühlen ein.

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einem erhabenen Elfenbeinturm, sondern in der unmittelbaren Auseinandersetzung von ,Staatswissenschaft und Staatspraxis' - der Titel dieser Zeitschrift und inzwischen des Europäischen Zentrums in Berlin ist nicht schlecht gewählt, was ich auch als Beteiligter sagen darf, weil es sich um ein allgemeines Programm, nicht um die Präponderanz einer Institution handelt. Gefordert ist also Mut zu einer wirklichen Verwaltungswissenschaft. Als Wissenschaft, d. h. als Teil einer neuen, aber immer noch in der Tradition der Aufklärung stehenden Staatswissenschaft hat sie zu klären - das bedeutet etwas anderes, als Einmütigkeit herzustellen -, was sie unter Verwaltung verstehen, ob sie zwischen Verwaltung und Politik unterscheiden, wie sie mit der faktischen Vielfalt der Verwaltung und den selbstredend nicht unbegründeten Einheitsvorstellungen umgehen will - daß man in den größeren Städten mit Hilfe von Anweisungen und Bewußtseinspflege die Einheit der Stadtverwaltung herzustellen versucht, kommt ja nicht von ungefähr -, um sich dann auf die Kernfrage einzulassen, was die öffentliche Hand kann und soll und auf welche Weise das Handlungsprogramm zu implementieren ist. Das letztere erschöpft sich nicht in Rechts- und Vorschriftenanwendung. Das erstere ist keineswegs nur staatsphilosophisch zu behandeln, selbst wenn uns etwas mehr Staatsphilosophie gut zu Gesicht stünde, es geht auch um handfest praktische Problembewältigung durch rechtzeitige Reflektion von Maßstäben. Die Krise des europäischen und inzwischen auch japanischen Wohlfahrtsstaates müßte uns doch lehren, daß man nicht zu lange im Monsum segeln kann, Alternativen bereithalten und Warnzeichen frühzeitig erkennen muß - der Geburtenrückgang war ein solches Warnzeichen, das Politik aus Gründen, die man erklären kann, nicht wahrnehmen wollte, ohne daß man erklären kann, warum die Wissenschaft weitgehend schwieg. Sie schwieg auch zu der Propagierung der ,blühenden Landschaften', so als ob es keine Erfahrungen mit den Fristen gibt, die man für umfassende ökonomische und soziale Veränderungsprozesse benötigt. Staatswissenschaft hat es nun einmal mit Politik zu tun und kann sich deshalb nicht immer vornehm zurückhalten. Sie muß sich nur mit ihrer eigenen Anfälligkeit für Irrtümer genauso auseinandersetzen, wie mit der der Politik, wobei sie unter einfacheren Rahmenbedingungen arbeitet. Von der alten Staatswissenschaft läßt sich dabei manches lernen und das Argumentieren wiedererlernen: Die guten Kameralisten haben auf den unterschiedlichen Status ihrer Argumente hingewiesen; bei uns kommen viel zu oft unterschwellige, auf stillschweigende Akzeptanz zielende Bewertungen vor. Wissenschaftlichkeit erweist sich darin, daß man jenen Status klärt und sich darin von denen unterscheidet, die bewußt oder nicht eine Sicherheit suggerieren, die sie nicht haben und die niemand haben kann. Mut zur Wissenschaft heißt in unserem Falle in besonderer Weise Mut zur Vorläufigkeit und zur Erklärung, warum das so sein muß. Verwaltungswissenschaft im engeren Sinne kann außerhalb des systematischen Vergleichs und der historischen Analyse kaum Grundlagenforschung betreiben, weil sich ihr Gegenstand ständig verändert und ihre Erkenntnisse immer ,bedingt' sind. Das mindert aber die vorläufige Richtigkeit vieler Erkenntnisse nicht, mit deren Hilfe sich die unabdingbaren Zusammenhänge erschließen und die Beurteilungskriterien

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offenhalten lassen. Das deutet in der Hauptsache auf eine ,praktische' Wissenschaft, die im Erklären aufklärt. Hätten wir mehr früher geklärt und damit auch auf eine vorwiegend inkrementalistische Politik eingewirkt, wären wir vielleicht in manche Fallen nicht hineingetaumelt, aus denen wir heute oft mühsam ein Schlupfloch suchen. Niemand wird den Einfluß von Wissenschaft auf Politik überschätzen, schon gar nicht, wenn er an die Geschichte der Verwaltungsreformen in Deutschland und die Hilflosigkeit denkt, mit welcher heute der Bund unbedingt, vielfach aber auch die Länder der Strukturkrise deutscher Staatlichkeit ausgesetzt sind, weil Politik wegen der erwartbaren Widerstände und Schwierigkeiten sich nicht mit dem eigenen und unmittelbaren Arbeitsumfeld auseinanderzusetzen will, was dann auch wissenschaftliche Bemühungen erfolglos macht. Gerade in dieser Situation hilft jedoch die Rückbesinnung auf die eigene wissenschaftliche Tradition. Aufklärer, die sich wirklich so verstehen, können nicht resignieren.

Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit Von Everhardt Franßen

I. Bei der Vorbereitung dieses Vortrags habe ich mich gefragt, was die Veranstalter wohl bewogen haben mag, ein Thema, wie das meine, ohne jede Pause einem Vortrag folgen zu lassen, der das Verhältnis von Verwaltung und Verwaltungswissenschaft beleuchtet. Gibt es da Verbindungslinien und erwartet man von mir, daß ich sie aufzeige? Ich kenne die Motive der Tagungsplaner nicht, aber aus langjähriger Erfahrung weiß ich, daß es sich in einer solchen Situation empfiehlt, immer die für einen selbst ungünstigste Annahme zu unterstellen. Ein solcher Erwartungshorizont zwingt mich dazu, TImen zunächst ein Enttäuschungserlebnis zu bereiten. Ich verzichte nämlich auf eine verfassungsrechtliche Explikation meines Themas, obwohl ein solcher Beginn, wenn ich es recht sehe, heute in Deutschland zum guten Ton gehört; wer mit dem Grundgesetz beginnt, zeigt, daß er die Bedeutung seines Vortrags in das rechte Licht zu setzen weiß. Wenn ich von dieser guten Übung abweiche, so deshalb, weil ich funen erstens nicht Dinge vortragen möchte, die Sie ohnehin kennen, und weil ich zweitens fest entschlossen bin, die mir eingeräumte Zeit möglichst wenig zu überziehen.

11. Ich beginne also mit dem freilich auch nicht gerade überraschenden Hinweis, daß Verwaltungswissenschaften und Verwaltungsgerichtsbarkeit dieselbe staatliche Tätigkeit, eben die Verwaltung ins Auge fassen, sich aber ihrem Gegenstand auf ganz unterschiedliche Weise nähern. Die Verwaltungs wissenschaft begreift Verwaltung in erster Linie als Trägerin staatlicher Dienstleistungen; ihr Kriterium ist mithin vor allem das der Effizienz. Der Verwaltungsgerichtsbarkeit kommt die Verwaltung ausschließlich in ihrer rechtsanwendenden Funktion in den Blick; das darauf bezogene Kriterium heißt Rechtmäßigkeit. Nun sind Rechtmäßigkeit und Effizienz per se keine disparaten Parameter in dem Sinne, daß sie notwendigerweise zu gegenläufigen Anforderungen an das Verwaltungshandeln führen. Eine Verwaltung, die ihre Aufgaben in einer Weise erfüllt, die rechtswidrig genannt werden muß, handelt bereits wegen dieses Defizits nicht effektiv. Doch damit ist für das

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Verhältnis von Rechtmäßigkeit und Effektivität im Bereich des Verwaltungshandelns nichts Abschließendes gesagt. Denn es bleibt die Frage, ob bei der Festlegung der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen - sowohl generell als auch im zu entscheidenden Einzelfall - Effizienzgesichtspunkte eine Rolle spielen dürfen oder gar müssen und - wenn ja - ob sie es tatsächlich tun. Für den Bereich normativer Festlegungen bedeutet dies etwa, daß der Vorschriftengeber sich bemüht, den rechtsstaatlich notwendigen "Reibungsbeiwert", den seine Regelungen für ihren Vollzug durch die Verwaltung nun einmal mit sich bringen, nicht über das gebotene Maß hinaus zu erhöhen. Besondere Erfolge sind auf diesem Gebiet, wie jeder weiß, schon seit Jahren nicht mehr zu verzeichnen; die Stichworte heißen statt dessen symbolische Gesetzgebung, Vollzugsdefizit, Deregulienmgskommission. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältiger Natur, ich kann ihnen hier nicht allen nachspüren. Drei Punkte möchte ich jedoch kurz aufführen. 1. Nach der föderativen Ordnung des Grundgesetzes liegt die Gesetzgebungszuständigkeit im wesentlichen beim Bund und die Verwaltungszuständigkeit im wesentlichen bei den Ländern. Das fördert beim Bundesgesetzgeber nicht eben den Blick für Verwaltungsbelange und führt damit tendenziell zu einer Verkümmerung der Verwaltungsperspektive.

2. Parallel dazu hat sich in Deutschland der noch in den 60er Jahren vorherrschende rege personelle Austausch zwischen Gemeinden, Ländern und Bund stark verringert; damals war es noch nicht üblich, daß Bundesministerien per Annonce Regierungsräte z.A. suchten. Heute herrscht eher - gewollt oder gezwungenermaßen - eine c1osed-shop-Mentalität vor. Die damit einhergehende Entfremdung von der Vollzugspraxis fördert zugleich das Desinteresse an Vollzugsfragen. Diese Entwicklung muß notwendigerweise zu einer Überschätzung der Leistungsfähigkeit rechtlicher Regulierungsmechanismen führen. Deshalb sitzt heute auch der gute Jurist in der Vorschriftenproduktion oder strebt dorthin und deshalb kommt, wo immer auch Handlungsbedarf im Vollzugsbereich geortet wird, stets Regelungsbedarf im Vorschriftensektor heraus. So bleiben die Vorschriftengeber in Übung und werden zugleich zu Verwaltern eines Rechtssystems, das den größten Teil seiner Anstrengungen darauf verwendet, sich mit sich selbst zu beschäftigen. 3. Die Bundesrepublik hat sich in den letzten 20 Jahren von einer Industrie- zu einer Risikogesellschaft gewandelt; diese Entwicklung hat das Vertrauen in die künftige Beherrschbarkeit unserer Lebenswelt rapide abnehmen lassen. Vom Staat der Risikogesellschaft verlangt man daher ein neues Produkt: Die Sicherheit vor zivilisatorischen Lebensrisiken. Dieser Herausforderung ist die Tendenz zur Überforderung eigen; Risiko ist zu einer allgegenwärtigen Größe geworden. Als Folge fortlaufend verbesserter analytischer Methoden entstehen auch fortlaufend neue Probleme; sie können nicht alle gleichzeitig und unverzüglich gelöst werden; so verwandelt sich ständig Unglück in Ungerechtigkeit. Der verfassungspolitische Grundkonflikt heißt damit nicht länger Freiheit oder Ordnung, sondern Freiheit

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oder Sicherheit. Sicherheit steht dabei für den Bereich des Problemfeldes, in dem der Staat in Erfüllung der ihm auferlegten grundrechtlichen Schutzpflichten tätig wird. Die gesetzliche Konkretisierung solcher Pflichten soll der individuellen Freiheitsausübung im Interesse einer objektiven Grundrechtssicherung Schranken setzen. Das erfordert einen hohen Aufwand an rechtlicher Detailregelung und ändert auch die Perspektive der ausführenden Verwaltung. Ihre Dienstleistung besteht - wenn man so will - nunmehr immer auch in der möglichst vollständigen Aufspürung und Ausschaltung unerwünschter Risiken; das begünstigt die Vorsicht als Handlungsmaxime, belastet das Zeitbudget und schwächt die Entscheidungsbereitschaft. Die Auswirkungen einer solchen Einstellung haben - erstaunlicherweise muß man wohl sagen - den doch eher verwaltungsfemen und für die Organisation von Verwaltungsabläufen eher unzuständigen Bundesgesetzgeber aufgeschreckt. Der Transmissionsriemen, der diese Aufmerksamkeit hergestellt hat, ist ein Problembündel, das man abgekürzt mit "Standort Deutschland" bezeichnet. So kann man jetzt im Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes lesen, daß Genehmigungsverfahren zügig abgewickelt und daß die notwendigen Verfahrensschritte, sofern möglich, nicht nacheinander, sondern gleichzeitig durchgeführt und durch "Projektmanagement" gefördert werden sollen I. Das alles sind gewiß Postulate einer guten fachlichen Verwaltungspraxis, die eigentlich keiner gesetzlichen Regelung bedürften, schon gar nicht von einem Gesetzgeber, der die Parole der Deregulierung auf seine Fahnen geschrieben hat. Die Gesetzesverfasser haben dazu denn auch im nachhinein bemerkt, es habe, damit sich etwas ändere, eines kräftigen - und das heißt in Deutschland, so wie die Dinge liegen - eines gesetzlichen Anstoßes bedurft 2 . Wenn das stimmt - und ich fürchte, es stimmt - dann widmen die Länder der Verwaltungsorganisation, also einer ihrer ureigenen Domänen, nicht die gebotene Aufmerksamkeit. Es fehlt an Zuwendung für die Verwaltung und an Verständnis für die Voraussetzungen, unter denen sie zu agieren hat. III.

Wie ist es nun mit diesem Verständnis bei den Verwaltungsgerichten bestellt? Ich vermute, daß schon die Fragestellung eher auf Kopfschütteln stößt. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat doch die Aufgabe, die Rechte des Bürgers gegen einen ihm überlegenen Gegner, eben die Verwaltung durchzusetzen. Diese ist vor allem deshalb überlegen, weil sie den ersten Zugriff auf das gesetzlich verschlüsselte Handlungsprogramm hat, dessen Durchsetzung ihre Tätigkeit dient. Die Steuerungskraft des Gesetzes ist nun aber von der Natur der Sache her je nach Regelungsgegenstand mehr oder weniger begrenzt und bietet damit Einfallstore für die 1

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Vgl. §§ 71 b bis e VwVfG. Schmitz/Wessendorf, NVwZ 1996,955 (959).

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Verwaltung, den Prozeß der Rechtsgewinnung in einem gewissen Umfang selbst zu steuern, die Reichweite der ihr auferlegten Handlungsschranken mitzubestimmen und damit auf die Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit ihres Tuns Einfluß zu nehmen. Mein Vorredner hat das hier aufscheinende Dilemma in einem Festschriftenbeitrag für ein Mitglied des Sachverständigenrates "Schlanker Staat" - nach seinen eigenen Worten: holzschnittartig - skizziert. Er bemerkt nämlich, daß unsere Verwaltungen "gut" arbeiteten, wo sie weitgehend auf sich gestellt klientelorientiert Fall- oder Direktentscheidungen herbeiführten; in derartigen Fällen könnten sie mit der Rechtsbindung leben - und jetzt wörtlich: -, "wenn man jedenfalls die Kunst erlernt hat, das Gesetz solange zu streicheln bis es paßt,a. Diese Formulierung läßt sich bei unvoreingenommener Betrachtungsweise als eine pointierte, auf das Verwaltungsrecht gemünzte Abbreviatur der Methodenlehre Josef Essers verstehen. Ich fürchte freilich, daß ein Verwaltungsrichter sie schwerlich so verstehen wird. Er denkt vermutlich - wenn er denn philosophisch gestimmt ist - eher an Horkheimers "Kritik der instrumentellen Vernunft", aber auch ohne jede philosophische Ader fühlt er sich durch das gewählte Bild wohl vor allem in seinen Eindrücken bestätigt, die er in den ihm unterbreiteten, in der Regel pathologischen Fällen von den Auslegungskünsten der Verwaltung gewinnt, sofern er nicht schlichte Unfähigkeit am Werk sieht. Aus seiner Sicht ist Rechtsanwendung ein Vorgang, bei dem Recht nicht konkretisiert, erzeugt oder gewonnen, sondern erkannt, gefunden oder geschöpft wird. In diesem Prozeß der Rechtserkenntnis ist die Verwaltung Partei; mehr noch: sie ist die zu kontrollierende Partei. Deshalb erscheint es auch schwerlich gerechtfertigt, ihr einen Einfluß auf die Bestimmung der ihr Handeln steuernden rechtlichen Parameter einzuräumen. Wo soll da noch Raum sein, die Belange der Verwaltung besonders zu achten? Muß die Verwaltungsgerichtsbarkeit hier nicht nach der Parole des Hohenpriesters verfahren: "Was geht uns das an, da sieh Du zu"? Bei dieser Sicht der Dinge wird einem erst recht deutlich, welche Weisheit hinter der Bemerkung Dtto Mayers 4 steckt, Verwaltung sei das, was von staatlicher Tatigkeit übrigbleibe, weim Gesetzgebung und Judikative sich bedient hätten. Man kann schwer leugnen, daß dieser Verteilungsmechanismus der Verwaltungsgerichtsbarkeit einen beachtlichen Bedeutungszuwachs verschafft hat, der freilich - da der Kuchen auch hier nur einmal verteilt werden kann - mit einem entsprechenden Bedeutungsverlust der Verwaltung erkauft worden ist. Dahinter stand und steht der Wille, den möglichst perfekten Rechtsstaat aufzubauen, auch wenn dieses Bestreben von einem gewissen Punkt ab den Vorrang der Juristenkunst5 vor der demokratisch-politischen Entscheidung mit sich bringt und damit nur noch um den Preis einer entsprechenden Zurückdrängung der demokratischen Komponente möglich ist. Kein geringerer als Gustav Radbruch hat dieses Leit3 4 5

Ellwein, Festschrift für Herbert HeImrich (1994), S. 783 (790). Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Band, 3. Aufl. (1924), S. 7. Vgl. Scharp/, Die politischen Kosten des Rechtsstaats (1970), S. 49.

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motiv schon 1947 erklingen lassen. "Demokratie ist", so schrieb er damals, "gewiß ein preisenswertes Gut, Rechtsstaat ist aber wie das tägliche Brot, wie Luft zum Atmen und Wasser zum Trinken,,6. Aber der Rechtsstaat bedarf nicht nur des Brotes; er hat auch dessen Herstellung zu sichern und dessen Verteilung zu organisieren. In diesem Sinne stellen verwaltungsrechtliche Rechtssätze - immer auch Handlungsennächtigungen an die zu ihrer Wahrnehmung berufene Verwaltung dar, die einerseits von rechtlichen Vorgaben gesteuert sind, aber andererseits eine eigenständige Vollzugs verantwortung der Verwaltung begründen. Die darin liegende Dichotomie wird leicht übersehen, wenn man die Tatigkeit der Verwaltung als stets vom Gesetz umfassend determiniert und damit als eine auf den Einzelfall bezogene "Rechtsfindungsaufgabe" ansieht. In diese Richtung ist jedoch die deutsche Doktrin gegangen. Sie hat die Lösung der damit verbundenen Fragen nicht im Funktionsgefüge der Staatsgewalten gesucht, sondern norrnlogisch, also erkenntnistheoretisch zu bewältigen versucht. Den so gefundenen Antworten wird damit zugleich ein Mehrwert an Gewißheit gesichert, weil das Problem aus dem Bereich des Sollens in denjenigen des Seins verschoben wird. Das kommt zugleich der deutschen Neigung entgegen, nicht vom Problem, sondern vom System her zu denken, verstärkt die Gefahr, daß sich die Sucht nach Gewißheit als außerlogische Motivation in einen venneintlich rein logischen Gedankengang einschleicht und schwächt überdies die Bereitschaft, sich angemessen auf den Umstand einzustellen, daß Rechtserzeugung immer unter Ungewißheit als Randbedingung erfolgt.

IV. Die entscheidende Weichenstellung fand insoweit Anfang der 50er Jahre statt und war zu Beginn der 60er Jahre abgeschlossen. Sie bestand darin, das Verwaltungsennessen von der Tatbestandsseite verwaltungsrechtlicher Nonnen zu verbannen und nur noch auf der Rechtsfolgeseite zuzulassen, weil Ermessen nicht auf Erkenntnisakte, sondern nur auf Handlungsmöglichkeiten bezogen sein könne 7 • Die Beurteilung des Sachverhalts im Blick auf seine Subsumtion unter einen gesetzlichen Tatbestand sei bloßer Erkenntnisakt, bei dem - vielleicht - ein gewisser Beurteilungsspielraum bestehe, der aber nichts daran ändere, daß der Vorgang als solcher die Entscheidung einer Rechtsfrage darstelle. In diesem Kontext wird der Berurteilungsspielraum psychologisiert. Er fungiert nunmehr als Kennzeichnung für eine größere Schwankungsbreite subjektiven Fürrichtighaltens und das damit verbundene Eindringen volitiver Elemente in den Bereich kognitiver Entscheidung. Jedenfalls waren damit die "Ennessensbegriffe" der herkömmlichen Terminologie verabschiedet, deren Funktion in der Eröffnung eines Freiraums für von 6 7

3*

SJZ 1946, 105 (l08). Bachof, JZ 1955,97 (98).

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der Verwaltung selbständig zu verantwortende Zielvorstellungen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben gelegen hatte. Diese Begriffe konnten nun nicht länger einen eigenen Konkretisierungsauftrag der Verwaltung beim Vollzug öffentlichrechtlicher Normen kennzeichnen. Ein derartiger Auftrag sollte der Verwaltung ja gerade aus rechtsstaatlichen Erwägungen zugunsten einer verschärften Rechtsbindung abgesprochen werden. Hinter dieser Konzeption steht damit die regulative Idee von der im konkreten Einzelfall "allein richtigen" Entscheidung. Die unbestimmten Rechtsbegriffe ohne Beurteilungsspielraum sind folglich im eigentlichen Sinne auch gar nicht unbestimmt - wie sollte aus etwas Unbestimmten ohne Verstoß gegen die Denkgesetze etwas Bestimmtes gefolgert werden können -, sondern sie werden nur deshalb so bezeichnet, weil ihre Anwendung mit "einer erhöhten Schwierigkeit bei der Rechtsfindungsaufgabe" verbunden ist. So wird in einem der führenden Kommentare zum Verwaltungsverfahrensgesetz 8 nach dem Hinweis, daß der Gesetzgeber mit unbestimmten Rechtsbegriffen, wenn auch unvollkommen, Tatbestandsvoraussetzungen abschließend festlege, die die Verwaltung lediglich anzuwenden habe, wörtlich das Folgende ausgeführt: Die unbestimmte Fassung ändert nichts an der normativen Fixierung auf ein allein ,,richtiges" Ergebnis, sondern erzeugt allenfalls Schwierigkeiten, den einzig zutreffenden Inhalt zu ermitteln. Allein dies ist die Aufgabe der Verwaltungsbehörden, ein Spielraum für eigene Entscheidung kommt ihnen grundsätzlich nicht zu. Die Ergebnisse, zu denen sie gelangen, unterliegen insoweit vollständig der durch Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Kontrolle durch die Verwaltungsgerichte.

Das ist nicht nur juristische Rhetorik, die sich die volle Ausschöpfung richterlicher Kompetenz vorbehält und damit für den gerichtlichen Alltag eine angemesse Zurückhaltung im praktischen Problemzugriff offenläßt. Es ist vielmehr prinzipiell gemeint und wird in der Regel auch so gehandhabt. Infolgedessen führt die sehr weitgehende Gleichsetzung des Gesetzesvollzugs mit dem Bereich "bloßer" Rechtsanwendung und die damit einhergehende Vorstellung, daß im Prinzip alle im Zusammenhang mit dem Gesetzesvollzug auftretenden Fragen Rechtsfragen seien, leicht zu einem Verständnis Von Kontrolle, die sich in ihrer Durchschlagskraft laufend selbst verstärkt und damit tendenziell die Vollzugsverantwortung der Verwaltung "in das Schlepptau einer Vorstellung vom Rechtsschutzmaximum,,9 nimmt. Von daher erklärt sich auch die immer wieder erhobene Forderung nach einer Zurücknahme der richterlichen "Kontrolldichte". Redeker, ein hervorragender Kenner der Szenerie, hat unlängst bemerkt, beherrschendes Thema für die Verwaltungsgerichtsbarkeit werde auch in den nächsten Jahrzehnten die Reichweite der richterlichen Kontrolldichte sein 10. Die damit aufgeworfenen Fragen könnten 8 Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz (Kommentar) 4. Aufl. (1993), § 40 Rdn.82. 9 So die Formulierung von Schmidt-Aßmann, Festschrift für Menger (1985), S. 107 (116). 10 NJW 1997,373 (374).

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nur von den Richtern selbst beantwortet werden; der Gesetzgeber könne da nur wenig Einfluß nehmen. Ob die so Angesprochenen diesem Appell das rechte Verständnis entgegenbringen können, ist mir eher zweifelhaft. Die Arbeit am ,,richtigen Recht" erfordert nun einmal komplizierte gedankliche Überlegungen, die man nicht deshalb verkürzen darf, weil sonst ihre Ergebnisse für die Beteiligten einen Zug von Unvorhersehbarkeit haben. In der Tat ist dem Begriff der Kontrolldichte ein verschleierndes Moment eigen. Er soll nämlich die funktionale Grenze gerichtlicher Kontrolltätigkeit hervorheben, verbirgt diese Absicht aber. Denn die angestrebte Begrenzung kann ja nur Wirkung entfalten, wenn sie schon im Gegenstand der Kontrolle selbst angelegt ist. Wird aber der Kontrollgegenstand, hier also die Handhabung verwaltungsrechtlicher Rechtssätze durch die Verwaltung, als ausschließlich vom Recht gesteuert begriffen, so muß die darauf bezogene Kontrolle notwendigerweise ebenso umfassend, also der Sache nach total sein. Damit wird aber das eigentliche - übrigens genuin rechtliche - Anliegen, die funktionellen Grenzen der Kontrolle hervorzuheben, verfehlt. Denn auch die dichteste Kontrolle ist ja immer noch Kontrolle und fällt damit nicht aus dem der Verwaltungsgerichtsbarkeit zugeordneten Funktionsbereich heraus. Angesichts dessen erscheint es mir richtiger, das mit dem Begriff der "Kontrolldichte" verbundene Bild einer gewissen Beliebigkeit in bezug auf Art und Umfang der Kontrolle zu vermeiden. Statt dessen sollte man zugeben, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit ihre Kompetenzen - wie jede andere staatliche Gewalt auch - umfassend und in diesem Sinne vollständig auszuüben hat. Vollständigkeit bedeutet jedoch nicht Perfektionierung. In tatsächlicher Hinsicht ist die Kontrollpflicht erst dann verletzt, wenn nicht aufgeklärt wird, was nach Lage der Dinge aufgeklärt werden mußte, sich also in diesem Sinne aufdrängte. In rechtlicher Hinsicht ist der Bereich zugewiesener Verwaltungskontrolle verlassen, wenn die Verwaltungs gerichte ihre Kontrollrnaßstäbe nicht mehr den anzuwendenden verwaltungsrechtlichen Vorschriften selbst entnehmen, sondern sie sich statt dessen eigenständig erarbeiten; in diesem Falle gestalten sie selbst und dringen damit in den der Verwaltung vorbehaltenen Bereich ein. Diese Betrachtungsweise ist auch deshalb angezeigt, weil die Lösung der Problematik mit Hilfe der dogmatischen Figur des administrativen Beurteilungsspielraums mißlungen ist. Dieser Begriff war von vornherein mit dem Odium belastet, als gewissermaßen trojanisches Pferd das soeben von der Tatbestandsseite verbannte Verwaltungsermessen wieder in die Festung der Justiz zurückzuschmuggeln. Deshalb haben auch die Anhänger dieser Begrifflichkeit großen Aufwand auf den Nachweis verwandt, daß es sich um etwas vom Verwaltungsermessen grundlegend Verschiedenes handele: Es gehe, so kann man die Unterscheidung wohl auf den Punkt bringen, in der Sache um ein Letzterkenntnisprivileg der Verwaltung in einer Rechtsfrage. Es liegt auf der Hand, daß ein so verstandener administrativer Beurteilungsspielraum wie ein Fremdkörper wirkt, dessen Hinnahme im Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG die seltene Ausnahme bleiben muß. Daher reicht nicht aus, daß es sich bei den

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anzuwendenden Rechtsbegriffen um einen mit Abwägungen aufgeladenen Wertbegriff handelt oder daß im Rahmen der Rechtsanwendung prognostische Urteile abzugeben sind; der Anspruch des Bürgers auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle schließt die Bindung der Verwaltungsgerichte an die im Verwaltungsverfahren getroffenen Wertungen im Grundsatz aus. Vielmehr müssen Fallgestaltungen vorliegen, in denen gewissermaßen aus der Natur der Sache heraus die volle verwaltungsgerichtliche Überprüfung zu keiner verbesserten Richtigkeitsgewähr führen kann. Demgemäß hat die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit Beurteilungsspielräume stets dort akzeptiert, wo die Subjektivität der verwaltungsbehördlichen Subsumtion sich auch durch nachträgliche gerichtliche Kontrolle nicht aus der Welt schaffen läßt, das Verwaltungsgericht also de facto nicht imstande ist, den tatsächlichen Vorgang in Anwendung gesetzlicher Wertbegriffe selbst nachzuvollziehen 11 • Diese eingespielte Kontrollpraxis ist vom Bundesverfassungsgericht in seiner aus dem Jahre 1991 stammenden Entscheidung zum Prüfungsrecht l2 unter Hinweis auf Art. 19 Abs. 4 GG verschärft worden. Das Gericht erkennt in diesem Zusammenhang zwar an, daß Art. 19 Abs. 4 GG nicht die zu schützende Rechtsposition begründe, meint aber, daß die garantierte Intensität der gerichtlichen Kontrolle der Durchsetzung des materiellen Rechts wirkungsvoll dienen müsse. Damit wird über Art. 19 Abs. 4 GG ein Bestimmtheitspostulat in das anzuwendende Recht hineininterpretiert 13 und die Vorschrift damit - entgegen der Beteuerung des Gerichts mit materiellrechtlichen Gehalten aufgeladen, die das Verwaltungs gericht im Gesetzesrecht aufspüren muß. Das Bundesverfassungsgericht schließt nämlich aus dem Umfang des verfassungsrechtlich für erforderlich gehaltenen Rechtsschutzes, daß dem anzuwendenden Recht selbst eine der verwaltungsgerichtlichen Kontrolltätigkeit möglichst zugängliche Struktur innewohnen müsse. Man geht kaum fehl in der Annahme, daß dieses verfassungsrechtliche Judikat nachhaltig dämpfend auf alle Versuche der Fachgerichtsbarkeit wirken wird, ein auf der Tatbestandsseite "offenes" Normprogramm als Letzterkenntnisprivileg der Verwaltung oder gar als ein an diese gerichtetes Mandat zur normativen Vervollständigung zu deuten. Hinzu kommt, daß sich als Folge der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der grundrechtsrelevante Bereich fortlaufend ausdehnt und damit die Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts immer stärker von grundrechtlichen Vorgaben gesteuert werden. Auch von daher ist für die Verwaltungsgerichtsbarkeit die Annahme von Beurteilungsspielräumen mit einem kaum zu prognostizierenden verfassungsrechtlichen Risiko verbunden. Daran wird auch der Umstand nichts ändern, daß sich allmählich in der deutschen Rechtslehre die Einsicht Bahn bricht, Beurteilungsspielraum und Ermessen seien kategoTypische Beispiele: BVerwG, DVBl1981, 583 (584) und BVerwGE 60,245 (246 ff.). BVerfGE 84, 34 (49). 13 So zutreffend Herdegen in: Frowein (Hrsg.) Die Kontrolldichte bei der gerichtlichen Überprüfung von Handlungen der Verwaltung (1993), S. 304 (Diskussionsbeitrag). 11

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rial gar nicht trennbar, sondern nach ihren Funktionen nur die beiden Seiten ein und derselben Medaille 14 • Immerhin befördert diese Sicht der Dinge die Erkenntnis, daß exekutivische Beurteilungsspielräume jedenfalls dort anzuerkennen sind, wo aus Gründen sachbereichsgerechter Regelung der Gesetzgeber ganz bewußt die über eine eigene demokratische Legitimation verfügende Verwaltung zur selbständigen Konkretisierung eines gesetzlichen Entscheidungsprogramms ermächtigt hat (sog. normative Ermächtigungslehre) 15. Auch hier ist jedoch prompt der verfassungsgerichtliche Dämpfer erfolgt. In seiner Entscheidung zur Zulassung einer privaten Volksschule gemäß Art. 7 Abs. 5 GG 16 hat das Bundesverfassungsgericht das durch die Unterrichtsverwaltung anzuerkennende "besondere pädagogische Interesse" als einen in vollem Umfang durch die Verwaltungsgerichte nachprüfbaren Rechtsbegriff angesehen. Lediglich die "Anerkennung" dieses Interesses für eine bestimmte Schule und die Abwägung mit dem Vorrang der öffentlichen Volksschule eröffne der Verwaltung einen Handlungsspielraum, den sie kraft ihrer eigenen verfassungsrechtlichen Legitimation auszufüllen habe. Das wird trotz - oder gerade wegen - des ziemlich eindeutigen Wortlauts der Verfassung in mehreren höchst komplizierten gedanklichen Operationen im einzelnen dargelegt; diese in verschiedene Schritte zergliederte "Feinarbeit" wird damit künftig vor jeder Annahme einer gesetzlich eingeräumten Beurteilungsermächtigung zu leisten sein. Nicht zuletzt durch diese Entscheidung und ihre dogmatische Verarbeitung hat die Diskussion um den Beurteilungsspielraum oder die Beurteilungsermächtigung in Deutschland inzwischen Formen angenommen, die der nichtdeutsche Jurist wohl nur noch als eine sich im Kreise drehende Debatte um Scholastizismen empfinden wird. Die Rechtsanwendungspraxis wird auf diese Weise weiter mit erfahrungsund wirklichkeitsfremden Postulaten aufgeladen und die ohnehin stark ausgeprägte Neigung zu einer Intellektualisierung der verwaltungsgerichtlichen Judikatur wird weiter verstärkt. Deshalb kann ein allein am Rechtsschutzgedanken ausgerichtetes Verrechtlichungsstreben dem Gesichtspunkt der Verwaltungspraktikabilität als Auslegungstopos auch kaum eine eigenständige Bedeutung beimessen; diese Haltung entspricht zudem einer gewissen Verwaltungsfremdheit der meisten Verwaltungsrichter. Sie haben im allgemeinen wenig, genauer gesagt: gar keine Verwaltungserfahrung und können daher auch dementsprechend schlecht einschätzen, welche Vollzugslasten sie mit ihrer Rechtsprechung den Verwaltungsbehörden aufbürden. So ist inzwischen ein wahrer "Prachtbau,d7 verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes entstanden, der in Europa ziemlich einzigartig dasteht. Diese Entwicklung hat auch die rechtliche Kontrolle des Ermessens stark beflügelt. Die etwas simple Vorstellung, daß die Einräumung von Ermessen der VerwalHerdegen, JZ 1991, 747 (748 ff.). Hierzu näher Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz Art. 19 Abs. 4 Rdn. 185 ff.. 16 BVerfGE 88, 40 (56 ff.). 17 50 die Formulierung von Herdegen, Fn. 13,5.302. 14

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tung die Befugnis verleihe, nicht nach Rechtsgesichtspunkten, sondern nach Zweckmäßigkeit zu handeln, hat die deutsche Doktrin längst hinter sich gelassen. Ermessensermächtigungen dienen vielmehr vor allem der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit und sind damit einem telos verpflichtet, dem auch der Richter bei der Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe durch eine immer stärker differenzierende Auslegung nachstrebt. Ermessensausübung bedeutet unter diesen Umständen, das vom Gesetzgeber nur unvollständig ausformulierte Normprogramm im Sinne der darin zum Ausdruck kommenden gesetzlichen Intentionen im Einzelfall zu vollenden. Damit spielt für die sachgerechte Ermessensausübung vor allem die präzise Erfassung des Normzwecks eine entscheidende Rolle; seine Ermittlung ist jedoch eine rechtliche Operation und damit eine der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle unterliegende Aufgabe. Für diese Kontrolle gibt es aber auch sonst genügend Ingerenzen. In erster Linie ist der mit Verfassungsrang ausgestattete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu nennen. Er fordert gewissermaßen dazu auf, die möglichen Handlungsalternativen der Verwaltung nach Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit abzuklopfen. Das kann zur Folge haben, daß sich das Arsenal vermeintlich unterschiedlicher Reaktionsmöglichkeiten stark verengt oder nur eine einzige Entscheidung übrigbleibt, weil alle anderen wegen fehlender sachlicher Gleichwertigkeit ausscheiden. Kräftige Impulse für eine verwaltungsgerichtliche Kontrolle gehen auch vom Gleichheitsgrundsatz und vom Rechtsprinzip des Vertrauensschutzes aus. Schließlich erfolgt eine sehr starke Einflußnahme der Verwaltungsgerichte über grundrechtsdogmatische Konstruktionen, mit denen sich aus den Grundrechtsverbürgungen individuelle Leistungsansprüche, staatliche Schutzpflichten oder Aufträge zur Wertverwirklichung herleiten lassen. Ich verzichte auf Beispiele; Sie kennen solche alle selbst zur Genüge. Da die verwaltungsgerichtliche Kontrolle sich an den für die Ermessensausübung angeführten Gründen orientieren muß, bedürfen Ermessensentscheidungen in der Regel einer weit sorgfältigeren Begründung als sie bei gebundenen Verwaltungsakten üblich ist; anderenfalls droht Aufhebung. Um hier die Anforderungen etwas zurückzuschneiden, hat das Bundesverwaltungsgericht bei von ihm sogenannten "intendiertem Ermessen,,18, also bei einer unmittelbar dem Gesetz zu entnehmenden Regelhaftigkeit der Ermessensausübung auf eine Begründung weitgehend verzichtet, wenn die Entscheidung in Befolgung der Regel ergeht. Ein besonderes Kapitel stellt das planerische Ermessen dar. Es wird in der deutschen Doktrin deutlich vom Rechtsfolgeermessen abgesetzt. Die behaupteten Besonderheiten des planerischen Ermessens haben - wie nicht anders zu erwarten zu einer ausgefeilten Systematik mit einer changierenden, oft verwirrenden Begrifflichkeit geführt. Diese bietet ebenso vielfältige Ansatzpunkte für rechtliche Angriffe wie der Umstand, daß die der planerischen Entscheidung vorangehende 18

Vgl. BVerwGE 72, 1 (6) 91, 82 (90).

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Zusammenstellung des Abwägungsmaterials sowie die Auswahl der konkret vorliegenden Umstände als abwägungsbeachtlich umfassender verwaltungsgerichtlicher Kontrolle unterliegen. Das hat mit dazu geführt, daß die Verwaltungsverfahren in immer stärkerem Maße von Vorhabengegnern und Einwendungsführern mit möglichst viel Problemstoff belastet werden, damit im nachfolgenden Klageverfahren die tatsächlichen Grundlagen der Abwägung so umfänglich wie nur möglich auf dem verwaltungs gerichtlichen Prüfungsstand stehen.

V. Alles in allem wird die Dynamik eines Systems deutlich, das von der Vorstellung einer ideellen Richtigkeit gesteuert wird, die es im Blick auf den Rechtsschutz des Bürgers zu finden gilt. Einem solchen Ideal ist der Drang nach Perfektionierung inhaerent. Was ein solcher Treibsatz angesichts unseres in diesem Punkte ohnehin vorgeschädigten Nationalcharakters bedeutet, kann man sich leicht ausmalen. Wer unter der Devise angetreten ist, etwas Unbestimmtes mit Hilfe von juristischen Gedankenoperationen in etwas Bestimmtes zu verwandeln, webt in der Regel an einem Stoff aus ungewöhnlich fein gesponnenem Garn. Man darf vermuten, daß die auf diese Weise produzierte juristisch perfekte Entscheidung irgendwann, meistens schon recht bald, auf einen Weg führt, der bei einer praktisch unbrauchbaren Problemlösung endet. Praktische Brauchbarkeit ist jedoch kein außer- oder metajuristisches Kriterium, sondern ein genuiner Rechtswert. Wird er nachhaltig verfehlt, leidet auf Dauer das Rechtssystem Schaden, weil es sich zunehmend auf allen Ebenen in Detailkorrektur verzettelt und damit "unten" immer perfekter wird, während es "oben" seine verhaltenssteuernde Kraft einbüßt. Zum Rechtsstaat gehört aber gerade auch der effektive Rechtsvollzug. Ist dieser nicht mehr gewährleistet, nimmt das Recht selbst Schaden. Deshalb darf die verwaltungsgerichtliche Rechtmäßigkeitsprüfung nicht, wie Frido Wagener 19 treffend bemerkt hat, zu einem K.-o.-Maßstab werden, der alle anderen für den Gesetzesvollzug wichtigen Parameter nicht mehr in sich aufnimmt und damit gewissermaßen erschlägt. Zu den Kriterien der Rechtrnäßigkeit gehört aber gerade auch die Beachtung der besonderen Gemeinwohlkompetenz der Verwaltung, die sich in der ihr zugewiesenen Verantwortung für einen wirksamen Gesetzesvollzug ausdrückt. Diese Verantwortung muß das Verwaltungsgericht bei seiner Rechtsfindung angemessen in Rechnung stellen; denn es kann sie nicht selbst übernehmen. Bleibt diese Verantwortung unberücksichtigt, wird auf die Dauer gesehen ein Verhalten begünstigt, das an allen nur denkbaren Punkten die Grenzen des Rechtssystems zum eigenen Vorteil auszutesten versucht. Das damit verbundene stete Zurückdrängen von ungeschriebenen Grundsätzen, die bei der Rechtsausübung eigentlich als stillschweigend mitgedachte Schranke Berücksichtigung finden sollten, aber nun nicht mehr

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VVDStRL 41 (1983), S. 273 (Diskussionsbeitrag).

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finden, läßt das Recht langsam zerbröckeln. Zuviel Recht zerstört das Recht selbst. Die Zuständigkeit der Verwaltungs gerichte zur Rechtsanwendung ist demgemäß anders geartet als die der ordentlichen Gerichte; sie ist Rechtskontrollzuständigkeit, die zwei staatlichen Funktionen, dem Rechtsschutzauftrag zugunsten des Bürgers und dem von der Verwaltung wahrzunehmenden Vollzugsauftrag zugunsten des Gemeinwohls gerecht werden muß. Das verbietet ein Streben nach Perfektionierung, sondern verlangt eine Strategie der Optimierung. Die mit Perfektionierung verbundene Dynamisierung des Rechtsschutzes hat eine Komplementärfunktion: die Dynamisierung der Fehlerquellen in der Verwaltung. Der Gesetzgeber hat dieser Entwicklung in letzter Zeit zunehmend dadurch vorzubeugen versucht, daß er Reparaturmechanismen zur Verfügung stellt, sei es, daß er - wie im Planungs- und künftig auch im Baurecht - die Kassationsmöglichkeiten zugunsten eines fehlerheilenden Nachverfahrens einschränkt, sei es, daß Verfahrens- und Formfehler in größerem Umfang als bisher folgenlos bleiben oder noch im Verwaltungsprozeß geheilt werden können. Die Stellungnahme der Verwaltungs gerichtsbarkeit zu dieser Strategie war eher zurückhaltend. Man befürchtet eine verfassungsrechtlich bedenkliche Verschiebung im Gefüge der Gewaltengliederung, wenn die Gerichte zu Lasten der Bürger zum Reparaturbetrieb der Verwaltung gemacht. würden. Diese Argumentation, deren edukatorischer Zungenschlag nicht zu überhören ist, macht nur Sinn, wenn der Verwaltung wenigsten in einem gewissen Umfang eine Ermächtigung zur Konkretisierung des gesetzlichen Entscheidungsprogramms zugebilligt würde; eben dies wird ihr aber gerade abgesprochen. Man kann dem Verwaltungsverfahren schwerlich einen rechtlichen Eigenwert zusprechen, wenn vollständige Rechtsanwendungskontrolle angesagt ist. Damit wird das Beharren auf Sanktionierung der in Rede stehenden Fehler zu einem bloßen Draufsatteln, das den Gerichten die Möglichkeit verschafft, die Sache mit Gründen zu erledigen, die außer ihm niemand entdeckt hat, und die die eigentlichen Streitpunkte, an deren Klärung der rechts suchende Bürger doch eigentlich im besonderen Maße interessiert sein müßte, unerledigt lassen. Man könnte daher die gesetzgeberischen Bemühungen auch als Versuch ansehen, die offenbar vom Rechtsschutzdenken her gespeisten Antriebe zu kompromißloser Fehlersuche etwas zu dämpfen und damit Hilfestellung zu leisten bei der Umstellung von einem Perfektionierungsdenken zu einem die Verantwortung der Verwaltung mit berücksichtigenden Optimierungsmodell. Denn eine einseitig nur auf das Rechtsschutzbegehren des Klägers ausgerichtete Prozeßperspektive verkennt leicht, daß öffentliche Interessen im demokratischen Rechtsstaat regelmäßig immer auch auf eine Vielzahl von im Prozeß nicht vertretenen Bürgern bezogene Interessen sind; deren Belange zu wahren und in den gerichtlichen Entscheidungsprozeß mit einzubringen, ist Aufgabe der Verwaltung. Auch hier kann der Kuchen nur einmal verteilt werden; was man dem einzelnen zuviel gibt, muß man allen anderen vorenthalten. Zu dem damit angesprochenen Gemeinwohlaspekt gehört gerade auch das Prinzip der Verwaltungseffektivität. Für die Verwaltung bedeutet das, daß sie den Prozeß ihrer schleichenden Subalternisierung durchbrechen, ihre Vollzugsverantwortung vor dem Verwaltungs-

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gericht aktiv wahrnehmen und dort die Sachkriterien einbringen muß, die aus ihrer Perspektive die Rechtserzeugung mit steuern. Wie dem aber auch sei - eines ist jedenfalls sicher: Die Verwaltungsgerichtsbarkeit bedarf nicht nur des Vertrauens der Bevölkerung, die bei den Verwaltungsgerichten Schutz gegen Rechtsverletzungen durch die Verwaltungsbehörden sucht, sondern auch des Vertrauens der Verwaltung, deren Maßnahmen von den Verwaltungsgerichten auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden. Jedes Gericht bedarf des Vertrauens beider Parteien, die vor ihm um den Bestand ihrer Rechte und damit um die Geltung des Rechts kämpfen. Die beiden letzten Sätze stammen nicht von mir. Es waren die Schlußsätze eines im Titel mit dem meinen gleichlautenden Vortrags, den Ule an dieser Stelle vor knapp 20 Jahren gehalten hat20 ; sie waren ihm wichtig. Ich denke, sie haben auch heute an Bedeutung nichts verloren; sie sind daher auch die richtigen Schlußsätze für mich.

20 Ule, Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Die Vereinheitlichung der Verwaltungsgerichtsgesetze zu einer Verwaltungsprozeßordnung (Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Band 75 [1978]), S. 25 (S. 48/49).

Verwaltungsmodernisierung und Verwaltungsbetriebslehre Von Helmut Brede I. Einleitung

"Es war einmal ein Land, in dem die vielen bunten Ideen, die aus den Studierstuben drangen, ständig zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltung beitrugen". So könnte ein schönes Märchen anfangen. Die Wirklichkeit sieht freilich anders aus. Wie sie aussieht, ist ein komplexes Thema, besonders wenn man sich erlaubt, mit der hier gestellten Aufgabe etwas großzügig zu verfahren. Faßt man "Verwaltungsbetriebslehre" eng auf, sind darunter die Wissenschaftler und Institutionen zu verstehen, die der Betriebswirtschaftslehre zugehören und die sich mit der öffentlichen Verwaltung befassen. Vermutlich haben die Themensteller - sogar noch enger - bloß die einschlägigen deutschen Fachvertreter und Institutionen im Sinn gehabt. Aber es trifft die Intentionen, die mit der Themenstellung verbunden sind, wahrscheinlich besser, wenn die Grenzen nicht eng gezogen werden, sondern auch die übrige Betriebswirtschaftslehre ins Auge gefaßt und der Blick sogar auf Beiträge zur Verwaltungsmodernisierung 1 gelenkt wird, die aus dem Ausland stammen. Ferner - mit der Feststellung, welcher Beitrag von den verschiedenen Seiten zur Verwaltungsmodernisierung geleistet wurde, ist es wohl nicht getan. Vielmehr muß man sich auch mit der Frage befassen, warum der eine oder andere Beitrag zur Verwaltungsmodernisierung nicht kräftiger ausgefallen ist. Meinen Vortrag werde ich in zwei Abschnitte gliedern: Im 1. Abschnitt wird untersucht, von wem die Verwaltungsmodernisierung angeregt worden ist. Dabei geht es vor allem darum, den Anteil an geistiger Urheberschaft an der Verwaltungsreform zu bestimmen, den die Verwaltungsbetriebslehre für sich beanspruchen darf. Der 2. Abschnitt soll mögliche Erklärungen für den Befund liefern. Daraus lassen sich Empfehlungen ableiten, die sich insbesondere an die Fachkollegen, aber auch an die öffentliche Verwaltung und die Politik richten. 1 Auf eine Definition des Begriffs "Verwaltungsmodemisierung" darf hier verzichtet werden. Was gemeint ist, ergibt sich aus den weiteren Ausführungen. Eine vertiefte Darstellung dessen, was Verwaltungsmodemisierung bedeutet, findet sich in: Klaus König, Zur Kritik eines neuen öffentlichen Managements, Speyerer Forschungsberichte Nr. ISS, Speyer 1995, bes. S. 21 ff., 42-47.

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11. Anregungen zur Verwaltungsmodernisierung

Was und wieviel die Betriebswirtschaftslehre, insbesondere die Verwaltungsbetriebslehre, zur Verwaltungsmodernisierung beigetragen hat, hängt von dem Betrachtungshorizont ab. Die Antwort fällt verschieden aus, je nachdem ob sich die Analyse auf die nationale oder internationale Ebene bezieht, ob außer gewollten auch nicht beabsichtigte Beiträge einbezogen werden und ob statt der Verwaltungsbetriebslehre die Betriebswirtschaftslehre schlechthin betrachtet wird. Am besten wird die Untersuchung nach und nach ausgeweitet. Dementsprechend beginnen wir mit der Frage, inwieweit die Verwaltungsmodernisierung in Deutschland bewußt durch hiesige Vertreter der Verwaltungsbetriebslehre angeregt oder befruchtet worden ist. Kenner der Szene dürften darin übereinstimmen, daß es insgesamt nur wenig direkte Einflußnahme der hiesigen Vertreter der Verwaltungsbetriebslehre auf die Modernisierung der deutschen öffentlichen Verwaltung gegeben hat. Doch ehe nun der Sultan den Boten der schlechten Nachricht köpft, sollte er noch abwarten, was sich alles hinter der Feststellung verbirgt. Als erstes ist klar, daß es schwerfällt, gleich einer ganzen Disziplin gerecht zu werden; aber ohne grobe Vereinfachung wäre wohl keine zusammenfassende Einschätzung möglich. Sodann fällt auf, daß die These vom geringen Beitrag der Verwaltungsbetriebslehre zur Verwaltungsmodernisierung nicht zu zwei unbestreitbaren Tatsachen paßt. Die eine Tatsache ist das landauf, landab zu beobachtende Bemühen der öffentlichen Verwaltung, Reformkonzepte zu verwirklichen. Dabei stehen Konzepte, die die öffentliche Verwaltung dem Gebaren der Wirtschaft näherbringen, also betriebswirtschaftlich orientiert sind, besonders hoch im Kurs. Und die andere Tatsache sind die vielfältigen Bemühungen von Vertretern der deutschen Verwaltungsbetriebslehre, sich an der Entwicklung von Reformkonzepten zu beteiligen. Wie der Widerspruch aufzulösen ist und woran es liegt, daß die Bemühungen nur wenig Wirkung haben, soll zunächst zurückgestellt werden. Erst gilt es die Felder aufzuzeigen, auf denen die Verwaltungsbetriebslehre im Rahmen der Verwaltungsmodernisierung bereits etwas bewirkt hat bzw. wo sich künftige Erfolge schon heute abzeichnen. Ich will also das zunächst düstere Bild mit einigen Farbtupfern aufhellen. Relativ große Erfolge der Verwaltungsbetriebslehre sind in der schon recht weit verbreiteten Einführung einer Kosten- und Leistungsrechnung in der öffentlichen Verwaltung zu erblicken. Diese Erfolge sind in hohem Maße der Beratungstätigkeit von Vertretern der Verwaltungsbetriebslehre zu verdanken 2 . Ähnliches gilt für die 2 Beratung dieser Art schlägt sich gewöhnlich in nicht veröffentlichten Gutachten nieder. Dennoch ist bekannt, daß sich insbesondere Heinrich Reinermann und Peter Eichhorn mit Gutachten intensiv für neue Konzepte der Kosten- und Leistungsrechnung in der öffentlichen Verwaltung eingesetzt haben. Ein ähnlicher Einfluß auf die Verwaltungsmodernisierung dürfte einer Veröffentlichung von Gornas zuzurechnen sein. Vgl. Jürgen Gornas, Grundzüge einer Verwaltungskostenrechnung. Die Kostenrechnung als Instrument zur Planung und Kontrolle der Wirtschaftlichkeit in der öffentlichen Verwaltung. 2. Aufl., Baden-Baden 1992.

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Nutzung der modemen Informations- und Kommunikationstechnik. Auch hier wäre die öffentliche Verwaltung sicherlich nicht so weit gekommen ohne die Unterstützung, die insbesondere Heinrich Reinermann geleistet hat 3 . Ferner sind bereits die ersten praktischen Erfolge eines groß angelegten Reformwerkes zu besichtigen, das eines Tages die Kameralistik ablösen wird. Gemeint sind die Bemühungen um ein Rechnungswesen der öffentlichen Verwaltung, das dem kaufmännischen Rechnungswesen nachgebildet ist. Diese Bemühungen verbinden sich in Deutschland vor allem mit dem Namen Klaus Lüder4 . Mittlerweile gibt es dazu auf kommunaler Ebene sogar schon einen Modellversuch5 . Weitere große Beiträge der deutschen Verwaltungsbetriebslehre zur Verwaltungsmodernisierung sind nicht zu sehen. Allerdings habe ich einen strengen Maßstab angelegt. Berücksichtigt wurden nur Konzepte, die sich weithin in der Verwal3 VgI. insbesondere Heinrich Reinermann, Herbert Fiedler, Klaus Grimmer und Klaus Lenk (Hrsg.), Organisation informationstechnik-gestützter öffentlicher Verwaltungen, Informatik-Fachberichte, Bd. 44, BerIin, Heidelberg, New York 1981; Heinrich Reinermann und Klaus Umbreit, Information und Dokumentation für Staat und Verwaltung, in: Verwaltungsarchiv, Bd. 72,1981, S. 125-147; Heinrich Reinermann, Herbert Fiedler, Klaus Grimmer, Klaus Lenk und Roland Traunmüller (Hrsg.), Öffentliche Verwaltung und Informationstechnik - Neue Möglichkeiten, neue Probleme, neue Perspektiven, Informatik-Fachberichte, Bd. 98, BerIin, Heidelberg, New York, 1985; Heinrich Reinermann, Verwaltungsinnovation und Informationsmanagement, 105 Speyerer Thesen zur Bewältigung der informationstechnischen Herausforderung, Heidelberger Forum, Bd. 42, 2., neubearb. Aufl., Heidelberg 1987; Heinrich Reinermann, Neue Technologien in der öffentlichen Verwaltung, in: Verwaltungsführung, Organisation, Personalwesen, 9. Jg., 1987, H. 2, S. 49 - 57; Heinrich Reinermann, Herbert Fiedler, Klaus Grimmer; Klaus Lenk und Roland Traunmüller (Hrsg.), Neue Informationstechniken - Neue Verwaltungsstrukturen, Schriftenreihe Verwaltungsinformatik, Bd. I, Heidelberg 1988; Heinrich Reinermann (Hrsg.), Führung und Information, Schriftenreihe Verwaltungsinformatik, Bd. 8, Heidelberg 1991; Heinrich Reinermann (Hrsg.), Neubau der Verwaltung - Informationstechnische Realitäten und Visionen, Schriftenreihe Verwaltungsinformatik, Bd. 11, Heidelberg 1995. 4 VgI. insbesondere Klaus Lüder (Hrsg.), Entwicklungsperspektiven des öffentlichen Rechnungswesens, Speyerer Forschungsberichte Nr. 48, Speyer 1986; Klaus Lüder, Comparative Govemment Accounting Study - Interim Summary Report, Speyerer Forschungsberichte Nr. 76, Speyer 1989, Revised Edition 1989; Klaus Lüder, Christiane Hinzmann, Brigitte Kampmann, und Ralph Otte, Vergleichende Analyse öffentlicher Rechnungssysteme Querschnittsanalyse, Speyerer Forschungsberichte Nr. 89, Speyer 1990, 2., unveränd. Aufl. 1993; Klaus Lüder; Christiane Hinzmann, Brigitte Kampmann, und Ralph Otte, Vergleichende Analyse öffentlicher Rechnungssysteme - Konzeptionelle Grundlagen für das staatliche Rechnungswesen mit besonderer Berücksichtigung der Bundesrepublik Deutschland, Speyerer Forschungsberichte Nr. 97, Speyer 1991; Klaus Lüder, Die zentrale Rolle des Rechnungskonzepts für die Ausgestaltung des öffentlichen Rechnungswesens, in: Das neue Öffentliche Rechnungswesen, Betriebswirtschaftliehe Beiträge zur Haushaltsreform in Deutschland, Österreich und der Schweiz, hrsg. von Helmut Brede und Ernst Buschor; Baden-Baden 1993, S. 29 -74; Klaus Lüder (Hrsg.), Öffentliches Rechnungswesen 2000, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 117, Berlin 1994. 5 VgI. Klaus Lüder, Konzeptionelle Grundlagen des Neuen Kommunalen Rechnungswesens (Speyerer Verfahren), Schriftenreihe des Innenministeriums Baden-Württemberg zum kommunalen Haushalts- und Rechnungswesen, Heft I, Stuttgart 1996.

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tungspraxis durchgesetzt haben oder noch durchsetzen werden. Wir wollen solche großen Entwürfe "strategische Konzepte" nennen, um sie als weitreichend zu kennzeichnen und von den Reformideen und -instrumenten mit lediglich operationaler Bedeutung abzugrenzen. Dabei sind wir uns wohl bewußt, daß die Zuordnung zu der einen oder anderen Kategorie Schwierigkeiten macht. Beim Neuen Öffentlichen Rechnungswesen allerdings, bei einer verwaltungs spezifischen Kostenund Leistungsrechnung und bei Informations- und Kommunikationssystemen für die öffentliche Verwaltung handelt es sich ohne Zweifel um "strategische Konzepte". Ich komme später noch einmal auf diese Unterscheidung zwischen strategischen und operationalen Reformkonzepten zurück. Neben den Einflüssen, die von den strategischen Konzepten auf die Verwaltungsmodernisierung ausgehen oder ausgingen, gibt es auch noch anderes. Da sind zunächst gewisse Wirkungen zu nennen, die Wissenschaftliche Kommissionen, Wissenschaftliche Zeitschriften und Schriftenreihen hervorgerufen haben, die der Verwaltungsbetriebslehre nahestehen oder gar zugerechnet werden können. Ich denke vornehmlich an die Wissenschaftliche Kommission "Öffentliche Unternehmen und Verwaltungen" des Verbandes der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft, an den Wissenschaftlichen Beirat der Gesellschaft für öffentliche Wirtschaft, an die Fachzeitschrift für öffentliche Verwaltung VOP (solange sie noch von Reinermann redigiert wurde), an die junge Zeitschrift "Verwaltung und Management", an die ,,zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen" sowie an die mittlerweile auf 157 Bände angewachsene sogenannte "Schwarze Reihe", d. h. die "Schriften zur öffentlichen Verwaltung und öffentlichen Wirtschaft". Mindestens drei der genannten Institutionen sind übrigens auf eine einzige Person, auf Peter Eichhorn, zurückzuführen, der sich das Verdienst zurechnen darf, Entscheidendes zur Etablierung der Verwaltungsbetriebslehre in Deutschland geleistet zu haben 6 . Ohne den Einfluß der Kommissionen, Beiräte, Zeitschriften und der "Schwarzen Reihe" verringern zu wollen, muß man aber einräumen, daß die Wirkungen mehr im Reflex auf die im Gang befindliche Verwaltungsmodernisierung entstanden sind als in der Rolle des Vorreiters oder Motors. Die genannten Institutionen und Publikationsmittel waren hauptsächlich Multiplikatoren oder Kommunikatoren. Manche Erkenntnisse sind einfach dank ihres Engagements schneller und stärker verbreitet worden. Man denke z. B. an die bekannten Thesen zur Privatisierung7 oder an die neuen Finanzierungsformen für öffentliche Investitionsprojekte 8 . 6 Zur Rolle Peter Eichhorns (und seines Co-Autors Peter Friedrich) in der Verwaltungsbetriebsiehre siehe auch: Eberhard Laux, Brückenschläge: Zur Anwendung betriebswirtschaftlicher Konzepte im kommunalen Bereich - Zugleich eine Betrachtung zum Zustand der Verwaltungswissenschaften, in: Die Öffentliche Verwaltung, 46. Jg., 1993, S. 1083 - 1089. 7 Vgl. Wissenschaftlicher Beirat der Gesellschaft für öffentliche Wirtschaft und Gemeinwirtschaft, Öffentliche Unternehmen im Spannungsfeld der Privatisierungsdiskussion, in: Privatisierung und die Zukunft der öffentlichen Wirtschaft, hrsg. von Helmut Brede, Baden-

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Und dann sind da noch die zahlreichen Ideen organisatorischer, haushaltswirtschaftlicher und personalwirtschaftlicher Art, die in der Praxis entwickelt und über die Fachzeitschriften einem breiteren Publikum bekanntgemacht wurden. Schließlich - wenn heute eine gewisse Aufgeschlossenheit der öffentlichen Verwaltung für Marketing herrscht, ist dies ebenfalls auf das Wirken der verschiedenen Institutionen und Publikationsorgane zurückzuführen, die der Verwaltungsbetriebslehre nahestehen. Wenden wir uns nun Anregungen zu, die die Verwaltungsmodernisierung von der übrigen Betriebswirtschaftslehre empfangen hat und noch empfängt. Hier ist das Feld viel besser bestellt. Und das ist um so erstaunlicher, als sich die übrige Betriebswirtschaftslehre traditionell weder um die öffentlichen Betriebe noch um die öffentliche Verwaltung kümmert. Die Erklärung für den Wissenstransfer aus der übrigen Betriebswirtschaftslehre in die öffentliche Verwaltung liegt in der Heilserwartung, die Letztere mit betriebswirtschaftlichem Gedankengut verbindet. Die öffentliche Verwaltung glaubt einfach, daß z. B. kaufmännische Buchführung, daß die Prozeßkostenrechnung oder daß Controlling, um nur drei Stichworte zu nennen, ihren Einrichtungen guttut, und schon beginnt sie, sich dieser Konzepte zu bemächtigen. Die zumeist langwierige Anpassungsarbeit der Verwaltungsbetriebslehre an die Bedingungen der öffentlichen Verwaltung wird nicht abgewartet. Das heißt, es wird nicht abgewartet, bis die Verwaltungsbetriebslehre geprüft hat, ob ein für kommerzielle Zwecke entwickeltes betriebs wirtschaftliches Instrument - unmodifiziert - von der öffentlichen Verwaltung übernommen werden kann oder nicht, und es wird nicht abgewartet, bis gegebenenfalls Modifikationen vorliegen bzw. ein grundlegend neues Instrument entwickelt ist. Daraus resultieren mitunter groteske Situationen: Kontrolleinrichtungen werden einfach in "Controlling" umgetauft oder Verwaltungsangehörige gehen daran, bereits entwickelte Instrumente noch einmal zu "erfinden". Hausgemachte Planungs-, Informations- oder Kostenrechnungssysteme u.ä. sind die Folge. Trotzdem ist die Heilserwartung gegenüber betriebs wirtschaftlichem Gedankengut zu begrüßen. Soweit es in der öffentlichen Verwaltung nunmehr große Aufgeschlossenheit für die Verwaltungsmodernisierung gibt, ist sie von dieser Heilserwartung beträchtlich genährt worden. Baden 1988, S. 375 - 384; Gesellschaft für öffentliche Wirtschaft, Privatisierungsdogma widerspricht Sozialer Marktwirtschaft, Öffentliche Unternehmen sind unverzichtbar zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben, Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats der Gesellschaft für öffentliche Wirtschaft, in: Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen, Bd. 17, 1994, S. 195 - 215. 8 Vgl. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Gesellschaft für öffentliche Wirtschaft, Federführung: Dietrich Budäus, Öffentliche Unternehmen und soziale Marktwirtschaft - Aktueller Handlungsbedarf im Umstrukturierungsprozeß der DDR, hrsg. von der Gesellschaft für öffentliche Wirtschaft, Beiträge zur öffentlichen Wirtschaft, H. 5, Berlin 1990; Ulrich Kirchhoff und Heinrich Müller-Godeffroy, Finanzierungsmodelle für kommunale Investitionen, 6., erw. u. überarb. Aufl., Stuttgart 1996 (I. Aufl. 1990). 4 Speyer 124

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Die meisten Anregungen, die die deutsche Verwaltung gerade in ihrer Aufbruchstimmung zur Verwaltungsmodernisierung aufgegriffen hat, stammen aber nicht aus Deutschland, sondern kamen oder kommen aus dem Ausland. Lassen Sie mich mit Anregungen beginnen, die sich in der Zukunft für die Verwaltungsmodernisierung noch als sehr wirksam erweisen werden. Da sind unsere beiden deutschsprachigen Nachbarn, die Schweiz und Österreich, zu nennen. Sie haben bereits beachtliche Erfolge bei der Verwaltungsmodernisierung erzielt, Erfolge, die nun in Deutschland als Beispiel und Ansporn wirken. Ich denke vor allem an die in beiden Ländern bereits durchgeführte Reform des öffentlichen Rechnungswesens und an die Einrichtung einer verwaltungsbezogenen Kosten- und Leistungsrechnung9 . In beiden Ländern wurde das Reformwerk in starkem Maße von der dortigen Verwaltungsbetriebslehre begleitet. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang die Namen Buschor, Schauer und Strehl. Ihre Aktivitäten sind auch immer in Deutschland verfolgt worden, und manches, was noch im Werden ist gemeint sind insbesondere Lüders Ansätze zur Reform des öffentlichen Rechnungswesens - hat von den schweizerischen und österreichischen Erfahrungen profitiert, aber auch von angelsächsischen, west- und nordeuropäischen, ja sogar von japanischen. Blicken wir gen Westen, kommt Tilburg ins Bild. Mit dem Namen dieser holländischen Stadt verbindet sich der bislang stärkste Impuls, den die öffentliche Verwaltung hierzulande zur Modernisierung empfangen hat. Nachdem die KGSt das Tilburger Modell populär gemacht hatte \0, begannen vor allem Kommunen, sich für die Leitidee, nämlich die Entlassung von Organisationseinheiten in weitgehende Selbständigkeit, zu erwärmen. Als sich herausstellte, daß das Reforrnkonzept in Holland unter einem außergewöhnlich guten Stern gestanden hat, wurden die hohen Erwartungen zwar gedämpft, doch die Idee hatte gezündet - nicht zuletzt auch begünstigt durch die sich allgemein verschlechternde Haushaltslage 11 • 9 Zur Schweiz vgl. Ernst Buschor; Die Schweizer Haushaltsreform der Kantone und Gemeinden, in: Doppik und Kameralistik, Festschrift für Ludwig Mülhaupt zur Vollendung des 75. Lebensjahres, hrsg. von Peter Eichhorn, Baden-Baden 1987, S. 29-47; Buschor; Ernst, Zwanzig Jahre Haushaltsreform - Eine Verwaltungswissenschaftliche Bilanz, in: Das neue Öffentliche Rechnungswesen, Betriebswirtschaftliche Beiträge zur Haushaltsreform in Deutschland, Österreich und der Schweiz, hrsg. von Helmut Brede und Ernst Buschor, BadenBaden 1993, S. 199 - 269; Konferenz der Kantonalen Finanzdirektoren (Hrsg.), Handbuch des Rechnungswesens der öffentlichen Haushalte, Bde. I u. 11, Bem 1981. Zu Österreich vgl. Reinbert Schauer; Neue Ansätze zur Buchführung und Rechnungslegung in der Bundes- und Landesverwaltung Österreichs, in: Doppik und Kameralistik, Festschrift für Ludwig Mülhaupt zur Vollendung des 75. Lebensjahres, hrsg. von Peter Eichhorn, Baden-Baden 1987, S. 291- 307; Reinbert Schauer; Die Eignung verschiedener Rechnungsstile für den managementorientierten Informationsbedarf in öffentlichen Verwaltungen, in: Das neue Öffentliche Rechnungswesen, Betriebswirtschaftliche Beiträge zur Haushaltsreform in Deutschland, Österreich und der Schweiz, hrsg. von Helmut Brede und Ernst Buschor, Baden-Baden 1993, S. 143 - 166. 10 Vgl. Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt), Wege zum Dienstieistungsunternehmen Kommunalverwaltung. Fallstudie Tilburg, KGSt-Bericht 19/ 1992, Köln 1993.

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Übrigens, mit der KGSt ist einer der wichtigsten Förderer der Verwaltungsreform in Deutschland angesprochen worden. Ein anderer ist die Bertelsmann-Stiftung, und drittens gehört die Hochschule für Verwaltungswissenschaften dazu. Leider kann man die genannten Institutionen nur schwer, schon gar nicht in Gänze, der Verwaltungsbetriebslehre zuschlagen. Als Tilburg in den deutschen Rathäusern größtes Interesse fand, setzte die Suche nach weiteren Reforminseln ein, die als Vorbilder fungieren konnten, und man stieß auf Christchurch in Neuseeland, Phoenix in Arizona, Braintree in Großbritannien und viele andere l2 . Die Wirkung dieser Vorbilder war jedoch wesentlich geringer als die Tilburgs, vielleicht weil die weltweite Suche inzwischen einen ganzen Korb von Ansätzen zur Verwaltungsmodernisierung beschert hatte, Ansätze, die zudem noch mit der attraktiven Bezeichnung "New Public Management" zusammengefaßt werden konnten 13. Ich habe einmal die bekanntesten Ansätze bzw. Stichworte zusammengestellt und in einigen Gruppen zusammengefaßt. Zumeist handelt es sich um Konzepte mit operativer Bedeutung. 1. Ansätze zur Entlastung von Aufgaben

- Contracting Out - Outsourcing - Public Private Partnership 2. Ansätze zur Stärkung der Eigenverantwortlichkeit und Motivation

- Dezentrale Ressourcenverantwortung (Budgetierung, Gobalhaushalt) - Leistungsanreize - Personalentwicklung 3. Ansätze zur Organisationsrefonn

- Lean Management Flache Hierarchie - Fraktale Organisation 11 Vgl. auch Klaus Lüd7!r, Triumph des Marktes im öffentlichen Sektor? Einige Anmerkungen zur aktuellen Verwaltungsreformdiskussion. Speyerer Vorträge, Heft 32, Speyer 1995, S. 13. 12 Vgl. Christopher Hood, A Public Management for all Seasons? in: Public Administration, Vol. 69, 1991, S. 3 - 19; Reginald C. Mascarenhas, Building an Enterprise Culture in the Public Sector: Reform of the Public Sector in Australia, Britain and New Zealand, in: Public Administration Review, Vol. 53, 1993, S. 319 - 328; Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Carl Bertelsmann-Preis 1993: Demokratie und Effizienz in der Kommunalverwaltung, Bd. I, Dokumentationsband zur internationalen Recherche, 4. Aufl., Gütersloh 1996. 13 Vgl. Dietrich Budäus, Public Management - Konzepte und Verfahren zur Modernisierung öffentlicher Verwaltungen, Berlin 1994.

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- Organisationsentwicklung - Profit-(Cost-)Center; Verantwortungszentrum 4. Ansätze zur verbesserten Steuerung und Kontrolle

- Evaluation - Performance Measurement - Benchmarking - Output- bzw. Outcome-Orientierung - Controlling - Kaufmännische Buchführung - Kosten- und Leistungsrechnung - Qualitätsmanagement Fragt man nach der Rolle, die die Verwaltungsbetriebslehre im Zusammenhang mit der New Public Management-Bewegung gespielt hat bzw. noch spielt, kommt heraus, daß Verwaltungsbetriebswirte nur insoweit daran beteiligt waren (und noch sind), als sie solche Ansätze aufspürten und in Zeitschriftenartikeln oder auf Kongreß- und Fortbildungsveranstaltungen bekannt machten 14. (Hinsichtlich der "Kaufmännischen Buchführung" und der "Kosten- und Leistungsrechnung" hat es allerdings ein ganz anderes Engagement gegeben. Darauf wurde schon hingewiesen.) Zusammenfassend muß man also feststellen, daß sich die Verwaltungsbetriebslehre kaum Verdienste daran zurechnen kann, wenn heute in der deutschen Verwaltung New Public Management erprobt oder praktiziert wird. Ja, warum eigentlich? Erste Aufschlüsse, weshalb die Verwaltungsbetriebslehre beim Thema ,,New Public Management" weitgehend abseits geblieben ist, ergeben sich, wenn man einzelne Stichworte näher betrachtet. Nur einige Beispiele: Nehmen wir das Stichwort "Benchmarking". "Benchmarking" stellt ohne Zweifel ein nützliches Konzept dar. Nimmt man es aber unter die Lupe, entpuppt es sich als der gute alte Betriebs- oder Verwaltungsvergleich, lediglich um die Forderung bereichert, den Vergleich nun mit dem "Klassenbesten" vorzunehmen. Oder nehmen wir die Ansätze zur Entlastung von Aufgaben. Was in diesem Rahmen diskutiert wird, ist alles andere als neu. Lediglich die Etiketten lauteten bislang anders, nämlich "Aufgabenkritik", "Make-or-buy-Entscheidungen", "Privatisierung". Wirklich neu sind nur etliche Formen der Beteiligung Privater an der Finanzierung öffentlicher Investitionsvorhaben, enthalten im Stichwort "Public Private Partnership". 14 Hauptsächlich wird New Public Management im Kongreß-, Fortbildungs- und Beratungsgeschäft von einschlägigen Agenturen, nicht von Vertretern der Verwaltungsbetriebslehre angeboten. Eine Veröffentlichung als Beispiel für viele: Rödl & Parmer PMC, Der Neue Kommunale lahresabschluß entsprechend den Anforderungen der Neuen Steuerungsmodelle - Praxis-Leitfaden für ein Neues Kommunales Rechnungswesen, Nürnberg 1996.

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Innovativ auf dem Finanzierungssektor war aber nicht die Wissenschaft, sondern die Praxis, besonders das Kreditgewerbe, das sich hier neue Geschäftsfelder erschlossen hat. Auch bei den Ansätzen zur Stärkung der Eigenverantwortlichkeit und Motivation entdecken wir nichts Neues. Verstehen Sie jetzt, weshalb sich die Verwaltungsbetriebslehre herzlich wenig Verdienste um das New Public Management zurechnen kann? Bekanntes noch einmal im neuen Gewande zu verkaufen macht keinen großen Spaß. Außerdem gibt es grundsätzliche Vorbehalte. Mit Recht wird darauf hingewiesen, daß sich der Wettbewerb eben nicht überall so frei entfalten kann, wie es das Steuerungsmodell des New Public Management voraussetzt l5 . Auch herrscht die Sorge - darauf weist Klaus König hin -, daß sich mit dem New Public Management ein "unternehmerisches" Management breit macht, d. h. Effektivität und Effizienz gegenüber Humanität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit den Vortritt beanspruchen l6 . Vielleicht hat die Zurückhaltung der Verwaltungsbetriebslehre sogar etwas mit Zweifeln an der Leistungsfähigkeit der propagierten Konzepte l7 zu tun. Die einzigen wirklichen Herausforderungen, die das New Public Management der Verwaltungsbetriebslehre bietet, stecken in Stichworten der Gruppe 4, d. h. in den Ansätzen zur verbesserten Steuerung und Kontrolle. Auch dazu ein paar Hinweise. Die Herausforderungen beginnen bereits mit dem Stichwort "Evaluation". Was sich dahinter an Problematik verbirgt, scheint den meisten, die mit dem Stichwort hantieren, nicht bewußt zu sein; denn eine ausgesprochene, auf die deutsche öffentliche Verwaltung bezogene Evaluationsforschung gibt es nur in Ansätzen. Dabei schließe ich in die öffentliche Verwaltung auch öffentliche Einrichtungen, z. B. die Hochschulen, ein, an die in diesem Zusammenhang besonders zu denken ist. Wenn aber jetzt schon in der öffentlichen Verwaltung evaluiert wird, kann man sich vorstellen, was dabei herauskommt, nämlich Sparmaßnahmen, die sich an den Ergebnissen wenig durchdachter Beurteilungsverfahren ausrichten 18. Damit wird noch einmal das Kernproblem der Verwaltungsbetriebslehre deutlich. Die Verwaltungspraxis will Verfahren, die ihr Effizienzsteigerungen oder Einsparungen versprechen, möglichst schon heute nutzen, nicht erst in 5 oder 10 Jahren, wenn sie die Verwaltungsbetriebslehre als ausgereift bezeichnen würde. Ähnliche Herausforderungen stecken etwa in den Stichworten "Performance Measurement" und "Output- bzw. Outcome-Orientierung". Sie zu bewältigen wird eine der wichtigsten Aufgaben der Verwaltungsbetriebslehre der nächsten Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte sein. Denn täuschen wir uns nicht hinsichtlich des ZeitVgl. Klaus Lüde" Triumph des Marktes im öffentlichen Sektor? a. a. 0., z. B. S. 27. Vgl. Klaus König, Zur Kritik eines neuen öffentlichen Managements, a. a. 0., S. 19,73. 17 Vgl. Klaus König. Zur Kritik eines neuen öffentlichen Managements, a. a. 0., S. 38. 18 Zu dieser Problematik auch: Klaus König, Zur Kritik eines neuen öffentlichen Managements, a. a. 0., S. 20. 15

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bedarfs. Es läßt sich viel leichter z. B. eine output- bzw. outcome-orientierte Steuerung propagieren als verwirklichen. Bei allen Ansätzen der Gruppe 4 steht übrigens ein und dieselbe Frage im Mittelpunkt, die Frage nämlich, wie denn generell der Erfolg von Verwaltungsaktivitäten auf eine hinreichend objektive Weise zu messen und zu bewerten ist. Eine gute Lösung ist noch nicht in Sicht. Gleichwohl darf damit gerechnet werden, daß eines Tages die vielen Anläufe, diese Kernfrage aller Steuerung und Kontrolle in der öffentlichen Verwaltung zu beantworten, die gute Lösung bescheren werden. Vielleicht ist der Robert Koch oder Otto Hahn der Verwaltungsbetriebslehre schon unter uns. III. Erklärungen für den Befund und Empfehlungen

Wir haben festgestellt, die derzeitige Welle der Verwaltungsmodernisierung ist weitgehend ohne die Verwaltungsbetriebslehre in Gang gekommen. Das könnte schnell die Frage auslösen, ob damit nicht schon das Schicksal der Verwaltungsbetriebslehre besiegelt ist. Ich glaube es nicht. Ich will meine Ansicht begründen und mit einigen Empfehlungen verbinden. Die Verwaltungsbetriebslehre ist eine noch junge Disziplin. Von einer eigenständigen Formierung in Deutschland kann man erst seit Mitte der 70er Jahre sprechen l9 . Die Verwaltungsbetriebslehre ist hierzulande auch eine kleine Zunft. Man kommt auf kaum mehr als eine Handvoll Lehrstühle an Wissenschaftlichen Hochschulen, die das Fach ausschließlich oder wenigstens mit Vorrang pflegen 2o . Beides hat sicherlich dazu geführt, daß das Fach in Deutschland nur geringe Wirkung entfalten konnte - jedenfalls soweit sie offenkundig wurde. Dies veraniaßt übrigens zu der Bemerkung, daß es neben einer offenkundigen Wirkung auch eine solche gibt, die sich dem Nachweis entzieht. Ich denke dabei an den Einfluß, den die mittlerweile große Schar von Ökonomen in der öffentlichen Verwaltung ausübt, d. h. an die vielen Hunderte von Absolventen, die an betriebswirtschaftlichen Lehrstühlen für den öffentlichen Dienst ausgebildet worden sind. Wir dürfen sicher davon ausgehen, daß auch auf diese Weise Beiträge zur Verwaltungsmodernisierung geleistet worden sind. 19 Vgl. Helmut Brede, Auf dem Weg zu einer betriebswirtschaftlichen Theorie der öffentlichen Verwaltungen und Betriebe, in: Die Betriebswirtschaft, 44. Jg., 1984, S. 657 - 672, hier S. 658; Eberhard Laux, Brückenschläge, a. a. 0., S. 1085 f. 20 Vgl. Helmut Brede, Betriebswirtschaftliehe Ausbildungsgänge auf dem Gebiet der öffentlichen Unternehmen und Verwaltungen, in: ZögU, Bd. 13, 1990, S. 101 -108. An den damaligen Verhältnissen hat sich nichts Wesentliches geändert. Auch heute noch wird das Fach in Deutschland lediglich an Lehrstühlen der folgenden Wissenschaftlichen Hochschulen (ausschließlich oder vorrangig) gepflegt: in Göuingen, Hamburg, Köln, Mannheim, Münster, Potsdam, Speyer und Trier. Hinzu kommen noch einige verwaltungsbetriebliche Einrichtungen an Fachhochschulen.

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Die Verwaltungsbetriebslehre ist eine kleine Disziplin. Trotzdem sollten ihre Vertreter weiterhin "dicke Bretter" zu bohren suchen. Alles andere, insbesondere der Versuch, sich an die Spitze modischer Entwicklungen zu setzen, würde zur Verzettelung führen. Aber zugleich sollte die Verwaltungsbetriebslehre lauter als bisher nach Ausbau des Faches, d. h. personeller Verstärkung rufen. Es ist nicht zu verstehen, daß die Verwaltungsbetriebslehre als Institution in Zeiten dringlichen Forschungsbedarfs und wissenschaftlicher Beratung eher schrumpft als wächst. Fielen wir unter den Naturschutz, stünden wir schon längst auf der Roten Liste der vom Aussterben bedrohten Arten. Die Folgen sind absehbar: mit hausgemachten Problemlösungen und oberflächlicher Adaption betriebswirtschaftlichen Gedankenguts kommt man nicht weit. Vielleicht ist es auch einmal gut, daran zu erinnern, daß in den übrigen Bereichen der Betriebswirtschaftslehre Heere von Wissenschaftlern und jahrzehntelange Bemühungen nötig waren, um z. B. das heutige Profil der Bilanztheorie, der Kosten- und Leistungsrechnung, der Investitions- und Finanzierungstheorie oder des modernen Marketing zu entwickeln. Der Beitrag der Verwaltungsbetriebslehre zur Verwaltungsmodernisierung verlangt also beides, nicht nur Geduld, sondern auch angemessene Ressourcen. Beim Thema "Beitrag der Verwaltungsbetriebslehre zur Verwaltungsmodernisierung" muß man auch fragen, worauf sich das Bemühen der Verwaltungs betriebslehre denn grundsätzlich richten sollte. Die Antwort ist schnell gefunden. Nach den bisherigen Erfahrungen wissen wir, daß Refonnkonzepte mit "operativem" Charakter auch ohne Forschungseinsatz zustande kommen. Anders sieht es mit den weit ausgreifenden - den "strategischen" - Konzepten aus. Hier ist der Einsatz der Verwaltungsbetriebslehre unverzichtbar. Erfreulicherweise gibt es ja bereits das Ringen um solche "strategischen" Konzepte, wie die erwähnten Arbeiten zum Neuen Öffentlichen Rechnungswesen, zur Infonnations- und Kommunikationstechnik sowie zur Erfolgsmessung in der öffentlichen Verwaltung beweisen. Insgesamt ist der Verwaltungsbetriebslehre aber zu empfehlen, sich noch stärker als bisher auf derartige grundlegende Refonnwerke zu konzentrieren. Das ist ihre Domäne. Dort kann sie Leistungen zustande bringen, die den findigen Köpfen der Praxis zumeist verwehrt sind - nicht, weil dort weniger Scharfsinn herrscht, sondern weil, wie schon betont, große Entwürfe mehr Entwicklungszeit verlangen, als Praktiker aufbringen können. Die Konzentration auf strategische Konzepte sollte übrigens für beides gelten, womit die Verwaltungsbetriebslehre zur Verwaltungsmodernisierung beitragen kann, für die Forschung und für die Beratung. Vielleicht ist auch mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich. Ich ziele damit vor allem auf die Zusammenarbeit· zwischen Vertretern der Verwaltungsbetriebslehre und des öffentlichen Rechts, insbesondere des Verwaltungsrechts, ab. Dazu einige Beispiele, die sich für verstärkte Zusammenarbeit anbieten. Wir alle kennen das Kreuz mit Gesetzen, Verordnungen usw., die im offensichtlichen Widerspruch zum Wirtschaftlichkeits- oder Sparsamkeitsprinzip stehen.

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Eigentlich müßten die Verwaltungs angehörigen diesen Widerspruch einfach hinnehmen; denn im Zweifel verlangt der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandeins, Vorschriften anzuwenden, wie sie sind, auch wenn dadurch die Wirtschaftlichkeit oder Sparsamkeit auf der Strecke bleibt. Aber es ist bekannt, daß es mancher Beamte, Angestellte oder Arbeiter mit der Befolgung von Vorschriften nicht ganz genau nimmt, um so zu einem wirtschaftlicheren oder sparsameren Verwaltungshandeln beizutragen. Man kann von "Dienst nach Augenmaß" sprechen. "Dienst nach Augenmaß" gleicht also Schwächen des geltenden Verwaltungsrechts aus, indem sich eine wirtschaftlichere oder sparsamere Verwaltungspraxis entwickelt. Aber diese Art informellen Verwaltungshandelns kann dazu führen, daß Bedienstete, die bewußt von Vorschriften abweichen, für etwaige Schäden einstehen müssen. "Dienst nach Augenmaß" darf deshalb nicht geduldet werden. "Dienst nach Augenmaß" trägt offenbar zu einer wirklichen Verwaltungsmodernisierung nichts bei. Doch hier zeigt sich eine Aufgabe, die Verwaltungs betriebswirte und Verwaltungsjuristen gemeinsam anpacken sollten. Wenn versucht wird, dem "Dienst nach Augenmaß" zu Leibe zu rücken, könnte die bisherige Rollenverteilung zwischen der Rege1bindung des Verwaltungshandelns einerseits und der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit andererseits 21 in Frage gestellt werden. Und dann wäre es für die Verwaltungsbetriebswirte gut, wenn sie die Unterstützung der Verwaltungsjuristen fanden. M. E. wäre nur so wirksamer Widerstand gegen eine sich entwickelnde Vorherrschaft wirtschaftlichen Denkens in der öffentlichen Verwaltung möglich. Zusammenarbeit zwischen Rechtswissenschaft und Verwaltungsbetriebslehre könnte auch auf folgendem Feld nützlich sein: Verschiedene Gerichtsurteile haben in letzter Zeit eine intensive Beschäftigung mit dem Gebührenrecht ausgelöst. Im Grunde genommen versuchen alle Beteiligten, nämlich Gerichte, Kommunen, Bürger und Verwaltungsbetriebswirte, auszuloten, welche Spielräume für Gebührenerhöhungen im Kommunalabgabenrecht enthalten sind. Dabei zeichnet sich im Gefolge der jüngsten Urteile und der anschließenden Diskussion eine Gefahr ab, die sehr ernst genommen werden muß, nämlich die Gefahr, daß der Gesetzgeber das Kommunalabgabenrecht erheblich zu verfeinern sucht, um den Bürger vor überhöhten Gebührenforderungen zu schützen. An sich ist solches Tun löblich. Doch in diesem Falle wäre dringend die Zusammenarbeit des Verwaltungsjuristen mit dem Verwaltungs betriebswirt zu empfehlen. Der Betriebswirt würde dem Juristen im einzelnen zeigen können, wie noch so ausgeklügelte Vorschriften zum Nachweis entstandener Kosten eine Aufblähung des Kostenvolumens und damit ein Übermaß an Gebührenforderungen nicht verhindern können. Möglicherweise käme es sogar zu einer Spirale, indem Überwachungsmaßnahmen, die sich als nicht ausreichend erwiesen haben, durch schärfere Maß21 Vgl. Helmut Brede, Betriebswirtschaftslehre, 6. unw. veränd. Aufl., München/Wien 1997, S. 91 - 95.

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nahmen ersetzt werden usw. Was gemeint ist, wird am Beispiel des Krankenhausrechts deutlich. Hat etwa die wiederholte Verfeinerung der Krankenhausrechnungslegung zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen beigetragen? Ist dadurch die öffentliche Verwaltung schlanker geworden? Im Gegenteil. Ein Beispiel dieser Art sollte uns eigentlich genügen. Weshalb könnte nicht auch auf dem Gebiet des Kommunalabgabenrechts das Kostenüberschreitungsverbot fallen, das letztlich alle Kontrollprobleme auslöst? Wenn sich über dieses Thema Ökonomen und Juristen zusammensetzten, wäre eine Lösung denkbar, die z. B. der Bundestarifordnung Elektrizität in der Stromwirtschaft oder die den Leitsätzen für die Preisermittlung bei öffentlichen Aufträgen gleicht, also ein Preisschema, das einerseits dem Schutz des Verbrauchers vor überhöhten Entgeltforderungen dient, aber andererseits so flexibel ist, daß auf aufwendige Kontrollen verzichtet werden kann. Das dritte Gebiet, das sich für eine verstärkte Kooperation zwischen Verwaltungsbetriebslehre und Verwaltungsrecht empfiehlt, bildet das Haushaltsrecht. Hier gäbe es sicherlich eine beträchtliche Anzahl von Beiträgen, die die Verwaltungs betriebslehre zur Modemisierung leisten könnte. Man denke zum Beispiel an zeitgemäßere Formen der Kassenführung oder der Bewirtschaftung von Rücklagen. Schließlich darf als mögliche Gemeinschaftsaufgabe für alle verwaltungswissenschaftlichen Disziplinen die Organisation der öffentlichen Verwaltung angeführt werden. Auch auf diesem Gebiet wäre die Suche nach grundlegend neuen Konzepten fällig. Wie diese aussehen könnten, kann man nicht sagen. Nur eines steht fest: Die vielen unkoordinierten Versuche, der öffentlichen Verwaltung ein besseres Organisations gefüge zu geben - Stichworte "schlanke" Administration, "flachere" Hierarchie -, haben kaum Aussicht, uns den großen Beitrag zur Organisationsreform zu bescheren. Wäre es nicht an der Zeit, einen Forschungsschwerpunkt oder etwas Ähnliches zum Thema "Verwaltungsorganisation" zu gründen? IV. Schluß Die Bilanz der bisherigen Beiträge, die die Verwaltungsbetriebslehre zur Verwaltungsmodernisierung in unserem Land geleistet hat, fällt bescheiden aus. Dafür gibt es gewichtige Gründe. Aber die Vergangenheit ist nicht allein entscheidend. Auch die Gegenwart und vor allem die zukünftige Entwicklung müssen beachtet werden. Hier bahnt sich bereits Wichtiges an. Am wichtigsten scheint jedoch der potentielle Beitrag der Verwaltungsbetriebslehre zur Verwaltungsmodemisierung zu sein - ein Potential, das sich m.E. erst richtig in Zusammenarbeit mit den Nachbardisziplinen ausschöpfen läßt. Darum möchte ich mit dem Wunsch schließen, die Verwaltungsmodemisierung als Gemeinschaftsaufgabe aller verwaltungswissenschaftlichen Disziplinen zu verstehen. In Speyer heißt dieser Wunsch freilich Eulen nach Athen tragen. Aber wie sieht es anderswo im Lande aus ... ?

Europäische Integration und EU-Mitgliedstaaten Von Gerard Marcou

I. Einleitung

Der Begriff "Europäische Integration" ist dem EG-Vertrag entnommen. Laut Präambel geht es darum, "die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen V6lker zu schaffen". Sein Inhalt ist im Artikel 2 erörtert: Die Aufgabe der Gemeinschaft ist es, "eine harmonische und ausgewogene Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft ( ... ) einen hohen Grad an Konvergenz der Wirtschaftsleistungen, ein hohes Beschäftigungsniveau, ein hohes Maß an sozialen Schutz, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern". Es folgt daraus, daß der Begriff Integration zugleich politische und sozial-wirtschaftliche Elemente beinhaltet. Er gibt aber Anlaß zu verschiedenen Auslegungen. Man kann wenigstens zwei Varianten unterscheiden: eine monistische und eine pluralistische Variante. In der ersten steht die Integration im Vordergrund; in der zweiten geht es primär um die Komponenten der Integration. Beide Varianten sind zwar keine extremen Gegensätze, sie bringen aber doch die unterschiedlichen Vorstellungen von einer politischen Union zum Ausdruck. Der Prozeß der europäischen Integration ist in den jetzigen Jahren an einer Wende gekommen. Auf einer Seite hat sich die Integration seit der Europäischen Akte wesentlich vertieft, und die gemeinschaftliche Gesetzgebung hat sich zur Verwirklichung des Binnenmarkts auf Bereiche bzw. Sektoren ausgedehnt, die bisher als innenpolitische Kemaufgaben der Mitgliedstaaten galten, wie z. B. wesentliche Steuereinkommen, der Luftverkehr, die Telekommunikation, demnächst die Energieversorgung und die Postdienste, die Haushaltspolitik und die Währung. Durch die wachsende Anhäufung gemeinschaflicher Normsetzung und die Rechtssprechung des europäischen Gerichtshofs bildet sich die EG immer mehr als Rechtsgemeinschaft und sogar Träger hoheitlicher Rechte aus, die früher als rein nationalstaatlicher Natur bestimmt werden konnten. Auf der anderen Seite spürt man heute erneut die Beharrung der Mitgliedstaaten, jegliche staatsähnliche Entwicklung der EG zu vermeiden, und lieber die politische Union als Union von Staaten zu fördern. Kein Mitgliedstaat ist bereit, einen Bundesstaat Europa zu akzeptieren bzw. vorzuschlagen. Die Erweiterung der EG um neue Mitglieder, die eine viel größere politische Heterogenäität und viel tiefere Disparitäten bringen, kann eine solche

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Perspektive nur in die feme Zukunft verschieben. Aus der intergouvernementalen Konferenz ist eine Rationalisierung der Verfahren der Beschlußfassung, aber kein Schritt in dieser Richtung zu erwarten. Die letztgenannte Entwicklung wird oftmals nur negativ eingeschätzt, da man darin eine Pause in der Dynamik der Integration sieht, die bisher ihren Erfolg gesichert hat. Man fürchtet, daß der erreichte Stand deshalb durch Krisenerscheinungen gefährdet werden könnte. Dieser Einschätzung liegt aber der Gedanke zugrunde, daß die politische Union nur vorangehen kann, wenn die Mitgliedsstaaten an Bedeutung verlieren. Dieser Gedanke ergibt sich aus der Tatsache, daß der Nationalstaat als eine politische Einheit, die ihre inneren Angelegenheiten autonom regeln, und international ihre Souveränitätsansprüche durchsetzen kann, überholt ist. Aber diese Schlußfolgerung greift zu kurz. Die Übertragung von Aufgaben und bestimmten Hoheitsbefugnisse auf Gemeinschaftsorgane bedeutet an sich noch nicht die Aushölung der Souveränität der Mitgliedstaaten. In meisten Bereichen gemeinschaftlicher Zuständigkeit werden die Mitgliedstaaten in der Kompetenzausübung eingegrenzt, aber die entsprechenden Funktionen werden ihnen nicht vollständig entzogen. Die Einführung des Euros und die Errichtung der europäischen Zentralbank sind vielleicht die ersten wirklichen Beispiele, bei denen bedeutsame hoheitsrechtliche Befugnisse staatlicher Natur auf die gemeinschaftliche Ebene übertragen werden, während die mitgliedstaatlichen Regierungen nahezu jegliche Steuerungsbefugnisse aufgeben müßen und nur an einer gemeinsamen Kontrolle teilnehmen dürfen. Sonst verlieren die Staaten an Selbständigtkeit viel mehr als an Kompetenz. Deshalb bleiben die Mitgliedstaaten die Träger der europäischen Integration im Rahmen einer auf EG-Ebene geregelten Wirtschaftsordnung, die eine bestimmte Zahl von gemeinsamen Politiken notwendig macht und mehr Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten erfordert. Da die EU kein Staat im Werden ist, zum mindesten in der jetzigen geschichtlichen Epoche, soll man deswegen an andere Modelle der politischen Integration als den Bundesstaat denken, der uns aus den geschichtlichen Erfahrungen der Vereinigten Staaten, Deutschands oder der Schweiz bekannt ist. Ohne die Ungewissheit der Zukunft beiseite zu schieben, kann man in den heutigen Erscheinungen bereits einige Merkmale dieser Union herausfinden. Sie trägt schon die Züge einer rechtspluralistischen Gemeinschaft und einer vertraglichen Föderation. Die Grundlagen für diese Merkmale führen zu der Hypothese, sie können dauerhafte Wesenszüge einer neuen politischen Form sein. So lauten die beiden Abschnitte dieses Beitrags: 11. Die Mitgliedstaaten als Träger der europäischen Integration III. Die Europäische Union als staatsgebundene vertragliche Föderation.

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11. Die Mitgliedstaaten als Träger der europäischen Integration

Die Rollen der Kommission und des Europäischen Gerichtshofs im Integrationsprozeß sollen nicht abgewertet werden. Die Rolle der Mitgliedstaaten selbst wird oft übersehen, entweder weil die Bedeutung der Rechtssetzung im Vergleich zur Dynamik der Politikverflechtung überschätzt wird, oder weil man die Einmischung der Kommission bzw. die Zwangsläufigkeit der EuGH-Rechtssprechung tadeln will, oder weil man im Gegenteil die Richtung der erwünschten Integrationsentwicklung unterstreichen will. Die Rolle der Mitgliedstaaten zum Integrationsprozeß ist unter vier Gesichtspunkten zu analysieren. Zuerst wird der europäische Integrationsprozeß in seiner institutionellen Dimension von einem von den Mitgliedstaaten getragenen Willensbildungsprozeß beeinflußt. Zweitens ist die Europäisierung öffentlicher Politiken kein einseitiger Prozeß; die gemeinschaftlichen Politiken sind auch staatlich bedingt. Drittens wird der Beitrag der Mitgliedstaaten zur Verwirklichung der Vertragsziele immer mehr, auch von der Kommission selbst, anerkannt. Und zuletzt kann die mitgliedstaatliche Zusammenarbeit außerhalb der EG-Verträge auch einen entscheidenden Beitrag zur weiteren Integration leisten und für sie die Grundlage vorbereiten. Ein fünftes Merkmal sollte berücksichtigt werden: der Personalaustausch zwischen den nationalstaatlichen Verwaltungen und die Aufnahme von Staatsangehörigen aus anderen Mitgliedstaaten in den öffentlichen Dienst. Dadurch werden Verständnis und Kooperation zwischen den Beamten gefördert. Diese Entwicklung soll hier aber nicht weiter vertieft werden. 1. Die institutionelle Dimension

Nach dem EG-Vertrag kommt es der Kommission zu, das gemeinschaftliche Interesse zu vertreten und durch ihr Initiativrecht herauskommen zu lassen. Der Durchsetzung dieses Initiativrechts liegen die Grundregeln des Beschlußfassungsverfahrens zugrunde, insbesondere nach dem Maastricht-Vertrag. Während der Ministerrat einen Vorschlag mit qualifizierter Mehrheit bzw. mit Einstimmigkeit verabschieden kann, kann er nur einstimmig diesen Kommissions-Vorschlag ändern. Das gleiche gilt, wenn das Parlament sein Beratungsrecht ausübt, da die Kommission unter den vom Parlament verabschiedeten Änderungen auswählen darf, welche dem Ministerrat unterbreitet werden (Art. 189 C). Im Mitentscheidungsverfahren ist der Ministerrat nicht so eng an dem Inhalt des Vorschlags der Kommission gebunden, da er einen gemeinsamen Standpunkt mit dem Parlament festlegen darf. Die von der Kommission abgelehnten parlamentarischen Änderungen zum gemeinsamen Standpunkt dürfen vom Ministerrat nur einstimmig beschlossen werden (Art. 189 B). In der Wirklichkeit wird allerdings der politische Prozeß nach wie vor von dem Intergouvernementalismus viel stärker geprägt. Obwohl die meisten Beschlüsse

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des Rates heutzutage mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden und dieses Verfahren nicht mehr betritten wird, kommt der Intergouvernmentalismus auch noch auf andere Weise zum Ausdruck. Die Staaten bilden Koalitionen zu einzelnen Gegenständen, um die Sperrminderheit zu erreichen, wenn sie einen Beschluß verhindern wollen, oder um eine qualifizierte Mehrheit zu sichern. Sie können auch ein Paket verhandeln, um zu ermöglichen, daß jeder Mitgliedstaat gegenüber seiner nationalen Öffentlichkeit seine Mitentscheidung nicht nur mit dem Gemeinschaftsinteresse, sondern mit Gewinn für sich selbst rechtfertigen könne '. Koalitionsbildung ist auch für größere Mitgliedstaaten eine Notwendigkeit geworden, da sie nur insgesamt 53 % der Stimmen innehaben. Der Intergouvernementalismus des Entscheidungsprozesses beginnt schon mit der Initiative 2 . Er besteht schon in der Kommission selbst, da die Kommissare nicht völlig von ihrer Staatsangehörigkeit abstrahieren können. Sie sind Träger von Ansichten und Beurteilungen, die von ihrer früheren Erfahrung geprägt sind. Jede Initiative setzt dann die Bildung von Arbeitgruppen bzw. Ausschüssen mit Beamten aus den verschiedenen Mitgliedstaaten voraus, die schon die nationalstaatlichen Gesichtspunkte als Bestandteil der Vorbereitungsarbeiten einbringen. Manche Initiativen werden von Mitgliedstaaten angestoßen und von der Kommission übernommen. Parallel laufen sektorale Beziehungen, die aber von den in den jeweiligen Mitgliedstaaten betroffenen Interessen abhängig sind. Sie können auch einen erheblichen Einfluß ausüben 3 . Der Ausschuß der Ständigen Vertreter kann schon auf dieser Grundlage vor der Ratssitzung Kompromisslösungen vorbereiten. Deshalb ist eine Initiative der Kommission in der Regel nicht einfach der Ergebnis einer internen Arbeit, sondern eine schon ausgehandelte Vorlage. In allen Mitgliedstaaten wurden spezifische Strukturen geschaffen, um an der Vorbereitung der Kommissionsvorlagen termingerecht und zweckmäßig teilnehmen zu können. In den nationalen Ministerien bestehen Sonderabteilungen, die für gemeinschaftliche Angelegenheiten ihrer Ressorte zuständig sind. Auf der Gesamtregierungsebene findet man stragegische Stäbe, die an der Ausarbeitung der Regierungspositionen beteiligt sind: in der Bundesrepublik das ,,Europa-Kabinett" und der "Ausschuß der Staatssekretäre", in Frankreich der "Secretariat general du Comite interministeriel pour les affaires communautaires", in Großbritanien die 1 Fiona Hayes-Renshaw (1996), "The role ofthe Council", S. 144-161 (157), in: Svein S. Andersen/Kjell A. Eliassen (Hrsg.), The European Union: How democratic is it?, Sage, London. 2 Maurice Croisatl Jean-Louis Quermonne (1996), L'Europe et le federalisme, Montchrestien "Clefs", Paris, S. 116ff. 3 Im Vergleich zu den Ergebnissen von in den achtzigen Jahren durchgeführten Untersuchungen hat sich die Praxis nicht geändert. Siehe: Heinrich SiedentopjlChristoph Hauschild, "La mise en oeuvre de la legislation communautaire par les Etats membres. Analyse comparative", insbesondere S. 58 ff. in: Heinrich SiedentopflJacques Ziller (Hrsg.) (1988), L'Europe des administrations? La mise en oeuvre de la legislation communautaire dans les Etats membres, Band I: Syntheses comparatives, IEAp, Bruylant, Bruxelles.

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Europa-Abteilung im "Cabinet Office", zum Beispiel. Diese Instanzen sind nicht mit Ausführungsaufgaben, sondern mit gemeinschaftlichen Aufgaben der Politikmitbestimmung befaßt4 . Zuletzt haben sich in allen Mitgliedstaaten kurz nach dem Beitritt oder noch bei der Ratifizierung des Maastricht-Vertrags neue Institutionen bzw. Verfahren durchgesetzt, um eine größere Beteiligung der nationalen Parlamente bei der Beratung der von der Kommission vorgelegten Richtlinien- bzw. Verordnungen vor der Ratsentscheidung zu gewährleisten. In Frankreich ist die Überweisung der Vorlagen an die Nationale Versammlung und an den Senat je nach der materiellen Kompetenz des Gesetzgebers eine Verfassungspflicht der Regierung geworden. Die Parlamentskammern dürfen Entschliessungen verabschieden, die die Regierungposition im Rat juristisch nicht binden können, die aber von der Regierung selbst in die Verhandlungen eingebracht werden können (S. neuen Artikel 88 - 4 der Verfassung). In Deutschland hatte der Bundestag schon früher solche Einflußmöglichkeiten erhalten. Von viel größer Bedeutung sind die neuen Bestimmungen des Artikels 23 GG, die den Ländern ein Mitbestimmungsrecht in Angelegenheiten der Europäischen Union sichern, soweit ihre Kompetenzen betroffen sind. Es kann sogar einem Ländervertreter gemäß der neuen Formulierung des EG-Vertrags (Art. 146) die Vertretung des Mitgliedstaats Deutschland übertragen werden, wenn im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind. Obwohl eine strikte parlamentarische Kontrolle auf die Regierungsposition in den Verhandlungen noch die Ausnahme scheint, wachsen die Ansprüche in dieser Richtung viel stärker als die Forderung nach einer größeren Kontrolle von dem Europäischen Parlament, eine Forderung, die praktisch nur vom diesem selbst getragen wird5 . Dagegen hat der Ausschuß der Regionen bisher keinen sichtbaren Einfluß erringen können. In dieser Tatsache spiegelt sich auch der intergouvernmentale Charakter der gemeinschaftlichen Beschlußfassungsverfahren. 2. Europäisierung der politischen Planung und gemeinschaftspolitische Planung

Die europäische Integration ist schon so weit fortgeschritten, daß die europäische Dimension fast alle Bereiche der Staatspolitik durchdringt. In den Bereichen der gemeinschaftlichen Politiken scheint die Dichte der Normsetzung durch die EG, die Mitgliedstaaten auf eine ausführende Funktion zurückzudrängen: ihre wesentliche Aufgabe wäre es, die Umsetzung und die Durchsetzung des EG-Rechts sicherzustellen. 4 Beiträge über Deutschland, Frankreich, Großbritanien in: lVes Meny / Pierre Muller / Jean-Louis Quermonne (Hrsg.) (1995), Politiques publiques en Europe, L'Hannattan, Paris. S Thibaut de Berranger (1995), Constitutions nationales et construction cornrnunautaire, LGDJ Bibliotheque de Droit public, torne 178, Paris, insbesondere S. 396 - 455.

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Der politische Planungsprozeß in der EG scheint auch diesen Bedeutungsverlust der mitgliedstaatlichen Ebene zu bestätigen. Man hat ihn als pluralistich beschrieben. Man hat den Planungsprozeß mit dem in den Mitgliedstaaten verglichen, der als Neokorporatismus (unter verschiedenen Varianten) bezeichnet wird. Die auf nationaler Ebene ausgebauten Interessenvertretungssyteme gelten allerdings nicht mehr auf europäischer Ebene. Der politische Prozeß bezieht viel zahlreichere Teilnehmer ein, deren Verhalten viel weniger vorraussehbar ist. Die staatlichen Verwaltungen können nicht mehr beanspruchen, das Gemeinwohl zu verkörpern und es gegenüber den Privatinteressen durchzusetzen. Es folgt daraus, daß breitere Möglichkeiten für einen Lobbyismus entstehen, um die Entscheidungen beinflussen zu können und daß die Ergebnisse dieses politischen Prozeßes unsicherer geworden sind. Eine mangelnde Durchschaubarkeit verstärkt dieses Merkmal. Der Wettbewerb verschärft sich zwischen öffentlichen Institutionen, zwischen Leitbildern der öffentlichen Aufgaben, zwischen den aufzunehmenden Problemen und zwischen unterschiedlichen Lösungswegen. Unter Umständen kann es sogar für bestimmte Interesse wirksamer sein, auf verschiedene Regierungen bzw. Verwaltungen gezielt Einfluß zu nehmen, als durch das nationale Vertretungssystem zu versuchen, eine Position zu definieren und herbeizuführen, die später von der Regierung bzw von der zuständigen Verwaltung in formellen Verhandlungen vertreten werden soll. Der gemeinschaftliche Rahmen öffnet neue Einwirkungsmöglichkeiten für Gruppen und Interessen, die im nationalen Vertretungssystem in einer untergeordneten Position liegen, und deshalb nicht in der Lage sind ihre eigenen Vorstellungen und Interessen durchzusetzen. Durch eine Klage an die Kommission bzw. den EuGH können sie eine Entscheidung herbeiführen, die das Handeln der Regierung auch gegen deren Willen bestimmen, und somit einen Druck auf die Regierung verursachen kann 6 . Auch wenn die EG keine Kompetenz hat soll jede Verwaltung die Implikationen des EG-Rechts berücksichtigen. Sie soll sich auch die Frage stellen, welchen Gewinn eine Einbeziehung der EG eventuell bringen würde. Man kann sich auch vorstellen, daß die Gegner einer Maßnahme die Aufmerksamkeit der Kommission auf ein Thema richten werden. Das ist aber nur eine Seite der Münze. Die Europäisierung der öffentlichen Politiken darf nicht übersehen lassen, daß die staatlichen Verwaltungen und die nationalen Regierungen in der Formulierung der gemeinschaftlichen Politiken nach wie vor eine Kernrolle spielen und durch die Strategien zur Verwirklichung der eigenen Ziele die Integration fördern - auch wenn diese Folgerung nicht gewollt war. Auch sollte man nicht den Verlust an Selbstständigkeit und den Verlust an Bedeutung miteinander vermischen: durch die europäische Integration ist die Politikverflech6 In der ausführlichen Literatur, sehen zum Beispiel: Svein Andersenl Kjell A. Eliassen (1996), "Introduction: dilemmas, contradictions and the future of European democracy", S. 1-11 in: Svein Andersen/Kjell A. Eliassen (Hrsg.), op. eil.; Jeremy Richardson (1996), "Policy-making in the EU", S. 4 - 23 in: Jeremy Richardson (Hrsg.), European Union. Power and policy-making, Routledge, London/New York; Guy Peters (1996), ,,Agenda setting in the European Union", S. 61 - 76, in: Jeremy Richardson (Hrsg.), op. cil.

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tung gewachsen. Das Spiel ist für alle Teilnehmer viel komplizierter geworden und weniger durchschau bar. Kein Staat bzw keine staatliche Verwaltung kann die eigenen Ziele aus sich selbst gegen die anderen erreichen. Das bedeutet aber nicht, daß die Staatshoheit von der EG unaufhaltsam übernommen würde. Die staatlichen Aufgaben werden inhaltlich von dieser Entwicklung tief verändert. Die Regierbarkeit der Gesellschaft wird schwieriger und eine unbestimmte und verantwortungslose Governance scheint sich durchzusetzen. Der pluralistische Modell verdeckt aber, daß das gemeinschaftliche policy-making sehr oft Staatspolitik auf der höheren Ebene und manchmal auch mit anderen

Mitteln und veränderten Zielen ist. Interessenkoalitionen werden oft von den Mitgliedstaaten getragen. Solche Koalitionen werden durch die Bedeutung eines Problems im nationalen bzw. internationalen Rahmen für die betroffenen Interessengruppen bestimmt. Die Betroffenheit der staatlichen Verwaltungen und ihr Engagement im politischen Planungsprozeß auf der EG-Ebene sind aus allerlei Gründen sehr differenziert, so daß je nach Umständen ein Staat eine führende und treibende Rolle übernehmen wird. Eine solche Rolle kann auch von einer Abteilung der Kommission übernommen werden. Manche Staaten bleiben sogar am Rand des politischen Prozesses oder werden erst von anderen Mitgliedstaaten, die betroffener sind, mobilisiert. Man kann hier nur einige Beispiele dieser Vielfältigkeit geben: alle Beispiele beweisen, daß die gemeinschaftlichen Politiken schon in ihrer Formulierungsphase mitglieds staatlich beeinflußt werden. Die Richtlinien zur Liberalisierung des Versicherungsmarkts wurden unter Druck der britischen Regierung von der Kommission ausgearbeitet, da die britischen Versicherungsfirmen überzeugt waren, einen Wettbewerbsvorteil zu haben7 • Im Bereich der wirtschaftlichen öffentlichen Dientleistungen stellt sich die Frage, wie und inwieweit will man Markt und öffentliche Dienstverpflichtungen ausgleichen: Die französischen Regierungen haben immer versucht, den Eingriff der Wettbewerbsregeln in diesem Bereich einzugrenzen, da das französische Modell von nationalen Großunternehmen mit Monopolrechten gebildet wird. Dieser Druck erklärt, daß zur Zeit noch keine Richtlinie zum Energiebinnenmarkt vorliegt. Das hat wahrscheinlich dazu beigetragen, daß die Mitteilung der Kommission zu den Dienstleistungen von allgemeinen Interesse vom September 1996 so formuliert wurde 8 . Im Gegensatz zu dieser Position hat die Bundesregierung die Liberalisierung auf der Grundlage der Einschätzung gefördert, daß die Kommunalpolitik in diesem Bereich zu höheren Preisen führt und die Unternehmen gegenüber den Einwohnern benachteiligt. Dagegen wollten die kommunalen Spitzenverbände in Deutschland möglichst die bisherige Situation aufrechterhalten 9 . 7 Giandomenico Majone (1996), La Communaute europeenne: un Etat regu1ateur, Montchrestien "Clefs", Paris, S. 62. 8 Commission, Les services d'interet general en Europe, COM (96) 443 final. 9 Heinrich Decker (1996), "Die Organisation des Energiebinnenmarkts - Auswirkungen auf die kommunale Versorgungswirtschaft", S. 11 - 29 in: Helmut Cox (Hrsg.), Perspektiven

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Die Notwendigkeit, die eigenen Interessen in neuen Bedingungen zu verfolgen, kann auch dazu beitragen, Reformen akkzeptabel zu machen, und Ziele neu zu formulieren. Sie hat auch Auswirkungen auf das Vertretungs- und Entscheidungsfindungssystem im nationalen Rahmen. In Frankreich, z. B., haben die Verhandlungen zur Reform der gemeinschaftlichen Landwirtschaftspolitik zu Änderungen im politischen Planungssystem dieses Sektors geführt: die außensektoralen Verwaltungsspitzen (Finanzministerium, SGCI) haben dazu beigetragen, die Reformzie1e akzeptabel für die Betroffenen werden zu lassen. Die Fachproduktionsverbände haben einen größeren Einfluß auf die Verhandlungspositionen Frankreichs ausgeübt als die traditionnellen Landwirtschaftsverbände. Deren Mobilisierungskapazität hat jedoch dem Minister in den Verhandlungen gewiß eine Unterstützung gebracht JO . Dagegen haben die französischen zuständigen Verwaltungen in der Vorbereitung der Richtlinien über genetisch veränderte Organismen eine geringere Rolle gespielt, obwohl in diesem Sektor sehr enge Verbindungen zwischen dem Lanwirtschaftsministerium, den Forschungsinstitutionen und der Industrie bestehen: die Erklärung liegt wahrscheinlich darin, daß die Verantwortung, nicht konfliktlos, mit zwei anderen Ministerien (Umweltrninisterium, Forschungsministerium) geteilt wird, und daß die Richtlinie so ausformuliert wurde, daß die Umsetzungsgesetzgebung (13. Juli 1992) keine wirklich beeinträchtigende Regelungen hervorriefll . Eine andere Dimension des politischen Planungsprozeßes ist seine wachsende Sektoralisierung und Verflechtung. Mit der Verdichtung der gemeinschaftlichen Aufgaben vertiefen sich die Fachspezialisierung und die Fragmentierung des politischen Planungsprozeßes und des Rechtssetzungsprozeßes. Diese spiegeln die Fragmentierung der Politikbereiche in den staatlichen Regierungen wieder. Sie sind aber durch das Fehlen einer echten gemeinschaftlichen Exekutive zugespitzt worden. In den mehr als 200 offiziellen Ausschüssen und Arbeitsgruppen des Ministerrates entwickeln sich Fachnetzwerke von Beamten, die sich nicht zuerst als weisungsgebundene Vertreter verhalten, sondern als Träger von Fachkenntnissen, von Vorstellungen aus dem im nationalen Rahmen ausgebauten Sektor und von nationalen Verwaltungstraditionen und Grundwerten. Sie nehmen aber an einem einem Lernprozeß teil, aus welchem gemeinsame Positionen herauskommen können l2 . Dies läuft in vielen Fällen als ein gemeinsamer mehrstufiger politischer öffentlicher Unternehmen in der Wirtschafts- und Rechtsordnung der Europäischen Union, Band 11, Nomos, Baden-Baden. 10 Eve Fouilleux (1996), ..La cogestion a l'epreuve de I'Europe: Je cas de Ja reforme de Ja PoJitique Agricole Commune", V. Kongreß der Association Fran~aise de Science Politique, Aix-en-Provence, 23 - 26 April. 11 Seminar Öffentliche Politiken, unter der Führung von Prof G. MarcoulChristophe Lannelongue, Rechnungshof: Danielle Lamarque, Rechnungshof: Bericht von Nicolas Durandl Laurence Thery I Anne Wetzel ..La politique reglementaire de la France en matiere de plantes et d'animaux transgeniques", Institut d'Etudes Politiques de Paris, Februar 1997. 12 H. Siedentopf, .. Die Internationalität der öffentlichen Verwaltung", S. 722 -724 in: Klaus König I Heinrich Siedentopf (Hsrg.) (1997), Öffentliche Verwaltung in Deutschland, Nomos, Baden-Baden.

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Planungsprozeß ab, wobei die staatlichen Beamten den Planungsprozeß zugleich auf EG und mitgliedstaatliche Ebene mitgestalten \3 Die Teilnahme an diese Gremien wird von den Beamten allgemein hoch gewertet. Es entsteht eine "Sozialisierung" der nationalen Akteure durch die gemeinschaftlichen Verhandlungen. Die Rückwirkung dieses Prozeßes ist eine Vermehrung des sektoralen Herangehens an die Probleme. Das macht die Koordinierung durch die Regierung schwieriger, und läßt manchmal Diskrepanzen zwischen den Ministerien hervorscheinen 14• Im allgemeinen wirkt der Einfluß der Mitgliedstaaten allerdings nicht in der Richtung einer flexibeleren Rechtssetzung durch die EG, sondern in der Richtung detaillierter Regelungen. Das ist eine paradoxe Konsequenz des Intergouvernementalismus im policy-making Prozeß. Sehr detaillierte Richtlinien ergeben sich aus der Sorge, den Wirtschaftsinteressen in einem Mitgliedstaat einen Wettbewerbsvorteil zu nehmen 15 . In einer offenen Marktwirtschaft wie dem großen Binnenmarkt ist jeder Mitgliedstaat mehr interessiert an der Strenge der Regulierung, die die anderen bindet und ihn schützt, als an der Flexibilität. Die Anwendung und die Aufsicht der EG-Regelungen durch die Kommission ist auch für die Mitgliedstaaten eine Garantie. Sie sichert die Glaubwürdigkeit der Regelungen besser als ein reines intergouvernementales Abkommen 16 . Zusammenfassend kann man sagen, daß die Verwirklichung der kollektiven bzw. gesellschaftlichen interessen, deren Träger der Staat ist oder sein kann, immer mehr durch die Herstellung der gemeinschaftlichen Politiken zu erreichen ist.

3. Beitrag der staatlichen Aufgaben und der mitgliedstaatlichen Zusammena"beit zur Verwirklichung der EG-Vertragsziele

Die Mitgliedstaaten tragen zu der europäischen Integration nicht nur durch ihre Beteiligung zur Formulierung der gemeinschaftlichen Politiken bei, sondern auch durch ihre eigenen Aufgaben. Mehrere Vertragsartikel aus den EEA und dem Maastricht Vertrag haben schon die Bedeutung der staatlichen Aufgaben für die Verwirklichung der Vertragsziele anerkannt. In diesem Zusammenhang sind die Beziehungen zwischen staatlicher Politik und EG-Förderung zu erörtern: - die EG fördert durch ihre Tatigkeit die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten in bestimmten kulturellen Bereichen (Art. 128); - im Bereich des Gesundheitswesens, fördert die EG die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und erforderlichenfalls durch Unterstützung ihrer TIiH. Siedentopj/Chr. Hauschild, op. eil. S. 60. Christian Lequesne (1993), Paris-Bruxelles. Comment se fait la politique europeenne de la France, Presses de la FNSP, Paris, S. 28,47 - 48. 15 H. Siedentopj/ Chr. Hauschild, op. eil. S. 31 - 32. 16 G. Majone, op. eit. p. 64-65. 13

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tigkeit; die Mitgliedstaaten koordinieren untereinander im Benehmen mit der Kommission ihre Politiken und Programme in genannten Bereichen (Art. 129); - für die Verwirklichung der transeuropäischen Netze, koordinieren die Mitgliedstaaten untereinander in Verbindung mit der Kommission die einzelstaatlichen Politiken (Art. 129c); - die Mitgliedstaaten konsultieren einander in Verbindung mit der Kommission und koordinieren, soweit erforderlich, ihre Maßnahmen zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Gemeinschaft (Art. 130); - die Mitgliedstaaten führen und koordinieren ihre Wirtschaftspolitik in der Weise, daß der wirtschaftliche und soziale Zusammengehalt der Gemeinschaft gestärkt, die regionalen Disparitäten verringert werden (Art. BOa); - die EG und die Mitgliedstaaten koordinieren ihre Tatigkeiten auf dem Gebiet der Forschung und der technologischen Entwicklung, um die Koherenz der einzelstaatlichen Politiken und der Politik der Gemeinschaft sicherzustellen (Art. 130h). Manche Mitgliedstaaten haben schon außerhalb der Verträge durch eigene Initiativen zur weiteren europäischen Integration wesentlich beigetragen. Einige dieser Initiativen mögen ins Vertragswerk eingegliedert bzw. abdedeckt werden, es muß aber nicht so sein. Man kann zwischen dem politischen und dem wirtschaftlichen Bereich unterscheiden. Im politischen Bereich ist der Schengen Vertrag der bedeutendste Erfolg der mitgliedstaatlichen Zusammenarbeit. Das Schengen Abkommen erfolgte aus einer deutsch-französischen Initiative in 1984, für Reisende alle Grenzkontrollen zwischen den beiden Staaten aufzuheben; später haben sich die Benelux-Staaten angeschlossen und alle fünf Staaten unterzeichneten das Schengen-Abkommen am 14. Juni 1985. Dann wurden Verhandlungen aufgenommen, um die Durchführungsmaßnahmen gemeinsam zu beschliessen. Diese sind in einem ausführlichen Vertrag enthalten, der am 19. Juni 1990 unterzeichnet wurde. In den folgenden Jahren sind Italien, Spanien und Portugal beigetreten. Es ist bemerkenswert, daß die Kommission nicht in die Verhandlungen zum Schengen-Abkommen einbezogen wurde. Sie wurde dagegen an den Verhandlungen zum Durchführungsvertrag beteiligt. Dieser Vertrag bleibt jedoch ein völkerrechtliches Instrument und kein EG-Recht Instrument. Einige abdeckende Klauseln wurden in den Maastricht-Vertrag eingeführt (Art. K bis K4)17. Darüber hinaus wurden in den letzten Jahren mehrere Verträge zur Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen Gemeinden bzw. örtlichen Gebietskörperschaften abgeschlossen. Das Ziel ist, diese aufzufordern, Projekte 17 Xavier de Villepin (1991), "Rapport au nom de la commission des Affaires etrangeres du Senat sur le projet de loi autorisant l'approbation de la convention d'application de l'accord de Schengen du 14 juin 1985",10 Doc. Senat n° 406, seance du 19 juin 1991.

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und öffentliche Dienstleistungen gemeinsam zu schaffen und zu betreiben. Der erste dieser Verträge ist die Benelux-Vereinbarung 1986; dann der deutsch-niederländische Isselburg-Anholt Vertrag 1991. Der Karlsruhe Vertrag vom 23. Januar 1996 wurde zwischen Deutschland, Frankreich, Luxemburg und der Schweiz abgeschlossen. Frankreich hat ähnliche Verträge mit Spanien und Italien unterzeichnet lS . Während von einer gemeinschaftlichen Industriepolitik kaum zu reden ist, bestehen einige Industrie- und Forschungsinitiativen, die nur von Mitgliedstaaten getragen werden. Die Airbus-Industrie ist in der Tat ein europäisches Unternehmen (allerdings nicht rechtlich) mit französischen, deutschen, englischen, spanischen, italienischen Beteiligungen, zum Teil aus dem öffentlichen Sektor. Die Europäische Raumagentur, 1975 geschaffen, wird auch von den Mitgliedstaaten getragen. Das Programm angewandter Forschung Eureka wurde 1987 außerhalb des EGRahmens mit einer deutsch-französischen Initiative geschaffen; 27 Staaten sind daran beteiligt, und seit dem Anfang wurden 1.078 Projekte durchgeführt und 5.183 Klein- und Mittelbetriebe einbezogen; 115 Milliarden FF wurden ausgegeben, davon 35 % aus öffentlichen Haushalten 19 . Die mitgliedstaatliehe Zusammenarbeit ist nicht ein anderes Wort für zwischenstaatliche Zusammenarbeit. Durch die Mitgliedschaft in der EG hat diese Kooperation eine andere Qualität. Sie ist selbstverständlich von Intergouvernementalismus geprägt; die beteiligten Staaten sind nur völkerrechtlich und gegenseitig verpflichtet. Aber die EG-Mitgliedschaft schafft spezifische Bedingungen. Dies gilt auch, wenn Drittenstaaten an solchen Abkommen teilnehmen, weil die Mitgliedstaaten als EG-Staaten berücksichtigt sind. Die EG-Mitgliedschaft verpflichtet die Mitgliedstaaten nicht nur, das EG-Recht zu respektieren wenn sie solche Abkommen abschließen, sondern auch für die Koherenz mit den gemeinschaftlichen Politiken als ein Gebot der Gemeinschaftstreue gemäß Art. 5 zu sorgen. Manchmal ist die Konformität mit dem EG-Recht vertraglich gesichert: im Schengen-Durchführungsvertrag, bestimmt Art. 134, daß die Vertragsbestimmungen nur nach Maßgabe ihrer Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht gelten. Darüber hinaus mögen diese Verträge der Durchführung gemeinschaftlicher Programme beitragen, und umgekehrt eine Unterstützung der EG rechtfertigen. Die Möglichkeit, INTERREG Gelder für gemeinsame örtliche grenzüberschreitende Projekte zu erhalten, kann nur die Kooperation zwischen den örtlichen Gebietskörperschaften 18 Siehe: Nicolas Levrat (1994), Le droit applicabIe aux accords de cooperation entre collectivite publiques infra-etatiques, PUF, Paris; - Christian Autexier (1993), Gemeinsame 10thringisch-saarländische administrative Einrichtungen und Verfahrensweisen. Rechtsgutachten, Etudes et documents du C.E.I.F., Saarbrücken; - G. Marcou (1998), "Les traites relatifs a la cooperation transfrontaliere entre collectivites territoriales et I'urbanisme", in: H. Iacquotl G. Marcou (Hrsg.), L'urbanisme transfrontalier. Droit et pratique, L'Harmattan, Paris; - L'action exterieure des collectivites locales, Journal Officiel, Broschüre n° 1674, 1996 (Textsammlung). 19 Les Echos, 19. Februar 1997, S. 46.

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fördern. Die Entwicklungsforschung für die Flugindustrie wird vom mehrjährigen EG-Forschungsprogramm gefördert, allerdings nur in begrenztem Maße. Aber diese Unterstützung könnte in der Zukunft erhöht werden. Der erste Bericht der Kommission über den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt (Kohäsionsbericht), der im Herbst 1996 gemäß Art. l30b vorgelegt wurde2o, hebt die Rolle der Mitgliedstaaten in der Verwirklichung dieses Ziels stark hervor. Die staatlichen Politiken werden in den Vordergrund gestellt (Kapitel 3 des Berichts). Es geht doch um wesentliche staatliche Aufgaben. Da die EG Einnahmen in 1999 nur 1,27 % des GDP erreichen werden, können die EG Ausgaben trotz der redistributiven Effekte der Strukturfonds und der Landwirtschaftspolitik die makro-ökonomischen und Solidaritäts-Politiken der Mitgliedstaaten nicht ersetzen. Es folgt, daß die drei Haushaltsfunktionen nach Musgrave (Stabilisierung, Allokation und Umverteilung) nach Sicht der Kommission grundsätzlich nach wie vor nur von den Staaten verwirklicht werden können und nur in begrenztem Maße von der EG. Der Bericht beschreibt die wichtigsten Aufgaben, die von den öffentlichen Ausgaben der Mitgliedstaaten in der Zukunft gewährleistet werden müßen: öffentliche Dienstleistungen für die Bevölkerung, Dienstleistungen für die Wirtschaft, Entwicklungsforschung, Regionalpolitik (Infrastruktur und Planung). Es wird in der Zukunft noch mehr der Fall sein, daß die sozialen und regionalen Disparitäten in den jeweiligen Staaten sich verschärfen, während sie zwischen den reichsten und den ärmsten Mitgliedstaaten abgenommen haben, und daß die reichsten Mitgliedstaaten trotz der geplanten Erweiterung ihre Zahlungen an den EG-Haushalt begrenzen wollen. In der Mitteilung vom September 1996 über die Dienstleistungen vom allgemeinen Interesse erklärt auch die Kommission, daß diese einen entscheidenden Beitrag zum wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt bringen und daß sie grundsätzlich der staatlichen Kompetenz unterstehen. Ein Widerspruch kann sich allerdings ergeben: während die Mitgliedstaaten nach wie vor im wesentlichen über die öffentlichen Ressourcen verfügen, die für die staatlichen Aufgaben notwendig sind, wird der den Regierungen eingeräumte Spielraum von den verchiedenen EG Regelungen sehr eingeengt. Insgesamt folgt daraus, daß die europäische Integration nicht durch eine Abwicklung bzw. eine Aushöhlung der Nationalstaaten erreicht werden kann. Im Gegenteil wird sie von diesen getragen und vorangetrieben, allerdings nicht ohne Konflikte. Diese Schlußfolgerung wird bestätigt, wenn man die Rechtsentwicklung und die institutionellen Entwicklung in den Mitgliedstaaten betrachtet. Dies hat auch Implikationen für die Vorstellung von der sich bildenden politischen Union.

20 Commission europeenne (1996), Premier rapport sur la cohesion economique et sociale, Office des Publications Officielles des Commuunautes Europeennes, Luxemburg, 159 S.

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III. Die europäische Union als staatsgebundene vertragliche Föderation

Die Diskussion über die zukünftige Rechtsfonn der europäischen Union hat in den letzten Jahren ohne Ertrag die Diskussion zwischen den Befürwortem eines Bundesstaates Europa und den Befürwortem der Staatssouvänität bestimmt. Diese beiden extremen Vorstellungen ignorieren die konkreten Bedingungen der europäischen Integration und der Herausbildung eines Staates. Der Ausbau der Europäischen Union kann nur als ein politischer Prozeß föderaler Natur gekennzeichnet werden. Die Union ist aber wahrscheinlich nicht ein Staat im Werden. Man kann jedoch in der heutigen Wirklichkeit der EU eine rechtspluralistische Gemeinschaft und Züge einer staatsgebundene vertragliche Föderation erkennen. 1. Zukünftiges politisches Gefüge der Europäischen Union

Philip Schmitter hat veschiedene Trendszenarii zur Entwicklung der Europäischen Union verglichen. Er denkt, daß unter fünf von ihm skizzierten Modellen diejenigen des Staates, des Bundesstaates und des Staatenbundes die unwahrscheinlichsten seien 21 • Diese Einschätzung ergibt sich aus der Feststellung, daß sich eine wachsende Trennung zwischen allokativen Befugnissen, Territorien und funktionellen Kompetenzen durchsetzen werde. Nach Schmitters Auffassung wird sich das europäische politische System aus dem heutigen europäischen politischen Planungsprozeß herausbilden und wahrscheinlich in eine originäre Fonn zwischen Consortio und Condominio annehmen. Der Consortio sei eine Fonn kollektiver Aktion, wobei die Teilnehmer es akzeptieren, bei funktionellen Aufgaben zu kooperieren und ihre eigenständigen Handlungskapazitäten in Aufgabenbereichen zu verbinden, die sie isoliert nicht mehr beherrschen können. Die Teilnehmer - hier die Mitgliedstaaten - teilen auch gemeinsame Werte und nehmen die jeweiligen Positionen in einer gemeinsamen Hierarchie an. Der Condominio bringe das Zusammenbestehen von mehreren Europas zum Ausdruck; es beständen verschiedene und verflochtene funktionelle bzw. territoriale Gruppierungen, mit einer Vielfalt von Institutionen, aber ohne politisches Zentrum, ohne politische Führung und ohne für alle geltende Zielsetzungen. So beschrieben gleicht der Consortio sehr viel der heutigen Situation im Planungsprozeß gemeinschaftlicher Politiken. Der Condominio stellt ein Bild von der Gefahr dar, die die Europäische Union bedrohen könnte, wenn die Erweiterung von keiner institutionellen Entwicklung begleitet wird. Beiden Darstellungen liegt 21 Philip Schmitter (1995), "Quelques alternatives pour le futur systeme politique europeen et leurs implications pour les politiques publiques contemporaines", S. 28 - 47 in: Yves Meny / Pierre MuHer / Jean-Louis Quermonne (Hrsg.), op. cit.

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die Einschätzung zugrunde, daß der Trend nicht auf ein Hinauswachsen der Mitgliedstaaten in der Europäischen Union hin orientiert sei. Diese Modelle sind allerdings aus einem theoretischen Standpunkt nicht völlig befriedigend, weil die institutionelle Dimension der zukünftigen Entwicklung kaum in Betracht genommen ist, besonders in den neuartigen Modellen des Consortio und des Condominio, welchen kein Vorbild zugrunde liegt. Insofern geben uns diese Modelle keine Anwort auf die Frage, welche institutionelle Ausgestaltung wird die Europäische Union letztlich haben und in welche Richtung wird sich die Staatlichkeit in Europa wandeln. In der Rechtswissenschaft können uns die Rechtsvergleichung, die Rechtslehre und die Theorie des Föderalismus helfen, einige Ansätze herauszufinden, um die Richtung dieser politischen Entwicklung besser zu verstehen. Die EG wurde mit Recht als Rechtsgemeinschaft gekennzeichnet. Damit wollte man betonen, welche integrative Rolle dem EG-Recht beigemessen wurde, deren Wirksamkeit von Institutionen gewährleistet ist, die es durchsetzen, und seinen Vorrang vor dem nationalen Recht gelten lassen können. Die Einwirkung des EGRechts auf die nationalen Rechtsordnungen, insbesondere im Bereich des öffentlichen Rechts, scheint allerdings wegen eines einseitigen gemeinschaftsrechtlichen Herangehens überschätzt zu werden. Aus rechtsvergleichenden Untersuchungen rückt eine Wesenseigenschaft der Rechtsordnungen im Gegenteil in den Vordergrund: sich im Wandeln auszugestalten und anzupassen, ohne die ihnen zugrunde liegenden Wesensbegriffe und inneren Beziehungen aufzulösen. Diese Feststellung führt zur Schlußfolgerung, daß die öffentlichen Rechtsordnungen trotz der Entwicklung des EG-Rechts Wesens merkmale der nationalen Staatlichkeit behalten werden. Die Theorie des Föderalismus sollte auch neu durchgedacht werden. Man kann sie nicht mehr in der im XIX. Jahrhundert von Jellinek und Laband theoretischen Alternative zwischen Bundesstaat und Staatenbund einschließen. Schon Georges Scelles hatte den Gedanke vorgetragen, daß alle Staatsverbände unter dem Begriff des Föderalismus fallen, sei es um den Frieden zu sichern, oder um sich gegen Feinde zu schützen, oder um Handelsaustausche zu fördern 22 . Der Bundesstaat ist in dieser Hinsicht nur eine Grenzerscheinung des Föderalismus, da er einen übergeordneten Staat darstellt, der die staatliche Souveränität übernimmt. Die EU ist auch schon heute eine föderalistische Erscheinung, allerdings mit einer Eigenart, die kein Vorbild hat. Diese Feststellung gibt uns aber keine Kennzeichnung dieser Erscheinung, und keine Antwort auf die Frage mach ihrem politischen Gefüge. Zuerst stellt sich die Frage, ob die EU jetzt eine Verfassung braucht, oder nicht. Aus dem Gedanke, daß die EU kein Staat im Werden ist, kann man versuchen, die EU als eine staatsgebundene vertragliche Föderation aufzufassen. Die nächsten Teile werden diese beiden Ansätze kurz weiterentwickeln. 22 Georges Scelle (1932), Precis de droit des gens. Principes et systematique, Sirey, Paris, vom CNRS neu gedruckt, Paris, 1984, insbesondere S. 187 - 287.

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2. Europäische Union als rechtspluralistische Gemeinschaft

Aus der Feststellung, daß das EG-Recht Vorrang und Unmittelbarkeit in jede migliedstaatliche Rechtsordnung hinein hat, wird oft eine Konvergenz oder eben sogar eine Vereinheitlichung der Institutionen und der Rechtsordnungen abgeleitet. Diese Folgerung ist auf eine monistische Vorstellung der Integration zurückzuführen. Zwei Bereiche haben besonders solchen Hypothesen Anlaß gegeben: die territoriale Gliederung der Mitgliedstaaten und das Verwaltungsrecht. Auf der einen Seite hat man das Europa der Regionen thematisiert. Auf der anderen Seite haben manche anerkannte Rechtslehrer die Herausbildung eines integrativen europäischen Verwaltungsrecht hervorgehoben. a) Europa der Regionen? Das Thema "Europa der Regionen" scheint heute schon Gestalt anzunehmen. Sein Grundgedanke war, daß die Region eine neue, von dem europäischen Integrationsprozeß geförderte und mit ihm zusammenhängende Selbstverwaltung stufe sein und dadurch die Grundlage eines zukünftigen drei stufigen Föderalismus bilden könnte. Eine Untersuchung der Territorialgliederung und des Selbstverwaltungssystems der jeweiligen Mitgliedstaaten zeigt aber, daß man keine Konvergenz feststellen kann und daß es unter den Mitgliedstaaten keinen einheitlichen oder sogar allgemein angenommenen Regionsbegriff gibt23 . Wenn die Regionalisierung einen gemeinsamen Sinn haben soll, geht dies nur dadurch, daß die Funktion der Mittelstufe sich im allgemeinen gewandelt hat: Aus einer Vollziehungs- und Aufsichtsfunktion für die zentrale Staatsgewalt ist sie in eine Vertretungsfunktion der Interessen der örtlichen Bevölkerung hineingewachsen. Daher hat sich die Grundlage für die Herausbildung einer Selbstverwaltungsgemeinschaft entwickelt. Dieser Prozeß hat sich aber nach sehr unterschiedlichen Umständen und bestehenden öffentlichen Rechtsordnungen national nur bedingt durchgesetzt. Man kann in Europa zum mindesten vier Regionalisierungsmodelle skizzieren, ohne daß eine gegenseitige Annäherung bzw eine Angleichung an ein gemeinsames Modell festzustellen oder sogar zu erwarten ist. Diese vier Modelle können schematisch so gekennzeichnet werden 24 : 1) Bundesländer sind keine Region, da sie staatliche Gefüge sind, obwohl sie bestimmte Funktionen der Regionalisierung gewährleisten können; 2) die politische Regionalisierung oder instituoneller Regionalismus: Regionen haben ein Sonderstatus zwischen Staat und örtlichen Gebietskörperschaften, 23 Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.) (1994), Institutionelle Bedingungen einer europäischen raumbezogenen Politik, unter der Führung von G. Marcou und H. Siedentopf, Verlag der ARL, Hannover; - G. Marcou (1998), Regionalisation et autonomie locale, Les autorites locales et regionales en Europe, n° 62, Europarat, Straßburg. JA. Ausführlicher in: G. Marcou (1998), op. cit.

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aber dieses Modell umfaßt Erfahrungen, die nicht homogen sind: in Italien mehr zur Vereinheitlichung orientiert, obwohl diese Entwicklung heute in Frage gestellt wird, und in Spanien zentrifugaler geprägt. Regionalismus kann auch im Bundesstaat zum Ausdruck kommen (Belgien). Das Vereinigte Königsreich könnte sich nach der Wahl im Mai 1997 in diese Richtung orientieren; 3) die Regionalisierung im Einheitsstaat: die französische Erfahrung entspricht diesem Modell. Die Region ist grundsätzlich eine örtliche Gebietskörperschaft mit Selbstverwaltungsrechten, die denjenigen der anderen örtlichen Gebietskörperschaften ähnlich sind. Sie übt keine Kompetenz aus, die nach Maßgabe der Verfassung staatlicher Natur ise5 . Andere Beispiele sind mit der Verwirklichung der Regionalisierung in Portugal (kontinentale Regionen), oder sogar in einigen mitteleuropäischen Staaten (Polen, Tscheschiche Republik, Slowakei) angesprochen; 4) die Regionalisierung als von Städten und Gemeinden getragenen Funktionsumstellung der Mittelstufe: diesem Modell entsprechen die Erfahrungen der Niederlanden nach dem Gesetz von April 1994 über die Schaffung von Stadtregionen (zum Teil gescheitert), Schweden seit 1995, Ansätze in einigen deutschen Ländern. Man kann zwar behaupten, daß der europäische Integrationsprozeß im Rahmen der EG und in erster Linie die Strukturfonds dazu beigetragen haben, die Idee der Region als Mittelstufenbegriff zu verbreiten. Es bleibt aber, daß diese Idee nach sehr unterschiedlichen Mustern und in sehr unterschiedlichen institutionellen Zusammenhängen umgesetzt wird. b) Herausbildung eines europäischen Verwaltungsrechts? Die Hypothese eines integrativen europäischen Verwaltungsrechts hat andere Quellen, aber sie stößt auf ähnliche Feststellungen. Der Gedanke ist zuerst im Bereich des Privatrechts hervorgebracht worden. Kann die europäische Integration durch die Eigenschaften des EG-Rechts die Wiederherstellung eines ius commune erreichen, wie es am Ende des Mittelalters auf der Grundlage des römischen Rechts entwickelt worden ist26 ? Der Gedanke wurde von Verwaltungsrechtlern übernommen: die sich vertiefende Zusammenarbeit zwischen den EG - Mitgliedstataaten kann nur aus gemeinsamen politischen und rechtlichen Grundüberzeugungen die Vereinheitlichung des Verwaltungsrechts in Europa fördern 27 ; die Durchsetzung des EG-Rechts unter straffer Aufsicht der 25 G. Marcou (1996), "L' experience fran,.aise de regionalisation: la decentralisation regionale dans l'Etat unitaire", S. 157 -188 in: Gisela Färber/Murray Forsyth (Hrsg.), The regions - Factors of integration and desintegration in Europe?, Nomos, Baden-Baden. 26 Über die These eines ius commune am Ende des Mittelalters, siehe: Helmut Coing (1985), Europäisches Privatrecht, Band 1: Älteres Gemeines Recht: 1500 bis 1800, C.H. Beck, München, S. 7ff. und S. 32-42.

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Kommission und des Europäischen Gerichtshofs bringe eine Vereinheitlichung des Verwaltungsrechts hervor28 . Man muß zugeben, daß die Herausbildung einer europäischen überstaatlichen Rechtsordnung, und daher überstaatlicher Quellen des Verwaltungsrechts eine entscheidende Umwandlung für alle Verwaltungsrechtsordnungen unter den EG-Mitgliedstaaten ist. Die Rechtssetzung und die Rechtssprechung zur Verwirklichung des Binnenmarkts, zur Sicherung der Wirksamkeit des EG-Rechts, und zur Förderung der Grundrechte in Anwendung der Europäischen Menschenrechtekonvention sind dabei die wichtigsten Erscheinungsbereiche des dem europäischen überstaatlichen Rechtsordnung zukommenden Einflußes. Sie hat in manchen EG-Mitgliedstaaten (bzw. Parteistaaten der Europäischen Menschenrechtekonvention) grundlegende Änderungen herbeigeführt, die aber immer begrenzt geblieben sind. J. Schwarze hat besonders die These des Hinauswachsens eines europäischen Verwaltungsrechts verteidigt. Er hat zuerst eine vergleichende Darstellung der Verwaltungsrechtssysteme der EG-Mitgliedstaaten veröffentlicht, die sich auf einige als gemeinsam geschilderten und allgemein anerkannten Rechtsprinzipien des Verwaltungsrechts bezog 29 . Diese hervorragende Untersuchung zeigt jedoch, daß gemeinsame Grundprinzipien nur auf einen hohen Grad der Abstraktion herausgefunden werden können. Die Feststellung gemeinsamer Werte und Grundprinzipien beweist aber nicht, daß die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen ähnliche Systemmerkmale aufweisen. J. Schwarze hat auch mit einem Kollektiv eine systematische Untersuchung über die Einflüsse des EG-Rechts in das Verwaltungsrecht der jeweiligen Mitgliedstaaten geführt. Die Ergebnisse dieser Untersuchung zeigen, daß EG-Rechtsnormen in sehr viele Bereiche des Verwaltungsrechts eingeflossen sind, immer mehr im nationalen Rahmen die Rechtssetzung bestimmen, und die Anpassung bzw. die Änderung von Rechtssätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts herbeigeführt haben. Diese Anpassungen bzw. Änderungen sind allerdings von der jeweiligen Verwaltungsrechtsordnung abhängig. Sie betreffen deshalb nicht immer dieselben Bereiche. Sie sind, nicht überraschend, wichtiger im englischen Recht, als in kontinentalen Verwaltungsrechtsordnungen 3o . Sie bleiben aber insgesamt begrenzt, hypothetisch oder rein materieller Natur. Es ist merkwürdig, daß die Vereinbarkeitsprobleme zwischen Rückzahlungspflicht der nach dem EG-Recht ungerechtfertigten Beihilfen und Ermessensspiel27 Jürgen Schwarze (1988), Europäisches Verwaltungsrecht, Band I, Nomos, BadenBaden, S. 91- 92. 28 Mario P. Chiti (1991), "I signori dei diritto comunitario: la Corte di giustizia e 10 sviluppo dei diritto amministrativo europeo", Rivista trimestrale di Diritto pubblico, S. 796 ff. 29 Op. cit.

30 J. Schwarze (1996), ,,L'europeanisation du droit administratif national", S. 789 - 845, in: J. Schwarze (Hrsg.), Le droit administratif sous l'influence de I'Europe, Nomos/Bruylant, Baden-Baden I Brussel.

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raum der Behörde bzw. des Verwaltungs gerichts nach dem deutschen Recht als ein Beispiel der von dem EG-Recht verursachten grundsätzlichen Änderungen im deutschen Verwaltungsrecht bezeichnet wird 31 , während dieses Beispiel aus einer rechtsvergleichenden Sicht um so mehr als eine Nebenfrage erscheint, als die Anpassung des deutschen Verwaltungsrechts keine der jüngsten Novellierungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes und der Verwaltungsgerichtsordnung beeinflußt hat32 . Die selbe Bemerkung gilt für die Frage, ob man im deutschen Verwaltungsrecht auch auf der Grundlage eines Rechtsreflexes eine Klagebefugnis zulassen müßte, wie es die Sicherung der gemeinschaftlichen Rechtsmäßigkeit zu erfordern scheint. In vielen anderen Bereichen ist der Einfluß des Gemeinschaftsrechts rein materieller Natur. Auch im Bereich des Beamtenrechts mußten alle Mitgliedstaaten die Staatsangehörigkeitsklauseln in ihren Beamtengesetzen aufgeben, und viele Rechtsvorschriften anpassen, um die Zulassung von Staatsangehörigen aus anderen Mitgliedstaaten zu regeln. Diese Anpassung hat in keinem Mitgliedstaat dazu geführt, die Grundaufassung des Staatsdienstes in Frage zu stellen. Diese Stabilität kommt ganz klar in Frankreich und in Deutschland zum Ausdruck. Wo tiefere Reformen in den letzten Jahren eingeführt wurden, wie in Italien mit einer massiven Rechtsprivatisierung des Staatsdiensts und in Großbritanien als Ergebnis der Umstellung vieler staatlichen Verwaltungen in eigenständige Agencies kam der Impulse nicht von der EG-Recht sondern von innenpolitischen Zielsetzungen. Man will damit nicht behaupten, daß das EG-Recht nur wenig Bedeutung für die Entwicklung des Verwaltungsrechts habe, bzw. daß die deutschen Institutionen das EG-Recht nur zurückhaltend vollziehen, sondern daß die Einwirkung des EGRechts auf das deutsche Verwaltungsrecht, wie in anderen Verwaltungsrechtsordnungen punktuell und oberflächig bleibt. T. von Danwitz weist allerdings am Beispiel des deutschen Verwaltungsrechts darauf hin, daß die Einwirkung des EG-Rechts nicht nur den Inhalt der Rechtsnormen beeinfluße, sondern auch eine diffuse, tiefgreifendere Transformation auslöse. Diese Enwicklung sei auf die neuere Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs zurückzuführen, die "die Bandbreite der europarechtlich tolerablen Divergen31 Z. B. Manfred Zuleeg (1994), "Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht - wechselseitigen Einwirkungen", S. 167 (über § 80 VwGO), in: VVDStRL, Band 53; - Hans-Werner Rengeling (1994), selb. Titel, ibid. S. 213 - 214 und 225 - 230 (gemässigtere Einschätzung der Einwirkung des EuGH auf die Anwendung des § 48); - J. Schwarze (1996), "Deutscher Landesbericht", insbesondere S. 157 - 163 in: J. Schwarze (Hrsg.), op. cit.; - Tho17Ws von Danwitz (1996), Verwaltungsrechtliches System und europäische Integration, J.C.B. Mohr, Tübingen, S. 359 - 362; - Georg Ress !Jörg Ukrow (1997), "Die deutsche Verwaltung in der Europäischen Union", insbesondere S. 740 - 741 in: H. Siedentopfl K. König (Hrsg.), op. cit. 32 Zuletzt für das VwVfG: Gesetz zur Beschleunigung von Genehmigungsverfahren vom 12. Sept. 1996 (BGBI. 1996, I, n° 46, S. 1354); für die VwGO: Sechstes Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 1. Nov. 1996 (BGBI. 1996, I, n° 55, S. 1626).

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zen in den nationalen Rechtsordnungen" deutlich reduziert habe 33 . Er geht "von einem Mandat zum judicial review aus, wenn und soweit der effet utile des Gemeinschaftsrechts nach Ansicht des EuGH seine anderweitige Durchführung erforderlich macht,,34. Die Einwirkungspfaden des Gemeinschaftsrechts seien von fünf Typen: die "Einspeisung" in das staatliche Verwaltungsrecht "gesetzesfremder Interessenwertungen"; die "Auflösung vorgegebener Systemstrukturen" und die "Funktionsänderung bestehender Rechtsinstitute" (von besonderer Bedeutung seien die "Funktionsveränderung subjektiv-öffentlicher Rechte" und die "Bedeutungsbeschränkung der Verwaltungsvorschriften,,35; die Verdrängung des nationalen Verwaltungsrechts und, zuletzt, die gemeinschaftliche Neugestaltung und Vereinheitlichung des Verwaltungsrechts insgesame6 . Diese eindrucksvolle Darstellung stützt sich aber viel mehr, und in erster Linie, auf die aus der Rechtssprechung des EuGH herauskommenden Geltungsansprüche des Gemeinschaftsrechts, als auf tatsächliche, sich durchsetzende Umwandlungen im staatlichen Verwaltungsrecht. Der Vorrang des Gemeinschaftsinteresses ändert zwar zum Nachteil des Einzelnen die der Vertrauensschutzgewährung zugrunde liegende Interessenabwägung. Man kann sicher diese Entwicklung kritisieren, kann man doch darin den Ansatz zu einer strukturellen Veränderung sehen. Der Autor bringt keinen Beweis, daß diese Entwicklung auf das allgemeine Verwaltungsrecht durchgegriffen hätte. Sie hat in den neueren Gesetzänderungen keine Resonanz gefunden. Es ist auch festzustellen, daß die Interessenabwägung am Anfang der 50er Jahre anders als heute zugunsten der Durchsetzung des objektiven Rechts grundsätzlich zur Zurücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsakts führte 37 • Die spätere Entwicklung des Vertrauensschutzes zugunsten des Einzelnen wurde nicht als eine Systemänderung verstanden. Trotz der Unterscheidung zwischen fünf Einwirkungsmechanismen des Gemeinschaftsrechts bleibt das Hauptargument, daß die erreichte Balance zwischen der Rechtsschutzfunktion und der Bewirkungsfunktion des Verwaltungsrechts nachhaltig von den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts verändert werde. Es folgt aber nicht daraus, daß Wesensmerkmale des deutschen Verwaltungsrechts umgestaltet werden; zum Beispiel wurden die Klagemöglichkeiten unter dem Einfluß des EG-Rechts im Verwaltungsprozeßrecht nicht reformiert. Ein rechtsvergleichendes Herangehen an die Entwicklung der nationalen Verwaltungsrechtsordnungen hilft, die Einwirkung des Gemeinschaftsrechts zu relativieren. Ein Blick auf die geschichtliche Entwicklung des Verwaltungsrechts (und des Rechts überhaupt) zeigt, daß das Recht nicht stabil ist; aber die unaufhaltsame Op. cit. S. 352. Ibid. S. 355. 35 Ibid. S. 364. 36 Ibid. S. 354 - 374. 37 Rainer Wahl, Diskussionsbeitrag zum Thema: "Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht - Wechselseitige Einwirkungen", VVDStRL, Band 53, 1994, S. 270. 33

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inhaltliche Entwicklung der Rechtsnormen, welches auch ihre Quellen sein mögen, bringt nicht immer Systemänderungen, obschon diese oft erst aposteriori erkennbar sind. Eine Untersuchung in den Verwaltungsrechtsordnungen von acht Mitgliedstaaten seit etwa dem Anfang der siebziger Jahre, um die wichtigsten Entwicklungen anzuerkennen, d. h. diejenigen die eine begriffliche bzw. eine strukturelle Bedeutung haben, führt zur Feststellung, daß sie in meisten Fällen der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts nicht zurückzuführen sind, sondern sich an politische bzw. wirtschaftspolitische Umständen bzw. Voraussetzungen beziehen. Wenn der Ausgangspunkt nicht das Gemeinschaftsrecht sondern die Verwaltungsrechtsordnung insgesamt ist, wird man zur Folgerung geführt, daß die öffentliche Rechtsentwicklung trotz der Herausbildung überstaatlicher Rechtsquellen wesentlich national bedingt ist. Man kann zwar allgemeine gemeinsame Rechtsgrundsätze anerkennen, und denken, daß diese Gemeinsamkeit auf die Dauer wachsen könne. Sie sind aber nicht genügend, um die Ausgestaltung eines europäischen integrierten Verwaltungsrechtssystems möglich zu machen. Entscheidend sind nicht die allgemeinen Rechtsgrundsätze, sondern die inneren Zusammenhänge, die eine Rechtsordnung als ein Rechtssystem ausmachen 38 . Dieser Tatbestand ergibt sich aus der institutionellen Dimension der Beziehungen zwischen den staatlichen und dem gemeinschaftlichen Rechtsordnungen und erklärt sich aus rechtstheoretischen Gründen. In jeder Rechtsordnung ist die oberste Gerichtsbarkeit für die Rechtssicherheit und für die systemkonforme Auslegung der Rechtsnormen zuständig. Um diese Funktion zu erfüllen, braucht sie den Inhalt und die Konturen von Rechtsbegriffen, die unbestimmt bzw. unscharf sind, damit die Rechtsentwicklung nicht im Konflikt mit dem Kohärenzgebot gerät 39 . Gegenüber dem EG-Recht sichert die oberste Gerichtsbarkeit (der nationalen Rechtsordnung entsprechend: die Verfassungs gerichtsbarkeit, bzw. die oberste Verwaltungsgerichtsbarkeit) die Anpassung des Rechtssystems den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts möglichst ohne wesentliche Umwandlungen oder mit minimalen Strukturänderungen. Sie trägt deshalb entscheidend dazu bei, die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen in ihrer Eigenart, aber nicht unverändert, aufrechtzuerhalten 40. Insofern ist es zu erwarten, daß die öffentlichen Rechtsordnungen dauerhaft ihre Eigenständigkeit behalten. Eine inhaltliche Europäisierung von Teilbereichen des Verwaltungsrechts muß nicht eine Vereinheintlichung des Verwaltungsrechts unter dem Gemeinschaftsrecht hervorbringen. Die von 1. Schwarze erwünschte Kodifizierung des europäischen Verwaltungsrechts 41 kann zur Zeit nur als utopisch ein38 Ausführlicher in: Gerard Marcou (Hrsg.) (1995), Les mutations du droit de l'administration en Europe. Pluralisme et convergences, L'Harrnattan, Paris. Insbesondere "Introduction", S. 11 - 62. 39 Jacques Chevallier (1984), "L'ordre juridique", S. 9 - 10 in: CURAPP, Le droit en proces, PUP, Paris. 40 Gerard Marcou, op. eit. 41 Jürgen Schwarze (1996), op. eit. S. 834ff.

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geschätzt werden, was auch von ihm anerkannt wird42 • Deshalb kann man besser die Europäische Gemeinschaft als pluralistische Rechtsgemeinschaft kennzeichnen. Diese Schlußfolgerung hat auch Implikationen auf die politische Form der Europäischen Union. 3. Europäische Union als staatsgebundene vertragliche Föderation

Der Rechtspluralismus ist, zum mindesten im Bereich des öffentlichen Rechts, nicht nur Ausdruck der Vielfalt der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Er spiegelt vielmehr die Funktion des öffentlichen Rechts als Wesensmerkmal der jeweiligen Mitgliedstaaten wieder, und als Bestandteil des Verwaltungssystems überhaupt. Diese Feststellung hängt mit der allgemeinen Zurückhaltung der mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber dem Anspruch des EuGH zusammen, wonach das Vorrangsprinzip auch gegenüber den Verfassungsnormen gelte 43 . Dieser Anspruch wurde mir von den Niederlanden auf der Grundlage der Verfassung 1983 angenommen. In anderen Ländern wird von der Verfassungsgerichtsbarkeit ein Vorbehalt beibehalten, um, den Erfordernissen der Verfassungsrechtsordnung entsprechend, den Grundrechtsschutz, eine verfassungsmässige Grundordnung oder einen Kern der Staatssouveränität44 zu gewährleisten. Die bisher rein theoretische Hypothese des Überverfassungsmässigkeitgebots nimmt damit eine rechtspositivistische Wirkung. Die Verfassungsfrage bringt zum Ausdruck, daß die Staatlichkeit bei den Mitgliedstaaten bleibt, und nicht in die Europäische Gemeinschaft hinauswächst, der nur von einer Einzelermächtigung bedingte Hoheitsrechte übertragen wurden. Aus einigen Kreisen ist seit Jahren vorgeschlagen worden, daß der Europäischen Union eine Verfassung zuteil werde. Ein solcher Sprung solle den Bürgern eine politische Pespektive aufweisen, und die Grundwerte der neuen politischen Gemeinschaft verkörpern. Dieter Grimm hat überzeugend aufgezeigt, daß eine Verfassung Europas nicht notwendig ist und unzweckmäßig wäre. Im rechtspositivistischen Sinne könne die EG mit einer Verfassung versehen werden: sie ist mittelbare Ausübung der Staatsgewalt durch die ihr übertragenen Hoheitsrechte, und diese müßen rechtlich gebunden werden. Aber die Verträge und der Europäische Gerichtshof nehmen schon diese Funktion wahr. Allerdings ist eine Verfassung nicht nur eine oberste Rechtsnorm. Sie ist auch Ausdruck der Verfassungsgewalt des Volkes, als Träger des Staates, als Staatsvolk. Wie das BVerfG im Masstricht-Urteil es hervorgehoben hat, gibt es als Träger der Europäischen Gemeinschaft kein Staatsvolk - zum mindesten in dieser Epoche. Die demokratische Legitimation erfolgt "durch die 42 43

44

Ibid. S. 837. EuGH n° 11 /70,17. Dez. 1970, "Internationale Handelsgesellschaft". Der Rechtssprechung der jeweiligen Verfassungs gerichtsbarkeit entprechend.

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Rückoppelung des Handeins europäischer Organe an die Parlamente des Mitgliedstaaten", solange die demokratischen Grundlagen der Union nicht ausgebaut werden. Die Mitgliedstaaten bleiben deshalb "Herren der Verträge,,45. Der EG eine Verfassung geben, würde ihr formell eine Staatsqualität anerkennen, ohne daß die entsprechenden gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen geschaffen seien. Deshalb wäre diese Verfassung an sich keine Grundlage für eine echte gemeinschaftsrechtliche Demokratie. Im Rahmen der EG gibt es tatsächlich keine Öffentlichkeit, keine politischen Parteien, kaum europäische Verbände, und vor allem wurden die zahlreichen Sprachen das demokratische Spiel einer kleinen europäischen Elite reservieren46 . Die Alternative zum EG-Staat, sei es nach dem Vorbild des Bundesstaats, um die Integration weiterzuentwickeln, ist eine staatgebundene vertragliche Föderation. Nach Olivier Beaud ist die Föderation im echten Sinne kein Staat, auch kein Bundesstaat, sondern eine neue aus freiwilliger Verbindung politischer Einheiten entstandene politische Einheit, der die Mitgliedstaaten Hoheitsrechte übergeben haben, die sie binden; der "modeme Föderalismus" sei insofern ein "zwischenstaatlicher Föderalismus,,47. Die Europäische Union entwickelt sich als eine staatlich getragene Föderation in diesem Sinne. Als solche kann sie nicht die Kompetenz-Kompetenz haben, sondern nur auf der Grundlage ihrer Einzelermächtigung tätig sein. Deshalb hängt die weitere Integrationen der treuen, mitgliedstaatlichen Zusammenarbeit und der treuen Kooperation zwischen den Regierungen und den EG-Institutionen, in erster Linie der Kommission, ab. In dieser Hinsicht sind die beiden Urteile des Bundesverfassungsgerichts, das Maastricht-Urteil1993 und das Fernsehrichtlinien-Urteil 1995, wichtige Eckpfeiler zur Herausfindung des juristischen Konzepts der Europäischen Union. Die EG ist "ein europäischer Staatenverbund, der von den Mitgliedstaaten getragen wird und deren nationalen Identität achtet,,48, d. h. kein Staat, und auch kein Ausdruck eines Bundesstaats gemäß den gekannten Vorbildern. Ein Staat Europa ist nur möglich, wenn ein Staatsvolk sich herausbildet, und wenn die Bedingungen einer demokratischen Legitimation geschaffen werden. Der Verfassungsvorbehalt wird bestätigt: das Vorrangsprinzip gilt nicht, wenn die Gemeinschaft die Grenzen ihrer Kompetenzen nicht respektiert49 . Die Gemeinschaftstreue erfordert nicht nur, daß jeder BVerfGE 89,155 (185, 186 und 190). Dieter Grimm (1995), Braucht Europa eine Verfassung?, c.F. Siemens Stiftung, Themen Band 60, München. 47 Olivier Beaud (1996), Föderlismus und Souveränität. Bausteine zu einer verfassungsrechtlichen Lehre der Föderation", Der Staat, Band 35, Heft 1, S. 45 - 66 (insbesondere S. 48 und 53 ff.). 48 BVerfGE 89,181. 49 Urteil vom 12. Oktober 1993: "Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unions vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, wie er dem deutschen Zustim45

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Mitgliedstaat seine Verpflichtungen einhält, sondern auch umgekehrt, daß die EG keine Maßnahme ergreift, die die grundlegenden Strukturen und Werte der Verfassung eines Mitgliedstaats beinträchtigt5o . Der italienische Verfassungs gerichtshof bestätigt auch die Eigenständigkeit des italienischen Staates, allerding durch eine unterschiedliche Argumentation 51 . Merkwürdigerweise hat der Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil vom 30. Januar 1997 einen Volksbegehrensantrag als verfassungswidrig erklärt, der darauf abzielte, den Regionen eine uneingeschränkte Zuständigkeit zur Umsetzung der EGRichtlinien abgeben zu lassen: der Verfassungsgerichtshof hat nicht lediglich die Verpflichtung der italienischen Republik zur Einhaltung des Gemeinschaftsrechts hervorgehoben, obwohl es eine genügende Begründung gewesen wäre, sondern als Hauptbegründung die Verfassungsgrundsätze der Einheit und der Unteilbarkeit der Republik gemäß Art. 5 der Verfassung hervorgetragen 52 . Damit wird die Auswirkung der europäischen Integration auf die staatliche Struktur der italienischen Republik spürbar zurückgewiesen. Man kann diese Urteile als Beweis annehmen, daß die Verfassungsstaaten die Grundlage der Europäischen Union bilden, daß die EU kein eigenständiges staatliches Gefüge entwickeln darf, und die Verfassungstruktur der jeweiligen Mitgliedstaaten achten soll. Damit wird nicht ausgeschlossen, daß Elemente eines Gemeinschaftsbürgersstatus vertraglich entwickelt werden, wie schon Ansätze im Maastricht-Vertrag geschaffen worden sind. Die allgemeine Staatsgürgerschaft bleibt mit der Staatsangehörigkeit verbunden; die Ausdehnung bestimmter Staatsbürgerrechte im Rahmen der EG insgesamt könnte aber den gesellschaftspolitischen Inhalt der Union entwickeln. Der Vertrag entspricht den sich aus der Staatsgebundenheit der Europäischen Union ergebenden Geboten viel mehr als eine Verfassung. Er kann die verfassungsrechtliche Bindungsfunktion der Staatsgewalt gegenüber den von der Föderation ausgeübten Hoheitsrechte erfüllen, und hat sie schon erfüllt. Er kann aber auch die Zusammenführung mehrerer Staatsgewalten in eine neue, sie umfassende und sie mungsgesetz zugrundeliegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden" (BVerfGE 89, 188). 50 Urteil vom 22. 1995: "Äußersten Fall wird sie [die Bundesregierungl- wo das Gemeinschaftsrecht eine Mehrheitsentscheidung zwar an sich zuläßt, einer solchen jedoch das Verfasungsprinzip der Bundesstaatlichkeit (Art. 79 Abs. 3 GG) entgegensteht - das aus der Gemeinschaftstreue folgende Gebot wechselseitiger Rücksichtnahme zur Geltung zu bringen haben" (C, I, 4, d, bb) (zitiert nach offizieller Textausgabe). 5\ Enzo Balboni (1995), "Le droit administratif en Italie: transformations recentes et rapports avec le droit communautaire", insbesondere S. 161- 166 in: G. Marcou (Hrsg.), op. cit. 52 Gazzetta Ufficiale de la Repubblica Italiana, 1° Serie speciale, n° 7, 12. Februar 1997,

S.41.

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bindende politische Einheit, und zugleich deren Identität und Eigenständigkeit aufrechterhalten. Die öffentlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten sind wichtige Bestandteile dieser Identität, und zugleich Ausdruck der Identität der europäischen Rechtskultur53 . Im Gegenteil setzt die Verfassung in ihrem modemen Sinne die Ausübung der Verfassungs gewalt voraus, dessen Träger nur das Volk sein kann. Eine Verfassung würde die Volkssouveränität eines Staatsvolkes zum Ausdruck bringen, das (noch) nicht besteht. Dadurch würde sie das Gleichgewicht zwischen Mitgliedstaaten und Föderation zugunsten der Föderation zerstören und eine Zentralisierungsdynamik auslösen 54, wie sie in der Entwicklung der klassischen Bundesstaaten zu beobachten worden ist, ohne daß die Bedingungen ihrer Legitimität entstanden seien. Im Bezug auf diese Diskussion kann man an die Diskussion erinnern, die Anfang des XIX. Jahrhunderts über das Wesen der Bundesverfassung des Vereinigten Staaten stattfand: war diese Verfassung ein covenant bzw. ein compact, oder einfundamental law? Diese Diskussion wurde von Joseph Story in seinen Commentaries on the Constitution of the United States zusammengefaßt55 . Story widerlegt alle Argumente, die die Verfassung als ein Vertrag irgendwelcher Art (zwischen Staaten, zwischen Mitgliedstaaten und Bund, oder sogar zwischen den Bürgern) betrachten. Für ihn gibt es übrigens keinen Unterschied zwischen der Bundesverfassung und der Staatsverfassung; heide sind von anderen Verträgen aller Art zu unterscheiden, insofern sie als Ausdruck der Volkssouveränität Grundgesetze sind, und eine Regierung (im breitem Sinne von Institutionen: government) einrichten, die, und nicht die Institutionen des Mitgliedstaaten, dieses Grundgesetz auslegen und durchsetzen kann und darf. Zum Gegenteil, waren die Articles of Confederation "though in some few respects national, mainly of a pure federative character, and were treated as stipulations between states for many purposes independent and sovereign 56 ". Aber mit der Ratifizierung der Bundesverfassung hat sich die Situation grundsätzlich geändert, indem der Wille sich ausgedrückt hat, eine oberste Regierung zu errichten, und dadurch die Gründung der Nation bestätigt57 • Im Vergleich zu diesem Fall hat zwar die EU keine Exekutive. Aber die Mitgliedstaaten können nicht die Auslegung der Verträge und des Gemeinschaftsrechts beherrschen. Es wird auch deutlich, daß die Gründung des Vereinigten Staaten zugleich der Ausgangspunkt für die Ausgestaltung des amerikanischen Staates gewesen ist, während die EU aus der Zusammenführung von unterschiedlich, durch die 53 Peter Häberle (1994), ,,Europäische Rechtskultur", Revue europeenne de Droit public, Band 6, n° 2, Winter, S. 305. 54 Dieser Tatbestand wird auch von O. Beaud anerkannt: op. eit. S. 65. 55 J. Story (1891), commentaries on the Constitution of the United States, Little Brown, Boston, 5. Herausgabe 2 Bände (1. Herausgabe 1833), Band 1 S. 221- 271. 56 Ibid. S. 253. 57 Siehe auch: James Bryce (1911), La Republique americaine, 2. Herausgabe, Band 1 S. 64 - 65 (1. amerikanische Herausgabe 1888).

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Geschichte, ausgebauten staatlichen Einheiten entstanden ist. Der Verfassungsvorbehalt, der aus der Rechtssprechung der Verfassungsgerichtbarkeit in verschiedenen Mitgliedstaaten herauskommt, ist deshalb von um so größerer Bedeutung. Er ist die Voraussetzung für den Schutz des Rechtspluralismus der Europäischen Gemeinschaft soweit die Verwirklichung der Vertragsziele eine Harmonisierung nicht erfordert, und auch für die Volks legitimation der Union solange ein europäisches Staatsvolk sich nicht herausgebildet hat58 . Es fehlt aber in dieser Hinsicht ein Konfliktregelungsverfahren, um Kollisionen zwischen EG-Recht und Verfassungsrecht zu lösen, wenn man es will, daß das für die föderative Rechtsordnung kennzeichnende Gleichgewicht eingehalten wird. Man kann an ein Senat von Richtern aus dem Europäischen Gerichtshof und aus den nationalen Verfassungsgerichten - bzw. obersten Gerichten denken, wo die ersten nicht bestehen. Es würde dazu beitragen, gemeinschaftliche und mitgliedstaatliche Integration rechtlich auszugleichen und die Europäische Union als Föderation neuer Art rechtlich auszugestalten.

58 6*

Ausführlicher: G. Marcou (1995), "Conc1usion", insbesondere S. 338 - 344.

ZWEITER TEIL

Bürger und Staat

Bürger und Staat: Landesbericht Neuseeland Von Andrew S. Butler*

Vorbemerkung "Waren Sie schon einmal in Neuseeland, Herr Waigel?" fragte der Stern im September letzten Jahres. 1 Dabei wollte der Stern dem deutschen Finanzministers keineswegs einen guten Ratschlag geben, wie gut er sich in dem kleinen Land am anderen Ende der Welt erholen könnte. Dies ist zwar zur Zeit bei deutschen Touristen sehr beliebt, aber hat insbesondere bei Ökonomen, Verwaltungswissenschaftlern, Politologen und Staatsrechtlern durch seine innovativen Verwaltungsreformen Aufmerksamkeit erregt. 2 So wurde Neuseeland 1993 hinsichtlich seiner Verwaltungsqualität mit Platz 1 im World Competitiveness Survey belohnt. Arbeitslosigkeit fiel von 11 % im Jahr 1991 auf 6 % im Jahr 1996. Die Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt verringerte sich von 50 % auf 30 %. 1996 bestand ein Haushaltsüberschuß von 3 % im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt. Inflation liegt schon seit mehreren Jahren bei 0 - 2 %. 3

* BCL (NU!, Dub), LLM (York, Canada), Dozent an der Victoria University of Wellington, Neuseeland (Faculty of Law), Forscher beim Europäischen Hochschulinstitut, Florenz. Ich bedanke mich herzlich für die Hilfbereitschaft der Bibliotheksleitung des Max-PlanckInstituts für ausländisches und internationales öffentliches Recht, Heidelberg und der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, und ich danke meiner Frau für ihre Hilfe mit der Übersetzung vom Englischen ins Deutsche und für ihre inhaltlichen Vorschläge. Über Kommentare und Kritik würde ich mich sehr freuen: [email protected]. 1 "Waren Sie schon mal in Neuseeland, Herr Waigel?" Der Stern, 38/96, 12 September 1996, 138 - 142. 2 Siehe z. B. ,,Experiment Neuseeland" Der Spiegel, 36/96, 2 September 1996, 112-122, H. Dieter; "Neuseeland: Angelsächsischer Tiger im Südpazifik? Konzeption und Resultate der neoliberalen Wirtschaftspolitik" (1994) 53 ASIEN 36 (Oktober Ausgabe). Nach H. Schwanz, "Can orthodox stabilization and adjustment work? Lessons from New Zealand, 1984 - 90" (1991) 45 International Organization 221, ist Neuseeland ein Schlüsselfall, um die Debatte über orthodoxe wirtschaftliche Stabilisierung zu begutachten. 3 Die neuesten Statistiken finden sich in dem OECD Bericht "Economic Outlook Report on New Zealand", Mai 1996.

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I. Wie ist Neuseeland diese Verwandlung in ein Musterland gelungen?

Viel Gewicht wird dem Jahr 1984 zugeschrieben. Mitte des Jahres 1984 stand die gerade gewählte Labour Regierung vor dem Problem, erstmals in der Geschichte Neuseelands die Raten für die aufgenommenen Kredite nicht mehr zurückzahlen zu können. Gleichzeitig war die Kreditwürdigkeit Neuseelands von AAA auf AA heruntergestuft worden. 4 Zudem sah sich die neuseeländische Währung heftigen Spekulationen ausgesetzt. Die Labour Regierung nutzte die Gelegenheit, die eben erwähnten Probleme lösen zu müssen, um eine grundlegende Verwaltungsreform durchzuführen. 5 Als reformbedürftig wurden angesehen: - Ineffizienz der staatlichen Unternehmen wie Post, Bahn, Kohle und Lebensversicherung. - Überregulierung: reguliert wurden unter anderem Preise, Einkommen und Zinsen. - Staatliche Kontrolle des Finanzmarktes unter anderem durch den Besitz fast aller in Neuseeland operierenden Banken. - Beschränkung des Imports und hohe Schutzzölle. 1984 hatte Neusee1and die höchsten Schutzzölle für Importe in der OECD und eine der restriktivsten Importquoten. - Subventionierung des Agrarsektors und des Exports. Fast ein Drittel des landwirtschaftlichen Einkommens bestand aus Subventionen. - Geringe Produktivität und Innovation. - Ineffizientes Steuersystem. - Geringes Wachstum: In den 25 Jahren von 1960 bis 1985 steigerte sich das Prokopfeinkommen um lediglich 50 % im Verhältnis zum OECD Durchschnitt. - Hohe Inflation. Zwischen 1976 und 1984 war die durchschnittliche Inflationsrate 15 %.6 - Wachsende und zunehmende staatliche Verpflichtungen im Bereich der Wohlfahrt.

Siehe Schwartz, oben Fn. 2, 238. Siehe generell, A. Bo/lard/ R. Buckle, Econornic Liberalisation in New Zealand (Wellington: Allen & Unwin, 1987), J. Boston, "Thatcherism and Rogernornics: Changing the Rules of the Game-Comparisons and Contrasts" (1987) 39 Pol Sei 129 (Boston 1987), J. Boston/Mo Holland (Hrsg.), The Fourth Labour Government: Radical Politics in New Zealand (Auckland: Oxford University Press, 1987) (Boston u. a. 1987), R. Douglas/L. Ca/len, Towards Prosperity (Auckland: David Bateman, 1987). 6 Economic Monitoring Group, The Government Deficit and the Economy (Wellington: Government Printing Office, 1984) 5 - 8. 4

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Dem begegnete die Labour Regierung unter Premierminister Lange mit folgenden Maßnahmen: - Die staatlichen Unternehmen werden wirtschaftlich / rechtlich verselbständigt (Corporatisation). Etwas später folgte dann der Verkauf eines Großteils dieser Betriebe auf dem freien Markt? So gehört die neuseeländische Eisenbahn nun einem amerikanischen Eisenbahnunternehmen, und Britisch Telekom hat sich in Neuseeland Telekom eingekauft. Dies führte zu einer Reduzierung des Staatsverschuldungsrisikos und der Reduzierung des politischen Einflusses auf den primären Sektor. Zudem wurden privatwirtschaftliehe Methoden in der Verwaltung eingeführt. - Neuseeland deregulierte erheblich. So wurden Ladenschlußzeiten abgeschafft, Einkommen und Preise wurden dem freien Markt überlassen, Währungskontrolle und die Aufsicht über die Kreditvergabe der Banken abgeschafft. - Der Finanzmarkt wurde liberalisiert. Die Banken wurden privatisiert, und die Tore für ausländische Banken geöffnet. - Sämtliche Importbeschränkungen und Schutzzölle sowie Subventionen in allen Bereichen wurden abgeschafft. Diese Maßnahmen wurden zudem sehr schnell umgesetzt. - Das Beamtenturn wurde von oben nach unten gekehrt. Im Zuge der Privatisierung von staatlichen Unternehmen wurden eine Vielzahl von Beamten entlassen (die neuseeländische Telekom reduzierte die Zahl der Beschäftigten um 40 % von 25.000 auf 16.000 zwischen 1986 und 1990 und nach der Privatisierung um weitere 12.000 auf 4.000). Höhere Beamte bekamen und bekommen lediglich 5 Jahres Verträge, in denen nicht nur die speziellen Ziele, die sie in dieser Zeit zu erreichen haben, sondern auch Leistungskriterien festgeschrieben werden. 8 Auch die Ministerien wurden abgespeckt. So bestand das Verkehrsministerium 1984 noch aus 4.000 Mitarbeitern. Heute sind es lediglich 60. Im Zuge der Diskussion über die Steuerreform in Deutschland ist die neusee1ändisehe Steuerreform von besonderem Interesse. Die Labour Regierung verein7 Nach Schwartz, oben Fn. 2, hat Neuseeland einen größeren Teil des öffentlichen Sektors privatisiert als die Thatcher-Regierung in Großbritannien. Aufschlußreiche Diskussionen hinsichtlich der Korporatisierung und Privatisierung findet man in I. Duncanl A. Bollard, Corporatisation and Privatization: Lessons from New Zealand (Auckland: Oxford University Press, 1993) und R. C. Mascarenhas, "State-owned Enterprises" in J. Boston u. a., Reshaping the State: New Zealand's Bureaucratic Revolution (Auckland: Oxford University Press, 1991) (Boston u. a. 1991). Für Kommentare hinsichtlich des späteren Vorgehens in den neunziger Jahren, Verwaltungsaufgaben durch vertraglich verpflichtete Private oder Beliehene durchführen zu lassen, siehe z. B. J. Boston (Hrsg.) The State under Contract (Wellington: Bridget Williams Books, 1995) (Boston 1995), J. Boston, "The Use of Contracting in the Public Sector - The New Zealand experience" (1996) 55 AJPA 105 (Boston 1996) und J. McLean, "Contracting in the Corporatised and Privatized Environment" (1996) 7 PLR 223. 8 Siehe J. Boston, "Chief Executives and the Senior Executive Service" Kap. 4 in Boston u. a. 1991 oben Fn. 7 (Boston 1991).

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fachte das Einkommenssteuersystem radikal. Von einem proportionalen Steuersystem mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Steuerklassen blieben lediglich 2 Steuerklassen übrig. Die Höchstrate wurde von 66 % auf 33 % reduziert. Diese Rate orientiert sich am Durchschnittseinkommen der Neuseeländer. Jeder, der mehr Einkommen hat als der Durchschnitt, zahlt auf sein darüber hinaus gehendes Einkommen die höhere Rate. Auf der anderen Seite wurde aber auch jegliche Abschreibungsmöglichkeit genommen. Steuerhinterziehungen im großen Stil sind in Neuseeland selten geworden, was nicht nur an der Einfachheit des Systems, sondern auch an den durch frei gewordene Finanzamtskapazitäten ermöglichten, intensiveren Prüfungen liegt. Anstatt unterschiedlicher Steuern auf Mineralöl, Dienstleistungen usw. wurde eine einheitliche Mehrwertsteuer eingeführt. - Die Neuseeländer gründeten eine unabhängige Notenbank, die allein der Geldstabilität verpflichtet ist. 9 - Die Labour Regierung ließ ihre heilige Kuh "Wohlfahrt" zu ihrer Regierungszeit unangetastet. Es war nach einem Regierungswechsel 1990 an der National Party, auch die letzten Bastionen des ursprünglichen neuseeländischen Wohlfahrtsstaates zu schleifen. Traditionell waren Gesundheit, Bildung und social welfare für jeden Neuseeländer unabhängig von seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen frei verfügbar. Hintergrund für dieses Konzept war der Glaube, daß durch die Zahlung von Steuern jeder seinen Beitrag in den großen Topf geleistet hatte, aus dem er sich dann wieder nach Bedarf bedienen konnte. Die National Party führte das user pays Prinzip im Gesundheitswesen, die Studiengebühren und den Bedürftigkeitstest ein. - Zwar hatte schon die Labour Regierung Änderungen im Tarifrecht vorgenommen, aber die Regierung der National Party hob letztendlich das Tarifrecht vollständig auf und untergrub so die Macht der Gewerkschaften. Zusammenfassend lassen sich drei Punkte hinsichtlich dieser Reformen als besonders bemerkenswert herausarbeiten: l. Der Umfang der Reform. Keiner der Bereiche, in denen der neuseeländische Staat vorher involviert war, ist unangetastet geblieben.

2. Die Substanz und Tiefe der Reform. Neuseeland war bereit, jedes Problem von Grund auf neu zu betrachten und zu bewerten. 3. Die Reformgeschwindigkeit: Es wurden zum Teil mehrere Schritte auf einmal gemacht und dadurch allein schon Widerstand gegen die Reform verhindert (Quantum Leap Principle).l0 Dadurch daß alles auf einmal verändert wurde, 9 Reserve Bank of New Zealand Act 1989. Hinsichtlich einer Übersicht über die Leistung der Bank siehe B. Robertson. ,,Ministerial Responsibility and an Independent Central Bank" (1993) 4 PLR 84, und "The Currency and the Constitution: Lessons from ,a rather small place'" (1996) 16 Ox J LS 1. 10 Die Veränderungen in Neuseeland würden auf der Basis des ,quantum leap' Prinzips durchgeführt. Das bedeutet, so viele Reformen wie möglich zusammen durchzuführen, an-

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hatten die Bürger gar keine Zeit darüber nachzudenken. Die Ursache für die Geschwindigkeit der Reformen mag auch an der kurzen Wahlperiode von lediglich drei Jahren liegen. Selbstverständlich muß man vorsichtig sein, den jüngsten Wirtschaftsaufschwung Neuseelands allein den gerade beschriebenen Reformen zuzuschreiben. Wie groß der Einfluß der letzteren auf die wirtschaftliche Entwicklung war, ist Gegenstand nicht nur politischer, sondern auch wissenschaftlicher Diskussion und in beiden Richtungen nur schwer zu belegen. Zeitgleich mit den Reformen verbesserte sich nämlich auch die weltwirtschaftliche Lage. Dies könnte natürlich einen größeren Beitrag zum neuseeländischen Aufschwung geleistet haben als die eben beschriebenen Reformen. Dafür spricht, daß Neuseeland einige Zeit brauchte, um sich 1988 von dem Zusammenbruch der Börse zu erholen. Der Einfluß des Börsenkrachs auf die Reformen ist umstritten. Da ich kein Wirtschaftswissenschaftler bin, werde ich nicht versuchen, zu diesen Streit Stellung zu nehmen. Ich wollte lediglich auf diesen Gesichtspunkt aufmerksam machen. 11. Warum konnte die 180 Grad Wendung in Neuseeland vollzogen werden?

1. Nach meiner Meinung waren die ,,richtigen" Leute zur "richtigen" Zeit am ,,richtigen" Ort. Richtig bedeutet nicht, daß ich mit der Substanz der Reformen generell einverstanden bin, sondern daß sich das Finanzministerium und die Labour Regierung über die Reformen und deren Durchführung einig waren. 11 Die verantwortlichen Politiker waren bereit, die Gefahr des politischen Selbstmordes einzugehen. Lobbyisten und Kritik aus den eigenen Reihen wurden einfach ignoriert. Eine Ausnahme davon mag lediglich der Business Roundtable (ein Zusammenschluß der führenden Wirtschaftshonoratioren) gewesen sein. 2. Die neuseeländische Regierung war sehr aktionsfähig. Dies war bedingt, statt eine nach der anderen. Den Grund dafür erklärte Sir Roger Douglas ("The Role of Government in the Economy" im OECD Bericht "Privatisation in Asia, Europe and Latin America" (Paris: OECD, 1996) 27) so: "In the process of deregulating and privatising an economy, it also seems important not to try to advance a step at a time. Once the objectives have been defined, governments should move towards them in quantum leaps. Otherwise, interest groups will have time to mobilise and drag down the process. Genuine structural reform has often been portrayed as the equivalent of political suicide. This description is valid where privileges are removed one at a time, in a step-by-step programme. Paradoxically, it ceases to be valid when many privileges are dismantled all at once. In this case, specific groups may lose their own perquisites, but at the same time they are freed of the cost of other groups' privileges. " R. Douglas, Brief an D. Lange, 19. Januar 1988 abgedruckt in New Zealand Herald 4. Januar 1989: "You know that open-slather public consultation would invite the worst sort of pressure group politics". 11 Siehe Schwartz, oben Fn. 2, 250 - 2.

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durch das britische jirst-past-the-post Wahlsystem, dem Koalititonsregierungen unbekannt sind; dadurch daß es sich bei Neuseeland um einen Zentralstaat handelt; dadurch daß eine gerichtliche Überprüfung von Gesetzen in Neuseeland nicht möglich ist (das gilt heute auch noch trotz Verabschiedung eines Bill 0/ Rights Act),12 was zur Folge hatte, daß gerichtliche Überprüfungen der Reformmaßnahmen nicht stattfanden; - durch das Fehlen eines Zweikammersystems, was den Gesetzgebungsvorgang beschleunigte; - dadurch daß Neuseeland nicht Teil einer supranationalen Organisation, wie der EU, ist.

IH. Verhältnis zwischen Bürger und Staat aus historischer Sicht - die wirtschaftliche Ebene Für die meiste Zeit seiner relativ kurzen europäisch geprägten Geschichte, nämlich sozusagen ab 1840, nahm die neuseeländische Regierung aktiv am wirtschaftlichen und sozialen Leben in Neuseeland Teil. 13 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts verfolgte der neuseeländische Staat die Politik der Staatsintervention durch die Bereitstellung der Infrastruktur und Unternehmen in den Bereichen, in denen der private Sektor sich noch nicht gerührt hatte. 14 Der Staat führte ein einfaches und wirtschaftliches Grundbuchsystem ein,15 und schon im Jahre 1894 gab es ein arbeits12 Der New Zealand Bill of Rights Act 1990 beinhaltet keine sozialen oder wirtschaftlichen Rechte. Außerdem kann der Bill of Rights - da es sich lediglich um ein einfaches Gesez handelt - nicht dazu benutzt werden, andere Gesetze für ungültig zu erklären, wenn diese in Konflikt mit den Menschenrechten und Grundfreiheiten des Bill of Rights stehen. 13 Historiker haben eine Reihe von Erklärungen angeboten, warum der Staat eine solche große Rolle im wirtschaftlichen Leben Neuseelands gespielt hat. Zum einen war Neuseeland ein Land der "Neuen Welt". Es verrnißte stabilisierende Institutionen der zivilen Gesellschaft, die in der Regel viele öffentliche Funktionen erfüllt. Der Neuaufbau des Landes bedeutete, daß Ideen aus dem Vaterland hinsichtlich einer genauen Aufgabenverteilung zwischen Staat und anderen Institutionen nicht beherrschend waren. Privatvermögen war gering und insbesondere nicht ausreichend, um viele kapitalintensive Projekte durchzuführen. Im Gegensatz dazu war die Krone eine marktbeherrschende Macht durch das Eigentum an allem Land, das nicht den Maori gehörte. Das Ergebnis war, daß viele Projekte und Institutionen sinnvollerweise erfolgreich nur vorn Staat durchgeführt werden konnten: siehe z. B. 1. A. Webley, "State Intervention in the Economy: the Use of Public Corporations in New Zealand" Kap. 3 in S. Levine (Hrsg.) Politics in New Zealand: AReader (London: Allen & Unwin, 1978) 36 -7. 14 Der neuseeländische Staat führte 1865 ein Telegraphenamt und eine Sparkasse ein, die beide staatliches Eigentum waren und auch von Staat betrieben wurden. Die staatliche Lebensversicherung begann ihre Geschäfte 1869, und das Public Trust Office wurde 1872 gegründet. 15 Das "Torrens system", das in den sieziger Jahren des 19. Jahrhunderts eingeführt wurde, beinhaltet ein einfaches Landregistrierungssystem und löste die sehr umständlichen und aufwendigen Übertragungsurkunden und daraus unweigerlich folgende Streitigkeiten ab.

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gerichtliches Vergleichsverfahren. Neuseeland war eines der ersten Länder, das ein soziales Netz für die schwächeren Mitglieder seiner Gesellschaft einführte, das durch Steuergelder finanziert wurde. 16 Die Einflußnahme auf die Wirtschaft hielt bis in die späten 30er Jahre des 20. Jahrhunderts an. Damals wurde der Social Security Act verabschiedet, der die Einrichtung einer staatlichen Produktmarketing- Kommission, Bereitstellung von Sozialwohnungen, Zurverfügungstellung von Bildungseinrichtungen und medizinischer Versorgung vorsah. Wichtig ist, hinsichtlich der Stabilität und Beständigkeit Neuseelands, darauf hinzuweisen, daß der Entwicklung des positive state nicht ideologische, sondern pragmatische Erwägungen zu Grunde lagen. Dieser pragmatische Ansatz ermöglichte es allen nachfolgenden Regierungen, diesen positive state weiterhin zu unterstützen und auszubauen. 17 Die starke Einmischung des Staates führte in Neuseeland nicht zu einer Entfremdung von Bürgern und Staat, sondern zu einer Identifizierung der Bürger mit dem Staat. Lipson beschrieb dies in den vierziger Jahren so: "The people, or at any rate most of them, look upon the state quite healthily as being themselves under another form. When it acts, they feet that they are acting. What it owns, they own. They do not endow it with metaphysical properties or ascribe to it any transcendental personality. To them it is simply a utilitarian instrument for effecting their will. If something requires doing which cannot be suitably undertaken otherwise than by organized public endeavor, then let the state do the job.,,18

In den sechziger und siebziger Jahren sank die Glückssträhne der neuseeländisehen Wirtschaft, so daß der neuseeländische Lebensstandard, der in den vierziger und fünfziger Jahren noch zu den besten sechs der Welt l9 zählte, auf die mittleren 16 1898 wurde eine staatliche Pension eingeführt und 1926 ein Familienzuschlag - eine

Art Kindergeld.

17 Siehe z. B. R. Chaprrum, "A Political Culture Under Pressure: The Struggle To Preserve A Progressive Tax Base for Welfare and the Positive State" (1992) 44 Pol Sci 1,4 (Chapman 1992a) und Webley oben Fn 13, 37 - 8. Natürlich gab es auch Einwände. So kritisierten die Nationalists (der Vorläufer der National Party) heftig das Ausmaß der Sozialgesetzgebung, die die Labour Regierungen der Jahre 1935 bis 49 verabschiedet hatte. Als jedoch die National Party die Labour Regierung ablöste, blieb die Gesetzgebung bestehen. Siehe R. Chapman, "From Labour to National" in G. W. Rice (Hrsg.) The Oxford History of New Zealand 2. Auf!. (Auckland: Oxford University Press, 1992) Kap. 14 (Chapman 1992b) und K. Sinclair, A History ofNew Zealand 3. Auf!. (London: Allen Lane, 1980) 289. 18 L. Lipson, The Politics of Equality: New Zealand's Adventures in Democracy (Chicago: University of Chicago, 1948) 482 - 3. Eine ähnliche Ansicht vertritt A. Mitchell, "Politics" in A. L. McLeod (Hrsg.) The Pattern of New Zealand Culture (Melboume 1968) 91 und 96, und G. Palmer, Unbridled Power? 2. Auf!. (Auckland: Oxford University Press, 1987) 7 und "Compensation for Personal Injury: A Requiem for the Common Law in New Zealand" (1973) 21 Am J. Comp Law 1,3 -4. In einem vor kurzem veröffentlichten Aufsatz stellt Harris die Ansicht des engen Verhältnisses zwischen Staat und Bürger in Frage und beschreibt sie als Mythos. Allerdings gesteht er eine gewisse Intimität in der Anfangszeit zu: P. Harris, ,,,Intimacy' in New Zealand Politics: A Sceptical Analysis" (1995) 47 Pol Sei 1.

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Plätze abrutschte. Neusee1ands Handelsvoraussetzungen erlitten einen erheblichen Rückschlag, als sich Großbritannien entschied, der Europäischen Gemeinschaft beizutreten. Dadurch schloß sich Neuseelands größter Absatzmarkt für seine landwirtschaftlichen Produkte. Einen weiteren wirtschaftlichen Einbruch verursachte die erste Ölkrise. In dieser Zeit wurden einige harte Maßnahmen getroffen, um der Inflation Herr zu werden und die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt anzukurbeln, jedoch auf Kosten einer erheblichen Haushaltslücke. Nicht reformiert wurde die Struktur des Staates: Sämtliche Maßnahmen und Lösungsversuche scheinen auf dem traditionellen "Kiwi-Glauben" zu basieren, daß der Staat der Problemlöser sei. 2o So wurde, zum Beispiel, verstärkt auf Einkommens- und Preiskontrolle vertraut; Import- und Exportkontrollen wurden mit einem umfangreichen Regierungsprogramm im Bereich Kapitalinvestments verbunden (das "Think Big"-Projekt der Regierung unter der National Party zielte darauf ab, große hydro-elektrische Anlagen und neue Industrieanlagen zu bauen, um den sekundären Sektor zu erweitern). Wahrend die Inflation gestoppt werden konnte, verschlechterten sich andere Aspekte des nationalen Finanzhaushaltes erheblich?! Trotzdem baute der Staat seine Aktivitäten in neuen Bereichen aus. Er schaffte das common law im Bereich der Haftung für Unfälle mit Personenschäden ab und ersetzte es durch ein accident compensation scheme, das schnelle und umfassende Hilfe für Personenschäden bei Unflillen jedweder Ursache gewähren sollte, unabhängig von einem Verschulden des Verursachers und finanziert durch den Staat (Accident Compensation Act 1972).22 In den späten siebziger Jahren führte die Regierung dann einen universalen Rentenanspruch (National Superannuation) ein, der über Steuergelder finanziert wurde. Als die Labour Party 1984 wieder an die Regierung kam,23 besaß Neuseeland eine überbewertete Währung, hohe Inflation, einen Mangel an Reserven, um 19 Sinc/air oben Fn. 17,288 und OECD Economic Surveys: New Zealand July 1985 (Paris: OECD,1985) 20 Dies stimmt mit den Erwartungen der Bürger an den Staat überein. In einer Umfrage der Victoria University of Wellington (siehe L. Cleveland, "New Zealand Political Culture: A Historical Note" (1986) 38 Pol Sci 61) stimmten 1960 über 90 % der Befragten mit der Behauptung überein, daß die Regierung die Pflicht habe, dafür zu sorgen, daß jeder einen Job und einen ausreichenden Lebensstandard habe. Diese Ansicht wurde auch von dem Report 0/ the Royal Commission 0/1nquiry into Sodal Security in New Zealand (Wellington: Government Printer, 1972) wiederholt (219): " ... it is unlikely that any New Zealand Government will be able to escape from public insistence that it must so manage the economy that there is a market for the services of all who are able and willing to work." 21 Siehe hinsichtlich einer Zusammenfassung der wirtschaftlichen Probleme, denen die Labour Regierung am Wahlabend im Juli 1984 gegenüberstand, den 1985 OECD Report oben Fn. 19, 8 - 11. Für die augenblicklichen Maßnahmen, die durchgeführt wurden, um der Probleme Herr zu werden, siehe 11 - 12. 22 Für eine umfassende Darstellung des ACC scheme siehe A. P. Blair; Accident Compensation in New Zealand (Wellington: Butterworths, 1983). Der Acddent Rehabilitation and Compensation lnsurance Act 1992 löste das alte scheme 1992 ab. 23 Eine ausführliche Diskussion und Analyse der Labour Regierung findet sich bei Boston u. a. 1987 oben Fn. 5.

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Schulden zurückzuzahlen, ein erhebliches Haushaltsdefizit und eine geringe reale wirtschaftliche Wachstumsrate. 24 Aber abgesehen von den Finanzbedingungen, war die Neueinschätzung der Rolle des Staates in der Gesellschaft und die Beziehung des Staates mit seinen Bürgern ideologisch ausgelöst: So wurde der Rückzug des Staates von verschiedenen Verpflichtungen als ebenso wichtig angesehen, wie die Schaffung von Raum, in dem sich der einzelne und der Wettbewerb frei entfalten konnten. Don Munn, der damalige Vorsitzende der State Services Commission25 fing den Geist des Augenblicks sehr gut ein, indem er ausführte: "We are talking about getting back to the ciassical state where the concerns of Government are for security and for arbitrating between citizens where there are disputes they cannot settle between themselves. Where you go beyond that as to the provision of welfare, for example, which may perhaps be regarded as part of national security, is an issue which hopefully will be discussed at some length:·26

Als die Labour Party die Wahlen 1990 an die National Party verlor, wurde ihre Politik mit Freuden fortgeführt und ausgebaut. Diese Reformen waren nicht nur getrieben von finanzwissenschaftlichen Überlegungen, sondern Ideologie spielte als Triebkraft die weitaus größere Rolle. Der Staat wurde als nachteilig für die Entwicklung des verantwortungsbewußten Bürgers gesehen oder zumindestens als Produktionsstätte des verantwortungslosen. 27 IV. Die Auswirkungen der Reformen auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat

Was waren nun die Auswirkungen "der Suche nach dem schlanken Staat,,28 auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat? Politikwissenschaftler haben sich in den siebziger und achtziger Jahren mit der Krise der Demokratie in der westlichen Welt beschäftigt. Es wurde angenommen, 24 Die einschlägigen Statistiken finden sich in den New Zealand Economic Survey Reports, die von der OECD herausgegeben werden. Siehe auch J. Gould, The Rake's Progress: The New Zealand Economy Since 1945 (Auckland: Hodder & Stoughton, 1982). 25 Entspricht in etwa der deutschen Bundesanstalt für Arbeit 26 Evening Post, 11. Juni 1987, 1 zitiert in S. Leitch, "Restructuring the Public Sector: A Case Study of the Discourse of the New Zealand News Media" (1991) 43 Pol Sci 20. Siehe auch die Kommentare des Finanzministers der Labour Regierung (Sir) Roger Dou~las, oben Fn. 10,24. 27 Die Social Welfare Ministerin Jenny Shipley (National Party) erklärte 1992 (New Zealand Herald Auckland, 20. Juli 1992,8, zitiert in Kelsey unten Fn. 46, 74): ,J believe that for a long time there have accumulated many serious disturbances in the role and function of families and other historic institutions such as the Church, law and education systems. A consequence of these disturbances is that the welfare state itself, through its mechanisms, produces young illiterates, juvenile delinquents, a1coholics, substance abusers, drug addicts and rejected people at an accelerated rate." 28 Chapman 1992a oben Fn. 17, 10.

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daß die Krise dann entstünde, wenn die immer weiter steigenden Erwartungen der Bürger von dem immer weniger - auf Grund der schlechteren wirtschaftlichen Lage - leistungsfähigen Staat nicht erfüllt werden könnten. Andere sahen den Grund für die Krise in dem Wettbewerb der Politiker, durch immer mehr Versprechungen sich ihren Weg zur Macht zu sichern. 29 Auf der Basis dieser Theorien, hätte Neuseeland mit Sicherheit eine Legitimitätskrise erfahren müssen. - Erstens gab es in Neuseeland eine verhältnismäßig lange und anhaltende geschichtliche Periode der Erwartungshaltung der Staatsintervention. Die Änderungen, insbesondere die Privatisierung von staatlichen Unternehmen, untergruben diese geschichtliche Entwicklung und Erbe. 3o - Zweitens war die Periode bis zur Übernahme der Regierung durch die Labour Party gekennzeichnet durch politisch populäre Versprechungen, um die Wähler auf der Regierungsseite zu halten bzw. auf sie zu ziehen. Drittens hatten die Reformen, die die Labour Regierung 1984 begonnen hatte, nur minimale Unterstützung der Wähler. Keine der Reformvorstellungen war den Wählern im Wahlprogramm der Labour Party angekündigt worden. Dieses war eine wesentliche Abwendung von der neuseeländischen Tradition. Die meisten Reformen wurden trotz des Widerstandes des Labour Party Parteitages durchgeführt,31 und nur einige wenige fanden statt, nachdem die Interessengruppen gehört worden waren. Insbesondere der Finanzminister Roger Douglas hatte sich der ,quantum leap' -Theorie - der schnellen Veränderung und der Minimalkonsultation - verpflichtet. 32 Viertens brach auch die Regierung der National Party, die die Labour Regierung 1990 ablöste, ihre Wahlversprechungen, einschließlich des Versprechens das National Superannuation Scheme unberührt zu lassen. Dies zeigte sicherlich deutlich eine nonchalante Einstellung zu dem Prinzip der demokratischen Teilnahme der Bürger an politischen Entscheidungen und Durchsetzung. All diese Elemente, zusammen mit der radikalen Umstrukturierung des Staates und der Anpassung an einen geringeren Standard hinsichtlich der Erfüllung von 29 Siehe die Zusammenfassung mit Nachweisen in D. Fuchs & H.-D. Klingemann, "Citizens and the State: AChanging Relationship?" in D. Fuchs & H.-D. Klingemann, Citizens and the State (Oxford: Oxford University Press, 1995) (Vol. I der "Beliefs in Govemment" Serie) 5 ff. 30 Chapman 1992a, oben Fn. 17,4-5. 31 Ausführliche G. Debnam, "Conflict and Reform in the New Zealand Labour Party" (1992) 44 Pol Sei. 32 Für eine Zusammenfassung des Prinzips, siehe oben Fn. 10. Kritik an der fehlenden Konsultation im Privatisierungsprozeß kann bei J. Boston, "From Corporatisation to Privatisation: Public Sector Reform in New Zealand" (1988) 57 Canb BuH of Pub Adrnin 71, 84 (Boston 1988) gefunden werden.

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BÜTgererwartungen durch den Staat, hätten erwarten lassen, daß es zu einer Krise kommt. Aber es gab keine Krise im großen Stil. Es waren allerdings einige Anzeichen einer Entzauberung festzustellen. Die Mitgliederanzahl der Labour Party sank dramatisch von 77.000 in 1984 auf 10.000 in 1988?3 Trotzdem blieb jedoch die Wahlbeteilung hoch. Bei den Wahlen 1984, 1987, 1990 und 1993 lag die Wahlbeteiligung bei 85,5 %, 77,6 %, 76,0 % und 78,9 %.34 Auch war ein Regierungswechsel nicht häufig. Die Labour Party war zwei Wahlperioden an der Regierung nämlich von 1984 bis 1990, und wurde von der National Party von 1990 bis 1996 abgelöst. Nach der Durchführung der ersten Wahl nach dem Verhältniswahlrecht deutschen Musters ist die National Party seit 1996 in einer Koalitionsregierung mit der New Zealand First Party an der Macht. Grund für die mäßige Reaktion auf die Reformen und die fast vollständi2e Ausschaltung der Öffentlichkeit in Fragen von großer Bedeutung war zweifelsfrei die Krisenatmosphäre, die von der jeweiligen Regierung und der Wirtschaft geschaffen worden war, und die nicht sehr substantiierte Analyse und Auseinandersetzung mit den Reformen in den Medien. 35 Vielmehr überraschte viele die Geschwindigkeit, mit der die Reformen durchgeführt wurden, und ließ sie Verteidigungskämpfe fechten, um für sich zu retten, was zu retten war. Dies hatte den Erfolg, daß sie vorn größeren Gesamtbild abgelenkt wurden. Interessanterweise lagen die neuen Mechanismen, die die Transformation des Staat- Bürger Verhältnisses reflektierten, im internationalen Trend: Politik alter Schule aber erweiterte, wenn auch nicht institutionalisierte, politische Teilnahme. 1. Durch ein Referendum im Jahre 1993 wurde das Wahlsystem von dem firstpast-the-post System in ein Verhältniswahlrecht deutscher Prägung geändert. Es wird angenommen, daß die Änderung des Wahlsystem auf die Sorge der Bürger zurückzuführen ist, mit Hilfe des Verhältniswahlrechts ein mehr am Konsens ausgerichtet Regierung zu erreichen und dramatische Veränderungen auszuschließen. 36

Siehe Schwanz, oben Fn. 2, 251. Die Wahlbeteiligung betrug im Verhältnis zu den registrierten Wählern 93,7 %, 89,1 %, 85,2 % und 85,2 %: siehe S. Levine & N. S. Roberts, "The New Zealand General Election of 1990" (1991) 43 Pol Sci 1,9, Tabelle I und "The New Zealand General Election and Electoral Referendum of 1993" (1994) 46 Pol Sei 40, 53, Tabelle 1. In 1996 kamen 86,2 % der registrierten Wähler zu Wahl. Siehe auch J. H. Nagel, "Voter Turnout in New Zealand General Elections 1928 - 1988" (1988) 40 Pol Sei 16. 35 Siehe z. B. Leitch oben Fn. 25 passim. 36 J. Vowles, "Waiting for the Realignment? The New Zealand Party System, 1972 - 93" (1997) 48 Pol Sei 184,206 nimmt an, daß die Einführung des Verhältniswahlrechts eine wirkliche Verbesserung für die Wähler darstellt, da diese nunmehr diejenige Partei wählen können, die sie wirklich möchten, ohne einen Verlust ihrer Stimme befürchten zu müssen. Daher ist von einem größeren Einfluß der Öffentlichkeit auf die Politik auszugehen. 33

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2. Auch auf der Seite des Gesetzgebers wurde gehandelt: So wurde der Citizens' Initiated Referendum Act 1993 verabschiedet, der "beratende", von Bürgern initiierte Referenda ermöglicht. 37 Der Gesetzesvorschlag war von der Regierung der National Party ins Leben gerufen worden, um den Bürgern eine weitere Möglichkeit der aktiven Beteiligung an politischen Entscheidungen zu geben?8 Der Prozeß wurde zumindest dadurch beeinflußt, daß die Bürger ihr Vertrauen in das politische System verloren hatten, da es außer Kontrolle schien. 39 Ferner dachte das zuständige Ministerium, daß die Gesetzesinitiative die Teilnahme der Wallier an politischen Entscheidungen fördern und die politische Stimmung zwischen den Wahlen beeinflussen würde. 4O Die Möglichkeit von Referenda wird zweifelsfrei die Entwicklung festigen, daß einzelne Interessengruppen sich direkt, über die Köpfe der Politiker hinweg, an die Bevölkerung richten werden. 41 3. Unterschiedliche Instrumente wurden eingeführt, um den Bürgern die Möglichkeit zu geben, politische Ziele ohne die Einmischung von Politikern zu erreichen. So gibt es in Neuseeland eine Bill of Rights, die die Gerichte zu Foren für rechtlich eingekleidete Politik macht, indem dem Bürger erlaubt wird, die Exekutive, jedoch nicht die Legislative, gerichtlich überprüfen zu lassen. Der Privacy Act 1993 und der Human Rights Act 1993 schützen wichtige Bürgerinteressen vor dem Staat und Eingriffen Privater. Sie reduzieren die Abhängigkeit von Interventionen durch Politiker. Auch der Official Information Act 1982 erlaubt der Öffentlichkeit Zugang zu Regierungsinformationen. Dadurch wird politischer Druck auf die Parteien ausgeübt und die Glaubwürdigkeit einzelner Gruppen gestärkt. Wenn wir die politische Arena verlassen und uns mehr dem Allgemeinen zuwenden, so ist eine Abkehr von dem von Keith Sinc1air, einem der führenden neuseeländischen Historiker, festgestellten typischen Verhalten der Neuseeländer zu beobachten:

37 Eine nützliche Analyse des Citizens' Initiated Referendum Act 1993 aus politologischer Sicht findet sich in H. Catt, "The Other Democratic Experiment: New Zealand's Experience with Citizens' Initiated Referendum" (1996) 48 Pol Sei 29. 38 538 NZPD 17954 (14 September 1993) (per Doug Graham, Ministerof lustice während der 2. Lesung des Citizens' Initiated Referendum Bill 1992). 39 Siehe z. B. 522 NZPD 6713 (10. März 1992) (per Christine Fletcher MP (Nat) während der Diskussion des Vorschlags des 1992 Bill) 40 Siehe z. B. 522 NZPD 6711 (10. März 1992) (per Doug Graham, Minister of lustice, während der Diskussion des Vorschlags des 1992 Bill): "It is the responsibility of the Government to ensure that to the greatest extent possible it is the will of the people that prevails, rather than that of their elected representatives." 41 Jedoch muß darauf hingewiesen werden, daß diese Referenda lediglich konsultativ und nicht bindend sind. Die Legislative muß das ursprüngliche Referendum als Gesetz verabschieden. Somit haben die Politiker noch genügend Spielraum.

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,,[p]erhaps ... the most striking feature of New Zealand history was the tendency of New Zealanders to seek to achieve their aspirations through the medium of government activity. ,,42

Die Suche nach dem schlankeren Staat war ausgerichtet darauf, nicht- staatliche Institutionen und Netzwerke wieder in das Zentrum von privater und politischer Aktion zu rücken, wie Jonathan Boston bemerkte. Während Regierungspolitik, die darauf zielt, den Schwächsten zu helfen, Selbstvertrauen fördert, schreckt eine staatlich geförderte Abhängigkeit sie ab. 43 Solch eine Neuorientierung der Bürger-Staat-Beziehung war darauf angelegt, die Bandbreite der Tätigkeiten im privaten Bereich des einzelnen zu fördern. Diese Neuorientierung hin zum privaten Bereich meinte natürlich, daß die Marktkräfte eine größere Rolle spielten und von dem einzelnen verlangt wurde, sich mehr und mehr auf seine eigenen Kräfte und Fähigkeiten zu verlassen. Dieses hatte eine Reihe von signifikanten Effekten. Erstens haben Kommentatoren schon lange den Sinn für soziale Gerechtigkeit44 der neuseeländischen Gesellschaft bemerkt. Der Staat spielte eine herausragende Rolle, dieses Ziel zu erreichen, und seine Verwirklichung wurde hauptsächlich durch staatliche Institutionen gefördert. Der Rückzug des Staates und die Wiederbelebung der Marktidee bedeutet eine Gefahr für die Aufrechterhaltung dieses Gleichheitssinns. 45 - Zweitens hatte die Verschiebung der Fürsorge vom staatlichen Sektor auf den privaten erhebliche Auswirkungen auf die Frauen und somit auf die Hälfte der Gesellschaft. Wie Kelsey beobachtet hat: ,,[T]he growth of the interventionist state was important to women - not because it proved an effective and indispensable defender of women 's interests, but because it subsidised the unpaid domestic functions provided ,voluntarily' by women, and mitigated some other impacts of market and colonial inequality. Changes to how the state fulfilled these tasks

42

Sinclair oben Fn. 17, 276.

43

J. Boston, "Redesigning New Zealand's Welfare State" (Boston 1992) in J. Boston & P.

Dalziel (Hrsg.) The Decent Society (Auckland: Oxford University Press, 1992) 1, 7 (Boston u. a. 1992). 44 Lipson oben Fn. 18, 488. Sinclair oben Fn. 17, 271 beobachtet, daß der Wohlfahrtsstaat, der von der Labour Regierung in den dreißiger und vierziger Jahre eingeführt worden war, "was created by the general will-a will which had sought expression from the earliest days; which had been inspired in the colonial cradle, by the humanitarianism of the missionaries and by the utilitarian creed, ,the greatest good of the greatest number'." 45 Zugleich muß jedoch bemerkt werden, daß die neuseeländische Suche nach vollständiger Gleichheit dazu führte, daß nicht großzügig mit Talenten umgegangen wurde. Eine Gesellschaft, die so bemüht ist, ein hohes Minimum einzuführen, opfert die Möglichkeit von hohen Maxima, an denen sich high-performers erfreuen können. Das Abweichen von der Norm wurde mit einem Stirnrunzeln zur Kenntnis genommen. Somit wird die Einführung einer Leistungsgesellschaft für manche, soweit es die Reformen zulassen, eine willkommende Flucht aus der früheren Konformität sein. 7*

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wou1d dramatically affect all women's lives.... New Zealand women had been made dependent on the welfare state. The liberal agenda embraced by Labour in the 1980s and expanded under National in the 1990s kicked those supports away."46

Drittens hat der Rückzug des Staates vom Einzelnen verlangt, auf andere Einrichtungen und Organisationen zurückzufallen, wenn er Hilfe braucht. Die frühere Dominanz des Staates im Wohlfahrts bereich hatte zur Folge, daß die freiwilligen Hilfsorganisationen in Neusee1and nicht ausreichend entwickelt sind und nicht über die Ressourcen verfügen wie in anderen westlichen Demokratien. Viele der Hilfsorganisationen sind nunmehr bis zum Rande ihrer Leistungsfähigkeit belastet. Wie sich diesbezüglich die Zukunft entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Zuletzt möchte ich nunmehr die Rolle des Rechts, insbesondere die Frage der Rechtsstaatlichkeit und judicial review, in den Reformen beleuchten. In der Diskussion über den Effekt von Regulierung und Reorientierung der Staatsaktivitäten in Deutschland fragt Christoph Hauschild, ob manche Schlüsselaktivitäten des Staates nur von der Regierung selbst ausgeführt werden sollten, wenn es innerhalb des verfassungsmäßigen und gesetzlichen Rahmens, auf dem die Verwaltung basiert, geschieht. 47 Eine ähnliche Diskussion ist auch in Neuseeland im Gange; jedoch scheint die Orientierung der Hauptakteure anders zu sein. Anstatt sich eine neue Staatsform zu wünschen, die sich den historischen Vorgaben anpaßt, favorisiert die Hauptrichtung der Akteure eine neue Staatstheorie, die sich am Staat der letzten Jahre orientiert. 48 Die Meinung der neuen Staatstheoretiker ist, daß das Hauptaugenmerk sich von Verwaltungsrecht und verwaltungsrechtliche Kontrollmechanismen auf andere weniger juristisch geprägte Kontrollmechanismen verschieben sollte, wie zum Bei46 l. Kelsey, "Engendering poverty-rolling back the state on New Zealand women" (1993) 23 VUWLR Special Monograph Nr. 6, 59, 61. 47 C. Hauschild, "Deregu1ation: Reducing State Activities" in H. Siedentopf / C. Hauschild / K.-P. Sommermann, Modemization of Legislation and Implementation of Laws (Speyer: FÖV, 1994) Speyerer Forschungsberichte 142,31,40. 48 Zum Beispiel, Sir Ivor Richardson (der jetzige Präsident des Court of Appeal) bemerkte «(1991) I JJA 61, 63 -4) als Antwort auf Anthony Mason den Chief lustice des High Court of Australia, der Verwaltungsrecht als einen Teil des öffentlichen Rechts, das als Kontrollmechanismus für den Machtgebrauch in einem Wohlfahrtsstaat mit einer weiten Teil regulierten Wirtschaft dient, beschrieben hat: "Over the last six years, we have had a sharp reduction in the degree of direct governmental involvement in the economy. The reduction in governmental involvement is also reflected in the corporatising and privatising of trading activities of the State, in new and increased emphasis on market forces rather than regulation, and in the conversion of a depleted public service to a 1argely private sector organisation model. Should the philosophical approach underpinning administrative law and its doctrines now be modified to reflect the less expansive role of government in the more market-oriented State?" Eine Antwort auf dieses letzte Frage versucht M. Chen, ,)udicial review of state-owned enterprises at the crossroads" (1994) 24 VUWLR, 51 zu geben.

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spiel, auf den Ombudsmann, politische Aufsicht und Selbstkontrollorgane. 49 Diese Meinung ist allerdings nicht unbestritten. So wird argumentiert, daß gerade der Rückzug des Staates eine vermehrte verwaltungs gerichtliche Kontrolle nachsichziehen müsse, da nur so das Interesse der Öffentlichkeit effektiv geschützt werden könne. 50

V. Würdigung Neuseeland hat eine Periode schneller und tiefgreifender Umwälzungen durchgemacht. Vergleichbare Reformen wurden bis jetzt noch in keinem anderen OECD-Mitgliedsstaat durchgeführt. Die Reformen wurden von Regierungen beider politischer Lager, trotz einer langen Tradition von Staatsintervention, getragen. Eine gewisse Ernüchterung ist in der neuseeländischen Bevölkerung deutlich spürbar. Sowohl die Bevölkerung als auch die Politiker haben realisiert, daß die Reformen zu einer erheblichen Veränderung in der BÜfger-Staat-Beziehung geführt haben. Die Bürger haben ihre Erwartungshaltung gegenüber dem Staat deutlich heruntergeschraubt. Zur gleichen Zeit wurden neue Mechanismen der Bürgerbeteiligung und neue Rechtsschutzmöglichkeiten etabliert, die dabei helfen sollen, das Ansehen, das die Politik als legitime Vermittlerin zwischen Staat und Bürgern verloren hat, wieder gutzumachen. Es sind wohl diese Gründe, wie das Tempo und die Bandbreite, die die neuseeländischen Verwaltungsreformen in Deutschland und in vielen anderen Ländern der Welt auch weiterhin interessant machen.

49

Siehe Richardson und Chen oben Fn. 47.

50

M. Taggart. Corporatisation, Privatisation and Public Law (Auckland: Legal Research

Foundation, 1990)30: "With politicians abdicating responsibility to the market, it may be that the judges will be asked to become the conservators of the hitherto accepted norms of the Welfare Stateensuring equality of treatment and the provision of the necessities of modern life." In einem späteren Aufsatz macht Taggart überzeugende Argumente für eine Wiederbelebung der Rechtsbehelfe des common law gegen Monopolmißbrauch bei lebenswichtigen Leistungen unabhängig davon, ob es sich um private oder staatliche Anbieter handelt; siehe M. Taggart, "Public Utilities and Public Law" in P. A. Joseph, (Hrsg.) Essays on the Constitution (Wellington: Brookers, 1995) 214 - 264.

Bürger und Staat: Landesbericht Schweiz Von Jörg Paul Müller I.

In den ,,Federalist Papers" kann man lesen, es sei nicht das erste Anliegen der neuen Bundesverfassung der USA, einen möglichst effizienten Staat zu schaffen, sondern einen Staat, der möglichst viel Reflexion und Deliberation für die Entscheidungen sicherstelle, die das Gemeinwesen fällen müsse l . "Deliberative politics" ist heute wieder ein wichtiges Zielwort in der staatsrechtlichen Diskussion der USA, ebenso auch in der Bundesrepublik Deutschland und bei uns in der Schweiz2 • Nun mögen Sie den Eindruck haben, es gehe mir darum, mit der Betonung der Notwendigkeit verzahnter und kommunikativer Prozesse in der demokratischen Formulierung einer staatlichen Politik die nicht stets zeitgemäß erscheinende Schwerfälligkeit des schweizerischen Systems mit seinen komplexen Verfahren demokratischer und föderalistischer Entscheidungsbildung zu legitimieren. Ich glaube in der Tat, wir alle können nicht aus der geschichtlichen Bedingtheit unserer staatlichen Institutionen und der sie tragenden Grundüberzeugungen einfach heraustreten. Die Qualität des schweizerischen politischen Sysstems liegt sicher nicht primär in seiner Effizienz, aber vielleicht in seiner Bewährung über die Jahrhunderte hinweg. Wir sind langsam; das zeigt sich auch beim Versuch der Annäherung an die EU. Ich schließe nicht aus, daß wir in zehn Jahren bei der EU Bittsteller sein werden. Aber wir werden dann - hoffentlich - einen Prozess hinter uns haben, bei dem jeder Bürger und jede Bürgerin sich angesprochen fühlt und weiss, was wir getan haben, welche Kosten wir zu zahlen bereit sind und welche Vorteile wir in der Gemeinschaft mit anderen erwarten dürfen. Wie die direkte Demokratie mit ihren Institutionen in unseren Alltag eingreift, zeigt sich gerade auch in der Verwaltung. Ich möchte an das anknüpfen, was Herr 1 Dies wird näher ausgeführt bei Jörg Paul Müller, Responsive Govemment, in: Zeitschrift für schweizerisches Recht, Heft I, 1996, S. I ff. 2 Aus den USA etwa Amy Gutmanl Dennis Thompson, Democracy and Disagreement, Cambridge MA 1996; aus Deutschland etwa Oliver Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, Frankfurt a.M. 1997; aus der Schweiz etwa Jörg Paul Müller, Die Entwicklung von Demokratie und Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft, in: Heinz Barta/Elisabeth Grabner-Niel (Hrsg.), Die Wissenschaft - eine Gefahr für die Welt?, Wien 1996.

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Jörg Paul Müller

Bundespräsident Herzog 3 gestern bezüglich des Gesetzesbegriffs gesagt hat. Für ihn liegt die Bedeutung des Gesetzesbegriffs wesentlich in dem Umstand begründet, daß das Parlament das Gesetz als einiges Steuerungsmittel zur Verfügung hat. Bei uns ist das Gesetz viel stärker Ausdruck direkt-demokratischer Legitimation. Es gibt kein Gesetz in der Schweiz, das nicht der direkt-demokratischen Kontrolle unterstanden hätte, weder auf Bundesebene noch auf kantonaler Ebene. Alle Kantone und der Bund sehen auch in der einfachen Gesetzgebung zumindest das fakultative Referendum vor - auf Bundesebene können 50.000 Stimmberechtigte das Referendum gegen einen Gesetzgebungsakt des Parlaments ergreifen und jeden Erlaß zu Fall bringen. Das heißt aber auch für die Verwaltung, daß jeder Erlaß, der die Verwaltung steuert, demokratisch legitimiert ist, mit dem entsprechenden Gewinn an innerer Autorität, Akzeptanz und Legitimation. Ich vermute, wenn Max Weber heute seine Legitimitätstypen neu schreiben müßte - und dabei vielleicht die schweizerische Geschichte noch ein bißehen mehr berücksichtigen würde -, daß er neben den drei bekannten Legitimitätstypen der Tradition, des Charismas und der Rationalität der Verwaltung vielleicht auch einen demokratischen Legitimtätstyp anerkennen würde: Der Bürger empfindet - kraft unmittelbarer Partizipation - die Gesetzgebung, die ihn trifft, als legitim.

11. Damit kommen wir zu den geistesgeschichtlichen Wurzeln, die das Ganze ideengeschichtlich tragen, z. B. zu Rousseau. Die Rousseau'sche Grundidee der Demokratie kann man in Akzeptanz durch Selbstgesetzgebung sehen. Freiheit ist nur gewahrt, wenn derjenige, der dem Gesetz unterworfen ist, der Verwaltung unterworfen ist, der Regierung unterworfen ist, z. B. dadurch, daß er Kriegsdienst leisten und Steuern bezahlen muß, selbst dem Gesetz zugestimmt hat, das ihn verpflichtet. Der Genfer Rousseau war zweifellos beeinflußt von den genossenschaftlichen Traditionen in unseren Kantonen und Städten; er erwähnt seine Vaterstadt Genf wiederholt. Er hatte u. a. einen erheblichen Einfluß auf Kant, insbesondere auf dessen rechtliche und politische Positionen. Im Studierzimmer Kants hing ein einziges Bild: das Bildnis von Rousseau. Der Gedanke der Selbstgesetzgebung von Rousseau stand nicht nur der ethischen Regel des kategorischen Imperativs Pate, sondern auch dem Vertragsprinzip Kants, seiner regulativen Idee des richtigen Staates. Die Idee, daß ein richtiges Gesetz nur ein selbstgesetztes Gesetz sei, durchzieht die gesamte Kant'sche Rechts- und Staatslehre. Bei Kant treten aber auch der Gedanke der Repräsentation und der Gewaltenteilung in den Vordergrund. 3 Anm. des Herausgebers: Rede des Bundespräsidenten anläßlich des Festaktes zum 50jährigen Bestehen der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer am 5. März 1997. Veröffentlicht in Heft 38 der Speyerer Verträge, Speyer 1998.

Bürger und Staat: Landesbericht Schweiz

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Es ist für das schweizerische System typisch, daß sich in ihm die Rousseau'sche Idee der direkten Demokratie und die Kant'sche Vorstellung der Repräsentation durch eine parlamentarische Gesetzgebung durchkreuzen, bremsen, aneinander reiben, ergänzen. Die Impulse kommen bald vom Volk, von der Volksinitiative, vom Parlament, von der Regierung oder von den Kantonen, also aus dem föderalistischen System. Das Wesentliche am politischen System der Schweiz ist nicht die direkte Demokratie, sondern die Vielzahl der Reibungen, eben des Zwanges zu einem breiten und oft zeitraubenden Diskurs, der in unserem System liegt. Das verhindert oft rasche Lösungen, das verhindert oft Innovationen, die vielleicht fallig sind; es läuft dem Effizienzdenken zuwider. Es bewahrt andererseits vor übereilten Entscheidungen. Vielleicht muß man sagen, ein System, das sich Zeit nimmt, das auf Deliberation angelegt ist, wird auch dem Menschen mir seiner beschränkten Problemlösungskapazität, seiner zeitlichen und räumlichen Kontingenz, eher gerecht. Wir stehen in einer Zeit, wo die Entwicklung etwa der Informationsmöglichkeiten, anderer neuer Technologien, der Wandlungen unserer zwischenmenschlichen Beziehungen, ja der menschlichen Fortpflanzung, der Genmanipulation usw. uns in der Tat überfordert. Überfordert sind wir in unseren eigenen ethischen Stellungnahmen, aber selbstverständlich auch in unseren politischen Systemen mit den Problemlösungen, die sie bieten wollen, in der Orientierung, die die Rechtsgemeinschaft sucht und braucht. III.

Ich möchte ganz kurz auf drei Momente in unserer Geschichte dieses Jahrhunderts hinweisen, die vielleicht zeigen, daß die direkte Demokratie eine Ventilfunktion hat gegenüber einem möglichen Stau sozialer Unrast und Unzufriedenheit und daß sich gerade die Demokratie mit ihren direkt-demokratischen Institutionen in solchen Situationen als leistungsfähig und effizient erweist. Ich betrachte hier drei geschichtliche Situationen ganz kurz: - Den Generalstreik in der großen europäischen Krise von 1918: Die Antwort des schweizerischen Verfassungsgebers, also auch des Volkes in der Volksabstimmung, war die Einführung des Proporzsystems für die Nationalratswahlen. Wir waren damals eines der ersten Länder in Europa, die zum Proporzwahlsystem übergegangen sind, was mittelbar die Beteiligung der Sozialdemokraten an der Bundesregierung zur Folge hatte und eine wesentliche Befriedungsfunktion erfüllte, auf die heute niemand mehr verzichten möchte. - Die Welt-Wirtschaftskrise der 30er Jahre, die ja gerade in Ihrem Land katastrophale Folgen gehabt hat: Auch bei uns sind die Aufwallungen bedrohlich gewesen. Die Folge war eine Volksinitiative und die Annahme einer Verfassungsänderung, die die sogenannten Wirtschaftsartikel, also wohlfahrts-staatliche Grundlagen mit weitgehenden Verpflichtungen zu Solidarität und sozialer Sorge, mit sich gebracht hat.

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- Die Wende von 1945: Während des Krieges (1939 - 1945) hatte die Regierung unbeschränkte Vollmachten vom Parlament erhalten, um auf die wechselnden historischen Herausforderungen sofort antworten zu können. 1945 war die Antwort nicht eine Aktion der Regierung oder des Parlaments, sondern eine Volksinitiative, die die Wiedereinführung der direkten Demokratie forderte und damit den Abbau des Vollmachtemegimes. Folge war die Einführung des Art. 89 in unsere Bundesverfassung, der genau regelt, in welchem Ausmaß die Regierung allenfalls, wie wir sagen, Dringlichkeitsrecht setzen darf. Ein letztes Wort zum New Public Management. Die neue Lehre kommt natürlich zu einem Teil dem schweizerischen genossenschaftlichen Verständnis des Staates nahe. Die Verwaltung soll bürgerorientiert sein und soll nicht eigengesetzlich werden; die Hochschulabsolventen, die Strafgefangenen, die Sozialbezüger sind Klienten, nicht mehr Untertanen - diese Denkungsart kommt uns natürlich entgegen. Wo bleibt bei der postulierten möglichst ökonomisch und betriebswirtschaftlich orientierten Verwaltungsführung die Steuerung durch das Politische? Kann und darf man Politik durch Wettbewerb ersetzen? Ist der schlanke Staat wirklich das beste Ziel? Kann man den Erfolg einer politischen Innovation am Abbau der staatlichen Verpflichtungen oder auch nur am Abbau der Steuern ablesen? Oder ist es nicht eine permanente Aufgabe der Politik zu bestimmen, wie der vernünftige, stabilisierende und befriedigende Rahmen des Rechts gesetzt werden muß, in dem sich auch eine freie Marktwirtschaft erst realisieren kann? Vergessen wir nicht, auch Deregulierung braucht Normen, wir sehen es in der EU: Wie viele Bände des Amtsblattes der EU befassen sich im Grunde nur mit den neuen Problemen, die die Deregulierung schafft? Wie sind z. B. auch die Probleme derjenigen zu lösen, die aus dem Raster der sozialen Bezüge, der sozialen Netze herausfallen? Die notwendigen Korrekturen, aber auch eben der Rahmen selber, der konstitutive Rahmen des freien Wettbewerbs, muß durch Recht gesetzt sein. Vielleicht haben unsere Nationalstaaten bisher nur zu gut funktioniert, als daß wir uns ihres Wertes genügend bewußt wären. Auch eine globalisierte Wirtschaft bedarf nationalstaatlicher Regelungen, in die sie sich einbetten läßt. Rechtlicher Rahmemegelungen bedarf es ebenso für Vertragsbeziehungen, für die Verfolgung von Korruption und vieles andere mehr. Existieren sie nicht, so landen wir beim Kampf aller gegen alle - eine Situation, die für Hobbes staatsbegründend ist.

Bürger und Staat: Landesbericht Vereinigte Staaten von Amerika Von Christian

S~e

I.

In den USA wird über Spannungen im Verhältnis von Bürger und Staat mindestens genauso ausführlich, intensiv und kontrovers diskutiert wie in Deutschland.' Verglichen mit anderen Demokratien zeichnet sich die Geschichte der Vereinigten Staaten sogar durch ein relativ tiefes Mißtrauen gegenüber dem politischen Establishment aus? Von der Regierung Roosevelts bis zum Ende der Amtszeit Kennedys, schienen die Amerikaner ein neues Vertrauen in ihre öffentlichen Vertreter und Parteien entwickelt zu haben, was wohl mit den allgemein als positiv eingeschätzten Regierungsprograrnmen jener Jahre zusammenhängt. Seit den frühen sechziger Jahren hat jedoch eine drastische Verkehrung dieser Entwicklung stattgefunden. Inzwischen floriert auch ein akademischer und journalistischer Markt, der sich mit dem großen politischen Vertrauensverlust befaßt und versucht zu erklären, "what went wrong"? Bei allem Mißmut über den politischen Zustand der USA wäre dennoch der Begriff von Staatsverdrossenheit mit seiner letztlich passiven Einstellung fehl am Platz. Das hängt meines Erachtens nur teilweise damit zusammen, daß Amerikaner mangels einer tiefsitzenden Tradition von Obrigkeitsstaat auch nicht über eine 1 Dies ist eine erweiterte und revidierte Fassung des ursprünglichen Redemanuskripts. Für ihre Hilfe bei der Übersetzung ins Deutsche bin ich Dr. Dagmar Neumann-Mahlkau (Krefeld) und Dr. Christoph Hanterman (Santa Barbara) sehr dankbar. 2 Seymour Martin Lipset hat wiederholt auf diesen Zusammenhang verwiesen. Siehe American Exceptionalism: A Double-Edged Sword (New York: W.w. Norton, 1996). 3 Der drastische Vertrauensverlust seit den frühen Jahren wurde durch zahlreiche Untersuchungen belegt. Sie bilden die empirische Basis der vielen Veröffentlichungen zu diesem Thema. Dazu gehören: Walter Dean Bumham. The Current Crisis in American Politics (New York: Oxford University Press, 1982); Samuel P. Huntington, American Politics: The Promise of Disharmony (Cambridge: Belknap, 1981); Jonathan Rauch. Demosclerosis: The Silent Killer of American Government (New York: Times Books, 1994); und E.J. Dionne. jr.. Why Americans Hate Politics (New York: Simon und Schuster, 1991). Für weitere Literaturhinweise, siehe z. B. John R. Hibbing und Elizabeth Theiss-Morse. Congress as Public Enemy (New York: Cambridge University Press, 1995); und Anthony King. "More Democracy, More Dissatisfaction", Kapitel 8 in seinem weiter unten besprochenen Buch (Anm. 17).

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abstrakte und distanzierte Staatsvorstellung verfügen, die leicht eine politische Resignation fördert. Hinzukommt, daß das amerikanische Regierungssystem weiterhin ein sehr hohes Ansehen in der Bevölkerung genießt, das als Verfassungspatriotismus ein Gegengewicht zum weitverbreiteten Mißvergnügen gegenüber Politikern und Parteien bildet. Wie mir scheint, schlägt außerdem in der Politik durch, daß Amerikaner überhaupt zu einer relativ pragmatischen und innovativen statt einer hinnehmenden oder fatalistischen Lebenshaltung neigen, wie Ralf Dahrendorf mit seinem Begriff der "angewandten Aufklärung" seinerzeit dargelegt hat. 4 Daraus ergibt sich, daß viele Amerikaner einerseits mit sehr kritischer und besorgter Anteilnahme Mißstände im Staat erkennen und anprangern, daß viele sich jedoch gleichzeitig weigern, diese einfach hinzunehmen. Mit immer neuem Optimismus packen amerikanische Reformer die von ihnen wahrgenommenen Politikprobleme an. Dies schließt keineswegs aus, daß ihre Lösungsansätze wiederum neue Probleme aufwerfen, oder daß diese gelegentlich noch verzwickter sind als die alten. Das zunehmende amerikanische Interesse an Formen der "direkten" und "plebiszitären" Demokratie innerhalb ihrer sonst überwiegend repräsentativen Regierungsform bietet dafür interessante Beispiele. Darauf wird später in diesem Beitrag zurückzukommen sein. Zunächst muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß das Regieren in den USA kein Kinderspiel ist. Samuel Johnson, Englands ironischer Querdenker des 18. Jahrhunderts, bemerkte einmal, daß man von einem Hund, der auf seinen Hinterbeinen balanciert, keine elegante Vorstellung erwartet, vielmehr sollte man einfach bewundern, daß der Hund dabei überhaupt das Gleichgewicht hält. Diese Betrachtungsweise empfiehlt sich auch bei der Beurteilung von Regierung und Verwaltung in den USA. Hier geht es oft holprig und selten brilliant zu, aber letztendlich muß man staunen, daß das Ganze überhaupt funktioniert. So etwas ist Bismarck wohl durch den Kopf gegangen, als er bemerkte, daß der liebe Gott seine Hand offensichtlich über drei Dinge in dieser Welt hält, nämlich über kleine Kinder, Betrunkene, und die Vereinigten Staaten von Amerika. Verglichen mit Deutschland, der Schweiz oder Neuseeland sind die USA ein riesiges und heterogenes Land. Seine mehr als 260 Millionen Einwohner stammen aus aller Herren Länder und stellen eine ethnische und kulturelle Vielfalt fast ohnegleichen dar. Wenn man die großen regionalen Unterschiede bedenkt, findet man in Nordamerika gleich neun verschiedene "Nationen", davon acht in den USA, wie ein guter Amerikakenner vor einigen Jahren feststellte. 5 Diese "Nationen" haben wenig mit dem formalen Regierungssystem zu tun, das dem allerdings seine eigene macht- und kompetenzverteilende Komplexität hinzufügt. So gibt es in den USA ungefahr 85.000 verschiedene und sich vielfach überschneidende lokale Regierun4 Ralf Dahrendorf, Die angewandte Aufklärung. Gesellschaft und Soziologie in Amerika (München: Piper, 1963). 5 Vgl. dazu das ideenreiche Buch von Joel Garreau. The Nine Nations of North America (New York: Houghton Mifflin, 1981).

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gen aller Art mit einer halben Million direkt gewählter Vertreter und über 12 Millionen Angestellten. 6 Auf Länder- und Bundesebene7 kommen weitere Regierungsstellen mit ihren vielen ebenfalls direkt gewählten Mandatsträgern hinzu, von den zusätzlichen Millionen von öffentlichen Verwaltungsangestellten ganz zu schweigen. Angesichts dieser komplizierten sozialen und politischen Verhältnisse kann man sich als Europäer bei der Betrachtung der Vereinigten Staaten schon fragen, wie so etwas auch nur einigermaßen gutgehen kann.

11. Wie schon angedeutet, fehlt es auch in den USA nicht an Stimmen, die meinen, daß es. gar nicht so gut funktioniert. In der diesbezüglich vielfältigen Diskussion kann man zwei kritische Stoßrichtungen unterscheiden. Eine behauptet, daß die Regierenden ineffektiv oder gar korrumpiert seien, ihrer Verantwortung nicht gerecht würden, und daß sich viele Mandatsträger von der Basis entfernt, sprich "abgehoben" hätten. Fazit: Man müsse die Regierenden noch stärker kontrollieren. In eine ganz andere Richtung geht die Kritik, die der Auffassung ist, daß die Bürger selber weithin korrumpiert seien, und zwar durch eng begrenzte Einzelund Gruppeninteressen, so daß sie den Sinn für das Gemeinwohl, das durch verantwortliche demokratische Teilnahme definiert wird, verloren hätten. Hier das gegenteilige Fazit: Man müsse den Ermessensspielraum der Regierenden gegen solch unsachliche und gar gefährliche "Einmischungen" schützen. Beide Bedenken wurden schon von den Gründern der Republik geäußert, insbesondere von James Madison. 8 Sie werden seitdem immer wieder öffentlich debattiert, allerdings in Zyklen unterschiedlicher Intensität und mit variierender Akzentsetzung. 9 Zur Zeit haben die Sorgen um das Wohl der Republik zweifellos Hochkunjunktur in den USA. Heutzutage wird die Diskussion um die möglicherweise verlorengegangenen oder zumindest verschwindenden Bürgertugenden vor allem von Kommunitariern wie Robert Bellah oder Amitai Etzioni geführt. 1O In der Politikwissenschaft ist 6 Siehe Joseph F. Zimmerman. State-Local Relations: A Partnership Approach (Westport: Praeger. 1995), S. I - 2. Zum Vergleich, siehe die frühere Zusammenstellung bei Robert A. Dahl. Pluralist Democracy in the United States: Conflict and Consent (Chicago: Rand McNally, 1967), S. 171 - 172. 7 In meinem Text benutze ich zum besseren Verständnis den Begriff "Länder" für die amerikanischen "states" und den Begriff ,,Bund" für "federal govemment". 8 Siehe insb. The Federalist, Nummer 10, 51 und 55. 9 Samuel Huntington hat analytisch begründet, warum diese Debatte kein Ende findet. Siehe: American Politics: The Promise of Disharmony (Anm. 2). Vgl. auch Ronald J. Schmidt urid Christian Sfje, ,,zurück ins Private: Die Abkehr der amerikanischen Jugend vom politischen Leben", in: Materialien zur politischen Bildung, 1981, No. 4, S. 52 ff. 10 Beide kritisieren einen überzogenen privatistischen Individualismus als Ursache des von ihnen angeprangerten Zustandes. Robert N. Be/lah et al., Habits of the Heart: Individua-

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Robert Putnam von der Harvard Universität wahrscheinlich der bekannteste unter vielen Sozialkritikern, die feststellen und bedauern, daß Amerikaner sich zunehmend vom Engagement um das Gemeinwohl abgewandt haben. Gegenwärtig, so charakterisiert es Putnam mit einer griffigen Metapher, gehen immer mehr Amerikaner alleine kegeln, d. h. zwar meistens zu zweit, aber als Privatpersonen. Die alten Kegelklubs, wie so viele andere Vereine mit ihren sozialen Bindungen, die das breite und enge Netz der zwischenmenschlichen Beziehungen in einer Zivilgesellschaft ausmachen, werden Putnam zufolge immer schwächer. Er weist auf die absinkende Mitgliedschaft in vielen Vereinen hin - wie z. B. den Pfadfindern, dem Lions-Club, den Jaycees, den Freimaurern, dem Roten Kreuz, oder dem Bund der Frauenvereine. In diesem Zusammenhang spricht er von einem verhängnisvollen Verschwinden des "sozialen Kapitals".u Man kann sich kaum einen schärferen Kontrast vorstellen als den, der zwischen Putnams Bild besteht und der Vorstellung der Amerikaner von sich selbst in den frühen Nachkriegsjahren, als bekannte Sozialwissenschaftler wie Gabriel Almond und Sidney Verba die partizipatorische "civic culture" in den USA als Musterbeispiel für andere Demokratien hochhielten. 12 Das Bild des "einsamen Keglers" wirft einen langen Schatten auf die gegenwärtige Diskussion des Themas "Bürger und Staat". Viele Amerikaner machen sich ernsthaft Sorgen um einen zunehmenden Egozentrismus und der damit verbundenen "privatistischen" Vereinzelung im Lande. Sie wollen den Amerikaner wieder zurückhaben, der vor mehr als 150 Jahren von Alexis de Tocqueville in seinem Klassiker De la democratie en Amerique als kooperativer und gemeinwohl-orientierter Individualist unvergeßlich dargestellt wurde. 13 Inzwischen häufen sich kritische Darstellungen, die Putnams These in Zweifel ziehen oder zumindest stark relativieren. 14 Statt dessen wird neuerdings ein Bild lism and Commitment in American Life (Berkeley: University of California Press, 1985); Amitai Etzioni, The Spirit 0/ Community (New York: Crown, 1993). 11 Robert Putnam hat seine sozial wissenschaftlich untermauerte These in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht. Er hat offensichtlich einen amerikanischen Nerv getroffen, wie die Berichte im Fernsehen und der populären Presse zeigen. Für eine relativ kurze Darstellung seines Hauptarguments, siehe Robert Putnam, "Bowling Alone: America's Declining Social Capital", in: Journal 0/ Democracy, Januar 1995, S. 65 -78. Er hat versucht "das rätselhafte Verschwinden von sozialem Kapital in Amerika" in einem weiterführenden Beitrag zu erklären: "Tuning In, Tuning Out: The Strange Disappearance of Social Capital in America", in: PS: Political Science and Politics, Dezember 1995, S. 664 - 683. 12 Gabriel A. Almond und Sidney Verba, The Civic Culture (Princeton: Princeton University Press, 1963). 13 Im Frühsommer 1997 versuchte der nationale Kabelfernsehenkanal, C-SPAN, die fortwährende Diskussion von Tocquevilles Ideen auf neue Weise zu beleben. Eine mehrwöchige Programmserie benutzt Tocquevilles amerikanische Reiseroute als Hintergrund für eine Darstellung und Auswertung seiner Beobachtungen über die junge Demokratie, die den Franzosen faszinierte. C-SPAN ist selbst zu einer wichtigen Institution geworden, die ein breites Publikum, einschließlich vieler College-Studenten, in vorbildhafter Weise über das öffentliche Leben informiert. Vgl. Stephen Frantzich und John Sullivan, The C-SPAN Revolution (Norman: University of Oklahoma Press, 1996).

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von Amerikanern gezeichnet, die sich vielfach weiterhin als kooperative Individualisten verhalten, wenn auch vielleicht in anderer Weise als früher. So sei immer noch eine kritische Masse an Bürgern vorhanden, die einen hohen Grad an karitativem und sozialem Engagement zeigten, nicht zuletzt in den freien kirchlichen Gemeinschaften oder im Rahmen von Nachbarschaftshilfen. Auch im politischen Leben fielen bei vielen Amerikanern besonders die voluntaristischen Aktivitäten und die oft hohe Kontaktaufnahme mit gewählten politischen Vertretern auf. 15 In vielerlei anderer Hinsicht verfolge der amerikanische Kegler keineswegs sein Glück in privater Einsamkeit, wie mehrere neue Studien inzwischen überzeugend festgestellt haben. 16 Die bekanntlich geringe Wahlbeteiligung in den USA gibt insofern ein etwas irreführendes Bild vom allgemeinen Zustand der Bürgerbeteiligung am Gemeinwesen. Inzwischen ist Putnams These also höchst umstritten, obwohl er zweifellos einen wichtigen Beitrag zur Wiederbelebung der unerläßlichen Diskussion über den Zustand der amerikanischen Demokratie geleistet hat. Es gibt auch Versuche, die beiden kritischen Stoßrichtungen bezüglich "Bürger und Republik" zu verbinden, indem ein strukturell verfahrenes Zusammenspiel von Regierenden und Wählern als das zentrale politische Problem dargestellt wird. Ein ausgezeichnetes Beispiel für diese Sichtweise bietet ein gerade erschienenes Buch des kanadischen Politikwissenschaftlers Anthony King, der viele Jahre in England gelehrt hat. Sein Titel umreißt das Hauptthema recht präzise: "Mit Angst im Nacken. Warum die amerikanischen Politiker zuviel Wahlkampf machen und zuwenig regieren".17 Beeinflußt durch die Westminster Tradition parlamentarischer Demokratie meint King, daß die Amerikaner einen großen Irrtum begangen hätten mit ihren Bemühungen, gewählte Politiker durch vielfältige Kontrollmecha14 Vgl. Michael W. Foley und Bob Edwards, "The Paradox of Civil Society", in: Journal of Democracy, Juli 1996, S. 38 - 52. Siehe auch die drei kritischen Beiträge von Michael Schudson, Theda Skocpol, und Richard M. ValeUy, und die Replik von Robert Putnam, in: The American Prospect, März-April 1996, S. 17 - 28. 15 Dies ist eine häufige Beobachtung bei Politikwissenschaftlern, die das amerikanische Regierungssystem komparativ darstellen. Siehe Foley und Edwards, "The Paradox of Civil Society", S. 43 ff. Ausführlicher dazu: Sidney Verba, Kay Lehman Schlozman und Henry E. Brady, Voice and Equality. Civic Voluntarism in American Politics (Cambridge: Harvard University Press, 1995). 16 Vgl. die 1996er Untersuchung vom Roper Center for Public Opinion Research, deren Ergebnisse von Everett CarU Ladd zusammengefaßt und interpretiert werden: "The Data Just Don't Show Erosion of America's ,Social Capital''', in: The Public Perspective, Juni-Juli 1996, S. I - 6. Ähnliche Schlüsse wie Ladd zieht der Meinungsforscher Richard Morin: "So Much for the ,Bowling Alone' Thesis", in: The Washington Post National Weekly Edition, 17 - 23 Juni 1996, S. 37. Im April 1997 berichtete die amerikanische Presse über eine neue Studie vom Pew Research Center, die zu ähnlichen Schlüssen kommt wie das Roper Center. Michael Schudson hat auf andere empirische Daten hingewiesen, die ebenfalls ein positiveres Bild vom bürgerlichen Engagement in den USA geben. Vgl. sein Beitrag, "What ifCivic Life Didn't Die?", in: The American Prospect, März-April 1996, S. 17 - 20. 17 Anthony King, Running Scared: Why America's Politicians Campaign Too Much and Govern Too Little (New York: The Free Press, 1997).

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nismen ständig an die kurze Leine zu nehmen. Laut King müßten gewählte Politiker in Amerika größere Freiräume haben, um weitsichtiger und verantwortungsvoller regieren zu können. Mit anderen Worten: Das amerikanische Regierungssystem leide an "zu viel" statt "zu wenig'" Demokratie - oder, wie er es formuliert, an zu viel "direkter Demokratie" statt einer vernünftigen "Arbeitsteilung" zwischen gewählten Repräsentanten und Regierten. Diese Kritik ist nicht neu, aber King hat sie besonders eloquent auf den Punkt gebracht, ohne in Polemik zu verfallen. Seine Thesen werden die rege amerikanische Diskussion beleben, zumal sie durch die Publikation einer Kurzfassung einer breiten akademisch geschulten Leserschaft zugänglich gemacht worden sind. 18

III.

Eins kann jedoch vorweggenommen werden: Viele Amerikaner werden Kings Analyse und Lösungsansätze nicht ohne weiteres akzeptieren. Aber in einem grundlegenden Punkt hat er sicherlich recht: Amerikanische Reformpolitik tendiert mindestens seit Anfang dieses Jahrhunderts dahin, den Bürgern immer größere Zugriffs- und Interventionsmöglichkeiten zu geben. Die Erweiterung und aktive Benutzung solcher Formen der direkten Demokratie (im weitesten Sinne) ziehen sich bis heute wie ein roter Faden durch die neuere politische Geschichte der USA. Diese Entwicklung ist auf Landes- und Kommunalebene viel weiter gegangen als es das Madisonsehe Grundrezept vorsah, das auf den institutionellen Pluralismus als Instrument der Machtzersplitterung und -kontrolle abzielte. Spätere Reformen fügten die Direktwahl von vielen Funktionsträgern und eine Reihe plebiszitärer Eingriffsmöglichkeiten hinzu, die Madison kaum gutgeheißen hätte. 19 Als Ergebnis werden heute in Amerika viele Amtsträger individuell und direkt gewählt, die in anderen Demokratien ernannt werden würden. In Kalifornien werden z. B. außer dem Gouverneur sieben weitere Mitglieder der Landesexekutive direkt gewählt, sowie vier Mitglieder der Landesfinanzverwaltung (Board of Equalization). Jeder Bürger wird außerdem von fünf direkt gewählten Abgeordneten und Senatoren vertreten (drei auf Bundesebene und zwei auf Landesebene) sowie von mehreren anderen direkt· gewählten Funktionsträgern in den verschiedenen Kreisen, Städten und Schulverwaltungsbezirken. Die lange Reihe umfaßt auch einige gewählte Vertreter der Justiz, einschließlich der Landesrichter. Der amerikanische Bürger wird vor weitere direkte demokratische Entscheidungen gestellt. Um die Parteienoligarchien zu entmachten, haben die amerikanischen Bundesländer seit Anfang dieses Jahrhunderts vermehrt die sogenannte primary election oder Vorwahl eingeführt. 2o Hier werden einige Monate vor der eigent18 19

Anthony King, "Running Scared", in: Atlantic Monthly, Januar 1997, S. 41- 61. Seine Skepsis gegenüber der direkten Demokratie wird am deutlichsten in The Federal-

ist Nummer 10 ausgedrückt.

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lichen Wahl die Kandidaten der miteinander konkurrierenden Parteien von den Wählern direkt nominiert. Damit verdoppelt sich die Zahl der erforderlichen Wahlgänge, die ja ohnehin häufig stattfinden wegen der gestaffelten Wahltermine und der teilweise sehr kurzen Wahlperioden (zwei Jahre für Unterhausabgeordnete sowohl auf Bundes- wie Landesebene). Gleichzeitig werden damit die amerikanischen Parteien wesentlich geschwächt, denn sie können ihre "eigenen" Kandidaten nicht selbst aufstellen und dadurch einigermaßen in die Parteidisziplin einbinden. Insgesamt hat der amerikanische Wähler offensichtlich eine Riesenaufgabe zu erfüllen. 1996 war ein ziemlich typisches Jahr für die Bürger in der Stadt, in der ich lebe, nämlich Long Beach. Man konnte sich an vier Wahlen beteiligen: einer Vorwahl, zwei Runden in der Kommunalwahl und der Präsidentschaftswahl. In den vier Wahlgängen zwischen März und November wurden dem Wähler insgesamt mehr als 50 einzelne Entscheidungen abverlangt. Gelegentlich können es auch mehr sein. 1998 finden neben den Direktwahlen für die mehrköpfige Landesexekutive (einschl. Gouverneur) auch Wahlen für Bundes- und Landesabgeordnete statt, die ebenfalls mit Vorwahlen verbunden sind und durch weitere kommunale Wahlgänge ergänzt werden. Schon heute ist klar, daß 1998 in Kalifornien noch mehr Funktionsträger direkt zu wählen sein werden als z. B. in dem Präsidentschaftswahljahr 1996. Man sollte sich daher nicht wundem, wenn viele amerikanische Bürger ihr Wahlrecht relativ selten oder überhaupt nicht ausüben. Seit Ende des ersten Weltkriegs haben besorgte amerikanische Beobachter gefragt, ob wohl genug aktive Wähler vorhanden sind, um die für eine lebendige Demokratie erforderliche kritische Masse zu bilden. 21 Hier würde sich ein Vergleich mit der ebenfalls sehr niedrigen Wahlbeteiligung in der Schweiz vielleicht lohnen. Das komplexe Regierungssystem mit seinen relativ häufigen Wahlgängen und sehr langen Wahlzetteln ist von der Gefahr der Unübersichtlichkeit bedroht. Dies ist um so mehr der Fall als die Amerikaner, wie schon erwähnt, das repräsentative System von Madison mit weiteren plebiszitären ,,zutaten" versehen haben. Infolgedessen findet man in der Landes- und Kommunalpolitik ein reichhaltiges Angebot der folgenden Instrumente der direkten Demokratie: - den vorzeitigen Mandatsentzug durch politische Abwahl, - die direkte Gesetzeseinführung und -verabschiedung, sowie die direkte Verfassungsänderung durch Volksbegehren, und - den Bürger- oder Volksentscheid über eine vom Gesetzgeber vorgeschlagene oder schon beschlossene Maßnahme, einschließlich einer Verfassungsänderung, 20 Dazu auch Siegfried Magiera, Die Vorwahlen (Primaries) in den Vereinigten Staaten. Demokratisierung von Wahlen und Parteien (Frankfurt: Athenäum, 1971). 21 Siehe z. B. Ruy A. Teixeira, The Disappearing American Voter (Washington, D.C.: Brookings, 1992); sowie Frances Fox Piven und Richard A. Cloward, Why Americans Don't Vote (New York: Pantheon, 1988). Schon in den 20er Jahren leistete Harold G. Gosnell Pionierarbeit auf diesem Gebiet, unter anderem mit seinen Büchern: Getting Out the Vote und Why Europe Votes (Chicago: University ofChicago Press, 1927 bzw. 1930).

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bei der die Wähler sozusagen "das letzte Wort" haben. Der Volksentscheid kann fakultativ oder obligatorisch sein. Gegenwärtig ist die Möglichkeit der Abwahl auf Landesebene in nur 15 der insgesamt 50 Bundesländer verfassungsmäßig verankert, aber in der Kommunalpolitik ist sie in irgendeiner Form in mindestens 36 von ihnen vorhanden. 22 Die wählerinitiierte Gesetzgebung und Verfassungsänderung (also das Bürger- oder Volksbegehren) ist weiter verbreitet. Auf Landesebene findet man diese sogenannten Wallierinitiativen in knapp mehr als der Hälfte (nämlich 26) der Bundesländer. Die breiteste Akzeptanz findet der Bürger- oder Volksentscheid. Bei Gesetzesfragen ist er als Referendum heute in 39 Bundesländern in irgendeiner Form vorhanden, ob nun fakultativ oder obligatorisch. Bei Änderungen der Landesverfassung ist der Volksentscheid allerdings obligatorisch in 49 der Länder - die einzige Ausnahme ist Delaware. Im folgenden werde ich nur die ersten zwei Kontrollinstrumente behandeln, also die Abwahl und das VOlksbegehren. 23 Die Abwahl wird ziemlich oft angedroht. Besonders auf kommunaler Ebene kann schon die Androhung politisch wirkungsvoll sein. In Südkalifornien haben die Bürger von Orange County den Ruf erworben, besonders häufig nach dieser Kontrollform zu greifen: Hier sind allein in den letzten 25 Jahren Abwahlverfahren gegen mehr als 200 gewählte Vertreter eingeleitet worden, von denen allerdings nur 24, also etwa 12%, mit der vorzeitigen Abwahl endeten?4 Gerade jetzt wird dort eine Abwahlkampagne gegen einige Stadträte wegen politisch fragwürdiger Vorgänge um eine Flächennutzungsplanung ins Rollen gebracht. In einem anderen aktuellen Fall haben einige Orange County Wallier vor kurzem einen Abwahlantrag gegen eine Amtsrichterin gestartet. Man trägt ihr nach, daß sie O. J. Simpson alleiniges Erziehungsrecht gewährt hat, wenn auch erst nach seinem Freispruch beim Strafverfahren in der bekannten Mordsache. 25 In den letzten Jahren wurden zwei Landtagsabgeordeneten (Paul Horcher und Doris Allen) aus Südkalifornien auf diese Weise vorzeitig die Mandate entzogen. 26 Der bekannteste Fall dürfte allerdings das Abwahlverfahren gegen David Roberti, den langjährigen Vorsitzenden der Demokratischen Partei im Landessenat (Oberhaus), gewesen sein. Er wurde von der gut organisierten Feuerwaffenlobby wegen seiner politischen Befürwortung von strengeren Waffenkontrollen heftig angegriffen und mußte sich den Walllern kurz vor dem Ende seiner Mandatszeit stellen. Er konnte sich in der Sonderwahl in seinem Bezirk zwar behaupten, aber seine Kandidatur für das Amt des 22 Für die Zahlen in diesem Absatz, vgl. Thomas Cronin, Direct Democracy: The Politics of Initiatiave, Referendum, and Recall (Cambridge: Harvard University Press, 1989), S. 3 ff. 23 Funktional kann der Volksentscheid vielleicht als eine ,,reagierende" statt "aktive" Form des Volksbegehrens verstanden werden. 24 Siehe Michael Granberry's Bericht, "Califomia and the West", in: Los Angeles TImes, 18. Februar 1997, S. A3. 25 Ebenda. 26 Larry N. Gerston und Terry Christenson, Califomia Politics and Govemment, 4. Ausgabe (Fort Worth: Harcourt Brace, 1997), S. 19.

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Landesfinanzministers (State Controller) wurde durch den Vorfall im Keim erstickt. 27 Diese Beispiele unterstreichen, daß die Abwahl eine rein politische Maßnahme ist, die mit einem parlamentarischen Mißtrauensvotum jedoch keineswegs mit einem juristischen Verfahren verglichen werden kann. Es sind unzufriedene Wahler, die eine solche Maßnahme einleiten und durchführen. Auch sollte man nicht übersehen, daß die Abwahl immer noch relativ selten durchgeführt wird, und wenn, dann meist auf kommunaler Ebene. Am häufigsten und erfolgreichsten werden Abwahlverfahren gegen gewählte Amtsträger in der kommunalen Schulverwaltung durchgeführt. Auf Landesebene findet die Abwahl fast nie statt, obwohl mehrere Gouverneure damit von Wahlergruppen politisch bedroht worden sind. Ein wichtiger Grund dafür dürfte sein, daß diese Form der Sonderwahl einen dementsprechenden Antrag mit einer relativ hohen Zahl von gültigen Wahlerunterschriften erfordert. In Kalifornien und anderswo bestimmt sich die Höhe dieser "Sperrklausei" für jedes Amt aus einem vorgegebenen Prozentsatz (zwichen 10 und 30 Prozent) der Stimmenzahl bei der letzten Wahl. Prozentual liegt die Sperre höher in der Lokalpolitik, aber wenn die Wahlbeteiligung sehr niedrig ist, wie fast immer bei Schulbezirkswahlen, ist es entsprechend leichter, genügend unzufriedene Wähler bei der Unterschriftensammlung zu mobilisieren.

IV. Die interessanteste Form der direkten Demokratie ist vielleicht das Bürgeroder Volksbegehren, bei dem die Wähler selber eine Gesetzesvorlage oder Verfassungsänderung initiieren und darüber disponieren. Um eine sogenannte "Initiative" auf den Wahlzettel zu bringen, müssen die Initiatoren eine Mindestzahl an Unterschriften für den entsprechenden Zulassungsantrag sammeln und offiziell vorlegen. Allein das erfordert einen organisatorischen Aufwand, der zeit- und geldintensiv ist. In Kalifornien beispielsweise muß man mindestens fünf Prozent der abgegebenen Stimmenzahl der letzten Gouverneurswahl erreichen. Die Zahl erhöht sich auf acht Prozent bei Verfassungsinitiativen, was heute um die 700.000 gültige Unterschriften bedeutet. 28 Inzwischen gibt es professionelle Dienstlei stungsfmnen, die das ganze Verfahren (oder einen Teil davon) gegen Bezahlung übernehmen: Unterschriftensarnmlung, Strategieentwicklung, Umfrageerhebungen, Reklame usw. Diese Firmen haben natürlich ein geschäftliches Eigeninteresse an der Einführung solcher Initiativverfahren. Sie haben wohl auch einfach durch ihr Dasein und Angebot dazu beigetragen, einige Wählerinitiativen überhaupt erst ins Rollen zu bringen. Gerston und Christenson, Califomia Politics, S. 47. Michael Ross, CaIifomia: Its Govemment and Politics, 5. Ausgabe (Belmont: Wadsworth, 1996), S. 116. 27 28

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Wie andere Formen der direkten Demokratie hat das wählerinitiierte Volksbegehren hauptsächlich in den westlichen Bundesländern Einzug gehalten. Der Westen der USA ist meist jünger in seiner institutionellen Entwicklung, hat ein noch lockeres Parteiensystem, und zeigt sich von jeher den plebiszitären Reformen gegenüber offener als die östlichen Bundesländer. Dieses Ost-West Gefälle in den USA ähnelt dem viel später entstandenen institutionellen West-Ost Gefälle im vereinigten Deutschland. Bekanntlich sind Elemente der direkten Demokratie viel häufiger in den neuen deutschen Bundesländern zu finden als in den westlichen Ländern mit ihren älteren Landesverfassungen. In den USA hat das Volksbegehren in den letzten zwanzig Jahren eine völlig unerwartete, fast explosionsartige Wiederbelebung erfahren. Nach seiner Einführung in Kalifornien und anderswo zu Beginn dieses Jahrhunderts hat es den sogenannten Progressiven bei der Durchführung von Reformen gedient, die bis dahin von einem fest etablierten Interessenkartell der gewählten Vertreter und Lobbyisten blockiert worden waren. Die Reformwelle bewirkte, daß die betroffenen Länder- und Kommunalregierungen tatsächlich sachlicher, effektiver und demokratischer, d. h. repräsentativer wurden. Teilweise erklärt das auch warum, die Bürgerinitiative danach als Reforminstrument auf eine politische Nebenrolle zurückfie1. 29 Ende der 70er Jahre haben dann politische Aktivisten das Volksbegehren wiederentdeckt und seitdem mit beispielloser Häufigkeit für die verschiedensten Reformzwecke eingesetzt. In den 90er Jahren erscheinen auf dem kalifornischen Stimmzettel pro Wahljahr durchschnittlich 12 bürgerinitiierte "Propositionen" zu landespolitischen Fragen - oder sechsmal so viele als in den 50er und 60er Jahren (siehe Tabelle)?O Die Gesamtzahl der offiziell angemeldeten Bürgerinitiativen liegt noch höher: gegenwärtig hat sich ihr Jahresdurchschnitt verzehnfacht gegenüber der Zeit vor 1970?! Viele scheitern an der Sperrklausei bei der Unterschrif29 Die Literatur zu diesem Thema wächst. Einige der wichtigsten Untersuchungen sind: Austin Ranney, "United States of America", in: David Butlerund Austin Ranney, Hrsg., Referendums: A Comparative Study of Practice and Theory (Washington, D.C.: The American Enterprise Institute, 1978), S. 67 - 86 und Eugene C. Lee, "Califomia", ebd., S. 87 -122. David B. Magleby, Direct Legislation: Voting on Ballot Propositions in the United States (BaItimore: Johns Hopkins University Press, 1984). Joseph F. Zimmel77Uln, Participatory Democracy: Populism Revived (New York: Praeger, 1986). Thomas E. Cronin, Direct Democracy: The Politics ofInitiative, Referendum, and Recall (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1989). David D. Schmidt, Citizen Lawmakers: The Ballot Initiative Revolution (Philadelphia: Temple University Press, 1989). Califomia Commission on Campaign Financing, Democracy by Initiative (Los Angeles: Center for Responsive Govemment, 1992). David B. Magleby, "Direct Legislation in the American States", in: David Butler und Austin Ranney, Referendums around the World (Washington, D.C.: The American Enterprise Institute, 1994), S. 218 - 257. 30 In Kalifomien findet eine landesweite Wahl (mit Vorwahl) alle zwei Jahre statt. Zwischen 1990 und 1996 gab es also 4 Landeswahlen (mit Vorwahlen) mit insgesamt 48 Volksbegehren zur Landespolitik. Hinzu kamen Referenden und kommunalpolitische Sachentscheidungen auf dem Stimmzettel. 31 Siehe die Tabelle 3.1 in Lawrence Brewster und Leonard Koopel77Uln, A Primer of Califomia Politics (New York: St. Martin's, 1997), S. 49.

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tensammlung und kommen damit nie zur Abstimmung. Auch sonst begegnen ihnen die Wähler mit einiger Skepsis. "Im Zweifel für Nein" könnte ihre Parole sein, denn ungefähr zwei Drittel der Wählerinitiativen, die es bis auf den Stimmzettel schaffen, werden letztendlich abgelehnt (siehe Tabelle). Allerdings erfüllen auch die vielen erfolglosen Initiativen eine demokratische Ventil- und Lernfunktion, wenn ihre Befürworter ihr Anliegen auf diese Weise propagieren können, dann aber erkennen müssen, daß sie offenbar nicht genügend Rückhalt bei den Mitbürgern finden - zumindest nicht beim ersten Anlauf. Volksbegehren in Kalifornien (1912 - 1996) Zahl der Volksbegehren auf dem Stimmzettel 1912 - 19 1920 - 29 1930 - 39 1940 - 49 1950 - 59 1960 - 69 1970 - 79 1980 - 89 1990 - 96

Insgesamt

30 35 35 19 10 9 22 44 (46)* 48

252

Davon angenommen

Davon abgelehnt

8 (27%)

22 (73%)

10 (29%) 9 (26%) 6 (32%) 2 (20%) 3 (33%) 7 (32%) 21 (48%) 18 (38%)

25 (71 %) 26 (74%) 13 (68%) 8 (80%) 6 (67%) 15 (68%) 23 (52%) 30 (63%)

84 (33%)

168 (67%)

* Zwei der 46 Initiativen in diesem Jahrzehnt wurden vor der Abstimmung von dem Califomia Supreme Court als verfassungswidrig disqualifiziert. Sie sind bei den weiteren Angaben nicht berücksichtigt worden. Für die Zahlen für 1990 bis 1996, siehe Larry N. Gerston und Terry Christensen, Califomia Politics and Govemment, vierte Ausgabe (Fort Worth: Harcourt Brace, 1997), S. 22. Für die anderen Zahlen siehe Califomia Commission on Campaign Financing, Democracy by Initiative (Los Angeles: Center for Responsive Govemment, 1992), S. 54 - 60.

Die Wiederbelebung der direkten Gesetzgebung per Volksbegehren fällt zeitlich mit dem anfangs erwähnten politischen Vertrauensverfall in den USA zusammen. Sie ist zumindest teilweise ein daraus resultierender Bürgerprotest. In den kalifornisehen "Initiativschlachten" spielen aber neben den schon erwähnten Dienstleistungsfmnen auch gut organisierte und finanz starke Interessen oft Schlüsselrollen, wie z. B. Tabakfirmen, Anwaltvereine, Versicherungsgesellschaften, Organisationen aus Handel und Industrie, und Maklerfirmen neben "echten" Bürgerbewegungen und Reformgruppen. Es wundert kaum, daß der Wahlkampf von teurer und oft gänzlich irreführender politischer Werbung beherrscht wird. Diese Entwicklung scheint paradox, wenn man bedenkt, daß das Volksbegehren ursprünglich als Waffe gerade gegen "special interests" eingeführt wurde. Inzwischen haben sich Sonder-

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interessen nicht nur an dieses Kampfmittel der direkten Demokratie gewöhnt, sondern es sich auch zu eigen gemacht. In den letzten zwei Jahrzehnten haben die Kalifornier auf diese Weise, auf eine bunte Mischung von Initiativvorschlägen reagiert. Dazu gehören die Reform der Autoversicherung, die Einführung einer Landeslotterie, verstärkte Waffenkontrollen, besonderer Jagdschutz für Berglöwen, die Verschärfung einiger Strafbestimmungen, die Erweiterung des Umweltsschutzes ("big green"), die Kürzung der Sozialhilfe für illegale Einwanderer, Rauchverbot in öffentlichen Räumen, die Legalisierung von Marijuana für medizinische Zwecke, u. a. m., wie vor kurzem die Aufhebung der "affirmative action" im öffentlichen Bereich (Proposition 209 vom November 1996). Zwei Sachbereiche gehören zu den beliebtesten Angriffspunkten der Volksbegehren, nämlich die Steuergesetzgebung und die politischen Institutionen selber. 32 Zwei Beispiele sollen dies illustrieren: Die Proposition 13 und die Proposition 140. In Kalifornien wird die Proposition 13 gern als "Mutter" aller späteren Steuerrevolten betrachtet. Mit ihr hat im Juni 1978 eine große Mehrheit der kalifornischen Wähler (65 Prozent) für eine drastische, landesweite Senkung der kommunalen Haus- und Grundsteuer votiert. Eine Reihe Faktoren kamen zusammen, die diesen Bürgerprotest auslösten: die seinerzeit hohe Inflation und die damit verbundene schnell anwachsende Steuerlast, dazu einige Aufsehen erregende Fälle von Verschwendung im öffentlichen Dienst und ein sehr großer (wenn auch nur vorübergehender) Überschuß im kalifornischen Staatshaushalt. Die Hauptsponsoren der Steuerinitiative hatten auf Anhieb 1,2 Millionen Unterschriften für ihren Antrag bekommen. Trotz deutlich anwachsenden Wählerunmuts ließen die Politiker in Sacramento lange auf sich warten. Erst viel zu spät, nachdem die radikale Steuerinitiative breite Zustimmung gefunden hatte, versuchte die Legislative die Wähler mit einer alternativen, weniger drastischen und sachlich wahrscheinlich auch besser konzipierten Steuerreform zufriedenzustellen. Am Ende wurde Proposition 13 nicht nur mit massiver Wählermehrheit akzeptiert und die Reforrnidee prompt von mehreren anderen Bundesländern übernommen, sondern sie hat auch zu einer politischen Aufbruchstimmung beigetragen, die es einige Jahre später Präsident Reagan ermöglichte, den Kongreß für eine ebenso grundlegende Bundessteuerreform zu mobilisieren. 33 Die später von Präsident Clinton angepackte Reform der Sozialgesetzgebung, sowie eine neue tendentielle Lockerung in bundespolitischen Minoritätsprogrammen ("affirmative action") erhielten ebenfalls politische Impulse von Wählerinitiativen in der Landespolitik, 34 32 Viele dieser Initiativen werden von Jim Schultz aus einer linksliberalen Perspektive diskutiert Siehe Jim Schultz, The Initiative Cookbook. Recipes and Stories from California's Ballot Wars (San Francisco: The Democracy Center I Advocacy Institute West, 1996). 33 VgL Hans Herben von Amim, "Demokratie vor neuen Herausforderungen", in: Zeitschrift für Rechtspolitik, September 1995, Heft 9, S, 344, Ronald Reagan hat als früherer Gouverneur von Kalifornien (1967 -1975) die politische Bedeutung dieses "Signals aus dem Westen" frühzeitig verstanden und in seine politische Programmsetzung hineingezogen,

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Proposition 13 ist ein gutes Beispiel dafür, wie amerikanische Wähler erzwingen können, daß ein von den Regierenden ignoriertes Problem auf Landes- und letztendlich auf Bundesebene in das politische Tagesgeschäft eingebracht wird. Sie zeigt auch, wie das Volksbegehren gewissennaßen mit einem Schlag eine politische Blockadesituation überwinden kann. Aber gerade Proposition 13 weist auch auf einige sachliche, politische und konstitutionelle Probleme hin, die sich ergeben, wenn die Mehrheit der Wähler ein Gesetz verabschiedet, das nur ein einzelnes Problem isoliert berücksichtigt. Eine häufige Kritik am Volksbegehren ist, daß ein Gesetz entworfen und verabschiedet wird, ohne daß weder sorgfältiges und informiertes Überdenken möglicher Folgen noch die Abwägung zwischen konkurrierenden Interessen erfolgt, wie es von gewählten Politikern bei der Gesetzgebung erwartet wird. Daß Proposition 13 eine Reihe unerwünschter Folgen für Kalifornien gezeitigt hat, würden auch Befürworter nicht bestreiten können. 35 Proposition 140 aus dem Jahr 1990 gehört zu den folgenschwersten Regierungsrefonnen Kaliforniens seit Einführung der direkten Gesetzgebung. Sie hat die Mandatszeit für die Mitglieder des Landessenats (Oberhauses) auf zwei 4-jährige, und das für die Landesversammlung (Unterhaus) auf drei 2-jährige Wahlperioden begrenzt. Bis heute sind ähnliche Zeitbegrenzungen für Mandatsträger in 19 anderen Bundesländern eingeführt worden, davon in 17 Fällen durch Volksbegehren?6 Die derzeitige kalifornische Verfassung schreibt sie für fast alle gewählten Funktionsträger in der Landespolitik vor. Viele Kommunalpolitiker unterliegen ähnlichen "tenn limits". In sieben Bundesländern, einschließlich Kalifornien, gilt die Mandatszeitbegrenzung für ein bestimmtes Amt kumulativ und lebenslang. 37 In 13 34 Für andere Reformimpulse aus der Rechtssprechung, siehe z. B. John M. Broder, "U.S. Readies Rules Over Preferences Aiding Minorities," in: The New York Times, 6 Mai 1997, S. Al. President Clinton beschreibt seine Reformintentionen mit der besänftigenden Parole, "mend it, don't end it". 35 Zu den unerwünschten Folgen gehören die zunehmende Ungleichheit in der Grundsteuerlast zwischen alten und neuen Haus- und Grundstückbesitzern in Kalifomien, ein teilweise drastischer Abbau öffentlicher Dienstleistungen, die Einführung von unübersichtlichen lokalen Gebühren, um die wegfallenden Steuereinnahmen möglichst auszugleichen, und die zunehmende Verlagerung der Finanzierung und teilweise der Kontrolle von öffentlichen Dienstleistungen im Kommunalbereich auf die Landesregierung. 36 Über die neuesten Entwicklungen berichten B. Drummond Ayres, "Term Limit Laws Are Transforming More State Legislatures", in: The New York Times, 28. April 1997, S. I, und Dana Mi/bank, in: The Wall Street Journal, 2 April 1997, S. A16. 37 Im April 1997 hat ein Bundesrichter überraschend die lebenslange Mandatszeitbegrenzung in Kalifomien aus verfassungsrechtlichen Gründen für problematisch erklärt und damit das erst 1990 beschlossene "term limits" Gesetz dieses Bundeslandes in Frage gestellt. Der richterliche Einwand wird allerdings nur Rechtswirkung haben, wenn er im Appellationsverfahren aufrechterhalten werden sollte. Das bedeutet, daß die Begrenzungen jedenfalls bis dahin gelten, was wahrscheinlich die 1998 Wahlserie mitbetrifft. Man erwartet, daß das Oberste Bundesgericht ein endgültiges Wort in dieser Sache sprechen wird. Vorsichtshalber bemühen sich Befürworter der Mandatszeitbegrenzung in Kalifomien schon jetzt, eine weniger restriktive Initiative vorzubereiten, die nur Mandatsunterbrechungen beinhalten soll. Vgl.

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anderen ist lediglich eine Unterbrechung der konsekutiven Mandatszeit erforderlich. Hier wie dort kann sich jedoch ein so "ausgeschiedener" Politiker um ein anderes Amt bewerben, für das dann wiederum eine bestimmte Zeitbegrenzung gilt. Diese 1990 von einer kleinen Wählermehrheit (52 Prozent) eingeführte Reform hat in Kalifornien wie ein eiserner Besen gewirkt. Es wurde eine Tradition beendet, in der wiedergewählte Berufspolitiker über mehrere Mandatsperioden eine beträchtliche und fast unangreifbare Machtbasis aufbauten, aber natürlich auch viel nützliches Knowhow ansammeln konnten. Die Reform hat zu einer politischen Rotation geführt, die ihresgleichen in anderen Demokratien sucht. Kritiker beschreiben das Ganze als Produkt eines aus den Fugen geratenen antigouvernementalen Populismus. Sie warnen davor, Politik ohne erfahrene Politiker machen zu wollen und vor der anwachsenden Macht der Lobbyisten und verbeamteten Bürokraten, die bekanntlich keiner Zeitbegrenzung unterliegen. Befürworter der Reform erhoffen dagegen eine Revitalisierung und Flexibilisierung der Volksvertretung durch zunehmende Konkurrenz um freie Landtagssitze, die neue Kräfte und Ideen mit sich bringen werden. Proposition 140 war ganz offensichtlich gegen den Berufspolitiker gerichtet. Ihre Befürworter wollten die "politische Klasse" in die Schranken weisen. Das wurde um so deutlicher, als einige zusätzliche Bestimmungen dieser Bürgerinitiative sowohl das Budget für die parlamentarische Geschäftsführung (nicht zuletzt für den legislativen Mitarbeiterstab) in Sacramento drastisch reduzierten, als auch die Pensionsrechte aller zukünftigen Landtagsabgeordneten. Aufgrund von Proposition 140 hat inzwischen das ganze kalifornische Unterhaus eine völlig "neue Besetzung" bekommen, d. h. seine gewählten Mitglieder hatten alle in den Jahren nach 1990 ihr parlamentarisches Debüt in diesem Haus. Unter den Neulingen werden schon 1998 einige die maximale sechsjährige Mandatszeit erreichen, und müssen sich dann den vorausgegangenen politischen ,,Exilanten" anschließen. Das kalifornische Oberhaus wird nach 1998 ebenfalls nur aus "neuen", d. h. nach 1990 gewählten Mitgliedern bestehen, von denen dann die ersten schon im Jahr 2000 die achtjährige Sperrfrist erreichen werden. Zu den vielen von der forcierten Rotation betroffenen Landespolitikern gehörte auch der langjährige Sprecher des Unterhauses, Willie Brown, der früher als mächtigster Landesparlamentarier in den USA galt: Jetzt wendet er seine Führungstalente in der Kommunalpolitik an - als direkt gewählter Bürgermeister von San Francisco. Die parlamentarischen Nachfolger werden wie alle anderen gewählten Landespolitiker in Kalifornien nie dieselbe politische "Seniorität" ansammeln, noch eine ähnliche Hausmacht aufbauen können. Wegen der strukturellen Schwäche der politischen Parteien muß es als wahrscheinlich gelten, daß die Legislative in Kalifornien und anderswo von großer Führungslosigkeit bedroht ist. Jedenfalls kann die notwendige politische Integrationskraft kaum durch punktuelle Wählerinitiativen erzeugt werden. Dan Morain. "State Term Limits Law Struck Down by Federal Judge", in: Los Angeles 1imes, 24. April 1997, S. 1.

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Wählennehrheiten in Kalifornien und in mehreren anderen Bundesländern haben für ähnliche Mandatsfristen für ihre Kongreßabgeordneten gestimmt. Diese auf Landesebene verordnete Änderung der Wählbarkeitskriterien für die Bundesebene hat das Oberste Bundesgericht vor zwei Jahren mit knapper Mehrheit (5 zu 4) für verfassungswidrig erklärt. 38 Es würde also einer Verfassungsänderung bedürfen, um eine solche Zeitbegrenzung der Mandatszeit auf Bundesebene einzuführen. Politisch scheint eine solche Refonn unwahrscheinlich, denn zwei Drittel der Kongreßmitglieder würden kaum für eine Begrenzung ihrer eigenen Mandatszeit stimmen. Im Kongreß wird man deshalb weiterhin Seniorität und die damit verbundene Macht ansammeln können, solange man "zu Hause", im eigenen Wahlbezirk, wiedergewählt wird. 39 Nur der U.S. Präsident muß bekanntlich nach zwei Amtsperioden seinen Hut nehmen - infolge der 22. Verfassungsänderung von 1951.

v. Das Recht, zur Bürgerinitiative bzw. Abwahl zu greifen, bleibt anscheinend sehr populär in den USA. Daran ändert auch nichts die Erfahrung mit unerwarteten und oft ungewollten Auswirkungen solcher direkten Interventionen, einschließlich der schon erwähnten Ausnutzung dieser Reforminstrumente durch wohlorganisierte Interessenverbände oder durch populistische Bewegungen, die politisch sowohl "links" wie ,,rechts" orientiert sein können. 4o In Umfragen befürworteten repräsentative Mehrheiten wiederholt die Einführung des Volksbegehrens oder Referendums auch auf Bundesebene. 41 Einige führende Parteipolitiker haben sich dahingehend ausgesprochen, darunter Richard Gebhardt (Democratic Party), Jack Kemp (Republican Party) und Ross Perot (Refonn Party). Im Kongreß fanden schon Ende der 70er Jahre Ausschußsitzungen statt, die sich mit der Möglichkeit einer entsprechenden Verfassungsänderung befaßten. Dazu wird es wohl schon aus Gründen des föderalistischen Gleichgewichts kaum kommen, da u. a. die verfassungsmäßig verankerte Gleichstellung der Bundesländer im U.S. Senat dadurch an Bedeutung zugunsten der bevölkerungs starken Länder verlieren würde. 42 Nicht nur machtpolitische und konstitutionelle Erwägungen würden gegen eine solche Ausweitung der direkten Demokratie in den USA sprechen. Inzwischen ist eine Enttäuschung bezüglich Bürgerinitiativen bei einigen der besten Kenner, insbesondere der kalifornischen politischen Szene, deutlich spürbar. Sie weisen vor V.S. Term Limits Inc. v. Thomton (1995). Für einen sehr guten Überblick über die Diskussion zur Mandatszeitbegrenzung, siehe Gerald Benjamin und Michael J. Malbin, Hrsg., Limiting Legislative Terms (Washington, D.C.: Congressional Quarterly Press, 1992). 40 Vgl. die politische Einteilung der Initiativen der letzten zwei Jahrzehnte, in: The Initiative Cookbook, S. 101 ff. 41 Vgl. Cronin, S. 174-176 und Magleby (1994), S. 254. 42 So auch Cronin, ebd. 38

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Christian S~

allem darauf hin, daß die direkte Gesetzgebung nicht nur Lösungsansätze anbietet, sondern oft zu neuen Sachproblemen führt. Dies muß nicht aus politischer Absicht geschehen, sondern kann strukturell bedingt sein. Ähnlich wie in der Politikanalyse bei Anthony King wird darauf hingewiesen, daß die direkte Demokratie durch spezifische Mandate oder Verbote den Landes- und Kommunalregierungen derart viel Ermessenspielraum und Entscheidungsfreiheit genommen hat, daß dadurch ein neuer Problemstau entstanden ist. Und dies, so lautet die u. a. von Peter Schrag vertretende These, verführt wiederum zu neuen, möglicherweise abermals problembeladenen Befreiungsschlägen per eindimensionaler Bürgerinitiativen. Insoweit könnte man also von einem politischen Teufelskreis sprechen, wo mehr direkte Demokratie mehr Probleme und damit auch mehr Wählerproteste in Form von Volksbegehren mit sich bringen kann. 43 Jedenfalls ist das komplexe und fast unübersichtliche amerikanische Regierungssystem durch diese Flut von Wählerinterventionen insgesamt nicht einfacher oder transparenter geworden. Kritiker weisen nicht nur auf politische und sachliche Mängel der direkten Gesetzgebung hin sondern auch auf den verfassungsmäßig fragwürdigen Inhalt vieler Initiativen. Schon am Wahlabend geben Verlierer üblicherweise bekannt, daß sie den Kampf vor Gericht fortführen werden. In den letzten Jahren sind mehrmals wichtige Teile von direkt beschlossenen Gesetzes- und Verfassungsinitiativen für verfassungswidrig erklärt worden. Das kann auch bei den von der Legislative beschlossenen Gesetzen geschehen, es ist jedoch viel häufiger bei wählerinitiierten Vorlagen der Fall. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die direkte Gesetzgebung und, in einem geringeren Maße, die Abwahl wichtige zusätzliche Mitsprache- und Kontrollmöglichkeiten für Bürger in vielen amerikanischen Bundesländern bilden. Die damit vorgenommenen direkten Interventionen schaffen gelegentlich Freiräume und Impulse für neue politische Kreativität in der repräsentativen Demokratie, die indirekt bis in die nationale Ebene hineinwirken können, wie die Propositionen 13 and 140 gezeigt haben - neuerdings im Bereich der "affirmative action" auch die Proposition 209. Die Nachteile der direkten Gesetzgebung, wie sie zur Zeit in Kalifornien und anderen Bundesländern gehandhabt wird, dürfen nicht übersehen werden. Viele nachdenkliche Amerikaner teilen mit Peter Schrag die Hoffnung, daß Wählerinitiativen in Zukunft überlegter und sparsamer genutzt werden. Aber eine solche Entwicklung liegt letztendlich, wie sich das gehört, in den Händen der Bürger selber. Hier haben sie wirklich die Wahl.

43 Peter Schrag ist ein besonders gut infonnierter und angesehener Redakteur der landespolitisch wichtigen Zeitung, The Sacramento Bee. Siehe seinen Beitrag, "Take the Initiative, Please", in: The American Prospect, September-October 1996, S. 61- 63, und seinen weiterführenden Artikel, "California's Elected Anarchy: A government destroyed by popular referendum", in: Harper's Magazine, November 1994, S. 50 -58.

Das Verhältnis von Bürger und Staat in Deutschland und in den ausgewählten Ländern: Versuch eines Vergleichs Von Hans Herbert von Arnim

Bei der gestellten Aufgabe handelt es sich fast um so etwas wie die Ecken eines magischen Dreiecks: Erstens soll ich die Bürger / Staat-Probleme in Deutschland anreißen, zweitens einen Vergleich mit den drei referierten Ländern vornehmen und drittens das auch noch in der kurzen Zeit von 10 Minuten bewältigen. Bei magischen Dreiecken besteht die Magie darin, daß man nicht alle drei Ziele gleichzeitig verwirklichen kann. Sie werden sehen, welche ich offen lassen muß. Von Frido Wagener, dem leider zu früh verstorbenen Speyerer Kollegen, stammt das Wort, die Probleme der Verwaltung seien zu 90 Prozent solche der Politik. Ob das immer gilt, weiß ich nicht; für das derzeitige Verhältnis Bürger-Staat scheint mir die These vom Primat der Politik aber wirklich zuzutreffen. Das Verhältnis Bürger-Staat wird in der Bundesrepublik, wie mir scheint, mindestens durch vier Erscheinungen mitbestimmt. Erstens durch die zahlreichen ungelösten politischen Probleme: Ich nenne nur die hohe Arbeitslosigkeit, die abbröckelnde Finanzierbarkeit der Sozialversicherungssysteme, die überhöhten und ungerechten Steuern und Abgaben und die Verwaltungsprobleme, die der Speyerer Honorarprofessor Gerhard Banner einmal mit dem zugespitzten Wort vom "System organisierter Unverantwortlichkeit" charakterisiert hat. Ein zweites Phänomen ist für mich die mangelnde Fähigkeit unseres politischen Systems, Probleme zu lösen. Ein drittes Phänomen scheint mir darin zu liegen, daß die politischen Entscheidungen sich aus den verfassungsrechtlich zuständigen Institutionen immer mehr in oligarchische Führungen hinein verlagert haben. Entscheiden tun in Wahrheit nicht der Bundestag, die Bundesregierung, der Bundesrat, sondern eine kleine Gruppe von wenigen Spitzenleuten der Parteien und Fraktionen. Regierung, Bundestag und Bundesrat haben die von wenigen Vorentscheidern materiell vorgeprägten Entscheidungen dann sozusagen nur noch abzunicken, was auch Blockaden impliziert. Die Steuerreform ist dafür das Beispiel, das uns aktuell vor Augen steht. Die These von der Oligarchisierung der Politik in der Hand ganz weniger Spitzenleute der Regierung, der Parteien und Fraktionen stammt nicht von irgendeinem besonders

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Hans Herbert von Amim

kritischen Zeitgenossen, sondern von meinem Speyerer Kollegen Waldemar Schreckenberger, der nicht gerade im Ruf steht, das System einreißen zu wollen. Das vierte Phänomen ist die Politikverdrossenheit der Bürger, die - wie ich meine - mit den drei vorgenannten Problemen zusammenhängt: Die Bürger konstatieren, daß wir offenbar immer mehr und immer größere Probleme haben, einen Problemstau, und daß gleichzeitig die Fähigkeit der Politik, es mit diesen Problemen aufzunehmen, nachläßt. Und dieses politische Handlungsdefizit macht gleichzeitig dem Bürger der Bundesrepublik immer deutlicher, daß er selbst in Sachen Politik so wenig zu sagen hat. Das Repräsentations- und Handlungsdefizit der Politi~ bringt dem Bürger das Partizipationsdefizit erst so richtig ins Bewußtsein. Die Probleme liegen, das wäre meine zentrale These, nicht so sehr darin, wie die Problemlösungen aussehen sollen, sondern wie die nötigen Reformen durchgesetzt werden können, also im Handlungs- und Entscheidungsdefizit des Systems. Dieses Handlungs- und Entscheidungsdefizit scheint mir immer mehr ein zentraler (und leider negativer) Faktor für den Standort Deutschland im globalen Wettbewerb zu werden. Vor diesem Hintergrund ist auch die von Herrn Sille angesprochene amerikanische Steuerreform von 1986 gerade für die Bundesrepublik von besonderem Interesse. Herr Sille hat darauf hingewiesen, daß ihr Ausgangspunkt der Volksentscheid in Kalifornien von 1978 war, durch den die kalifornische Grundsteuer stark gesenkt wurde. Das schaffte eine tax revolt-Bewegung, die auf viele andere amerikanische Staaten überschwappte und auf deren Wogen dann acht Jahre später der amerikanische Präsident Reagan, der zufallig dieselbe Person war wie die, die in Kalifornien Gouverneur war, als dort jener Volksentscheid stattgefunden hatte, die Steuerreform auf Bundesebene durchsetzte. Das Interessante ist, wie Reagan die Interessenverbände bei dieser Steuerreform ausmanövrierte. Das große Anliegen einer Steuerreform, wie wir sie hier auch in der Bundesrepublik derzeit versuchen, besteht ja in zweierlei. Einmal soll die Masse der Steuervergünstigungen abgebaut werden, zum anderen soll gleichzeitig der Tarif stark gesenkt werden. Das erste, die Beseitigung der Steuervergünstigungen, verlangt von den Verantwortlichen, daß sie sich mit allen Interessenverbänden gleichzeitig anlegen, weil jeder versucht, an seiner Steuervergünstigung festzuhalten. Und das ist besonders schwer, wir erleben es ja im Augenblick in der Bundesrepublik. Der amerikanische Präsident hat damals einen Kunstgriff angewandt. Er hat am Vorabend, bevor die Pläne auf den Tisch kamen, eine landesweite Fernsehansprache an alle Amerikaner gehalten und gesagt: Es werden viele Steuervergünstigungen abgebaut. Wenn eure Interessenverbandsvertreter euch erzählen, es werde alles ganz schrecklich, glaubt ihnen nicht, seht, wie gleichzeitig die Tarife gesenkt werden und daß ihr per Saldo ein einfacheres, gerechteres und leistungsorientiertes Steuersystem bekommt, daß ihr also netto ein Mehr an politischem Nutzen habt. Reagan hat sich damit durchgesetzt. Leider fehlt es bei uns in der Bundesrepublik an dieser Informationstätig-

Bürger und Staat in Deutschland und ausgewählten Ländern

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keit, sei es des Kanzlers, sei es des Finanzministers - und an der wirklichen Identifizierung beider mit der Steuerrefonn. Was die Fähigkeit zur Durchsetzung nötiger Refonnen anlangt, scheint mir auch das neuseeländische Modell, das Herr Butler so eindringlich geschildert hat, ein besonders interessantes Beispiel, ein Beispiel, bei dem einem geradezu Angst wird. Die Probleme, mit denen Neuseeland damals - beginnend 1984 - zu kämpfen hatte, sind gar nicht so unähnlich den Problemen, mit denen wir uns heute in Deutschland herumschlagen. Auf der Suche nach den Gründen, wieso das neuseeländische System eine derart fulminante Problemlösungsfähigkeit aufzuweisen hatte, scheinen mir, ganz kurz und holzschnittartig, zwei Dinge hervorzuheben zu sein, die hier zusammentrafen. Einmal, daß damals refonnbereite Männer und frauen in verantwortlicher Position waren, zunächst der Labour-Party, dann - wenige Jahre später, nach dem Regierungswechse1 - der National-Party. Interessant ist es also, daß es parteiübergreifend in die gleiche Richtung ging. Und zum zweiten verdienen die Institutionen Beachtung, die diesen Männem und Frauen eine besondere Handlungsfähigkeit gaben. Herr Butler hat auf das mehrheitsbildende Wahlrecht hingewiesen, das damals in Neuseeland herrschte und das keine Koalition zur Regierungsbildung verlangte. Er hat darauf hingewiesen, daß es ein System gab, das klar zurechenbare politische Verantwortlichkeiten schuf, es gibt zum Beispiel keinen Bundesrat in Neuseeland. Er hat nicht darauf hingewiesen, daß es in Neuseeland keine Verbeamtung der Parlamente gibt, während bei uns in manchen Landtagen 60 Prozent der Mitglieder der Parlamente aus dem öffentlichen Dienst kommen. Uns als Beamte muß das etwas nachdenklich machen. Es gab und gibt in Neuseeland auch kein Bundesverfassungsgericht, das ja vielleicht oft gute Entscheidungen trifft, was aber in der Regel dazu führt, daß Entscheidungen verzögert werden, manchmal Jahre, um nicht zu sagen Jahrzehnte. Und Herr Butler hat auch darauf hingewiesen, daß man die Refonnen möglichst mit einem Schlag gemacht hat. Er sprach vom "Quantensprung-Prinzip", mit dem die Refonner die Refonnen in einer derartigen Dichte vorgenommen haben, daß gleichzeitig alle Gruppen beeinträchtigt waren und alle umgekehrt auch Vorteile daraus hatten, so daß die Refonner damit tatsächlich durchkamen. Die Politikwissenschaft hat immer mal wieder - vor Jahren, aber auch jetzt wieder - die Frage gestellt: Do institutions matter? Kommt es für die politischen Entscheidungen auf die verfassungsrechtlichen Institutionen an? Das neuseeländische Beispiel scheint mir ein besonders nachdrücklicher Beleg dafür zu sein, daß - und in welchem Umfang - es tatsächlich auf Institutionen ankommt. Für die Bundesrepublik lautet meine These - und ich kann das hier nur thesenartig sagen -, daß es uns an zweierlei fehlt: Wir haben zu wenig Effizienz in den Regierungsentscheidungen, was auch systembedingt ist, und zu wenig Partizipation der Bürger. Blicken wir auf die Schweiz, so sehen wir, daß es dort sehr viel mehr Partizipation gibt, Herr Müller hat das sehr schön dargelegt. Auch in den USA gibt es auf der Ebene vieler Gliedstaaten und auf Gemeindeebene erhebliche unmittel-

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Hans Herbert von Amim

bare Partizipation. Herr S~e hat auf die direktdemokratischen Elemente in Kalifornien und anderen amerikanischen Gliedstaaten hingewiesen. Aber auch in der Bundesrepublik haben wir auf einer der vier Ebenen Europa-Bund-Länder-Gemeinden eine sehr starke Bürgerpartizipation, und wir haben gleichzeitig auch eine ausgeprägte Handlungsfähigkeit. Ich meine das gemeindliche System, speziell das baden-württembergische Gemeindeverfassungssystem, das bekanntlich durch drei Dinge gekennzeichnet ist, alles ganz holzschnitt- und thesenartig: Direktwahl des Bürgermeisters, ein flexibles Wahlrecht, das es dem Bürger erlaubt, sich sein Kandidatenmenü durch Kumulieren und Panaschieren selbst zusammenzustellen, und drittens ein Zugriffsrecht des Bürgers auch auf Sachentscheidungen durch Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Und wir haben dieses baden-württembergische System in den letzten vier, fünf Jahren auf alle anderen Länder übertragen, sofern es dort nicht schon vorher bestand wie im wesentlichen in Bayern. Und diese Reformen wurden dadurch durchgesetzt, daß es 1991 in Hessen einen Volksentscheid gegeben hat, bei dem die Bürger darüber zu entscheiden hatten, ob sie direkt gewählte Bürgermeister und Landräte haben wollten. 82 Prozent der hessischen Bürger entschieden sieh für die Direktwahl der Bürgermeister und Landräte. Solche Direktwahlmöglichkeiten bestehen inzwischen in allen Bundesländern, überall wurde also die Gemeindeverfassung entsprechend geändert, manchmal mit Einschränkungen, die problematisch sind, aber darauf will ich jetzt nicht eingehen. Der Grund, warum wir diese Reform auf der oft nur wenig wahrgenommenen Kommunalebene hatten, scheint mir schlicht der folgende zu sein: Alle wußten, wenn es zum landesweiten Volksbegehren und Volksentscheid über diese Frage kommt, werden die Bürger mit großer Mehrheit dafür sein. So konnte die jeweilige Opposition im Saarland, in Nordrhein-Westfalen, in Niedersachsen, in Schleswig-Holstein und in Brandenburg die jeweilige Regierung darauf hinweisen: Wenn ihr die Reform nicht macht, strengen wir ein Volksbegehren und einen Volksentscheid an. Diese "fleet in being", diese Möglichkeit, vom Volksbegehren Gebrauch zu machen, und das präsumtive Ergebnis haben diese unerhörte Reformfahigkeit in einem Bereich geschaffen, den wir vorher ebenfalls für praktisch unreformierbar gehalten haben. Ich will nun nieht das hohe Lied auf die Reform der Gemeindeverfassung nach dem Vorbild Baden-Württembergs singen, aber ieh möchte doch darauf hinweisen, daß hier ein System besteht, das sowohl Handlungsfähigkeit schafft - der direkt gewählte Bürgermeister, die direkt gewählte Bürgermeisterin in Baden-Württemberg ist in der Regel enorm handlungsfähig - als auch gleichzeitig eine hohe Durchlässigkeit für den Bürgerwillen aufweist: durch die Direktwahl des obersten Repräsentanten, durch die Möglichkeit, sieh seine Ratsmitglieder auszuwählen und durch die potentielle Möglichkeit, Sachentscheidungen an sieh zu ziehen. Wir haben beides, mehr Handlungsfähigkeit und mehr Partizipation. Wir meinen immer, es bestünde ein Gegensatz zwischen Effizienz und Partizipation. Dieses System zeigt, daß ein solcher Gegensatz nicht notwendigerweise besteht. Und die Geschichte der Gemeindeverfassungsreform zeigt zugleich, wie Reformen - auch gegen Widerstreben - durchgesetzt werden können.

DRITTER TEIL

Staatsreform und Verwaltungsmodernisierung

Potentiale und Perspektiven der Verwaltungsmodernisierung Von Hermann Hill

Vorbemerkung

Verwaltungsmodernisierung wird in den letzten Jahren unter verschiedenen Leitthemen diskutiert: Neues Steuerungsmodell, New Public Management, Lean Management, Qualitätsmanagement, Neugestaltung der Geschäftsprozesse (Business Process Reengineering), etc. Die folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf das sog. Neue Steuerungsmodell, das von der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) seit Anfang der neunziger Jahre entwikkelt wurde. Nach einer Umfrage des Deutschen Städtetages von Januar bis März 1996 fanden in 191 Mitgliedsstädten konkrete Modernisierungsmaßnahmen statt, in weiteren 21 Städten waren diese geplant. Bei den Landkreisen bestanden nach einer Umfrage des Deutschen Landkreistages von Anfang 1995 in 123 Kreisen konkrete Ansätze zur Verwaltungsmodernisierung, in weiteren 56 Kreisen waren diese geplant. Auch in fast allen Ländern sind inzwischen verschiedene Modellprojekte in Gang gekommen. Wir haben dazu in der Hochschule vom 19. bis 21. März 1997 die 3. Tagung "Reform der Landesverwaltung" durchgeführt. Schließlich hat auch der Bund mit dem Sachverständigenrat "Schlanker Staat" ein Signal für die Modernisierung seiner Verwaltung gesetzt. Diese breite Welle der Modernisierungsbewegung zeigt, daß der Rubikon inzwischen überschritten ist. Das Rad der Modernisierung kann nicht mehr zurückgedreht werden, es geht vielmehr jetzt darum, den richtigen Weg zu finden, die Modernisierungsaktivitäten zu unterstützen und sie konstruktiv-kritisch zu begleiten. Potentiale und Perspektiven der Verwaltungsmodernisierung möchte ich an fünf Punkten aufzeigen. I. Produkte als Ausgangspunkt

Ein entscheidendes Merkmal des sog. Neuen Steuerungsmodells ist die Fokussierung auf Produkte bzw. Dienstleistungen als Ergebnis von Verwaltungsprozessen. Viele Verwaltungen sind zur Zeit dabei, solche Produkte ihrer Tätigkeit zu de9 Speyer 124

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Hennann Hili

finieren. Dabei wird der Blick von bloßen Verrichtungen zu Ergebnissen gelenkt. Ansatzpunkte der Produktdefinition sollten daher nicht in erster Linie die gesetzlich zugewiesene Aufgabe, die Haushaltssystematik oder die bestehende Aufbauorganisation sein. Leitlinien sollten vielmehr einerseits das Steuerungsinteresse von Politik und Verwaltungsführung, andererseits das Kundeninteresse der Bürgerinnen und Bürger darstellen. Schwierigkeiten bei der Produktdefinition entstehen etwa bei Dienstleistungen, anderen qualitätsorientierten Leistungen sowie bei politischen Zuarbeiten in der Ministerialverwaltung. Das Produkt als Ausgangspunkt der neuen Organisation ist Anknüpfungspunkt für vielfältige Folgen. Manche Städte sind dabei, neben dem herkömmlichen Haushalt einen produktorientierten Leistungshaushalt zu erstellen. Eine zukunftsorientierte Steuerung wird sich in Form eines output-orientierten Budgets an diesen Produktkatalog anlehnen. Auch Zielvereinbarungen sind an den Produkten und den sie charakterisierenden quantitativen und qualitativen Kennzahlen ausgerichtet und unterscheiden sich durch diese konkrete Zuordnung von der älteren Form des Management by Objectives. Das Produkt ist insofern Informations- und Kostenträger. Die Produktorientierung verschafft vor allem Transparenz und Kostenbewußtsein. Die Bünde1ung und Neuordnung einzelner Leistungsbestandteile, die bisher in verschiedenen Einheiten verstreut waren, zu einem ganzheitlichen Produkt und die entsprechende Bildung von Produktzentren führt auch zu einer Veränderung der Organisation. Die Ausrichtung an Produkten verschafft den Mitarbeitern die Möglichkeit, ihre Leistung zu dokumentieren und bietet Gelegenheit zur Anknüpfung von Leistungsanreizen. Auf der Grundlage von vergleichbaren Produktdefinitionen, Kostenzuordnungen und Qualitätskriterien lassen sich interkommunale Leistungsvergleiche und Wettbewerbe durchführen, die insbesondere zwischen Kommunen an vielen Stellen schon stattfinden. Schließlich bietet der Produktansatz auch die Möglichkeit, die Forderung der Bürger nach "value for money" zu erfüllen, indem deutlich wird, welche Leistungen mit welchen Kosten zu welcher Qualität vom Steuergeld des Bürgers durch die Verwaltung erbracht werden. 11. Zielvereinbarungen und Controlling

Die traditionelle zentrale Steuerung der öffentlichen Verwaltung durch detaillierte Vorgaben im Wege einseitig-hierarchischer Anordnung trägt der Erkenntnis, daß operatives Fachwissen sich an dezentralen Positionen befindet, die sich mit der Produktion bestimmter Leistungen, gfs. im Kontakt mit dem Kunden, befassen, nur unzureichend Rechnung. Die Zentralinstanzen sind regelmäßig überfordert, objekt- bzw. situationsrelevante Entscheidungen rechtzeitig und sachkundig zu treffen. Zur Verbesserung der Effektivität des Verwaltungshande1ns ist somit die Errichtung eines Steuerungs- und Informationssystems erforderlich, das operatives Fach-

Potentiale und Perspektiven der Verwaltungsmodemisierung

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wissen und zielorientierte, koordinierte Steuerung besser miteinander verknüpft. Dieses muß sich an vereinbarten Zielen, beabsichtigten Ergebnissen und gewünschten Wirkungen orientieren. Das bedeutet, daß die Anforderungen an Kommunikation in der öffentlichen Verwaltung zunehmen werden. Eine neue Verhandlungs- und Vereinbarungskultur ist daher zur Zeit innerhalb der öffentlichen Verwaltung in der Entstehung begriffen. Durch sog. Zielvereinbarungen (Kontrakte) werden Absprachen über zu erbringende Leistungen und die damit verbundenen Ziele und Qualitätsnormen sowie die dafür zur Verfügung gestellten Personal- und Sachmittel getroffen. Gleichzeitig sollen darin die Art und Häufigkeit der Berichterstattung über das Ergebnis und eventuelle Abweichungen sowie die Kontraktfolgen und die Mechanismen der Änderung und Konfliktlösung geregelt werden. Die rechtliche Qualifikation der Zielvereinbarungen sowie die Folgen bei Nichterfüllung oder ,,Leistungsstörungen" sind noch völlig ungeklärt. Deshalb führen wir z. Zt. am Forschungsinstitut der Hochschule ein Projekt durch, das sich mit diesen rechtlichen Fragen befaßt. Bei der praktischen Ausgestaltung der Vereinbarungen spielt z. Zt. vor allem die Entwicklung von Kennzahlen eine Rolle. Auf dem KGSt-Forum im Oktober 1996 in Hannover wurde dabei etwa deutlich, daß teilweise die Gefahr besteht, den Detaillierungsgrad der Kennzahlen zu übertreiben und nunmehr anstelle input-orientierter Standards eine neue output-orientierte Kennzahlen-Bürokratie zu errichten. Die Angemessenheit der Kennzahlen ist deshalb im Hinblick auf ihre Steuerungsrelevanz zu entwickeln, es darf auch nicht nur um finanzorientierte Kennzahlen gehen, vielmehr sind vor allem auch Qualitätskriterien erforderlich. Das im Rahmen der Controlling systeme zu etablierende Berichtswesen darf nicht Datenfriedhöfe produzieren und als Einbahnstraße mißverstanden werden, sondern muß Alternativen aufzeigen und Verbesserungsvorschläge entwickeln, die gemeinsam zu neuen Lösungen führen. Neben produkt- und serviceorientierten Kennzahlen ist im Rahmen eines strategischen Controlling auch eine Ausweitung des Blicks auf die Wirkungen des Verwaltungshandelns erforderlich. III. Budgetierung und dezentrale Ressourcenverantwortung

Angeregt durch Einrichtung von Profitcentern sowie Modelle einer "Fraktalen Organisation" in der Privatwirtschaft hat das Paradigma der neuen Dezentralisation inzwischen in Gestalt der dezentralen Ressourcen- und Ergebnisverantwortung auch die öffentliche Verwaltung ergriffen. In der bisherigen Organisation waren die Facheinheiten zwar für die Erreichung der Sachziele verantwortlich, die dazu erforderlichen Ressourcen wurden indes von den sog. Zentralabteilungen bzw. Querschnittsämtern verwaltet. In dem neuen Modell enthält der für die Erreichung der Sachziele Verantwortliche ein umfassendes Budget, für dessen Einsatz und Aufteilung, etwa auf Personal- oder Sachkosten oder die Hinzuziehung externer Leistungen, er allein verantwortlich ist. 9*

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Hermann Hili

Budgetierung sowie dezentrale Ressourcen- und Ergebnisverantwortung haben in der Praxis in vielen Fällen bei den Verantwortlichen enorme Kreativität freigesetzt. Teilweise versuchen Kommunen sogar schon, statt mit Auslagerung von Teilleistungen bzw. -prozessen an den privaten Markt (Outsourcing), sich mit sog. Insourcing neue Geschäftsfelder zu erschließen und damit im Rahmen von Zuschußbudgets auch neue Einnahmen zu erwirtschaften. Dies hat neue ordnungspolitische Diskussionen über die Grenzen des Staatshandelns ausgelöst. Soweit die Budgetierung über das geltende Haushaltsrecht hinausgeht, sollen Experimentierklauseln in den Gemeindeordnungen und Haushaltsgesetzen rechtliche Grenzen vorübergehend erweitern. Mittelfristig ist indes eine Weiterentwicklung des geltenden Haushaltsrechts erforderlich. Die dezentrale Organisationsstruktur hat in verschiedenen Verwaltungen auch schon zu einer Abflachung der Hierarchien geführt. Die ganzheitliche Ressourcenund Ergebnisverantwortung in den neu geschaffenen Fachbereichen und Fachdiensten hat daneben Änderungen in AufgabensteIlungen und Selbstverständnis der sog. Querschnittseinheiten oder Zentralabteilungen zur Folge. Sie entwickeln sich zu Serviceeinrichtungen und müssen ihre Leistungen zunehmend in Konkurrenz mit privaten Anbietern erbringen. Die Dezentralisation der Verantwortung schafft darüber hinaus neue Fragestellungen im Hinblick auf das parlamentarische (z. B. Ministerverantwortlichkeit) und gerichtliche Kontrollrecht. Zugleich stellt sich die Frage der Koordination der ausdifferenzierten und dezentralisierten Einheiten. Das durch den Abbau von Hierarchie und traditionelle Haushaltsplanung entstandene Koordinationsvakuum kann durch Leitbild, Leistungsprograrnm bzw. Leistungshaushalt, Budgetierung und Zielvereinbarungen sowie ein funktionierendes Controlling und Berichtswesen wieder aufgefangen werden. Insbesondere Leitbilder und Zielbilder, die zur Zeit in vielen Verwaltungen entwickelt werden, tragen als weiche Koordinationsinstrumente zur Identitätsund Profilbildung sowie zu einem geschlossenen Erscheinungsbild, Orientierungsmuster und Bewußtsein nach außen und innen bei.

IV. Verhältnis Rat - Verwaltung Die Harmonisierung von Verwaltungsmanagement und Kommunalpolitik im Neuen Steuerungsmodell ist bisher weder in der Wissenschaft noch in der Praxis überzeugend gelöst. Im Gegensatz zum Parlament auf Bundes- oder Landesebene stellt die kommunale Vertretungskörperschaft einen Teil der Verwaltung dar. Insofern stellt die vereinfachende Anleitung, der Rat solle sich auf das "Was" beschränken, und der Verwaltung das "Wie" überlassen, sicherlich eine Verkürzung des Problems dar. Hinzu kommt, daß angesichts eines zunehmend personalisierten Wahlrechts auf kommunaler Ebene die Mandatsträger geradezu ermuntert werden, sich um die Verfolgung der Anliegen einzelner Bürger durch Detailkontrolle der Verwaltung zu kümmern.

Potentiale und Perspektiven der Verwaltungsmodemisierung

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Dennoch kann der Grundansatz des Neuen Steuerungsmodells gerade auch angesichts der ehrenamtlichen Tätigkeit sowie der Gesamtverantwortung des Rates für die Entwicklung der Kommune zu einer Verbesserung seiner Steuerungsfähigkeit führen, wenn die Umsetzung dieses Modells in der Praxis gelingt. Die Kommunalpolitiker im Rat werden die Steuerungsmöglichkeiten, die sie heute haben, indes jedenfalls nur im Austausch gegen bessere Steuerungsmöglichkeiten, die ihnen ein qualifizierteres Steuern, ein qualitatives Mehr an Infonnations- und Kontrollmöglichkeiten eröffnen, aus der Hand geben. Die entscheidende Voraussetzung für eine gelingende Umsetzung des Neuen Steuerungsmodells stellt daher die Verbesserung des Infonnationsmanagements im Verhältnis Rat - Verwaltung dar. Es geht nicht um weniger oder mehr Infonnation für den Rat, sondern um die richtige, die steuerungsrelevante Infonnation. Sie besteht weder in einer Anhäufung von Einzelheiten noch in eine Diät von Abstraktheiten. Herkömmliche Vorlagen an den Rat werden diesem Ziel in den meisten Fällen nicht gerecht. Aber auch umgekehrt muß der Rat hinzulernen. Der Umgang mit Produkten und Berichten bedarf der Übung, ebenso liegen mit der politischen Interpretation der Berichtsergebnisse noch wenige Erfahrungen vor. Deshalb setzen sich in manchen Städten Verwaltung und Rat zusammen und versuchen, in Fonn von Arbeitsgemeinschaften oder Beiräten gemeinsam Wege zur Verbesserung der Zusammenarbeit zu finden. In ähnlicher Weise wächst langsam in Landtagen die Erkenntnis der Notwendigkeit, sich mit den neueren Entwicklungen der Verwaltungsrefonn auf Landesebene zu beschäftigen. Insbesondere das Budgetrecht des Landtags und die Verantwortlichkeit der Minister gegenüber dem Landtag erscheinen als Ansatzpunkte einer Weiterentwicklung. Darüber hinaus bedarf die strategische Steuerungsfähigkeit des Landtags, frühzeitige Entwicklungen aus der Gesellschaft, aus Wissenschaft und Wirtschaft aufzunehmen und sie in politisches Handeln umzusetzen, der Verbesserung. Im August 1996 haben wir deshalb an der Hochschule ein 1. Speyerer Abgeordnetenseminar mit Landtagsabgeordneten durchgeführt. Diese Seminare sollen auf Wunsch der Abgeordneten auch in Zukunft fortgeführt werden.

V. Personal und Veränderungsprozeß Das Leben in Organisationen ist das Handeln von Menschen für Menschen mit Menschen. Noch so viele neue Organisationsmodelle werden keinen Erfolg haben, wenn es nicht gelingt, die Köpfe und Herzen der Mitarbeiter für diese Fonnen zu gewinnen und ihnen Gelegenheit zu geben, die Vorteile dieser neuen Organisationsfonnen zu erkennen. In der ersten Phase der Einführung der neuen Modelle stand die "technische Seite" der betriebswirtschaftlichen Instrumente im Vordergrund. Die Wichtigkeit der ,,Ressource Personal" für den Veränderungsprozeß wurde zwar stets auch betont, war allerdings in der praktischen Umsetzung vergleichsweise unterbelichtet.

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Hennann Hili

In einer zweiten Phase der Umsetzung muß nunmehr der ganzheitliche Ansatz der Modelle stärker betont werden, der alle Aktionsfelder behördlichen Managements, auch die Qualifikation und die Motivation der Mitarbeiter, urnfaßt. Mit den neuen Managementansätzen ist insbesondere eine Qualifikation im Hinblick auf den Erwerb betriebs wirtschaftlicher und informationstechnischer Fähigkeiten verbunden. Daneben können die neuen Ansätze auch zu einer verbesserten Motivation führen. Wie Untersuchungen zeigen, entsteht die wirksamste Motivation durch Anreize aus der Arbeit selbst. Insbesondere die dezentrale Verantwortung, die den Mitarbeitern eigene Handlungsspielräume gewährt, trägt nach ersten Erfahrungen in Reformverwaltungen zur Steigerung von Arbeitszufriedenheit und Kreativität bei. Zielvereinbarungen sowie Mitarbeitergespräche in Form von Beratungs- und Fördergesprächen lassen den Mitarbeiter den Sinn des eigenen HandeIns und seine Einordnung in das Ganze besser erkennen. Der Wettbewerb mit anderen Verwaltungen sowie die Kundenorientierung spornen zur Leistungssteigerung und Qualitätsverbesserung an. Die Einführung der neuen Modelle erfordert auch einen neuen Führungsstil. Der Verweis auf die Hierarchie oder die bloße Erteilung einer formellen Anweisung, die ohne Diskussion vom Mitarbeiter eben zu befolgen war, entsprechen nicht mehr dem neuen Denken. Eine den Mitarbeiter im Rahmen von Zielvereinbarungen zur verantwortungsbewußten Selbstführung anregende Führung bedarf neuer Stilmittel und Umgangsformen. Die neuen Reformmodelle verfügen über das Potential, von einer Regel-, Kontroll- und Mißtrauenskultur zu einer Vertrauens- und Verantwortungskultur zu kommen. Dieser Kulturwandel erfordert eine Veränderung in den Köpfen, aber auch begleitende Veränderungen in den gesetzlichen und tariflichen Grundlagen. Erfolgreiche Modernisierungsvorhaben können nicht von oben oder von außen verordnet werden. Es reicht nicht, daß ein Parlament eine Reform beschließt, ein Verwaltungschef sie anordnet oder ein Berater von außen eine Sonde an die Organisation anlegt. Vielmehr müssen Reformen, wenn sie wirksam sein sollen, einen Veränderungsprozeß im Innern in Gang setzen. Wie jede Veränderung ist dies mit Bedenken, Unsicherheit und Widerständen verbunden. Die Reform kann daher nur dann gelingen, wenn die Mitarbeiter von Anfang an in den Reformprozeß einbezogen werden. Ein integratives Veränderungsmanagement in der Form eines Organisationsentwicklungsprozesses ist daher zwingende Voraussetzung für einen erfolgreichen Veränderungsprozeß. Verwaltungsmodernisierung ist indessen kein einmaliger Akt, keine bloße sprunghafte Veränderung von einem in einen anderen Zustand, sondern stellt vielmehr einen ständigen Prozeß dar, der Lernvorgänge der gesamten Organisation erfordert. Dabei sind auch Enttäuschungen und Rückschritte nicht zu vermeiden und auch teilweise schon eingetreten. Dennoch ist inzwischen klar geworden, daß der

Potentiale und Perspektiven der Verwaltungsmodemisierung

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Modemisierungsprozeß der öffentlichen Verwaltung angesichts vielfältiger Herausforderungen weitergehen muß. Die vorhandenen Initiativen, Experimente und Modellprojekte müssen daher jetzt miteinander vemetzt und systematisch noch stärker ausgewertet werden, um daraus weitere Lemhilfen, auch für andere Verwaltungen, die im Modernisierungsprozeß stehen oder ihn erst beginnen, zu entwickeln. Wir haben dazu an der Hochschule für Verwaltungs wissenschaften durch die Qualitätswettbewerbe und Innovationsringe wichtige Beiträge geleistet. Wir werden auch weiterhin versuchen, dazu beizutragen, daß der Modemisierungsprozeß gelingt.

Möglichkeiten der Schaffung finanzieller Handlungsspielräume Von Gisela Färber

Vorbemerkung

Die Lage der öffentlichen Haushalte erscheint verzweifelt schlecht. Anhaltend hohe Haushaltsdefizite trotz aller Versuche, das Ausgabenwachstum unter dem der Einnahmen zu halten, werden vermutlich den Beitritt Deutschlands zur Europäischen Währungsunion verhindern, weil die sog. Maastricht-Kriterien in Hinblick auf die öffentliche Verschuldung verfehlt werden. Die Kosten der deutschen Einheit, die überwiegend durch neue Schulden finanziert wurden l , sowie die hartnäkkig anhaltende Rezession mit weiter steigenden Arbeitslosenzahlen haben die bereits am Ende der 80er Jahre chronisch angelegten Finanzierungsprobleme des Staatssektors - z. B. in Form der Alterslast des öffentlichen Dienstes - überlagert und akuten finanzpolitischen Handlungsbedarf geschaffen. Internationale Wettbewerbsprobleme der deutschen Wirtschaft verbieten nachgerade eine Konsolidierung über die Erhöhung von Steuern und Sozialabgaben. Sie verstärken eher den Zwang zur Reduzierung der Staatstätigkeit als Folge von notwendigen Steuersenkungen. Vor diesem Hintergrund über die Schaffung zusätzlicher finanzieller Handlungsspielräume nachzudenken, weckt Assoziationen an die Heldentaten des Herakles. In der Tat wird es eine gehörige Portion politischen Muts erfordern, die notwendigen Wege zu beschreiten. Es müssen außerdem neue Wege eingeschlagen werden, will man verhindern, daß für jedes "abgeschlagene Haupt" der Hydra Haushalt drei neue nachwachsen und die Haushaltslöcher sich am Ende sogar noch vergrößern, weil Leistungskürzungen entweder noch mehr tatsächliche Armut schaffen oder aber - und das erscheint der häufigere Fall zu sein - die Betroffenen Anbieter und Nachfrager der weitergehend rationierten öffentlichen Leistungen im Zweifel noch kostspieligere Kompensationsstrategien einschlagen, um ihre durch die Kürzungen induzierten Einkommensverluste auszugleichen. Im Zweifel sind die Ausgaben am Ende höher als vorher. Dies wenigstens ist die Erfahrung der letzten Sparhaushalte. 1 V gl. Deutsche Bundesbank: Die Entwicklung der Staatsverschuldung seit der deutschen Vereinigung, in: Deutsche Bundesbank Monatsbericht März 1997, S. 17 - 32.

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Jahr 1992 cl 1993 1994 1995 1996

2.20 -1,20 2.90 1.90 1.40

in Preisen von 1991

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Daten zur finanziellen Lage des Staatssektors in der Bundesrepublik Deutschland

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Möglichkeiten der Schaffung finanzieller Handlungsspielräume

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Von der Mechanik der öffentlichen Haushalte her kommen für die Schaffung neuer finanzieller Handlungsspielräume lediglich zwei Ansatzpunkte in Frage, wenn die Steuerbelastung nicht angehoben werden soll: 1. die Kürzung von "entbehrlichen" Ausgaben und 2. die Erhöhung von nicht-steuerlichen Einnahmen. Zu diesen beiden Möglichkeiten wird im folgenden kurz, aber prägnant Stellung genommen.

I. Strategien zur Reduzierung von Staatsausgaben In Anbetracht der längerfristig wirksamen, kaum abwendbaren "Hypotheken" in den öffentlichen Haushalten (Alterslast, Schuldenfinanzierung der deutschen Einheit, demographische Entwicklung)2 wird man nicht umhin können, die öffentlichen Ausgaben für andere Zwecke zu kürzen, will man die Staatsquote nicht erhöhen. Aus dieser Quelle werden die größten Finanzierungsspielräume erwirtschaftet werden müssen. Allein zur Kompensation der infolge der Alterslast ansteigenden öffentlichen Personalausgaben ist ein Stellenabbau zwar nicht von 30 % - wie er bei unverändertem Leistungsniveau droht -, aber doch wahrscheinlich von ca. 15 % über die nächsten 30 Jahre auch dann erforderlich, wenn es gelingt, die Alterssicherung des öffentlichen Dienstes im Kontext der anderen Alterssicherungssysteme zu reformieren. Darüber hinaus könnte der internationale Wettbewerb sogar zu einer Rückführung der Staatsquote zwingen. Es gibt also keine Alternative zum Sparen. Es bleibt nur die Wahl, ob "intelligent gespart" werden soll oder ob das anstehende "Streichkonzert" dazu führt, daß sich die strukturellen Probleme des öffentlichen Sektors noch verstärken. Eine dem Einsparvolumen entsprechende Kürzung öffentlicher Leistungen ist indes dann vermeidbar, wenn Effizienzreserven des öffentlichen Dienstes gehoben werden. Ineffizienz - Stichwort: die Baumol'sche Kostenkrankheit öffentlicher Dienste 3 dürfte sich in Deutschland recht ungestört entwickelt haben, nachdem hier in den 80er Jahren, anders als in den meisten anderen Industriestaaten4 , keine nennenswerten Strukturreformen durchgeführt worden waren. Vor diesem Hintergrund tritt ein Begründungszusarnmenhang hervor, der erklärt, daß trotz massiver Anhebung der Staatsquote in den 50er, 60er und 70er Jahren 5 2 Vgl. im einzelnen Gisela Färber: Demographische Entwicklung, Schulden, Pensionen und die Entwicklung der öffentlichen Haushalte; in: Wolfgang Böttcher I Horst Weishaupt I Manfred Weiß (Hrsg.): Die KÜfzungspolitik im Bildungswesen: Hilft der Dialog von Ökonomie und Pädagogik aus der Krise? (erscheint demnächst). 3 Vgl. W J. Baumol: Macroeconomics of Unbalanced Growth: The Anatomy of Urban Crisis; in: American Economic Review 57 (1967), S. 415 ff. 4 Vgl. Allen Schick: Budgeting for Results: Recent Developments in Five Industrialized Countries, in: Public Administration Review, January I February 1990, S. 26 ff.

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Gisela Färber

das Galbraith'sche Paradigma von der "öffentlichen Armut bei privatem Reichtum,,6 nach wie vor zuzutreffen scheint. Es gab zwar in diesen expansiven Zeiten eine Vielzahl neuer staatlicher Dienste sowie quantitative und qualitative Ausweitungen traditioneller öffentlicher Güter - hier sei z. B. an das gesamte Bildungswesen erinnert. Dennoch verbindet sich mit dem konkreten Angebot öffentlicher Leistungen heute das gleiche Gefühl seiner Unzulänglichkeit wie in den 50er und 60er Jahren: alte, überfüllte und unzureichend ausgestattete Schulen und Universitäten, Jugendkriminalität und eine Neigung zu Sex and Crime in der Freizeit, der die Schulen nicht mehr in der Lage sind, sich entgegenzustellen, verstopfte Innenstadtstraßen, überfüllte Nahverkehrsmittel, all diese Symptome der "öffentlichen Armut", wie sie Galbraith in seiner "Affluent Society" 1957 gekennzeichnet hat, scheinen unverändert fortzugelten 7 • Als Erklärung für diesen Widerspruch kommen zwei Ursachen in Frage: 1. Die öffentlichen Güter werden ineffizient im Sinne von verfehlter Kostenminimierung produziert, d. h., es liegt X-Ineffizienz im Sinne von Leibenstein 8 vor, weil mangels Wettbewerb im öffentlichen Sektor die Verschwendung von Ressourcen nicht automatisch erkannt wird und sie auch nicht unter der "Strafe" des Konkurses steht. 2. Die "Produktinnovation" bei öffentlichen Gütern, die mit dem Strukturwandel des Privatsektors korrespondieren müßte, damit öffentliche und private Produktionen in einer komplementären Wirkung ihre optimale Wohlfahrt entfalten können, wurde unzureichend vorgenommen. Deshalb produziert der Staat heute hinsichtlich Umfang und Struktur wie hinsichtlich der Art und Weise der Aufgabenerfüllung "veraltete" öffentliche Güter. Insbesondere letzteres Phänomen wird m.E. auch angesichts der derzeit herrschenden betriebswirtschaftlichen Euphorie in der öffentlichen Verwaltung viel zu wenig wahrgenommen. Es dominieren jedoch Verwaltungs- und Subventionskonzepte, die zu einem Gutteil noch aus dem letzten Jahrhundert zu stammen scheinen, häufig genug aber auch erst vor 20 - 30 Jahren entwickelt wurden und dennoch schon "veraltet" sind. Warum fällt es denn heute so schwer, sich bei der BAföG-Reform an eine e1ternunabhängige, u.U. mit Zinsanteil rückzahlbare Förderung der Studierenden für grundsätzlich hoch rentierliehe Humankapitalinvestitionen zu gewöhnen? Warum leisten wir uns in Anbetracht der überfüllten Hochschulen Rituale und Verwaltungstraditionen, die aus Zeiten stammen, als gerade 5 Vgl. Horst Claus Recktenwald: Umfang und Struktur der öffentlichen Ausgaben in säkularer Entwicklung; in: Fritz Neumark (Hrsg.): Handbuch der Finanzwissenschaft, Band. 1, 3. Auflage, Tübingen 1977, S. 717ff. 6 Vgl. J. K.Galbraith: The Affluent Society, London 1958, S. 195 ff. 7 Vgl. im einzelnen Gisela Färber: Schlanker Staat - asthmatische Finanzpolitik? in: WSI-Miueilungen 4/ 1997 (erscheint demnächst). 8 Vgl. Harvey Leibenstein: Allocative efficiency vs. "X-efficiency"; in: American Economic Review, Vol. 56,1966, S. 392ff.

Möglichkeiten der Schaffung finanzieller Handlungsspielräume

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einmal I % eines Geburtsjahrgangs studierte? Warum schreibt das Baugesetzbuch den Ländern bzw. den Gemeinden vor, Gutachterausschüsse zur Bewertung von Immobilien zu unterhalten, obwohl heute - wahrscheinlich anders als vor 100 Jahren - an fast jedem Ort der Bundesrepublik genügend private vereidigte Sachverständige vorhanden sind? Die Liste derartiger Beispiele ist fast beliebig verlängerbar. Eintragungen in sie sind aus allen Bereichen der Verwaltung zu gewinnen. In den meisten Fällen wird noch ein mehr oder weniger großer Kern staatlicher Aufgaben zu finden sein, der allerdings im Laufe der Jahre Veränderungen durch den Wandel des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeldes, die technische Entwicklung sowie die Einstellung der Bürger zum Staat unterliegt. Die Institutionen selbst allerdings sowie ihre realiter subventionierten Nutznießer verhalten sich indes logischerweise wenig gemeinwohlorientiert. So lautstark, wie sie für ein Mehr an staatlichen Leistungen, für höhere Kapazitäten eintreten, wenn z. B. die Zahl der Kinder im Schulalter steigt, so leise werden sie, wenn ihre existenz- und kapazitätsbegründenden Grundlagen schrumpfen. Argumentiert wird dann mit Qualitätststeigerungen beim Angebot der Leistungen. Im Grenzfall führt die in den Sozialwissenschaften allgemein anerkannte oberste Maxime des Systemerhalts in bürokratischen Organisation zur selbst initiierten Aufnahme neuer Aufgaben mit Hilfe der vorhandenen Kapazitäten, wenn die alten Aufgaben im Laufe der Zeit obsolet geworden sind. Nicht mehr beanspruchte bürokratische Kapazitäten werden so gut wie nie freiwillig dem Steuerzahler zurückgegeben. Ein Grund für neue Wohltaten wird immer gefunden, um das eigene Budget auch weiterhin zu maximieren 9 . An dieser Motivlage ändert kein neues Steuerungsmodell 1o etwas. Es enthält auch keine Instrumente gegen diesbezügliches strategisches Verhalten, sondern allenfalls gegen die o. a. X-Ineffizienz. An diesen Stellen stecken offensichtlich größere Potentiale für "intelligente" Sparstrategien im öffentlichen Sektor. Aufgedeckt werden können die Spielräume mit den Instrumenten der Aufgabenkritik, genauer: mit denen der Zweckkritik ll . In ihrem Kontext wird der Frage nachgegangen, ob eine bestimmte Aufgabe noch vom Staat erfüllt werden soll und, wenn ja, ob sie nicht günstiger und effizienter auf eine andere Art und Weise wahrgenommen werden soll. Bezeichnenderweise haben sich die meisten der seit dem Ende der 80er Jahre durchgeführten aufgabenkritischen Untersuchungen aber auf das zweite Standbein der Aufgabenkritik, die Organisationskritik, beschränkt. Hier werden die konkreten organisatorischen Bedingungen daraufhin überprüft, ob eine bestehende, definierte staatliche oder kom9 Vgl. William Niskanen: Bureaucracy and Representative Govemment, Chicago 1971, S.36ff. 10 Vgl. zum Konzept KGSt: Neue Steuerungsmodelle - Begründung, Konturen, Umsetzung, Bericht 5, Köln 1993. 11 Zur Kategorisierung vgl. bereits Rudolf Dieckmann: Aufgabenkritik in einer Großstadtverwaltung: unter besonderer Berücksichtigung Hamburgs, Speyer 1976, S. 69 ff.

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Gisela Färber

munale Aufgabe mit weniger Ressourcenaufwand, insbesondere mit weniger Personaleinsatz, erfüllt werden kann 12• So wichtig wie diese Untersuchungen im Einzelfall sein mögen, so wenig vermögen sie zum Strukturwandel im Staatssektor beizutragen. Da die Organisationsgutachten, für die sich bezeichnenderweise in den letzten Jahren ein prachtvoller Markt entwickelt hat, aber praktisch immer für eine institutionelle Abgrenzung vergeben werden und die Aufgabe selbst allenfalls in Form von Fragen nach Privatisierungspotentialen hinterfragt wird, verbleiben alle diese Untersuchungen auf dem Status quo der Aufgabendefinition und an den Grenzen der etablierten Institutionen hängen 13. Aufgabenkritische Reorganisation kann aber eben auch durch eine vollständig neue Aufgabendefinition und / oder durch eine neue effizientere Bündelung verschiedener "verwandter" Verwaltungstätigkeiten erfolgen. Diesbezügliche Instrumente sind kaum entwickelt. Im Zuge des Wandels der öffentlichen Verwaltung von der Ordnungs- zur Leistungsverwaltung sind außerdem Zusammenhänge zu beachten, die sich aus dem Dienstleistungscharakter dieser neuen Aufgaben des Staates selbst ergeben. Für die Dienstleistungsökonomie gehört es zu den grundlegenden Eigenschaften ihrer "Objekte", daß Produktion und Konsum von Dienstleistungen - anders als Produktion und Konsum von Waren - miteinander verbunden sind, meistens sogar in zeitlicher, häufig auch räumlicher Einheit stattfinden 14 • Aus diesen Erkenntnissen lassen sich wichtige Schlußfolgerungen auch für die Reform der Leistungsverwaltung ziehen. Sie muß, will sie mehr Effizienz aufweisen, immer damit verbunden sein, daß dem Bürger selbst mehr eigenverantwortliches Handeln im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme öffentlicher Leistungen abverlangt und im Gegenzug Bürokratie abgebaut wird. Damit dies ohne den Aufbau eines noch teureren Kontrollsystems funkioniert, müssen die mit der Leistungsabgabe verbundenen Anreize so gestaltet sein, daß sie quasi "selbstregulierend" auf mehr Effizienz hin wirken. Hierzu gehören auch "intelligente" Sanktionen bei Mißbrauch, die diesen für die nicht intendierten Empfanger "unrentabel" machen. Über derartige Anreizstrukturen ist allerdings bislang ebenfalls kaum nachgedacht worden. Sie könnten aber an die Stelle der derzeit meistens praktizierten flächendeckenden bürokratischen, personalintensiven und zeitaufwendigen 12 Vgl. z. B. Johannes Kalenberg: Aufgabenkritik in Nordrhein-Westfalen, in: von Amim, Herbert Hans/Klaus Lüder (Hrsg.): Wirtschaftlichkeit in Staat und Verwaltung, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 111, Berlin 1993, S. 236 ff. 13 Diese Hypothese wird z. B. auch durch den Fragebogen zur Aufgabenkritik in BadenWürttemberg im Rahmen des Projektes Verwaltung 2000 bestätigt. In dem Fragebogen, der "flächendeckend" in der Landesverwaltung eingesetzt werden soll, wird nur nach Privatisierungspotentialen gefragt, nicht aber, welche "benachbarten", nachgeordneten oder selbständigen anderen staatlichen oder kommunalen Einrichtungen ebenfalls in dem weit gefaßten Aufgabengebiet tätig sind. 14 Vgl. Peter Zweifel: Dienstleistungen aus ökonomisch-theoretischer Sicht, in: Allgemeines Statistisches Archiv, 71. Band 1987, S. I ff.

Möglichkeiten der Schaffung finanzieller Handlungsspielräume

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"Genehmigungs-" und Gewährungsverfahren sowie an die Stelle von dichten Kontrollen und Überprüfungsverfahren treten und durch weitaus billigere Stichprobenverfahren ergänzt werden, um die sachgerechte Mittelverwendung sicherzustellen. 11. Erhöhung der nicht-steuerlichen Einnahmen des Staates

Komplementär zu einem so verstandenen Wandel der staatlichen Aufgabenerfüllung könnte auch die Finanzierungsseite der öffentlichen Haushalte in Richtung auf mehr Entgelteinnahmen umgebaut werden. Steuereinnahmen sind nämlich nur dort erforderlich, wo es sich um die Finanzierung rein öffentlicher Güter handelt, d. h. wenn, um die Fachausdrücke der Finanzwissenschaft zu gebrauchen, die Rivalität des Konsums nicht gegeben ist, das Ausschlußprinzip nicht funktioniert bzw. seine Anwendung unwirtschaftlich wäre l5 • Nun hat aber gerade der technische Fortschritt sowie der zunehmende private Wohlstand die Bedingungen des Marktversagens bei vielen öffentlich bereitgestellten Gütern verändert. Sie weisen heute anders als zu der Zeit, wo sich der Staat ihrer bemächtigt hat, nicht mehr die strengen Merkmale des Marktversagens auf, haben sich z.T. sogar von öffentlichen zu sog. Clubgütern gewandelt, die ihre Kosten und Nutzen innerhalb einer bestimmten Gruppe entfalten 16, aber keine signifikanten positiven externen Effekte für die Allgemeinheit mehr tragen. In anderen Fällen, wie z. B. die Bildung von Humankapital durch ein Hochschulstudium, sind zwar positive Externalitäten noch gegeben. Die privaten Aktivitäten hierzu sind jedoch auch einzelwirtschaftlich rentabel 17, benötigen mithin Subventionierung allenfalls auf niedrigerem Niveau und an anderen Merkmalen des Marktversagens l8 ansetzend. Innerhalb der Gruppe weisen die jeweiligen Leistungen zwar noch Merkmale öffentlicher Güter auf, nicht aber gegenüber anderen Gruppen oder der Allgemein15 Vgl. Richard A. Musgrave: The Theory of Public Finance, New York, Toronto, London 1959, S. 9ff. 16 Vgl. erstmals fames M. Buchanan: An Economic Theory of Clubs, in: Economica Vol. 32 (1965), S. 1 ff. 17 Vgl. K-D. Grüske: Verteilungseffekte der öffentlichen Hochschulfinanzierung in der Bundesrepublik Deutschland - Personalinzidenz im Querschnitt und Längsschnitt; in: R. Lüdeke (Hrsg.), Bildung, Bildungsfinanzierung und Einkommensverteilung 11, Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. Bd. 2211II, Berlin 1994, S. 71 ff. 18 Infolge fehlender Einkommenserfahrung würden viele junge Menschen vor dem Schuldenberg zurückschrecken, den sie für ihren Lebensunterhalt während des Studiums ansammeln müßten. Private Banken würden ihnen darüber hinaus wegen der Sterblichkeit des Humankapitals auch keine Kredite einräumen, für die nicht ihre Eltern keine Bürgschaften geben könnten. Mithin könnten begabte junge Menschen aus ärmeren Elternhäusern ohne staatliche Garantien nur unzureichend studieren. Es entstehen volkswirtschaftliche Verluste. Wegen der individuellen Rentabilität ist jedoch die "flächendeckende" Subventionierung des Bildungswesens mit lediglich marginalen Rückzahlungsverpflichtungen einiger weniger Studierenden nicht mehr gerechtfertigt.

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Gisela Färber

heit. Clubgüter zeichnen sich überdies - bei richtiger Bereitstellung - immer dadurch aus, daß Mitglieder die Gemeinschaft wieder verlassen können. Sie verfügen damit noch über ein zusätzliches Instrument gegenüber dem rein öffentlichen, vom Staat bereitgestellten Gut, indem sie durch Austritt ihre Präferenzen artikulieren können l9 . Es liegt auf der Hand, daß "Clubs" versuchen, aus ihren gruppenspezifischen Gütern öffentliche zu machen, sie also aus Steuermitteln finanzieren zu lassen. Wegen der nach wie vor begrenzten Interessenten- bzw. Nutznießerzahl für das Gut findet im Erfolgsfall eine Umverteilung zugunsten der Club-Mitglieder zulasten der Steuerzahler statt, die ihrerseits mit Wohlfahrtsverlusten für die gesamte Volkswirtschaft verbunden ist, weil diese Mittel an anderer Stelle effizienter hätten verwendet werden können. Die sachgerechte Finanzierung von derartigen Club-Gütern, gleich, ob sie es immer schon waren oder erst zwischenzeitig infolge des gesellschaftlichen und technischen Wandels dazu wurden, darf also nicht zu Lasten der Allgemeinheit stattfinden, sondern muß innerhalb der Gruppe der Nutznießer aufgebracht werden. Einfachste Instrumente bei bestehen bleibendem staatlichen Kern der Aufgabe sind in diesem Zusammenhang Gebühren und andere Entgelte bzw. Rückzahlungen. In Laufe der letzten Jahre hat hier im kommunalen Bereich bereits eine entsprechende Entwicklung stattgefunden, verbunden mit einer Teil-Privatisierung und steigenden Kostendeckungsgraden für eine ganze Reihe von kommunalen Leistungen. Insbesondere ein Teil der Unternehmen der Daseinsvorsorge (Wasser, Abwasser, ÖPNV u. a.) wurde mit der Konsequenz des dezidierten Ausweises des Subventionsvolumens in Form des Zuschußbedarfs der Unternehmen formal privatisiert. Die Diskussion über Autobahngebühren sowie über Leasingmodelle mit späterer Gebührenfinanzierung für Fernstraßen zeigt überdies, daß bestimmte Güter, die in Deutschland wenigstens bis dato als öffentliche, rein steuerfinanzierte Güter angesehen wurden, zwar immer noch öffentliche Güter sein sollen, nunmehr aber in stärkerem Maße statt durch Steuern von der Allgemeinheit über Gebühren durch die Nutznießer finanziert werden können. Eine Vollprivatisierung steht immer noch nicht in Rede. Jedoch sollen stärker als früher die Nutznießer öffentlicher Leistungen zur Kasse gebeten werden, zumal wenn es sich um Güter handelt, die von den nicht-armen Mitgliedern der Gesellschaft in Anspruch genommen werden. Strategien einer verstärkten Entgeltfinanzierung bzw. einer Reduzierung des Subventionsgrades von spezifizierbaren öffentlichen Leistungen haben überdies den unschätzbaren Vorteil, daß sie die Erträge auch im internationalen Bereich immer beliebter werdenden Ansätze interregionalen und interkommunalen Trittbrettfahrerverhaltens vermindern. Zunehmend verschieben nämlich Unternehmen ihre Standorte oder auch wachsende Teile ihrer Gewinne ins Ausland, wo sie mit niedrigeren Steuersätzen belastet werden. Die heimische, steuerfinanzierte Infrastruktur wollen sie indes weiter in Anspruch nehmen, ja sie benötigen sie nachgerade, 19

Vgl. Dennis C.Mueller: Public Choice 11, Cambridge 1989, S. 149 ff.

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um ihre privaten Investitionen zur maximalen Rentierlichkeit zu führen 2o • Ähnliche Asymmetrien zwischen Steuerzahlungen und der In.anspruchnahme von kommunalen Leistungen sind in Anbetracht wachsender Konflikte zwischen Kernstädten bzw. sog. Zentralen Orten und den sie umgebenden Umlandgemeinden festzustellen. Die Bürger letzterer nehmen die in hohem Maße steuerfinanzierten Güter der zentralen Orte in Anspruch, profitieren aber von den niedrigeren Realsteuerhebesätzen der Peripherie. Die verschiedenen kommunalen Finanzausgleiche werden verdächtigt, in immer stärkerem Maße die angestrebte Internalisierung der interkommunalen Spill-over nicht mehr leisten zu können. Im übrigen führt die fortschreitende Integration Europas unter der Rechtsprechung des EuGH dazu, subventionierte Leistungen nicht nur an die Inländer im steuerrechtlichen Sinne zu zahlen, die einen Beitrag zur Finanzierung der öffentlichen Leistungen im jeweiligen Land, in der jeweiligen Kommune leisten, sondern auch an andere EU-Bürger, die im Rahmen der innergemeinschaftlichen Freizügigkeit ihren Wohnsitz weitgehend frei wählen können21 . D.h., die innergemeinschaftlichen nationalen Spill-overs wachsen ebenfalls, ohne daß die Steuersysteme entsprechend angepaßt werden könnten. Das Problem der unterfinanzierten interregionalen Nutzen-Spillovers freilich mindert sich in dem Maße, wie der Subventions grad der einschlägigen öffentlichen Leistungen gesenkt wird, wie Gebühren und andere Entgelteinnahmen verstärkt zur Finanzierung der Leistungen erhoben werden, sofern es sich um spezifizierbare Leistungen handelt, sich das Ausschlußprinzip mithin mit geringen Zusatzkosten (wieder)einführen ließe. Die Einführung von Eintrittspreisen zum Besuch der Herrenhäuser Gärten in Hannover bewirkt, daß nicht mehr nur die steuerzahlenden hannoveraner Bürger bzw. in begrenztem Maße über den kommunalen Finanzausgleich alle Einwohner Niedersachsens die Kosten der Pflege der Gärten tragen, sondern nunmehr gerade die Besucher der Gärten, die den Nutzen haben, gleich aus welchem Landstrich der Welt sie stammen. Überdies kann man sich des Eindrucks kaum erwehren, daß die Nutznießer gegenüber den Gärten eine gewachsene, durchaus "materielle" Wertschätzung über die Einführung eines Preises gewonnen haben.

20 Vgl. Ruth Berschensl Monika Dunkel: Jagd auf die Kasse, in: Wirtschaftswoche Nr. 19, 01. 05. 97, S. 16f. 21 Vgl. zum Beispiel Urteil der Sechsten Kammer des EuGH vom 28. März 1996 (Rechtssache C 243/94) über Kindergeldzahlungen an im Ausland lebende Kinder, veröffentlicht in: Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts erster Instanz, Teil I Gerichtshof 1996 - 3, Luxemburg 1996, 1- 1887 ff. oder Urteil der Fünften Kammer des EuGH vom 23. Mai 1996 (Rechtssache C 237 - 94) über die Zahlung von Bestattungsgeld an einen Wanderarbeitnehmer, veröffentlicht in: s.o., Gerichtshof 1996-4/5, 1-2617ff.

10 Speyer 124

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Gise1a Färber

IH. Gefahren von unsachgerechten Rationierungen im Zuge von Sparmaßnahmen

In Anbetracht der Menge der heute gewährten Staatsleistungen muß des weiteren auffallen, daß eine Mehrzahl der öffentlichen Güter wahrscheinlich nicht den untersten Einkommensgruppen zu gute kommt, sondern einer alles andere als transparenten Inzidenz im Bereich der mittleren bis gehobenen Einkommen unterliegen dürfte. Cleverness und Wissen, so scheint es, sind heute die Zugangsvoraussetzungen zum Bezug öffentlicher Leistungen. Je mehr Menschen dieses Wissen erwerben, um so schärfer müssen Rationierungen und Verteilungsregeln für Bedürftige einsetzen, zumal erstere als potentielle Medianwähler einen gehörigen Druck auf die politischen Entscheidungsträger ausüben können. Oder wie soll sonst die steuersystematisch durch nichts zu rechtfertigende Regelung der Stadt Düsseldorf zu verstehen sein, arbeitslosen Hundebesitzern nur noch den halben Hundesteuersatz aufzuerlegen? Trotz des lauten Rufes nach mehr Steuervereinfachung wachsen die steuerlichen Regelungsdickichte mit jedem Jahr meßbar in cm Dicke der Steuerberaterhandbücher an. Soweit die anstehende Einkommensteuerreform absehbar ist, wird sie beim Gewicht des Steuerrechts wohl auch wieder zulegen statt die Steuerbürokratie abzubauen. Was bewirkt aber dieser Prozeß zunehmender Rationierung von Bezugsrechten bei den BürgerInnen? Es ist zu beobachten, daß ihre Unzufriedenheit wächst, daß das Gefühl, benachteiligt zu sein gegenüber dem anderen Steuerzahler oder Transferempfänger, größer wird, obwohl mehr Wertschöpfung denn je über den Staatssektor umverteilt wird. Mit diesem Ansatz wird aber die Akzeptanz des Staates untergraben, weil seinen Leistungen subjektiv kein positiver Nettonutzen mehr zugemessen wird. Ein Gefühl von Leistung und monetärer Gegenleistung seitens der BürgerInnen - dem eine überprüfbare Kostenrechnung zugrunde liegen müßte könnte hier bereits einen effektiven Schritt auf eine positive Nutzenzuordnung bedeuten. Ob Deutschland aber so weit gehen sollte wie England, möchte ich bezweifeln. Nach einem Bericht des Weltspiegels vom 2. 3. 1997 gibt es in Großbritannien die ersten Polizeiwachen, die aus privaten Spendenmitteln der Industrie ausgestattet wurden. Offensichtlich erscheint Unternehmen das Ausmaß der Bereitstellung des öffentlichen Gutes innere Sicherheit unzureichend, so daß sie freiwillig Ausgaben zugunsten staatlicher Einrichtungen leisten. Der Logik des Eigennutzes entsprechend werden sich die Spenden aber auf solche öffentlichen Güter beschränken, die den Unternehmen einen konkreten Nutzen bringen. Dieser muß freilich nicht identisch sein mit der den größten Nutzen für die Gesamtwohlfahrt stiftenden Verwendung der Mittel. Außerdem wird der öffentliche, durch demokratische Wahlen legitimierte politische Willensbildungsprozeß unterlaufen und die Allokation der Ressourcen im und über den Staats sektor mit hoher Wahrscheinlichkeit noch stärker gestört, als die geronnene Ineffizienz der öffentlichen Haushaltswirtschaft die Gesamtwohlfahrt oh-

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nehin bereits beeinträchtigt. Hinzu kommen "geschmackliche" Aspekte mit inhaltlichen Folgen für die Staatstätigkeit: Ist es denn von "allgemeinem Wohle", wenn ein klassisch öffentliches Gut wie innere Sicherheit mit Zahnpasta in Verbindung gebracht wird? Oder müssen Polizisten in Zukunft Werbefelder auf ihrer Uniformkleidung tragen wie Skirennfahrer, damit der Sponsor einen privaten Werbenutzen als Gegenleistung realisieren kann? Ich persönlich vermag mich mit diesem Modell von Staat nicht anzufreunden. Je länger die Politik aber wartet, den notwendigen Strukturwandel im Staat anzugehen, um so wahrscheinlicher könnte die Realisierung dieses anderen Staatsmodells werden, weil zunehmend Ressourcen durch die Vergangenheit schon gebunden sind. Insofern ist es gerade in finanzpolitischer Hinsicht 5 vor 12, um fundamentale Reformen einzuleiten!

10*

Innovationen und institutionelle Rahmenbedingungen Von Klaus Lüder I.

Die in einem Land vorherrschenden institutionellen Rahmenbedingungen beeinflussen die Wahrscheinlichkeit und die Geschwindigkeit, mit der Innovationspro, zesse ablaufen ebenso wie deren Ergebnis.

11. Will man den Einfluß der institutionellen Rahmenbedingungen auf Innovationsprozesse analysieren, dann bedarf es u. a. einer Spezifizierung, Typisierung und Klassifizierung dieser Rahmenbedingungen. Dies ist im Rahmen international vergleichender Studien zu Innovationen im öffentlichen Rechnungswesen versucht worden. 1 Danach kann man entsprechend der Funktion im Innovationsprozeß grundlegend unterscheiden zwischen Stimuli, Strukturvariablen und Implementationsbarrieren (siehe Abb. S. 150). - Stimuli sind in der Ausgangssituation auftretende Ereignisse oder vorhandene Zustände, die einen Innovationsprozeß dadurch auslösen (können), daß sie Änderungserwartungen und Änderungsverhalten der Öffentlichkeit, der politischen Akteure und der administrativen Akteure beeinflussen. Eine tiefgreifende Krise der öffentlichen Finanzen ist ein empirisch häufig beobachtbarer, innovationsauslösender Faktor.

- Die Strukturvariablen beschreiben grundlegende Merkmale des gesellschaftlichen Systems, des politischen Systems und des administrativen Systems. Dazu gehören z. B. kulturelle Eigenschaften (Risikofreude, Individualismus usw.) ebenso wie der Staatsaufbau (unitarisch / föderalistisch; parlamentarische Demokratie/Präsidialdemokratie), die innere Struktur der Verwaltung und die Struk1 V gl. K. LüdeT; A Contingency Model of Govemmental Accounting Innovations in the Political-Adrninistrative Environment, in: J. L. ChanlJ. M. Patton (Hrsg.), Research in Govemmental and Nonprofit Accounting, Vol. 7, Greenwich, CT, 1992, p. 99 und ders., The ,Contingency Model' Reconsidered: Experiences from Italy, Japan and Spain, in: E. Buschor/K. Schedler: (Hrsg.), Perspectives on Performance Measurement and Public Sector Accounting, Bem 1994, p. 1.

Klaus Lüder

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tur und Ausbildung des Verwaltungspersonals. Die Strukturvariablen beeinflussen wie die Stimuli die Änderungserwartungen und das Änderungsverhalten der Akteure. - Implementationsbarrieren schließlich sind innovationshemmende Rahmenbedingungen. Sie erschweren die Realisierung von prinzipiell gewollten Innovationen und können sie im Extremfall sogar verhindern. Das Ausmaß der "rechtlichen Verkrustung" einer Gebietskörperschaft ist ein Beispiel für eine Implementationsbarriere. Kontingenzmodell - Basismodell

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Prozeßergebnis

III. Analysiert man die in Deutschland vorherrschenden institutionellen Rahmenbedingungen hinsichtlich ihrer Vorteilhaftigkeit für die Durchsetzung von Innovationen im öffentlichen Sektor, so kommt man zu einem überwiegend negativen Ergebnis. - Zwar gibt es auch in Deutschland seit einigen Jahren eine tiefgreifende Krise der öffentlichen Finanzen, und sie ist sicher mitentscheidender Auslöser für den zu beobachtenden, allgegenwärtigen Änderungsaktionismus. Ob dieser Aktionismus letztlich zu Innovationen im Sinne grundlegender Änderungen von Verwaltungsstrukturen und -prozessen führt, ist derzeit eine durchaus noch offene Frage.

Innovationen und institutionelle Rahmenbedingungen

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- Mindestens einige Strukturmerkmale des sozio-politisch-administrativen Systems scheinen eher innovationshemmend als innovationsfördernd zu wirken. - Geert Hofstede's bekannte Untersuchung "Culture's Consequences,,2 kommt für Deutschland zu dem Ergebnis, daß das Verhalten seiner Bürger durch eher hohe Risikoaversion und allenfalls mittelmäßigen Individualismus gekennzeichnet ist. Wenn aber Voraussetzungen für Innovationen Risikofreude und Individualismus sind, dann wirken die uns nachgesagten nationalen Verhaltenseigenschaften offenbar nicht gerade innovationsfördernd. - Eine föderale Staatsstruktur mit starker Stellung der Gliedstaaten innerhalb des Gesamtstaates sollte grundsätzlich wettbewerbsstimulierend und damit auch innovationsfördernd wirken (politische Konkurrenz). Dieser Vorteil eines föderalen gegenüber einem zentralistischen Staat wird aber zunichte gemacht oder gar in sein Gegenteil verkehrt, wenn föderale Verbundsysteme und zentralstaatliche Rahmengesetzgebung ein eigenständiges Handeln der Gliedstaaten kaum mehr zulassen. Wenn aber Harmonisierung und Standardisierung Vorrang vor Differenzierung haben, dann geht das auf Kosten von Innovationen, die mindestens zeitweise einen Ausbruch aus dem abgestimmten Föderalismus erfordern. Ob man jedoch in Deutschland mit einer derart "unsicheren" Lage leben könnte, erscheint eher fraglich. In diesem Sinne bezeichnend sind beispielsweise Befürchtungen, die auf einer kürzlichen Tagung der Rechnungshofpräsidenten geäußert wurden, nämlich daß "die Einheitlichkeit der Finanzwirtschaft in der Bundesrepublik möglicherweise durch vielfältige Versuche ... gefährdet ist" und daß man es für nötig hält, "die Versuche allmählich in einen rechtlich abgesicherten Rahmen übergehen zu lassen" (Badische Neueste Nachrichten v. 27. 02. 97).

IV. Folge der in Deutschland für Innovationen ungünstigen institutionellen Rahmenbedingungen ist die "unendliche Geschichte" gescheiterter Verwaltungsreformen mit einer Vielzahl "steckengebliebener" Versuche und damit zusammenhängende typische Verhaltensweisen: - kleine Lösungen werden grundlegenden Veränderungen vorgezogen, - es wird versucht, möglichst der bisherigen Praxis verwandte Lösungen zu finden und - Entscheidungen über grundlegende Änderungen werden durch Vorlagerung von Experimentierphasen und Pilotprojekten hinausgeschoben.

2 Vgl. G. Hofstede, Culture's Consequences - International Differences in Work - Related Values, London 1980.

152

Klaus Lüder

Alle Änderungen unterhalb der Innovationsschwelle besitzen den "Vorteil", rückgängig gemacht werden zu können und sind Ausdruck einer mindestens unterschwelligen Angst vor Unurnkehrbarkeit. Vielleicht hat ja die Einschätzung von Hugo Preuß aus dem Jahre 1915 auch heute noch Gültigkeit, wonach "tiefgreifende Reformen der Verwaltungsorganisation ... regelmäßig nur im Zusammenhang mit inneren Umwälzungen oder größeren äußeren Ereignissen [zustande kommen]".3 Sind also Innovationen letztlich nur als Folge von Krieg oder Revolution zu erwarten?

v. Es liegt mir fern, diese rhetorische Frage endgültig mit ,ja" zu beantworten. Auf der anderen Seite kann man wohl nicht sagen, daß die vielen laufenden Reformund Innovationsinitiativen schon endgültig erfolgreich waren, so daß das Gegenteil bereits bewiesen wäre. Die "Revolutionierung der Verhältnisse in den Bahnen von Ordnung und Evolution,,4 erfordert jedoch hinsichtlich der institutionellen Rahmenbedingungen mindestens dreierlei: - Die Initiative muß von einer Kerngruppe politischer Akteure mit starker Positionsmacht ausgehen. Reform also als ,,Revolution von oben". - Bei den entscheidenden politischen Akteuren müssen Bereitschaft und Fähigkeit zur Durchsetzung fundamentaler Neuerungen in Staat und Verwaltung vorhanden sein. Diese fundamentalen Neuerungen bedürfen einer entsprechenden normativen Grundlage ("Leitbildsteuerung") und in einem demokratischen Staat müssen sie nicht zuletzt auch mehrheitsfähig sein ("Breitenbewegung"). Bei aller Kritik, die man am Managerialismus üben kann, sehe ich darin das einzige derzeit verfügbare normative Konzept, auf das sich fundamentale Neuerungen gründen lassen. 5 - In einem so weitgehend verrechtlichten Staat wie der Bundesrepublik Deutschland sind fundamentale Neuerungen in Staat und Verwaltung ohne Rechtsänderungen nicht möglich. Wie das überhaupt und schnell geschehen könnte, ist derzeit schwer vorstellbar. Könnte man sich aber wenigstens entschließen, übertriebenes Vereinheitlichungsstreben durch Außerkraftsetzung von Rahmengesetzen aufzugeben, dann wäre dies zumindest ein erster Schritt in die richtige Richtung.

3 Zitiert nach R. Morsey, Bemühungen um eine Verwaltungsreform nach der Jahrhundertwende bis zum Ende der Monarchie, in: K. G. A. Jeserich/H. Pohl/G.-Ch.v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. III, Stuttgart 1984, S. 855 ff., hier S. 865. 4 T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 - 1866, München 1983, S. 32. 5 Vgl. z. B. auch D. Budiius/G.Grünig, Kommunitarismus - eine Reformperspektive?, Berlin 1997.

Modernisierung als Prozeß Von Helmut Klages

I. Die gegenwärtige Situation der Modernisierung

Die gegenwärtige Situation der Modernisierung in Deutschland bietet kein einheitliches Bild: einerseits ist die Mehrheit der Kommunen im Aufbruch; andererseits kommen Bund und Länder gerade eben erst in Bewegung. Dennoch scheint heute bereits die Gesamtdiagnose einer fortschreitenden und großenteils bereits fortgeschrittenen Modernisierungsbewegung in der öffentlichen Verwaltung erlaubt zu sein. Ein Symptom des fortgeschrittenen Zustands der Verwaltungsmodernisierung ist eine in letzter Zeit immer deutlicher wahrnehmbare Verlagerung des Schwerpunkts des Erörterungs- und Klärungsbedarfs auf die Lösung von Problemen, die man noch nicht kannte und auch gar nicht kennen konnte, als man in die Modernisierung einstieg: Es geht um Probleme, die, konventionell ausgedrückt, mit der "Umsetzung" (oder "Implementation") von Konzepten und Modellen der Modernisierung, oder, moderner ausgedrückt, mit dem ,,Änderungsmanagement" zu tun haben. 11. Prozeßcharakter der Modernisierung als neue Erkenntnis

Mein Thema "Modernisierung als Prozeß" geht genau in diese Richtung. Zugrundeliegend ist die bei Beginn der Modernisierungsbewegung noch keinesfalls vorhandene Einsicht, daß "Modernisierung" sehr viel mehr ist als eine bloße Änderung der Blickrichtung, bzw. ein "Paradigmenwechsel", eine Auswechslung von Grundvorstellungen, Konzepten und Modellen oder die Hinwendung zu betriebswirtschaftlichen Instrumenten. Vielmehr erkennen wir heute, daß "Modernisierung" ein ,'prozeß" ist, - der Zeit benötigt - und zwar sehr viel mehr Zeit als man ursprünglich annahm; - der Fragen und Probleme besonderer Art aufwirft, für die in den Modernisierungskonzepten und betriebswirtschaftlichen Instrumentenkästen selbst keine Lösungen vorgesehen sind; - deren Beantwortung und Bewältigung letztlich jedoch für den Erfolg der Modernisierung als ganzer ausschlaggebend ist;

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- mit denen sich also entscheidende ,,Erfolgsfaktoren" der Modernisierung verbinden. Nachstehend werden einige der Fragen und Probleme, um die es geht, präsentiert: 1. Komplexität der Modemisierung

- Das Zielspektrum ist breit und konfliktträchtig und bringt sehr verschiedenartige, teils widersprüchliche Herausforderungen mit sich. Das scheinbar in sich geschlossene Reformleitbild eines "schlanken Staats" mit "Dienstleistungsorientierung" beinhaltet konkret gesehen gleichermaßen die Orientierung an Zielvorgaben der Politik, wie auch Bürger-(Kunden-)orientierung, wie auch Mitarbeiterorientierung, wie auch die Orientierung am Managementziel der Effizienzerhöhung und Leistungssteigerung; daneben aber natürlich auch die Orientierung an bestehenden Verpflichtungen zum gesetzestreuen Aufgabenvollzug.

- Das Hauptproblem dieser nach verschiedenen Richtungen ausgespannten Zielsetzung heißt, schlicht ausgedrückt, alles unter einen Hut zu bekommen. Die Lösung dieses Problems gelingt offensichtlich nur schwer. Es entstehen somit unter der Hand und ggf. unbemerkt Vor- und Nachrangigkeiten (Priorisierungen und Posteriorisierungen), im negativen Grenzfall aber auch regelrechte Ausklammerungen. So z.B wurde die Schnittstelle Verwaltung - Politik von der Modernisierungsentwicklung bislang eher ausgespart. Zwar haben die Räte und Kreistage überwiegend Grundsatzbeschlüsse bezüglich der Modernisierung gefaßt, mit denen sie "grünes Licht" gegeben haben. Ihre aktive und fortdauernde Involvierung in den Reformprozeß ist jedoch bisher überwiegend auffallend gering geblieben. Die Folge ist, daß die ziel- und ergebnisorientierte Steuerung des Verwaltungshandelns überwiegend nicht da beginnt, wo sie eigentlich ansetzen sollte, nämlich beim Entwurf zukunftsgerichteter strategischer Planungen / Zielvorgaben der Politik für die Verwaltung (vgl. oben), sondern daß sich die Verwaltung ihre Ziele selbst gibt. Die Modernisierung ist dann in der Gefahr, zu einem verwaltungsinternen Vorgang zusammenzuschrumpfen. Die Tendenz zu einer eher" introvertierten" Modemisierung läßt sich zweitens auch an der Schnittstelle Verwaltung - Bürger feststellen. Es ist hierbei auch und gerade an die gegenwärtig im Zentrum der Modernisierungsentwicklung liegenden betriebswirtschaJtlichen Instrumente zu denken, die eigentlich durchgängig von der ,,Ergebnisorientierung" und damit vom Bürger- bzw. Kundenbezug geprägt werden sollten. In der bisher noch vorherrschenden Praxis der Ent-

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wicklung von Kennzahlen und der auf ihnen aufbauenden Kosten- und Leistungsrechnung geht es demgegenüber aber ganz überwiegend um reine "Finanzkennzahlen", bei denen diejenigen Produktqualitäten, die für die Bürger / Kunden eine Rolle spielen, nicht oder nur wenig berücksichtigt werden. Dementsprechend wird die Kosten-Leistungsrechnung bisher im allgemeinen noch rein effizienzorientiert, d. h. also eben nicht ergebnis- oder wirkungsorientiert aufgebaut (es sei denn, man denkt beim "Ergebnis" an das "Betriebsergebnis" im betriebswirtschaftlichen Sinne).Ähnlich introvertiert wirken bisher die meisten Produktdefinitionen, soweit bei ihnen nicht u. a. von der Nutzerperspektive, sondern primär von der Tatigkeitsstruktur der Verwaltung her gedacht wird. - Die angestrebte (und anzustrebende) "ganzheitliche" Umsetzung z. B. des "Neuen Steuerungsmodells" ist ein schwieriges Unterfangen: - Es besteht in einem viel stärkeren Maße als ursprünglich erkennbar war, die Notwendigkeit einer Ausdifferenzierung des Modernisierungsprogramms auf der Zeitachse, so daß sich eine -oft verspätet und ad hoc und unter dem Druck äußerer Umstände erfolgende- Unterscheidung von Entwicklungsstufen oder -phasen aufdrängt. - Gleichzeitig besteht aber auch viel stärker als ursprünglich angenommen die Notwendigkeit einer Ausdifferenzierung des Modernisierungsprogramms nach Themenbereichen, die dann jeweils "für sich" behandlungsbedürftig werden. Beispielsweise sind die Budgetierung, die Produktbeschreibung, die Kosten- und Leistungsrechnung und das Controlling heute längst Themenund Arbeitsbereiche "für sich" geworden, zwischen denen oft schon wieder "Welten" liegen. - Weiterhin besteht aber auch viel stärker als ursprünglich vorgesehen die Notwendigkeit einer Ausdifferenzierung des Modernisierungsprogramms nach Teilbereichen der Verwaltung. So z. B. wimmelt es heute von sog. "Pilotprojekten", die in den verschiedensten Teilbereichen der Verwaltung ansetzen, ohne daß die Auswahl- und Abgrenzungsprinzipien, wie auch die Grundsätze eines nachfolgenden Übergangs von der Pilotebene zur Flächendeckung immer eindeutig abgeklärt wären. Es entwickeln sich z. B. aber auch verschiedenartige, oft für sich stehende und nur schwach koordinierte Segmente eines "Kontraktmanagements" zwischen Politik und Verwaltungsleitung, zwischen Verwaltungsleitung und mittlerem Management; zwischen mittlerem Management und unterem Management wie auch zwischen unterem Management und Mitarbeitern, und zwar jeweils mit speziellen Ansätzen und Konzepten, zwischen denen oft nur entfernte Ähnlichkeiten bestehen.

Die hiermit in Verbindung stehenden Probleme lassen sich stichwortartig wie folgt charakterisieren: ~

Entstehung von Schnittstellen und damit verbundenen Spannungsfeldern mit der Sekundärfolge der Entstehung von Steuerungs- und Koordinierungsaufgaben, die vielfach nicht optimal bewältigt werden können, so

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daß die Modernisierung intransparent wird, in Teilbereiche auseinanderfällt und ihre klare Gesamtrichtung einbüßt. Verselbständigung von Konzeptelementen (z. B. Entstehung einer hochperfekten Kosten-Leistungsrechnung, die aber relativ isoliert und folgenlos in der Luft hängt); (Bei Pilotprojekten:) Mangelnder Lerntransfer auf nachfolgende Projekte. 2. Abhängigkeit von freiwilligem Engagement und Änderungsbereitschaft bei Führungskräften und Mitarbeitern

Die Modernisierung erfordert Einsatz von zusätzlicher Energie, die durch die dienstliche Verpflichtung des Personals oder auch durch die Engagierung von Beratungsfirmen allein nicht beschaffbar ist. Es bedarf hierzu der ,,Akzeptanz" und der ,,Motivation" bei Führungskräften und Mitarbeitern, oder, wie man manchmal - durchaus richtig - sagt, einer "Revolution in den Köpfen ", die aber keineswegs einfach zu bewerkstelligen ist. Es seien hierzu drei sozialspychologische Basisthesen vorgetragen: - Nur 10 - 20 % der Mitarbeiter / innen sind spontan innovationsbereit; 10 - 20 % sind nicht gewinnbar; die übrigen 60 - 80 % sind nach der Erkenntnis erfahrener Berater "Wetterfahnen", die "motiviert" werden müssen! Es besteht bei dieser Gruppe jedoch eine "natürliche" Neigung zum Verharren im bisherigen Zustand. Bei mangelnder Fähigkeit zum Umgang mit dieser Neigung können Reformwiderstände entstehen, die alles zum Scheitern bringen. - Der AkzeptanzbedaJf der Modernisierung ist nicht allein durch die Schaffung günstiger Anfangsbedingungen ("Begeisterungswelle"; "Aufbruchstimmung") zu decken: "Kritische Punkte", an denen eine einmal aufgebaute Akzeptanz wieder fraglich wird, entstehen vielmehr immer wieder von neuem. Eine anfängliche Begeisterungswelle erzeugt zusammen mit den hochfliegenden Erwartungen, die sie normalerweise begleiten, ihre eigenen Zusammenbruchsbedingungen, wenn die Aufgabe eines ,,Erwartungsmanagements" vernachlässigt wird. - Die richtige Verknüpfung von "top down" und "bottom up", d. h. also die Verwirklichung des oft berufenen "Gegenstromprinzips" macht Schwierigkeiten.

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Bei manchen läuft es noch wie folgt:

PIE EINSAHEN ARTISTEN AUF PEH PRAHTSEIL Prof. Dr. Helmut Klag... 1994

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Bei anderen läuft es dem gegenüber so:

Pro', Dr. HI!I.ut klages. 1994

Beides ist natürlich gefahrlich und minimiert die Erfolgswahrscheinlichkeit der Modemisierung! IIl. Eine erschwerende Rahmenbedingung

Im Bereich Führung und Personalmanagement gibt es nach wie vor - auch bei der Mehrzahl der Verwaltungen, die im Modemisierungsprozeß sind - eine traditionelle Schwachstelle der Verwaltung. Die in der Theorie einleuchtende Verknüpfung von Modemisierung, Führung und Personalentwicklung wurde in der Praxis bisher nur unzureichend als eine wichtige Erfolgsbedingung des Modernisierungsprozesses erkannt - selbst noch bei einem größeren Teil der Teilnehmer des 3. Speyerer Qualitätswettbewerbs, die bekanntlich eine Bestenauslese repräsentieren. III. Perspektivische Erfolgsfaktoren der Prozeßgestaltung der Modernisierung

- An die Stelle ausschließlich zielorientierter müssen ziel- und prozeßorientierte Leitbilder der Reform treten! - Längerfristiges. entwicklungsstrategisches Denken muß stärker Platz greifen! (Scheinbare Widersprüche zwischen Modemisierung und Haushaltskonsolidierung heben sich dann weitgehend von selbst auf!)

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- Das Veränderungsmanagement muß einen höheren Stellenwert erhalten! - Der innere Zusammenhang der verschiedenen Modernisierungselemente muß deutlicher gesehen und besser gesichert werden! - Die" lernfähige Organisation" muß von einer Metapher zur Realität werden! Zu letzter Forderung noch einige erläuternde Worte: Meines Erachtens ist es vor allem wichtig, zwei Seiten von "Lernfähigkeit" zu unterscheiden: Lernfähig sein heißt zwingenderweise erstens ohne inneren Widerstand "innovativ" sein können, alte Bahnen angstfrei zugunsten neuer Bahnen verlassen können, um von der eingefahrenen Routine abweichende neue Modelle, Muster und Vorbilder zu nutzen. Lernfähig sein heißt aber zweitens auch: Nach dem entschlossenen Einstieg ins Neue und Unbekannte Erfahrungen, die man mit Problemen und eigenen Erfolgen und Fehlern bei der Problemlösung macht, produktiv auswerten können, um auf diese Weise immer besser und leichter voranschreiten zu können. Daß beide Seiten der Lernfähigkeit bisher noch erstaunlich unterentwickelt sind, stellt wahrscheinlich den gewichtigsten Kritikpunkt dar, welcher der Modernisierungsbewegung gegenwärtig entgegengehalten werden kann. Was sind die Voraussetzungen, um diese "zweite Seite" von Lernfähigkeit zu entwickeln? Man braucht hierzu erstens Managementfähigkeiten, so insbesondere die Fähigkeit zum Aufbau eines leistungsfähigen "Prozeßcontrolling", das einem fortwährend anzeigt, wo man steht, in wieweit man noch "auf Kurs" ist, wo Abweichungen vom Gewollten auftreten und was die Ursachen hierfür sind; man braucht hierzu zweitens aber auch ,,moralische" Fähigkeiten, nämlich die Fähigkeit, sich und anderen Fehler einzugestehen, wie auch die Fähigkeit, sich dabei nicht in gegenseitige Schuldzuweisungen zu verstricken und sich die Motivation kaputtzumachen. Es erweist sich hier am Ende nochmals, daß das Thema "Modernisierung als Prozeß" sehr eng mit dem Stichwort "Änderungsmanagement" zusammenhängt. Gleichzeitig erweist sich jedoch auch, daß dieses Thema mehr beinhaltet als nur dies, nämlich auch die Frage nach den Eigenschaften und den Quellen der Kraft, welche die Abkehr vom Gewohnten und Eingeschliffenen und der Aufbau neuer, produktiverer Gewohnheiten und Sicherheiten erfordert. Wenn die Modernisierung "nachhaltig" sein will, wird sie beiden Herausforderungen gerecht werden müssen!

Modernisierungsfreude gegen Frust und Widerstand Von Rudolf Fisch I. Es kommt immer auf die Person an

Die Überschrift legt nahe, den Blick auf die Individuen als Träger des Modernisierungsprozesses zu lenken, genauer: auf ihre Mentalitäten und ihre Gefühlslagen. Angesichts der Sachdebatten um New Public Management, neue Steuerungsmodelle und deren einzelne Instrumente wie Controlling ist es reizvoll, auch einmal den Blick auf die menschliche Seite des Wandels zu lenken. In der offiziellen Rhetorik sind Träger des Wandels zwar die Verwaltungen, doch die Vollzieher des Wandels sind primär Personen in den Administrationen. Immer wenn etwas bewegt werden soll, kommt es auf die Person an. Wenn auch das Thema zu einer individualistischen Betrachtung verführt, darf eines nicht übersehen werden: Achtet man nur auf das Handeln der Modernisierer und auf ihre Gefühlslagen, verstellt man allzu leicht den Blick auf deren Handlungsbedingungen. Der gute Wille und das Können des einzelnen Modernisierers sind gegen die herrschenden Handlungsbedingungen nur ein ganz schwacher EinfIußfaktor. Solche Einsicht frustriert. Sie frustriert so lange, bis es einzelnen Modernisierern gelingt, die notwendigen Strukturveränderungen herbeizuführen. Das dazu notwendige Ausmaß an Unterstützung ist heute nicht aus der Verwaltung selbst zu erhalten. Es wäre auch geradezu widersinnig, dies zu erwarten. Der Anstoß zur Veränderung und der notwendige Nachdruck mußte, nach allem, was in den letzten drei Jahrzehnten an Nichterledigen I in Staat und Verwaltung erfolgte, in der Hauptsache von außen kommen. In dem Thema ,,Modernisierungsfreude gegen Frust und Widerstand" steckt die Botschaft: "Trotzdem!" Und es gibt große Vorbilder von Modernisierern, die Erfolg hatten, weil die Konstellationen eine situationale Günstigkeit für den Wandel bereit hielten. Der Modernisierer war dann der Katalysator für einsetzende, sich selbst entwickelnde und sich selbst steuernde Prozesse: Zu denken ist hierbei zum Beispiel an politische Führer wie Michael Gorbatschow, der sehr viel bewegen konnte. Sicher, "die Revolution frißt ihre Kinder", so die These von Jean Paul Sartre, und auch Gorbatschow konnte nicht mehr viel gestalten, nachdem die ReI Vgl. Zum Grundsätzlichen P. Bacharach & M. Baratz (1963), Decisions and nondecisions: an analytical framework, APSR, 57, 632 - 642.

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volution begonnen hatte. Einer, der es ebenfalls versucht hat, aber bei dem die geschichtliche Konstellation nicht günstig war, ist Alexander Dubcek, der die Revolution von 1968 in Prag zur Veränderung des sozialistischen Systems nutzen wollte, dessen Reformen aber an den Rahmenbedingungen scheiterten. Der wohl gelingende Umbau der vormaligen Bundesbahn und Bundespost, aber auch der Krankenversicherung AOK zeigen, daß Modernisierung in diesem Land möglich ist, wenn der deutliche politische Wille dahinter steht, ein äußerer Druck gegeben und Geld dafür vorhanden ist. Geld wird beim Wandel benötigt, vor allem um die unumgänglichen Probleme im Personalbereich zu ,lösen'. Nach vorliegenden Erfahrungen von Beratungsfirmen sollen 75 Prozent aller Veränderungsprojekte nicht den Erfolg haben, der erwartet wurde. Inzwischen hat es sich bei Organisationsfachleuten herumgesprochen: Sollen Veränderungsprozesse, auch im Sinne der Anpassung verstanden, erfolgreich verlaufen, muß die ,menschliche Seite' der Veränderungsprozesse gesehen und mit Bedacht unterstützt werden. Der Einsatz sogenannter betriebswirtschaftlicher Instrumente des Wandels müssen zur ,menschlichen Seite' der jeweiligen Organisation passen. Weit verbreitet ist die These, Wandel begänne in den Köpfen; Aufklärung, Umorientierung und Lernen täten Not. Natürlich benötigen wir ein neues Verständnis von Verwalten und Verwaltung, um den gewandelten Anforderungen von innen und außen heute und morgen zu genügen. Anderes Denken und neue Einsichten allein reichen aber offensichtlich nicht aus. Bei der ,menschlichen Seite' ist immer an die Trias ,Kopf, Herz und Hand' zu denken. 11. Wie steht es um die Herzen beim Wandel? - Veränderungsprozesse lösen viele Gefühle aus. Die einen freuen sich, weil sich jetzt endlich etwas bewegt und verbessert wird, was schon lange anstand. Andere, die sich im und mit dem Bisherigen wohl fühlen, empfinden eher Sorge, Ärger und Frust. Frustrationen sind die Grundlage für eine aktive Behinderung von Änderungen, nicht unbedingt, weil man gegen das Neue an sich ist, sondern weil man etwas gegen die Änderungen und die Änderer hat, die ein fein gesponnenes Netz von Arrangements zerstören. - Veränderungen mitzumachen, braucht Mut. Am wichtigsten ist der Mut, Unsicherheit und damit reduzierte Kontrolle im eigenen Umfeld auszuhalten. Die Furcht vor Kontrollverlust ist, insbesondere bei den Vorgesetzten, ein wesentliches, gefühlsmäßiges Merkmal der ,menschlichen Seite' des Wandels. Die Furcht vor Kontrollverlust ist völlig resistent gegen Überredungsstrategien, wenn sie sich an den Verstand und die Einsicht wenden. - Furcht, ausgelöst durch Veränderungsprozesse, kann jedoch durch begleitende Maßnahmen reduziert werden, wenn bestimmte Mittel und Medien des sogenannten Prozeßmanagements eingesetzt werden: Begleitung, Beratung, Aufklä-

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rung und fortlaufend Infonnation zum Stand der Veränderung, Supervision, Belohnung für Veränderungen 2 . - Furcht kann sich in Wonnegrausen wandeln, wenn der Veränderung mit freudigen Erwartungen und Hoffnungen entgegen gesehen wird. Doch dieses kribbelnde Gefühl werden nur diejenigen empfinden können, die einmal einen Veränderungsprozeß mit kalkulierbaren Risiken miterlebt haben. Um ein Bild zu gebrauchen: Veränderungsprozesse können Kolumbusgefühle auslösen. Seit Wochen ist man auf hoher See und sieht noch kein Land. Die Mannschaft murrt vernehmlich. Und dennoch muß weitergesegelt werden. Der Lohn wird ein wunderbarer sein. Dies aber muß täglich vennittelt werden. - Überdies muß man mit Paradoxien leben: Auf der einen Seite gibt es den äußeren Zwang zum Wandel, auf der anderen Seite haben die Beschäftigten das Bedürfnis nach Stabilität. Es gibt in Behörden den Wunsch nach klarer und straffer Führung und den deutlich artikulierten Wunsch nach Selbstgestaltung der Arbeit und Eigenverantwortung seitens der Mitarbeiter. Derartige Gegensätze scheinen mit eine Ursache dafür zu sein, daß ganz einfache Modernisierungsansätze in der Praxis nicht funktionieren. Nur wer mit solchen und anderen Paradoxien umgehen kann, wird weiterkommen. Dazu muß man sich auf eine Verwaltungskultur einlassen können, die gespalten ist. - Es gilt als Faustregel, daß in großen Arbeitseinheiten ungefähr 10 Prozent der Mitglieder 90 Prozent des Ertrags erbringen. Wenn in diese 10 Prozent ein Funke der Modernisierungsfreude überspringt - die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß es geschieht, wenn man den Wandel professionell anlegt - ist viel gewonnen, erst recht, wenn die übrigen 90 Prozent den intendierten Wandel nicht aktiv behindern. IH. Zum Modernisierer

Wer den Wandel will und ihn einleitet, muß sich sehr anstrengen, muß viel investieren, braucht Freunde, auch mächtige Freunde, muß einen langen Atem haben und darf nicht dünnhäutig sein. Ein Verständnis für die Mikropolitik in Organisationen ist unerläßlich genauso wie eine durch nichts zu brechende Freude am Gestalten. Ich halte es mit dem in den letzten Jahren arg gescholtenen Edzard Reuter: ,,Nur die Fähigkeit und der Mut, sich den eigenen Kopf zu zerbrechen, Bestehendes in Frage zu stellen und mit Standhaftigkeit und Würde äußerem Druck zu widerstehen, kann den Eifer des Beharrens überwinden und neue Entwicklungen schaffen." Ein Unternehmensberater3 hat im vergangenen Jahr eine Anzeige veröffentlicht, die die Stimmung unter Modernisierern gut wiedergibt: 2 Vgl. M. Mary (1996), Change-Management als Chance. Wandel ist die einzige Konstante, Zürich: Orell Füssli. 3 RaineT C. Wagner, SIPA Saarbrücken.

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"Wir wollen mehr. Wir wollen Menschen, die Neuland wagen, statt den alten Acker zu vermessen. Die sich an Problemen begeistern, statt Werkzeuge zu wissen. Die der Zufriedenheit mißtrauen. Wir suchen Mutige, die das weiße Papier wie auch den leeren Bildschirm als Abenteuer wieder neu entdecken. Die sehen lernen durch Handeln, die denken können, auch wenn der Strom ausfällt. Zwischen Reden und Tun liegt das Meer."

Manchmal ist die Aufgabe zu groß für einen einzelnen. Der Münchener Ordinarius für Betriebswirtschaft E. Witte, der selbst Innovationen initiiert und begleitet hat, spricht von einern Machtpromotor und einem Fachpromotor, die notwendig seien, um voran zu kommen4 . Jüngst gesellt sich die Einsicht hinzu, daß es noch eines Prozeßpromotors bedarf, zu deutsch eines Kümmerers, der sich fortlaufend um die vielen Feinheiten der Umsetzung bemüht.

IV. Die andere Seite, die BetrotTenen An dieser Stelle ein Blick auf die Betroffenen, auf deren Kooperation der Modernisierer ja wohl angewiesen ist: Die Voraussetzungen für Veränderungs prozesse in Administrationen sind, in der Sicht der Betroffenen, zu keiner Zeit günstig. Modernisierern mit Lust arn Gestalten kommt nur von wenigen Sympathie entgegen. Denn Modernisierer stören, wie eingangs bereits gesagt, in der Regel den geregelten Betrieb und die Arrangements. In einem allgemeinen Klima geringer Arbeitsfreude, wie es für Administrationen charakteristisch zu sein scheint5 , werden sich die Menschen nur bei guten Aussichten bewegen lassen, neben ihrer normalen Arbeit die Mühen eines Wandels auf sich zu nehmen. Dieses einfache, menschliche Kalkül wird unterstützt durch repräsentative Untersuchungsergebnisse von Opaschowski6 . Danach ist die Arbeitszufriedenheit von Arbeitnehmern heutzutage durch fünf Hauptmerkmale bestimmt:

4 E. Witte, J. Hauschildt & O. Grün (Hrsg.) (1988), Innovative Entscheidungsprozesse. Die Ergebnisse des Projekts "Columbus", Tübingen: Mohr. 5 Das Hamburger BAT-Institut veröffentlichte 1996 eine repräsentative Umfragestudie an 1500 Berufstätigen, bei der unter anderem herauskam: "Nur knapp ein Drittel der Beschäftigten in Deutschland kann sich bei der Arbeit selbstverwirklichen. Freude an ihrem Tun empfinden fast drei Viertel (72 %) erst nach Feierabend. Nur etwa jeder dritte Arbeitnehmer (37 %) meint, im Beruf Ideen durchsetzen zu können. Dagegen sind 51 % der Ansicht, ihre Ideen erst nach der Arbeit realisieren zu können. Das trifft am meisten auf Beamte (63 %), am wenigsten auf leitende Angestellte (48 %) zu" (siehe H. W Opaschowski (1997). Deutschland 2010: Wie wir morgen leben; Voraussagen der Wissenschaft zu Zukunft. Hamburg: HB). Nach repräsentativen Untersuchungen von Infratest Burke (München) aus dem Jahr 1996 sind Mitarbeiter im öffentlichen Dienst zu etwa 47 % zufrieden, der größere Rest sind eher distanzierte Mitarbeiter. 6 H. W Opaschowski (1989), Wie arbeiten wir nach dem Jahr 2000? (S. 25 - 27), Hamburg: B-A-T Freizeit-Forschungsinstitut.

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- Faktor Spaß - Faktor Geld - Faktor Sinn - Faktor Zeit - Faktor Status. Alle fünf Faktoren sind auf ein Ziel gerichtet: Mehr vom (Arbeits)Leben zu haben. Wenn ein Modernisierer die besondere Bereitschaft von Beamten gewinnen wilC, muß er bewirken, daß ihnen Arbeitstätigkeiten übertragen werden, die mehr Spaß machen. Immerhin 58 % der Beamten haben sich in der repräsentativen Befragung in diesem Sinne geäußert. Höhere Beamte sind an zwei Sachverhalten gleichermaßen interessiert: Sie erwarten für sich eine selbständige, verantwortungsvolle Tätigkeit (50%) und gleichzeitig ein höheres Einkommen (49%). Modernisierern, die mit solchen Perspektive aufwarten können, dürfte durchgängig Sympathie entgegengebracht werden. Es geht kein Weg daran vorbei: eine wirkliche Modernisierung der Administration ist ohne Aussicht auf Belohnungen nicht zu haben. Warum nicht? Jetzt muß etwas zum dritten Aspekt der Trias ,Denken, Fühlen, Handeln', gesagt werden, zum Handeln.

V. Veränderungen des Handeins Menschliches Verhalten dauerhaft zu verändern ist aufwendig, mühevoll, unbequem, lästig und benötigt in der Regel längere Zeit. Wir selbst ändern uns nur, wenn wir unbedingt müssen, wenn keine andere Wahl mehr besteht. Das ist an sich rationales Handeln. Bei uns selbst sehen wir den Widerstand gegen Änderungen als vernünftig an. Menschen tendieren dahin, mit möglichst wenig Aufwand einen optimalen Ertrag zu erwirtschaften. Denken wir an einen in Ehren ergrauten Verwaltungsbeamten des gehobenen Dienstes: Wieviel Mühen hat es doch einst gekostet, ein Sachgebiet und die Aufgaben darin kennenzulernen und letztendlich zu beherrschen, Routinen zu entwickeln und erfolgreich einzusetzen! Das soll jetzt alles noch einmal von vorn beginnen, um neues Wissen, neue Routinen zu erwerben? Geht es nicht auch so weiter wie bisher? Jetzt soll im Rahmen eines sogenannten kontinuierlichen Verbesserungsprozesses eine Vorgangsbearbeitung geändert werden. Dies weckt beim Sachbearbeiter zunächst den Verdacht, es ginge bei der Veränderung vor allem darum, es einmal anders herum zu machen. Warum denn auch? ,,Ja, man 7 Vgl. dazu H. Klages (1997). Motivierung von Mitarbeitern durch Anreize? Ein Beitrag zum Thema ,Humans Resource Management in der öffentlichen Verwaltung'. In K. Lüder (Hrsg.), Staat und Verwaltung. Fünfzig Jahre Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (S. 455 -476). Berlin: Duncker & Humblot. H. Klages & T. Gensicke (1997). Mit immateriellen Anreizen motovieren. Die innovative Verwaltung, Heft 5 (S. 30 - 33).

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kann es tun, man kann es aber auch lassen" - so lautet eine Standardantwort auf ein solches Ansinnen. An der Optimierung von Arbeitsabläufen an sich haben nur wenige ein besonderes Interesse, ausgenommen die für die Organisation Verantwortlichen. Und dann die typischen Sinnfragen: War denn bisher alles schlecht, was gemacht wurde? War alles verkehrt, daß sich nun plötzlich alles ändern soll? Muß man denn an der Spitze des Fortschritts marschieren? Gibt es nicht alt- und langbewährte Prinzipien und Formen des Verwaltungshandeins? Nur ruhig Blut, es wird schon nicht so heiß gegessen wie es gekocht wurde. Es geht doch auch so. Rupert Lay, Jesuitenpater und Management-Trainer drückt es bildhaft so aus: "Der Mensch lernt nicht gern, denn die Psyche hat ein Recht, im kuscheligen Nest ihrer konservierenden Selbstbewahrung nicht unnötig irritiert zu werden." Die Schlußfolgerung aus dem Gesagten im Hinblick auf das Handeln ist: Neues Handeln zu lernen muß belohnt werden, wenn dauerhafte Verhaltensänderungen erwünscht sind. Ein ebenso wirksames Lernprinzip ist die Bestrafung des falschen Verhaltens. In Verwaltungen sind einer Bestrafung bei nicht adäquatem Modernisierungsverhalten sehr enge Grenzen gesetzt. Aber es gibt einen Ausweg: Eine inhärente Bestrafung unerwünschten Verhaltens tritt dann auf, wenn deutlich wird, daß das Beharren im Bisherigen Schaden brächte oder spürbare Nachteile für die Akteure nach sich zöge. Die handlungsändernde Wirkung von Lohn und Strafe hat eher mit Gefühlen, denn mit dem Verstand zu tun. Appelle an Einsicht, Überredungsversuche, kommunikative Veranstaltungen und ähnliche Unternehmungen können durchaus zur Neuorientierung des Handeins herangezogen werden, sofern die Beteiligten bereits guten Willens sind. Sehr viel guter Wille seitens der Betroffenen ist notwendig für die im Rahmen des Wandels allenthalben propagierte sogenannte Personalentwicklung oder Führungskräfteentwicklung 8 . Derartige rhetorische Wortneuschöpfungen verdecken eher den Ernst der Situation, als daß sie das Bewußtsein für die Notwendigkeiten der Lage schärfen: In der staatlichen Administration muß schlicht neu gelernt und in vielen Tätigkeitsfeldern umgelernt werden. Die geforderten Verhaltensänderungen sind gravierender Natur. Im Ergebnis heißt das: Information allein reicht nicht aus, um nachhaltig einen Wandel zu initiieren, weder auf der individuellen, noch auf der institutionellen Ebene. Die Aussage mag kontraintuitiv sein. Der Eindruck des Kontraintuitiven ändert nun einmal nichts an den fundamentalen Lerngesetzen, die hinter der außerordentlichen Wirkung von Belohnung und Bestrafung für Verhaltensänderungen stehen. Für den Modernisierer bedeutet das: Er sollte unter anderem auch Belohnungsund Bestrafungsmacht bekommen, um Erfolg zu haben. Dann ist Modernisieren, trotz allem Widerstand und Frust, eine Freude und eine Lust! 8 Für eine kritische Auseinandersetzung siehe (Kapitel I), Stuttgart: Enke.

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Neuberger (1992), Personalentwicklung

Alles geht nur mit aktiver Verwaltungspolitik und reformierter Staatstätigkeit Von Carl Böhret

I. Hintergründe

Die Zukunft der öffentlichen Verwaltung liegt wieder einmal in der anpassenden Veränderung. Allerdings: Die Umgebungssysteme befinden sich im epochalen Wandel (Globalisierung und Standortdebatte, Ausstieg aus dem Industrialismus, Ressourcenfrage, Übergangsgesellschaft etc.), und das drückt auf Staatsreform und administrative Modernisierung am Ende des 20. Jahrhunderts stärker als noch vor 25 Jahren. Wir sind nicht dagegen gefeit, zu einem "neuen Entwicklungsland" zu werden. In solcher Lage muß der Staat wohl eine helfende oder gar steuernde Rolle annehmen, kann sich seinerseits dem Modernisierungssog nicht entziehen. Zumindest dem Augenschein nach stellt sich der öffentliche Sektor dieser Herausforderung aus der Zukunft. Das Modernisierungsgeschäft am Ende der 90er Jahre scheint sich - aus wissenschaftlicher Sicht - zunehmend auf forschungs gestützte Hilfen beim Praxistransfer und auf vielfältige Formen der Beratung bis hin zum "Coaching" zu konzentrieren. Auch mittels neu eingerichteter Reform- und Modernisierungskommissionen werden Antriebskräfte generiert. Die zweite Modernisierungskonjunktur (seit der ersten von 1970) hat durchaus den Vorteil, daß wir auf einige Erfahrungen, Enttäuschungen, Erklärungsversuche und vorsichtige Prognosen zurückgreifen können. Wie damals geht es auch jetzt (zusammenhängend) um Reform der Staatstätigkeit und Verwaltungsmodernisierung. Zugleich gibt es einige (gravierende) Unterschiede, ziemlich andere "Druckverhältnisse" als damals, und damit zusätzliche Restriktionen; nämlich: - Neue Knappheiten, insbes. an finanziellen Ressourcen: Daher kommt die "Mikroökonomisierung, das cut-back-Management, aber auch Mangel an Orientierung; daher kommen Verdrossenheiten. - Externe, geradezu epochale Herausforderungen aus dem allmählichen Übergang in die transindustrielle Gesellschaft (mit "Ausstieg aus dem Industrialismus").

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Ein gespaltener; jedenfalls geschwächter Staat im Spätpluralismus zwischen inkrementalem Verhandlungsstaat und beanspruchter Besonderheit, zwischen hoheitlicher und ökonomisierender Kultur: "Adler" und / oder ,,zahl". 11. Reform der Staatstätigkeit / Verwaltungsmodernisierung

1. Die Rolle des funktionalen Staates

Die neuen Druckverhältnisse (insbes. Weiterentwicklung der hochentwickelten, weltgeöffneten Gesellschaft im Globalisierungs-Sog und Beseitigung nationaler Entwicklungsstaus) drängen den Staat l zumindest temporär in die funktionale Rolle der moderaten Entwicklungssteuerung, was auch uno actu eine Effektuierung seiner Verwaltung erzwingt. Dieser funktionale Staat wird skizziert: als sich zurücknehmender Staat, aber als ein deswegen handlungsfähiger und konzeptioneller (insoweit "stärkerer") Staat, der sich zunehmend auch antizyklisch betätigen kann, als kommunizierender und aktivierender Staat (strategische Allianzen, Innovationsbündnisse, transbürokratische Helfer), - als verwaltungspolitisch agierender Staat. Daraus ergeben sich als Handlungsfelder: Umbau der Staatsaufgaben, Optimierung des Rechts, Effektuierung der Verwaltung, Personalmobilisierung und politische Verwaltungsführung. Sie sind gleichzeitig und zusammenhängend zu verfolgen (Synergie-Effekte im Reform-"Pentagrarnm").

2. FünfHandlungsfelder a) Staatsaufgaben: vier Theoreme Loslassen und abgeben, um ungebundener und potenter in zukunfts bedeutsamen Gebieten steuern zu können. - Übernehmen (auf Zeit), wenn bestimmte Aufgaben nicht (hinreichend) erledigt werden und deshalb Benachteiligungen entstehen. Oder wenn Risiken (Basis: schwache Signale) unvertretbar hoch erscheinen. 1 "Staat" wird hier vorrangig in seiner institutionellen und handlungsorientierten Rolle und weniger in seiner nonnativen, wesenhaften Besonderheit (,,staatlichkeit") begriffen. Erkenntnisleitend ist vor allem die jeweilige Ausprägung und der Tatigkeitsumfang der regelgebundenen, politisch-administrativen Willensbildungs- und Handlungsinstitutionen ("Regierungssystem"). Die beanspruchten und I oder realisierten Handlungsspielräume sind allerdings auch grob paradigmatisch definiert, wodurch eine nonnative Komponente indirekt mitwirkt.

Aktive Verwaltungspolitik und reformierte Staatstätigkeit

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Vorhalten und fördern von Grund- und Sicherungsfunktionen "im eigenen Land". Also von Zukunftsstrukturen, administrativem Können und technologischer und soziokultureller Wissensvermittlung zur Humanpotential-Bildung für die langfristige Standortsicherung. - Zurückholen und "entprivatisieren", wenn und solange Aufgaben außerstaatlich nicht hinreichend erfüllt werden.

b) Steuerung durch weniger Recht - Allmähliche Minimierung der teutonischen Regelungskulturen (Mißtrauen). - Reduzierung des inhärenten Drangs zur Verrechtlichung (auch durch Verwaltungsvorschriften / Standards). - Anpeilung einer reduzierten Normenproduktion (nur rahmen- und schwerpunktsetzend: wesentlich). - Gesetze auf Zeit, Vorabkontrolle von Regelungsteilen (Praxistests), BewährungspTÜfungen. - Gesetzesfolgenabschätzung für Regelungsalternativen, Belastungs- und NotwendigkeitspTÜfung.

c) Effektuierung der Verwaltung Von alerter Organisation über effiziente Verfahren bis zu Budgetierung und Controlling. Effektuierung bedeutet allerdings keine Auflösung in Ökonomie, sondern weiterhin ein balanciertes Verhältnis von hoheitlichen und verstärkt dienstleistenden Funktionen (sowohl "Adler" als auch ,,zahl").

d) Personalmobilisierung Administratives Personal ist für zukünftige Herausforderungen (breit) zu qualifizieren und flexibel einzusetzen (Personalentwicklung für fachliche, räumliche und mentale Mobilität; interministerielle Pools usw.).

e) Politische Verwaltungsführung mit aktiver Verwaltungspolitik für funktionale Kooperation von Politik und Verwaltung Es handelt sich dabei um die differenzierte Einwirkung auf administrative Handlungsweisen und die Binnenstrukturen mit der Absicht, das Primat der Politik aufrechtzuerhalten oder zuTÜckzugewinnen. Aber zugleich - angesichts des gesell-

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schaftlichen Wandels und der Globalisierung - auch die Funktionsfähigkeit der Verwaltung und ihre Leistungskraft zu steigern. Politik und Verwaltung müssen noch enger zusammenwirken, wobei die Verwaltung die Programmierungs-, Controlling- und Interventionsmacht der Politik anerkennt. Dafür überläßt die Politik der Verwaltung das Vollzugsgeschäft sowie erbetene Vorbereitungshilfen; sie übernimmt außerdem die "Verwaltungspflege" (Minimalschutz der Verwaltung gegen ungerechtfertigte Dauerangriffe). III. Spannungsverhältnisse

Allerdings: Ganz so einfach ist das alles in praxi ja nicht, da dominieren viele Spannungsverhältnisse und einige Widerstände. 1. Befunde

Es passiert derzeit viel auf allen Verwaltungsebenen. Überall sehen wir quirlige Modernisierungsbegeisterte am Werk. Es gibt sogar eine Art Wettbewerb der Ideen und Projekte, man lernt voneinander (gelegentlich auch negativ: was soll verhindert werden; oder: welche Grausamkeiten haben andere?). Bei genauerem Hinsehen wird durchaus auch Zwiespältiges deutlich: - Zum einen gibt es eine große Menge mehr oder weniger wahrgenommener Papiere, Gutachten, Verkündigungen, Darstellungsveranstaltungen. - Zum anderen sind die wirklich erfolgreichen und zu verbreitenden Pilotprojekte und binnenorganisatorischen wie instrumentellen Effektuierungen zahlenmäßig noch immer gering. Und die wenigen Brutalo-Versuche (z. B. Abschaffung von Regierungspräsidien oder Personalwirtschaftskonzept / Personal-Budgetierung) haben noch keine Bewährungszeiten vorzuweisen.

Die bisherigen Auswirkungen stimmen also keineswegs nur euphorisch. Der "outcome" - also die tatsächliche Verwirklichung von Reformideen und Modernisierung - ist selten gesichert, insbes. dort nicht, wo eine Veränderung nur wegen des aktuellen Sparzwangs zustande kam oder "angedacht" wird. Auch kann HyperAktivität sich nur als sterile Aufgeregtheit entpuppen. Das (politisch) Gewollte und das administrativ Verwirklichte klaffen noch merklich auseinander. Politische Entscheidungen werden oft schon "für" eine verwirklichte Veränderung gehalten, dabei kreisen sie oft nur im bürokratischen Orbit. Beispiele: Rechtsvereinfachung, Standardabsenkung, Aufgabenkritik, durchgehende Budgetierung, Controlling, Personalrnobilitätskonzept, Führungsfunktionen auf Zeit.

Aktive Verwaltungspolitik und reformierte Staatstätigkeit

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2. Begründungen

Warum klaffen zwischen "input" und "outcome" so große Lücken? - Das spannungsreiche Verhältnis von Politik und Verwaltung muß aus der generellen Reformabsicht heraus geregelt oder - besser - vereinbart werden. Aber die politische Führung ist dabei oft nicht ganz überzeugend, wenig beständig, weswegen die Reformen von Staatstätigkeit immer wieder hängen bleiben. Die Politik muß aber gewollte oder erzwungene Veränderungen ganz ernst nehmen und dies auch vermitteln, d. h. Aufgabenumbau, Rechtsoptimierung und Verfahrenseffektuierung vorbildhaft fördern. Schon Aristoteles wußte: "... Wo das gute Beispiel fehlt, fehlt auch die rechte Nachahmung, das gilt besonders für den Verwalter. Wo daher die Herren nicht sorgsam sind, können es auch die Verwalter nicht sein." Erfreulicherweise gibt es auch im staatlichen Bereich hoffnungsvolle Beispiele und vielversprechende Versuche, über die zu Recht berichtet wird - auch hier in Speyer. - Freilich, die für reformierte Staatstätigkeit uno actu zu modernisierende Verwaltung entwickelt gegenüber solchen Versuchen immer wieder die ihr "eigentümlichen" Vorbehalte und Widerstände, die es zu verstehen und - zusammen mit der Verwaltung - zu minimieren gilt. Da herrscht oft kein böser Wille, sondern er fehlt einfach nur. Viele Verwaltungsangehörige erkennen in vielen Modernisierungsvorschlägen nämlich keinen sie berührenden Nutzen, meist auch keinen für ihre Organisation. Thre persönlichen Vorteile liegen in der Orbit-Taktik oder im erfahrenen Abwarten in guter Deckung: auch diese Welle wird vorübergehen. Da wird zugleich verständlich, warum immer mehr Bedienstete die modernistischen Begriffe verwenden, aber deren Umsetzung dennoch kaum gelingt. Es ist schließlich noch immer "viel Luft" für zeitverbrauchende, hemmende Beteiligungsverfahren vorhanden. Ich habe viele dieser zirkulären Prozesse miterlebt. Beispiel: Eine in der Sache unbedeutende (und überdies kostenneutrale) Zustimmungsbitte benötigte 20 Tage Durchlauf; es waren 14 (z.T. höchstrangige) Mitzeichner beteiligt. Rechnen wir mal aus, welche internen Spareffekte da zu erreichen wären! Sehr störend ist auch die bürokratische Basiskrankheit: die chronische Bendenkeritis und die damit einhergehende Beteiligungsempfindlichkeit. Da handelt eine nachgeordnete Behörde gegen die Anweisung eines Fachressorts unter Verweis auf rechtliche Bedenken. Da wollen die einen nicht zulassen, daß die anderen einen Zuständigkeitsgewinn erzielen. Wir erkennen: politisch Gewolltes wird oft deshalb nicht verwirklicht, weil es als ein Weg ins Ungewisse erscheint, die Bewahrer sich letztlich im Vorteil gegenüber den Innovatoren befinden (Machiavelli hat dies schon 1516 klassisch beschrieben). Die erforderliche Modernisierung kann dehalb nur vorankommen, wenn sich die binnenadministrativen Widerstände und mentalen Vorbehalte minimieren lassen, was ein neues Vertrauensverhältnis zwischen Verwaltung und Politik erfordert; aber auch einen erklärten und machtvollen Reformwillen der politi-

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earl Böhret

schen Führung. Aktive verwaltungspolitische Maßnahmen können die Lücke zwischen "input" und "outcome" schließen helfen. So beispielsweise: - Laufende Information über die Modernisierungsvorhaben und die Reform der Staatstätigkeit. Allerdings: ohne nur darüber zu ,,reden"! Denn dann nimmt das schnell niemand mehr ernst (weder die Bediensteten, noch die Bürger, noch die Medien). - Vereinbarungen (mit Vertretungen der Bediensteten) über die Modernisierungsrichtung sowie Ausschaltung der direkten Arbeitsplatz-Bedrohung. Aber: parallel dazu auch die Anforderung von Leistung und loyaler Mitwirkung. - Vermittlung der Vorteile von Modernisierungen am konkreten Fall (Beispiel: Finanzamt 2000; Gegenbeispiel: Kindergartenrichtlinie). - Einführung eines ressortübergreifenden Personalmobilitätsprogramms.

IV. Schnittstelle: Reform oder Stagnation Viele Modernisierer sind optimistisch, ja euphorisch: Es läuft doch gut, hier und dort zeigen sich erste Erfolge, viele Bedienstete machen mit! Einige von uns sind eher skeptisch, sehen die Gefahren des Klimawechsels, des Umkippens der Modernisierungs"bewegung". Genau da stehen wir nun wieder einmal: an der Schnittstelle zwischen Veränderung und Stagnation, zwischen Motivation und Resignation. Da diese mit der zukunftsorientierten Reform von Staatstätigkeit und diese wiederum von den externen, epochalen Herausforderungen getrieben wird, muß der Veränderungsprozeß vorangebracht und zugleich stabilisiert werden. Wer jetzt aufgibt, den bestraft die Zukunft! Wir können uns ein Scheitern des Reformprozesses nicht leisten, und das nicht nur wegen des Sparzwangs. Wegen der geschilderten Interdependenzen und wegen des originären Auftrags zur politischen Führung muß jetzt der funktionale Staat seine zukunftsorientierte Rolle der moderaten und temporären Entwicklung übernehmen, muß er zugleich die Verwaltung auf ihre Rolle als beauftragte Entwicklungsagentur verpflichten. Das heißt, die politische Führung muß eine aktive Verwaltungspolitik initiieren und durchsetzen, die ihrerseits modem und akzeptabel erscheint. Es scheint dabei wenig hilfreich zu sein, wenn die Umsetzung der politischen Veränderungsentscheidungen nur den zu Verändernden überlassen bliebe. Was nicht heißt, ihnen Vorschläge abzuverlangen und sie angemessen zu beteiligen. Verbindliche Strukturen und Verfahrensänderungen müssen vorrangig durch die binnenadministrativen Innovatoren durchgeführt werden. Schließlich muß der politische Wille zur Reform kontinuierlich erkennbar sein, und man muß Vertrauen haben dürfen, wenn man sich dann engagiert. Denn immer noch gilt nach aller Erfahrung, daß die Politik die Modernisierungsprozesse wirklich wollen, einsichtig vermitteln und sie in Grensituationen auch machtvoll durchzusetzen versuchen muß. Und das auch über einen längeren Zeitraum - trotz der wahlperiodischen Einschnitte. Das ist wirklich die Verantwortung der politischen Führung.

Aktive Verwaltungspolitik und refonnierte Staatstätigkeit

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In einem Brief an Vettori hat schon Niccolo Machiavelli (um 1520) solche Grundtugenden des führenden Politikers genannt: er muß überlegen, was dem Staate schaden könnte, er muß die Eigenschaft der Voraussicht auch fernerliegender Möglichkeiten haben (Folgengespür), er muß, was dem Staate zuträglich ist, unterstützen; er muß dem, was Schaden bringen könnte, sich beizeiten in den Weg stellen (also zeitgerechte Politik betreiben). Wenn ich das laufende Modernisierungsgeschäft richtig einschätze, dann brauchen wir jetzt ganz dringend solche konsequente verwaltungspolitische Führung. Sie kann und sie soll dazu auch den Rat der Verwaltungswissenschaften und des Laiensachverstands einfordern - und gelegentlich beherzigen. Wobei Klassisches gilt: "Ein politischer Führer, der nicht von sich aus weise ist, kann nicht gut beraten werden." (Und:) "Die guten Ratschläge ... müssen ihren Ursprung in der Klugheit des Politikers haben, und nicht die Klugheit des Politikers ihren Ursprung in den guten Ratschlägen!" (Niccolo Machiavelli, 1514).

VIERTER TEIL

Systemwechsel und Verwaltungstransformation

Transformation von Staatsaufgaben Von Klaus König I. Systemwandel der realsozialistischen Staatlichkeit

Die Länder des realen Sozialismus haben von der parteigeleiteten Einheit von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Abschied genommen. Selbst Länder wie China und Vietnam, die an einer sozialistischen Ideologie festhalten wollen, führen Marktmechanismen und damit die Freiheit ein, über Produktion, Distribution und Konsumtion von materialen Gütern und Dienstleistungen nach individuellen Präferenzen zu entscheiden. Insofern spricht man zumindest von Ländern mit Wirtschaften in Transition. Allgemein steht aber eine neue Arbeitsteilung zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zur Diskussion. Das Wort von den Reformländern ist für einen solchen Systemwandel zu schwach. Wir sprechen von der Transformation der gesamten Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und insbesondere von einer neuen Ordnung der Staatsaufgaben. Für diese Aufgabentransformation ist zu merken, daß die Länder des realen Sozialismus die einzige säkularisierte Staatswelt darstellten, in der Staatsaufgaben nach einer geschlossenen Ideologie definiert wurden. Länder, in denen die Einheit von Staat und Religion propagiert wird, bleiben damit beiseite. Im parteilich interpretierten Marxismus-Leninismus gab es eine Funktionenlehre des Staates, die den Rahmen für dessen Aktivitäten absteckte. Zu diesen Funktionen gehörte insbesondere auch die wirtschaftlich-organisatorische Funktion und die Funktion der Regelung des Maßes der Arbeit und der Konsumtion. Es war dann der systemorientierte Wille der Partei, der insoweit die jeweilige ,,historische Mission" des Staates definierte. Dieser wiederum hatte in den derart aufgegebenen Tätigkeitsfeldern die Aufgabenbestände der industriellen Produktion, des Gesundheitswesens, der Schulbildung usw. zu konkretisieren. Dabei wurde nur zu oft das vorgebliche Deduktionsgefüge von Ideologie, Parteibeschluß und Staatsordnung bei der Definition der Staatsaufgaben durch voluntaristische Akte einer stalinistischen Kommandogewalt außer Kraft gesetzt. Für die offenen Gesellschaften westlicher Demokratien und Industrieländer werden Staatsaufgaben in einem kollektiven, politischen Willensbildungsprozeß bestimmt, wobei der Primat formell beim parlamentarischen Gesetz- und Budgetgeber liegt, beeinflußt freilich vom Pluralismus der Akteure: vom Vorfeld der organisierten Interessen bis zum "letzten Wort" des Verfassungs gerichts. Die Transfor12 Speyer 124

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Klaus König

mationsländer stehen vor der Schwierigkeit, die komplexe Lage offener politischer Entscheidung über öffentliche Güter und Dienstleistungen anzunehmen.

11. Schlüsselgroßen der Aufgabendefinition Die realsozialistischen Länder haben sich zwar außenpolitisch als Ostblock begreifen lassen. In ihren inneren Angelegenheiten haben sie sich aber immer wieder als von kulturellen Eigenarten geprägt erwiesen. Diese kulturellen Differenzen treten gerade in der Transitionsphase hervor, so z. B., ob die Voraussetzungen für eine depersonalisierte, rationale Staatlichkeit historisch überhaupt gegeben sind oder ob über informale, familiäre, landsmannschaftliehe, kommilitonenhafte usw. Beziehungen patrimonale Bürokratien und Klientelismus zum wirklich maßgeblichen Steuerungsmuster geworden sind. Zwei Schlüsselgrößen der Aufgabendefinition sind aber vielerorts zu beobachten: die Lösung der Verfassungsprobleme und die der Eigentumsfrage. Die Verfassung ist im modernen konstitutionellen Staat die erste Vorentscheidung und Satzung, die nach Verfahren und Inhalt der Definition von Staatsaufgaben zu befragen ist. In die Verfassungsgebung der postsozialistischen Länder fließt von Ort zu Ort ein präkonstitutionelles Staatsbild von ,,Errungenschaften" kollektiver Sicherung ein. Es manifestiert sich in Staatszielen wie einem ,,Recht auf Arbeit" oder einem "Recht auf Wohnung". Der nicht-vormundschaftliche Staat kann freilich solche Rechte nicht garantieren, sondern Beschäftigungspolitik bzw. Wohnungspolitik nur nach seinen Möglichkeiten befördern. Eine weitere Schlüsselgröße des Systemwandels ist die Schaffung von Privateigentum an Produktionsmitteln und damit die der Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Vermögen. Eigentum an Produktionsmitteln konnte nach marxistisch-leninistischer Doktrin nur sozialistisches Eigentum, sogenanntes "Volkseigentum" sein. Für die Transformation genügt es nicht, sozialistische Vorschriften der Wirtschaftslenkung zu deregulieren, Wirtschaftsbetriebe der Selbstfinanzierung zuzuführen usw. Privateigentum ist ein konstitutives Merkmal der Marktwirtschaft, öffentliches Vermögen eines des modernen Staates. Entsprechend wird durch die Zuordnung von Vermögen an die öffentlichen Hände, sei es als Verwaltungsvermögen, sei es als Finanzvermögen, der neue Aufgabenzuschnitt manifestiert - von der Wasserwirtschaft bis zur Verkehrswirtschaft, von der Energiewirtschaft bis zur Wohnungswirtschaft.

111. Modi der Aufgabendefinition Im modernen Staat werden öffentliche Aufgaben über vielfältige Formen, Instrumente, Verfahren, Medien bestimmt, zu denen insbesondere rationales Recht und Geld gehören. Die Kommandostrukturen des realsozialistischen Staates haben

Transfonnation von Staatsaufgaben

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es ausgeschlossen, daß durch die Rechtsetzung oder die Haushaltsgebung zufriedenstellende Eigenrationalitäten entwickelt werden konnten. Auf beides kommt es aber bei der Aufgabendefinition an. Der ostdeutsche Fall liefert hierfür zwei hervorragende Belege. Die Staatstransformation in Ostdeutschland erfolgte als "friedliche Revolution" in formal-Iegalistischer Weise. Schon in der demokratischen Ära der DDR wurde der reale Sozialismus weitgehend durch Verfassungsregeln, Gesetze, Vorschriften verabschiedet. Mit dem Einigungsvertrag erfolgte dann eine umfassende rechtliche Festlegung öffentlicher Aufgaben, wie sie der legalistischen Leistungsordnung des kontinentaleuropäischen Staates entspricht. Die wirkliche Maßgeblichkeit des Haushalts für die Bestimmung öffentlicher Aufgaben war nicht nur eine Frage der Ablösung der Finanzplanung von der volkswirtschaftlichen Planung realsozialistischen Herkommens. Durch umfassende Finanztransfers mußte eine verläßliche Budgetierung im ostdeutschen Staatsleben überhaupt erst ermöglicht werden. Insbesondere im "Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost" wurde deutlich, wie aufgabenpolitische Akzente gesetzt wurden, so im öffentlichen Verkehrswesen, beim öffentlichen Schulwesen, im öffentlichen Gesundheitswesen usw.

IV. Folgen der Aufgabentransfonnation Hätte man in den achtziger Jahren nur die Aufgabenfelder in den realsozialistischen Staaten und den westlichen Wohlfahrtsstaaten einander gegenübergestellt, dann hätte man festgestellt, daß im Westen wie im Osten Gesundheitspolitik und Beschäftigungspolitik, Bildungspolitik und Verkehrspolitik, Außenhandelspolitik und Geldpolitik usw. betrieben wurden. Der Unterschied lag in der Ausdifferenzierung von Handlungssphären, in der Art und Weise staatlicher Steuerung und in der Strukturierung des politisch-administrativen Handlungszusammenhangs. Das breite Aufgabenspektrum des westlichen Wohlfahrtsstaates hat, insbesondere auch im deutschen Falle, die Transformation des realsozialistischen Staates erleichtert. In der Folge wurde aber dann der postsozialistische Staat von vergleichbaren, wenn nicht höheren Bürden belastet, wie das im westlichen Wohlfahrtsstaat der Fall ist, so wenn die Aufgaben- und Vermögenstransformation wie im deutschen Falle nach westlicher Üblichkeit erfolgte, in der alten Bundesrepublik aber etwa auf kommunaler Ebene bereits in den siebziger und achtziger Jahren viele Entlastungen stattgefunden haben. Die Aufgabentransformation wird deswegen in eine weitere Staats- und Verwaltungsmodernisierung einmünden, wie sie für die westlichen Industrieländer unter dem Vorzeichen des "Schlanken Staates", des "Neuen Öffentlichen Managements" diskutiert werden. Insoweit steht mit Privatisierungen, insbesondere funktionalen, mit Deregulierungen, mit dem Subventionsabbau usw. auch eine neue Arbeitstei12*

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Klaus König

lung zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft auf der Tagesordnung. Ostdeutschland erfährt diese Veränderungen in zwei historischen Phasen, nämlich erst durch die Transformation und dann durch eine weitere Modernisierung. In anderen postsozialistischen Ländern ist oft noch keine verbindliche Zuständigkeitsordnung in öffentlichen Angelegenheiten entstanden und doch wird schon Wettbewerb und damit Rivalität auch für den Staats sektor propagiert. Wir sollten besser verstehen, daß die aktuelle Modernisierungsbewegung nicht das Ende der Geschichte von Staat und Staatsaufgaben bedeutet. Referenzen Beyme, Klaus von, Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt a. M., 1994. - Czada, Roland/ Lehmbruch, Gerhard (Hrsg.), Sektorale Transfonnationsprozesse, Frankfurt a. M./New York 1996. - Derlien, Hans-Ulrich, Elitezirkulation zwischen Implosion und Integration. Abgang, Rekrutierung und Zusammensetzung ostdeutscher Funktionseliten 1989 - 1994, in: Wollmann, Hellmut 1Derlien, Hans-Ulrich 1König, Klaus 1Renzsch, Wolfgang 1Seibel, Wolfgang, Transfonnation der politisch-administrativen Strukturen in Ostdeutschland, Beiträge zu den Berichten der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern e.V. (KSPW), Band 3. I, Opladen 1997, S. 329ff. - Eisen, Andreas/ Wollmann, Hellmut (Hrsg.), Institutionenbildung in Ostdeutschland. Zwischen externer Steuerung und Eigendynamik, Opladen 1996. - Häußer; Otto, Staatskanzleien der Länder. Aufgabe, Funktionen, Personal und Organisation unter Berücksichtigung des Aufbaus in den neuen Ländern, Baden-Baden 1995. - König, Klaus, Aufbau der Landesverwaltung nach Leitbildern, in: Wollmann, Hellmut 1Derlien, Hans-Ulrich 1König, Klaus 1Renzsch, Wolfgang 1Seibe\, Wolfgang, Transfonnation der politisch-administrativen Strukturen in Ostdeutschland, Beiträge zu den Berichten der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern e.Y. (KSPW), Band 3. I, Opladen 1997, S. 223 ff. - König, Klaus, Kommunalisierung, Verselbständigung, Privatisierung - Aufgabentransfonnation in den neuen Bundesländern, DÖV 1993, S. 1076 - 1083. - König, Klaus, Public Sector Refonn: The Case of Gennany, in: Joachim Jens Hesse 1Theo A. J. Toonen (eds.), The European Yearbook of Comparative Government and Public Administration, Baden-Baden 1Boulder, Colorado, Vol. 1/1994, S. 387 - 407. - König, Klaus, Systemimmanente und systemverändernde Privatisierung in Deutschland, VOP 1992, S. 279 - 286. König, Klaus, Transfonnation als Staatsveranstaltung in Deutschland, in: Wollmann/WiesenthalJBönker (Hrsg.), Transfonnation sozialistischer Gesellschaften: Am Ende des Anfangs, Opladen 1995, S. 609 - 631. - König, Klaus / Benz, Angelika, Staatszentrierte Transfonnation im vereinten Deutschland, Festschrift für Helmut Quaritsch zum 65. Geburtstag, in: Der Staat, Heft 1/1996. - König, Klaus / Heimann, Jan, Vennögens- und Aufgabenzuordnung nach Üblichkeit, in: Wollmann, Hellmut 1Derlien, Hans-Ulrich 1König, Klaus 1Renzsch, Wolfgang 1 Seibel, Wolfgang, Transfonnation der politisch-administrativen Strukturen in Ostdeutschland, Beiträge zu den Berichten der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern e.V. (KSPW), Band 3. I, Opladen 1997, S. 119 ff. - Lehmbruch, Gerhard, Institutionentransfer im Prozeß der Vereinigung. Zur Logik der Verwaltungsintegration in Deutschland, in: Seibel, Wolfgang 1Benz, Arthur 1Mäding, Heinrich (Hrsg.), Verwaltungsrefonn und Verwaltungspolitik im Prozeß der deutschen Einigung, Baden-Baden 1993, S. 41 - 66. - Mayntz, Renate, Deutsche Forschung im Eini-

Transfonnation von Staatsaufgaben

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Personelle Transformation in Ostdeutschland Von Hans-Ulrich Derlien

Vorbemerkung Der Moskauer KP-Chef Jeltsin wurde russischer Staatspräsident, der Ostberliner SED-Chef Schabowski fristet sein Dasein als Layouter bei einem regionalen Anzeigenblatt. Anders auch als 1919 ist die administrative Elite des ancien regime von der Bildfläche verschwunden, und prominente Richter der DDR belasten die Bundesrepublik heute nicht wie Nazi-Juristen nach 1949. Schließlich hat das Militär nicht geputscht wie im August 1991 in Moskau, und die SED-Nachfolgepartei regiert 1997 - im Gegensatz zu den Post-Kommunisten in vielen Staaten des früheren Ostblocks - weder auf Bundes- noch auf Landesebene. Die Ergebnisse der deutschen Revolution von 1989 / 90 stellen also nicht einen Normalfall von Regimewechseln dar. Denn der Fall der DDR ist ein Sonderfall, bei dem sich innerhalb eines Jahres drei Umbrüche sukzessive miteinander verbanden: die Implosion des totalitären Herrschaftssystems mit Transition zur parlamentarischen Demokratie, die Transformation der Zentralverwaltungswirtschaft mit Übergang zur Marktwirtschaft und - als specificum - die Aufgabe der Staatlichkeit der DDR mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland.'

I. Phasen der Elitezirkulation Nach der Implosion des SED-Regimes schloß die Volkskammerwahl vom März 1990 nicht nur den Austausch der Honecker-Elite in allen Sektoren ab oder leitete ihr Ende im Wirtschafts sektor ein, sie bedeutete auch in den meisten Fällen das Ende der unter Modrow begonnenen Karrieren in der Exekutive. Vor allem aber resultierte die Parlaments wahl in einem Rekrutierungsschub zur Besetzung des mit dem Verlust der Führungsrolle der SED, dem Fortfall von Staatsrat und Nationalem Verteidigungsrat sowie der Verkleinerung des Ministerrates gewaltig geschrumpften Positionsfeldes. Innerhalb von sieben Monaten war die Altelite damit 1 Die folgenden Ausführungen basieren weitgehend auf meiner Untersuchung "Elitezirkulation zwischen Implosion und Integration. Abgang, Rekrutierung und Zusammensetzung ostdeutscher Funktionseliten 1989 - 1994", in: Hellmut Wollmann u. a., Transformation der politisch-administrativen Strukturen in Ostdeutschland, Opladen 1997, S. 329 - 415.

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fast ersatzlos aus dem öffentlichen Leben verschwunden, war die Modrowsche "Herrschaft der Deputies", die für Rußland noch heute typisch ist, bestenfalls in die parlamentarische Opposition gedrängt, hatte sich die Volkskammer total personell erneuert und konnte die systemkritische Gegenelite Regierungserfahrung sammeln. Der Wahlmechanismus brachte zum Abschluß, was als parteiinterne Elitesukzession begonnen und sich über die Kooptation der Gegenelite in der zweiten Regierung Modrow fortgesetzt hatte. Außerhalb der Partei-, Parlaments- und Exekutiveliten, also unter den Emennungseliten beim Militär, in der Wirtschaft, in Justiz und Verwaltung, aber auch innerhalb des sich fragmentierenden Verbändesystems setzte die Elitezirkulation erst mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung ein. Zwar fanden sich auch hier nach der März-Wahl kaum noch Exponenten der Altelite in Amt und Würden, aber die "Stellvertreter" traten meist erst ab, wenn ihr Positionsfeld im Zuge von Dezentralisierung und Privatisierung zusammenbrach. Das gilt für die Akademien ebenso wie für die Zentralverwaltungswirtschaft und die Massenorganisationen. Die Landtags- und die Bundestagswahlen von 1990 (und nochmals die Wahlen von 1994) stabilisierten personalpolitisch das bis dahin erreichte Ausmaß der Elitezirkulation. Nur vereinzelt tauchten Mitglieder der Altelite oder der Transitionselite in den Parlamenten auf, und zwar in der Opposition als Repräsentanten der PDS. Selbst innerhalb der CDU wurde die Transitionselite zunehmend und vor allem auf Bundesebene marginalisiert; personelle Kontinuität zwischen letzter DDRRegierung und Bundesregierung gab es 1994 nur noch mit der Junior-Politikerin aus der Gegenelite, A. Merkel - nachdem Verkehrsminister Krause zurückgetreten war. Selbst innerhalb der PDS-Landtagsfraktionen zeigte sich eine nahezu totale Karrierediskontinuität schon 19902 . Allerdings handelt es sich bei den neuen Gesichtern unter den Mandatären selbstverständlich nicht um Personen ohne politische Vergangenheit: die Persistenz der Blockparteien und der PDS als Rekrutierungskanäle und ihre Mitgliederbasis wie auch ihre materiellen Ressourcen brachten oft Altrnitglieder in die politische Delegationselite. Für die Ernennungseliten in Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft galt dies nicht.

11. Politisierte Inkompetenz und Säuberung des Staatsapparates Nach der Wiedervereinigung ist die Bundesrepublik erstmals in der jüngeren deutschen Geschichte nach einem Regimewechsel mit dem Umstand konfrontiert worden, daß die professionelle Qualität der alten Bürokratie zum Problem wurde 3 . Es scheint so, als habe 1918, 1933 und 1945 nicht zuletzt das Juristenmonopol die 2 Hans-Ulrich Derlien/Stefan Lock, Eine neue politische Elite? Rekrutierung und Karrieren der Abgeordneten in den fünf neuen Landtagen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 25 / 1994, S. 61-94. 3 Hans-Ulrich Derlien, Historical Legacy and Recent Developments of the German Higher Civil Service. In: International Review of Administrative Sciences 57/ 1991, S. 385 - 40 I.

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fachliche Qualifikation der Bürokratie gesichert. Bruch mit dem Berufsbeamtenturn nach 1945 und Aufbau einer Kaderverwaltung haben ein Staatsfunktionärsturn in der DDR produziert, das sich aus westdeutscher Sicht durch politisierte Inkompetenz auszeichnete als Folge der absoluten Priorität der Loyalität zur SED. Die Friedlichkeit der Revolution in der DDR verschob das Problem des Umgangs mit den Staatsfunktionären letztlich auf die Zeit nach der Wiedervereinigung. Die Bundesregierung hatte dies offenbar erkannt und in den Einigungsvertrag entsprechende Bedingungen der außerordentlichen Kündigung aufgenommen. Mit den Tatbeständen der Stasi-Kooperation und des Verstoßes gegen Rechtsstaatlichkeit und Menschlichkeit wurden negative Selektionskriterien institutionalisiert, die eine bürokratische Säuberung insbesondere ab Januar 1991 unter Einschaltung der sogenannten Gauck-Behörde - neben der Treuhandanstalt die zweite von der Bundesrepublik geerbte Oberbehörde der DDR - bewirkten. Während die schlichte SED-Mitgliedschaft nicht zum Ausschlußkriterium für öffentliche Ämter wurde, legten insbesondere die Bundesländer fest, daß die Staatsnähe exponierter Parteifunktionäre ebenfalls für ein öffentliches Amt disqualifiziere. Die politische Säuberung4 des Staatsapparates der DDR hatte zwar schon in der Transitionsperiode mit spontanen, allerdings auf Exekutivpolitiker und Parteiapparat konzentrierten Säuberungen begonnen und war in der Periode de Maiziere mit einer ersten systematischen Säuberung der Bürokratie fortgesetzt worden, nachdem die Volkskammer im Juli 1990 Überprüfungskommissionen für Richter und Staatsanwälte, Parlamente und Universitäten, also die sensibelsten Bereiche des Staatsapparates, etabliert hatte. Die der DDR verbleibende Zeit reichte jedoch nicht aus, um diesen Prozeß zu Ende zu führen. Dies blieb der Behörde des Sonderbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes vorbehalten. Bis Mitte 1995 waren dort 2,7 Millionen Anfragen, zur Hälfte aus dem öffentlichen Dienst, eingegangen und bevorzugt bearbeitet worden. Etwa 10% der Fälle erwiesen sich bis Ende 1994 als "Stasi positiv" - zehnmal so viele wie in der allgemeinen Bevölkerung. Allerdings führte dieser Befund letztlich nur in einem Prozent der Fälle auch zur Entlassung. Infolge der Systemtransformation zum Rechtsstaat fiel die Säuberung der Justiz - anders als nach 1945 - drastisch aus; aufgrund der dadurch entstandenen Vakanzen, aber auch im Hinblick auf die neu aufzubauenden Gerichtszweige war der Bedarf an Juristen eminent. 4 In Deutschland stößt der Vergriff der Säuberung gelegentlich auf Abwehr; wir verfügen aber für die außergewöhnlichen Prozesse, die Regimewechsel, aber auch Regierungswechsel begleiten, über keine adäquatere wissenschaftliche Terminologie. ,,Purge" hat sich international eingebürgert, die aus der Lingua Tertii Imperii stammende "Gleichschaltung" (streamlining) wird selten benutzt, Lustration (Tschechoslowakei) oder gar "cleansing" stoßen auf Unverständnis bzw. Ablehnung. Vgl. auch H.-U. Derlien, Die Regierungswechsel von 1969 und 1982 in ihren Auswirkungen auf die Beamtenelite. In: Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Führungskräfte in der öffentlichen Verwaltung, Schriften der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften, Band 15, Baden-Baden 1989, S. 171-189.

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111. Personalimport

Neben der Stabilisierung der nahezu totalen Elitezirkulation innerhalb der Politik gewinnt die Wiedervereinigung außerhalb des Sektors der Politik für die Elitezirkulation dadurch größte Bedeutung, daß nun ein Elite-Import historisch beispiellosen Ausmaßes aus dem Westen einsetzte, um die wenigen übriggebliebenen und die meisten neu geschaffenen Elitepositionen vor allem in Justiz, Verwaltung, Militär und sonstigem öffentlichem Sektor, aber auch partiell in Verbänden und in den Großunternehmen zu füllen. Was mit westdeutschen Regierungsberatern der Regierung de Maiziere und der Leitung der Treuhandanstalt durch Westdeutsche schon vor der Wiedervereinigung seinen Anfang genommen hatte, setzte sich mit der Rekrutierung von Regierungsmitgliedern in die neuen Landeskabinette, der Verwaltungsspitze der Länder, der Gerichtspräsidenten, der Stabsoffiziere der Bundeswehr, der Leitung in Rundfunk- und Fernsehanstalten, der öffentlich-rechtlichen Banken, der Verbandsgeschäftsführer und vieler Universitätsprofessoren fort. Die DDR ist daher nicht nur als Völkerrechtssubjekt untergegangen, sie ist auch institutionell auf nationaler Ebene - von einigen Restbeständen abgesehen - und vor allem personell in der Elite auf Bundes- und Landesebene nicht mehr repräsentiert. Neue Köpfe in der politischen Arena der Länder und in Bonn, aber zugleich Dominanz der Westdeutschen in Elitepositionen nicht nur in Bonn, sondern auch in den nicht-parlamentarischen Sektoren der neuen Länder kennzeichnen die Lage sechs Jahre nach der Wiedervereinigung. Als Folge des Personalimports läßt sich ein mehrfacher Rangeffekt beobachten: je höher die Position in Verwaltung und Justiz, Rundfunkanstalten und Banken, desto höher der Anteil Westdeutscher; je niedriger die Ebene im Staatsaufbau, desto stärker ist ostdeutsches Leitungspersonal vertreten, exemplarisch nachzuweisen für die Gemeinden. Je größer das Wirtschaftsunternehmen, desto wahrscheinlicher ist es unter westdeutscher Kapital- und Personalkontrolle. Je weiter man in den Organisationen: Ministerien, Gerichten, Rundfunkanstalten, Banken oder Privatunternehmen hinabsteigt, desto häufiger begegnen einem andererseits Ostdeutsche auch schon auf der mittleren Leitungsebene. Aber sie gehörten nicht zur Altelite, sondern kommen aus dem middle management der DDR oder sind oft "Außenseiter". Daher die doppelte Mischung aus Ost und West, Alt und Neu unterhalb der obersten Leitungsebene. IV. Ernennungs- versos Delegationseliten

Diese Skizze gilt natürlich vornehmlich für Ernennungseliten 5 ; in Parlamenten, ostdeutschen Regierungen und Gemeinden sowie bei den Verbänden, also in Systemen, die mitgliedschaftlich und nicht herrschaftlich verfaßt sind und die sich daher 5 Wolfgang Zapf, Wandlungen der deutschen Elite. Ein Zirkulationsmodell deutscher Führungsgruppen 1919 - 1961, 2. Aufl., München 1966.

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des Wahlmechanismus zur Rekrutierung in Spitzenpositionen bedienen, gilt dies, wie oben gesagt, nicht; sondern bei diesen Delegationseliten gilt das WohnsitzPrinzip, und hier präsidieren Einheimische, ganz überwiegend Ostdeutsche und nur in Ausnahmefällen zugezogene Westdeutsche. Dennoch zeigt sich auch hier das für die Ernennungselite typische Elitevakuum: Ostdeutsche berufen oft Experten aus dem Westen an ihre Seite, um den neuen systemtypischen Anforderungen des Rechtsstaats und der kapitalistischen Wirtschaft zu genügen; daher Westdeutsche als Geschäftsführer bei den kommunalen Verbänden und vielen Gewerkschaften und als Chefs sogar der Landtagsverwaltungen. Eine weitere Differenzierung des Bildes der seit 1990 konsolidierten Elite erreicht man, wenn man die Unterscheidung zwischen öffentlich-rechtlich verfaßtem und privatem Sektor einführt; damit wird zugleich die institutionelle Transformation und speziell die Privatisierung eines Teils des vormaligen DDR-Staatsapparats berücksichtigt. Besonders deutlich ist die unterschiedliche Elitezusammensetzung im Bereich der Medien; während die Print-Medien privatisiert worden waren und sich hier eine relativ hohe Elitekontinuität zeigen ließ, ist für den zwar dezentralisierten, aber öffentlich-rechtlich verfaßten Rundfunk- und Fernsehbereich nicht nur keine Elitekontinuität, sondern ebenfalls die Dominanz einer westdeutschen Elite kennzeichnend. Ähnliches gilt für den Bankensektor. Auflösung von Institutionen und Kündigung des Personals ("Abwicklung" als verwaltungsorganisationsrechtliche Innovation) oder politische Säuberung bei institutioneller Kontinuität schufen die Vakanzen, in die wie bei den genuinen institutionellen Neugründungen z. B. im lustizbereich westdeutsche Führungskräfte rekrutiert wurden. Die für den öffentlichen Sektor obligatorische Stasi-Überprüfung hielt oft von vornherein exponierte Personen davon zurück, sich um Elitepositionen zu bewerben. Aber auch in privatrechtlichen Organisationen fanden als belastet geltende Personen kaum eine Karriereanknüpfung, wenn diese Organisationen nach ihrer Größe bedeutend waren; dann gelangten sie nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit unter westliche Kapitalkontrolle, und ihre Spitzenpositionen wurden per Elite-Import besetzt. Was für noch nicht im Rentenalter stehende Mitglieder der DDR-Elite als Möglichkeit blieb, waren privatwirtschaftliche Existenzen z. B. als Anwalt, aber eben keine Elitepositionen. Selbst beim management buy-out mittlerer Unternehmen achtete die Treuhand auf politische Belastetheit von Bewerbern, so daß sich in diesem Bereich eine Karrierefortsetzung nur für die technische DDR-Intelligenz aus dem mittleren Management der zentral verwalteten Betriebe anbot.

v. Revolutionstyp und personelle Erneuerung Zwar ist in allen Staaten des früheren Ostblocks die alte herrschende Elite recht schnell nach der Revolution abgesetzt oder abgewählt worden; aber in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion hat sich meistens eine Elitezirkulation vollzogen, die, wie gesagt, Personen aus dem zweiten Glied der Kommunistischen Partei an

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die Macht getragen hat. Das gilt besonders dort, wo wie in Polen und Ungarn die konvertierten Kommunisten später in freien Wahlen wieder in die Regierung gelangt sind. Vergleichbares hat sich weder im März 1990 in der DDR noch danach in der Bundesrepublik ereignet. Das liegt nicht nur an den relativ günstigen Bedingungen der ökonomischen Transfonnation, sondern auch daran, daß sich die Revolution in der DDR auch im Hinblick auf die politische Säuberung in einem systematischen Verfahren ab Mitte 1990 von allen anderen 198ger Staaten unterscheidet. Nur hier und nach der Wiedervereinigung erst recht wurde eine systematische politische Säuberung durchgeführt. Die meisten anderen Länder versuchten dies nicht einmal; in Polen ist eine ähnliche Überprüfung von Inhabern öffentlicher Ämter politisch gescheitert, und in der seinerzeitigen Tschechoslowakei war die Lustration zeitlich und auf bestimmte Funktionen begrenzt worden. Auch zur juristischen Sanktionierung - aufgrund welcher Sachverhalte auch immer - ist es offenbar nur in der DDR und anschließend in der Bundesrepublik gekommen. Dieser Unterschied im Verlauf der Transition hat mit dem Typus der Revolution zu tun. Denn der Fall der DDR - wie der der Tschechoslowakei - zeichnet sich durch das vergleichsweise hohe Tempo der Revolution aus. Der widerstandslose Abgang der alten Eliten in beiden bis zuletzt refonnfeindlichen regimes hat das Bild einer Implosion der Macht vermittelt. Während es in Rumänien explosiv zuging und Rußland unter Gorbatschow eine "Revolution von oben" versuchte, vollzog sich in Polen und in Ungarn der Typ der verhandelten Revolution6 . In diesem Falle des Reformkompromisses zwischen alter Elite und Systemkritikern kam es letztlich nicht zu einer völligen Delegitimierung des ancien regime und der sie tragenden Parteien, sondern zur Aufteilung der politischen Macht. Die SED / PDS hingegen hat sich in Wahlen nicht einmal auf Landesebene als Regierungspartei relegitimieren können. Daß allerdings die Elitezirkulation in Ostdeutschland insbesondere in den Ernennungseliten unvergleichlich viel tiefgreifender ausfallen konnte als in der CSFR, läßt sich nur aus der mit der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands möglichen Sonderkonstellation erklären: der Existenz eines externen Elitereservoirs im Westen. Zugleich reduzierte der Fortfall zentraler DDR-Institutionen den Ersatzbedarf an politisch unbelasteten Experten vor allem in den Ernennungseliten.

6 Klaus von Beyme, Regime Transition and Recruitment of Elites in Eastem Europe. In: H.-U. Derlien/George Szablowski (Hrsg.), Regime Transitions, Elites and Bureaucracies in Eastem Europe. Sonderheft von GOVERNANCEI 1993, S. 409 - 37.

Gemeineuropäische Verwaltungsstrukturpolitik für die Staaten Mittel- und Osteuropas Die Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer als Partner der Strukturintegration Von Rainer Pitschas

I. Integration der MOE-Staaten in die Europäische Union 1. Systemwechsel und politische Integration

In der Entwicklung der nachkommunistischen Staaten und Gesellschaften Mittel- und Osteuropas (MOE-Staaten) lassen sich bislang mehrere Phasen unterscheiden. So steht dem schon historischen Zeitraum zwischen dem "revolutionären Herbst 1989" und dem Friihjahr 1990, in dem die sozialistischen Regimes durch demokratische Regierungen ersetzt und die Griindungsentscheidungen über neue Verfassungs strukturen getroffen und umgesetzt wurden, die anschließende Phase der Institutionenbildung gegenüber. Die Neugestaltung der institutionellen Rahmenbedingungen mußte dazu beitragen, das planwirtschaftliehe Miß-Management in der Vergangenheit durch eine neue Qualität von demokratisch-verfassungsstaatlicher und sozial gebändigter marktwirtschaftlicher Entwicklung zu durchbrechen. 1 In den einzelnen Staaten lassen sich allerdings erhebliche Unterschiede im Hinblick auf die ausgeprägten institutionellen Strukturen erkennen. Dafür zeichnet zum einen das in der Griindungsphase jeweils festgelegte institutionelle Arrangement verantwortlich; zum anderen sind die divergierenden Wege der Institutionenbildung durch die jeweiligen machtpolitischen Konstellationen bedingt. 2 Auf der Grundlage der so geschaffenen institutionellen Fundamente haben die MOE-Staaten in den vergangenen Jahren ihre ehedem zentral gelenkte PlanwirtI Hellmut Wollmann, Der Systemwechsel in Ostdeutschland, Ungarn, Polen und Rußland. Phasen und Varianten der politisch-administrativen Dezentralisierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1997, B 5197, S. 3 ff. 2 Dazu die Beiträge in Hellmut Wollmann/Helmut WiesenthallFrank Bönker (Hrsg.), Transformation sozialistischer Gesellschaften: Am Ende des Anfangs, Leviathan-Sonderband, 1995; siehe auch Rainer Pitschas, Konzeptionelle Probleme des deutschen Beitrags zur Rechts- und Verwaltungsintegration in den neuen MOE-Staaten, in: Ders. (Hrsg.), Rechtsberatung und Verwaltungsförderung in Mittel- und Osteuropa, 1994, S. 9 (22 ff.).

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schaft zu Marktwirtschaften umgebaut, die Preise freigegeben und mit der Liberalisierung der Märkte, der Privatisierung staatlicher Unternehmen sowie einer mühevollen Preisstabilisierung den Grundstein für eine neue Phase im Übergang zur Marktwirtschaft gelegt3 : Im Jahr 1997 ist zum ersten Mal seit Beginn des Übergangsprozesses für die MOE-Staaten insgesamt ein solides Wirtschafts wachsturn zu erwarten gewesen. Freilich hat der gleichzeitig stattfindende Umbau des jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Systems zu erheblichen sozialen Belastungen geführt. Millionen Arbeitsplätze sahen sich in den letzten Jahren aufgegeben, die Einkommen wurden eingeschränkt und von der Inflation aufgezehrt. Dementsprechend kam es zu Massenprotesten gegen Betriebsstillegungen und Entlassungen sowie zu Protestaktionen gegen staatliche Maßnahmen der neugewählten Regierungen im sozialen Bereich. 4 Gleichwohl zeigt die Entwicklung der Wirtschaftsdaten, daß der Übergangsprozeß für die MOE-Staaten in ein neues Stadium eingetreten ist. Zutreffend hebt der dazu kürzlich veröffentlichte Bericht der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (Osteuropa-Bank) hervor, daß es in dieser neuen Phase vor allem darauf ankomme, das beginnende Wirtschaftswachstum durch entsprechende institutionelle Begleitung und die weitere Liberalisierung der Märkte zu stärken. Einen komplementären Handlungsbedarf sieht die Bank im Hinblick auf die Modernisierung von Staat und Verwaltung gegeben: Dort, wo der Staat etwas Neues aufbauen müsse, so führt der Bericht aus, kämen die Reformen nur langsam voran. Nach wie vor seien in allen MOE-Ländern die Wettbewerbspolitik unzureichend entfaltet und die Bankensysteme anfällig. Allgemein müsse von schwerwiegenden Mängeln in den institutionellen Rahmenbedingungen ausgegangen werden, so daß in Zukunft überall dem Aufbau geeigneter staatlicher und administrativer Strukturen im Übergang zur vollendeten Marktwirtschaft mehr Aufmerksamkeit zu widmen sei. 5 Wiederum belegt diese Feststellung die Notwendigkeit schon bisher beschworener europäischer Solidarität. 6 Denn eine durchgreifende Hilfe für die Entwicklung der sozio-ökonomischen Grundlagen in den MOE-Staaten und der jeweiligen Staats- und Verwaltungs strukturen als Rahmenbedingungen für den wirtschaftlichen Erfolg kann - neben den für die Vergangenheit hervorzuhebenden Einze1anstrengungen der Mitgliedstaaten - nur von seiten der Europäischen Union (EU) kommen. Deren originäre Verantwortung ergibt sich bereits aus ihrem Gründungsgedanken, nämlich aus der Verabredung ihrer Mitgliedstaaten, zu einer wirklichen Einheit Europas zu finden. Nur auf diese Weise läßt sich eine neue (ökonomische 3 Dazu näher Otto G. Mayer/Hans-Eckart Scharrer (Hrsg.), Osterweiterung der Europäischen Union. Sind die rnittel- und osteuropäischen Länder und die EU reif für eine Erweiterung?, 1997. 4 Christiane Lemke, Nachholende Mobilisierung. Demokratisierung und politischer Protest in postkommunistischen Gesellschaften, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1997, B 51 97, S. 29 (34). 5 FAZ v. 26. 11. 1997, S. 18. 6 Pitschas (Fn. 2), S. 19 ff. m. w. Nachw.

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und / oder soziale) Teilung Europas vermeiden. Deshalb steht erneut die europäische Solidarität auf dem Prüfstand. Sie einzufordern ist nicht so einfach, wie es scheinen mag. Die Bereitschaft der jetzigen Gemeinschaft zur Solidarität mit dem östlichen Europa hängt einerseits von der Resistenz gegenüber Tendenzen einzelner westeuropäischer Staaten zu ausgeprägter Klientelpolitik ab. So kommt es nicht von ungefähr, daß Frankreich im Zusammenhang der europäischen Erweiterung auf seine früheren Kolonien sieht und Spanien wie Portugal dabei ihr eigenes ökonomisches Interesse sowie den Mittelmeerraum im Auge haben. Auf der anderen Seite durchleben die europäischen Gesellschaften in ihrem politischen Fühlen und Denken schon heute gravierende Veränderungen. Die bevorstehende Mehrung der Mitgliedstaaten, gewisse Re-Nationalisierungstendenzen sowie unübersehbares regionales Denken lassen Tendenzen erkennen, zu kleinräumiger Überschaubarkeit zurückkehren zu wollen. 7 In alledem liegt zugleich der Keim künftiger Konflikte in einem gesamteuropäischen Integrationssystem. Hinzu treten die gewaltigen "sozialen Kosten" des Übergangsprozesses in den MOE-Staaten. Denn die Sozialpolitik aller Staaten in Mittel- und Osteuropa ist mit dem marktwirtschaftlichen Wirtschaftsmodell in der EU unauflöslich verbunden. Zumal in der Reichweite des Europäischen Sozialstaatsdenkens erweist sich Wirtschaften auch und gerade als ein genuin sozialer Prozeß. 8 Freilich bestehen auch aus umgekehrter Perspektive zahlreiche Hindernisse einer praktischen Solidaritätspolitik seitens der Gemeinschaft. Noch liegen keine aktuellen und detaillierten Angaben der MOE-Staaten zur Angleichung innerstaatlicher Rechtsvorschriften an das europäische Recht vor. Zugleich zeichnet sich bei allen gegenwärtig mit der EU assoziierten mittel- und osteuropäischen Staaten die Tendenz ab, die unverzichtbare Rechtsangleichung an den eigenen wirtschaftlichen Prioritäten zu orientieren. Demgegenüber ist daran zu erinnern, daß Heranführung und Beitritt der MOE-Staaten zur EU einen wesentlichen Beitrag zum Abbau des sozialen Gefälles zwischen der Union und ihren Nachbarn im Osten leisten müssen. 9 2. Die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union

Die Erweiterung der EU nach Osten setzt m. a. W. die erwähnten Anpassungsprozesse ohne Abstriche voraus. In den ab Anfang 1998 begonnenen Beitrittsverhandlungen der EU mit Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien und Estland wird 7 Vgl. aber auch Klaus Otto Nass, Verpönt und vergöttert. Der Föderalismus wird zu einern Strukturprinzip der Europäischen Union, in: FAZ v. 30. 12. 1997, S. 9. 8 RaineT Pitschas, Marktwirtschaftliche und soziale Integration als Aufgabe der Rechtsund Verwaltungsentwicklung in den MOE-Staaten, in: Rainer Pitschas/Rolf Sülzer (Hrsg.), Neuer Institutionalismus in der Entwicklungspolitik, 1995, S. 317 (318 f.). 9 Antwort der BReg. auf die Große Anfrage der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, BT-Drs. 13 / 5255.

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der Modernisierungsdruck für die Beitrittskandidaten noch zunehmen; die von der Kommission erstellte "Agenda 2000" weist in diese Richtung. Sie nennt als Voraussetzungen für den Beitritt eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, eine funktionsfähige Marktwirtschaft sowie die Fähigkeit, alle aus der Mitgliedschaft in der EU erwachsenden Verpflichtungen zu übernehmen. Dabei sollen im übrigen den Mitgliedstaaten und der Union nur begrenzt Mehrkosten entstehen. Ob dies auch zutreffen wird, mag hier dahinstehen. Immerhin haben Sachkenner schon vor einiger Zeit darauf hingewiesen, daß jedenfalls die Agrar- und Strukturpolitik aufgrund der Osterweiterung von einer Kostenmehrung betroffen sein werden, die zu einer Erhöhung des heutigen EU-Haushalts um etwa 23 Mrd. DM führen dürfte. Dabei werden keineswegs die Vorteile der Erweiterung übersehen 10; und auch denkbare sowie kompensatorische Wechselbeziehungen zwischen der EU-Integration und der eigenen regionalen Kooperation von Staaten Ostmitteleuropas werden in Rechnung gestellt. II

3. Staats- und Verwaltungsmodemisierung als Integrationsbedingung

a) Die Schwierigkeiten der Osterweiterung liegen allerdings nicht allein in der volkswirtschaftlichen bzw. finanzwirtschaftlichen Problematik. Hinzu kommt, wie bereits betont, die Notwendigkeit der weiteren institutionellen Entwicklung. Hier besteht ein immenser Nachholbedarf, der auf jeden Fall gedeckt werden muß. Die voranschreitende Staats- und Verwaltungsmodernisierung in den Reformländern Mittel- und Osteuropas ist unabdingbar. Dies gilt zum einen und in besonderem Maße für die öffentliche Verwaltung. Ohne ihren Beitrag müßte der Übergang zu einer sozial- und rechts staatlichen Demokratie sowie die Stimulierung und Durchsetzung eines dauerhaften marktwirtschaftlichen, dabei aber sozial und ökologisch verträglichen Wachstums scheitern. Dieser Zusammenhang zwischen einer demokratischen, rechenschaftspflichtigen und rechts staatlich arbeitenden Regierung bzw. Verwaltung und einem funktionierenden Wirtschafts- und Sozialsystem - beides gleichzeitig Grundlagen ökologisch verträglicher Existenz - darf nicht länger verkannt werden. Für die künftige Entwicklung in den MOE-Staaten gewinnen deshalb der weitere Umbau der Verwaltungen einschließlich der Einrichtung wirklich unabhängiger Verwaltungskontrollen und die Verse1bständigung von Verwaltungsträgern ausschlaggebende Bedeutung für das Gelingen der Beitrittsverhandlungen. 12 10 Bemhard Friedmann, Kann die EU die künftigen Herausforderungen finanzieren?, in: Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (Hrsg.), Speyerer Vorträge, Heft 36/ 1996, S. 18 f. II Christian Meier, Transfonnation der Außenwirtschaftspolitik: Zur Wechselbeziehung von EU-Integration und regionaler Kooperation der Staaten üstrnitteleuropas, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 30 - 31/ 97, S. 23 ff. 12 Joachim Jens Hesse (ed.), Administrative Transfonnation in Central und Eastem Europe. Towards Public Sector Refonn in Post-Communist Societies, 1993; Pitschas (Fn. 8), S. 321 ff.

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Mit diesem Prozeß ist ebenso und andererseits die fortschreitende Erneuerung des Rechts untrennbar verbunden. Erst auf der Grundlage einer stabilen rechtlichen, verfassungskräftigen Ordnung, die auf der Verfassungsebene den Gesellschaftsvertrag festschreibt, der nach Maßgabe der Grundprinzipien des anglo-europäischen Verfassungsstaates eine breite Beteiligung aller Bevölkerungsschichten an den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entscheidungsprozessen gewährleistet, wird die Integration der MOE-Staaten in die EU zum Erfolg führen. Freilich unterliegen die dementsprechend noch immer notwendigen Verfassungsund Rechtsentwicklungen einem vielfältigen Muster; es ist in einzelnen Staaten außerordentlich differenziert zu weben. 13 Denn in vielen Jahrhunderten historischkultureller Prägung haben sich fundamental unterschiedliche Rechts- und Verwaltungsräume in Mittel- und Osteuropa entfaltet. Sie lassen sich - nicht immer klar gegenseitig abgrenzbar - in den geographischen Bezeichnungen "Ostmitteleuropa", "Südosteuropa", "Kerngebiete des Russischen Reiches" (Rußland, Ukraine und Weißrußland) und "Islamische Region" der ehemaligen Sowjetunion identifizieren. 14 b) Der Erfolg der Integration der MOE-Staaten in die EU hängt somit auch und vor allem von leistungsfähigen Rechts- und Verwaltungs strukturen ab. Geht es aber um den Beitritt der genannten Staaten und - gleichsam in einer "zweiten Reihe" - um den weiterer Reformländer Mittel- und Osteuropas, so ist auf die umfassende Übernahme des in der EU herrschenden acquis communautaire zu drängen, insbesondere also auf die Übertragung des gemeinschaftlichen Besitzstandes in den Bereichen Recht, soziale Standards und der diesen zugrundeliegenden Verwaltungsstrukturen. 15 Das Ergebnis der Beitrittsverhandlungen wird von daher an einer durchgreifenden Neuorientierung von Staat, Recht und Verwaltung in den beitrittswilligen Reformländern zu messen sein. c) Für entsprechende Verhandlungsschritte ergibt sich allerdings ein konzeptionelles Problem: Der Übertragung gängiger Management-Rezepturen, die in den letzten Jahren unter dem Schlüsselbegriff eines "New Public Management" entwikkelt worden sind l6 , steht bereits der Mangel einer globalen bzw. westeuropäischen Konvergenz von Management-Konzepten entgegen. Die Reformen in Neuseeland, 13 Vgl. beispielhaft Robert Daubner, Verfassungsumwandlung, Privatisierung und Privatrechtskodifikation in der Tschechischen Republik, 1997; Ame Gobert, Europäische Rechtsangleichung in Ungarn, 1997; Komelia van der Beek/Peter Weiss (Hrsg.), Sozialpolitik im Transformationsprozeß. Ordnungs- und sozialpolitische Reformen in Polen, 1995; Peter Häberle, Verfassungsentwicklung in Osteuropa - aus der Sicht der Rechtsphilosophie und der Verfassungslehre, AöR 111 (1992), S. 169 ff. 14 Näher ausgeführt bei Georg Brunner, Wie entwickelt sich das neue Rechts- und Staatsdenken in Ost- und Südeuropa?, in: Rupert Scholz (Hrsg.), Deutschland auf dem Weg in die Europäische Union: Wieviel Eurozentralismus - wievie1 Subsidiarität?, 1994, S. 14ff., 19ff. 15 So zutr. und statt aller Lukas Elles, Europäische Verwaltungsförderung in Mittel- und Osteuropa, 1997, bes. S. 216ff. 16 Dazu statt aller und m. w. Nachw. Klaus König / Joachim Beck, Modemisierung von Staat und Verwaltung. Zum Neuen Öffentlichen Management, 1997.

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Australien oder Großbritannien, die in Verbindung mit Privatisierungs- und Deregulierungsanstrengungen dort zu einer spezifischen Verwaltungsentwicklung geführt haben, sind in ihrer ursprünglichen Gestalt auf die kontinentaleuropäischen Staaten nicht übertragbar. Dies gilt nicht zuletzt wegen des Unterschiedes zwischen den angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Staatstraditionen. Immer deutlicher zeigt sich, daß bisher die kulturellen Grenzen einer solchen Übertragbarkeit, die nicht nur im Nord-Süd-Verhältnis existieren, sondern eben auch zwischen den Industriestaaten bestehen, vernachlässigt worden sind. 17 Diese Gefahr droht nunmehr auch bei der Förderung des Umbaus der Staats- und Verwaltungsstrukturen in Ostund Mitteleuropa: Die komparative Erforschung der osteuropäischen Geschichte belegt jedenfalls, daß sich Ostmitteleuropa seit dem 15. Jahrhundert immer deutlicher als eine gesonderte europäische Strukturregion profiliert hat. 18 Die daraus erwachsenen strukturellen Unterschiede zwischen den europäischen Leitkulturen und bspw. Ostmitteleuropa widerstreben jeglicher Einebnung durch bloße Adaption der Staats- und Verwaltungsreformen in den westeuropäischen bzw. anglo-europäischen Staaten auf die Staatensysteme Ost- und Mitteleuropas. Hinzu kommt, daß es in dieser Region neben der Sicherung der wirtschaftlichen Entwicklung noch immer um das Problem geht, zentrale rechtliche und administrative Grundlagen zu schaffen. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht deshalb weniger das in Westeuropa vertraute Bürokratieproblem; die hauptsächlichen Anstrengungen haben demgegenüber der prinzipiellen Entwicklung eines "public service" zu gelten, also der Entwicklung eines öffentlichen Sektors, der an der Kreation und Sicherung von rechtsstaatlicher und sozialstaatlicher Demokratie tragenden Anteil nimmt. Dies bedingt die Vergewisserung über die Rolle des Staates und die Geburt einer neuen öffentlichen Verwaltung vor dem Hintergrund, daß auch in der gesonderten Strukturregion Ostmitteleuropa keine einheitliche Verwaltungskultur existiert. Erst heute zeigt sich in diesem Zusammenhang die Oberflächlichkeit der Versuche in den früheren Jahren, unter dem Begriff der "Kaderbürokratie" eine uniforme bürokratische Verwaltung in kommunistischen Staaten zu postulieren. 19 Ganz im Gegenteil gibt es nicht einmal eine einheitliche und strukturidentische kontinentaleuropäische Bürokratie. Gegenteilige Behauptungen20 übersehen, daß 17 Rainer Pitschas, Staats- und Verwaltungsmodemisierung in der Bundesrepublik Deutschland nach der Wiedervereinigung, in: Dongguk Universität Seoull Südkorea, Journal of Public Administration Vol. 24 (1996), S. 357 ff. IS Tatjana Eggeling/Wim van Meurs/Holm Sundhaussen (Hrsg.), Umbruch zur "Modeme"? Studien zur Politik und Kultur in der osteuropäischen Transformation, 1997; Michael G. Müller I Fikret Adanir I Christian Lübke I Martin Schulze Wessei (Hrsg.), Osteuropäische Geschichte in vergleichender Sicht, 1996. 19 Skeptisch aus US-amerikanischer Perspektive auch Randall Baker, Democracy Versus Bureaucracy: Transforrning the Nature ofthe Civil Service in Bulgaria, 1997. 20 Klaus König, Drei Welten der Verwaltungsmodemisierung, in: Klaus Lüder (Hrsg.), Staat und Verwaltung. Fünfzig Jahre Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 1997, S. 399 (400).

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wir gerade in den Festlandstaaten Europas, vor allem in der heutigen Europäischen Union, ein aufgefächertes Relief unterschiedlicher Verwaltungsbedingungen und -strukturen vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher Ausgangsbedingungen der Bürokratieentwicklung vorfinden. Wenig Erkenntnisgewinn versprechen deshalb Bemühungen, ..drei Welten der Verwaltungsmodernisierung" zu unterscheiden. 21 So sind z. B. kontinentaleuropäische Verwaltungen wie die Frankreichs und Deutschlands - unabhängig von ihrer jeweiligen Grundstruktur - nicht schon deshalb als ,,klassische Verwaltungssysteme" zu bezeichnen und einer ..ersten Welt" zuzuordnen, weil bei ihnen die mit der Moderne geschaffenen bürokratischen Leistungsordnungen über alle politischen Instabilitäten und Veränderungen hinweg den Regimewechsel von Monarchie über Republik und Diktatur zur Demokratie unverändert bzw. in ihren Strukturen unbeschadet überstanden hätten. Diese (bekannte) These von der Resistenz öffentlicher Verwaltung gegenüber demokratischsozialstaatlichen Entwicklungen ist für die Bundesrepublik Deutschland aus mancherlei Gründen zurückzuweisen. Jedenfalls für die Stellung der deutschen Verwaltung unter dem Grundgesetz läßt sich die permanente Dominanz des Politischen über die öffentlichen Bürokratien kaum leugnen. Die Situation hierzulande entspricht insoweit und mehr oder minder der anglo-amerikanischen Entwicklung der Werte des politischen Systems zu dem maßgeblichen Identifikationsmuster öffentlicher Verwaltung. Diese Tatsache wird denn auch eingeräumt, wenn sich formuliert findet, daß ..freilich auch in Deutschland Rechtsstaatlichkeit und Demokratie eng verknüpft" seien. 22

4. Staats- und Verwaltungsintegration als "offener" Modemisierungsprozeß

Für die MOE-Staaten hat das voraufgehend skizzierte konzeptionelle Defizit in der Frage der Staats- und Verwaltungsmodernisierung zur Konsequenz, daß auf der Grundlage der je eigenen (verwaltungs-)kulturellen Identität nach originären Entwicklungs schritten des politischen und administrativen Systems gesucht werden muß, die zugleich die dem Bürokratiemuster innewohnenden und einem Rechtsstaat unverzichtbaren Grundformen einer festen Zuständigkeitsordnung von Verwaltung, die Ablehnung von Amtswillkür sowie die Hinwendung zur Professionalität und Neutralität in öffentlichen Angelegenheiten integrieren.23 a) Allgemeiner gewendet, stehen auf längere Sicht noch immer Grundfragen der institutionellen Prägung zur Diskussion. In der Suche nach entsprechenden

22

König (Fn. 20), passim. König (Fn. 20), S. 401.

23

Zu diesem Grundzug der öffentlichen Verwaltung als Typus der Bürokratie siehe nur

21

Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl., 1996, bes. S. 124ff., 813ff.; aus neuerer Zeit Demetrios Argyriades, Neutrality and Professionalism in the Public Service, in: Haile K.

Asmerom/Elisa P. Reis (eds.), Democratization and Bureaucratic Neutrality, London 1996, p.45. 13"

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Antworten für die einzelnen MOE-Staaten zeigt sich im übrigen, wie wenig ergiebig die in den vergangenen Jahren hierzu unter dem Stichwort der "Transformation" angestellten Überlegungen gewesen sind. Die damit bezeichnete "Umwandlung" des ehemals real-sozialistischen ,,Rechts" bzw. die Überführung gewachsener Aufgaben-, Organisations-, Entscheidungs- und Personal strukturen gehorcht demgegenüber im Verlauf des prinzipiellen Systemwechsels immer sichtbarer einem inneren Bewegungsgesetz - wenn man so will: einem inhaltlichen Veränderungskonzept -, für das der häufig gewählte Begriff der "Transformation" ebenso aussagelos geblieben ist wie heute in der Annäherung an ein "New Public Management" der immer gleiche Ruf nach "Stärkung privater Eigenverantwortung" oder nach "Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren" konturenlos bleibt. Denn es wird nicht konkret festgelegt, worauf sich in welchem Zeitraum mit welcher Qualität die Veränderungen richten sollen. Demgegenüber gilt: Ob und inwieweit institutionalisierte Handlungsmuster im Verhältnis zwischen Staaten auch interkulturell übertragbar sind bzw. von der europäischen Ebene - nochmals gebrochen - auf die MOE-Staaten transponiert werden können, betrifft in erster Linie die Frage nach dem jeweiligen kulturell beeinflußten Bedingungsgefüge und dann im weiteren die Frage nach dem substantiellen Ziel, dem diese Vorgänge dienen sollen. Fest steht dabei, daß dieses Ziel letztlich "Integration" heißen muß. Diese aber meint den materiell und material determinierten, nachhaltig zu fördernden Prozeß einer neuen Ordnung von Gesellschaften im Zeichen der gemeinsamen Leitbilder von Freiheit und Gleichheit, von Marktwirtschaft, ökologisch-sozialstaatlicher Politik und Demokratie, die als solche und in Politik "übersetzt" die überkommenen Systemgegensätze überwinden kann, ohne dadurch die kulturelle Differenz zwischen Ost und West zu überspielen. Vor diesem Hintergrund erweist sich die mittel- und osteuropäische Staats- und Verwaltungsintegration als ein "offener" Prozeß der Modernisierung. Sein europäischer Ansatz bleibt nicht schon deshalb hoffnungslos, weil zuvor auf die unleugbaren Eigengesetzlichkeiten der je nationalen Staats- und Verwaltungsentwicklung verwiesen wurde. Vielmehr ist gerade im Hinblick hierauf der Integrationsbegrijf in seiner Reichweite geeignet, eine gemeinschaftsverträgliche Staats- und Verwaltungsmodernisierung der mittel- und osteuropäischen Länder mit Richtung auf die EU zu befördern. Denn auch in den EU-Staaten ist die öffentliche Verwaltung Teil gemeinschaftsweiter Integration und deren Sinngehalt verpflichtet. In diesem Sinne ist bereits heute die Verwaltungsentwicklung in den ostmitteleuropäischen Staaten zu verstehen. 24 Mit deren Einbezug in die EU gilt auch hier, daß die "Verwaltungsintegration" den Beitrag umschließen wird, den Organisation, Handeln und Verfahren der öffentlichen Verwaltungen in den Staaten Ostmitteleuropas, Südosteuropas, in den ostslawischen Kerngebieten des ehemaligen Russischen Reiches oder in den islamischen Regio24 Vgl. etwa Olga Vidltikovti, Public Administration Refonn in the Czech Republic in International Context, in: OIga Vidlakova/ Jiri Grospie (eds.), The State, Problems and OutIines of Public Administration in the Czech Republic, Prague 1996, pp. 26 (28 ff.).

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nen des Ostens für die gesellschaftliche Entwicklung sowie die Akzeptanz des je erneuerten und dabei transzendierenden Nationalstaates sowie weiterführend für seine erfolgreiche Existenz in der suprastaatlichen Gemeinschaft werden leisten müssen. 25 b) Um diese Einheitsbildung sichern zu können, sind die Staats- und Verwaltungsstrukturen auf der Grundlage des in den letzten Jahren gesammelten Erfahrungswissens fortzuschreiben. Für die MOE-Staaten geht es dabei u. a. darum, die Grundsätze zu ermitteln, die ein Staat für seine öffentliche Verwaltung braucht, um für seine Bürger eine geeignete Infrastruktur, ein legitimes Eingriffshandeln und ein akzeptables Dienstleistungsangebot zu gewährleisten. Im Vordergrund der weiteren Integration der MOE-Staaten in die EU muß somit ein konzeptioneller Ansatz stehen, der die Erfahrungen der letzten Jahre mit der europäischen Integrationsförderung auslotet und darauf eine Europäische Verwaltungsstrukturpolitik für Mittel- und Osteuropa zu gründen weiß. 11. Europäische Verwaltungsförderung in den MOE-Staaten

1. Wettbewerb in der Politik- und Bürokratieentwicklung

a) Läßt man die vielfältigen Bemühungen um die europäische Strukturförderung in den MOE-Staaten aus den letzten Jahren Revue passieren, so zeigt sich sehr schnell, daß die Ansatzpunkte der Integrationsförderung bei den Staatsaufgaben einerseits, den Modalitäten staatlicher Steuerung andererseits und schließlich bei der Restrukturierung des öffentlichen Dienstes gelegen haben. Was dabei die Staatsaufgaben anbelangt, so finden sich durchweg supranationale und nationalstaatliche Versuche, den Neuzuschnitt des öffentlichen und privaten Sektors durch eine Redefinition der jeweiligen überkommenen Staatsaufgaben zu erreichen. Am weitesten fortgeschritten in diesem Prozeß sind die Staaten Mittel- und Osteuropas unter der Anführerschaft von Ungarn sowie die baltischen Staaten. Danach folgen Südosteuropa, die GUS und zuletzt der Kaukasus und Zentralasien. Zentrale Bedeutung haben darüber hinaus die Modalitäten staatlicher Steuerung erlangt. Deren Effektivität und Effizienz zu sichern, hat in den letzten Jahren die Dezentralisation sowohl in der Wirtschaft als auch im politischen System zu einer Hauptaufgabe werden lassen. Insbesondere die Entwicklung der lokalen Regierungs- und Verwaltungsebene steht dabei in den MOE-Staaten im Vordergrund. Diese Prozesse fordern den jeweiligen politischen Akteuren einen enormen Kraft25 Zu dieser erstaunlichen "Kraft" von Verwaltungsintegration als neuzeitlichem Integrationstypus des modernen Verwaltungsstaates vgl. Rainer Pitschas, Aufgabenpolitik und Verwaltungsintegration, in: Ders. (Hrsg.), Verwaltungsintegration in den neuen Bundesländern, 1993, S. 159 (l60ff.).

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aufwand ab, wie sich am Beispiel Polens und Tschechiens besonders deutlich zeigt. Im einzelnen geht es dann auch darum, nicht nur das Verständnis für die notwendigen Dezentralisierungsprozesse zu wecken, sondern auch deren Initiierung und Umsetzung zu trainieren. 26 Nicht von ungefähr sind diese Anstrengungen mit der Aufgabe verbunden, den öffentlichen Dienst in jedem der MOE-Staaten zu re-strukturieren. Dabei ist einerseits in Erinnerung zu behalten, daß es keine uniforme Bürokratie in den ehemals sozialistischen Staaten gab. Auf der anderen Seite ist ebenso daran zu erinnern, daß keinerlei Verantwortlichkeit der an die kommunistischen Parteien gebundenen Bürokratien gegenüber der Öffentlichkeit existierte. Die Re-Strukturierung des öffentlichen Dienstes urnfaßt deshalb in jedem Reformstaat die Notwendigkeit, sowohl die Aufbau- und Ablaufstrukturen der Verwaltungen zu verändern als auch die Einstellungen und Verhaltensweisen der "Staatsdiener" zu wandeln. 27 b) Wenn es also weder einzelne strukturprägende "Welten" der Verwaltungsmodernisierung noch die Einheitlichkeit klassischer Kontinentalverwaltungen gibt, dann steht in der Verwaltungsförderung für Mittel- und Osteuropa einem Wettbewerb der Verwaltungssysteme nichts entgegen. Und in der Tat läßt sich heute in der Verwaltungswirklichkeit ein solcher Wettbewerb europäischer Staaten und Verwaltungen in den MOE-Ländern registrieren. Im wesentlichen lassen sich dabei drei Modelle unterscheiden, die den MOE-Staaten sowohl nachfrage- als auch angebotsorientiert durch die jeweiligen westeuropäischen Staaten bzw. durch die EU nähergebracht werden. Auf der einen Seite handelt es sich um das "französische Verwaltungsmodell" einer Eliteverwaltung vor dem Hintergrund rigider staatlicher Zentralstrukturen. Auf der anderen Seite steht das "deutsche Verwaltungsmodell" mit ausgeprägten Elementen einer flexiblen und dezentralisierten Verwaltung, das allerdings in außerordentlichem Maße durch Rechtsstrukturen geprägt wird. Schließlich findet sich ,,im Angebot" das amerikanische Verwaltungsmodell mit seiner bekannten Affinität zum Managerialismus?8 Mit Abwandlungen gilt dies auch in Großbritannien, wo mit der Modernisierung des "Civil Service" die Ideologie eines ,,New Public Managements" Einzug gehalten hat. 29 c) Angebot und Nachfrage bezüglich der System- und Strukturentwicklung begegnen sich zunächst auf der politisch-ministeriellen Ebene und sodann in den jeweiligen Politik- und Aufgabenfeldern in den Verwaltungsbüros "vor Ort", wo sie Gegenstand einer Wahlentscheidung werden. Dabei bevorzugen die MOE-Staaten 26 Vgl. nur Vidldkovd (Fn. 24), S. 34f.; Rainer Pitschas, The Impact of Democratization in Central and Eastem Europe: With Special Reference to Poland, in: Asmerom/Reis (Fn. 23), p. 127. 27 Marie-Christine Kessler. Modes et modeles de transformation de la gestion publique, en: Politiques et Management Public, 1/1996, p. 5 ff. 28 Vgl. nur David Osborne/Ted Gaebler. Reinventing Govemment: How the entrepreneurial spirit is transforming the public sector, Reading / Mass. 1992. 29 Frederick Ridley, Die Wiedererfindung des Staates - Reinventing British Govemment Das Modell einer Skelettverwaltung, DÖV 1995, 349 ff.

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die Konkurrenz der Anbieter, um selbständige Auswahlentscheidungen treffen zu können. 30 Das Problem ist nur, welches Modell gewählt werden sollte. Mögen die Regierungen der MOE-Staaten auch eher private Management-Modelle und damit die "ökonomischen" angelsächsischen Verwaltungs strukturen bevorzugen, so gilt doch, daß man nicht einfach die Bürokratie eines anderen "einkaufen" kann. 2. Auf dem Weg zu einer Europäischen Verwaltungsstrukturpolitik

Die Verwaltungsintegration in den MOE-Staaten und der ehemaligen UdSSR schwankt allerdings und einerseits zwischen der Nachfrage der östlichen Länder nach Modellen, Einzelpersonen oder Gruppen, die dem jeweiligen Staat bei der Umgestaltung der öffentlichen Verwaltung behilflich sein sollen sowie auf der anderen Seite einer gewissen "Tyrannei des Angebots": Die einzelnen Mitgliedstaaten der EU wie z. B. Frankreich, Schweden oder auch Deutschland nehmen bilateral Einfluß auf die Verwaltungsentwicklung und unterbreiten hierfür ihre Vorstellungen. Dabei ist Deutschland vor allem mit seinen "Stiftungen" aktiv. Zudem bestehen bestimmte Affinitäten in den bilateralen Beziehungen der Verwaltungszusammenarbeit. So hat etwa Frankreich eine besondere Beziehung zu Polen und Rumänien, aber auch Deutschland pflegt enge Kontakte zu diesen Staaten sowie zu Slowenien, Ungarn und Tschechien. Die nordischen Staaten sind dagegen eng mit den baltischen Ländern verbunden. Ein besonderes Vertrauen in seine Verwaltungs- und Förderungskompetenz genießt in Bulgarien die Bundesrepublik Deutschland. 31 a) Über alledem darf der supra- und internationale Kontext nicht vernachlässigt werden. Im Gegenteil drängt er immer stärker, von der Aussicht auf nachfolgende ökonomische Gewinne bestärkt, in den Vordergrund. Zahlreiche externe Berater aus den USA, Kanada und aus den UN gehen in die MOE-Staaten, um dort ihre jeweils eigenen Modelle für einen Institutionentransfer vorzustellen. 32 Auch die EU gehört zu diesem Kreis der Akteure: Sie versucht, durch Förderungsprogramme wie TACIS ("Technical Assistance for the Commonwealth of Independant States") und PHARE ("Poland-Hungary Aid for the Reconstruction of the Economy") auch jenseits der Förderung von Wirtschafts strukturen die Entwicklung demokratischer und rechtsstaatlicher Fundamente in den MOE-Staaten sowie die Anpassung von Rechtsvorschriften an den gemeinschaftlichen Standard zu ermöglichen. 33 Für PHARE bedeutet das gezielte Regierungsberatung, in der KonseKessler (Fn. 27), pp. 12 ff. Evelina Parvanova. Bedarfe, Probleme und Perspektiven der Beratungshilfe und Verwaltungsförderung aus der Sicht Bulgariens, in: Pitschas (Fn. 2), S. 99 ff. 32 Waldemar Kasprzik. Kulturübergreifendes Management der Entwicklungsprozesse? Die neuen Missionare: Entwicklungsagenturen (West) auf der Suche nach institutionellen Partnern (Ost) - Gegenwärtige Bemühungen und Perspektiven am Beispiel Aserbaidschans, in: Pitschas / Sülzer (Fn. 8), S. 65 ff. 33 Zusammenfassend Elles (Fn. 15), S. 67 ff. 30 31

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quenz also Verwaltungsförderung. Dabei wird institutionell-organisatorisch und schrittweise der sich zwischen den MOE-Staaten und der EU vollziehende Annäherungs- und Beitrittsprozeß gubernativ wie exekutiv vorbereitet bzw. unterstützt. Sehr weitgehend sucht dabei die EU, die durch die Vergabe der Mittel an Konsortien die Verwaltungsförderung strukturiert, der Nachfrage der MOE-Staaten und der Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR entgegenzukommen: 38 % der Mittel, die im PHARE-Programm der EU zur Verfügung stehen, sind für die bloße Verwaltungsförderung vorgesehen. 34 Den Löwenanteil daran nehmen die Länder in Anspruch, die nunmehr "in der ersten Reihe" mit ihren Beitrittsgesuchen zur EU stehen. Dagegen treten diejenigen Staaten zurück, die bedauerlicherweise weniger schnell den Anschluß an die EU finden werden. Manche Staaten haben allerdings auch politische Schwierigkeiten, die Zukunft ihres politischen Systems zu organisieren: Bulgarien, aber auch Rumänien haben sich aufgrund dessen weitgehend aus der supra- und internationalen Verwaltungszusarnmenarbeit verabschieden müssen. Doch ist auch hier die Situation nicht hoffnungslos. b) Auf dem skizzierten Fundament der supranationalen Hilfeanstrengungen formiert sich ein neuer Strukturtypus europäischer Verwaltungspolitik. Die EU hat mit ihren Hilfeprogrammen die Schlüsselrolle von neuen Verwaltungs strukturen in der Heranführung der Reformländer an die Rechts- und Verwaltungs standards der Gemeinschaft akzeptiert. Sie mißt der Rolle der Verwaltungsstrukturpolitik im Rahmen der Zusammenarbeit mit den MOE-Staaten, wenn auch erst sehr spät, eine erstrangige Bedeutung zu. Ausdruck dessen ist die neukreierte "Europäische Verwaltungsförderung", die im Herzen Europas ebenso zum Aufbau politischer und administrativer wie auch zur Entwicklung ökonomischer Strukturen beiträgt. Darin eingebettet sind zudem Aufbauhilfen für die soziale Sicherung, die sowohl die Sozialversicherung als auch die Sozialverwaltung erfassen. Inmitten dieser Strukturförderung nehmen der Aufbau einer Renten- und Krankenversicherung sowie einer "Arbeitsverwaltung" aus ökonomischen Gründen eine zentrale Rolle ein. 35 Auch in dieser Beziehung geht die EU mit Recht davon aus, daß die soziale Sicherheit eine unverzichtbare Struktur der Modernisierung in den MOE-Staaten i. S. einer gesamteuropäischen Integration bildet. 36 Aus alledem werden die Umrisse einer "Europäischen Vewaltungsstrukturpolitik" erkennbar, die zunächst und auf dem Fundament der europäischen Verwaltungsförderung am Sinnzusammenhang von Erneuerung und Verwaltungszusam34 Vgl. F. Cameron, Stand und Perspektiven der Entwicklung der Europäischen Union nach Mittel- und Osteuropa, in: Berichte des Forschungsinstituts der Internationalen Wissenschaftlichen Vereinigung Weltwirtschaft und Weltpolitik e. v., 1997, S. 2. 35 Elles (Fn. 15), S. 261 ff.; Rainer Pitschas, Refonn der Gesundheitssicherung in Polen im Licht der anglo-europäischen Sozial- und Gesundheitspolitik, in: Zeitschrift für internationales und ausländisches Sozialrecht 1994, S. 303 ff. 36 Dazu die Beiträge in dem Sammelband von Bernd Baron von Maydell I Eva-Maria Hohnerlein (Hrsg.), Die Umgestaltung der Systeme sozialer Sicherheit in den Staaten Mittel- und Osteuropas, 1993.

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menarbeit ansetzt. Dieser Zusammenhang ist vertraut, prägt er doch gern. Art. 130u EGV die externe europäische Verwaltungszusammenarbeit, etwa gegenüber den früheren französischen Kolonien sowie im Rahmen der Lome-Kooperation ("Europäische Entwicklungspolitik,,).37 Komplementär dazu und ebenso partnerschaftlich orientiert geht es nunmehr um die Verlängerung dieser Zusammenarbeit im europäischen Raum, d. h. "nach innen" gegenüber den MOE-Staaten. Mag dabei die Konzeption dieser Neuen Europäischen Verwaltungsförderung auch keine ausgeprägte innere Dimensionalität, statt dessen aber starke Brüchigkeit erkennen lassen, so offenbart sich doch prozeßhaft die wachsende Fähigkeit der Union, in ihrem Binnenbereich eine eigengeartete, in dieser Gestalt schon bisher nicht völlig fremde Verwaltungs.strukturpolitik zu entwickeln, auszuformen und umzusetzen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnis liegt nicht fern zu vermuten, daß die Gemeinschaft künftighin diese noch zu verfeinernde Fähigkeit benutzen wird, entsprechend der sich verdichtenden Wechselwirkung zwischen nationalem und europäischem Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsorganisationsrecht38 eine Verwaltungsstrukturpolitik unionsweit auszuformen. Vereinzelt geschieht dies bereits, wie z. B. die Entwicklung europäischer Umweltagenturen belegt. 39 3. Der Kampf um das Personal

Für den Erfolg einer solchen europäischen Verwaltungsstrukturpolitik im Verhältnis zu den MOE-Staaten ist auch und vor allem die personalpolitische Seite von Bedeutung. Die wichtige Teilaufgabe der Re-Strukturierung des öffentlichen Dienstes in den MOE-Staaten ist nur zu bewältigen, wenn der "Kampf um das Personal" geführt wird. a) Die Europäische Strukturpolitik in Gestalt der Rechts- und Verwaltungszusarnmenarbeit mit den mittel- und osteuropäischen Staaten steht also inmitten des Problems, deren Staats- und Verwaltungsmodernisierung an "europaverträglichen" Strukturmodellen zu orientieren, vor der Frage, welchen personellen Anforderungen der künftige öffentliche Dienst in den MOE-Staaten, die zur EU aufschließen wollen, unterliegen sollte. Hierbei geht es einerseits um den prinzipiellen Abschied an die ehemals sozialistischen "Kaderbürokratien". Insofern meint "Modernisierung", die Fähigkeiten der Bediensteten und ihre Bereitschaft zu erhöhen, bei der täglichen Routine und Führungsarbeit jenen Prinzipien zu folgen, die ein demokratisch-rechtsstaatliches Gemeinwesen im Verfassungsstaat für den öffentlichen Dienst benötigt. Diese Anforderungen setzen mehr voraus, als nur die Verwal37 Näher hierzu und m. w. Nachw. Rainer Pitschas, Der Auftrag der EG zu einer "sozialen" Entwicklungspolitik, in: Detlef Merten/Rainer Pitschas (Hrsg.), Der Europäische Sozialstaat und seine Institutionen, 1993, S. 201 ff. 38 Dazu jüngst Wolfgang Kahl, Europäisches und nationales Verwaltungsorganisationsrecht. Von der Konfrontation zur Kooperation, DVerw. 29 (1996), S. 341 ff. 39 Vgl. Kahl (Fn. 38), S. 356.

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tungsarbeit zu erledigen und sich nebenher zu qualifizieren. Erforderlich wird für jeden einzelnen Mitarbeiter / Mitarbeiterin ein Wechsel der Einstellungen und Attitüden sowie der Aufbau einer Wertorientierung am Leitbild der demokratischen Gesellschaft. Dies meint vor allem die Bereitschaft, sich auf Verantwortung gegenüber dem Bürger und der Öffentlichkeit einzulassen. 4o b) Freilich muß man derzeit feststellen, daß für eine Reform des öffentlichen Dienstes in allen MOE-Staaten und den Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR, wenn auch in unterschiedlichem Maße, wenig Enthusiasmus herrscht. Wie sollte es auch anders sein? Es gibt keine nichtkommunistische Elite, die an die Stelle der belasteten Angehörigen der ehemaligen Bürokratie treten könnte. Thre Herausbildung ist vielmehr eine Frage von Generationen. Zu bedenken ist allerdings, daß die ehemalige Konformität der Angehörigen sozialistischer Bürokratien weitgehend erzwungen war. Auch im früheren "öffentlichen Dienst" gab es Kämpfe, verschiedene Fähigkeiten und verschiedene Mentalitäten mit sehr unterschiedlichen Graden der Anständigkeit. So haben in Polen beim sog. Runden Tisch manche auf kommunistischer Seite verhandelt, die dann an der Seite der neuen demokratischen Regierung standen. Und in vielen Fällen waren diejenigen, die nicht Mitglieder der Partei waren, beflissenere Diener des Systems als manche von denen, die im "Apparat" tätig waren. Zudem gibt es viele Parteilose, die durch ihre Anpassung mehr Schaden als harmlose Parteimitglieder angerichtet haben. Parteiangehörigkeit und bürokratische Mitgliedschaft sollten also nicht der einzige Maßstab der Beurteilung sein. Dies ist im übrigen auch die in Deutschland gegenüber dem Personal der früheren DDR-Verwaltung verfassungsrechtlich geforderte Position. 41 Im Grunde geht es deshalb nunmehr darum, in verspäteten Gesellschaften einen neuen öffentlichen Dienst zu kreieren, der auf die Geschichte und die nationalen Traditionen des eigenen Landes Rücksicht nimmt, dabei aber rechtsstaatlich, unabhängig und professionell handelt. Gerade das Verwaltungsmodell Max Webers vermittelt diesen gewünschten Grad an Rationalität und Effizienz. Inhärente Voraussetzung dessen ist allerdings eine weitgehende Neutralität des öffentlichen Dienstes, der sich dieser zufolge gegenüber Managementmodellen sperrt, in denen die Mehrzahl der Positionen doch wieder auf politischer Auswahl beruhen. 42 Es nimmt daher nicht wunder, daß die Regierungen der MOE-Staaten derzeit stärker den politisch "offenen" anglo-amerikanischen Strukturen des öffentlichen Dienstes zuneigen. Dazu trägt auch bei, daß zwischen den neuen Eliten in den MOE-Staaten und den ehemals sozialistischen "Kadern" inzwischen Netzwerke entstanden sind, de40 Joachim Jens Hesse, Administrative Modernisation in Modern Central Eastern European Countries, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1991, S. 197ff. 41 BVerfGE 92,140 (156f.). 42 Rainer Pitschas, Aspects of Max Weber's Theory on Bureaucracy and New Public Management Approach, The Indian Journal of Public Administration, Vol. XXXIX (1993), pp. 643.

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ren Wirken einer tiefergehenden allgemeinen Diskussion über die künftige Rolle des Staates und seiner Bürokratie sowie der Frage nach deren Konstruktionsprinzipien widerstrebt. Den Interessen dieser Netzwerke kommen dagegen stark sektoralisierte Formen der Verwaltung entgegen, deren Angehörige eine relativ hohe Abhängigkeit von der Politik aufweisen und die strukturell stark ausdifferenziert i. S. eines gewissen "Kolonialismus" funktionieren. Allerdings bleibt festzuhalten, daß auf der Ebene der Lokalverwaltungen die Erkenntnis von der Notwendigkeit eines professionellen öffentlichen Dienstes mit der Garantie einer prinzipiellen Neutralität der Mitarbeiter / Mitarbeiterinnen fortgeschrittener ist. 43 c) Im Hinblick auf diese diffuse Situation wogt in den EU-Staaten derzeit ein verstärkter Wettbewerb um die künftige Struktur der Regierungs- und Verwaltungssysteme in den MOE-Staaten. Reformen in Neuseeland, Australien oder Großbritannien haben dabei zwar im Hinblick auf die Möglichkeiten der Privatisierung und Deregulierung internationale Aufmerksamkeit geweckt; gleichwohl sind sie in einer Reihe westeuropäischer Staaten wegen der dort herrschenden nationalen Traditionen weder umstandslos zu übernehmen noch entfalten sie dort wie eingangs bereits ausgeführt - jene Wirkungen, die ihnen gemeinhin unterstellt werden. So gilt es also, gleichermaßen in West und Ost zwischen den Prozessen gesellschaftlicher Differenzierung, Rationalisierung, persönlicher Domestizierung und freiheitlicher Individualisierung zu unterscheiden. 44 Insbesondere die Vorgänge der Individualisierung stehen dabei in einem engen Zusammenhang mit dem Problem, stabile Institutionen - wie z. B. einen funktionsfähigen öffentlichen Dienst - in den MOE-Staaten zu entwickeln. Denn ein Kennzeichen der gegenwärtigen Staats- und Verwaltungsmodernisierung ist die Hinwendung zur Subjektivierung der Institutionen. Zu diesem Trend gehört es auch, daß Verwaltungsentwicklung und Verwaltungsstrukturpolitik in Mittel- und Osteuropa in den Rahmen einer Dialog-Strategie einzubetten sind. Die Strukturangebote der EU haben sich dabei am Erfahrungshorizont der Entwicklungspartner in Mittel- und Osteuropa auszuweisen. Reformen etwa des öffentlichen Dienstrechts bzw. institutionelle Pluralisierung und Stabilisierung müssen insoweit die subjektive Dimension der Akteure berücksichtigen. Ein geeignetes Instrument, hierauf einzuwirken, ist die Aus- und Weiterbildung im öffentlichen Dienst. 45 Sie setzt die Partner und Akteure in den MOE-Staaten in den Stand, sich der jeweiligen Bedingungen von Staats- und Verwaltungsmodernisierung bewußt zu werden. Dem Bemühen, "aktuell", "modem", in jedem Fall aber 43 Siehe etwa Imre Verebilyi, Territorial State Administration and Self-Govemment. The Hungarian Experience of Decentralisation, in: Vidhikova / Grospie (Fn. 24), pp. 104. 44 Rainer Pitschas, Sodal Integration and Democratie Civic Education, in: The Korean Assodation for Public Administration (ed.), Policy Problems of a Unified Korea: Conflicts, Challenges and Poliey Alternatives after Reunifieation, 1997, pp. 87. 4S Christoph Reichard, Akkulturation durch Personalentwicklung: Ansätze zum Kulturwandel in mittel- und osteuropäischen Verwaltungen, in: Pitschas / Sülzer (Fn. 8), S. 379 (392f.).

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"innovativ" zu sein, tritt dann die Chance an die Seite, die Probleme und Folgelasten jener Strukturmodelle zu erkennen, die man angeraten erhält und die man ohne nähere Prüfung möglichst umstandslos implementieren soll. Aus- und Weiterbildung stellen deshalb - wie auch am nachfolgenden Beispiel der Bildungskooperation der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer mit den assoziierten mittel- und osteuropäischen Staaten im Verwaltungssektor deutlich wird - ein unerhört geeignetes Instrument dar, in den Regierungs- und Verwaltungsstäben der mittel und osteuropäischen Staaten realistische Entscheidungen für europataugliche Verwaltungs strukturen zu befördern. III. Die Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer als Partner einer Europäischen Verwaltungsstrukturpolitik

Die Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer befaßt sich seit ihrer Gründung im Jahr 1947 in besonderer Weise mit der Ausbildung, Weiterbildung und Forschung für die öffentliche Verwaltung. 46 Dem entspricht auch der zum Ende des Jahres 1997 neu bestätigte und wiederum präzisierte gesetzliche Auftrag. 47 Ihm zufolge bildet die Hochschule nunmehr ein Zentrum der Verwaltungswissenschaft in Europa und für Übersee. Sie dient der Pflege und Entwicklung dieser Wissenschaft durch Forschung, Lehre und Beratung. Dabei obliegt der Hochschule insbesondere die verwaltungswissenschaftliche Aus- und Weiterbildung durch ein entsprechendes internationales Studienangebot. Zu dem gesetzlichen Auftrag gehört zugleich, die internationale und insbesondere europäische Zusammenarbeit der Staaten im Verwaltungssektor zu fördern und dabei den Austausch mit deutschen und ausländischen Hochschulen ebenso wie den Beratungsauftrag zu pflegen. Während noch bei Errichtung der Hochschule im Jahr 1947 Aus- und Weiterbildungsaufgaben vorwiegend auf den nationalen Kontext beschränkt waren und vor allem die Verwaltungen der Bundesländer als Hauptträger der Hochschule erfaßten, wurden die Weichen spätestens mit der Einrichtung des verwaltungswissenschaftlichen Aujbaustudiums im Jahre 1976 anders gestellt. Von diesem Zeitpunkt an, aber seit 1989 verstärkt, geht die Entwicklung in Richtung einer weiteren Internationalisierung. 48 46 Klaus König, Verwaltungswissenschaften in Ausbildung, Fortbildung und Forschung: Dreißig Jahre Hochschule Speyer, in: FS für earl Herrnann Ule zum 70. Geburtstag, 1977, S. 53 ff.; Egon Riffel, Auch Verwalten will studiert sein, Uni 6/1981, S. 26ff. 47 § 2 Abs. 5 Drittes Landesgesetz zur Änderung des Verwaltungshochschulgesetzes vom 18. 12. 1997 (GVBI. Rhld.-Pf., S. 463); das Gesetz hat auch den Namen der Hochschule erweitert. 48 Siehe etwa Heinrich Reinermann, Ausländerstudium und -ausbildung an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, VerwArch. 75 (1984), S. 143 ff.; speziell mit Blick auf die MOE-Staaten vgl. auch Egon Riffel, Kooperation mit den assoziierten mittel- und osteuropäischen Ländern bei der Ausbildung von Verwaltungsfachleuten, vvM., 1997; ferner Rainer Pitschas, Vom Wandel der Verwaltungszusammenarbeit: Herausforderung an die vergleichende Verwaltungswissenschaft, DVerw. 25 (1992), S. 477 ff.; die Programmführung des

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1. Das Speyerer internationale Aujbaustudium

Die Deutsche Hochschule für Verwaltungs wissenschaften Speyer bietet i. d. Sinne ein dreisemestriges und international ausgerichtetes verwaltungs wissenschaftliches Aufbaustudium an, mit dem der akademische Grad eines "Magister rerum publicarum (Mag. rer. publ.)" erworben werden kann. Das sog. AusländerAufbaustudium will ausländische Angehörige des höheren Verwaltungsdienstes in Übersee sowie in der Europäischen Union, daneben aus vergleichbaren Tatigkeitsfeldern in Verbänden etc. und aus Bildungsinstitutionen mit den Anforderungen und Bedürfnissen der modemen öffentlichen Verwaltung in Deutschland und der EU vertraut machen. Zu diesem Zweck ermöglicht das internationale Studienprogramm auch den Erwerb des Titels eines "European Master of Public Administration (EMPA)" im Zusammenwirken mit anderen europäischen Universitäten. Bestandteil des Studiums ist ferner ein verwaltungswissenschaftliches Studienangebot für Hörer aus den mittel- und osteuropäischen Staaten. Eine zusätzliche internationale Komponente des Aufbaustudiums bietet die Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer zusammen mit der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung / Zentralstelle für Öffentliche Verwaltung (DSE / ZÖV) an. Hierbei handelt es sich um ein dreisemestriges Fachstudium für junge Verwaltungseliten einschließlich Lehrkräften an Verwaltungsschulen und -instituten speziell aus Entwicklungsländern. 49 Nach Abschluß dieses internationalen Aufbaustudiums soll der Absolvent in der Lage sein, in Verbindung mit seinem vorherigen Fachstudium typische Problemstellungen der ausländischen bzw. supranationalen Verwaltung unter Berücksichtigung der Erkenntnisse anderer Disziplinen beurteilen und lösen zu können. Adressaten des Aufbaustudiums sind daher in erster Linie überdurchschnittlich qualifizierte Bewerber aus den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, die über hinreichende deutsche Sprachkenntnisse und internationale Erfahrungen verfügen. Ihnen wird die entsprechende Ergänzung und Vertiefung ihrer Ausbildung ermöglicht. a) Das internationale Aufbaustudium beginnt jeweils zum Wintersemester

(1. November) eines jeden Jahres; es dauert i. d. R. drei Semester und urnfaßt dabei

ein Verwaltungspraktikum von mindestens acht Wochen sowie eine Prüfungsphase, die unmittelbar an das dritte Studiensemester anschließt und insgesamt drei Monate dauert. Deutsche Teilnehmer beginnen im Sommersemester (1. Mai); sie können das Studium wegen der vorausgesetzten Verwaltungskenntnisse ggf. um ein Semester verkürzen. Dies gilt freilich nur, wenn sie allein das nationale verwaltungswissenschaftliche Aufbaustudium wählen. Für ausländische Hörer, die das internationale Aufbaustudium an der Hochschule belegen, ist dagegen zur Orientierung über die deutsche Verwaltung die Teilnahme an einem Vorsemester und an einer Praxisphase in der deutschen Kommunalverwaltung erforderlich. Die TeilAusländer-Aufbaustudiums ist dem Lehrstuhl für Verwaltungswissenschaft, Entwicklungspolitik und Öffentliches Recht (Univ.-Prof. Dr. Rainer Pitschas) berufungshalber anvertraut. 49 Näher hierzu Reinermann (Fn. 48), S. 148 ff.

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nahme am EMPA-Programm oder der alternativ mögliche Erwerb des Titels eines "Master of European Public Administration (MEPA)" bedingt im übrigen, von den drei Semestern eines im europäischen Ausland zu verbringen. Das Studium ist schwerpunktbezogen gestaltet. Neben einer Reihe pflichtweise zu wählender Veranstaltungen kann jeder Hörer die Schwerpunkte seines Studiums (Kernbereich I Ergänzungsbereich) aus den Gebieten - Personalverwaltung und Personalführung - Organisation, Verwaltungsinformatik - Planung und Entscheidung - Staat und Wirtschaft, Haushalt und Finanzen - Verwaltung, internationale Ordnung und Beziehungen frei bestimmen. b) Das internationale Aufbaustudium war - und ist - aufs Ganze gesehen ein sehr erfolgreicher Beitrag zur inhaltlichen Reform und Weiterentwicklung des öffentlichen Dienstes in den Herkunftsländern der Hörer. Es hatte deshalb schon bald nach seiner Einführung internationale Aufmerksamkeit gefunden. Zunächst waren es Einzelpersonen aus Griechenland, Spanien, Peru, Korea und den Philippinen, die - teilweise durch politische Stiftungen und den DAAD gefördert - den Studiengang für sich entdeckten und ihn mit großem persönlichen Erfolg (wie sich aus der Rückschau beurteilen läßt) absolvierten. Auch das mit der DSE/ZÖV gemeinsam geführte "Verwaltungswissenschaftliche Studienprogramm für Führungskräfte aus der Dritten Welt" ist erfolgreich eingeschlagen, zumal es in einem vorgeschalteten Halbjahr eine intensive Ausbildung in der deutschen Sprache umfaßt. Auch dieses Programm wird mit dem Magistergrad bzw. dem Grad eines "Master in Public Administration Sciences" abgeschlossen. Besonders erfolgreichen Absolventen steht - wie auch sonst nach Beendigung des internationalen Aufbaustudiums - die Promotion offen. Teilnehmer an dem Programm sind von der DSE im Zusammenwirken mit der Hochschule nach entwicklungspolitischen, dabei aber vorherrschend akademischen Qualifikationen sowie unter dem Gesichtspunkt der Zugehörigkeit zu jungen Verwaltungseliten ausgewählte Interessenten aus der Dritten Welt. Das Programm ist darüber hinaus offen für andere Träger wie DAAD, politische Stiftungen, kirchliche Entwicklungshilfeeinrichtungen sowie für Regierungsstipendiaten und Selbstzahler. Mehr als hundertfünfzig Teilnehmer aus Süd- und Südostasien, Afrika sowie aus Lateinamerika haben bisher an dem Programm teilgenommen. Die regionalen Schwerpunkte wechseln; sie beziehen in den letzten Jahren die ehemals sozialistischen Länder Asiens und Afrikas (Mongolei, Usbekistan, Mozambique, Angola, Vietnam) ein. Zahlreiche Teilnehmer sind anschließend als hohe Ministerialbeamte, aber auch als anerkannte Hochschullehrer und führende Manager im Privatsektor, d. h. nach Rückkehr in die Heimat in vielen Schlüsselpositionen tätig.

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c) Ende der 80er Jahre haben mehrere Universitäten in Belgien, den Niederlanden und Großbritannien ähnliche verwaltungsbezogene postgraduale Magisterstudiengänge und damit ein Aufbaustudium mit international vergleichendem Charakter eingeführt. Gemeinsam verbindet diese Universitäten bzw. Hochschulen das Programmziel sowie der zwischen ihnen vereinbarte und vergebene Abschluß eines "European Master of Public Administration". Die EU hat den Start durch Projektmittel und Mobilitätsbeihilfen erleichtert. Waren im Rahmen des Programms zunächst die Universitäten Leuven, Rotterdam und Leiden sowie die London Scho01 of Economics und die Universität Oxford mit der Hochschule Speyer in diesem Programm verbunden, so ist seit einiger Zeit die Universität Liverpool statt der anderen genannten englischen Universitäten an dem Programm beteiligt; seit 1996 ist die Wirtschaftsuniversität Budapest hinzugekommen. Weitere Universitäten aus westeuropäischen und den MOE-Staaten werden folgen. Die Zahlen sind klein, die Qualität ist hoch. Eine besondere Intensivierung des Programms in curricular überarbeiteter Form ("MEPA") steht gegenwärtig in der Phase der Umsetzung bzw. zwischen Rotterdam, Leiden und Leuven bereits in der Erprobung. 2. Kooperation mit den MOE-Staaten

a) Vor dem Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung wurde im Übergang der realsozialistischen Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen in rechtsstaatlich-demokratische Gemeinwesen die Staats- und Verwaltungsmodernisierung in Mittel- und Osteuropa zu einem zentralen Thema der Hochschule Speyer. Sie hat sich auch in ihrer Aus- und Weiterbildung auf die spezifischen Bedürfnisse der MOE-Staaten ausgerichtet. Der seitdem mit diesen Ländern geführte intensive Bildungsdialog wird durch die grundsätzlichen Fragen nach dem Aufgabenwachstum im Wohlfahrtsstaat, den Modalitäten staatlicher Steuerung und der Modernisierung des öffentlichen Managements bestimmt. Auf einer mehr operationalen Ebene werden Fragen der Verwaltungsmodernisierung durch Führungskräfteentwicklung behandelt. Diese stellt einen Schlüsselbegriff der subjektivierten Staats- und Verwaltungsmodemisierung dar. 5o In seiner Reichweite begegnen sich verwaltungswissenschaftliche Theorie- und Praxisüberlegungen mit den Leitlinien des europäischen PHARE-Programms, speziell im Hinblick auf die Beitrittsvorbereitungen der MOE-Staaten zur EU. Folgerichtig stehen auch in Speyer Aus- und Weiterbil50 Rainer Pitschas, Verwaltungsmodemisierung durch Führungskräfteentwicklung, in: Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Öffnung und Kooperation. I. Chinesisch-Deutsches Verwaltungskolloquium, 1997, S. 107 ff.; diesem mit dem Aufbaustudium verknüpften Aspekt werden die Ausführungen von Heinrich Siedentopf, Das Führungskolleg Speyer (FKS), in: Lüder (Fn. 20), S. 477 ff., zum Ausbildungs- und Fortbildungsauftrag der Hochschule Speyer (S. 478 ff.) ebensowenig gerecht wie die Bemerkungen zum Aufbaustudium. Das FKS ist im übrigen und zumal in der europäischen Dimension (S. 490f.) nach meinem Urteil bisher keine erfolgreiche Einrichtung, weil weder das Curriculum geklärt noch der Praxistransfer gewährleistet ist.

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dungsmaßnahmen im Mittelpunkt, die auf die Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes vorbereiten. b) Die Konzeption des Speyerer internationalen Aufbaustudiums bildet ein geeignetes Gefäß für die Aufnahme dieser Zielvorstellungen. Der Organisation des Studiums steht zugleich ein Instrumentarium zur Verfügung, das diese Zielvorstellungen praxisnah umzusetzen vermag. Im Mittelpunkt stehen dabei zwei Praxisphasen für die Studenten. Diese "internships" sind von unterschiedlicher Intensität, und sie finden bei unterschiedlichen Institutionen statt. Sie sind aufeinander abgestimmte Bestandteile des Verwaltungspraktikums, und sie werden als solche punktgenau gesteuert und auf die spezifischen Bedürfnisse der Teilnehmer zugeschnitten. Jede Phase wird von der Hochschule kritisch begleitet und zusammen mit den Teilnehmern ausgewertet. Die Palette der Angebote reicht von der klassischen Kommunalverwaltung bis hin zum Büro eines Ministerpräsidenten, von den Landes- und Bundesministerien bis zu allen Arten von Sonderbehörden, von europäischen Institutionen bis hin zu Einrichtungen der Wirtschaft, Spitzenverbänden o. ä. Auf Bitten der Netherland School of Government, einer Führungsakademie für niederländische Spitzenbeamte, hat die Hochschule von Zeit zu Zeit auch Auslandspraktika für niederländische Führungskräfte organisiert. Für die Praktika und das Studium sind deutsche Sprachkenntnisse unverzichtbar. Aber alle Teilnehmer müssen zugleich über gute Englischkenntnisse verfügen, weil eine Reihe von Lehrveranstaltungen in englischer Sprache stattfinden. Die Sprache stellt im übrigen - freilich im Gegensatz zu dem Programm für Teilnehmer aus der Dritten Welt - kein wesentliches Hindernis für den Bildungsdialog dar, weil z. B. in vielen der in Betracht kommenden MOE-Staaten ein erhebliches deutsches Sprachpotential vorhanden ist. Die dazu schon bisher gesammelten Erfahrungen mit Teilnehmern am Aufbaustudium aus Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien und Bulgarien, dem Baltikum, der Ukraine und Rußland, aber auch aus der Mongolei sind ermutigend. Auch ihre anschließende berufliche Integration entsprach weitgehend den Zielvorstellungen; sie sind als Multiplikatoren wichtige Wegbereiter bzw. Mittler bei der Re-Strukturierung des öffentlichen Dienstes in den Heimatstaaten geworden. c) Das internationale Aufbaustudium wird begleitet von zahlreichen Tagungen, Konferenzen, Foren und Werkstattgesprächen, die sich speziell europabezogenen und vergleichenden rechts- und verwaltungswissenschaftlichen Themen widmen. Aus den letzten Jahren seien hier nur erwähnt das deutsch-polnische Verwaltungskolloquium, die Seminare über die polizeiliche Ost-West-Kooperation, die gemeinsam mit der Polizei-Führungsakademie in Münster durchgeführt wurden, sowie die inzwischen etablierten Speyerer Foren zur Rechts- und Verwaltungszusammenarbeit, die sich 1996 mit dem "Sozialen Dialog in der Europäischen Union und in den MOE-Staaten" und 1997 mit der "Globalisierung der Wirtschaft als Herausforderung an die Rechts- und Verwaltungsentwicklung der WTO-Staaten" befaßten. Solche und andere internationale Begegnungen, in die ausländische Doktoranden und Studenten intensiv eingebunden und die durch Tagungsbände dokumentiert

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werden, sind von zahlreichen Gesprächen mit osteuropäischen Fakultäten und von Forschungskooperationen begleitet. So bestehen zur Zeit intensive Kontakte zur Karls-Universität Prag, zur Tschechischen Akademie der Wissenschaften, zu den Universitäten Warschau, Danzig, Posen und Lodz, zur Wirtschaftsuniversität Budapest und zur ungarischen School of Public Administration sowie zur Universität Sofia und zur Verwaltungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Ljubljana; auch die Universität Belgrad ist in diese Kontakte einbezogen. 51 Verwaltungsbezogene Kooperationen bestehen mit den Städten St. Petersburg / Rußland sowie Kiew /Weißrußland und Sofia/Bulgarien. Ein Beispiel für eine erfolgreiche - und durch TEMPUS für drei Jahre geförderte - Zusammenarbeit ist ferner der Aufbau einer School for Public Administration an der Universität Ljubljana in Slowenien. Diese Kooperation begann im Jahr 1991; an ihr sind die Universitäten Liverpool (Liverpool Institute for Public Administration Management), die Caledonian University Glasgow und die Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer beteiligt. d) Slowenien einerseits, die polizeiliche Ost-West-Kooperation andererseits sind im übrigen Beispiele dafür, wie sich Aus- und Weiterbildung an der Hochschule für Verwaltungs wissenschaften Speyer mit der Forschung und der wissenschaftlichen Beratung beim Aufbau rechts- und sozialstaatlicher Institutionen sowie marktwirtschaftlicher Strukturen verzahnt sehen. Dieser Verbund reicht - um weitere Beispiele zu geben - von der Beratung bei finanz- und währungspolitischen Problemen Vietnams - unter Einbezug junger vietnamesischer Führungskräfte in das Speyerer Aufbaustudium - und der Russischen Föderation über die Informationsverarbeitung und Entscheidungsvorbereitung in Staatskanzleien (Ukraine) bzw. die Re-Strukturierung von Aufbau und Abläufen der Regierungszentrale (Polen) bis hin zu der gegenwärtigen Einrichtung einer weiteren internationalen Arbeitsgruppe, die sich ab Sommer 1998 mit der "Education of Prospective EU Civil Servants 2000" befassen wird. Die Federführung dieses Projekts liegt bei der School of Public Administration Budapest. Beteiligte sind daneben das Europa-Kolleg Brügge, die Universität Limerick, die Ungarische Handelskammer, die Wirtschaftsuniversität Budapest und die Hochschule Speyer. Ergänzend dazu unterhält das Forschungsinstitut bei der Hochschule enge Kontakte mit der Akademie für Volkswirtschaft bei der Regierung der Russischen Föderation in Moskau, mit mehreren chinesischen Universitäten und Regierungsinstitutionen sowie dem vietnamesischen Nationalen Institut für öffentliche Verwaltung in Hanoi. Gastforscher der Universität Woronesh/Rußland, vom Institute of Administration and Management Development in Ulaan Baatar / Mongolei sowie von der Technischen Universität Tiflis / Georgien arbeiten derzeit in Speyer. Ihre zentralen Themen sind die Verwaltungsmodernisierung und die Rolle der öffentlichen Verwaltung in verspäteten Gesellschaften. 51 Vgl. nur den Beitrag von Dragoljub Kavran, Structural Problems, Administrative Reform and Development in Serbia, in: Pitschasl Sülzer (Fn. 8), S. 367 ff. 14 Speyer 124

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Rainer Pitschas IV. Zusammenfassung

Die Notwendigkeit weiterer Regierungs- und Verwaltungsreformen prägt derzeit neben den sozio-ökonomischen und ökologischen Herausforderungen die Integration der MOE-Staaten in die EU. Der Systemwechsel und die bevorstehenden Beitrittsverhandlungen dieser Länder mit der EU drängen zu einer Angleichung an den gemeinschaftlichen acquis communautaire. Deutlich wird, daß die politische, sozio-ökonomische und ökologische Integration der Staaten Mittel- und Osteuropas in die EU in erster Linie von leistungsfähigen "europäisierten" Rechts- und Verwaltungs strukturen abhängt. Durch eine ausgreifende europäische Verwaltungsförderung unterstützt denn auch die EU die Beitrittskandidaten aus Mittel- und Osteuropa auf ihrem Weg in die Union. Hierbei ist insbesondere das PHARE-Programm hervorzuheben. In seiner Anwendung und den Verfahrensweisen der EU im übrigen ist das Konzept einer integrationsorientierten Europäischen Verwaltungsstrukturpolitik für Mittelund Osteuropa erkennbar. Die Mitgliedstaaten der EU unterstützen ihrerseits durch eine unionsfreundliche bilaterale Zusammenarbeit mit den MOE-Staaten deren Heranführung an Europa. Dabei spielt insbesondere der "Kampf um das Personal" für den Systemübergang und den Beitritt zur EU eine herausragende Rolle. Die Europäische Verwaltungsstrukturpolitik wird vor diesem Hintergrund vor allem durch das Bemühen gekennzeichnet, den öffentlichen Dienst in den MOEStaaten zu modernisieren. Die Empirie dieser Anstrengungen offenbart, daß wir es mit einem langwierigen Prozeß zu tun haben, der einerseits auf besondere Randbedingungen in den verspäteten Gesellschaften der MOE-Staaten trifft, andererseits aber auch unter dem Wettbewerb der westlichen Verwaltungssysteme "vor Ort" leidet. Insoweit kann eben nicht von "Welten" der Verwaltungsmodernisierung gesprochen werden, zu denen eine einheitliche Verwaltungswelt Kontinentaleuropas zählen würde. Einen besonderen Stellenwert nimmt bei den Anstrengungen der Europäischen Verwaltungsstrukturpolitik um die Entwicklung des öffentlichen Dienstes in den MOE-Staaten die Aus- und Weiterbildung ein. Sie wird zum zentralen Instrument der Entwicklung "neuer" Verwaltungseliten zur Unterstützung der strukturellen Integration in die EU. Am Beispiel der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer läßt sich insofern zeigen, wie sich die europäische Strukturintegration durch Aus- und Weiterbildung im öffentlichen Sektor gestaltet. Insgesamt vermittelt der Beitrag die Erkenntnis, daß die Europäische Verwaltungsstrukturpolitik zwar prinzipielle Wirksamkeit entfaltet, sie aber noch ihrer endgültigen Formulierung und Rahmengebung harrt. Darin liegt eine der Herausforderungen für die Beitrittsverhandlungen der Union mit den MOE-Staaten.

Fortbildung in den Transformationsländern Von Günther Wurster

I. Die Bundesakademie für öffentliche Verwaltung (BAköV) im Bundesministerium des Innern ist die zentrale Fortbildungseinrichtung des Bundes. Sie hat die Aufgabe, in enger Zusammenarbeit mit Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes im Bereich der Bundesverwaltung durch praxisnahe Fortbildung zu stärken. Im Rahmen der Beratungs- und Unterstützungsprogramme der Bundesregierung und der Europäischen Union für den Aufbau von Demokratie und sozialer Marktwirtschaft in Osteuropa hat die Bundesakademie vor dem Hintergrund des dortigen Transformationsprozesses auch Aufgaben im Bereich der Fortbildungshilfe für osteuropäische Staaten übernommen. Dazu gehören: - die Unterstützung von Fortbildungsinstitutionen für die öffentliche Verwaltung, z. B. durch Schulung von Dozenten von russischen, polnischen und anderen osteuropäischen Partnerinstitutionen - die Schulung von Führungskräften aus Regierung und Verwaltung in den Ländern der früheren Sowjetunion und anderer osteuropäischen Staaten - die Durchführung von Informationsaufenthalten für Angehörige dieser Länder in Deutschland und in Ländern der EU - die Erarbeitung von Lehrplänen und Lehrmaterialien für die genannten Fortbildungseinrichtungen. Hierunter fallen auch die Entwicklung von Seminarreihen für Führungskräfte der Verwaltung und für sonstige Multiplikatoren zu Schwerpunkten der Verwaltungsarbeit sowie die Herausgabe von zweisprachigen Handbüchern der Internationalen Rechts- und Verwaltungssprache zu grundlegenden Themen aus dem Bereich der Regierungs- und Verwaltungsstrukturen. Es zeichnet sich ab, daß die Zusammenarbeit mit Einrichtungen in Osteuropa für die BAköV keine vorübergehende Aufgabe sein wird, sondern sich zu einer Daueraufgabe entwickelt. Dabei ist die internationale Zusammenarbeit für die Bundesakademie seit jeher ein zentraler Bereich (z. B. Vorbereitung von Bundesbediensteten auf internationale Aufgaben, bei der Fortbildung für die fachliche Zusammenarbeit in Europa und auch als Bestandteil des Führungskräftetrainings). Die Zusammenarbeit mit westeuropäischen Bildungseinrichtungen (ENA, Civil Service 14*

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Günther Wurster

College u. a.) hat für die Bundesakademie schon eine lange Tradition. In den letzten Jahren wurde zusätzlich eine neue Zusammenarbeit, diesmal mit osteuropäischen Partnern entwickelt und insofern ein weiteres Netzwerk aufgebaut. Die Bundesakademie ist in Osteuropa ein begehrter Partner, da sie durch ihre Fortbildungsarbeit im Rahmen der deutschen Einheit besondere Erfahrungen einzubringen hat. Erträge der Arbeit laufen bereits in beide Richtungen: So führt zum Beispiel die Russische Akademie für den öffentlichen Dienst in Moskau für die BAköV das Seminar "Staat und Wirtschaft in Rußland" für diejenigen Angehörigen der Bundesressorts durch, die dienstliche Kontakte mit russischen Einrichtungen haben.

11. Die Trainingsprogramme sind jeweils auf die individuelle Situation abgestimmt. Sie bestehen regelmäßig aus einem in mehreren Stufen konzipierten Programm, welches über eine Laufzeit von ein bis eineinhalb Jahren realisiert wird. Ein solches Programm wird in der Regel eine Struktur haben, die dem in der Anlage (Ziff. IV) beispielhaft gezeigten Programmablauf ähnelt, selbstverständlich aber auch ihre jeweiligen Besonderheiten aufweist. Voraussetzung ist zunächst, daß z. B. die BAköVais Fortbildungsträger mit dem von ihr geleiteten Konsortium im Wettbewerb mit anderen europäischen Konsortien einen Zuschlag erhalten und einen entsprechenden Vertrag über die Durchführung des Projektes mit der Europäischen Kommission unterzeichnet hat. Am Anfang eines solchen Projekts steht meist ein umfangreiches Seminarprogramm, das in mehreren thematischen Blöcken durchgeführt wird. Es richtet sich vor allem an Multiplikatoren; wenn Fortbildungseinrichtungen die Adressaten des Programmes sind, an Dozenten und Professoren. Dies dient der Schaffung einer fachlichen Basis für das Projekt im Sinne eines "Wissens-Inputs". Bei einem der durchgeführten Projekte umfaßten die Themenblöcke zum Beispiel folgende Gegenstände: - Soziale Marktwirtschaft (Volks- und betriebs wirtschaftliche Aspekte), Entwicklung wirtschaftlicher Beziehungen, internationale Verflechtungen, Marketing; - aufgabenbezogene Entwicklung der Verwaltung unter besonderer Berücksichtigung technischer, politischer und sozialer Abhängigkeiten; - rechtliche Grundlagen der Verwaltungsarbeit; - Finanz- und Haushaltswesen der Verwaltung einschl. Steuerwesen, Kreditwesen, Investitionstätigkeit; - Refonn des öffentlichen Dienstes, Organisations- und Personalentwicklung, Personalwirtschaft; - Kommunalverwaltung (Grundlagen, Personal, Organisation, besondere Gebiete).

Fortbildung in den Transforrnationsländern

213

Ziel des genannten Projektes war es zum Beispiel, ein grundlegendes Verständnis über öffentliche Verwaltung, Politik, Wirtschaftsmanagement, Finanzwesen, Personal, Organisation und Recht mit europäischem Bezug zu vermitteln. Die von der Bundesakademie hierbei vorgesehene methodische Planung der Seminare sah vormittags Plenarveranstaltungen und nachmittags Diskussionen in Arbeitsgruppen vor. Im Mittelpunkt der Diskussionen stand vor allem die Möglichkeit der Übertragbarkeit des Kennengelernten auf die jeweiligen anderen staatlichen Verhältnisse. Hierbei wurden auch methodisch-didaktische Mittel der Erwachsenenbildung nach europäischem Standard vermittelt. So wurde zum Beispiel in Kleingruppen, mit Visualisierungen, Metaplan-Methode etc. gearbeitet. Begleitend zu jedem Thema erhielten die Teilnehmer Lehrmaterialien, die hierzu eigens vorbereitet und in die jeweilige Landessprache übersetzt worden waren. Diese Materialien werden inzwischen von vielen Dozenten und Professoren in deren Lehrveranstaltungen, aber auch für die wissenschaftliche Arbeit verwendet. Sie haben einen über das Projekt hinausgehenden Wert und können auch für andere Projekte genutzt werden. Aufbauend auf den theoretisch vermittelten Kenntnissen wurden bei dem genannten Projekt in einer weiteren Stufe Studienaufenthalte für Dozenten / Professoren oder für Führungskräfte aus den Schlüsselministerien des Reformprozesses durchgeführt. Studienaufenthalte fanden auch im europäischen Ausland, z. B. in Belgien, England und Luxemburg statt. Die Struktur der Studienaufenthalte wies in der Regel zwei Hauptkomponenten auf: einen Grundlagenteil und eine Spezialisierungsphase. Im Rahmen des in Deutschland durchgeführten Programmteils lag häufig ein besonderer Akzent auf der Vermittlung der Bedeutung des Föderalismus. Dies brachte es mit sich, daß Seminare in verschiedenen Bundesländern und im kommunalen Bereich stattfanden. Von besonderem Interesse waren regelmäßig auch die Erfahrungen Deutschlands bei dem Umstrukturierungsprozeß im Rahmen der deutschen Einheit. Methodisch wurde bei den Studienaufenthalten mit Präsentationen, Kurzvorträgen, Diskussionsrunden mit Fachexperten und dem Erfahrungsaustausch dienenden Gesprächen gearbeitet. Es wird Wert darauf gelegt, daß den strategischen Zielen der einzelnen Projekte entsprechend als Ergebnis der Projektarbeit am Ende ein konkretes, das Projekt überdauerndes "Produkt" erstellt wird. Produkt des als Beispiel geschilderten Projektes für die Russische Akademie für den öffentlichen Dienst war u. a. die Entwicklung eines Lehrgangs für diese Akademie zum Training von Führungskräften in der russischen Verwaltung. In einem intensiven kooperativen Prozeß wurde hierzu gemeinsam von Dozenten der russischen Akademie und der Bundesakademie ein Curriculum erarbeitet. Dabei wurde ein aus drei Bausteinen bestehender Lehrgang konzipiert und durchgeführt. Zu diesen Bausteinen gehörten: - Ein einwöchiges Seminar zum Führungskontext. - Ein zweiwöchiger Intensivblock zu den Schwerpunkten Personalmanagement und politisch-administratives Management.

214

Günther Wurster

- Eine dreitägige Nachbereitung zur Transfersicherung unter Einschluß eines computergestützten Wirtschafts-Planspiels. Eine Auswertung des Pilotlehrgangs durch die Bundesakademie und durch die russische Akademie gemeinsam mit den Teilnehmern hat ergeben, daß das Stoffund Methodenangebot den Anforderungen entsprach. Der Lehrgang hat sich inzwischen zu einem ..serienreifen Produkt" entwickelt. Er wird von der russischen Akademie auf breiter Basis für die Leitungsebene der Regierung und des Präsidialamts angeboten. Alle Teilschritte der Entwicklung, Erprobung und Auswertung wurden umfassend dokumentiert. Zu allen Schritten wurde ausführliche Verfahrens- und Ergebnisberichte angefertigt. Die Ergebnisse wurden in die russische Sprache übersetzt und stehen der russischen Akademie für die weitere Arbeit zur Verfügung.

III. Im Ergebnis kann festgestellt werden, daß durch solche Fortbildungsmaßnahmen eine starke Öffnung der Partnerorganisationen in den osteuropäischen Ländern für europäische Verfahren und Instrumente gefördert wird. Die Aufgeschlossenheit und Bereitschaft zur weiteren Fortführung der darauf bezogenen Arbeiten ist bemerkenswert. Darüber hinaus wurde die Basis für eine fachliche Kooperation zwischen deutschen und osteuropäischen Führungskräften und Dozenten geschaffen, die für spätere Projekte wichtig ist. Neben fachlich-wissenschaftlichen Ergebnissen wurden Fortschritte bei der Einbeziehung der Partnerorganisationen in ein Netzwerk der europäischen Fortbildungsinstitutionen erzielt. Es konnten dauerhafte Kooperationsbeziehungen zu anderen europäischen Fortbildungseinrichtungen geknüpft werden. Zu den bleibenden Ergebnissen zählen schließlich auch die erarbeiteten Lehrmaterialien. Diese sind u. a. zum Teil auch Grundlage für die von der Bundesakademie gemeinsam mit der Bayerischen Verwaltungs schule herausgegebene Schriftenreihe (Handbuch der Internationalen Rechts- und Verwaltungssprache) geworden, einer Schriftenreihe, die sich reger und wachsender Nachfrage erfreut.

215

Fortbildung in den Transfonnationsländern

IV. Anlage Programmablauf 31.05.-02.06.1995

1. Stufe

Abstimmungsworkshop

2. Stufe

Sichtung und Entwicklung von Materialien

3. Stufe

Expertengruppenin Arbeitsgruppen

04.07.-08.07.1995

4. Stufe

Expertentreffen in Deutschland - Praxiserfahrung -

08. 10. - 15. 10. 1995

5. Stufe

Erstellung von Berichten

6. Stufe

Expertentreffen in Moskau

bis 23. 06. 1995

bis 20. 11. 1995 22.11.-24.11.1995

Round - Table - Meeting 7. Stufe

Übersetzungen und redaktionelle Überarbeitungen

12.1995 -01.1996

8. Stufe

Präsentation und Präsidialamt der Russischen Föderation

13.02. 1996

FÜNFfER TEIL

Europäische Integration

Staatlichkeit im europäischen Integrationsprozeß Von Siegfried Magiera

In wenigen Tagen, am 25. März 1997, werden die Europäische Gemeinschaft, die als Europäische Wirtschafts gemeinschaft errichtet wurde, und die Europäische Atomgemeinschaft vierzig Jahre alt. Der Beginn der europäischen Integration reicht jedoch weiter zurück, formal bis zum 18. April 1951, als die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl gegründet wurde, der Idee nach bis in die Zeit vor dem Zerfall des mittelalterlichen Reichs in einzelne Nationalstaaten. Unmittelbarer und zwingender Anlaß für die Verwirklichung der europäischen Idee war das Versagen der Nationalstaaten bei der Erfüllung ihrer existenzbedingenden Aufgabe, der Bewahrung des Friedens sowie von Freiheit, Sicherheit und Wohlstand ihrer Bürger. Der qualitative Sprung von der nationalstaatlichen Frontstellung zur staatenübergreifenden Aufgabenbewältigung, der nach dem ersten Weltkrieg noch mißlungen war, erwies sich nach dem zweiten Weltkrieg als unausweichlich. Ausweislich der Präambel des EGKS-Vertrages zeigten sich die sechs Gründungsmitglieder dementsprechend entschlossen, "an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusarnmenschluß ihrer wesentlichen Interessen zu setzen, durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen, die lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit waren, und die institutionellen Grundlagen zu schaffen, die einem nunmehr allen gemeinsamen Schicksal die Richtung weisen können." Bemerkenswert an diesem Bekenntnis zur europäischen Integration ist nicht nur der Wunsch, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, sondern auch das realistisch begründete Fernziel, eine über den wirtschaftlichen Bereich hinausgehende Gemeinschaft anzustreben und dafür die erforderlichen institutionellen Voraussetzungen zu schaffen. Dieser Plan einer materiell und institutionell fortschreitenden Entwicklung eines neuartigen, die Mitgliedstaaten integrierenden Gemeinwesens hat sich trotz aller zwischenzeitlichen Krisen insgesamt als äußerst erfolgreich erwiesen. Die Gemeinschaft der Sechs ist zu einer Union der Fünfzehn geworden, der sich eine etwa gleich große Zahl weiterer europäischer Staaten anschließen möchte.

220

Siegfried Magiera

Die Gemeinschaft für Kohle und Stahl hat sich zu einer umfassenden Wirtschaftsgemeinschaft und nunmehr zu einer Union entwickelt, die nahezu alle staatlichen Aufgabenbereiche erfaßt oder doch berührt. Selbst die Außen- und die Sicherheitspolitik sowie die Innen- und die Justizpolitik gehören dazu, wenn auch vorerst nur intergouvernemental und noch nicht integrativ. Die fortschreitende Integration hat auch neue Herausforderungen mit sich gebracht. Zum einen geht es um die interne Struktur der Europäischen Union, zum anderen um ihr Verhältnis zu den Mitgliedstaaten. Die interne Struktur muß so gestaltet und gesichert sein, daß sie hinter den verfassungsrechtlichen Standards der Mitgliedstaaten nicht zurückbleibt. Materiell sind die entsprechenden Prinzipien, insbesondere der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Sozialstaatlichkeit, im Unionsrecht verankert, institutionell besteht jedoch ein Ausbaubedarf. Dies gilt allgemein für die Stellung des Europäischen Parlaments und bei der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres zusätzlich für die Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof. Im Verhältnis zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten kann der Maßstab nicht derjenige des souveränen Nationalstaats sein. Integration bedingt die Ausstattung der Europäischen Union mit Hoheitsrechten durch die Mitgliedstaaten zur Wahrnehmung anstelle der Mitgliedstaaten. Souveränität kann folglich nur noch zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten geteilt und gebündelt im Sinne eines Souveränitätsverbunds bestehen. Dies entspricht auch der Präambel des Grundgesetzes, in der das Deutsche Volk seinen Willen bekundet, "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen." Mit der Einfügung des Europa-Artikels 23 in das Grundgesetz ist die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der Entwicklung der Europäischen Union zudem ausdrücklich als Verfassungspflicht verankert worden. Diese ist lediglich dadurch begrenzt, daß die Europäische Union bestimmten gemeineuropäischen Grundsätzen entsprechen muß, wie sie schon genannt wurden, und daß der in Art. 79 Abs. 3 GG garantierte Verfassungskern gewahrt bleiben muß. Dazu gehört die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland, nicht jedoch, wie dargelegt, ihre Souveränität im herkömmlichen Sinn. Zusätzlich ist die Europäische Union verpflichtet, die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten zu achten, deren Regierungssysteme ihrerseits auf demokratischen Grundsätzen beruhen. Eine klare Aufgabenteilung zwischen gemeinschaftlicher, nationaler oder gar subnationaler Ebene ergibt sich daraus jedoch ebensowenig wie aus dem Subsidiaritätsprinzip. Mangels eines vorfindlichen Maßstabs muß über sie vielmehr wie im innerstaatlichen Bereich, etwa zwischen Bund und Ländern, auch im gemeinschaftlichen Bereich im einzelnen entschieden werden. Gegenwärtig steht die Europäische Union vor zwei konkreten Herausforderungen, nämlich ihrer Erweiterung nach Osten und der Vorbereitung ihrer Strukturen

StaatIichkeit im europäischen Integrationsprozeß

221

auf diese Erweiterung. Dabei wird es für die weitere Entwicklung der europäischen Integration vor allem auf die Zurückdrängung des Einstimmigkeitsprinzips im Rat und die Stärkung des Europäischen Parlaments, auf die Einbeziehung der intergouvernementalen Innen- und lustizpolitik in den Integrationsbereich und auf die künftige Finanzierung der Unionsaufgaben ankommen. Fortschritte der weiteren Integration in dieser Richtung werden noch für diesen Sommer erwartet - zum einen von der gegenwärtig tagenden Regierungskonfemz, die eine unfassende Vertragsergänzung herbeiführen soll, zum anderen von der "Agenda 2000", in der die Europäische Kommission Vorstellungen für eine stärkere und erweiterte Union nach der lahrtausendwende entwickeln soll.

Die Entstehung des Gemeinschaftsrechts, seine Umsetzung und Anwendung in den Mitgliedstaaten Von Heinrich Siedentopf

Die Europäische Gemeinschaft gilt in der öffentlichen Meinung oft als eine technokratische, anonyme und politisch kaum zu kontrollierende Maschinerie zur Produktion, zur Überproduktion von nicht praktikablen, nicht durchschaubaren Rechtsvorschriften, deren Umsetzung und Anwendung die öffentliche Verwaltung, aber auch die Unternehmen und die Bürger in den Mitgliedstaaten zusätzlich belasten. Deshalb ist es eine Aufgabe verwaltungswissenschaftlicher Forschung, die Rechtsetzungsinhalte und -verfahren zu analysieren und Vorschläge zur Korrektur tatsächlich vorhandener Defizite zu entwickeln. Die Hochschule Speyer hat dies in einer Reihe empirischer Studien - zusammen mit europäischen und mitgliedstaatlichen Instituten in den letzten Jahren getan. Heute sind multinationale Implementationsstudien wichtige Vorarbeiten zur Rechtsetzungspraxis der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten. Vier Thesen sollen dies veranschaulichen: - Die Europäische Gemeinschaft ist eine Rechtsgemeinschaft. Die Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts stellt die Gemeinschaft selbst in Frage. - Das Gemeinschaftsrecht baut auf dem Recht der Mitgliedstaaten - in seiner Unterschiedlichkeit und Vielfalt - auf und beeinflußt seinerseits das Recht in den Mitgliedstaaten. - Wie das Recht der Mitgliedstaaten muß auch das Gemeinschaftsrecht ständig nach den Kriterien der Vereinfachung, Deregulierung und Praktikabilität überprüft werden, ohne daß damit auch die Regelungsinhalte in Frage gestellt werden müssen. - Die loyale Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts ist Aufgabe der Mitgliedstaaten. Sie sind gegenüber der Gemeinschaft - und den anderen Mitgliedstaaten - dazu verpflichtet, ohne sich auf Probleme aus der innerstaatlichen Rechtsordnung oder Verwaltungsorganisation berufen zu können.

224

Heinrich Sieden topf

I. Rechtsgemeinschaft

Die Europäische Gemeinschaft ist eine Rechtsgemeinschaft - mit diesem Begriff und Hinweis wollte Walter Hallstein auch ein Gegengewicht zu dem Begriff der Wirtschaftsgemeinschaft formulieren. Diese europäische Rechtsgemeinschaft ist Teil der kontinentaleuropäischen Rechtstradition. Diese Rechtsgemeinschaft konstituiert sich in der gemeinschaftlichen Rechtsetzung auf der supranationalen Gemeinschaftsebene und in der Umsetzung und Anwendung dieses sekundären Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten. Der Rat der Europäischen Gemeinschaften erläßt jedes Jahr 400 bis 500 Rechtsakte, die Europäische Kommission hingegen 6.000 bis 7.000. Darunter sind nicht nur zahlreiche Entscheidungen, sondern auch jährlich mehr als 3.000 Verordnungen und Richtlinien. In der 19. Erklärung zum Maastrichter Vertrag haben die Mitgliedstaaten unterstrichen, daß es für die innere Geschlossenheit und die Einheit des europäischen Aufbauwerks von wesentlicher Bedeutung ist, daß jeder Mitgliedstaat die an ihn gerichteten Richtlinien innerhalb der darin festgesetzten Fristen vollständig und getreu in innerstaatliches Recht umsetzt. Das Gemeinschaftsrecht muß in den Mitgliedstaaten mit der gleichen Wirksamkeit und Strenge angewandt werden, wie dies bei der Durchführung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften der Fall ist. Dieser Anspruch wird durch den Vorrang des Gemeinschaftsrechts, durch die Direktwirkung von - nicht rechtzeitig umgesetzten - Richtlinien und durch die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung der Mitgliedstaaten gesichert. Die Nichtbeachtung von Gemeinschaftsrecht ist weder ein Kavaliersdelikt noch eine neue Sportart. Es ist bemerkenswert, aber nicht beruhigend, daß vor einigen Wochen die Nichtumsetzung einiger umweltbezogener Richtlinien in Deutschland ein so kritisches, auch selbstkritisches Echo ausgelöst hat. 11. Gegenseitige Durchdringung von Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatlichem Recht

Das europäische Recht überlagert das Recht der Mitgliedstaaten auf deren Territorium. Die Mitgliedstaaten sind allerdings an der Schaffung des sekundären Gemeinschaftsrechts intensiver beteiligt, als sie selbst zugeben. Zwar hat nach den Verträgen bis heute die Kommission ein Initiativmonopol für europäische Rechtsakte - die tatsächliche Initiative für die Regelung einer Materie geht jedoch nur zu etwa 5 % von Beamten der Kommission aus, sehr viel häufiger von den Mitgliedstaaten, von nationalen oder europäischen Interessengruppen. Die Mitgliedstaaten bzw. ihre Verwaltungen sind in allen, oft mehrjährigen Phasen der Vorbereitung des Entwurfs und der Rechtsetzung auf europäischer Ebene, insbesondere im Ministerrat beteiligt. Bereits in den informellen Expertengruppen zur Vorbereitung von Rechtsakten wird der Regelungsinhalt im wesentlichen bestimmt. Die Mitgliedstaaten versuchen dabei, ihr Rechtssystem und seine Institutionen in die europäische Regelung einzubringen, oft ohne Berücksichtigung des Rechtssystems oder

Die Entstehung des Gemeinschaftsrechts

225

auch nur der Verwaltungskraft und Vollzugsfähigkeit in den anderen Mitgliedstaaten. Die Experten und später im Ministerrat die Regierungsvertreter bringen neben ihren Fachkenntnissen auch die Erfahrungen, Traditionen und Verhaltensweisen ihres nationalen Verwaltungssystems ein. Das führt nicht selten zu einer inhaltlichen "Addition" der nationalen Regelungen. Die Verwaltungen der Mitgliedstaaten wirken auch bei Umsetzung und Anwendung der Rechtsakte der Gemeinschaften mit, in der Form von Komitologie-Ausschüssen nach Art. 145,3. Spiegelstrich des Vertrages, wenn der Rat der Kommission in den von ihm angenommenen Rechtsakten die Befugnisse zur Durchführung der Vorschriften überträgt: 339 der 409 im Haushalt für 1996 ausgewiesenen Ausschüsse sind solche Implementationsausschüsse mit Beratungs-, Verwaltungs- oder Regelungsbefugnissen. Hier kommt es zu einer besonders intensiven Durchdringung von gemeinschaftlicher und mitgliedstaatlicher Verwaltungspraxis. 111. Vereinfachung und Deregulierung des Gemeinschaftsrechts

Dies ist eine der Ursachen für die oft beklagte Kompliziertheit des Gemeinschaftsrechts. Aber dieselbe Klage richtet sich gegen das nationale Recht - die Unabhängige Kommission des Bundes für Rechts- und Verwaltungsvereinfachung arbeitet bereits seit über zehn Jahren. Die blaue Liste der Prüffragen zur Gesetzgebung - und dies mag für Deutschland eine Genugtuung sein -, hat in abgewandelter Form Eingang in die Europäische Gemeinschaft und in die OECD gefunden. Auch die Prüfraster zum europäischen Subsidiaritätsprinzip können zu einer Reduzierung der Vorschriftenproduktion beitragen. Im Umweltbereich hat die massive öffentliche Kritik bereits zu erkennbaren Ergebnissen geführt: hatte die Kommission insgesamt in 1990 noch 61 Vorschläge für Rechtsakte eingebracht, waren es 1993 noch 48 Vorschläge, so beschränkte sich die Kommission 1996 auf Vorschläge für nur 19 Rechtsakte - die Gemeinschaft als lemfähiges System? Die Gemeinschaft hatte deshalb eine Gruppe unabhängiger Experten für die Vereinfachung der Rechts- und Verwaltungs vorschriften einberufen. Deren sog. Molitorbericht von 1995 muß allerdings sehr genau danach befragt werden, bis wohin in den Vorschlägen die Rechts- und Verwaltungs vereinfachung geht und wo die Reduzierung z. B. der inhaltlichen Umweltschutzpolitik beginnt. Die Gemeinschaft hat eine Politik der bereichsspezifischen Kodifizierung begonnen. Aber auch hier gilt, daß man genau hinschauen muß: in der französischen Rechtsetzungspraxis ist die codification das bloße Zusammenfassen und Ordnen verstreuter Rechtstexte, in der deutschen Rechtsetzungspraxis ist die Kodifikation - z. B. das Umwe1tschutzgesetzbuch, das Sozial- oder das Bundesbaugesetzbuch - auch eine inhaltliche Neugestaltung.

15 Speyer 124

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Heinrich Siedentopf

IV. Integration und Kooperation

Die europäische Integration beruht auf einer engen, fachlichen Zusammenarbeit der ,,Fachbruderschaften" der europäischen und der national-, mitgliedstaatlichen Ebene. Dies kann man als wenig transparente, verwaltungsprofessionelle Kooperation denunzieren oder anklagen. Inzwischen werden aber viele oder nahezu alle Verwaltungsbereiche in dieser Weise europäisiert. Europapolitik ist nicht mehr ein Spezialbereich in der Regierungsorganisation, sondern durchzieht viele Politikund Verwaltungsfelder. Es ist deshalb erforderlich, daß Bundes-, Landes- und Kommunalverwaltung sich auf diese Entwicklung einstellen. Das setzt auch voraus, daß die Bediensteten der national- und mitgliedstaatlichen Verwaltung die Verwaltungssysteme der anderen Mitgliedstaaten kennen und verstehen lernen. Die Internationalisierung bzw. Europäisierung unserer Verwaltungen auf allen Stufen ist eine neue Herausforderung dieser Jahre. Das setzt auf allen Seiten Lernbereitschaft voraus. Hier ist ein neuer, ein europäischer Auftrag für die Lehre, Fortbildung und Forschung der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer entstanden. Die Hochschule sollte schon bald die ersten multinationalen und europäischen Fortbildungskurse für Führungskräfte der nationalen und subnationalen Verwaltungen anbieten. Die entsprechenden Anfragen aus dem Ausland liegen uns bereits vor.

Die Schengener Abkommen im Triadischen Integrationsmodell Europas Von Waldemar Schreckenberger I. Die Europäische Union und die Schengener Abkommen als verfehlte Gemeinschaftspolitik?

Nach einer langen und schwierigen Vorgeschichte und mehreren Anläufen, der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (Kopenhagener Gipfelkonferenz vom Juli 1973, der Einheitlichen Europäischen Akte vom 28. 2. 1986) ist mit dem Maastrichter Vertrag vom 7. 2. 1992 von den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften die Europäische Union gegründet und mit dem Vertrag von Amsterdam vom 16./17. Juni 1997 (Maastricht 11) in einigen Richtungen vertieft worden. Sie hat sich das Ziel gesetzt, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu verwirklichen (Titel V, Art. 1.1) sowie in den Bereichen Justiz und Inneres zusammenzuarbeiten (Titel VI). Trotz der institutionellen Verankerung dieser wichtigen Politikbereiche als "zweite" und "dritte" Säule im europäischen Gemeinschaftsrahrnen ist vielfach Enttäuschung laut geworden 1• Die Kritik bemängelt vor allem den geringen Grad der Organisation, die neben dem Rat der Europäischen Union lediglich Fachgremien auf hoher Ebene vorsieht (Art. 1.8; K.4) und die nur begrenzt mit der EG-Organisation verbunden ist. Der Haupteinwand richtet sich jedoch gegen die Form rechtsverbindlicher gemeinsamer Maßnahmen, welche die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten auf intergouvemementale, das heißt völkerrechtliche Abkommen verweist (Art. K.3 Abs. 2 Buchst. c), die nicht in den Entscheidungsprozeß der EG integriert sind. Diese Kritik sieht darin nach der Schaffung supranationalen Gemeinschaftsrechts einen Rückfall in überholte Formen der Bündnispolitik souveräner Staaten, die weite Teile der gemeinsamen Politiken in1 Siehe zur Kritik am Maastrichter Vertrag Club von Florenz (Hrsg.), Europa: Der unmögliche Status quo, Baden-Baden 1996, Kap. II: Maastricht und seine Grenzen, S. 36 ff., 44 ff.; vgl. zur institutionellen Kritik Peter-Christian MÜller-Grajf. Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres - Funktion, Ausgestaltung und Entwicklungsoptionen des dritten Pfeilers der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, 1996, S. 11 ff., 28 ff.; Wenceslas de Lobkowicz, Der ..dritte Pfeiler" des Unionsvertrages in der Perspektive der Regierungskonferenz 1996, in: PeterChristian Müller-Graff, S. 41 ff., 47 ff.; s. zu den widersprüchlichen Entwicklungstendenzen im Europäischen Gemeinschaftswerk Renaud Dehousse, From Community to Union, in: ders. (Hrsg.), Europe after Maastricht, An ever doser Union?, 1994, S. 5 ff., 12 ff.

1S·

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Waldemar Schreckenberger

ternationalen Absprachen vorbehält und damit das Europäische Einigungswerk gefährdet. Die Befürworter sehen dagegen in solchen Verträgen eher eine Vorstufe für ein "Kerneuropa", ein effektiveres "Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten,,2. Als stil bildend für die verfehlte, neue Gemeinschaftspolitik werden die sogenannten Schengener Abkommen betrachtet 3 . Sie sind der Europäischen Union vorausgegangen und haben eindrucksvoll vorgeführt, daß neue Wege rascher gemeinsame Lösungen zustande bringen: Sie haben auf der Grundlage völkerrechtlicher Abkommen mit dem Abbau der Kontrolle an den Binnengrenzen ein gemeinsames Sicherheitssystem eingeführt, das dem Schutz vor zunehmender internationaler Kriminalität dient. Aus der Sicht der Europäischen Praxis sind die Folgen der Schengener Abkommen eine erstaunliche Erfolgsgeschichte 4 . Die Absprachen begannen mit zwei Staaten. Bis heute sind 13 EG-Staaten dem Scbengener Durchführungsabkommen beigetreten; Island und Norwegen, die wegen ihrer fehlenden EG-Mitgliedschaft nicht beitreten können, haben ein Kooperationsabkommen am 19. 12. 1996 unterzeichnet. Die praktische Umsetzung ist voll im Gange 5 . Schließlich wurden die Schengener Regelungen mit dem Amsterdamer Vertrag vom 2. 10. 1997 inhaltlich und organisatorisch in die Europäische Union beziehungsweise Europäische Gemeinschaft eingegliedert. Die Schengener Abkommen haben darüber hinaus eine "Leitfunktion" für zahlreiche Regelungen der EG-Staaten und für das Gemeinschaftsrecht in sogenannten sensiblen Feldern, das heißt Kernbereichen staatlicher Herrschaft, gewonnen 6 . 2 Vgl. dazu Karl Lamers, Variable Geometrie und fester Kern: Zur Debatte über das Europa-Papier der CDU / CSU-Bundestagsfraktion, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1994, S. 1464 ff.; lose! lanning, Europa braucht verschiedene Geschwindigkeiten, in: Europa-Archiv, 1994, 527 ff. 3 Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 14. 6. 1985 (GMBI 1986; S. 79 ff.), abgekürzt: Schengen I; Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. 6. 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschafts union, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19.6. 1990 einschließlich der Erklärungen zur Nacheile gemäß Art. 41 Abs. 9 des Übereinkommens (BGBI. II 1993, S. 1013 ff.) - abgekürzt: SDÜ; vgl. zur Kritik am Schengener Durchführungsübereinkommen: Roland Bieber, Schlußbetrachtung: Schengen als Modell zukünftiger Integration?, in: Achermann/Bieber/Epiney/Wehner (Hrsg.), Schengen und die Folgen, Bern u. a. 1995, S. 179 ff., spricht vom "Rückfall in eine primitivere Form internationaler Zusammenarbeit ( ... ) mit der Folge der Schwächung gemeinsamer Institutionen". 4 Siehe dazu Kurt Scheiter, Innenpolitische Zusammenarbeit und Regierungskonferenz 1996, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft BI - 2/96, S. 19 ff., 20. 5 Siehe dazu Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Jahresbericht "Schengen - Erfahrungen und Perspektiven", 1996. 6 Vgl. Alberto Achermann, Schengen und Asyl: das Schengener Übereinkommen als Ausgangspunkt der Harmonisierung europäischer Asylpolitik, in: ders./Bieber/Epinea/Wehner

Die Schengener Abkommen im Triadischen Integrationsmodell Europas

229

Die folgende Erörterung wird sich mit der dargelegten Kritik auseinandersetzen, eine neue Perspektive der Europäischen Gemeinschaftsarbeit, ein Triadisches Integrationsmodell, vorschlagen und anhand dieses Modells die Schengener Abkommen und das Übereinkommen über die Errichtung eines Europäischen Polizei amts (Europol), bisher neben dem Abkommen über die vereinfachte Auslieferung der bedeutendste Ertrag der Europäischen Union, untersuchen.

11. Der traditionelle Nationalstaat als ein Leitbild für das Europäische Einigungswerk

Eine maßgebliche Rolle spielt in der Erörterung um die angemessene Struktur der Europäischen Union die traditionelle Konstruktion des modemen konstitutionellen Nationalstaats: gemeinsamer Herrschaftsraum, die Einheit des Rechts, die enge Verbindung von Recht und Staatsgewalt, die Souveränität der staatlichen Herrschaft und das demokratische Mehrheitsprinzip7. Es ist gewiß schwierig, aus dem bisherigen Aufbau der Europäischen Gemeinschaftsstrukturen ein verläßliches Bild zu gewinnen. Er hat die wissenschaftliche Einbildungskraft aufs höchste angeregt. Die Vertragstexte lassen durchaus im Einklang mit unterschiedlichen nationalen Zielvorstellungen verschiedene Interpretationen zug. Wer nationalstaatliehe Konturen bevorzugt, wird in der Europäischen Union eher einen Rückschritt sehen und auch wenig von den Revisionsbestrebungen erwarten, welche die Europäische Union stärker staatlichen Entscheidungsorganisationen insbesondere durch größere parlamentarische Mitsprache und die weitergehende Einführung von Mehrheitsentscheidungen der Organe anzunähern versuchen. Die Vertragstexte, die einen immer "engeren Zusammen schluß der europäischen Völker" anstreben 9 , schließen es nicht aus, die Vollendung in einer staatlichen oder (Fußn. 3), S. 79 ff. und die dort zit. Lit.; Monica den Boer, Schengen: A New Security Regime for Europe, in: Kai Hailbronner (Hrsg.), Zusammenarbeit der Polizei- und Justizverwaltungen in Europa, 1996, S. 95 ff., 99. - Siehe Dublin H, Regierungskonferenz vom 5. 12. 1996 (CONF 2500196), Die Europäische Union Heute und Morgen, S. 36. 7 "Es entspricht der inneren Dynamik und gedanklichen Logik, im europäischen Bundesstaat die Vollendung der europäischen Einheit zu sehen", so M. Rainer Lepsius, Nationalstaat oder Nationalitätenstaat als Modell für die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, in: Rudolf Wildenmann (Hrsg.) Staatswerdung Europas? Optionen für eine Europäische Union, 1991, S. 19 ff., 23 sowie S. 46 ff.; siehe zur "Bundesrepublik Europa" Wemer Weiden/eid, Die Reformbilanz der Europäischen Gemeinschaft: "Bundesrepublik Europa" als Perspektive?, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wesseis (Hrsg.), Wege zur Europäischen Union - Vom Vertrag zur Verfassung?, 1986, S. 9 ff., 31; ders. Europa 096 - Unterwegs wohin? Die Europäische Union vor der Regierungskonferenz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft BI - 2/96, 3 ff. 8 Siehe zum Versuch, auf Klarheit zu dringen, daß eine föderale Ordnung nicht in Frage stehe, Alan Dashwood (Hrsg.), Reviewing Maastricht, Issues for the 1996 IGC, 1996, S. 8 ff. 9 Präambel EG-Vertrag, siehe auch Art. A Abs. 2 EU-Vertrag.

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Waldemar Schreckenberger

staatsähnlichen politischen Ordnung zu sehen. Denn die Struktur des konstitutionellen demokratischen Staates hat sich trotz aller Schwächeanfälle, der Entmachtung durch innerstaatliche korporatistische Interessenbewegungen, begrenzter Ressourcen sowie globaler wirtschaftlicher und außenpolitischer Verflechtungen 10, als eine recht robuste Gesellschaftsordnung erwiesen, die am ehesten fahig erscheint, soziale Grundbedürfnisse der Sicherheit und der Gerechtigkeit zu befriedigen sowie einen gewissen Schutz gegen soziale und wirtschaftliche Risiken zu gewährleisten. Aber hier beginnt das Dilemma: Die kleinräurnigen europäischen Nationalstaaten sind angesichts grenzüberschreitender Zwänge in vielen Handlungsbereichen überfordert. Wir haben aber keine universale soziale Organisationsform, die sich auf vergleichbare Erfahrungen stützen könnte. Auch die Charta der Vereinten Nationen, der größte internationale Zusarnrnenschluß, enthält nur Ansätze für eine globale Organisation der Staatenwelt. Sie findet an der Souveränität der Nationalstaaten eine schwer überschreitbare Schwelle. Kann der Nationalstaat nur noch überleben, indem er gleichsam in einer größeren staatlichen Einheit, einer Weltregion ,Europa' "aufgehoben" wird? Dieser dialektischen Bewegung stehen unter den gegebenen Bedingungen jedoch erhebliche Hindernisse entgegen. Es sind dies vor allem Fragen, die auf das Zentrum der Staatlichkeit, die Souveränität nationaler Staatsgewalt, zielen. Sie beschränken sich nicht auf organisatorische Probleme der Letztkompetenz sozialer Entscheidungen. Sie gehen tiefer: Die souveräne Handlungsvollmacht ist zugleich herausragendes Zeichen eines kollektiven Selbstgefühls, in dem sich das kulturelle Selbstverständnis der nationalen Geschichte spiegelt. Seine Schranken sind zugleich die Grenze zwischen den sozialen Erlebnisräumen, die als kollektive Eigenund Fremdwelt erfahren werden und die nur schwer veränderbar sind. Die Staatenwelt reagiert erfahrungsgemäß höchst empfindlich, wenn souveräne Recht berührt werden. Darin kommt nicht nur die Sorge vor Machteinbußen, sondern auch die Angst vor nationalem Selbstverlust zum Ausdruck. Der EU-Vertrag spricht Europa unter Rückgriff auf sicherheitspolitische Formeln zwar eine eigene Identität zu (Präambel; Art. B Satz 1). Sie ist aber bis heute nicht wirksam genug, um den Verlust an nationaler Selbständigkeit schmerzlos auszugleichen 11 • Die europäische Einigungsbewegung wird nach wie vor maßgeblich von der Frage nach Wirkung und Ausmaß nationaler Souveränitätsbeschränkungen beherrscht. Die bisherigen Regelungsbereiche der Gemeinschaft weisen gleichsam eine unterschiedliche Distanz zum Kernbereich staatlicher Souveränität auf. Der Verzicht auf nationale Regelungen erscheint umso eher hinnehmbar, je weniger sie das Zentrum staatlicher Selbst- und Machtbehauptung berühren. Dies zeigt deut10 S. zur Funktionsminderung des Nationalstaats Edgar Grande. Die neue Architektur des Staates, in: Roland Czada/Manfred G. Schmidt (Hrsg.), Verhandlungsdemokratie. Interessenvermittlung. Regierbarkeit, 1993. S. 51 ff. 11 Siehe zur Stimmungslage in Bezug auf die EU und zu einer europäischen Identität Christian Deubner; Deutsche Europapolitik: Von Maastricht nach Kerneuropa? 1995. S. 13 ff.• 39.

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lieh die bisherige Entwicklung des Gemeinschaftsrechts. So wichtig rechtliche und wirtschaftliche Fragen eines Europäischen Binnenmarktes sind, nach den vorherrschenden ökonomischen Ordnungsvorstellungen ist der Markt eine weitgehend selbständige funktionale Einheit, die lediglich staatlicher Rahmenbedingungen und punktueller Korrekturen bedarf. Eine Regelungskompetenz ist daher leichter zu begründen und durchzusetzen, wenn sie ihre Sachnähe zu einem funktionsfähigen Binnenmarkt belegen kann. Fragen der Wirtschafts- und damit zusammenhängend Fragen der Sozialpolitik greifen bereits tiefer in staatliche Handlungskompetenzen ein. Die notwendige Konvergenz der Wirtschaftspolitiken wird zwar nachhaltig beteuert (Art. B Abs. 1 EU-Vertrag; Art. 3a EG-Vertrag), aber bisher nur zögernd verwirklicht. Die wirtschaftlichen Vorzüge einer Währungsunion sollen gleichsam vom wünschenswerten Ergebnis her eine gemeinsame Wirtschaftspolitik fördern. Die Europäische Union ist schließlich der Versuch, in den Kernbereich staatlicher Handlungskompetenzen vorzudringen. Dies ist nur unter dem weitgehenden Verzicht auf gemeinschaftsrechtliche Regelungen gelungen. Die Union wird ausdrücklich darauf verpflichtet, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten (Art. 3a Abs. 1 EG-Vertrag; Art. F Abs. 1 EU-Vertrag). Aus dem Blickfeld einer anzustrebenden staatlichen Verfaßtheit der Europäischen Einigungsbewegung ist dies gewiß unbefriedigend.

IH. Das Triadische Integrationsmodell der Europäischen Union Sehen wir von der vertraglichen Konstitutionsbasis ab, so tritt ein anderer grundlegender Gesichtspunkt in den Vordergrund: die Orientierung an gemeinsamen Aufgaben und an Fragen der politisch-administrativen Zusammenarbeit. Die Einheit der Gemeinschaftsordnung, wie sie besonders im Gemeinschaftsrecht zum Ausdruck kommt, wird nicht aufgegeben, sondern zum kooperativen Maßstab der "Kohärenz" und "Kontinuität" von Maßnahmen erhoben (Art. C EU-Vertrag). Folgen wir dieser Sicht, so kann es uns eher gelingen, ein angemessenes Bild vom Europäischen Einigungswerk zu gewinnen: Integrationsmerkmal ist nicht in erster Linie die Frage autonomer Rechtssetzung durch Mehrheitsentscheidungen oder Entscheidungen selbständiger Einrichtungen. Maßgeblich ist vielmehr die Dichte der politisch-administrativen und sozialen Handlungsbezüge, welche die institutionelle Ordnung und die sozialen Formen des Zusammenlebens konstituieren. Sie überläßt die Integration nicht lediglich administrativen Fachleuten, die heute oft dem Vorwurf ausgesetzt sind, den polititischen Realitätsbezug zu verlieren und politisch Handelnde zu verdrängen. 12 Sie bezieht den sozialen und politischen Kontext der einzelnen Handlungsbereiche mit ein. Sie zielt auf einen kohärenten pragmatologischen Entscheidungsstil, der auch Handlungsorientierungen kennt, 12 Vgl. dazu Wolfgang Wesseis, Verwaltung im Mehrebenensystem. Auf dem Weg zur Megabürokratie?, in: Markus lachtenfuchs/Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, 1996, S. 165 ff., 169 und die dort zit. Literatur.

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die heute programmatisch als interkulturelle Aufgabe gefordert werdenY Das Recht als selbständige soziale Handlungsnorm wird dadurch nicht in Frage gestellt. Diese Perspektive erleichtert auch die Legitimationsfrage, die beim Gemeinschaftsrecht bisher wenig befriedigend gelöst ist. Das Europäische Parlament verfügt zwar über die räumliche und sachliche Nähe zu den vorrangigen Entscheidungsorganen, Rat und Kommission, aber nur über einen begrenzten Einfluß; bei den nationalen Parlamenten ist es vor allem in Bezug auf umsetzungsbedürftige Entscheidungen gerade umgekehrt. 14 Dem Europäischen Integrationsprozeß liegt auf der Grundlage internationaler Abkommen, der Gründungsverträge, ein entwicklungsfähiges Muster staatenübergreifender Problemlösungsverfahren zugrunde. Es gilt nicht nur für die Entscheidungsprozesse innerhalb der Organe der EU, sondern auch für das Verhältnis zwischen den herausgehobenen Organen, wie Kommission, Räten, Parlament, Europäischer Gerichtshof und Europäischer Rechnungshof, sowie für das Verhältnis von Rat und Kommission zu den zahlreichen von den Mitgliedstaaten entsandten Fachgremien und hohen Beamten. Die zwischenorganisatorischen Verfahrensregelungen, die Fragen der Regelkompetenzen, der Letztentscheidung und ihrer Bindungswirkung für die Organe oder der jeweiligen Entscheidungsquoren der Organe gemäß Verfahrensart und -stadium, wurden zwar immer komplizierter, das Grundmuster blieb aber erhalten. Es erweist sich nach seinen verschiedenen Arbeitsstrategien als ein "Triadisches Integrationsmodell" . Es kennt drei auf Vertrauen, Verständigung und Effektivität gestützte Handlungsformen, die einzeln oder kombiniert und je nach Intensität mit unterschiedlicher Dominanz im jeweiligen Entscheidungs bereich auftreten: - die Koordination die Kooperation - die normsetzende, vollziehende oder richterliche Regulation. Eine wichtige Rolle spielt der Zeitfaktor der Zusammenarbeit, die Institutionalisierung von Gemeinschaftspraktiken. Sie kennt ebenfalls drei Formen: - die Ad-hoc-Maßnahmen, das heißt Maßnahmen von Fall zu Fall - die formale Organisation von Verfahrens abläufen (einschließlich Fristen) 13 Siehe dazu Rainer Pitschas (Hrsg.), Politik und Recht der inneren Sicherheit in MitteIund Osteuropa, Werkstattgespräch zur Verwaltungsförderung, Bde. 3 und 4, 1995/ 1996, Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 1996, S. 18 ff. sowie die Referate und Diskussionen im Dritten und Vierten Teil, S. 255 ff., 375 ff.. Zum Begriff der Rechts- und Verwaltungskultur siehe Klaus König, Internationalität: Transnationalität, Supranationalität, in: Hartwich/Wewer (Hrsg.), Regieren in der Bundesrepublik, Bd. 5, 1993, S. 235 ff. 14 Siehe zu den politisch-kulturellen Voraussetzungen für die Legitimationskraft parlamentarischer Mehrheitsentscheidungen Fritz W Scharpf, Mehrebenenpolitik im vollendeten Binnenmarkt, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1994, S. 475 ff., 486; s. zum Demokratiedefizit der EG Peter Graf Kielmannsegg, Integration und Demokratie, in: Markus Jachtenfuchs (Hrsg.), Europäische Integration, S. 47 ff., 51.

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- die Begründung von selbständigen Handlungskompetenzen für Einrichtungen und Organe. Schließlich sind - unabhängig von der Zuordnung zum nationalen, transnationalen oder supranationalen Entscheidungsbereich 15 - drei Interaktionsebenen zu unterscheiden, die für den Erfolg der Arbeit von besonderer Bedeutung sind: - die Arbeitsgruppen als Fachgremien - die leitenden oder sogenannten hohen Beamten oder Mitglieder zentraler Organisationen mit politischen oder politisch-administrativen oder richterlichen Funktionen - die Regierungschefs, Minister oder Staatssekretäre als politische Vertreter der Mitgliedstaaten. Das dargelegte triadische Modell ist eine abstrakte Rekonstruktion des bisherigen Europäischen Einigungsprozesses. Sie zeigt eine unterschiedliche Dominanz der Handlungsformen an: Im EG-Verfahren dominiert die "Regelsetzung", in der außen- und sicherheitspolitischen sowie justizpolitischen Dimension der Europäischen Union die Koordination, in der innenpolitischen Dimension die Kooperation, im davon abgehobenen sogenannten Schengener Prozeß darüber hinaus die Koordination. Die Entscheidungsformen sind nicht das Ergebnis systematischer Überlegungen, sondern eines langwierigen, von Fortschritten und Rückschlägen geprägten Entwicklungsgangs. Ihre Funktion und Reichweite sind voll nur vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Entwicklungsgeschichte zu verstehen. Die Formen der Praxis stehen im Kontext ihrer Geschichte, die sie stützt. Politische Organisationen leben aber nicht nur von Formen der Entscheidungsverfahren, sondern auch von der Kraft symbolischer Akte und Bezüge. Es sind vor allem die Nationen übergreifende europäische Geistesgeschichte und die zivilisatorischen Lebensstile, die nach wie vor ein gemeinsames kulturelles Grundverständnis vermitteln. Im Kampf unterschiedlicher Interessen und Ordnungsvorstellungen wird es vor allem die Effektivität der Politiken sein, die Gemeinsamkeit fördert. Für die europäische Integration spielen Fragen der inneren Sicherheit in einem gemeinsamen Verkehrsraum eine wichtige Rolle. Die Schengener Abkommen haben einen entscheidenden Anstoß für die Entwicklung eines europäischen Sicherheitssystems gegeben. Ein bedeutender Fortschritt ist das Abkommen der Europäischen Union über die Errichtung eines Europäischen Polizei amtes (EuropolÜbereinkommen). Diese Abkommen sind für die Integrationsformen im Bereich der Inneren Sicherheit besonders signifikant. Sie geben ein aufschlußreiches Bild von den unterschiedlichen Konstruktionsformen einer gemeinsamen Praxis und ihrer wechselseitigen Abhängigkeiten.

15

Siehe zum Verhältnis von nationalen Verwaltungen und Gemeinschaftsverwaltung

Wolfgang Wesseis, Verwaltung im EG-Mehrebenensystem (Fußn. 13), S. 165 ff., 181 ff.

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IV. Die Geschichte der Schengener Abkommen als "partielles Unionsrecht"

Ausgangspunkt für die Schengener Abkommen - durchaus charakteristisch für die fortgeschrittenen europäischen Gemeinschaftsbestrebungen - waren negative Erfahrungen mit dem Entscheidungsprozeß der Europäischen Gemeinschaft. Positiver Antrieb war der entschiedene politische Wille des französischen Staatspräsidenten Mitterrand und des deutschen Bundeskanzlers Kohl, wobei letzterer besonders drängte. Nahziel war es, noch möglichst im Sommer 1984 das gemeinschaftliche Europa auch für den einzelnen Bürger durch Liberalisierung des grenzüberschreitenden Verkehrs innerhalb der Gemeinschaft erfahrbar zu machen. Denn die streng kontrollierten Grenzen waren ein unübersehbares Zeichen der nationalen Abgrenzung, die mit dem Gemeinschaftsbild nur schwer zu vereinbaren waren. Solche Bestrebungen gehen bereits auf den Europäischen Gipfel von 1974 zurück. Die Kommission der EG schlug in der Folgezeit vor, die Grenzkontrollen zunächst zu erleichtern und nach Durchführung geeigneter Sicherheitsvorkehrungen schließlich abzuschaffen (ABI. EG 1982 C 197). Nach zehn Jahren konnte sich der Europäische Rat von Fontainebleau, nachdem kurz zuvor schon eine verbindliche Ratsentschließung gescheitert war, am 25./26. 6. 1984 nur auf eine Entschließung einigen, die Wartezeiten und die Dauer der Kontrollen zu reduzieren (ABI. EG 1984 C 159, S. 1). Mitterrand und Kohl wollten jedoch nicht länger zuwarten und beschlossen, eine bilaterale Vereinbarung zu treffen. Die ersten Gespräche, die Mitte Juni auf Arbeitsebene in Paris geführt worden waren, verliefen ergebnislos. Daraufhin übernahm das Bundeskanzleramt für die deutsche Seite die Federführung. Nach einigen Gesprächen mit dem Amt des französischen Präsidenten und gemeinsamen Arbeitsgesprächen der zuständigen Ressorts konnte nach vier Wochen ein Vereinbarungsentwurf verabschiedet und am 13. 7. 1984 von beiden Seiten unterzeichnet werden. Zur Erleichterung des Grenzübergangs wurde gleichzeitig eine Europa symbolisierende Plakette eingeführt. Die Vereinbarung sah - wie zuvor die Kommissionsempfehlungen - die sofortige Beschränkung der Grenzkontrollen auf Stichproben vor, und zwar mit dem Ziel, diese nach der Einführung "begleitender" Sicherheitsrnaßnahmen völlig abzuschaffen. In den folgenden Wochen wandte sich der Bundeskanzler unter Hinweis auf die deutsch-französische Vereinbarung an die Regierungschefs der Beneluxstaaten. Sie waren damit einverstanden, unverzüglich in Verhandlungen über den Abbau der Grenzkontrollen einzutreten; bereits nach wenigen Wochen konnten die ersten Gespräche auf Ebene der leitenden Beamten und auf Arbeitsebene stattfinden. Wie ernst es der Bundesregierung mit der Liberalisierung des grenzüberschreitenden Verkehrs war, zeigen die Bemühungen, entsprechende Vereinbarungen auch mit Österreich, Dänemark und der Schweiz abzuschließen. Bereits Ende Juli 1984 wurde in einer einzigen Sitzung im Bundeskanzleramt eine Abmachung über die Erleichterung des Grenzverkehrs mit dem Chef des österreichischen Bundeskanzleramtes vereinbart, die zu einem offiziellen Briefwechsel beider Regierungschefs

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am 20. 8. 1985 führte. Die Absprachen mit Dänemark erwiesen sich wegen der Nordischen PaBunion, einem bereits liberalisierten Binnenraum der Nordeuropäischen Staaten, als etwas schwieriger. Ein knappes Jahr danach, am 20. 6. 1986, konnten die mit dem Amt des dänischen Ministerpräsidenten ausgehandelten Absprachen über die Erleichterung der Grenzkontrollen unterzeichnet werden. Die Unterzeichnung aller Vereinbarungen fand demonstrativ jeweils an gemeinsamen Grenzübergängen statt. Die Gespräche mit der Schweiz wurden vom Kanzleramt mit den für das Grenzregime zuständigen Amtsleitem geführt. Sie waren sehr freundlich, aber ergebnislos. Die Lage hat sich inzwischen aber verändert. Die Schweiz hat ihr Asylverfahrensrecht an die durch das Schengener Durchführungsabkommen veränderte Situation angepaBt 16 und Gespräche für einen Kooperationsvertrag aufgenommen. Ein knappes Jahr nach der deutsch-französischen Vereinbarung konnte am 14. 6. 1985 das Schengener Abkommen abgeschlossen werden. Die Federführung lag beim Bundeskanzleramt. Für die Ressortabstimmungen war der Abteilungsleiter "Innere Angelegenheiten" zuständig. Auch hier bewährte sich die ständige und enge Verbindung der politischen und administrativen Leitungsebenen mit den Arbeitsgruppen, die allerdings nach EG-Muster immer wieder in der Versuchung standen, durch die Delegation von Fragen auf zahlreiche Untergruppen den Zeitplan zu gefahrden. Das eingespielte EG-Muster, das auch in den Empfehlungen der Kommission zum Abbau der Grenzkontrollen zum Ausdruck kam, die Probleme nacheinander, gleichsam stückweise abzuarbeiten, fand auch Eingang in das Abkommen. Selbst die üblichen Fristsetzungen und ihre Überschreitungen fehlten nicht. Die Vorstufen über die Erleichterung der Grenzkontrollen traten sofort in Kraft, die weitergehenden Regelungen, insbesondere über die sogenannten begleitenden MaBnahmen, wurden besonderen Absprachen vorbehalten. Sie sind umfassend im Durchführungsübereinkommen vom 19. 6. 1990 niedergelegt, das schließlich nach Abschluß der erforderlichen Vorarbeiten zum 26. 3. 1995 für sechs Mitgliedstaaten in Kraft gesetzt wurde. Noch während der Beratungen des Durchführungsübereinkommens versuchte das sozialistisch regierte Ungarn auf allen diplomatischen Wegen, allgemeine Visaerleichterungen zu erreichen. Die Zeit war noch nicht gekommen, um über einzelne Erleichterungen hinaus eine Einigung zu erzielen, der auch die Schengener Vertrags staaten hätten zustimmen können. Nach dem raschen Auftakt benötigte der Abschluß des Folgeabkommens fünf Jahre und das Inkrafttreten für die erstunterzeichneten Staaten sowie für Spanien und Portugal noch weitere fünf Jahre. Der Zeitbedarf war wesentlich auf die sachlichen und politischen Schwierigkeiten der sensiblen Regelungsmaterie zurückzuführen. Es bedurfte eines schwierigen Lern- und Anpassungsprozesses, zentrale Bereiche staatlicher Souveränität in einen gemeinsamen verbindlichen Handlungs16

Vgl. dazu Alberto Achermann (Fußn. 6), S. 79 ff. 120.

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rahmen einzubringen. Auch wurde viel Sorgfalt darauf verwendet, mit technischen Höchststandards ein funktionsfähiges Informationssystem aufzubauen und zu erproben, da hiervon wesentlich die Lösung von Sicherheitsproblemen in hochtechnisierten Gesellschaften abhängtY Schließlich haben die Ereignisse der Vereinigung Deutschlands die Verhandlungen zeitweise überlagert. Zum erfolgreichen Abschluß der Abkommen, die Neuland betraten und die für die Beteiligten nicht ohne Risiken sind, haben maßgeblich Faktoren beigetragen, wie der ernste Wille der politischen Führungen, die Sensibilität für das diffuse öffentliche Europabild und seine kritische Wahrnehmung durch die Bevölkerung sowie die zügige und vertrauensvolle Kooperation der Akteure der unterschiedlichen administrativen und politischen Handlungsebenen. Die Schengener Abkommen verbanden mit dem Ziel des "unbegrenzten" Binnenmarktes ein Konzept, das weit in den nationalen Sicherheitsbereich hineinragt, das Elemente des Wirtschaftsverkehrs, der persönlichen Freizügigkeit aber auch eines gemeinsamen Raumes der Inneren Sicherheit enthält. Es ist gewiß fraglich, ob die Binnenmarkt-Kompetenz der EG trotz der vorherrschenden ökonomieorientierten Hermeneutik so weitgehende Sicherheitsfragen erfaßt. Die gleiche Frage stellt sich im Verhältnis von Recht der Europäischen Union und Europäischem Gemeinschaftsrecht. Hier fällt maßgeblich ins Gewicht, daß die Europäische Union für die justiz- und innenpolitische Zusammenarbeit außerhalb des Gemeinschaftsrechts einen eigenen Entscheidungsbereich begründet hat und die Übernahme von Regelungen in EG-Recht nur begrenzt und auf staatsvertraglicher Grundlage zuläßt (Art. A; K.I; 9 EU-Vertrag). Dies läßt viel Raum für juristische Kompetenzfragen l8 . Die letzten Zweifel, ob die Schengener Abkommen mit dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue (Art. 5 EG) vereinbar seien oder gegen EG-Kompetenzen (Art. 7 a, lODe EG-Vertrag) verstießen, beseitigte die Gründung der Europäischen Union mit dem Maastrichter Vertrag. Dieser übernimmt weitgehend die Regelungsmaterien des Schengener Durchführungsübereinkommens (Art. K.I EUVertrag). Er hält aber - durchaus im Blick auf die Schengener Abkommen - die engere Zusammenarbeit von zwei oder mehr Mitgliedstaaten in den Bereichen Justiz und Inneres ausdrücklich offen (Art. K. 7 EU-Vertrag). 19 Eine ähnliche Rege17 Siehe zur Chronologie des Schengener Informationssystems Ana Magrauer, Coexistence du Systeme d'Information de Schengen (SIS) et du Systeme d'Information Europeen (SIE) in: De Schengen a Maastricht: voie royale et course d'obstacles (Direction de Alexis Pauly), Maastricht 1996, S. 81 ff.,. 85. 18 Siehe dazu Wenceslas de Lobkowicz, Der "dritte Pfeiler" des Unions vertrags in der Perspektive der Regierungskonferenz 1996, in: Peter-Christian Müller-Graff (Hrsg.), Europäische Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres, 1996, S. 41 ff., 51. 19 Vgl. zur Vereinbarkeit der Schengener Abkommen mit EG-Recht Astrid Epiney, Das zweite Schengener Abkommen: Entstehung, Konzept und Einbettung in die Europäische Union, in: Achermann/Bieber/Epiney/Wehner (Hrsg.), Schengen und die Folgen, S. 21 ff., 31 ff.

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lung wurde in das von den EU-Mitgliedstaaten vereinbarte Übereinkommen über das vereinfachte Auslieferungsverfahren aufgenommen (Art. 1 Abs. 2). In Kollisionsflillen mit Übereinkommen der Mitgliedstaaten der EG sieht das Durchführungsübereinkommen Anpassungsregelungen vor (Art. 142 Abs. 1). Für strittige Fragen über die Vereinbarkeit des Übereinkommens mit EG-Recht bestand bisher kein Anlaß. Nach der Zielsetzung des Abkommens geht einschlägiges EGRecht grundsätzlich vor. Interpretationsprobleme müssen allerdings einvernehmlich gelöst werden. Schließlich ist zu erwähnen, daß während der Beratungen eine ständige Verbindung mit der Kommission bestand und diese zu den zentralen Sitzungen der Vertrags parteien Beobachter entsandt hatte; auch an den Ausführungen der Abkommen nahmen Beobachter der Kommission teil. Im Hinblick auf die dringlichen Migrationsprobleme war abzusehen, daß die EG sich zu Mindestregeln des Asylverfahrens durchringen würde. Dies ist wenige Tage vor Abschluß des Schengener Durchführungsübereinkommens beim Europäischen Gipfel in Dublin am 15. 6. 1990 in Form eines völkerrechtlichen Abkommens geschehen. Die Terminlage sollte allerdings nicht davon ablenken, daß sich dieses Übereinkommen an die Schengener Regelungen hält. Dieser Teil des Durchführungsübereinkommens (insbesondere Titel 11 Kap. 7) wird gemäß dem "Bonner Protokoll" der Schengener Vertrags staaten mit Inkrafttreten des Dubliner Abkommens keine Anwendung mehr finden. Die möglichen Kollisionsfälle sind bisher weitgehend durch die Schengener Abkommen gleichsam selbst ausgelöst worden. Der generative Rang wird durch den EU-Vertrag (Titel VI) bekräftigt, der durch diese Übereinkommen nachhaltige Impulse erhalten hat, die sich auch auf die bisher ergangenen Maßnahmen der Europäischen Union im Bereich der Inneren Sicherheit erstrecken. Die von einer begrenzten Zahl der EG-Mitgliedstaaten abgeschlossenen Verträge haben vorläufigen Charakter. Sie verstehen sich gleichsam als eine Antizipation von Gemeinschaftsrecht, auch wenn sie noch nicht in die formale Organisation der Europäischen Gemeinschaften eingebunden sind. Sie schotten sich ausdrücklich gegen Vereinbarungen einzelner Vertrags partner mit Nicht-EG-Staaten ab, indem sie diese an die Zustimmungen der anderen Vertragspartner binden (Art. 136). Durch ihre bloße Existenz und schließlich durch ihre Ausführungen in konkreten verbindlichen Maßnahmen schaffen sie eine normative Sachlage, der eine gewisse präjudizielle Wirkung zukommt. Wir können daher von einem "partiellen Unionsrecht" sprechen, das gleichsam eine Schengener Sicherheits gemeinschaft begründet. Das Institut des partiellen Unionsrechts zeigt aber auch eine Entwicklungslinie für den weiteren Europäischen Einigungsprozeß an. Mit der Erweiterung der Europäischen Union werden manche Risiken und Abstimmungsprobleme angesichts unterschiedlicher Entwicklungen und der Möglichkeit divergierender Interessen eher zunehmen. Die begrenzte Erprobung von Regelungen und Maßnahmen könnte daher Entscheidungen erleichtern. Voraussetzung wäre allerdings, daß das

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Recht der Union über die Besitzstandswahrung hinaus keinen exklusiven Kompetenzrang beansprucht, der partielle Regelungen verhindert. 2o V. Zweck und Inhalt der Schengener Abkommen Der Gegenstand der Schengener Abkommen erscheint auf den ersten Blick als eine beliebige Addition unterschiedlicher Regelungsbereiche. Ein inneres System der Regelungen und Maßnahmekategorien ist nur schwer zu erkennen. Der ordnende Gesichtspunkt ist der Zweck, die unverzichtbaren Voraussetzungen für einen sicheren, gegen grenzüberschreitende Kriminalität geschützten transnationalen Raum der Freizügigkeit zu schaffen, der analog zum nationalen Staatsgebiet von wirksam kontrollierten Außengrenzen abgeschirmt wird. Die Verträge folgen einer pragmatischen Logik. Sie orientiert sich an der Dringlichkeit, Aktualität und Effektivität praktischer Regelungserfordernisse und ihrer rechtsstaatlichen Grenzen. Das Durchführungsübereinkommen enthält neben Einführungs- und Schlußbestimmungen Regelungen über die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen, die Kontrollen an den Außengrenzen (Titel 11; 7 Artikel), einen längeren Abschnitt über Fragen des Sichtvermerks und Verfahrensfragen der Einreiseverweigerung und der Zuständigkeit in Asylverfahren (Titel 11; 30 Artikel), Regelungen über den Warenverkehr und den Transport gefährlicher Güter (Titel V; 6 Artikel). Ein Titel ist allgemein Fragen des Datenschutzes gewidmet (Titel VI; 5 Artikel); ein besonderer Titel dient dem Exekutivausschuß als oberstem Organ für die Durchführung des Vertrags (Titel VII; 3 Artikel). Die zentralen Regelungen bilden der Titel III über Polizei und Sicherheit (53 Artikel) und der Titel IV über das Schengener Informationssystem (28 Artikel). Es enthält überdies für die Handhabung der Daten besondere Vorschriften zum Datenschutz und der Datensicherung (Titel IV Kap. 3). Die Vereinbarungen über "Polizei und Sicherheit" (Titel III) befassen sich neben der Zusammenarbeit der Polizeibehörden mit so unterschiedlichen Themen wie ergänzenden und erleichternden Regelungen zur Rechtshilfe in Strafsachen (Kap. 2), zum Verbot der Doppelbestrafung (Kap. 3), zum geltenden Auslieferungsabkommen (Kap. 4), zu der Vollstreckung von Strafurteilen (Kap. 5), der Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität sowie der Harmonisierung von Vorschriften für Feuerwaffen und Munition (Kap. 6, 7). Das Schengener Durchführungsabkommen bietet ein dichtes Regelwerk. Es stellt gleichsam eine Balance zwischen gemeinsamen Aufgaben und nationalen Kompetenzen her. Den transnationalen normativen Rahmen bilden EG-Entscheidungen, nunmehr auch die verbindlichen Maßnahmen der Europäischen Union, sowie eine Reihe von internationalen Abkommen, die einschlägige Fragen regeln, wie die Genfer Konvention über das Flüchtlingswesen vom 28. 7. 1951, das Euro20

Siehe oben unter IV.

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päische Übereinkommen über Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. 4. 1959 (Art. 23 Abs. 5; 48, 53, 135), das Europäische Auslieferungsabkommen vom 13.9. 1957 (Art. 59), das Benelux-Übereinkommen über Auslieferung und Rechtshilfe in Strafsachen vom 27.6. 1962 (Art. 48, 53, 59, 64), das Übereinkommen des Europarates vom 21. 3. 1983 über die Überstellung verurteilter Personen sowie das Übereinkommen vom 28. 1. 1981 zum Schutz des Menschen bei der automatischen Datenverarbeitung personenbezogener Daten und die dazu ergangene Empfehlung zur Nutzung personenbezogener Daten vom 17. 9. 1987 (Art. 115, 117, 126, 129). VI. Formen der Koordination und Kooperation

Eine zentrale Bedeutung spielen Fragen der "Koordinierung". Der wichtigste Anwendungsfall ist die Harmonisierung von materiellen Vorschriften. Sie erstrekken sich auf fast alle Regelungsbereiche der Abkommen. Sie reichen von Vorschriften, die für den grenzüberschreitenden Personen-, Waren- und Güterverkehr von Bedeutung sind (Art. 17 Schengen I; Art. 13, 22, 122 SDÜ), von Teilen des Ausländerrechts (Art. 20 Schengen I) bis zur Anpassung von Vorschriften über Feuerwaffen und Munition (Art. 77 ff. SDÜ), Vorschriften der Datenkontrolle unter Gewährleistung von Datenschutzstandards (Art. 115 Abs. 3; 117 SDÜ). Auch gibt es vertragliche Bemühungen, Rechtsgebiete, wie die indirekten Steuern, im Rahmen der EG zu harmonisieren (Art. 26 Schengen I). Darüber hinaus erlaßt die Koordinierung politische Ziele, wie die Harmonisierung der Sichtvermerkspolitik (Art. 7 Schengen I; Art. 9 Abs. 1 SDÜ), die angesichts der unterschiedlichen nationalen Geschichte und der davon abhängigen Migrationspraxis auf besondere Schwierigkeiten stößt. Sie erstreckt sich aber auch auf exekutive Maßnahmen, wie die Abstimmung im Rahmen des Schengener Informationssystems (Art. 100 Abs. 3 SDÜ), die Abstimmungen bei der Sachfahndung (Art. 100 Abs. 1 SDÜ), die Abstimmung der Kontrollinstanzen für das Informationssystem (Art. 114 Abs. 2 SDÜ), die Abstimmung bei Fragen des Transports gefährlicher Güter bis zur Einrichtung von geeigneten Koordinationsmechanismen (Art. 123 Abs. 2, S. 2 SDÜ), die Koordinierung von Vorschlägen für eine gemeinsame Datenkontrolle (Art. 115 Abs. 3 SDÜ), die Abstimmung von Weisungen an nachgeordnete Dienststellen bei Kontroll- und Überwachungsaufgaben (Art. 7 SDÜ), die Hinwirkung auf eine einheitliche Aus- und Fortbildung des Kontrollpersonals (Art. 7 SDÜ) und schließlich auf die Koordinierung bei der Beschaffung von Kommunikationsgeräten (Art. 44 Abs. 2 SDÜ). Der Grad der Verbindlichkeit für koordinierende Aufgaben reicht von der Prüfung (z. B. Art. 26, 27 Schengen I), der Bemühung (Art. 7, 22, 24 Schengen I; Art. 122 Abs. 2, S. 2 SDÜ), der Beratung (Art. 123 Abs. 1 SDÜ) bis zu unmittelbar verbindlichen rechtlichen Verpflichtungen. In zentralen Bereichen überläßt das Durchführungsübereinkommen die Harmonisierung nicht lediglich nationalem Ermessen, sondern legt unmittelbar ver-

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bindliehe Kernregelungen fest; so z. B. die Grundsätze bei grenzüberschreitendem Verkehr an den Außengrenzen (Art. 6), bei Fragen des Sichtvermerks insbesondere bei längerfristigem Aufenthalt (Art. 18), bei Regelungen über die grenzüberschreitende Nacheile (Art. 41), der Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität (Titel III, Kap. 6), bei Vorschriften zum Datenschutz und der Datensicherung (Titel IV, Kap. 3; Titel VI). Bei den Kernregelungen über Feuerwaffen und Munition, die lange die Verhandlungsrunden beschäftigten, spielten die deutschen Sicherheitsstandards eine maßgebliche Rolle, die vor allem im Blick auf freizügigere Traditionen in Frankreich nicht selbstverständlich waren. Das operative Zentrum der Verträge bilden die zahlreichen Verpflichtungen zur Zusammenarbeit. Sie erfassen alle Regelungsbereiche der Abkommen. Sprach das Basisabkommen hier zurückhaltend von einer Verstärkung oder Entwicklung der Zusammenarbeit von Zoll- und Polizeibehörden (Art. 9; 25 Schengen I) oder von Zusammenkünften der zuständigen Behörden in regelmäßigen Abständen (Art. 10 Schengen I), so dringt das Durchführungsübereinkommen auf eine "enge und ständige" Zusammenarbeit (vgl. Art. 7, 125 Abs. 2, S. 2). Wichtige Bereiche der operativen Zusammenarbeit sind nach dem Durchführungsübereinkommen die Kontroll- und Überwachungsaufgaben im grenzüberschreitenden Verkehr (Art. 7, 125), die vorbeugende Bekämpfung und Aufklärung von strafbaren Handlungen (Art. 39 Abs. 1), begrenzt im Rahmen der polizeilichen Nacheile auf Straftaten, die in einem Katalog näher bestimmt sind (Art. 41 Abs. 4). Dieser Katalog zeigt deutlich an, daß es nicht nur um Sicherheitsfragen eines bloßen Grenzregimes geht, sondern weite Teile des Sicherheitsbereichs mit einbezogen sind. Am weitestgehenden ist die Zusammenarbeit im Rahmen des Schengener Informationssystems (Titel IV). Bevorzugte Arten der Zusammenarbeit sind der Austausch von Informationen und Erfahrungen (z. B. Art. 9 Abs. 1; 47 Abs. 2; 122 Abs. 2), die gegenseitige Unterstützung bei notwendigen Politiken (Art. 9 Abs. 1) oder bei polizeilichen Maßnahmen (Art. 47 Abs. 2), die gegenseitige Hilfe der Polizeidienste bei der Bekämpfung und Aufklärung von Straftaten (Art. 39 Abs. 3), die Mitwirkung bei Personen- und Sachfahndungen im Rahmen des Informationssystems (Titel IV). Die Informationsvermittlung soll insbesondere bei der Fahndung und Observation alle verfügbaren technischen Kommunikationsmittel nutzen (Art. 44 Abs. 1). Die Zusammenarbeit ist nicht auf die herausgehobene Ebene nationalstaatlicher Vertretungen beschränkt. Die Abkommen beziehen vielmehr alle Ebenen der zuständigen Administration und der Gerichtsbarkeit mit ein. Besondere Regelungen stellen sicher, daß der Verkehr zwischen den zuständigen Behörden und zwischen den Gerichten auch unmittelbar stattfinden kann (Art. 53 Abs. 1,5; 57 Abs. 1, 3). Die zuständigen Behörden haben einen unmittelbaren Zugriff zum gemeinsamen Informationssystem (Art. 101 Abs. 1,2). Dies ist von besonderem Gewicht für die grenznahen Polizei- und Zolldienststellen (Art. 44 Abs. 2). Voraussetzung ist allerdings, um Mißbrauch vorzubeugen, daß die Behörden zuvor in einer Liste ausge-

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wiesen werden. Eine darüber hinausgehende Zusammenarbeit in den Grenzgebieten kann zwischen den zuständigen Ministern vereinbart werden (Art. 39 Abs. 4). Diese Regelung hat sich in der Praxis als besonders fruchtbar erwiesen. Dies gilt auch für die Frage, ob die Einrichtung einer gemeinsamen Verbindung zwischen den in der selben Region tätigen Polizei- und Zolldienststellen möglich ist (Art. 44 Abs.2). Die Regelungen über die Zusammenarbeit enthalten gewisse Vorkehrungen, um nicht einen beliebigen internationalen Behördenverkehr zu eröffnen. Der Durchführungsvertrag geht jedoch bewußt über die bisher sehr zurückhaltende Staatspraxis hinaus und erweitert die zwischenstaatliche Zusammenarbeit auch über die internationalen Abkommen hinaus auf weite Teile der Polizei- und Zollverwaltungen. Die Absicht, einen möglichst wirksamen Sicherheitsstandard zu erreichen, wog schließlich schwerer als die Sorge, daß sich Teile der Staatsverwaltungen in einem schwer durchschaubaren Kooperationsgeflecht verselbständigen könnten. Auf starke nationale Vorbehalte stieß zunächst auch die grenzüberschreitende Nacheile der Polizei bei der Strafverfolgung (Art. 41). Da der Schutzdamm der Grenze entfallen sollte, war eine Regelung für flüchtende Täter, die auf frischer Tat ertappt werden, geboten. Die offene Grenze als Fluchtweg beherrschte als suggestives Bild die Verhandlungen. Ungeachtet der geringen sicherheitsstrategischen Bedeutung erwiesen sich die Verhandlungen als recht langwierig21 • Die Forderungen der polizeilichen Praxis und der Anspruch der unverletzlichen Integrität des nationalen Raumes stießen sichtbar aufeinander. Schließlich kam ein allgemeiner Text mit einer Reihe einschränkender Bedingungen zustande, der nationale Sonderregelungen in Erklärungen der Regierung verweist, die Bestandteil des Vertrages sind (Art. 41 Abs. 10). Die Institutionalisierung der operativen Zusammenarbeit kennt sehr unterschiedliche zeitliche Dimensionen. Die Zusammenarbeit kann im Rahmen der jeweils zuständigen Behörden je nach Bedarf ad-hoc, das heißt von Fall zu Fall, stattfinden. Dies gilt vor allem für die zuständigen Dienststellen der Grenzregionen oder bei der präventiven und repressiven Verbrechensbekämpfung (v gl. Art. 39; 44 Abs. 2; 122 Abs. 2). Einen höheren Organisationsgrad weisen die Zusammenarbeit von Verbindungsbeamten (Art. 47; 125) und die "ständige Arbeitsgruppe" für Fragen zur Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität (Art. 70) auf. Die Verbindungsbeamten werden je nach Vereinbarung befristet und unbefristet zu einer Dienststelle entstandt. Sie haben eine beratende und unterstützende Aufgabe ohne Vollzugskompetenzen. Auch die "ständige Arbeitsgruppe", gleichsam die Schengener Drogenstelle, setzt sich vor allem aus Vertretern der zuständigen Behörden zusammen; sie hat beratende Aufgaben und kann Verbesserungsvorschläge empfehlen, die dem obersten Organ, dem Exekutivausschuß, vorzulegen sind (Art. 70 Abs. 1), der 21 Siehe zur geringen Bedeutung der Nacheile Hans-Heiner Kühne, Knminalitätsbekämpfung durch innereuropäische Kontrollen? Auswirkungen der Schengener Abkommen auf die innere Sicherheit, 1991, S. 47 f.

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auch sonstige Arbeitsgruppen aus Vertretern der Verwaltungen bilden kann (Art. 132 Abs. 4).

VII. Das Schengener Informationssystem Das Kernstück der institutionellen Zusammenarbeit ist das gemeinsame Schengener Informationssystem (Titel IV, Art. 92). Die offizielle Bezeichnung verdeckt seine herausragende operative polizeiliche Funktion als zentrales Personen- und Sachfahndungssystem. Es ist zum ersten Mal gelungen, im europäischen Raum ein gemeinsames Fahndungssystem aufzubauen. Es beschränkt sich nicht auf grenzrelevante Delikte, sondern hat die allgemeine Aufgabe, zur öffentlichen Sicherheit und Ordnung einschließlich des Staates der Vertragsparteien beizutragen (Art. 93). In den Verhandlungen wurde rasch Einigung darüber erzielt, daß nur ein umfassendes Fahndungssystem den Erfordernissen eines gemeinsamen Sicherheitsraumes entsprechen würde. Die bisherigen Verfahren haben sich als umständlich und wenig effektiv erwiesen. Schwieriger waren Fragen der zentralen und dezentralen Organisation und ihrer technischen Durchführung. Man konnte sich nicht entschließen, einen gemeinsamen Datenbestand aufzubauen und gemeinsam zu verwalten oder eine gemeinsame Fahndungsstelle einzurichten. Das Datensystem ist vielmehr in nationale Teile gegliedert. Ihre technische und organisatorische Verbindung hat jedoch eine funktionale Einheit geschaffen. Ein wesentliches Element ist die verbindlich vorgeschriebene Konzentration der einzelstaatlichen Systemteile in einer nationalen Zentrale, die insoweit für die Funktionsfahigkeit des Informationssystems verantwortlich ist. Für die "technische Unterstützungseinheit" und ihre Organisation ist das Sitzland Frankreich zuständig; aber sie gilt als eine Einrichtung in gemeinsamer Verantwortung der Vertragsstaaten, die sich auch die Kosten teilen (Art. 92 Abs. 3). Selbstverständlich war die Sitzfrage nicht unumstritten. Sowohl die deutsche als auch die französische Seite zeigte Interesse. Dem bewährten Verfahren, in solchen Fällen auf ein drittes Land auszuweichen, widerstand das entschiedene Interesse Frankreichs als Sitzland von IKPO (Interpol), vor allem eine neue Fahndungstechnik selbst zu erproben. Das Organisationsschema: Die Verbindung einer gemeinsamen zentralen Einrichtung mit nationalen Zentralen findet sich auch bei den Kontrolleinrichtungen, die sich aus einer gemeinsamen Kontrollinstanz und nationalen Kontrollinstanzen zusammensetzen (Art. 114, 115). Eine gemeinsame Kontrollinstanz, auch wenn sie von Vertretern der nationalen Kontrollstellen gebildet wird, unterstreicht den selbständigen Charakter der Fahndungszentrale. Die sachliche und personelle Verbindung der nationalen Kontrollstellen mit der gemeinsamen Zentrale dient der engen und ständigen Zusammenarbeit der Fachleute der Vertragsstaaten, die aus sehr unterschiedlichen Verwaltungstraditionen kommen. Dies erhöht nicht nur die fachliche Kompetenz, sondern schafft auch einen Raum der gegenseitigen Verständigung und des Vertrauens. Er kann in einem mit einschneidenden Zwangsmitteln arbei-

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tenden Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit, die nach wie vor auf erhebliche nationale Vorbehalte stößt, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die zentrale Kontrollinstanz vertritt unter dem ständigen Zwang zu gemeinsamen Entscheidungen das Gesamtinteresse der Vertragsstaaten. Es sind ihr selbständige Kompetenzen für vollziehende Regulationen übertragen. Sie übt ein Prüfungsrecht insbesondere über den Datenschutz und die richtige Anwendung des Übereinkommens aus; auch ist sie für die Auslegungs- und Anwendungsfragen des Fahndungssystems und schließlich für die Erarbeitung ,,harmonisierter" Lösungsvorschläge bei auftretenden Problemen zuständig (Art. 115 Abs. 2, 3). Das Schengener Informations- und Fahndungssystem ist unter Gesichtspunkten einer straffen Organisation gewiß ein kompliziertes Gebilde. Aber es gelingt ihm doch, Fachkompetenz, eine mit hohen Verarbeitungskapazitäten ausgestattete Kommunikationstechnik und politische Legitimität eines Herrschaftsinstruments zu bündeln. Es vollzieht im europäischen Raum den über Jahrzehnte immer wieder hinausgezögerten Schritt zu einem integrierten Fahndungssystem der Polizei der Vertragsstaaten.

VIII. Der Exekutivausschuß des Schengener Sicherheitssystems Neben den Institutionen der Verbindungsbeamten, einer ständigen Arbeitsgruppe für die Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität, neben gemeinsamen und zentralen nationalen Stellen und Kontrollinstanzen ist das bedeutendste Organ des Schengener Sicherheitssystems der Exekutivausschuß. Die verschiedenen Institutionen sind nach Aufgabenbereichen und administrativem Status unterschiedlichen Ebenen zugeordnet, die gleichsam eine vertikale Gliederung der organisierten Zusammenarbeit aufweisen. Auch drängen sich Vergleiche mit der EG-Organisation vor allem im Blick auf den Exekutivausschuß auf. Er setzt sich wie der EU-Rat aus den zuständigen Ministern der Mitgliedstaaten zusammen (Art. 132 Abs. 1,2). Er tagt wie dieser abwechselnd im Hoheitsgebiet jeder der Vertragsparteien (Art. 132 Abs. 3). Er kann sich wie der Rat der EU (vgl. Art. K.4 Abs. 1 EU-Vertrag) durch Sachverständige beraten lassen und Arbeitsgruppen bilden. Die bedeutendste Arbeitseinheit ist die Zentrale Gruppe, die sich wie der EU-Koordinierungsausschuß aus ,,hohen Beamten" aller Vertragsstaaten zusammensetzt. Er entscheidet allerdings in allen Fällen einstimmig. Auch steht jedem Mitglied nach dem Gleichheitsprinzip souveräner Staaten jeweils nur eine Stimme zu. Der Exekutivausschuß hat die allgemeine Aufgabe, für eine sachgerechte Anwendung des Übereinkommens Sorge zu tragen (Art. 131 Abs. 1). Dies rückt ihn allerdings in die Nähe der Kontrollfunktion der Kommission der Europäischen Gemeinschaft (vgl. Art. 155 EG-Vertrag). Der Ausschuß ist eine Art exekutives Aufsichts- und Kontrollorgan. Er hat im Rahmen des Abkommens die Kompetenz, allgemeine Regelungen festzulegen oder die erforderlichen Kontrollmaßnahmen zu treffen. Die dem Ausschuß im einzelnen übertragenen Aufgaben sind in zahlreichen Bestim16"

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mungen geregelt. Sie betreffen vor allem Fragen des grenzüberschreitenden Personenverkehrs an den Außengrenzen (Art. 3 Abs. 1), die Kontrolle und Überwachung dieser Grenzen (Art. 8), Fragen des Inhalts von Sichtvennerken und Verfahrensfragen der Sichtvennerkspraxis insbesondere des von den Vertragsparteien als neues Institut eingeführten einheitlichen Sichtvennerks für einen kurzfristigen Aufenthalt (Art. 12 Abs. 3; 17; 21 Abs. 3; 24); über die Ausstellung nationaler Sichtvennerke für einen längeren Aufenthalt (über drei Monate) ist der Ausschuß im Interesse einer wechselseitigen Infonnation in Kenntnis zu setzen (Art. 21 Abs. 3). In Bereichen, für die besondere ständige Arbeitseinheiten bzw. zentrale Stellen oder Kontrollinstanzen vorgesehen sind, wie bei der Bekämpfung der Betäubungsmittelkriminalität oder im Schengener Infonnationssystem, nimmt der Ausschuß zwar wichtige, aber nur begrenzte zentrale Kontrollaufgaben wahr (Art. 70 Abs. 1; 101 Abs. 4). Im Vordergrund stehen die neuen Aufgabenbereiche mit einem besonderen Regelungsbedarf. Der Ministerausschuß ist insoweit gleichsam als konstitutionelles Organ berufen, im Interesse der Funktionsfähigkeit des neuen Sicherheitssystems die vertraglichen Bestimmungen zu konkretisieren und zu vertiefen. Änderungen des Vertrags haben sich die Vertragsparteien ausdrücklich vorbehalten (Art. 141).

IX. Arbeitsstäbe als Organisationsprinzip

Die institutionelle Ausstattung des Schengener Durchführungsvertrags beschränkt sich auf wenige gemeinsame Organe, die, von der technischen Unterstützungseinheit abgesehen, als Arbeitsstäbe geregelt sind und die von nationalen Vertretern gebildet werden. Es könnte daher die Gefahr bestehen, daß die Wahrnehmung einzelstaatlicher Interessen vorherrscht. Das Abkommen stiftet aber nicht nur plural zusammengesetzte gemeinsame Einrichtungen. Es greift auch im Interesse einer effektiven Zusammenarbeit in die jeweilige nationale Behördenorganisation ein. Das Konfliktrisiko abgehobener Zentralen wird durch die Parallelität des Aufbaus von gemeinsamen Einrichtungen und entsprechenden nationalen Stellen gemildert. Die gemeinsamen und die zugeordneten nationalen Einrichtungen, aber auch die parallelen zentralen Behörden der Mitgliedstaaten stehen unter stetem Verständigungszwang. Die nachdrücklich betonte wechselseitige Infonnation und Unterstützung auf allen Ebenen setzt Bedingungen für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Sie wird auch gefördert durch das traditionell hohe Berufsethos der Sicherheitsbeamten und die institutionelle Chance, erfolgreicher als bisher, Gefahren von der Allgemeinheit abzuwehren. Folgerichtig bezieht das Abkommen auch die Aus- und Fortbildung von Sicherheitsbeamten in den Katalog der Koordinierungsaufgaben mit ein (Art. 7). Schließlich ist zu berücksichtigen, daß die zuständigen Polizei- und Zollbehörden unter einer ständigen, auch statistisch gestützten, öffentlichen Erfolgskontrolle stehen. Man mag einwenden, daß das Schengener Abkommen weniger materielle Sicherheitsfragen als eine verwirrende Vielfalt von Fragen der polizeilichen Praxis

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regelt. Dies entspricht der Zielsetzung, den gemeinsamen, grenzenlosen Raum möglichst effektiv durch enge Zusammenarbeit der zuständigen Behörden zu schützen.

x. Fragen des Rechtsschutzes und der demokratischen Legitimation Es wird immer wieder kritisiert, daß die Schengener Verträge verstärkt Eingriffsmöglichkeiten eröffnen, ohne einen dem Gemeinschaftsrecht vergleichbaren Rechtsschutz zu gewähren. Dies trifft nur insoweit zu, als die Rechtsschutzmöglichkeiten der Europäischen Union, insbesondere durch den Europäischen Gerichtshof, nicht Platz greifen. Nach der Gründung der Europäischen Union könnten allerdings, sofern alle Mitgliedstaaten dem Schengener Abkommen beitreten, Zuständigkeiten des Europäischen Gerichtshofs begründet werden (Art. K.3 Abs. 2 Buchst. c, letzter Satz EU-Vertrag). Zu berücksichtigen ist allerdings, daß das Durchführungsübereinkommen sehr darum bemüht ist, Rechtsschutz- und Haftungsfragen zu regeln. Dies gilt besonders für Fragen des Datenschutzes. Der Vertrag enthält einen besonderen Titel (Tit. VI), der dem Datenschutz gewidmet ist. Er verpflichtet die Vertrags staaten ausdrücklich, vor Inkrafttreten des Übereinkommens unter Beachtung der Vertragsverpflichtungen einen Mindestsicherheitsstandard zu gewährleisten (Art. 126), und bestimmt, daß der Datenverkehr erst nach Funktionsfähigkeit der nationalen Kontrollinstanzen beginnen darf (Art. 128 Abs. 1). Darüber hinaus regelt ein besonderes Kapitel den Datenschutz und die Datenverarbeitung des Informationssystems (Tit. IV, Kap. 3). Der Vertrag begründet neben den nationalen Rechten einen selbständigen Anspruch auf Berichtigung, Löschung, Auskunftserteilung und eine entsprechende Klagebefugnis des einzelnen (Art. 111). Die Haftung trifft den jeweiligen Vertragsstaat nach dessen nationalem Recht; er kann sich nicht zum Nachteil eines anderen Mitgliedstaates entlasten (Art. 126 Abs. 3 Buchst. d). Die Haftungsproblematik wird durch das Schengener Sicherheits system wesentlich dadurch entschärft, daß es die nationale Verantwortung den einzelnen Handlungsbereichen klar zuordnet und eine systerninterne Interpretationshilfe vorsieht. Der dezentralen Organisation entspricht auch eine dezentralisierte, im Rahmen des Informationssystems auf herausgehobene Behörden konzentrierte Verantwortung. Die Datenschutz- und Haftungsfragen wurden bei den Beratungen eingehend erörtert. Man orientierte sich an den nationalen Regelungen mit hohen Sicherheitsstandards. Für eine vollständige Harmonisierung des Datenschutzrechts der Vertragspartner war die Zeit noch nicht reif. 22 22 In der Literatur werden die Datenschutzregeln im allgemeinen als vorbildlich bezeichnet. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz spricht von einem relativ hohen Niveau; vgl. dazu Ruth Wehner, Die polizeiliche Zusammenarbeit zwischen den Schengen-Staaten unter besonderer Berücksichtigung der SIS, in: Achermann / Bieber / Epiney / Wehner (Hrsg.), Schengen und die Folgen, S. 129 ff., 145, 149 und die dort zit. Literatur.

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Schwieriger ist die Frage nach der demokratischen Legitimation zu beantworten. Den gemeinsamen Einrichtungen stehen keine gemeinsamen parlamentarischen Kontrollen gegenüber. Das Europäische Parlament könnte auch nach der Gründung der EU nur tätig werden, wenn am Vertrag alle EU-Mitglieder beteiligt wären. Dies schließt gewiß nicht aus, daß die Kommission den Kontakt zu den Schengener Vertragsstaaten pflegt und dem Europäischen Parlament über das Schengener Vertrags werk und seine Praxis berichtet. Die demokratische Legitimation wird aus der Sicht staatlich organisierter Herrschaftsgewalt ausschließlich über die nationalen Parlamente vermittelt, welche das Durchführungsübereinkommen ratifiziert haben und denen die Regierungen der Vertragsstaaten jeweils verantwortlich sind. Aber auch für EG-Entscheidungen liefern die nationalen Parlamente noch weitgehend die demokratische Legitimation. 23 Umso wichtiger ist aber für eine staatenübergreifende Arbeit der enge Praxisbezug der zuständigen nationalen Organe und Einrichtungen. Er schafft eine Kommunikationsbasis, welche die rechtliche Verbindlichkeit transnationaler Zusammenarbeit pragmatisch stützt. Mit dem Schengener Abkommen wird ein Ordnungsmodell erprobt, welches das Europäische Einigungswerk gleichsam von der Basis her trägt. Dies bedeutet für die Europäische Einigungsbewegung: Das ,,Europa von oben", die staatsähnliche Organisation der Gemeinschaft, verbindet sich mit einem ,,Europa von unten", der gemeinsamen Staatenpraxis. Die kollektive Pluralität verdichtet sich zu kollektiver Identität. Dieser Verdichtungsprozeß verläuft auf allen Interaktionsebenen.

XI. Das Europäische Polizeiamt (Europol) Ein weiterer Schritt im Ausbau eines Europäischen Sicherheitssystems wurde mit dem Übereinkommen vom 26. 7. 1995 über die Errichtung eines Europäischen Polizeiamts (Europol) vollzogen. Dieser Vertrag ist bisher die bedeutendste Entscheidung der Europäischen Union 24 • Er weist - europaspezifisch einen langen Entwicklungsgang auf und steht in einem engen Zusammenhang mit der europäischen Nachkriegsgeschichte internationaler Kriminalität und ihren spezifischen Erscheinungsformen. Schon vor 20 Jahren forderten kriminalpolizeiliche Praktiker, der Bedrohung durch die grenzüberschreitende Kriminalität, insbesondere den Terrorismus, mit einer engeren Zusammenarbeit der europäischen Staaten zu begegnen. Der erste institutionelle Ansatz kam 1976 mit der sogenannten TREVI-Kooperation außerhalb der EG zustande, in der alle für die Innere Sicherheit zuständigen Minister der Europäischen Gemeinschaften vertreten waren 25 • Sie ist in den Koordinierungsausschuß nach Art. K.4 Abs. 1 EU-

23 24

Siehe dazu Peter Graf Kielmannsegg (Fußn. 15),47 ff., 60. Siehe Überblick bei Wenceslas de Lobkowicz (Fußn. I), S. 41 ff., 47 ff.

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Vertrag übergegangen. In der Folgezeit (1989) kamen Bemühungen des Rats hinzu, eine Informationszentrale für Rauschgiftangelegenheiten einzurichten. Schließlich hat der Europäische Rat am 9./ 10. 12. 1991 die Errichtung eines Europäischen Polizeiamts beschlossen; sie fand Aufnahme in den Regelungskatalog der innen- und justizpolitischen Zusammenarbeit der Europäischen Union, der vorsichtig als Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse ausgewiesen ist (Art. K.l EU-Vertrag). Der Vertrag muß von allen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Auch muß der Rat vor Aufnahme der vertragsgemäßen Tätigkeit noch acht allgemeine Durchführungsbestimmungen verabschieden. Man rechnet damit, daß das Abkommen nicht vor 1998/99 in Kraft gesetzt wird. Um rascher mit der Arbeit beginnen zu können, hat die Europäische Union - auf Vorschlag der deutschen Seite - nach der Ministervereinbarung am 2.6. 1993 als gemeinsame Maßnahme vom 10. 3. 1995 - beschlossen, die geplante Drogenstelle unter Erweiterung der Deliktsbereiche als erste Stufe von Europol zu verwirklichen. Sie ist ein Informationssystem, das auf der Grundlage internationaler Abkommen und bilateraler Vereinbarungen der Mitgliedstaaten arbeitet. Sie ist als Arbeitsstab von nationalen Verbindungsbeamten organisiert. Ihre Tätigkeit hat sie im Januar 1994 aufgenommen; sie endet mit der Aufnahme der Tätigkeit von Europol (Art. 45 Abs. 5). Gegenstand des Abkommens über die Errichtung von Europol ist der Aufbau eines zentralen Systems zum Austausch von Informationen im Rahmen eines Europäischen Polizeiamts. Ziel ist es, die Leistungsfähigkeit der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten und ihre Zusammenarbeit zu verbessern, und zwar im Hinblick auf die Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus, des illegalen Drogenhandels und sonstiger schwerwiegender Formen der Kriminalität, sofern sie grenzüberschreitend auftritt (Art. 2 Abs. 1). Der Vertrag sieht die schrittweise Erweiterung der Deliktsbereiche teils unmittelbar, teils durch Entscheidungen des Rats vor. Die Arbeit des gemeinsamen Amts ist auf eine funktionsfähige Kooperation mit den Mitgliedstaaten ausgerichtet. Sie nimmt aber auch unterstützende und koordinierende Aufgaben durch Beratung und kriminologische Forschung wahr (Art. 3 Abs. 3). Das Abkommen der Europäischen Union überzeugt stärker durch seine systematische Gliederung. Die Organisations struktur des Informationssystems folgt aber im wesentlichen dem Schengener Durchführungsabkommen; beide erinnern an Elemente der internationalen Vereinbarung über die Organisation von Interpol IKPO -, die am 13. 6. 1956 in Kraft getreten ist. Die Regelungen insbesondere zum Datenschutz und zur Datensicherheit, die zahlreiche verbindliche Vorschriften enthalten, sind teilweise wörtlich übernommen worden. Charakteristisches Organisationsprinzip der Zusammenarbeit ist auch hier die Parallelität und strenge Zuord25 Siehe zur Entwicklungsgeschichte Klaus Grütjen, Innere Sicherheit in der Europäischen Union - Entwicklungen und Perspektiven unter besonderer Berücksichtigung des Schengener Durchführungsübereinkommens vom 19. 6. 1990, (TeilI), in: Die Kriminalpolizei, Heft 11 97, S. 7 ff.

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nung von Einrichtungen der gemeinsamen Zentrale zu den nationalen Stellen, die jeweils für den Informationsaustausch oder für die Datenkontrolle zuständig sind (Art. 1 Abs. 2; 4; 23; 24). Die Zusammensetzung der Kontrollinstanzen und ihre Aufgaben entsprechen im wesentlichen dem Schengener Informationssystem. Dies gilt auch für die Verantwortung und Haftung für den Datenschutz und die Datensicherheit, die an die Daten eingebende oder übermittelnde Stelle anknüpft (Art. 15; 25; 38). Die zulässigen Datensammlungen gehen erheblich über das Schengener Informationssystem hinaus. Neben den automatisierten Informationssammlungen können auch Arbeitsdateien für Analysezwecke errichtet werden, die der kriminalpolizeilichen Ermittlung dienen. Auch können Daten von Drittstaaten oder von dritten Stellen außerhalb des Informationssystems beschafft werden (Art. 10 Abs. 4). Der Datenaustausch ist allerdings streng an das Subsidiaritätsprinzip gebunden (Art. 2 Abs. 1 Ziff. 3). Der maßgebliche Unterschied zum Schengener Informationssystem liegt aber im operativen Bereich. Europol ist ein reines Informationssystem. Es verfügt über keine Fahndungskompetenz. Die seit Jahren erhobenen politischen und fachlichen Forderungen, eine europäische Polizeizentrale auch mit operativen Befugnissen zu entwickeln, konnten sich nicht durchsetzen 26 . Dagegen weist die Informationszentrale einen unvergleichlich höheren Grad der Institutionalisierung auf. Das Informationssystem ist nicht eine bloße Verbindung von nationalen Datensystemen; das Polizeiamt verwaltet eigene, gemeinsame Datenbestände, die über die nationalen Stellen, aber auch darüber hinaus vom Amt selbst beschafft werden (Art. 7; 10). Der zentralen Behörde, welche das Gesamtinteresse der Mitgliedstaaten wahrnimmt, stehen Verbindungsbeamte gegenüber, welche gleichsam vor Ort jeweils die nationalen Interessen vertreten; sie können allerdings auch unterstützend und koordinierend tätig werden (Art. 5 Abs. 2,4). Das Schengener Informationssystem beschränkt sich dagegen auf die Entsendung von Vertretern der nationalen Kontrollinstanzen. Das Europäische Polizeiamt ist rechtsfähig (Art. 26 Abs. I); das Abkommen enthält im einzelnen ausführliche Regelungen über die Organe des Amts, die Bestellung und den Status der Bediensteten und über besondere, aus der Aufgabe des Amts sich ergebende Pflichten. Das Personalstatut wird vom Rat einstimmig beschlossen, der auch die Direktoren und stellvertretenden Direktoren ernennt und entläßt (Art. 29 Abs. 2, 6). Das Amt verfügt über einen eigenen Haushalt, der wie beim Schengener Abkommen durch besondere Beiträge der Mitgliedstaaten finanziert wird (Art. 35 Abs. 2). Auch beschließt der Rat einstimmig über den Haushalt (Art. 35 Abs. 5). Die Rechnungsprüfung obliegt einem Ausschuß des Rechnungshofs der Europäischen Gemeinschaften. Das Abkommen kompensiert gleichsam 26 Siehe zu diesem entscheidenden Mangel Manfred Schreiber; Europäische Einigung und Innere Sicherheit, in: Peter Badura/Rupert Scholz (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens, FS für Peter Lerche, 1993, S. 529 ff., 541.

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den Mangel an operativen Zuständigkeiten mit einem hohen Aufwand für die Institutionalisierung der Informationszentrale. Dem Polizei amt ist ein Verwaltungsrat beigegeben. Er hat eine ähnliche Stellung wie der Exekutivausschuß nach dem Schengener Abkommen. Jeder Mitgliedstaat entsendet einen Vertreter, der über eine Stimme verfügt. Er setzt sich aber nicht wie dieser aus Ministern zusammen, so daß er insoweit der aus leitenden Beamten gebildeten Zentralen Gruppe des Exekutivausschusses entspricht. Der Entscheidungsmodus ist differenzierter: Je nach Materie gilt das Einstimmigkeitsprinzip oder das Mehrheitsprinzip. Der Verwaltungsrat wirkt an den regelsetzenden Entscheidungen des Rats mit; er verfügt aber auch über selbständige Koordinationsund Kontrollbefugnisse und in mehreren Fällen über regelsetzende Kompetenzen für den Betrieb der Administration (Art. 28 Abs. 1). Dem Rat sind zahlreiche Entscheidungen vorbehalten. Sie ergehen nach den in Artikel 6 des EU-Vertrags geregelten Verfahren. Der Rat beschließt in Übereinstimmung mit dem EU-Vertrag weit überwiegend einstimmig (vgl. Art. K.3 Abs. 2 in Verb. mit Art. K.4 Abs. 3). Die jeweils ausgewiesenen Kompetenzen des Rats zeigen, wie sehr die Mitgliedstaaten bestrebt sind, einen bestimmenden Einfluß auf die Organisation und die Grundregeln für den laufenden Betrieb bis hin zu den obersten Personalentscheidungen auszuüben. Einem möglichen Änderungsbedarf hat das Abkommen vorsorglich Rechnung getragen. Auf Initiative eines Mitgliedstaats und nach Prüfung durch den Verwaltungsrat wird der Rat Änderungen einstimmig entscheiden (Art. 43 Abs. 2). Das Abkommen bestimmt hierdurch Verfahrensmodalitäten gleichsam der Fortschreibung eines Regelwerks. Es kommt damit Erwartungen entgegen, die in der derzeitigen Verfassung von Europol lediglich eine Entwicklungsstufe auf dem Weg zu einer Europäischen Sicherheitsgemeinschaft sehen. Für die Integration der Europäischen Zusammenarbeit ist das Verhältnis von Europol zu den EG-Organen, zu Einrichtungen der Mitgliedstaaten außerhalb der EG oder zu Drittstaaten von besonderer Bedeutung (Art. 10 Abs. 4). Die Verbindungen zu den Europäischen Gemeinschaften richten sich nach dem Unionsvertrag, der die volle Beteiligung der Kommission und eine begrenzte Beteiligung des Europäischen Parlaments an Maßnahmen der Europäischen Union vorsieht (Art. K.4 Abs. 2; K.6). Die Beteiligung der Kommission findet vor allem über die Entscheidungsverfahren des Rats statt. Der Rat ist auch zuständig für die Übermittlung des jährlichen Sonderberichts an das Europäische Parlament (Art. 34 Abs. 1). Eine unmittelbare Verbindung von Europol zu den Europäischen Gemeinschaften ergibt sich aus der Aufgabe der Informationsbeschaffung, die auch die Entgegennahme von Informationen der EG und der in ihrem Rahmen geschaffenen öffentlich-rechtlichen Einrichtungen eröffnet (Art. 10 Abs. 4). Auch ist die Kommission kraft des Abkommens institutionell eingeladen, ohne Stimmrecht an den Beratungen des Verwaltungsrats teilzunehmen (Art. 28 Abs. 4).

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Im Schengener Durchführungsabkommen fehlt ein derartiger Hinweis in den Vorschriften über den Exekutivausschuß. In der Praxis nimmt die Kommission mit Beobachterstatus teil. Eine beratende Teilnahme empfiehlt sich, wenn es um mögliche Normenkollisionen oder um die Anpassung von Regelungen des Durchführungsübereinkommens an das Gemeinschaftsrecht geht. Daten aus den Europäischen Gemeinschaften oder aus Drittstaaten können nach dem Aufbau des Schengener Informationssystems nur über die nationalen Stellen beschafft werden, soweit dies nach nationalem Recht zulässig ist. Daten aus Drittstaaten können überdies im Wege der polizeilichen Zusammenarbeit durch Verbindungsbeamte eines Mitgliedstaats, die in Drittstaaten tätig sind, anderen Vertragspartnern im Wege von Vereinbarungen übermittelt werden (Art. 47 Abs. 4 SDÜ). Schließlich ist noch die Eingabe von Daten geheimer Nachrichtendienste zu erwähnen; sie ist für Europol noch ungeklärt. Durch das im Europäischen Rahmen geplante Informationssystem (EIS) und das Zollinformationssystem wird zusammen mit dem Schengener Informationssystem und Europol ein dichtes europäisches Kommunikationsnetz entstehen. Dazu kommen die Daten von IKPO-Interpol. Es besteht daher ein erheblicher Abstimmungsbedarf. Ein allgemeines Verständigungsproblem sind nach wie vor die vertragsgemäßen Sprachen (s. dazu Art. 217 EG-Vertrag). Europol übernimmt die Amtssprachen (bisher elf) und die Arbeitssprachen (Englisch, Französisch und teilweise Deutsch) der EG. Im Schengener Durchführungsabkommen fehlt eine ausdrückliche Regelung. Die Praxis wendet die EG-Regelungen analog an. Von der Sprachbeherrschung hängt erheblich die polizeiliche Zusammenarbeit ab. Sprachunterricht ist daher von größter Bedeutung. Von der Möglichkeit, dem Europäischen Gerichtshof eine Streitigkeit über Auslegung oder Anwendung des Europol-Abkommens vorzulegen (Art. 177 EG-Vertrag), haben 14 Staaten in Erklärungen zu dem Abkommen Gebrauch gemacht (s. Art. 40 Abs. 2). Eine entsprechende Möglichkeit gibt es für das Schengener Abkommen nicht, weil es nicht den EG-Verfahrensbestimmungen unterliegt.

XII. Die Schengener Abkommen als "dritte Säule im Vorhof der Europäischen Union" Die praktische Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Innen- und Justizpolitik stützt sich bis heute vornehmlich auf die Schengener Abkommen. Zunächst war die Regelungsaufgabe des Exekutivausschusses gefordert. Er hat inzwischen zahlreiche Durchführungsbestimmungen erlassen und gemeinsame Arbeitsanleitungen für die einheitliche Durchführung polizeilicher Kontrollen an den Außengrenzen erstellt. Die Zentrale Gruppe hoher Beamter, welche die Entscheidungen vorbereitet, hat sich als eine wirksame Institution für Initiativen der Zu-

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sammenarbeit und für die laufende Koordination der einzelstaatlichen Maßnahmen erwiesen. Thr steht eine Reihe von Arbeitsgruppen zur Seite, die für die einzelnen Sachbereiche eingesetzt worden sind. So wird das automatisierte Informationssystem von einer eigenen Steuerungsgruppe betreut. Neben dem online-Datennetz wurden Informationsnetze in herkömmlicher Nachrichtentechnik aufgebaut, um die Ennittlungen und die Zusammenarbeit der Polizeibehörden zu erleichtern. Ein besonderes Konsultationsnetz wurde für die Kontrolle des grenzüberschreitenden Personenverkehrs an den Außengrenzen geschaffen. Um den Zugang zum Schengener Informationssystem zu verbessern, wurden bei den Zentralen Stellen der Mitgliedstaaten besondere Unterstützungseinheiten eingerichtet. Besondere Anstrengungen erfordert auch der Schutz der Binnengrenzen des Schengener Raumes, die auch nach dem Abbau der Grenzkontrollen ein wichtiges Sicherheitselement sind. Ein wirksamer Schutz hängt wesentlich von einer raschen Abstimmung aber auch von der gegenseitigen Unterstützung der Polizei- und Zollbehörden ab. Die Mitgliedstaaten haben daher eine Reihe von bilateralen Vereinbarungen getroffen, welche die gegenseitige Unterstützung bis hin zu gemeinsamen grenzüberschreitenden Polizeieinsätzen vorsehen. Im Interesse einer besseren Zusammenarbeit wurden an den Grenzen zahlreiche Verbindungsstellen, an der deutsch-französischen Grenze auch gemeinsame Kommissariate eingerichtet. Eine Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs findet aufgrund des Vorbehalts nach § 2 Abs. 2 Durchführungsabkommen nur noch an den Grenzen von Frankreich zu Belgien und zu Spanien statt. 27 Die Schengener Abkommen haben auch die Zusammenarbeit mit Drittstaaten an der Ostgrenze der Bundesrepublik Deutschlands gefördert. So dienen dem Schutz und der Kontrolle der Außengrenze auch Abkommen über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität zwischen Deutschland und der Tschechischen und Slowakischen Föderativen Republik vom 13. 9. 1991 (BGBL 11 1993, S. 38) und mit der Republik Polen vom 6. 11. 1991 (BGBL 11 1992, S. 950). Durch weitere bilaterale Abkommen soll vor allem die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit verstärkt werden. Mit dem Schengener Durchführungsabkommen ist ein Sicherheitssystem eingeführt worden, das sich ganz auf eine funktionsfähige Zusammenarbeit gemeinsamer transnationaler und nationaler Einrichtungen im Rahmen der zuständigen Ressorts, insbesondere für Inneres und Justiz, stützten. Sie vollzieht sich in zahlreichen Formen, die unterschiedliche räumliche und fachliche Zuständigkeiten aufweisen. Insgesamt bilden sie im Rahmen des europäischen Triadischen Ordnungsmodells einen Kommunikations- und Handlungsverbund, der seine wesentlichen Impulse aus den Erfahrungen der örtlichen Arbeit und den zentralen Steuerungsinstanzen erhält. 27 Siehe dazu den Erfahrungsbericht einer Arbeitsgruppe der Ständigen Konferenz der Innenminister I-senatoren der Länder, in: Bundesminister des lnnem (Hrsg.), Das Schengener Abkommen, 1996, S. 70 ff.

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Das Schengener Sicherheitssystem kommt mit einem erstaunlich geringen Grad an zusätzlicher Organisation aus. Die Zusammenarbeit wird weitgehend von bestehenden Einrichtungen oder von Stäben geleistet, die sich aus Vertretern bestehender Einrichtungen zusammensetzen. Die Arbeitsgruppen sind überschaubar; der Arbeitsstil ist sachlich und schlicht. Jeder zwischenstaatlich-diplomatische Aufwand wird gemieden. Zur Vereinfachung trägt aber auch die auf möglichst praxisnahe Regelungen ausgerichtete Vertragsbasis bei. Komplizierte Regelungen, wie die grenzüberschreitende polizeiliche Nacheile oder Observation stoßen dann auch in der Praxis auf erhebliche Probleme; hier sind Vereinfachungen geboten. Im Mittelpunkt der Zusammenarbeit im Bereich der Justiz stehen heute Fragen einer Vereinfachung der Rechtshilfe in Strafsachen, der Auslieferung und Vollstreckungshilfe. Die Arbeiten gehen langsam voran. Größere Fortschritte hat der Europarat erzielt. Das langfristige Ziel müßte sein, freiheitssichernde nationale Gesetze, insbesondere Strafgesetze, zu harmonisieren. Dies würde allerdings tief in das nationale Leben eingreifen. Ein Erfolg ist noch nicht abzusehen. Das Schengener Informationssystem ist trotz seiner Sonderstellung eingebunden in die Perspektiven der Europäischen Union. Die Politik der Bundesregierung ist nach wie vor darauf gerichtet, das Schengener Informationssystem in die Europäische Union und schießlich in den Entscheidungsprozeß der Europäischen Gemeinschaft einzubringen. Die Überführung in die Europäische Union erscheint dann realistisch, wenn sich das Konzept der Flexibilität der Union, das heißt eine engere Zusammenarbeit auch mit einem Teil der Mitgliedstaaten ohne Vetorecht anderer Mitgliedstaaten, durchsetzen sollte. Nach den bisherigen Erörterungen im Umkreis der Regierungskonferenz für die Revision des Maastrichter Vertrages bestehen hierfür gewisse Aussichten, allerdings mit der Einschränkung, daß kein Unions mitglied einer derartigen Zusammenarbeit widerspricht. Damit würde allerdings die Sorge größer, die Europäische Union könnte sich noch mehr aus dem allgemeinen Entscheidungsprozeß der EG herauslösen. Mit der Einbindung des Schengener Informationssystems in die Europäische Union würde sich auch die Frage nach dem institutionellen Verhältnis zu Europol stellen. Nach den bisherigen Entscheidungen sind die Datensysteme nicht deckungsgleich; sie könnten jedoch miteinander verbunden werden, zumal die Organisationsstrukturen analog aufgebaut sind. Der weitergehende Bereich der polizeilichen Zusammenarbeit bedürfte allerdings einer besonderen, auch bilaterale Absprachen einschließenden Organisation, welche die "Schengener Erfahrungen" berücksichtigt. Es wäre sonst sehr zu befürchten, daß in einer Großorganisation der Inneren Sicherheit die operative Dynamik kleinerer, fachlich homogener Einheiten, welche die bisherige raumgreifende Aufbauarbeit auszeichnet, im hochbürokratisierten Routinebetrieb an Kraft verliert. Im Triadischen Integrationsmodell würden die leichter motivierbaren kooperativen Elemente zugunsten der Abhängigkeit von allgemeinen regelsetzenden Hierarchien geschwächt. Im Sicherheitsbereich markieren Rechtsregeln nicht nur

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allgemeine Handlungsgrenzen; sie müssen beweglich genug sein, um Handlungsbedingungen für eine erfolgreiche Praxis zu schaffen. Die "Flexibilisierung" der Europäischen Union wirft allerdings auch grundsätzliche Fragen auf. Die Abkommen, die nur zwischen einem Teil der Mitgliedstaaten abgeschlossen werden, erhielten zwar eine höhere Gemeinschaftsqualität, sie würden aber doch die integrative Funktion der Gemeinschaft mindern. Die Einbindung der Schengener Abkommen in den EU-Rahmen würde diesen die charakteristischen Eigenschaften von Rechtsinstitutionen der Europäischen Union mitteilen, von einer Minderheit der Mitgliedstaaten abhängig und praktisch auf Dauer angelegt sein. Dies würde aber in einem frühen Stadium der praktischen Erprobung die erhoffte Anstoß- und Pilotfunktion in Frage stellen. Diese Nachteile vermeidet die Entscheidungsdimension des Schengener Prozesses, die eine größere Dynamik entfalten kann und doch auf die Europäische Union hingeordnet ist. Er ist gleichsam die "dritte Säule im Vorhof der Europäischen Union".

XIII. Nachtrag: Die Eingliederung der Schengener Regelungen und Verfahren in die Europäische Gemeinschaft/Europäische Union Mit dem Amsterdamer Vertrag vom 2. Oktober 1997 wurden die Regelungsmaterien der Schengener Abkommen in das EG-Recht überführt. Dies ist gewiß ein Erfolg der bisherigen Zusammenarbeit. Die Regelungsbereiche folgen der neuen Zuständigkeitsverteilung, die wichtige Materien wie die Außengrenzen-Kontrolle, Teile der Visapolitik sowie die Flüchtlings- und Einwanderungspolitik von der Europäischen Union auf die Europäische Gemeinschaft überträgt (Neuer Titel III a - Art. 73 i ff. - EG-Vertrag). In der EU verbleiben die polizeiliche Zusammenarbeit, die auch Europol umfaßt, und die justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Es ist gewiß mißlich, daß die polizeiliche Zusammenarbeit und die Außengrenzen-Kontrollen unterschiedlichen Entscheidungsverfahren unterliegen sollen. Es ist aber insgesamt gelungen, die Schengener Errungenschaften zu erhalten und die Chance für eine engere Zusammenarbeit eines Teils der Mitgliedstaaten zu gewährleisten (Flexibilitätsklausel). Der sog. Schengener Besitzstand wird ausdrücklich bekräftigt. Ausnahmen sind für Großbritannien und für Dänemark vorgesehen. Auch besteht für eine 5-jährige Übergangszeit nach Inkrafttreten des Vertrags die Möglichkeit, daß die Mitgliedstaaten selbständig Initiativen - ohne Vorprüfung durch die Kommission - ergreifen können. Auch wird der Rat einstimmig zu entscheiden haben, ob und inwieweit nach Art. 189 bEG-Vertrag Mehrheitsentscheidungen des Rats eingeführt werden. Der Europäische Gerichtshof erhält für alle Bereiche der innenpolitischen Zusammenarbeit eine Vorabentscheidungskompetenz. Nach den bisherigen Erfahrungen wird der Vertrag in etwa eineinhalb Jahren in Kraft treten.

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Für die Schengener Mitgliedstaaten wird es entscheidend darauf ankommen, die Übergangsfrist für eine Intensivierung der polizeilichen Kooperation auf allen Ebenen zu nutzen und effektive, einfache und klare Verfahrensregeln zu institutionalisieren, die in den EU- und EG-Prozeß überführt werden können, ohne die erfolgversprechende informelle Zusammenarbeit einzuschränken oder gar zu unterbinden. Dem Triadischen Integrationsmodell steht nach den kräftigen Impulsen durch die Schengener Abkommen und Schengener Erfahrungen eine weitere Bewährungsprobe bevor.

Beschäftigungspolitik durch die Europäische Union? Von Dieter Duwendag I. Ausgangspunkte

Auf der Tagung des Europäischen Rates am 16. und 17. Juni 1997 in Amsterdam sind beschäftigungspolitische Aspekte stärker denn je in den Vordergrund getreten. Auf der Tagesordnung der Regierungskonferenz standen zahlreiche Vorhaben zur Reform des EU-Vertrages! (sog. Maastricht ll- bzw. Amsterdamer Vertrag), so u. a. in den Bereichen Europäische Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU), Innenund Rechtspolitik, Außen- und Sicherheitspolitik sowie zur Reform der EUOrgane und -Institutionen. Den meisten dieser Vorhaben waren nur geringe Fortschritte beschieden. Echte Durchbrüche gelangen jedoch insoweit, als die Staatsund Regierungschefs der EU den "Stabilitäts- und Wachstumspakt" zur dauerhaften Absicherung solider Staatsfinanzen in der EWWU billigten und sich auf gemeinsame Beschäftigungsinitiativen verständigten. Mit der Ratifizierung des Vertrages von Amsterdam ist Mitte 1999 zu rechnen. Die Begriffe "Beschäftigung" bzw. "Beschäftigungspolitik" fristen in den europäischen Verträgen bislang ein Schattendasein. So tauchen sie im EU-Vertrag bisher überhaupt nicht auf. Lediglich im EG-Vertrag 2 wird bisher an zwei Stellen darauf Bezug genommen: erstens unter den Aufgaben der Gemeinschaft (Art. 2) mit der Förderung eines ,,hohen Beschäftigungsniveaus" und zweitens im Kontext der Zusammenarbeit in der Sozialpolitik (Art. 118). Angesichts der hohen und immer noch weiter steigenden Arbeitslosigkeit in den meisten EU-Staaten muß eine solche Zurückhaltung auf den ersten Blick verwundern. Sind - vor diesem Hintergrund - massive beschäftigungsfördernde Maßnahmen der EU nicht schon längst überfallig gewesen? Tatsächlich haben denn auch seit einigen Jahren und besonders im Vorfeld des Amsterdamer Gipfels starke Kräfte auf einen solchen Schritt gedrängt. Herausgekommen sind nun EU-Beschäftigungsinitiativen auf den folgenden zwei Ebenen: Der Europäische Rat hat in Amsterdam

1 Vertrag über die Europäische Union (EUV) vom 7. Februar 1992 idF vom 1. Januar 1995. 2 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) idF vom 1. Januar 1995.

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- eine Entschließung über "Wachstum und Beschäftigung" mit diversen "Leitlinien" angenommen, - die Einfügung eines neuen "Beschäftigungskapitels" in den EU- bzw. EG-Vertrag gebilligt. Die folgenden Abschnitte behandeln zunächst die Gründe für das Zustandekommen dieser Initiativen, skizzieren danach deren wichtigste Elemente und prüfen in diesem Zusammenhang die Frage, welchen Beitrag die EU-Beschäftigungsinitiativen zur Lösung der strukturellen Arbeitsplatzdefizite leisten können. 11. Politische Formelkompromisse

Betrachtet man die Ausgangslage in der Zeit vor dem Amsterdamer Gipfel, so hatte sich Deutschland seit Jahren hartnäckig geweigert, beschäftigungspolitische Initiativen der EU und insbesondere den von den Niederlanden eingebrachten Entwurf zur Einfügung eines "Beschäftigungskapitels" zu unterstützen. Die deutsche Ablehnungsposition stand gegen nahezu alle anderen EU-Staaten. Maßgebliche Gründe für die deutsche Verweigerungshaltung waren tiefsitzende Vorbehalte gegen die Schaffung neuer EU-Kompetenzen im Bereich der Beschäftigungspolitik, die eigenen schlechten Erfahrungen mit nachfragestimulierenden Ausgabenprogrammen und - nicht zuletzt - die Befürchtung zusätzlich zu übernehmender Finanzierungslasten für derartige Programme. Ähnliche Vorbehalte hatte die Bundesregierung schon bei anderen Gelegenheiten geltend gemacht, so z. B. auf dem Essener Gipfeltreffen im Dezember 1994. Der damalige Vorstoß basierte auf dem von der EG-Kommission vorgelegten "Weißbuch über Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung,,3 und zielte auf flexiblere Arbeitsmärkte, eine bessere Qualifikation der Arbeitnehmer und geringere Lohnnebenkosten. Hinzu kamen EU-Initiativen zur Modernisierung der Infrastruktur und zur Schaffung "transeuropäischer Netze". An zählbaren Ergebnissen ist auf beiden Feldern bislang jedoch wenig herausgekommen. Trotz der genannten Vorbehalte sind nun auf der Amsterdamer Regierungskonferenz - mit Zustimmung Deutschlands - die Beschäftigungsinitiativen zustande gekommen, und zwar sogar gleich auf zwei Ebenen ("Entschließung" und "Beschäftigungskapitel"; s.o.). Wie ist dieser deutsche Positions wechsel zu erklären? Die Vertreter der Bundesregierung konnten zunächst darauf verweisen, daß in den EU-Beschäftigungs initiativen keine neuen Ausgabenprogramme vorgesehen sind, die die Gefahr der Übertragung zusätzlicher Finanzierungsmittel auf den EU-Haushalt heraufbeschworen hätten. Ferner konnten sie darauf verweisen, daß sich die neu geschaffenen EU-Kompetenzen im wesentlichen auf "nicht-operative" Bereiche beschränken, d. h. vor allem auf die "Koordinierung" der Wirtschafts politiken 3

Vgl. EG-Kommission (1993).

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unter beschäftigungsfördernden Aspekten und auf die "Überwachung" der nationalen Beschäftigungspolitiken. Ganz zu überzeugen vermögen diese Grunde für den deutschen Positionswechsel jedoch nicht. Denn einmal in den europäischen Verträgen etabliert, ist nicht auszuschließen, daß die neuen EU-Initiativen eine Eigendynamik entfalten, an deren Ende durchaus die bislang torpedierten befürchteten Ausgabenprogramme stehen könnten. So hat z. B. bereits ein EU-Sondergipfel im Oktober 1997 stattgefunden, der sich primär mit der Beschäftigungsproblematik auseinandersetzte. Tatsächlich kam der Druck zur Zustimmung auch aus anderen Richtungen: a) Der Regierungswechsel in Frankreich Anfang Juni 1997 hatte die politischen Prioritäten des Landes stärker in die Richtung einer aktiven Beschäftigungspolitik verlagert. Die französische Regierung machte diesen Vorrang auch für die europäische Ebene geltend, so daß sich zu Beginn des EU-Gipfels ein grundlegender Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland abzeichnete. b) Gleichzeitig war es höchste Zeit für die Verabschiedung des Euro-Stabilitätspaktes, da andernfalls der Terrninplan für die Einführung der dritten Stufe der EWWU in Verzug zu geraten drohte und überdies der Pakt - bei weiteren Verhandlungsrunden - noch weiter hätte verwässert werden können. So kam es zu einem politischen Kompromiß insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland: Der Europäische Rat billigte den Euro-Stabilitätspakt unverändert in der relativ strikten Version von Dublin (vom Dezember 1996), und der französischen Seite wurden im Gegenzug die EU-Beschäftigungsinitiativen konzediert. Dabei fallen zwei Besonderheiten auf: - Der Stabilitätspakt wurde (bereits in Dublin) in "Stabilitäts- und Wachstumspakt" umbenannt, vermutlich, um die wachstums- und beschäftigungsfördernden Wirkungen solider Staatsfinanzen hervorzuheben. - Dem Stabilitätspakt wurde - auf Druck der neuen französischen Regierung eine "Entschließung des Europäischen Rates über Wachstum und Beschäftigung" angegliedert. Darin spricht sich der Rat dafür aus, daß " ... wir die Verbindungen zwischen einer erfolgreichen und dauerhaften Wirtschafts- und Währungsunion, einem gut funktionierenden Binnenmarkt und der Beschäftigung festigen (müssen),,4 - was auch immer mit derartigen "Verbindungen" gemeint sein mag. c) Angesichts der Massenarbeitslosigkeit in der EU von derzeit 18 Mio. Personen schien der bislang geringe Stellenwert des Beschäftigungsziels in den europäischen Verträgen nicht mehr zeitgemäß. Die meisten der zum Amsterdamer Gipfel angereisten Regierungen hatten den Auftrag von der politischen Basis quasi im Gepäck, daß die EU mehr für die Förderung der Beschäftigung tun möge. In der Tat mußte es die Bürger Europas schon irritieren, daß die EWWU

4

Europäischer Rat (1997a), S. 16.

17 Speyer 124

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mit den Zielen der Preisstabilität, solider öffentlicher Finanzen, einer unabhängigen Europäischen Zentralbank etc. den EU-Vertrag beherrscht, während das Beschäftigungsziel dort gar nicht bzw. nur im EG-Vertrag eher beiläufig erwähnt wird. Diese Lücke wurde jetzt in Amsterdam geschlossen mit einer Vielzahl von Bekenntnissen, Deklarationen und Vertragsänderungen, die sich auf die Förderung der Beschäftigung beziehen. Ob es sich dabei nur um "Papiertiger" handelt, wird noch zu prüfen sein. d) Ein wichtiger Grund für die Amsterdamer Beschäftigungsinitiativen dürften schließlich auch die hartnäckigen Akzeptanzprobleme der EWWU bei der Bevölkerung gewesen sein5 . Aus der Sicht der Bürger ist die hohe Arbeitslosigkeit zweifellos ein drängenderes Problem als die Einführung einer gemeinsamen Währung. Hier drängt sich der Eindruck auf, daß die Regierungskonferenz ihre Beschäftigungsinitiativen vor den "Euro-Karren" gespannt hat: Indem sie der Bevölkerung demonstriert, daß ihr die Massenarbeitslosigkeit nicht gleichgültig ist bzw. daß sogar Chancen bestehen, mit der Einführung der EWWU die Arbeitslosigkeit zu senken, könnte eine solche Botschaft ein Vehikel sein, um die Skepsis und die Akzeptanzprobleme der Bevölkerung abzubauen 6 . Zusammenfassend ergibt sich, daß die EU-Beschäftigungsinitiativen aus einer Mixtur von politischem Druck, guten Absichten und Sach- und Zeitzwängen zustande gekommen sind. Allein diese Entstehungsgeschichte als politische Formelkompromisse läßt schon Zweifel aufkommen, ob sie dem Beschäftigungsziel förderlich sein können.

IH. Die Beschäftigungsinitiativen von Amsterdam 1. Grundlagen und Systematik Rechtliche Basis der auf der Regierungskonferenz verabschiedeten Beschäftigungsinitiativen ist der Entwurf des Vertrages von Amsterdam7 • Die beschäftigungspolitisch relevanten Teile dieses Entwurfs beziehen sich auf Änderungen des Art. B EUV und der Art. 2 und 3 EGV sowie auf die Einfügung eines neuen Beschäftigungskapitels in den EG-Vertrag (einzufügen nach dem bisherigen Titel VI). Diese Änderungen sind in der folgenden Übersicht "Systematik des Beschäftigungskapitels" kurz zusammengefaßt. Ergänzende Aussagen zum Beschäftigungsziel enthalten ferner die Amsterdamer ,,Entschließung über Wachstum und Beschäftigung" (im folgenden: "Entschließung,,)8 und die "Schlußfolgerungen des Vorsitzes,,9. 5 6 7

8 9

Vgl. Duwendag (1996). Vgl. Wisdorfj (1997). Zitiert nach: Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (1997). Vgl. Europäischer Rat (1997a). Vgl. Europäischer Rat (1997b).

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Beide Dokumente haben im wesentlichen die gleiche inhaltliche Ausrichtung wie das Beschäftigungskapitel. In systematischer Hinsicht lassen die Amsterdamer Dokumente zur Beschäftigungspolitik zu wünschen übrig. Die Übersicht versucht, diesem Mangel abzuhelfen. So wird dort unterschieden zwischen dem ("letzten") Ziel der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, diversen Zwischenzielen, Prinzipien und Instrumenten sowie dem Verfahren. fließend sind die Grenzen zwischen den ,,zwischenzielen" und den Instrumenten. ,,zwischen-" bzw. "Unterziele" haben insofern instrumentellen Charakter, als ihre Realisierung Voraussetzung bzw. Zwischenetappe ist, um das letztendlich angestrebte Ziel eines hohen Beschäftigungsniveaus zu erreichen. Dies gilt zwar auch für die eigentlichen "Instrumente"; sie beziehen sich jedoch eher auf konkrete Maßnahmen.

2. Das Ziel eines hohen Beschäftigungsniveaus

Mit der Einfügung "Förderung eines ... ,hohen Beschäftigungsniveaus '" wird der EU-Vertrag (Art. B) als Mantelvertrag explizit um das Beschäftigungsziel erweitert. Dies hat künftig möglicherweise weitreichende Konsequenzen, die auf zunehmende Kompetenzen der EU für die Beschäftigungspolitik hinauslaufen könnten. Erste Ansätze in dieser Richtung enthalten bereits die in Amsterdam gebilligten Änderungen des EG-Vertrages. So läßt der Europäische Rat in seiner "Entschließung" keine Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen: "Es müssen unbedingt neue Impulse gegeben werden, damit die Beschäftigung unverrückbar zuoberst auf der politischen Tagesordnung bleibt"lO. Als klar auszumachende Zwischenziele auf dem Weg zu einem hohen Beschäftigungsniveau nennt der Amsterdamer Vertrag (1) die Förderung eines ,,hohen Grades an Weubewerbsfähigkeit" (Ergänzung des Art. 2 EGV) und (2) die "Entwicklung einer koordinierten Beschäftigungsstrategie" (Einfügung in Art. 3 EGV). Wenden wir uns zunächst dem erstgenannten Zwischenziel zu.

3. Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit a) Beschäftigungspolitische "Leitlinien" In seiner "Entschließung" betont der Europäische Rat ll die "Verbesserung der Weubewerbsfähigkeit Europas als Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung". Wie könnte dieses Anliegen erreicht werden? Art. 1 des neuen Beschäftigungskapitels (im folgenden: BK) nennt als "Unterziele" in diesem Zusarnmen10 11

17*

Europäischer Rat (1997a), S. 16. Ders., S. 17.

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hang lediglich die "Förderung der Qualifizierung, Ausbildung und Flexibilität der Arbeitnehmer sowie der Anpassung der Arbeitsmärkte an die Erfordernisse des wirtschaftlichen Wandels" (vgl. Übersicht). Wesentlich umfassender äußern sich hierzu die "Entschließung" und die "Schlußfolgerungen des Vorsitzes" der Regierungskonferenz. Neben der schon erwähnten Qualifizierung der Arbeitnehmer und der erforderlichen Anpassung der Arbeitsmärkte werden ergänzend die nachstehenden Aktionsfelder genannt. Der Europäische Rat bezeichnet sie ausdrücklich als "Strukturreforrnen" und hat dafür folgende "Leitlinien" verabschiedet (in Art. 4 des neuen BK als "beschäftigungspolitische Leitlinien" bezeichnet) 12: - Modernisierung und Verbesserung der Funktionsfähigkeit der Arbeitsmärkte und der sozialen Sicherungssysteme. - Entlastung des Faktors Arbeit durch eine beschäftigungsfreundlichere Gestaltung der Steuer- und Sozialsysteme (Schaffung von Arbeits- und Beschäftigungsanreizen durch attraktivere steuerliche Bedingungen und durch die Senkung der Lohnnebenkosten). - Steigerung der Effizenz der Arbeits- und Produktmärkte, z. B. durch technologische Innovationen und Deregulierung. - Stärkere Berücksichtigung des Beschäftigungspotentials der kleinen und mittleren Unternehmen. Diese beschäftigungspolitischen "Leitlinien" des Europäischen Rates zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und damit des Wachstums und der Beschäftigung gehen zweifellos in die richtige Richtung: Sie sind ein Appell an die Mitgliedstaaten, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu schaffen. Damit sind kostspielige Beschäftigungsprogramme durch die Gemeinschaft, wie sie im Vorfeld der Regierungskonferenz befürchtet worden waren, fürs erste vom Tisch. Solche Programme hätten zwar günstigstenfalls zu kurzfristigen Beschäftigungseffekten geführt, aber eben keine dauerhaften, rentablen Arbeitsplätze geschaffen. Nachfragestimulierende Ausgabenprogramme lösen auch keine tiefsitzenden Strukturprobleme, sondern verschärfen sie eher noch. Es ist daher zu begrüßen, daß sich die Staats- und Regierungschefs dieser Einsicht nicht verschlossen haben. Mit bloßen Appellen an die Mitgliedstaaten zur Stärkung ihrer Wettbewerbsfähigkeit hat es die Regierungskonferenz allerdings nicht bewenden lassen. Vielmehr sollen die beschäftigungspolitischen Leitlinien im Rahmen einer durch die EU "koordinierten Beschäftigungsstrategie" auch überwacht und eingehalten werden (vgl. dazu 4.).

12

Vgl. Europäische Rat (l997a), S. 16).

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Übersicht: Systematik des "Beschäftigungskapitels" Förderung eines hohen Bechäftigungsniveaus (An. BEIN) • • • •

IPrinzipien: (An. 2, 3 Reues BKEGV)

IInstrumente: I (An. 5 Reues BKEGV)

Förderung eines hohen Grades an Wettbewerbsfahigkeit Entwicklung einer koordinierten Beschäftigungsstrategie Förderung der Qualifizierung, Ausbildung und Flexibilität der Arbeitnehmer Anpassung der Arbeitsmärkte an die Erfordernisse des wirtschaftlichen Wandels

• Beschäftigungspolitik des MS in Übereinstimmung mit den "Grundzügen der Wirtschaftspolitik" der MS und der G • Förderung der Beschäftigung der MS als "Angelegenheit von gemeinsamem Interesse" und Abstimmung ihrer Tätigkeiten im Rat; Berücksichtigung der Verantwortung der Sozialpartner in den MS • Fördernde, unterstützende und ggf. ergänzende Maßnahmen der G bei der Zusammenarbeit zwischen den MS; dabei "Achtung" der Zuständigkeit der MS für die Beschäftigungspolitik • Berücksichtigung des Beschäftigungsziels im Rahmen der Gemeinschaftspolitik und gemeinschaftlicher Maßnahmen Anreize und Initiativen des Rates zur Förderung der Zusammenarbeit und der Beschäftigungsmaßnahmen der MS durch • Austausch von Informationen und bewährten Praktiken, • Bereitstellung von vergleichenden Analysen und Gutachten, • Förderung von innovativen Ansätzen und Evaluierung von Erfahrungen, insbesondere durch Rückgriff auf "Pilotprojekte"

IVerfahren: (An. 4, 6 Reues BKEGV)

.. ..

• Rat und K: Erstellung eines gemeinsamen Jahresberichts über die Beschäftigungslage in der G • ER: Prüfung des Jahresberichts und Schlußfolgerungen

• Rat: Festlegung von "beschäftigungspolitischen Leitlinien" (mit qualifizierter Mehrheit) für die MS • MS: Jahresberichte an den Rat und die K über wichtigste Maßnahmen im Rahmen der beschäftigungspolitischen Leitlinien

• Rat: ggf. "Empfehlungen" (mit qualifizierter Mehrheit) an dieMS

• Rat und K: Jahresbericht zur Beschäftigungslage in der G und zur Umsetzung der beschäftigungspolitischen Leitlinien

Legende: BK: BeschäftiguRgskapitel; MS: Mitgliedstaaten; G: Gemeinschaft; K: Kommission; ER: Europäischer Rat.

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b) Arbeitsplatzdefizite als strukturelles Problem Beschäftigungspolitische Leitlinien, wie sie in Amsterdam formuliert wurden, finden sich seit einigen Jahren in nahezu allen Wirtschaftsprogrammen der Regierungen der EU-Länder. Sie sind Ausdruck des Bewußtseins, daß die Massenarbeitslosigkeit ganz überwiegend ein strukturelles Problem ist und deshalb auch primär mit Strukturreformen bekämpft werden muß. Besonders prägnante Beispiele für derartige, umfassend angelegte Reformvorhaben hat die Bundesregierung mit einem 50-Punkte-"Aktionsprogramm für Investitionen und Arbeitsplätze" in ihrem Jahreswirtschaftsbericht für 1996 13 und mit einem lO-Punkte-Programm im Jahreswirtschaftsbericht 1997 14 vorgelegt. "Dieses Maßnahmenbündel zielt auf eine Verbesserung der Angebotsbedingungen" 15. In der Tat beherzigen diese Programme alle Lehrsätze der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik. Was die praktische Umsetzung betrifft, sind sie vor allem in Deutschland jedoch kaum vorangekommen und treten auf der Stelle. Einige Schlaglichter sollen im folgenden die Entwicklung und Dimensionen des Beschäftigungsproblems verdeutlichen. In den 15 EU-Staaten ist die durchschnittliche Arbeitslosenquote seit den 70er Jahren (ca. 4 %) auf gut 9 % im Durchschnitt der 80er Jahre bis auf mehr als 11 % in 1996 gestiegen. In Deutschland hat sich die Arbeitslosenquote, vor allem auch als Folge der Wiedervereinigung, in diesem Zeitraum sogar vervierfacht. Von diesem Trend steigender Arbeitslosenraten gibt es in der EU nur vier Ausnahmen: Aufgrund frühzeitig eingeleiteter Reformen durch die Wirtschafts- und Sozialpolitik und auf den Arbeitsmärkten verzeichneten Dänemark, England, Irland und die Niederlande in der jüngeren Vergangenheit deutliche Rückgänge ihrer Arbeitslosenquoten. Die bloße Betrachtung der offiziell registrierten Arbeitslosen als Indikator für das Beschäftigungsproblem greift allerdings zu kurz und verengt die tatsächlichen Dimensionen. So fehlen in Deutschland im Jahre 1997 nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (lAB) ,je nachdem, wie man rechnet, 5 - 7 Mio. wettbewerbsfähige Arbeitsplätze,,16. Sie setzen sich aus folgenden Gruppen von Arbeitssuchenden zusammen: - 4,3 Mio. registrierte Arbeitslose ("mittlere Variante"); - 1,3 Mio. durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen (AMP) aufgefangene Personen (Entlastung der Arbeitslosenzahl durch den "zweiten Arbeitsmarkt"); - 2,5 Mio. Personen in der "Stillen Reserve im engeren Sinne": dabei handelt es sich insbesondere um solche Personen, die "nach Auslaufen ihrer Leistungsansprüche ihre Arbeitslosmeldung nicht verlängern oder sich von vornherein nicht arbeitslos melden,,17. 13

Vgl. BMWi (1996).

14 Vgl. BMWi (1997). 15

16

Rexrodt (1996), S. 2. Bach et al. (1997), S. 6.

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Diese den lAB-Statistiken entnommenen Angaben summieren sich auf 8,1 Mio. Personen und liegen damit weit über jenen vom lAB geschätzten 5 bis 7 Mio. fehlenden "wettbewerbsfähigen" Arbeitsplätzen. Doch ist eine solche Zurechnung mit erheblichen Unsicherheiten behaftet: So ist die ,,stille Reserve" immer noch ein wenig erforschtes Phänomen, und bei einigen Personengruppen in AMP sind Abstriche zu machen, weil sie dem Arbeitsmarkt von vornherein nicht zur Verfügung stehen. Wie auch immer aber der Rückschluß von den Arbeitssuchenden der genannten drei Kategorien auf fehlende Arbeitsplätze vorgenommen wird, es bleibt der Befund eines gravierenden Arbeitsplatzdefizits auf dem regulären, "ersten" Arbeitsmarkt in der Größenordnung von 5 bis 7 Mio. Es wurde schon erwähnt, daß diese Arbeitsplatzlücke ganz überwiegend als strukturbedingt anzusehen ist. Nun ist der Begriff "Struktur" ein Catch-all für zahlreiche Erscheinungsformen. Hilfreich ist er nur in seiner Bedeutung als Pendant zur ,,konjunkturellen" Arbeitslosigkeit, die auf einen gesamtwirtschaftlichen Nachfragernangel als Ursache abstellt. Tatsächlich hat der sprunghafte Anstieg der deutschen Arbeitslosigkeit in den letzten 25 Jahren stets im Gefolge von Rezessionsphasen (1975, 1981182, 1993), d. h. aufgrund von Rückgängen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, stattgefunden. In den nachfolgenden konjunkturellen Aufschwungphasen hat sich die Arbeitslosigkeit jedoch jeweils nur um 20 - 30 % des rezessionsbedingten Anstiegs wieder zurückgebildet. In diesem Phänomen, auch als "Hysterese" bezeichnet 18, liegt das eigentlich Beunruhigende: Ursprünglich durch konjunkturelle Gründe ausgelöst, hat sich die Sockelarbeitslosigkeit von Zyklus zu Zyklus auf immer neue Höhen aufgeschaukelt und verfestigt und ist dadurch zu einem strukturellen Problem geworden. Die Gründe für diese Verfestigung sind vielfältig. Von zentraler Bedeutung sind unter ihnen jene Faktoren, die weiter oben schon unter den eingeforderten "Strukturreformen" summarisch genannt wurden. Ein klares Indiz dafür, daß die Arbeitslosigkeit ganz überwiegend auf einem Mangel an wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen beruht - und nicht auf einem Mangel an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage -, läßt sich auch aus dem Produktionspotential ableiten: Danach gab es bei einer nahezu 100 %igen Auslastung der gesamtwirtschaftlichen Sachkapazitäten in den Jahren 1978-81 und 1989-92 gleichzeitig etwa 1,0 bzw. 1,8 Mio. Arbeitslose in Westdeutschland 19.

4. Entwicklung einer "koordinierten BeschäJtigungsstrategie"

Der Befund zum Beschäftigungsproblem ist eindeutig: Es geht in den EU-Staaten um die Schaffung von Millionen an neuen, rentablen Arbeitsplätzen. Kann eine 17

18 19

Bundesanstaltfür Arbeit (1996), S. 24. V gl. Franz (1993), S. 111ff. Vgl. Sachverständigenrat (1996), S. 301.

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,,koordinierte Beschäftigungsstrategie" der EU dazu etwas beitragen, wie die anspruchsvolle Bezeichnung vermuten lassen könnte? a) Die enge Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten "im Rat" ist bereits in den Art. 3a und 103 EGV geregelt. Neu an den Amsterdamer Beschlüssen ist, daß eine solche Koordinierung nun explizit auch für die Beschäftigungspolitik vorgesehen ist. Dadurch wird dieser spezielle Bereich der Wirtschaftspolitik deutlich hervorgehoben. b) Die Prinzipien, nach denen die beschäftigungspolitische Koordinierung stattfinden soll, sind grundsätzlich identisch mit jenen, die schon für die Wirtschaftspolitik gelten (vgl. Übersicht): - Die Beschäftigungspolitik der EU-Staaten erfolgt in Übereinstimmung mit den "Grundzügen der Wirtschaftspolitik" der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft. Die nationale Beschäftigungspolitik hat danach im Einklang mit dem Prinzip einer "offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" zu stehen (Art. 102a EGV). - Die Förderung der Beschäftigung durch die Mitgliedstaaten wird im Rat aufeinander abgestimmt, da sie als "Angelegenheit von gemeinsamem Interesse" gilt (Art. 103 EGV). Aus dieser Verpflichtung folgt, daß ,jeder Mitgliedstaat auf die Belange der anderen Mitgliedstaaten Rücksicht zu nehmen hat,,2o. Art. 2 des neuen BK hebt in diesem Zusammenhang ausdrücklich hervor, daß die "einzelstaatlichen Gepflogenheiten in Bezug auf die Verantwortung der Sozialpartner berücksichtigt werden". - "Die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten" für die Beschäftigungspolitik wird auch in Art. 3 des neuen BK betont. Unter Beachtung der nationalen Kompetenzen will die Gemeinschaft die Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten fördern sowie deren Beschäftigungsmaßnahmen unterstützen und erforderlichenfalls ergänzen. In dieser zuletzt genannten Aufgabe könnte - bei skeptischer Auslegung - durchaus ein Einfallstor für künftige Beschäftigungsprogramme der EU gesehen werden, wobei die Formulierung des Vertrages keine eindeutigen Schlüsse zuläßt. c) Auf der Instrumentenebene werden in Art. 5 des neuen BK derzeit allerdings nur "Anreize" und "Initiativen" des Rates aufgelistet, die auf den Austausch von Informationen und bewährten Praktiken, die Bereitstellung von vergleichenden Analysen und Gutachten, die Förderung von innovativen Ansätzen sowie auf die Evaluierung von Erfahrungen, insbesondere durch Rückgriff auf Pilotprojekte, ausgerichtet sind (vgl. Übersicht). Mit den "Pilotprojekten" sind ausgewählte "Beschäftigungsbündnisse" auf regionaler und kommunaler Ebene vor allem in den Bereichen Umweltschutz und soziale Dienste gemeint, die auf Anregungen des EU-Gipfels in Florenz (Juni 1996) zurückgehen und mit Unterstützung der Gemeinschaft neue Formen der Arbeitsplatzschaffung in regionaler Trägerschaft er20

Zuleeg (1983), S. 1793.

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proben sollen21 . Was derartige "Anreize" und "Initiativen" der Gemeinschaft betrifft, konzentrieren sie sich vorerst also auf das Bemühen, den Mitgliedstaaten beschäftigungsförderndes "Know-how" zur Verfügung zu stellen und auszutauschen, was im Einzelfall durchaus hilfreich sein mag. In seiner "Entschließung" hat der Europäische Rat weitere beschäftigungsfördernde Maßnahmen genannt, so vor allem (1) Fortschritte bei der Vollendung des Binnenmarktes, (2) die Durchforstung aller Gemeinschaftsmaßnahmen einschl. der transeuropäischen Netze sowie der Forschungs- und Entwicklungsprogramme im Hinblick auf einen beschäftigungsintensiveren Einsatz der Strukturfonds-Mittel, (3) die Aufforderung an die Europäische Investitionsbank, ihre Finanzierungsfazilitäten zu erweitern für Hochtechnologieprojekte kleiner und mittlerer Unternehmen und für den Dienstleistungssektor?2 d) Das Verfahren zur Umsetzung der ,,koordinierten Beschäftigungsstrategie" der EU (vgl. dazu im einzelnen die Übersicht) ist im Prinzip identisch mit der bereits existierenden "multilateralen Überwachung" der Einhaltung der "Grundzüge" und der "Koordinierung" der Wirtschaftspolitik gemäß Art. 103 EGV. Dennoch gibt es einen - vermutlich wichtigen - Unterschied: Für die "Grundzüge der Wirtschaftspolitik" formuliert der Rat Empfehlungen, für die koordinierte Beschäftigungsstrategie gibt er dagegen "beschäftigungspolitische Leitlinien" vor, die die Mitgliedstaaten zu beachten haben. Während die juristischen Implikationen beider Begriffe hier nicht kompetent erörtert werden können, so dürfte dem Begriff ,,Leitlinien" nach dem üblichen Sprachgebrauch eine größere Verbindlichkeit zukommen. In jedem Fall ist diese Wortwahl nicht zufällig, sondern sicher bewußt getroffen worden. Dies wird auch bestätigt durch den Tenor der "Entschließung" und der "Schlußfolgerungen des Vorsitzes" der Regierungskonferenz: Sie verraten einen gewissen Aktionismus der EU, Druck ausüben und in der Beschäftigungspolitik mitwirken zu wollen, und sie geben "einen ersten Griff nach Gemeinschaftskompetenzen zu erkennen,,23. Was kann eine "koordinierte Beschäftigungsstrategie via "Leitlinien", Berichtspflichten und ggf. Rechtfertigungszwängen seitens der Mitgliedstaaten zur Lösung des EU-weiten Beschäftigungsproblems beitragen? Unstrittig ist zunächst, daß für den Fall des Hineinwachsens in die EWWU und des damit verbundenen Wegfalls der nationalen Geld- und Wechselkurspolitik eine engere Abstimmung der noch verbleibenden Politikbereiche der Mitgliedstaaten an Bedeutung gewinnt. Unstrittig ist ferner, daß die strukturellen Ursachen der Massenarbeitslosigkeit in den meisten EU-Staaten ähnlich gelagert sind. Unstrittig ist schließlich das Bemühen der Amsterdamer Beschäftigungsinitiativen, mit Appellen an die Mitgliedstaaten auf eine rasche und durchgreifende Umsetzung der Strukturreformen zu drängen. 21 22 23

V gl. Europäischer Rat (1997b), S. 6. Vgl. Europäischer Rat (1997a), S. 17, 18. Hort (1997), S. 10.

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Alle diese Argumente dürfen aber nicht dazu führen, daß die länderspezifischen Ansätze zur Schaffung von wettbewerbsflihigen Arbeitsplätzen an Bedeutung verlieren oder sogar blockiert werden, indem sie in die Schablone "beschäftigungspolitischer Leitlinien" der EU gepreßt werden. Bei allen Gemeinsamkeiten in der Problemlage weisen die historisch gewachsenen nationalen Systeme in den EUStaaten zum Teil gravierende Unterschiede auf: in der Struktur und Gestaltung der Arbeitsmärkte, in der Tarifautonomie und Sozialpartnerschaft, im Lohnfindungsprozeß, in den Steuer- und Sozialsystemen, in der Arbeitsmarktpolitik etc. Da die strukturellen Arbeitsplatzdefizite primär durch Fehlentwicklungen dieser nationalen Systeme entstanden sind, "lassen sich nationale wirtschaftspolitische Versäumnisse nicht durch eine verstärkte internationale Koordinierung der Wirtschaftspolitiken lösen,,24. Vor allem aber dürfen die Tarifpartner und die Politik durch eine stärkere Kompetenzverlagerung nach Brüssel nicht aus ihrer Verantwortung für die nationale Beschäftigung entlassen werden. Beschäftigungspolitik ist deshalb - und sollte bleiben - eine primär vor Ort, d. h. im nationalen Rahmen, zu lösende Aufgabe. Insbesondere hier sollte auch das mühsam erfochtene Subsidiaritätsprinzip (Art. 3b EGV) zur Anwendung kommen.

IV. Zusammenfassung

Die Amsterdamer Beschäftigungsinitiativen ("Beschäftigungskapitel", ,,Entschließung" und "Schlußfolgerungen des Vorsitzes") vom 16. und 17. Juni 1997 wecken vom Wortlaut her große Hoffnungen auf einen wirksamen EU-Beitrag zur Lösung der strukturellen Arbeitsplatzdefizite - möglicherweise aber auch nur falsche Erwartungen. Das liegt nicht zuletzt an der von der Regierungskonferenz verabschiedeten, anspruchsvoll formulierten ,,koordinierten Beschäftigungsstrategie": "Diese Gesamtstrategie wird unsere Bemühungen zur Förderung der Beschäftigung, zur sozialen Integration und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit optimieren,,25. Bei Lichte besehen relativieren sich diese Ansprüche. Beizupflichten ist den Zielen des Amsterdamer Vertrags, ein ,,hohes Beschäftigungsniveau" und einen ,,hohen Grad an Wettbewerbsfähigkeit" in Europa anzustreben, ebenso den Appellen des Europäischen Rates an die Mitgliedstaaten, die notwendigen Strukturreformen rasch und durchgreifend umzusetzen. Problematisch erscheinen dagegen die ,,Leitlinien" des "Beschäftigungskapitels". Sie bergen die Gefahr, die länderspezifischen Ansätze zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in eine EU-weite Schablone zu pressen und dadurch die nationalen Träger der Wirtschafts- und Tarifpolitik aus ihrer Verantwortung für die Beschäftigung zu entlassen. Beschäftigungspolitik ist jedoch die ureigenste Domäne der nationalen Politik. So bleibt zu hoffen, daß die 24

BMWi (1997), S. 99.

25

Europäischer Rat (1997a), S. 18.

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,,Leitlinien" nicht zu jährlichen Rechtfertigungszwängen der Mitgliedstaaten führen und sich die ,,koordinierte Beschäftigungs~trategie" nur in (lästigen) Berichtspflichten der EU-Staaten erschöpft.

Literaturverzeichnis Bach, U., et al. (1997): Der Arbeitsmarkt 1996 und 1997 in der Bundesrepublik Deutschland, in: Vorabdruck aus den Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 30. Jg., Nürnberg. - Bundesanstalt für Arbeit (1996): Arbeitsmarkt 1995, Sondernummer der Amtlichen Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit, 44. Jg., Nümberg. - BMWi - Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.) [1996]: Vorrang für Beschäftigung; Jahreswirtschaftsbericht '96 der Bundesregierung, Bonn. - BMWi - Bundesministerium für Wirtschaft (Hrsg.) [1997]: Reformen für Beschäftigung; Jahreswirtschaftsbericht '97 der Bundesregierung, Bonn. - EG-Kommission (1993): Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung; Herausforderungen der Gegenwart und Wege ins 21. Jahrhundert (Weißbuch), Luxemburg. - Europäischer Rat (1997a): Entschließung über Wachstum und Beschäftigung, in: Internet Rapid Text File, Dokument ON: DOC/97/2 vorn 18. 6. 1997, S. 16-18. - Europäischer Rat (1997b): Schlußfolgerungen des Vorsitzes, in: Internet Rapid Text File, Dokument ON: DOC /97 /2 vorn 18. 6. 1997, S. 1 - 7. - Duwendag, D. (1996): Akzeptanzprobleme der Europäischen Währungsunion, in: Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften, Band 47, Heft 3, S. 241 ff. - Franz, W. (1993): Der Arbeitsmarkt - Eine ökonomische Analyse, Mannheim u. a. - Hort, P. (1997): Beschäftigungsspiele, wiederabgedruckt in: Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln, Nr. 36, vorn 23. 6. 1997, S. 10. - Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (1997): Entwurf des Vertrages von Amsterdarn (vorläufige Fassung), CONF/4001l97, vorn 19. Juni 1997. - Rexrodt, G. (1996): Erläuterung des Jahreswirtschaftsberichts 1996, in: BMWi-Tagesnachrichten, Nr. 10418, vorn 31. 1. 1996. - Sachverständigen rat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1996): Reformen voranbringen; Jahresgutachten 1996/97, Stuttgart. - Wisdorff, E. (1997): EU-Beschäftigungspolitik, in: Handelsblatt, Nr. 105 vorn 5. 6. 1997, S. 7. - Zuleeg, M. (1983): Die Konjunkturpolitik, in: H. von der Groeben et al. (Hrsg.), Kommentar zum EWG-Vertrag, 3., neubearb. Auflage, Baden-Baden, S. 1786 ff.

Einige Entwicklungslinien des Föderalismus Von Stefan Fisch

I. Wenn ich heute in dieser europazentrierten Sektion als Historiker zu dem weiten Feld der Entwicklung des Föderalismus spreche, so erwarten Sie sicherlich nicht eine handbuchartige Zusammenstellung. In der Kürze der Zeit läßt sich die jahrhundertelange Geschichte dieser Möglichkeit politischer Verfassung nicht darstellen, schon gar nicht im europäischen Vergleich. Ich möchte heute vielmehr in sieben kurzen Punkten erst einige grundsätzlich bedeutende Spielarten der Verwendung dieses Begriffs in verschiedenen Verästelungen der europäischen und transatlantischen Denk- und Verfassungstradition andeuten und an ihre Vielfalt dann einige Überlegungen zum Föderalismus heute und in Zukunft knüpfen.

11. Wir sind ja gerne geneigt, aus unserer deutschen Sicht heraus zu glauben, daß ,Föderalismus' etwas grundlegend Deutsches sei, daß er nicht nur herrühre aus der Tradition des Bismarckschen Reiches, sondern auch schon des Metternichschen Deutschen Bundes und letztlich sogar des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Bei genauerem Hinsehen auf die jeweils verwendeten politisch-historischen Begriffe wird freilich schnell klar, daß man im späten Mittelalter noch viel von ,Einung' sprach, besonders unter kleineren Adeligen oder Städten. In der Frühen Neuzeit ist dieser Gedanke immer mehr verdrängt worden; beherrschend wurden nun die zur Fast-Souveränität aufgestiegenen Landesfürsten größerer Territorien. Im Verfassungsdokument des Westfälischen Friedens von 1648 hatten sie sich eine weitgehende Ungebundenheit sichern können; seitdem waren sie berechtigt, frei jedes Bündnis im außenpolitischen Sinne, jede alliance einzugehen. Dieses Wort alliance ist dann auch der einzige Begriff aus dem Wortfeld des Föderalismus, den der Begriffshistoriker in Zedlers berühmter erster deutscher Enzyklopädie aus der Mitte des 18. Jahrhunderts findet.

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III. Das andere alte Wort ,Bund' hatte in der Zwischenzeit nämlich einen zunehmend religiösen Anstrich gewonnen. Seit dem 17. Jahrhundert faßte die sogenannte ,,Föderaltheologie" der Reformierten, besonders in Schottland und dann jenseits des Atlantik in Neuengland, das Verhältnis von Gott und Menschen als ,Alten' und ,Neuen' Bund. Latent steckte in dieser Vorstellung von Bünden auch schon einiges an vertragstheoretischem Denken. Deutlich wurde das bei uns in Deutschland, als Johannes Althusius an der kleinen calvinistischen Universität Herborn 1603 seine Politica methodice digesta herausbrachte. In diesem lange verkannten Klassiker der politischen Wissenschaft wurde die Gesellschaft als Folge aufeinander aufbauender Bünde und Verträge gedacht, von der Zunft über die Gemeinde und das Land oder die Provinz bis zur Kirche. Althusius war nicht nur Professor, sondern auch leitender Verwaltungsbeamter, und in realistischem Blick auf die Unvollkommenheit irdischer Verhältnisse vertrat er so klar wie selten zuvor das Recht zum Widerstand gegen eine weltliche Macht, falls diese ,ewige' Rechte des Volkes verletzte - oder, wie man bald darauf in der Aufklärung sagte, die natürlichen Rechte der Individuen.

IV. Derartige Ideen aus der calvinistischen Minderheitserfahrung fielen bei den religiös dissidenten nordamerikanischen Untertanen der britischen Krone auf fruchtbaren Boden, als sie sich gegen ihre zunehmende Bevormundung durch König und Parlament in London wandten und ein limited govemment anstrebten. Die Amerikanische Revolution lebte als politische Bewegung eines sich souverän fühlenden Volkes von älteren Formen der Selbstorganisation der erwachsenen Siedler, auf die sie aufbauen konnte. Schon in den Kolonien waren unabhängige Kirchen- und Ortsgemeinden, Selbstverwaltungsgremien in den counties, Geschworenengerichte und schließlich auch frühe parlamentarische Versammlungen entstanden. Aus den Kolonien entstanden im Prozeß der Staatswerdung der USA die (Einzel)-Staaten, doch war das Verhältnis zwischen den vielen Gründerstaaten und der einen erstrebten amerikanischen Nation heftig umstritten. Es war eine nur wenig verbundene Gemeinschaft von Kolonien, die sich 1776 für unabhängig erklärte, und sie gab sich 1777 in einer ersten Verfassung, den Articles 01 Confederation, zunächst eine lockere staatenbündische Form. Erst zehn Jahre später kam es zur festen bundesstaatlichen Union der ,Vereinigten Staaten'. In der damaligen Prinzipiendiskussion nannte man Federalists die Befürworter eines starken Bundes und einer starken Zentralgewalt auf Kosten der einzelstaatlichen Rechte - in völligem Gegensatz zu unserem deutschen Sprachgebrauch.

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V. Zwar beeindruckte das Verfassungsdenken der USA die Väter der Französischen Republik - aber sie bauten ihre neue Staats- und Gesellschaftsordnung auf einem völlig anderen Fundament auf, auf einem schon zuvor, im Absolutismus des Anden Regime, mit Macht durchgesetzten wohlorganisierten Zentralstaat. Das galt schon für die Erste Republik, mit der im neuen revolutionären Kalender das Jahr I begann. Die Erinnerung an das Zusammenfallen dieser inneren Staatsgründung mit der Schlacht von Valmy, die für den Beobachter Goethe den Beginn eines neuen Zeitalters der Weltgeschichte bedeutete, hält an der Ecole Nationale d' Administration in Strasbourg der diesjährige Jahrgang wach, der sich den Namen promotion Valmy gegeben hat (von deren Einladung an die Hörer unserer Hochschule sprach vorgestern der Direktor der ENA in seinem Grußwort bei unserer JubiläumsfeierI). Und als 1792 im neuen Verfassungskleid der alte französische Zentralstaat wieder erstanden war, bezeichnete im französischen Sprachgebrauch ähnlich wie im amerikanischen der Begriff der Federation die fest zusammengeschlossenen Verteidiger der Einheit des Ganzen, keineswegs jedoch, wie wir aus unserem Sprachgebrauch anzunehmen geneigt sind, die Befürworter der Vielheit in den Teilen. VI. In diesem internationalen Umfeld formte sich 1815 der moderne deutsche Föderalismus im Staatenbund des ,Deutschen Bundes', doch die deutschen Staaten verdankten ihre Verfassungen nicht der Souveränität des Volkes, sondern gründeten auf der Souveränität der Monarchen. Einige, nicht alle Fürsten verzichteten von sich aus durch den Akt der Verfassunggebung auf bestimmte Souveränitätsrechte; und es waren (von den sehr oligarchisch bestimmten Stadtrepubliken der Freien Städte abgesehen) die Fürsten und nicht die Völker, die 1815 den Deutschen Bund, 1866 den Norddeutschen Bund und 1871 das Deutsche Reich begründeten. Selbst dann, als nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die Souveränität von den Fürsten auf das Volk übergegangen war, hat die neue republikanische Verfassung Deutschlands die Machtposition der Regierungen der Länder vor dem Volk der Länder gesichert - vor allem deshalb, weil die Länder bei der Verfassunggebung für den Gesamtstaat 1919 schon handlungsfähig da waren - mit all ihrer Staatsmacht und Verwaltungsexpertise. Diese Konstellation bestimmte auch 1949 im Westen Deutschlands die Verfassunggebung für die Bundesrepublik, während im Osten bei der Entstehung der DDR die Rechte und der Einfluß der Länder dort schon stark ausgehöhlt waren. Die Stärke der Länder in der Bundesrepublik beruht auch auf der traditionell weitreichenden Ausführung von Reichs- und dann Bundesgesetzen 1 Anmerkung des Herausgebers: Grußwort des Direktors der Ecole Nationale d' Administration anläßlich des Festaktes zum 50jährigen Bestehen der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer am 5. März 1997. Veröffentlicht im Heft 38 der Speyerer Vorträge, Speyer 1998.

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durch die Länderverwaltungen. Hier setzen die neueren Rechtfertigungen des Föderalismus mit ihren funktionalen Argumenten an. Sie erwarten von ihm gerade nach dem Wegfall der früheren monarchischen Solidarität vor allem eine Balancewirkung, eine Art institutioneller Garantie für das Zustandekommen eines Kompromisses, wie langwierig und umwegig er auch entstehen und wie inhaltsarm er zwischen den Mahlsteinen parteipolitischer Präferenzen und interessengeleiteter Interventionen noch ausfallen mag. VII.

Ist nun dieser deutsche Föderalismus von heute ein ,Exportartikel' auf einem ,Gemeinsamen Markt' der Staatsverfassungen in Europa? Zu der ,Bundesrepublik Padanien' wird man eher distanziert stehen, die der Führer der italienischen Lega Nord, Umberto Bossi, im letzten Jahr in Venedig ausrief, um die reiche Poebene aus der Solidarität des italienischen Gesamtstaats herauszulösen. Doch die in den letzten Jahren vollendete doppelte Föderalisierung Belgiens (nach Regionen und nach Sprachgemeinschaften) oder die Bestrebungen in Spanien, die Stellung der eher noch administrativen regiones weiterzutreiben zu vollen Ländern nach deutschem Vorbild scheinen Beweis abzulegen von der Ausstrahlung des Föderalismus und des Subsidiaritätsprinzips, das sie hervorragend illustrierten. Bei genauerem Betrachten wird jedoch auch eine immanente Sprengkraft deutlich, die föderalistische Ideen entwickeln können, wenn das Austarieren der Waage zwischen Zentralstaat und Teilstaat mißlingt - oder wenn es gar nicht angestrebt wird. Daran ist nach der Wende die Tschechoslowakische Republik sehr schnell zerbrochen. In Belgien ist es eine offen diskutierte Frage, wie lange noch die kunstvolle Überlagerung von territorialen Regionen und personalen Sprachgemeinschaften - alle mit eigenem Parlament, Regierung und Verwaltungsapparaten - den fundamentalen, die Einheit des Landes sprengenden Dissens zwischen den beiden Hauptsprachgruppen verdecken kann. In Spanien sind vor allem Basken und Katalanen bestrebt, ihre historisch lange Zeit sehr eigenständigen, dann aber vom Madrilener Zentralismus gegängelten Regionen zu Ländern mit weitestreichender eigener Staatlichkeit zu entwickeln - auf Kosten der gesamtspanischen Politik, für die nur noch "Reste" übrig bleiben wie die Außenpolitik, die Verteidigung und das System der sozialen Sicherheit. VIII.

Sind solche zentrifugalen Tendenzen auch für Deutschland zu erwarten? Wenn der Historiker auch kein Prophet ist, so kann er doch auf die historisch tiefe Verwurzelung des Föderalismus und der Einheit der Deutschen ohne erkennbare Separationstendenzen hinweisen. Von drei geschichtlich begründeten Unterschieden zum übrigen Europa (die Schweiz und Österreich einmal ausgenommen) ist in besonderem Maße anzunehmen, daß sie die weitere Entwicklung bestimmen werden:

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1. Anders als in der belgischen Realität oder in den spanischen Projekten oder in der padanischen Utopie sind in Deutschland schon immer die Regierungen der Teilstaaten als solche an der Gesetzgebung beteiligt; wir haben dafür das Bundesrats- und nicht das amerikanische (oder schweizerische) Senatsmodell. Was ein institutionelles Erbe des Selbstbehauptungsstrebens der konstitutionellen Monarchien war, befördert heute die Verklammerung der Teilstaaten in das Ganze und bindet die weithin zuständigen Länderverwaltungen verpflichtend in den Gesamtstaat ein. 2. Den Zusammenhalt fördert dann auch ein Parteiensystem, das in Bund und Ländern weitgehend ähnlich strukturiert ist - im Unterschied zu der Übermacht von Regionalparteien mit regionalem Horizont bei unseren genannten europäischen Nachbarn. Allerdings ist hier die Entwicklung in unseren neuen Ländern noch im fluß. 3. Das stärkste Band im deutschen Föderalismus schließlich scheint mir das mit der Wiedervereinigung zu einem Programmsatz besonderer Art gewordene Wort des Grundgesetzes in Artikel 72 Abs. 2 GG von der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse zu sein. Für diese explizit zusammenbindende Staatsaufgabe gibt es, so weit ich sehe, weder in Belgien noch in Spanien ein Äquivalent; aber auch in Deutschland ist sie zuweilen mehr Programm als Realität. Alles in allem genommen, hat ein kurzer Blick auf die Begriffsgeschichte des Wortes ,Föderalismus' gezeigt, daß darunter in den unterschiedlichen sprachlichen wie historisch-politischen Traditionen der europäisch-atlantischen Welt geradezu Gegensätzliches verstanden wurde und wird. Das bringt fortwährend Stolpersteine in die internationalen Diskussionen, wenn man sich dessen nicht bewußt ist. Und ein Blick auf die am europäischen Markt angebotenen Varianten des ,Produkts' Föderalismus zeigt, daß es in unterschiedlichem institutionellem und geschichtlichem Kontext ganz anders ausfällt. Derartiges zu verdeutlichen, ist der Beitrag des Historikers zu den Verwaltungswissenschaften, nämlich in Lehre, Forschung und Fortbildung das Bewußtsein für die Vielfalt in der Sprache und in der Sache zu schärfen.

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Schlußwort des Prorektors der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Siegfried Magiera

Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der 65. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung angelangt. Sie fand statt im Jahre des 50jährigen Bestehens der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Thr weitgefaßtes Rahmenthema "Öffentliche Verwaltung der Zukunft" sollte Gelegenheit geben, die voraussehbare Entwicklung von Staat und Verwaltung unter dem Blickwinkel der verschiedenen, an der Hochschule vertretenen Wissenschaftsdisziplinen näher zu betrachten. Das weite Spektrum dieser Disziplinen und die Fülle der Aspekte, die das heutige Gemeinwesen auf staatlicher und überstaatlicher, auf kommunaler und regionaler Ebene aufweist, wurden an der großen Zahl von Themen und Vortragenden sichtbar; und selbst insoweit handelte es sich um eine begrenzte Auswahl. Auch war die Zeit für die Referate und die anschließende Diskussion sicherlich knapp bemessen. Dennoch möchte ich es wagen, die Tagung als erfolgreich zu bezeichnen. Sie gab einen Einblick in das, was Staat und Verwaltung in der absehbaren Zukunft zu erwarten und zu bewältigen haben. Die einzelnen Vorträge und Foren haben gezeigt: Der Bürger ist mündiger und damit kritischer geworden, auch gegenüber dem Staat und nicht nur in Deutschland. Er will ernstgenommen werden, erkennt aber zugleich, daß er nur einer unter vielen ist und deshalb tolerant und kompromißbereit sein muß. Staatsreform und Verwaltungsmodernisierung sind keine einmaligen, sondern permanente Aufgaben, deren Bewältigung besonderes Augenmaß verlangt. Erneuerung bedeutet nicht automatisch Verbesserung. Zur europäischen Integration läßt sich keine Alternative erkennen, was jedoch nicht bedeutet, daß bei einer Fortentwicklung der Europäischen Union nicht sorgfältig auf die unterschiedlichen Traditionen der einzelnen Mitgliedstaaten Rücksicht genommen werden muß. Dies gilt auch für die mittel- und osteuropäischen Staaten, die sich der Europäischen Union anschließen wollen, aber noch zusätzliche Probleme des Systemwechsels und der Verwaltungstransformation zu bewältigen haben. Jeder von uns wird aus den Vorträgen und Diskussionen, die in einem Tagungsband veröffentlicht werden sollen, vielfältige Erkenntnisse und Anregungen zum vertieften Nachdenken mit sich nehmen. lS·

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Schlußwort

Dafür gilt unser Dank in erster Linie den Referenten, die uns so sachkundig unterrichtet haben, ferner den Moderatoren und Diskussionsteilnehmern sowie TImen allen, meine Damen und Herren, für Ihre aktive Mitwirkung an den Verhandlungen und den nicht minder wichtigen persönlichen Gesprächen am Rande der Tagung. Danken möchte ich auch allen Angehörigen der Hochschule, die - unter der souveränen und umsichtigen Leitung des Rektors, Herrn Univ.-Prof. Dr. Klaus Lüder - durch ihren unermüdlichen Einsatz für eine gute Vorbereitung und einen reibungslosen Ablauf unserer Veranstaltungen in dieser Festwoche gesorgt haben. Damit schließe ich unsere Tagung und wünsche Ihnen allen, meine Damen und Herren, eine gute Heimreise, verbunden mit der Hoffnung, Sie bald in Speyer wiederzusehen.

Verzeichnis der Autoren Hans Herbert von Arnim, Dr. jur., Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer earl Böhret, Dr. rer. pol., Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Helmut Brede, Dr. rer. pol., Universitätsprofessor, Universität Göttingen Andrew S. Butler, Lecturer, Victoria University of Wellington Hans-Ulrich Derlien, Dr. rer. pol., Universitätsprofessor, Universität Bamberg Dieter Duwendag, Dr. rer. pol., Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Thomas Ellwein t, Dr. jur., Dr. rer. pol. h. c., Dr. phil. h. c., em. o. Professor, Universität Konstanz Gisela Färber, Dr. rer. pol., Universitätsprofessorin, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Rudolf Fisch, Dr. phil., Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Stefan Fisch, Dr. phil. habil., Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Everhardt Franßen, Dr. jur., Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Berlin Hermann Hill, Dr. jur., Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Helmut Klages, Dr. rer. pol., Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Klaus König, Dr. jur., Dr. rer. pol., Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwaltungs wissenschaften Speyer Klaus Lüder, Dr. rer. pol., Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

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Verzeichnis der Autoren

Siegfried Magiera, Dr. jur., Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Gerard Marcou, Dr. jur., Universitätsprofessor, Universite de Lille 11 Jörg Paul Müller, Dr. jur., Universitätsprofessor, Universität Bem Rainer Pitschas, Dr. jur., Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Waldemar Schreckenberger, Dr. jur., Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Heinrich Siedentopf, Dr. jur., Dr. jur. h. c., Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Christian S0e, Dr. phil., Universitätsprofessor, Califomia State University, Long Beach Günther Wurster, Präsident der Bundesakademie für Öffentliche Verwaltung im Bundesministerium des Innem, Bonn