Staatsbürgerschaft und Nation: Ausschließung und Integration in der Schweiz 1848-1933 9783666351556, 9783647351551, 9783525351550

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Staatsbürgerschaft und Nation: Ausschließung und Integration in der Schweiz 1848-1933
 9783666351556, 9783647351551, 9783525351550

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler

Band 174

Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

Staatsbürgerschaft und Nation Ausschließung und Integration in der Schweiz 1848–1933

von

Regula Argast

Vandenhoeck & Ruprecht © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

Umschlagabbildung »Lied der Heimat«, 1939. © Paul Bodmer, Kunstmuseum Basel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abruf bar. ISBN 978-3-525-35155-0 Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.

© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehrund Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: OLD-Media OHG, Neckarsteinach. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

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Analytische Kategorien und Forschungspositionen . . . . . . . . . . . 1. »Staatsbürgerschaft«, »Schweizer Bürgerrecht« und »Nationalität« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erklärungsansätze zum historischen Wandel von Staatsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der schweizerische Bundesstaat und das Schweizer Bürgerrecht im Rahmen liberaler Gouvernementalität . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Longue durée: Das schweizerische Kantons- und Gemeindebürgerrecht vom Ancien Régime bis ins 20. Jahrhundert . . . . . . . . . .

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1. Das Gemeindebürgerrecht als »pièce de résistance« gegen Kantone und Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Verschränkung des Gemeindebürgerrechts mit dem Kantonsbürgerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Traditionelle Kriterien des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Nation – ein neues Kriterium des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nation als vorgestellte und politische Gemeinschaft . . . . . . . . . 2. Geschlechterdualismus, allgemeine Männerwehrpflicht und Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Judenfeindschaft, Antisemitismus und Nation . . . . . . . . . . . . . 4. Soziale Schicht und Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die »Erfindung des Ausländers« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Vorstellungen von der schweizerischen Nation: Entwicklungslinien im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Das Schweizer Bürgerrecht und die Schweizer, 1848–1874 . . . . . . 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

Unitarische Staatsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Föderalistische Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bundesstaatsrecht und Schweizer Bürgerrecht . . . . . . . . . . . . Das »Heimatlosengesetz« von 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das »ius sanguinis« im Ländervergleich – Ausdruck einer ethnisch-kulturellen Nation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bürger zweiter Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Unsichere Staatsbürgerinnen«: Das Bürgerrecht von Schweizer Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der »verpassten« zur »erzwungenen« Emanzipation der Schweizer Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweizer Katholiken zwischen rechtlicher Gleichstellung und Kulturkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Grenzen der Rechtsgleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heimatlose und Nicht-Sesshafte nach der Zwangseinbürgerung: Das Beispiel Einsiedeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: Von der »unvollständigen« zur »korporativen Bürgergesellschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V. Das Schweizer Bürgerrecht und die Ausländer I: Kontrolle und Integrationsversuche 1874–1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Schweizer Bürgerrecht in der Bundesverfassung von 1874 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Bundesgesetz von 1876: Wider Konflikte mit dem Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zürich als Schrittmacherin einer neuen Bürgerrechtspolitik des Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Postulat Curti im Jahr 1898 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Erleichterte Einbürgerung von Ausländern? Die Haltung der Kantone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Carl Alfred Schmid: »Unsere Fremdenfrage« . . . . . . . . . . . . . 7. Das kantonale »ius soli« im Bundesgesetz von 1903 . . . . . . . . 8. Feinere Netze: Neue Befugnisse für den Bundesrat . . . . . . . . 9. Das Sprechen über Ausländer: Ein Diskursmuster formiert sich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Wiedereinbürgerungen ehemaliger Schweizerinnen und der Widerstand der Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Liberalisierungsversuche vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . 12. Das diskursive Ereignis der »Ausländerfrage« 1910/1911 . . . . 6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

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VI. Bürger machen: Das Basler Kantons- und Gemeindebürgerrecht 1833–1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Basel in einer Zeit raschen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Topos von der notwendigen Zunahme der Basler Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Im Zeichen der Liberalisierung: Das basel-städtische Bürgerrechtsgesetz im Längsschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Instanzenweg im Basler Einbürgerungsverfahren . . . . . . 5. Das Bürgerrecht von Jüdinnen und Juden: Exklusion und unvollendete Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Schutz des bürgerlichen Armenguts . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Wiedereinbürgerungen von Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Leumund, Ruf und Lebenswandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Die Einbürgerung von Italienerinnen und Italienern zu Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Erfolg und Grenzen der Liberalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Das Schweizer Bürgerrecht und die Ausländer II: Von der Integration zur Abwehr 1914–1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Aufstieg der »neuen Rechten« und die Suche nach der »nationalen Identität« seit 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. »Überfremdung«: Vom Begriff zum Diskurs . . . . . . . . . . . . . 3. Nationalismus, Rassismus und schweizerische Heterogenität. . 4. 1917 – Jahr des Umbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Bürgerrecht im Dienst der »Überfremdungsbekämpfung« 6. Die Erhöhung der Wohnsitzfrist im Jahr 1920 . . . . . . . . . . . . 7. »Überfremdungsbekämpfung« von unten: Die erste »Ausländerinitiative« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Ethnisierung des Schweizer Bürgerrechts . . . . . . . . . . . . 9. »Der Jude« als »Supernumerarius« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. »Massnahmen gegen die Überfremdung«: Das verwässerte »ius soli« von 1928 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer von 1931 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Der Erste Weltkrieg als große Zäsur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Die Diskussion über das Schweizer Bürgerrecht hat seit der Mitte der 1990er Jahre hohe Wellen geschlagen. Einzelne Gemeinden, populistische Parteien und ein großer Teil des schweizerischen Stimmvolks wehrten sich gegen die staatsbürgerliche Integration der ausländischen Wohnbevölkerung. Mehrfach scheiterten die Gesetzesvorlagen des Bundes für die erleichterte Einbürgerung von jungen Ausländerinnen und Ausländern der zweiten und dritten Einwanderergeneration. Gleichzeitig besaß die Schweiz im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine der niedrigsten Einbürgerungsziffern Europas, was sich aus gesellschafts- und staatspolitischer Sicht als problematisch erweist. Denn die Bereitschaft moderner Einwanderungsgesellschaften, Ausländerinnen und Ausländer als Staatsbürger anzuerkennen und somit die demokratische Basis zu erweitern, ist integraler Bestandteil einer gelebten Demokratie. Die gesellschaftspolitische Aktualität bildete den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie zur Geschichte der Staatsbürgerschaft in der Schweiz, die im Sommersemester 2005 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich als Doktorarbeit angenommen wurde. Das Buch beschäftigt sich mit der historischen Tiefendimension des dreistufigen Schweizer Bürgerrechts und den damit verbundenen In- und Exklusionsdynamiken seit der Entstehung des schweizerischen Bundesstaats im Jahr 1848 bis in die Zwischenkriegszeit. Es diskutiert – mit einem vergleichenden Blick auf die Staatsbürgerschaft in Deutschland und Frankreich – die Bedeutung von föderalistischer Rechtstradition, nationalen Identitätsvorstellungen, politischen Herausforderungen, ideengeschichtlichen Paradigmata und gouvernementalen Regierungstechniken für den staatsbürgerlichen Ein- und Ausschluss. Viele Menschen haben zur Entstehung des Buches beigetragen. Mein Dank gilt an erster Stelle Jakob Tanner (Universität Zürich) und Regina Wecker (Universität Basel). Sie haben die Arbeit von Anfang an gefördert, professionell betreut und mit wertvollen Impulsen sowie sachkundiger und konstruktiver Kritik bereichert. Ohne ihre fachliche und menschliche Unterstützung wäre die Arbeit nicht möglich gewesen. Die Zusammenarbeit mit Brigitte Studer (Universität Bern), Gérald Arlettaz (Schweizerisches Bundesarchiv), Erika Luce (Universität Bern), Anina Gidkov (Universität Bern) und Nicole Schwalbach (Universität Basel) im Projekt »Die Staatsbürgerschaft zwischen Konzepten des Nationalen und Ordnung des Sozialen« des Nationalen Forschungsprogramms 51 »Integration und Ausschluss« hat der Arbeit viele wertvolle Impulse gegeben. Dafür und für die gute Zusammenarbeit möchte ich der Projektgruppe meinen Dank aussprechen.

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Dem Schweizerischen Nationalfonds danke ich für die großzügige Unterstützung und den gesprochenen Publikationsbeitrag. Für die finanzielle Unterstützung zur Überarbeitung des Manuskripts danke ich herzlich folgenden Zürcher Stiftungen: der René und Susanne Braginsky Stiftung, der Salomon David Steinberg-Stipendien-Stiftung und der Saly Mayer Memorial Stiftung. Ebenso danke ich dem Deutsch-französischen Forschungszentrum für Sozialwissenschaften Centre Marc Bloch (CMB) in Berlin für das gewährte Stipendium sowie dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und dem Centre d’histoire sociale du XXe siècle (Université de Paris 1/Centre national de la recherche scientifique, CNRS) für die Gastfreundschaft. Eine spannende Zeit am CMB verdanke ich Catherine Colliot-Thélène, damals Direktorin des CMB, sowie Olivier Beaud, Michael Esch, Petra Overath, Peter Schöttler und Klaus-Peter Sick. Dem damaligen Präsidenten des WZB, Jürgen Kocka, dem Leiter der Forschungsgruppe »Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung« im WZB, Dieter Gosewinkel, sowie den Mitgliedern der Forschungsgruppe – stellvertretend seien Shalini Randeria, Sven Reichardt und Jürgen Schmidt genannt – danke ich für die bereichernden Diskussionen. Ebenfalls danke ich Patrick Weil, Forschungsdirektor im CNRS, für die sachkundige Unterstützung während meines Aufenthalts in Paris. Ein herzlicher Dank geht auch an Christoph Schönberger (Universität Konstanz) für den freundschaftlichen Gedankenaustausch und die wertvollen Hinweise aus juristischer Perspektive. Ganz besonders danken möchte ich Jana Haeberlein, Dorothee Liehr, Barbara Lüthi, Petra Overath, Claudia Pantellini, Erik Petry, Nicole Schwager, Nicole Schwalbach, Philippe Staehelin und Rita Stöckli für die wertvolle Unterstützung bei der Korrektur des Manuskripts. Ein Dank geht auch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Schweizerischen Bundesarchivs, des Basler Staatsarchivs, des Zürcher Stadtarchivs und des Gemeindearchivs Einsiedeln, deren kompetente Hilfe ich sehr geschätzt habe. Für die wertvolle Kritik und die Aufnahme der Arbeit in die Reihe »Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft« bin ich den Herausgebern der Reihe, Helmut Berding, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Hans-Peter Ullmann und HansUlrich Wehler, zu Dank verpflichtet. Ebenso danke ich Martin Rethmeier und Dörte Rohwedder vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die freundliche Zusammenarbeit und die professionelle Betreuung der Drucklegung. Ein großes Dankeschön geht ebenso an meine Familie sowie meine Freundinnen und Freunde. Sie haben mich mit ihrem Zuspruch und ihrer Geduld immer wieder unterstützt. Von Herzen danke ich schließlich Patrick Kury, der mir auch als Historiker in allen Phasen der Arbeit zur Seite gestanden hat. Mit seinem Verständnis, ungezählten Diskussionen und der Lektüre des Manuskripts hat er die Arbeit mitgetragen. Zürich, im Juni 2007

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Regula Argast

Einleitung Die Schweiz tut sich schwer mit der Einbürgerung der ausländischen Wohnbevölkerung. Noch in der Mitte der 1990er Jahre entbrannte ein neuer Streit um die alte Frage, wer als Bürgerin oder Bürger zur nationalen Gemeinschaft der Schweizerinnen und Schweizer gehören soll. Während 14 Kantone und zahlreiche Gemeinden seit der gescheiterten eidgenössischen Volksabstimmung über die erleichterte Einbürgerung von jungen, in der Schweiz aufgewachsenen Ausländerinnen und Ausländern im Jahr 1994 die Einbürgerung liberalisierten, gingen einzelne Gemeinden zu einer restriktiven Einbürgerungspolitik über. So nahmen etwa die Gemeindebürgerinnen und -bürger im luzernischen Emmen am 13. Juni 1999 die Initiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) »Einbürgerungen vors Volk!« mit einer knappen Mehrheit von 51,5 % an.1 In der Folge wurden dort bis ins Jahr 2003 wiederholt die Einbürgerungsgesuche von Menschen aus den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien und der Türkei an der Urne abgelehnt. Die Gesuche von Menschen anderer Herkunft hatten bessere Chancen.2 Im Sommer 2003 meldete sich das schweizerische Bundesgericht zu Wort. In seinen Urteilen vom 9. Juli 2003 erklärte es Einbürgerungsentscheide an der Urne und die damals lancierte Zürcher SVP-Initiative »Einbürgerungen vors Volk!« für ungültig. 3 Urnenabstimmungen über Einbürgerungsgesuche verstoßen, so die Begründung, gegen das in der Bundesverfassung verbriefte Willkür- und Diskriminierungsverbot. Der höchste Rechtssprecher schob auf diese Weise der kommunalen Bürgerrechtspolitik als Instrument direktdemokratisch legitimierter Willkür einen Riegel vor. Gleichzeitig sollte die Revision von Verfassung und Gesetz in den Jahren 2003 und 2004 die Einbürgerung in der Schweiz erleichtern. Geplant war insbesondere, die Einbürgerung für Jugendliche der zweiten Einwanderergeneration (die Kinder von Einwanderern) zu liberalisieren, die automatische Einbürgerung der dritten Einwanderergeneration (die Enkel von Einwanderern) unter bestimmten Bedingungen zu ermöglichen sowie das Wohnsitzerfordernis des Bundes bei der ordentlichen Einbürgerung von zwölf auf acht Jahre und dasjenige der Kantone und Gemeinden auf höchstens drei Jahre zu senken.4 Der schweizerische Sou1 Bundesamt für Ausländerfragen, S. 11f. 2 Kritik an den missbräuchlichen Entscheiden wurde auch von der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) geübt. 3 Bundesgerichtsentscheide 1P.228/2002sta und 1P.1/2003sta. 4 P. Steiner, Das Bürgerrecht, S. 24.

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verän lehnte die Verfassungsvorlagen in der eidgenössischen Volksabstimmung vom 26. September 2004 deutlich ab; notabene der dritte Liberalisierungsversuch, der seit den 1980er Jahren am Volksmehr (Mehrheit der Volksstimmen) oder am Ständemehr (Mehrheit der Kantonsstimmen) scheiterte. Die abwehrende Haltung zeigt sich auch an der im internationalen Vergleich niedrigen »rohen Einbürgerungsziffer«5 der Schweiz. Im Jahr 1999 bürgerten Bund, Kantone und Gemeinden lediglich 1,5 % der ansässigen Ausländerinnen und Ausländer ein.6 Ein ähnlich ungünstiges Verhältnis zwischen der ausländischen Wohnbevölkerung und der Zahl der Einbürgerungen besaß in den Jahren 1998 und 1999 Deutschland mit rund 1,4 %. Um einiges höher lag damals hingegen die Einbürgerungsziffer in Frankreich mit 3,3 %, in Österreich mit 3,6 % oder in den Niederlanden mit 6,6 %.7 Bis ins Jahr 2005 ist die Einbürgerungsziffer in der Schweiz auf etwas über 2,5 % angestiegen.8 Die historisch gewachsene Dreistufigkeit des Schweizer Bürgerrechts erweist sich für die staatsbürgerliche Integration von Ausländerinnen und Ausländern als besonders hinderlich. Jede Schweizerin und jeder Schweizer gehört drei verschiedenen Gemeinwesen an: Gemeinde, Kanton und Bund. Das Schweizer Bürgerrecht wird entsprechend aus der Einheit des Gemeindebürgerrechts, des Kantonsbürgerrechts und des bundesstaatlichen Bürgerrechts gebildet, dies etwa im Gegensatz zu Deutschland, wo die Entkommunalisierung der Staatsangehörigkeit im Jahr 1870 abgeschlossen war.9 Der föderalistische Auf bau des Schweizer Bürgerrechts führt dazu, dass in den 26 Kantonen und den rund 2 800 Gemeinden der Schweiz unterschiedlichste Einbürgerungsverfahren anzutreffen sind.10 Außer dieser im internationalen Vergleich einzigartigen und unübersichtlichen Rechtssituation besitzt das Schweizer Bürgerrecht weitere Strukturmerkmale, welche die niedrige Einbürgerungsziffer erklären: die hohe Wohnsitzfrist und das in der Schweiz herrschende »ius sanguinis«, das Prinzip, nach dem die Staatsbürgerschaft von den Eltern bei Geburt auf die Kinder weitergegeben wird (»Abstammungs5 Unter der rohen Einbürgerungsziffer verstehen Piguet/Wanner, S. 22, die Anzahl »Einbürgerungen während eines Jahres im Verhältnis zur mittleren ausländischen Bevölkerung ... Die mittlere Bevölkerung wird geschätzt, indem der Durchschnitt aus der Bevölkerungsgrösse zu Beginn und am Ende des untersuchten Jahres berechnet wird.« 6 Bundesamt für Statistik, Tabelle G 1.7.2 7 Bundesamt für Ausländerfragen, Beilage 12, »Einbürgerungsquoten in verschiedenen europäischen Staaten«. 8 Bundesamt für Statistik, Tabelle G 1.7.2. Die geringen Einbürgerungsziffern korrelieren mit einem im internationalen Vergleich hohen Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung an der Gesamtbevölkerung. Im Jahr 1999 betrug der Ausländeranteil in der Schweiz 21,1 %, im Jahr 2005 waren es 21,9 %. Ebd., Tabelle G 1.1.1. Vgl. zur Zunahme der Einbürgerungen zwischen 1992 und 2004: P. Steiner, Das Bürgerrecht, S. 28f. 9 Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 167, sowie Schönberger, Unionsbürger, S. 115. 10 P. Steiner, Im Land, S. 12f.

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prinzip«).11 Weshalb aber gilt in der Schweiz nicht wie in andern Ländern das »ius soli«, nach dem die Kinder ausländischer Eltern bei Geburt auf Schweizer Boden automatisch die Staatsbürgerschaft erhalten (»Territorialprinzip«)? Warum wurde die in der Schweiz geltende zwölfjährige Wohnsitzfrist für die Einbürgerung etwa nicht dem im Jahr 1999 geltenden europäischen Mittel von fünf Jahren angeglichen?12 Und weshalb stellt das Schweizer Bürgerrecht noch immer ein dreistufiges Bürgerrecht dar, das in seiner Schwerfälligkeit und Unübersichtlichkeit den Herausforderungen moderner Migrationsgesellschaften nur schwer gerecht werden kann? Für die Kohäsion moderner Einwanderungsgesellschaften ist der Zugang zur Staatsbürgerschaft, verstanden als die rechtliche Mitgliedschaft von Personen in einem Staat und die damit verbundenen Rechte und Pflichten sowie die politische Partizipation, von zentraler Bedeutung.13 Einbürgerungen vergrößern die Zahl derer, die – bei gleichen Pflichten – mit freiheitlichen, politischen und sozialen Rechten ausgestattet sind, sie vergrößern also die demokratische Basis von Gesellschaften.14 Damit verbinden sich Chancen zur politischen und sozialen Partizipation, ein verbesserter Zugang zu Arbeitsplätzen und materiellen Gütern, zu Bildung und sozialer Sicherheit.15 Auf diese Weise bildet die Einbürgerung ein Instrument zur Durchsetzung größerer Chancengleichheit und antwortet auf die Herausforderungen auseinander strebender Kräfte in multikulturellen Gesellschaften.16 Analog zu diesem Verständnis von Staatsbürgerschaft wird im Folgenden der Begriff des »Schweizer Bürgerrechts« als die rechtliche Mitgliedschaft von Personen im schweizerischen Bundesstaat – vermittelt über die föderalistischen Stufen von Kantons- und Gemeindebürgerrecht – und die damit verbundenen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten sowie die politische Teilhabe verstanden.17 11 Vgl. zu den Einbürgerungsmöglichkeiten (Angebot) und den individuellen Gründen (Nachfrage) als Faktoren für die Einbürgerungsziffer: Piguet/Wanner, sowie zu den Faktoren für die kommunale Einbürgerungsziffer: Bolliger, S. 56–59. 12 Vgl. dazu: Bundesamt für Ausländerfragen, Beilage 11. Eine fünfjährige Wohnsitzfrist galt im Jahr 2000 beispielsweise in Belgien, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Island, den Niederlanden und Schweden. In Deutschland und Griechenland beträgt die Wohnsitzfrist acht Jahre. Im Falle Griechenlands gilt für im Land geborene und wohnende Ausländerinnen und Ausländer diese Frist nicht. 13 Vgl. zu diesem Verständnis von »Staatsbürgerschaft«: Appelt, Lister, Studer, Citizenship, sowie Wecker, »Ehe ist Schicksal«. 14 Vgl. dazu: D’Amato. 15 Die Verteilung von Lebenschancen durch die Staatsbürgerschaft hat Walzer zu einem Gegenstand seiner Forschung gemacht. Vgl. zur benachteiligten Stellung der ausländischen Wohnbevölkerung in Fragen der sozialen Sicherheit in der Schweiz: Kieser. 16 Vgl. zur multikulturellen Gesellschaft: Robertson-Wensauer, Hoffmann-Nowotny sowie Lauterbach. 17 Vgl. zur Terminologie das Kapitel »›Staatsbürgerschaft‹, ›Schweizer Bürgerrecht‹ und ›Nationalität‹«.

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Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht die Frage nach dem Zugang zum Schweizer Bürgerrecht zwischen 1848 und 1933. Welche Bevölkerungsgruppen wurden in die schweizerische Bürgergesellschaft integriert oder davon ausgeschlossen? Wie wandelten sich die Einbürgerungskriterien und -prozeduren? Wer besaß welche Rechte und Pflichten, wer wurde davon ausgeschlossen? Und schließlich: Wie ist der mit dem Schweizer Bürgerrecht verbundene Ein- und Ausschluss zu erklären? Wichtige Umbrüche der Bürgerrechtspolitik des Bundes fielen in den gewählten Zeitraum, Umbrüche, die teilweise bis heute nachwirken. Gleichzeitig setzten sich wichtige Elemente der jahrhundertealten Rechtstradition des Gemeinde- und Kantonsbürgerrechts fort. Das Wissen um die frühe Geschichte des dreistufigen Schweizer Bürgerrechts soll es erlauben, die oft verkürzten Argumente und vorschnell bezogenen Positionen in den konfliktreichen Debatten der Gegenwart mit historisch informierten Fragen zu kontrastieren.18 Die Kontrolle des Zugangs zur Staatsbürgerschaft und die Zuschreibung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten bilden aber nur eine Seite einer umfassenderen Problematik, die sich den bürgerlich-liberalen und nationalstaatlich organisierten Gesellschaften seit dem Ende des Ancien Régimes und besonders seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stellte.19 Damals stieg in Europa die grenzüberschreitende Mobilität in bisher ungekanntem Maß an.20 Die fortdauernde Industrialisierung, die Verschärfung der sozialen Frage sowie neue Verkehrsmittel und -wege standen in wechselseitigem Zusammenhang mit der starken Zunahme der Arbeitsmigration über die Ländergrenzen hinweg. Zur selben Zeit führten der Zerfall alter Reiche und die wiederkehrenden Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung in Kongresspolen und Russland zu großen Fluchtbewegungen. Millionen von Menschen verließen ihre Heimat auf der Suche nach einem sicheren Asyl.21 Damalige Auswanderungsländer wie die Schweiz sahen sich plötzlich mit der Situation konfrontiert, dass die Zahl der Einwanderer erstmals die Zahl der Auswanderer übertraf.22 In der Folge prägten zunehmend In- und Exklusionssemantiken die Politik der noch jungen europäischen Nationalstaaten. Verhandelt wurde dabei nicht nur die Frage, wer Bürger werden konnte, sondern auch, wer überhaupt Zugang zum staatlichen Territorium erhalten sollte. Darüber hinaus ging während des Ersten Weltkriegs die bis dahin geltende, internationale Personenfreizügigkeit zu Ende, was den Staaten neue Handlungsmöglichkeiten bei der Kontrolle der 18 Vgl. zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und politischem Engagement: J. Tanner, Geschichtswissenschaft. 19 Vgl. zur globalen Migration und zu globalen Staatsbürgerschaftskonzepten im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert: Lister, S. 42–65. 20 Vgl. dazu: Bade, S. 185f. und S. 209–222. 21 Gilbert, S. 76, sowie Kury u.a., S. 15f. 22 Vgl. dazu: Gruner/Wiedmer, S. 34–38.

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Grenzen zum staatlichen Territorium und der damit verbundenen Entwicklung von Identifikations- und Kontrolltechniken eröffnete.23 Die Einwanderungskontrolle und die Kontrolle des Zugangs zur Staatsbürgerschaft sind – in historisch variablen Konstellationen – wechselseitig aufeinander bezogen. Beispielsweise führten im Europa des 20. Jahrhunderts fest definierte nationalstaatliche Grenzen sowie die Selbstwahrnehmung eines Landes als Einwanderungsland tendenziell dazu, die Einwanderung zu begrenzen und gleichzeitig die Einbürgerung der zweiten und dritten Generation zu fördern.24 Auch in der Geschichte des Schweizer Bürgerrechts lassen sich solche Wechselwirkungen beobachten, die im Verlauf der Studie diskutiert werden. Von zentraler Bedeutung für die Kontrolle des Zugangs zur Staatsbürgerschaft wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Nationalisierung weiter Bereiche des gesellschaftlichen und politischen Lebens. 25 Recht, Politik und Vereinsleben, aber auch die Bilder vom »Eigenen« und »Fremden«, die sich bisher hauptsächlich an den Vorstellungen von der lokalen Gemeinschaft der ansässigen, männlichen und besitzenden Dorf- oder Stadtbürger orientiert hatten, richteten sich immer mehr am Bezugspunkt der Nation aus. Vor dem Hintergrund des integralen Nationalismus verbanden sich darüber hinaus rechtliche Normen und administrative Praktiken in wachsendem Maß mit Angstprojektionen und Abwehrverhalten gegen Ausländer. 26 Bei der Analyse des Zusammenhangs zwischen vorherrschenden Nationsvorstellungen und dem Zugang zur Staatsbürgerschaft liegt es nahe, eine über die gemeinsame Abstammung definierte Nation von Staatsbürgern mit dem Prinzip der automatischen Weitergabe der Staatsbürgerschaft von den Eltern auf die Kinder (»ius sanguinis«) in Verbindung zu bringen. Umgekehrt bietet es sich an, das »ius soli« mit Vorstellungen von der Nation zu kombinieren, die von einer gemeinsamen politischen Kultur innerhalb des staatlichen Territoriums ausgehen.27 Neuere Studien zur Staatsbürgerschaft in Deutschland und Frankreich haben jedoch gezeigt, dass der Zusammenhang zwischen nationalen Identitätsvorstellungen und dem Zugang zur Staatsbürgerschaft komplexer ist.28 Besonders die Rechtstradition, auf der die Staatsbürgerschaft bei 23 Vgl. zur Kontrolle nationalstaatlicher Grenzen: Noiriel, Die Tyrannei des Nationalen. Vgl. zur Entwicklung von Identifikations- und Kontrolltechniken: Fahrmeir, sowie für die Schweiz: Schwager. 24 Weil, Zugang zur Staatsbürgerschaft. Auf diesen Zusammenhang haben auch Zeitgenossen wie beispielsweise Ilg, S. 1f., aufmerksam gemacht. 25 Bade, S. 186. 26 Vgl. zu den unterschiedlichen Phasen des Nationalismus in Europa: Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 23, zum »Auf kommen des politischen Fremdenhasses«: ebd., S. 126, sowie zur ersten »Massenxenophobie« im späten 19. Jahrhundert: ders., Das Zeitalter der Extreme, S. 155. 27 Vgl. dazu: Brubaker. 28 Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, Weil, Qu’est-ce qu’un Français?.

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der Gründung eines Nationalstaats auf baute (in der Schweiz das armenrechtlich bedeutsame, zweistufige Kantons- und Gemeindebürgerrecht), sowie politische Herausforderungen (beispielsweise die Zunahme der grenzüberschreitenden Mobilität, die Einwanderungskontrolle oder der Erste Weltkrieg) waren oft von größerer Wichtigkeit als die herrschenden Nationsvorstellungen. Hingegen kann nicht bestritten werden, dass es in der Geschichte der europäischen Nationalstaaten wechselnde Konjunkturen gab, während derer sich nationale Identitätsvorstellungen direkt mit der Ausgestaltung des Zugangs zur Staatsbürgerschaft verbanden. Daher muss auch für das Schweizer Bürgerrecht nach dem sich wandelnden Verhältnis von Nationsvorstellungen und Staatsbürgerschaft gefragt werden. Aufgrund der erwähnten Interdependenzen geht die Untersuchung von der Hypothese aus, dass ein Bündel unterschiedlicher Faktoren die Entwicklung des Schweizer Bürgerrechts und die damit verbundenen Ausschließungs- und Integrationsdynamiken zwischen 1848 und 1933 prägte. Die bereits geschilderten Faktoren wie Rechtstradition, nationale Gemeinschaftsvorstellungen oder politische Herausforderungen sind allerdings durch einen weiteren Punkt zu ergänzen. Dabei handelt es sich um einen grundlegend neuen Regierungstypus, der sich parallel zu den bürgerlich-liberalen und marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert durchzusetzen vermochte: die »Gouvernementalität« im Sinne des französischen Philosophen Michel Foucault.29 Das Ziel gouvernementaler Regierung im bürgerlich-liberalen Zeitalter ist es, Maßnahmen zum Wohlergehen der Bevölkerung und des Einzelnen sowie zum Schutz der wirtschaftlichen und bürgerlichen Freiheit zu ergreifen, und zwar bei gleichzeitiger Selbstbeschränkung staatlicher Macht. 30 Gerade der schweizerische Bundesstaat bietet sich aufgrund des ausgeprägten Liberalismus zwischen 1848 und dem Ersten Weltkrieg für eine solche Lesart an. Das Ziel der Arbeit besteht darin, die sich wandelnden staatsbürgerlichen Ausschließungs- und Integrationsdynamiken im Rahmen der genannten Faktoren darzustellen und zu erklären. Dabei werden die beiden Begriffe der »Ein-« und »Ausschließung« beziehungsweise der »Inklusion« und »Exklusion« zunächst für den bürgerrechtlichen Ein- und Ausschluss verwendet: Zum einen ist damit die Zuschreibung und Gewährung sowie der Verlust und die Verweigerung des Bürgerstatus in modernen Nationalstaaten und – im Fall der Schweiz – auch in Kantonen und Gemeinden gemeint. Zum andern werden darunter die Gewährung und Zuschreibung sowie die Verweigerung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten verstanden, die in historisch wechselnden Variationen mit dem Bürgerstatus verbunden sind und in Teilen auch Nicht-Bürgern ge29 Vgl. dazu: Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 1 und 2. 30 Vgl. dazu die Ausführungen im Kapitel »Der schweizerische Bundesstaat und das Schweizer Bürgerrecht im Rahmen liberaler Gouvernementalität«.

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währt sowie Bürgern verweigert werden können. Darüber hinaus stellen die Begriffe der »Inklusion« und »Exklusion« in dieser Arbeit auch Kategorien zur Beschreibung sozialer (Chancen-)Ungleichheit dar, die über den Staatsbürgerstatus vermittelt werden.31 Dass sich Ausschließung und Integration wechselseitig bedingen, ist evident. Das dichotome Verständnis von »innen« und »außen« gilt es hingegen zu relativieren. Denn In- und Exklusionsdynamiken finden nicht nur aus oder in eine Gesellschaft, sondern auch und vor allem innerhalb der Gesellschaft statt.32 Zudem bildet nicht allein die Gesellschaft den Ort, in den Menschen integriert oder von dem sie ausgeschlossen werden. Ein- und Ausschluss erfolgt auch innerhalb, in und aus Gemeinschaften, in denen – mit Max Weber gesprochen – das soziale Handeln weniger zweck- oder wertrational bestimmt ist, sondern vor allem von Affekten, Gefühlslagen und Gewohnheiten.33 Weiter kann auch ein- und dieselbe Person oder Personengruppe zugleich von Formen der Inklusion und Exklusion betroffen sein, dann etwa, wenn einschließende Maßnahmen selbst wieder ausschließende Wirkungen hervorrufen oder die erhoffte Integration ausbleibt.34 Diese allgemeinen Feststellungen treffen auch auf die Wirkung der Staatsbürgerschaft zu. Die Zuschreibung der Staatsbürgerschaft bei Geburt sowie Einbürgerungsgesetze und -prozeduren generieren Ausschließungsdynamiken aus und Einschließungsdynamiken in die nationale Gemeinschaft der Staatsbürger und – im Fall des dreistufigen Schweizer Bürgerrechts – in die lokale Gemeinschaft der Kantons- und Gemeindebürger. Dabei werden einzelne Gruppen von Immigranten aufgrund ihres rechtlichen und sozialen Status, ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts oder ihrer Religion stärker vom Staatsbürgerstatus ferngehalten als andere Einwanderergruppen.35 Zudem bestand während unterschiedlicher Phasen des 20. Jahrhunderts in verschiedenen europäischen Ländern die Möglichkeit zur Ausbürgerung der eigenen Bürger. In der Schweiz bildeten zwei Bundesratsbeschlüsse von 1941 und 1943 bis ins Jahr 1949 die gesetzliche Grundlage für die Aberkennung des Bürgerrechts.36 Darüber hinaus existieren auch Formen des freiwillig gewählten Ausschlusses aus staatsbürgerlichen Bindungen. So können Schweizerinnen 31 Vgl. zu einer system- und gesellschaftstheoretischen Lesart der Begriffe »Inklusion« und »Exklusion« als Analysekategorien für das Ausmaß und die Qualität sozialer Ungleichheit durch funktionale Differenzierung bei Niklas Luhmann (in Anlehnung an Talcott Parsons): Farzin, S. 11 und S. 85f. 32 Vgl. dazu: Kronauer, S. 9. 33 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 13. 34 Vgl. dazu etwa die Ausführungen von Bourdieu/Champagne zum französischen Schulsystem seit den 1950er Jahren. 35 Vgl. dazu: Lister, S. 42–44. 36 Mit der Geschichte der Ausbürgerung in der Schweiz beschäftigt sich Nicole Schwalbach.

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und Schweizer auf Wunsch aus dem Schweizer Bürgerrecht entlassen werden, wenn sie eine andere Staatsangehörigkeit besitzen, oder in der Schweiz niedergelassene Ausländerinnen und Ausländer verzichten darauf, überhaupt ein Einbürgerungsgesuch zu stellen.37 Dynamiken der bürgerrechtlichen In- und Exklusion innerhalb einer Gesellschaft stehen dagegen vor allem mit der unterschiedlichen Gewährung, Zuschreibung und Verweigerung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten in Zusammenhang. In diesem Fall trifft der Ausschluss nicht nur Ausländerinnen und Ausländer, sondern auch Bürgerinnen und Bürger. Zwar sind Letztere in der Schweiz im Gegensatz zur ausländischen Wohnbevölkerung grundsätzlich im Besitz der politischen Rechte und die männlichen Bürger unterstehen der allgemeinen Wehrpflicht. Wie verschiedene Beispiele zeigen werden, konnten aber auch Bürgerinnen und Bürger von einzelnen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten ausgenommen sein. Die Analyse des staatsbürgerlichen Ein- und Ausschlusses erlaubt Aussagen über die Bedeutung der Staatsbürgerschaft für moderne, bürgerliche Gesellschaften. Sie lenkt den Blick auf die Funktionsweisen der In- und Exklusion, auf die betroffenen Personengruppen sowie – vermittelt über das Bild des »Fremden« – auf das normative Selbstbild der Bürgerschaft und die damit implizierten Erwartungen an die Lebens- und Verhaltensweisen der Bürgerinnen und Bürger selbst. Ein ergänzender Blick auf die dadurch gezogenen Grenzen zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen ermöglicht es zudem, die unterschiedliche Qualität des Ein- und Ausschlusses zu untersuchen und die Bedeutung des Schweizer Bürgerrechts für einzelne Personengruppen zu bewerten. In diesem Sinn gilt es nicht nur nach den In- und Exklusionsdynamiken und den ein- und ausgeschlossenen Personengruppen zu fragen, sondern auch danach, ob die jeweiligen Grenzziehungen zwischen den mit staatsbürgerlichen Rechten ausgestatteten Bürgern und den übrigen Bevölkerungsgruppen eher oberflächlich und zeitlich begrenzt oder tief greifend und aus zeitgenössischer Sicht von unbegrenzter Dauer waren. Die Rede ist hier in erster Linie von der fundamentalen Differenz der Geschichte des Schweizer Bürgerrechts zwischen Frauen und Männern. Wie kaum eine andere Einrichtung war das Schweizer Bürgerrecht im untersuchten Zeitraum durch die Kategorie »gender« geformt, das heißt durch die wahrgenommene Differenz zwischen den Geschlechtern, die sowohl diskursiv als auch durch die Erfahrung und Handlungsfähigkeit (»agency«) der historischen Subjekte konstruiert wird.38 Bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts waren die 37 Vgl. dazu: Piguet/Wanner. 38 Definition nach: Canning, Feminist History. Dagegen definierte Scott, S. 48, »gender« im Jahr 1986 als hauptsächlich diskursiv konstruierte Wahrnehmung geschlechtlicher Differenz. Vgl. zur Debatte über die Diskursivität von Geschlecht: Bos u.a., Opitz-Belakhal, Um-Ordnungen, S. 115–

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Grenzen, die das Schweizer Bürgerrecht zwischen den Geschlechtern zog, so tief greifend, dass sich die Geschichte des Bürgerrechts von Frauen – und somit von der Hälfte der Bevölkerung – nicht etwa im Sinne eines »Sonderfalls« in die Geschichte des Bürgerrechts von Männern eingliedern lässt. Am bekanntesten ist wohl die Tatsache, dass Schweizerinnen trotz der in der Bundesverfassung verbrieften Gleichheit vor dem Gesetz bis ins Jahr 1971 auf Bundesebene keine politischen Rechte besaßen. Ebenso galt das 1848 verankerte Prinzip der »Unverlierbarkeit« des Schweizer Bürgerrechts bis ins Jahr 1952 nur für Männer. Schweizerinnen verloren ihr Bürgerrecht, wenn sie einen Ausländer heirateten. Und schließlich gelangten bei Einbürgerungsgesuchen je nach Geschlecht der Gesuchstellenden verschiedene Kriterien zur Anwendung. 39 Die unterschiedliche Bewertung der Geschichte des Schweizer Bürgerrechts für Frauen und Männer korrespondiert mit der Theoriediskussion zum Verhältnis von Geschlechtergeschichte und »Allgemeiner Geschichte« seit den 1990er Jahren.40 In dieser Diskussion wird angesichts der oft ganz unterschiedlichen Bedeutung historischen Wandels für Frauen und Männer die Frage nach der »Tauglichkeit gängiger Geschichtsbilder und Periodisierungen«41 gestellt, die nur allzu oft die Geschichte von Männern zur »Allgemeinen Geschichte« erheben. Diese Debatte wird unter den führenden Vertreterinnen der Frauenund Geschlechtergeschichte kontrovers geführt. Wie Claudia Opitz-Belakhal ausführt, geht etwa Karin Hausen in Opposition zu einer vermeintlichen »Einheit der Geschichte« von einer »Vielzahl von Geschichten« aus, um sich von der männlich geprägten »Meistererzählung« zu verabschieden.42 Dagegen suchen Gianna Pomata und Lynn Hunt nach einer Verschmelzung von Geschlechtergeschichte und »Allgemeiner Geschichte«.43 Während Lynn Hunt für ein »Um-Schreiben der Geschichte«, das heißt für »neue Metanarrative« plädiert, welche die Geschlechterdimension einschließen, setzt sich Pomata für eine »geschlechtergeschichtlich fokussierte ›Allgemeine Geschichte‹« ein, womit die unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen von Frauen und Männern innerhalb einer »Meta-History« zur Geltung gelangen sollen.44 Die vorliegende Studie schließt sich der mittleren Position einer geschlechtergeschichtlich ausgerichteten »Allgemeinen Geschichte« an. Zwar wäre es 119, Strasser, S. 38–42, Studer, Von der Legitimations- zur Relevanzproblematik, S. 24, sowie Wecker, Zwischen Ökonomie und Ideologie, S. 25. Wertvolle Hinweise verdanke ich Regina Wecker. 39 Eine fundierte Studie zu feministischen Perspektiven auf die Staatsbürgerschaft bietet Lister. 40 Die Folgenden Ausführungen beziehen sich auf: Opitz-Belakhal, Um-Ordnungen, S. 237– 245. Vgl. dazu auch: Medick/Trepp, Studer, Von der Legitimations- zur Relevanzproblematik, sowie Wecker/Ziegler. 41 Opitz-Belakhal, Um-Ordnungen, S. 237. 42 Ebd., S. 241. 43 Ebd., S. 242–245. 44 Alle Zitate: ebd., S. 244f.

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wohl möglich, die Geschichte des Schweizer Bürgerrechts von Frauen und Männern aufgrund der fundamentalen Unterschiede als zwei parallele Geschichten zu erforschen und mit je eigenen Periodisierungen und Metanarrativen zu schreiben. Gleichzeitig sind aber beide Geschichten wechselseitig aufeinander bezogen, so dass die analytische Trennung und der mögliche Gewinn an Schärfe mit einem zu großen Verlust an Komplexität einhergingen. Deshalb soll in der vorliegenden Studie die Geschichte des Schweizer Bürgerrechts von Frauen und Männern sowohl mit den entsprechenden Eigenheiten als auch den wechselseitigen Bezügen erzählt werden. Um dieser historiografischen Vorentscheidung gerecht zu werden, soll ein Metanarrativ gewählt werden, das möglicherweise weit genug ist, um die Geschichte des Schweizer Bürgerrechts von Frauen und Männern darzustellen und einen allgemeinen Erklärungsansatz für die Ausprägung und den Wandel des Schweizer Bürgerrechts zwischen 1848 und 1933 zu bieten. Die bereits erwähnte Gouvernementalisierung moderner Gesellschaften im Sinne Michel Foucaults soll als solches Metanarrativ dienen.45 Ob dieses Narrativ dem konsequenten Einbezug der Kategorie »gender« tatsächlich standhält, wird im Verlauf der Untersuchung zu prüfen sein. So soll insbesondere diskutiert werden, ob die Interpretation des Schweizer Bürgerrechts als gouvernementale Regierungstechnik für Männer und für Frauen gilt oder ob Frauen in der Schweiz nicht bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in Herrschaftsverhältnisse eingebunden blieben, die eher dem Ancien Régime entsprachen denn dem bürgerlichen Zeitalter mit seinem Versprechen von Freiheit und Gleichheit. Zeitlich wird die Arbeit durch die Jahre 1848 und 1933 begrenzt. Den Ausgangspunkt bildet die Bundesstaatsgründung im Jahr 1848. Mit ihr fiel die Entstehung des dreistufigen Schweizer Bürgerrechts zusammen. Sie stellte einen Markstein im langlebigen Übergang von einer ständisch geprägten in eine bürgerlich-liberale und national strukturierte Gesellschaft dar. Dieser Übergang setzte in der Schweiz im ausgehenden 18. Jahrhundert ein und dauerte bis zur ersten Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung im Jahr 1874.46 Um dem heuristischen Potential des Übergangs gerecht zu werden, wird allerdings auch ein Blick auf die »longue durée« des kommunalen und kantonalen Bürgerrechts gerichtet, das bis in die Zeit der Reformation zurückreicht. Mit dem Jahr 1933 endet die Studie, dem Jahr, das mitten in die Zeit des »Rückzugs« des politischen Liberalismus zwischen 1914 und 1944 fiel, oder, wie Eric Hobsbawm es nennt, in das »Zeitalter der Katastrophe«.47 Dieser Rück45 Vgl. dazu das Kapitel »Der schweizerische Bundesstaat und das Schweizer Bürgerrecht im Rahmen liberaler Gouvernementalität«. 46 Graber, S. 456. 47 Beide Zitate: Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, S. 146. Vgl. zur »Krise des Liberalismus« auch Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 2, Vorlesung 3 (Sitzung vom 24. Januar 1979), S. 105f.

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zug wurde »durch Hitlers Machtübernahme als Reichskanzler Deutschlands im Jahr 1933 nur noch beschleunigt.«48 Die Zerschlagung zahlreicher liberaldemokratischer Regierungen nach 1918 ging auch an der Schweiz nicht spurlos vorüber.49 Hier setzte sich wie in andern europäischen Ländern ein kultureller und wirtschaftlicher Protektionismus durch, der vor dem Ersten Weltkrieg in diesem Ausmaß als undenkbar gegolten hatte.50 So wurde das während des Ersten Weltkriegs eingerichtete Vollmachtenregime des schweizerischen Bundesrats in der Zwischenkriegszeit nie mehr ganz aufgehoben.51 Gleichzeitig gewannen rechte, antiliberale Organisationen wie die »Neue Helvetische Gesellschaft« oder der »Schweizerische Vaterländische Verband« an Auftrieb.52 Die protektionistische und antiliberale Tendenz zeigte sich auch im schweizerischen Ausländerrecht. Nach der Auflösung von Niederlassungsverträgen mit europäischen Staaten während und nach dem Ersten Weltkrieg, der Gründung der »eidgenössischen Zentralstelle für Fremdenpolizei« im Jahr 1917 und der damit erfolgten Institutionalisierung des ethnisch-kulturell geprägten Überfremdungsdiskurses wurde am 26. März 1931 das »Bundesgesetz über Aufenthalt und die Niederlassung der Ausländer« (in Kraft: 1. Januar 1934) erlassen, dessen grundsätzlich restriktiver Charakter sich mit einer internen Weisung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements an die Kantone vom März 1933 und der Vollziehungsverordnung vom 5. Mai 1933 vollends offenbarte.53 Die nun erstmals gesetzlich geregelten Möglichkeiten des Bundes, den Aufenthalt und die Niederlassung ausländischer Staatsangehöriger zu regeln, ließen die Einbürgerung als Instrument zur Reduktion der ausländischen Wohnbevölkerung in den Hintergrund treten. Gleichzeitig nahmen die gesamtschweizerischen Einbürgerungsverschärfungen seit dem Ersten Weltkrieg bis zum bundesstaatlichen Bürgerrechtsgesetz von 1952 laufend zu. Erst seit den 1980er Jahren wurden einzelne Restriktionen wieder gelockert. Die Studie ist in sieben Kapitel gegliedert. Kapitel eins klärt die Terminologie und erläutert die theoretischen Grundlagen und Hypothesen, von denen die Untersuchung ausgeht. Dabei wird den bisherigen Erklärungsansätzen zur Staatsbürgerschaft als Repräsentation nationaler Gemeinschaftsvorstellungen oder als politisches Instrument in Fragen der Immigration oder der 48 Ders., Das Zeitalter der Extreme, S. 146. 49 Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, S. 145. 50 Vgl. dazu: Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 156, ders., Das Zeitalter der Extreme, S. 143–183, sowie Bade, S. 210. 51 Werner, S. 41. 52 Vgl. dazu: Kury, Über Fremde reden, S. 48–50. 53 Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer, vom 26. März 1931 (ANAG). Vgl. zur internen Weisung: BAR E 21 16054, Weisung des eidg. Justiz- und Polizeidepartements zum Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931, sowie zur Vollziehungsverordnung: Ludwig, S. 25.

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staatlichen Zentralisierung ein weiterer Erklärungsansatz zur Seite gestellt: das Herrschaftskonzept der Gouvernementalität, in dessen Rahmen das Schweizer Bürgerrecht zwischen 1848 und 1933 als Regierungstechnik eines bürgerlichliberalen Staats gedeutet wird. Das zweite Kapitel stellt die langlebige Entwicklung des schweizerischen Gemeinde- und Kantonsbürgerrechts seit der Reformation in einem Überblick dar. Gefragt wird hier nach der Entwicklung und Tradition des schweizerischen Gemeinde- und Kantonsbürgerrechts, auf der das dreistufige Schweizer Bürgerrecht im Jahr 1848 auf baute. Insbesondere soll geklärt werden, wie die kantonalen und kommunalen Bürgerrechte aufeinander bezogen waren und wie sich das herrschaftliche Verhältnis zwischen Kantonen und Gemeinden (und nach 1848 zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden) auf die Entwicklung der politischen und armenrechtlichen Bedeutung des Gemeindebürgerrechts in der Schweiz auswirkte. Zudem soll gefragt werden, mit welchen Kriterien der bürgerrechtliche Ein- und Ausschluss vor 1848 traditionellerweise begründet wurde. Kapitel drei beschäftigt sich mit der Nation als »vorgestellter Gemeinschaft«54 und deutet diese als ein neues, seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auf kommendes und zunehmend bedeutendes Kriterium für den staatsbürgerlichen Ein- und Ausschluss. Darüber hinaus wird auf der Grundlage der bestehenden Forschungsliteratur das Verhältnis zwischen Nation und weiteren Kriterien des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses diskutiert: zwischen Nation und Geschlecht, Religion, sozialer Schicht und dem rechtlichen Status des Ausländers. Ebenso beschreibt das Kapitel die Entwicklungslinien nationaler Gemeinschaftsvorstellungen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Die Kapitel vier bis sieben bilden den Kern der Untersuchung. Kapitel vier behandelt das Schweizer Bürgerrecht in der Zeit zwischen der ersten Bundesverfassung aus dem Jahr 1848 und der Totalrevision der Verfassung im Jahr 1874. In dieser Phase standen die rechtliche Gleichstellung der christlichen Schweizer Männer im gesamten Gebiet der Schweiz, die so genannte »Inländergleichstellung«, und die Einbürgerung der »heimatlosen« Bevölkerung im Zentrum der bundesstaatlichen Bürgerrechtspolitik. Gleichzeitig besaß der Bund noch kaum Kompetenzen in Einbürgerungsfragen. Nach den Ausführungen zur frühen bundesstaatlichen Bürgerrechtspolitik wird der Einfluss bundesstaatsrechtlicher Lehren auf das föderalistische Staatsangehörigkeitsrecht der Schweiz diskutiert. Ebenso wird in Kapitel vier die Frage zu beantworten sein, wie die Weiterführung des traditionellen »ius sanguinis« durch den Bund im Jahr 1848 im Vergleich mit Deutschland und Frankreich zu erklären ist. Zentral für die Zeit zwischen 1848 und 1874 sind schließlich die Exklusionsdynamiken, die im Zuge der Inländergleich54 Anderson, S. 14.

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stellung verschiedene Personengruppen trafen und entsprechend aufgezeigt werden sollen. Das fünfte Kapitel umfasst die Phase zwischen 1874 und 1914, während der die Immigration in die Schweiz stark zunahm. Es schildert die verstärkte Kontrolle der ausländischen Bürgerrechtsbewerber durch die Bundesbehörden infolge des ersten bundesstaatlichen Bürgerrechtsgesetzes im Jahr 1876 und – ab 1898 – die bundesstaatlichen Bestrebungen zur Reduktion der Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung durch die erleichterte Einbürgerung. Bei den Debatten um die Einführung des schweizerischen »ius soli« im ausgehenden 19. Jahrhundert gilt es, das französische Territorialprinzip als Vergleichsgröße in die Arbeit einzubeziehen. Zudem wird nach der damaligen Vorreiterrolle des Kantons und der Stadt Zürich für die bundesstaatliche Bürgerrechtspolitik zu fragen sein. Zürich wurde deshalb gewählt, weil die Kantone mit größeren städtischen und industrialisierten Zentren um 1900 die Einbürgerung erleichtern wollten und insbesondere Zürcher Behördenvertreter auf ein gesamtschweizerisches Vorgehen drängten. Das sechste Kapitel wechselt von der bundesstaatlichen auf die kantonale und kommunale Ebene, um den föderalistischen Auf bau des Schweizer Bürgerrechts zu veranschaulichen. Es vermittelt am Beispiel des Kantons BaselStadt und der Stadt Basel einen Einblick in die Funktionsweise des kantonalen und kommunalen Bürgerrechts und hebt die Bedeutung lokaler Gemeinschaftsvorstellungen, bürgerlicher Armenunterstützung und des damit verbundene Spannungsverhältnisses zwischen Gemeinde, Kanton und Bund exemplarisch hervor. Der Kanton Basel-Stadt war, was die Einbürgerung betraf, um die vorletzte Jahrhundertwende der liberalste Kanton in der Schweiz. Der Einbezug dieses Kantons erlaubt es, die Frage zu diskutieren, durch welche Faktoren eine liberale Einbürgerungspolitik auf kantonaler und kommunaler Ebene erschwert oder verhindert wurde.55 Anhand ausgewählter Einbürgerungsfälle soll weiter geklärt werden, welche Ausschließungs- und Integrationsdynamiken auf der Ebene der Einbürgerungsprozeduren zum Zuge kamen und welchen Gesetzmäßigkeiten sie folgten. Der Wandel von den bundesstaatlichen Integrationsbestrebungen zur gesamtschweizerischen Fremdenabwehr in den Jahren zwischen 1914 und 1933 ist Gegenstand von Kapitel sieben. Nach einem Rückblick auf die veränderten Vorstellungen von der schweizerischen Nation seit 1900 wird die Geschichte der bundesstaatlichen Bürgerrechtspolitik in drei Etappen dargestellt: von der Formierung des ethnisch-kulturell aufgeladenen Überfremdungsdiskurses in intellektuellen Kreisen und zivilgesellschaftlichen Vereinigungen seit 1910 über die Erhöhung der Wohnsitzfrist für Einbürgerungen von zwei auf vier 55 Eidgenössisches statistisches Bureau, S. 24. Zwischen 1889 und 1908 besaß der Kanton BaselStadt mit durchschnittlich 1,18 % die höchste Einbürgerungsziffer der Schweiz.

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Jahre und die Schaffung der »Zentralstelle für Fremdenpolizei« im Kriegsjahr 1917 bis zur Diskussion um die Einführung des »ius soli« in der Schweiz zwischen 1919 und 1928. Abschließend wird mit einem Blick auf die gesetzliche Verfestigung der schweizerischen Fremdenabwehr bis ins Jahr 1933 die Frage diskutiert, ob und inwiefern der Erste Weltkrieg eine Zäsur in der Geschichte des Schweizer Bürgerrechts darstellte. Das Quellenkorpus für die Erforschung der Bürgerrechtspolitik und -gesetzgebung setzt sich hauptsächlich aus bundesstaatlichen und kantonalen Verfassungs- und Gesetzestexten sowie aus Bundesratsbeschlüssen, Parlamentsdebatten, Kommissionsprotokollen und -berichten des National- und Ständerats (große und kleine Kammer des schweizerischen Parlaments), Expertenberichten, Botschaften des Bundesrats und Ratschlägen der Basler Kantonsregierung (Berichte der Exekutive zu den Verfassungs- und Gesetzesvorlagen zu Händen des Parlaments) zusammen. Sie geben Auskunft über den Wandel der gesetzlichen Normen und die entsprechenden juristischen und politischen Diskurse. Ausgewählte Verwaltungsberichte und Kreisschreiben des Bundesrats, interne Akten der eidgenössischen Departemente, Statistiken und juristische Abhandlungen zum Schweizer Bürgerrecht kommen ergänzend hinzu. Für die Erforschung der kommunalen Einbürgerungsprozeduren in Basel und Zürich wurden in erster Linie Akten zu Einbürgerungsfällen, Gemeinderatsprotokolle, kommunale Rechenschafts- und Kommissionsberichte, interne Weisungen zur bürgerrätlichen Praxis sowie kommunale Verlautbarungen zu den kantonalen Gesetzesrevisionen herangezogen. Die Einbürgerungsfälle wurden stichprobenweise in die Untersuchung einbezogen. Zur Auseinandersetzung mit den Wirkungen der Zwangseinbürgerung von heimatlosen und »nicht-sesshaften« Personen in der Zeit nach 1850 lag als außergewöhnliche Quelle das »Stammbuch« des Schwyzer Bezirks Einsiedeln vor, ein zwischen 1851 und 1867 geführtes Register der dort zwangseingebürgerten Personen und Familien. Für die Analyse nationaler Gemeinschaftsvorstellungen waren zeitgenössische Schriften zur Nation, Verfassungsartikel, Botschaften und Akten des Bundesrats sowie die parlamentarischen Debatten von Bedeutung. Der Einfluss zivilgesellschaftlicher Akteure auf die schweizerische Bürgerrechtspolitik wurde anhand von Jahresberichten und Protokollen von Vereinen und anderen Organisationen untersucht, hauptsächlich von der so genannten »Neunerkommission« oder der Neuen Helvetischen Gesellschaft, den nach 1900 wichtigsten Pressuregroups im Bereich der schweizerischen Bürgerrechtspolitik. Ergänzend hinzugezogen wurden schließlich Akten aus der Zeit der Helvetischen Republik (des ersten schweizerischen Einheitsstaats zwischen 1798– 1803) sowie der Eidgenossenschaft zwischen 1803 und 1848, insbesondere interkantonale Abkommen, so genannte »Konkordate«, sowie die (Kommissions-)Protokolle der Tagsatzung zum Entwurf der Bundesverfassung von 1848. Verzichtet wurde dagegen bis auf wenige Ausnahmen auf den Einbezug der 24 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

medialen Öffentlichkeit. Die Bürgerrechtsdebatten wurden bis in die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg kaum von einer breiteren Öffentlichkeit rezipiert. Die genannten Quellen befinden sich im Schweizerischen Bundesarchiv, dem Basler Staatsarchiv, dem Zürcher Stadtarchiv und dem Einsiedler Gemeindearchiv. Aufgrund des über achtzigjährigen Untersuchungszeitraums ergibt sich ein umfangreiches Quellenkorpus, das sich größtenteils durch Vollständigkeit und gute Erschlossenheit auszeichnet. In den konsultierten Quellen kommt in erster Linie die Sicht der Behörden und Experten zum Zug. Nur vereinzelt lassen sich Äußerungen von Bürgerrechtsbewerberinnen und -bewerbern, beispielsweise in Form von Briefen, finden. Eine Besonderheit der fast lückenlos erhaltenen Einbürgerungsdossiers stellt der Sachverhalt dar, dass es sich dabei nicht wie beispielsweise bei Gerichtsakten in erster Linie um Konfliktfälle handelt, sondern vor allem um den Normalfall kommunalen und kantonalen Handelns im Bereich des Bürgerrechts. In der Arbeit gelangen verschiedene historisch-kritische Methoden zur Anwendung. Der Analyse der politischen, juristischen und behördlichen Expertendiskurse liegt der Diskursbegriff von Michel Foucault zugrunde. Danach werden Diskurse als Mengen von Aussagen verstanden, die bestimmten Regeln folgen, räumlich und historisch begrenzt und von Machtverhältnissen und Institutionen nicht zu trennen sind.56 So wird bei der Analyse von Diskursen nicht nach den Intentionen der Sprechenden oder dem Sinn des Gesagten, sondern nach den Regeln des Diskurses, seinen medialen Bedingungen und Zeichensystemen gefragt.57 Mögliche Fragen, wie Jürgen Link sie formuliert hat und die auch in der vorliegenden Studie gestellt werden, lauten dann: »Welche Aussagen und welche Verkettungen werden von allen Beteiligten als selbstverständliche ›Wahrheiten‹ ins Spiel gebracht? Welche Gegenstände werden allgemein akzeptiert?«58 Die Analyse von Diskursen wird durch die Interdiskursanalyse nach Jürgen Link ergänzt. Danach bestehen Interdiskurse aus Elementen, beispielsweise aus »Kollektivsymbolen«, »Themen«, »Problemen« oder 56 Foucault, Archäologie des Wissens, S. 42–44 und S. 75–77. Vgl. dazu: ders., Die Ordnung des Diskurses, Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 34, sowie Link, Diskursive Ereignisse, S. 152. Foucault, Archäologie des Wissens, S. 70, unterschied nicht zwischen »Diskurs« und »Praxis«, sondern verstand «den Diskurs selbst als Praxis». Bublitz, S. 22, definiert »Diskurse« als »geregelte, regulierte und regulierende – gesellschaftliche – Praxis«. »Praxis« meine also nicht eine bewusste Anwendung von Theorien oder den performativen Ausdruck von Strukturen. Dennoch lasse sich »der Raum der nicht-diskursiven Praktiken – der institutionellen Praxen, politischen Ereignisse, ökonomischen Prozesse – als ›komplementärer Raum‹ um die diskursiven Aussagen herum von diesen unterscheiden, ohne dass beide in einem kausalen Verhältnis zueinander stehen.« Ebd., S. 24f. Die Verwendung der Begriffe »Praxis« und »Praktiken« lehnt sich in dieser Arbeit an das Verständnis von Bublitz an. 57 Foucault, Archäologie des Wissens, S. 45, S. 58 und S. 72f. Vgl. dazu: Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, S. 37. 58 Link, Diskursive Ereignisse, S. 150.

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»Argumenten«, die in verschiedenen Spezialdiskursen vorkommen.59 Interdiskurse überbrücken Spezialwissen, besitzen also die Funktion einer »kulturellen Integration und Generalisierung selektiven Wissens für die Subjekte.«60 Die Interdiskursanalyse fragt entsprechend danach, in welchen verschiedenen Spezialdiskursen ein »Diskurskomplex« wie beispielsweise derjenige der »Überfremdung« gleichzeitig reproduziert wird, welche interdiskursiven Elemente »gleichzeitig in mehreren Spezialdiskursen« auftreten und wie sie miteinander kombiniert oder »verkettet« werden.61 Für die Auseinandersetzung mit den Einbürgerungsfällen und dem Handeln kommunaler Behörden wird dagegen im Sinne einer deutenden Kulturtheorie – hier in Anlehnung an Clifford Geertz – davon ausgegangen, dass menschliches Handeln einen »metasozialen Kommentar« 62 darstellt, das heißt eine Lesart der in einer Gesellschaft geltenden Regeln und Statusunterschiede. Insofern kann das kommunale Einbürgerungsverfahren als eine Interpretation lokaler Gemeinschaften über sich selbst verstanden werden, mit Geertz gesprochen als »Text« im »selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe« der »Kultur«.63 Außerdem wird zu fragen sein, ob auch ideengeschichtliche Faktoren wie die zeitgenössischen staatsrechtlichen Lehren vom Bundesstaat oder ein republikanisches beziehungsweise liberales Bürgerverständnis die Ausprägungen des Schweizer Bürgerrechts bestimmten.64 Der Analyse nationaler Gemeinschaftsvorstellungen liegt dagegen das konstruktivistische Verständnis der Nation als »imagined community« nach Benedict Anderson zugrunde.65 Schließlich werden auch strukturgeschichtliche Aspekte in die Erklärung der Genese und Entwicklung des Schweizer Bürgerrechts einzubeziehen sein. Insbesondere gilt es, den Wandel des Schweizer Bürgerrechts in gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Zusammenhänge zu stellen.66 Die genannten Ansätze und der aktuelle Stand der Forschung werden im ersten Kapitel diskutiert. Auf die jüngeren Debatten zu Nation und Nationalismus wird zu Beginn von Kapitel drei eingegangen. Deshalb wird an dieser Stelle darauf verzichtet, eine umfassende Darstellung des Forschungsstandes zu Staatsbürgerschaft und Nation vorzunehmen. Hingegen soll in einem kurzen 59 Alle Zitate: ebd., S. 154. 60 Ebd., S. 155. 61 Alle Zitate: ebd., S. 154. 62 Geertz, »Deep play«, S. 233, Anmerkung 21. 63 Kultur stellt gemäß Geertz, Dichte Beschreibung, S. 9 und S. 18, einen kollektiven, »öffentlichen Bedeutungsrahmen« für menschliches Handeln dar. Alle Zitate: ebd. Vgl. dazu: J. Tanner, Historische Anthropologie. 64 Vgl. zur Ideengeschichte: Lottes. 65 Vgl. zum Konzept der Nation als »imagined community«: Anderson sowie das Kapitel »Nation als vorgestellte und politische Gemeinschaft«. 66 Vgl. dazu: Ziemann, insbesondere S. 93–96, sowie Eibach, insbesondere S. 18–21.

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Überblick auf diejenigen Forschung hingewiesen werden, die sich hauptsächlich mit dem Schweizer Bürgerrecht auseinander setzt. Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurden der Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts sowie die Zuschreibung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten in der Schweiz fast ausschließlich von Juristen und Politikern diskutiert.67 In der Zwischenkriegszeit setzten sich unter dem Signum der damaligen »Überfremdungsbekämpfung« auch die bundesstaatlichen Beamten der eidgenössischen Fremdenpolizei, die ebenfalls Juristen waren, theoretisch mit dem Thema auseinander.68 Erst seit den ausgehenden 1960er, besonders aber seit den 1980er Jahren haben sich verschiedene Arbeiten dem Thema des Schweizer Bürgerrechts aus historischer,69 soziologischer70 und ethnologischer71 Perspektive genähert. Eine wichtige Bedeutung für die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Schweizer Bürgerrecht erlangten die Arbeiten von Gérald Arlettaz, der die Zeit des Ersten Weltkriegs als eine tief greifende Zäsur in der Entwicklung der schweizerischen Einbürgerungs- und Migrationspolitik darstellte.72 Seit den 1990er Jahren ist eine Reihe von Lizentiatsarbeiten entstanden, die sich ebenfalls mit der Geschichte der Einbürgerung befassten.73 Während die Erforschung der Staatsbürgerschaft von Frauen seit den späten 1980er Jahren auf internationaler Ebene zunahm,74 rückte seither die Kategorie »Geschlecht« bzw. »gender« auch in der Forschungsliteratur zum Schweizer Bürgerrecht zunehmend zu einer zentralen Untersuchungskategorie auf.75 Darüber hinaus erfolgte die Auseinandersetzung mit dem Schweizer Bürgerrecht auch im Zusammenhang mit dem Antisemitismus,76 der »Heimatlosigkeit« und

67 Affolter, Grundzüge, ders., Die individuellen Rechte, Bluntschli, P. Burckhardt, Carlin, Fasel, Göttisheim, Die Einbürgerung der Ausländer, ders., Das Ausländerproblem, Rennefahrt, SauserHall, La nationalisation, ders., Rapport, sowie ders., Le droit d’option. 68 Delaquis, Im Kampf, ders., Der neueste Stand, sowie Ruth. 69 Argast, Bürgerrecht und Kriminalisierungsprozesse, dies. u.a., G. Arlettaz, Démographie, ders., Les effets, ders., La Nouvelle Société Helvétique, G. Arlettaz/S. Burkart, G. Arlettaz/S. Arlettaz, S. Arlettaz, Kury/Kreis, Pfister, Schläpfer sowie Wecker, »Schweizer machen«. 70 Arend/Fähnrich. 71 Achermann/Gass, Von Zugehörigkeit, dies., StaatsbürgerInnen werden, Centlivres, ders. u.a., Centlivres/Schnapper, Steiner/Wicker, Einbürgerungen, sowie dies., Paradoxien. 72 G. Arlettaz, Les effets. 73 Zu Zürich: Dütschler; zu Bern: Luce; zu Basel-Stadt: Strasky, Imboden, Kocher, Montanari Häusler; zu Baselland: Argast, Die Bürgerrechtsgesetze; zur Wiedereinbürgerung von Frauen: Schuppisser; zum »ius soli«: Notz. 74 Appelt, Bock/James, Canning, Gender History, Kessler-Harris, Lister, Pateman, Werbner/Yuval-Davis. 75 Studer, »L’Etat c’est l’homme«, dies., Citizenship, Wecker, Staatsbürgerrechte, sowie dies., »Ehe ist Schicksal«. 76 Kamis-Müller.

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»Nicht-Sesshaftigkeit«,77 xenophoben Diskursen,78 der Geschichte der eidgenössischen Fremdenpolizei79 sowie sozialstaatlichen Leistungen.80 Insgesamt aber bildeten die Kategorien »Geschlecht« und »Ethnie« einen Schwerpunkt in der Beschäftigung mit dem Schweizer Bürgerrecht. Die Kategorie der »sozialen Schicht«, die für die Entwicklung der staatsbürgerlichen Ausschließung und Integration in der Schweiz besonders auch aufgrund der Verbindung zwischen kommunalem Bürgerrecht und Armenrecht von großer Bedeutung ist, trat dahinter zurück.

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Meier/Wolfensberger. Garrido, Kury, Über Fremde reden. Gast. Kiener.

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I. Analytische Kategorien und Forschungspositionen 1. »Staatsbürgerschaft«, »Schweizer Bürgerrecht« und »Nationalität« Der Begriff »Staatsbürgerschaft« umfasst die rechtliche Mitgliedschaft von Personen in einem Staat sowie die Rechte und Pflichten, die diesen Personen in ihrer Eigenschaft als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger des jeweiligen Landes zukommen.1 Darüber hinaus verweist der Terminus auf die politische Partizipation der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger.2 In dieser zugleich juristischen und sozialwissenschaftlichen Verwendung stellt der Begriff »Staatsbürgerschaft« eine Übersetzung des englischen Begriffs »citizenship« und des französischen Terminus »citoyenneté« dar.3 Demgemäß ist »Staatsbürgerschaft« ein normativer Begriff, der ein analytisches Konzept für die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis sowohl zwischen einem Staat und seinen Mitgliedern als auch zwischen den einzelnen Bürgern beziehungsweise Bürgerinnen bereitstellt. Gleichzeitig sind die Begriffe »Staatsbürgerschaft«, »citizenship« und »citoyenneté« eng mit der Entstehung und Entwicklung des jeweiligen Nationalstaats verbunden und besitzen entsprechend historisch wechselnde Bedeutungen. Dies soll am Beispiel der Entwicklung des Begriffs »Staatsbürgerschaft« in Deutschland im Vergleich mit dem französischen Terminus »citoyenneté« kurz veranschaulicht werden, um danach auf den Begriff des »Schweizer Bürgerrechts« einzugehen. Die moderne Staatsbürgerschaft und der mit freiheitlichen und politischen Rechten ausgestattete Staatsbürger waren eine »Erfindung« der Französischen Revolution von 1789.4 Insofern stellten die französischen Begriffe »citoyenneté« und »citoyen« von Anfang an politische Termini dar. In Abkehr von der ständischen Ungleichheit des Ancien Régimes beruhten sie auf den Prinzipien der Unmittelbarkeit der Individuen zum Staat, der bürgerlichen Gleichheit und der politischen Partizipation. Dagegen wurde der Terminus »Staatsbürgerschaft« in Deutschland, wie Dieter Gosewinkel ausführt, bis weit ins 20. Jahr1 Marshall, S. 57, sowie Appelt, S. 14. 2 Vgl. zur Deutung von »citizenship« als »human agency« verstanden als politische Partizipation: Lister, S. 1–41. 3 Gosewinkel, Untertanenschaft, S. 507. 4 Brubaker, S. 62, sowie Weil, Qu’est-ce qu’un Français?, S. 18f. Vgl. zu den folgenden Ausführungen: Brubaker, S. 62–78.

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hundert hinein von Juristen definiert. Das habe dazu geführt, dass sich der Begriff »im Verlauf seiner historischen Entwicklung auf die ausschließlich juristische Bedeutung einer formalen, rechtlich definierten Angehörigkeitsbeziehung zum Staat verengt«5 habe. Das Synonym dafür habe während langer Zeit »Staatsangehörigkeit« gelautet. Erst seit den 1980er Jahren werde der Begriff »Staatsbürgerschaft« in Deutschland zunehmend auch im »Sinn eines Staatsbürgerstatus« 6 verstanden, der bürgerliche und politische Rechte einschließt. In den ersten deutschen Verfassungen von 1818 und 1848 sei der Gebrauch des Wortes »Staatsbürgerschaft« dagegen durch »die fundamentale Gleichheit der Staatsmitglieder im Verhältnis zueinander« dominiert worden und nicht durch die politischen Rechte wie in Frankreich. Entsprechend könne der historische Wortgebrauch als »beinahe gleichbedeutend mit dem Status der Staatsangehörigkeit« angesehen werden. So habe auch der Begriff des »Staatsbürgers« in der juristischen Sprache Deutschlands lediglich auf die »Philosophie der Auf klärung mit ihrem Ideal des autonomen Individuums und der Gleichheit [verwiesen], die feudale Rechtsabstufungen ablöste.«7 Die politischen Rechte hätten dagegen im deutschen Begriff des »Staatsbürgers« bis in die neueste Zeit nicht mitgeschwungen.8 Trotz der juristischen Definitionstradition findet sich der Begriff »Staatsbürgerschaft« weder in der deutschen Verfassung noch in deutschen Gesetzen wieder. Vielmehr ist es der Begriff der »Staatsangehörigkeit«, der bis heute die Mitgliedschaft im deutschen Staat umschreibt.9 Diese geteilte Begrifflichkeit »zwischen der rechtlich-formalen Staatsangehörigkeit und dem politischen Rechtsstatus der Staatsbürgerschaft« spiegelt gemäß Gosewinkel in der deutschen Begriffsgeschichte »die Schwäche der demokratischen Tradition, wohingegen beide Bedeutungen in citizen bzw. citoyen zusammengehalten werden.«10 Auch in der Schweiz lässt sich der Begriff der »Staatsbürgerschaft« weder in Verfassungen noch in Gesetzen finden.11 Die schweizerische Rechtslite5 Gosewinkel, Untertanenschaft, S. 507. 6 Ebd. Vgl. zu dieser Verwendung auch: Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 12, Mackert, S. 11, sowie Mackert/Müller, S. 14. 7 Alle Zitate: Gosewinkel, Untertanenschaft, S. 507–509. 8 Ebd., S. 518. Vgl. dazu Grawert, Spalte 1802: In der Bundesrepublik Deutschland sei »›Staatsbürger‹ kein verfassungsnormativer, sondern ein dogmatischer Begriff [gewesen], der sich auf das verfassungsrechtliche Demokratieprinzip bezieht und dementsprechende Mitwirkungsrechte und -pflichten umschreibt.« 9 Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 12. Vgl. auch: Brubaker, S. 79, sowie Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. 10 Gosewinkel, Untertanenschaft, S. 507. 11 Lediglich in Österreich bildet der Terminus »Staatsbürgerschaft« einen festen Begriff der Rechtsliteratur. In seiner juristischen Semantik bedeutet er dort die rechtliche Mitgliedschaft im österreichischen Staat. Vgl. Webservice der Stadt Wien.

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ratur kennt dagegen den Begriff des »Schweizer Bürgerrechts«, der sich mit der Entstehung des Bundesstaats im Jahr 1848 gesamtschweizerisch durchsetzte.12 Bei der Definition des Begriffs »Schweizer Bürgerrecht« stehen sich zwei Deutungen gegenüber: Zum einen wird darunter die bloße rechtliche Mitgliedschaft im schweizerischen Bundesstaat verstanden, zum anderen die Mitgliedschaft inklusive der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten sowie der politischen Partizipation. Als Verfechter einer rein mitgliedschaftlichen Deutung des Begriffs sei hier auf den Schweizer Staatsrechtler Zaccaria Giacometti verwiesen. Er definierte in seinem 1949 herausgegebenen Überblickswerk »Schweizerisches Bundesstaatsrecht« das Schweizer Bürgerrecht lediglich als einen »Status«.13 Der Begriff des »Status« drückt nach der aktuellen Lehre gemäß den Staatsrechtlern Ulrich Häfelin und Walter Haller die »Zugehörigkeit einer Person zum schweizerischen Staatenverband«14 aus. In diesem Sinn sei der Terminus »›Schweizer Bürgerrecht‹ gleichbedeutend mit ›schweizerischer Staatsangehörigkeit‹«.15 Gleichzeitig verweisen die beiden Staatsrechtler aber auch in Analogie zur französischen »citoyenneté« oder der amerikanischen »citizenship« auf die doppelte Semantik des Begriffs »Schweizer Bürgerrecht«. Sie geben zu bedenken, dass »bestimmte Rechtsfolgen« an die »Staatsangehörigkeit« geknüpft sind, »und insofern erwachsen aus dem Bürgerrecht besondere Rechte und Pflichten …, die Ausdruck der besonderen Verbundenheit zum schweizerischen Staat sind.«16 Für die vorliegende Arbeit gilt das weiter gefasste Verständnis des Begriffs »Schweizer Bürgerrecht«, das außer der staatlichen Mitgliedschaft auch die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten sowie die politische Partizipation einschließt. Zwei Gründe haben zu dieser Entscheidung geführt. Zum einen gibt es in der älteren juristischen Literatur der Schweiz mehrere Belege dafür, dass sowohl der Ausdruck »Schweizer Bürgerrecht« als auch die Termini »Kantons-« oder »Gemeindebürgerrecht« nicht nur als rechtliche Mitgliedschaft im Staat beziehungsweise im Kanton oder in der Gemeinde begriffen wurden. In seiner Dissertation »Das Schweizerbürgerrecht« aus dem Jahr 1892 formulierte etwa der Jurist Walther Rieser: »Bürgerrecht endlich bezeichnet den Inbegriff der Befugnisse und Pflichten der Bürger.«17 Und noch ein halbes Jahrhun12 Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff »Schweizer Bürgerrecht« zusammengeschrieben. In der vorliegenden Arbeit wird mit Ausnahme von Quellenzitaten die heute gebräuchliche, das heißt die getrennte Schreibweise verwendet. 13 Giacometti, S. 177, Anmerkung 2. Vgl. dazu: Fleiner. 14 Häfelin/Haller, S. 172. Vgl. zur unterschiedlichen Verwendung des Begriffs »Staatsbürgerstatus«: Marshall, S. 57. 15 Häfelin/Haller, S. 172. Vgl. zu diesem Verständnis: Grawert, Spalte 1801. Den historischen Beleg für eine solche Verwendung geben: Rennefahrt, S. 695, sowie Rigert, S. 25. 16 Häfelin/Haller, S. 172. 17 Rieser, S. 10. Vgl. in diesem Sinne auch: Rüttimann, Über die Geschichte, S. 14.

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dert später – nur wenige Jahre vor der Veröffentlichung von Zaccaria Giacomettis »Schweizerischem Bundesstaatsrecht« und der darin favorisierten mitgliedschaftlichen Definition des Begriffs »Schweizer Bürgerrecht« – war in der rechtswissenschaftlichen Doktorarbeit von Arnold Stahel aus dem Jahr 1941 zu lesen: Das Bürgerrecht ist der »Inbegriff von Rechten und Pflichten gegenüber einer öffentlichrechtlichen Gebietskörperschaft schlechthin«.18 Zum anderen verweist der Sachverhalt, dass im neu gegründeten Bundesstaat von 1848 nicht etwa der Begriff der »Schweizer Staatsangehörigkeit« eingeführt wurde, auf die doppelte Semantik des Begriffs »Schweizer Bürgerrecht«. Der damals in Preußen gebräuchliche Terminus »Staatsangehörigkeit« hätte eine rein mitgliedschaftliche Bedeutung wohl besser gekennzeichnet als der Begriff »Bürgerrecht«, in dem die Rechte des einzelnen Bürgers mitschwingen. Doch gerade der Begriff des »Angehörigen« erinnerte die im April 1848 über das Schweizer Bürgerrecht beratenden Mitglieder der Kommission zur Revision des Bundesvertrags von 1815 an die preußische Untertanenschaft.19 Das zentrale Prinzip des Schweizer Bürgerrechts, das für die Wortwahl der Revisionskommission schließlich den Ausschlag gab, lag denn auch nicht in der rechtlichen Mitgliedschaft im schweizerischen Bundesstaat (die Definition der Bedingungen für den Erwerb des Schweizer Bürgerrechts blieben 1848 den Kantonen überlassen).20 Innerhalb des fast ausschließlich monarchischen Europas etablierte der schweizerische Bundesstaat von 1848 vielmehr eine vom Prinzip her demokratische Staatsbürgerschaft. Der Inbegriff des Schweizer Bürgerrechts bestand daher in landesweit geltenden und im internationalen Vergleich weitreichenden staatsbürgerlichen Rechten für die volljährigen und in der Schweiz sesshaften Schweizer Männer christlicher Religion. Schweizer zu sein, bedeutete grundsätzlich, ein mit politischen Rechten ausgestatteter Staatsbürger zu sein. Kommt hinzu, dass der Begriff den Vorteil hatte, Tradition und Innovation zu verbinden: So signalisierte der Bund den Kantonen und Gemeinden mit dem traditionsreichen Begriff des »Bürgerrechts«, dass er ihre alt hergebrachten Kompetenzen in Einbürgerungsfragen respektierte. Gleichzeitig füllte der Bund den Begriff mit neuem Inhalt: mit den freiheitlichen und

18 Stahel, S. 22. 19 Die Revisionskommission der Tagsatzung lehnte den Begriff des »Angehörigen« im Entwurf von Art. 40 der neuen Bundesverfassung ab (»Kein Kanton darf einen Angehörigen des Bürgerrechtes verlustig erklären.«) und ersetzte ihn durch den Begriff »Bürger«, »weil jener Ausdruck immer an den Begriff der Unterthanenschaft« erinnere. Protokoll über die Verhandlungen der am 16. August 1847 durch die hohe eidgenössische Tagsatzung mit der Revision des Bundesvertrags vom 7. August 1815 beauftragten Kommission, 28. Sitzung, 4. April 1848, S. 174. Vgl. dazu: Rieser, S. 64. 20 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 12. Herbstmonat [September] 1848, Art. 42.

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politischen Rechten im ganzen Staatsgebiet für die männlichen, christlichen Gliedstaatsangehörigen.21 Die bisherigen Ausführungen ergänzend, soll an dieser Stelle auf den Begriff der »Nationalität« eingegangen werden, wiederum ausgehend vom englischen Begriff der »nationality« und dem französischen Begriff der »nationalité«. Nach Rogers Brubaker stehen »nationality« und »nationalité« im Französischen und im amerikanischen Englisch »in etwa synonym«22 zu »citizenship« und »citoyenneté«. Dagegen geht Patrick Weil beim französischen Begriff »nationalité« stärker von der Mitgliedschaft im französischen Nationalstaat aus, während Gérard Noiriel nachgewiesen hat, dass mit dem Begriff »nationalité« zwischen den 1830er und den 1870er Jahren gerade nicht die juristische Zugehörigkeit zum französischen Staat bezeichnet wurde.23 Vielmehr habe der Begriff »nationalité« zuerst eine Übersetzung des Begriffs »Volkstum« dargestellt, den französische Intellektuelle seit den 1830er Jahren für ihre Kritik an der Monarchie einzusetzen wussten. Insofern lag auch dem Begriff »nationalité« während dieser Zeit eine kulturelle und politische, aber keine juristische Definition zugrunde. Erst mit der Dritten Republik habe sich der Terminus »nationalité« in einem juristischen Sinn, das heißt als rechtliche Mitgliedschaft einer Person im französischen Nationalstaat, zu etablieren begonnen. Dies erklärt auch, weshalb der Begriff »nationalité« erst mit der schweizerischen Bundesverfassung von 1874 Eingang in die Rechtssprache der französischen Schweiz gefunden hat. Zuvor war dort durchwegs von »droit de cité« die Rede.24 In einzelnen Fällen ist seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch der Begriff der »Nationalität« in der älteren juristischen Literatur der deutschen Schweiz zu finden, und zwar in einem rein mitgliedschaftlichen Sinn. 25 Dagegen drückt nach Meinung von Rogers Brubaker der Terminus »Nationalität« in Deutschland die Angehörigkeit zur vorgestellten nationalen Gemeinschaft des deutschen »Volkes« aus.26 Dieser Sichtweise widerspricht Dieter Gosewinkel und verweist darauf, dass »Nationalität« beispielsweise im Norddeutschen Bund im Jahr 1870 einen rechtlichen Begriff darstellte.27

21 Vgl. zur »Inländerbehandlung« in den Kantonen nach 1848: Schönberger, Unionsbürger, S. 91–94. Die Besonderheit dieser Regelung wird dadurch unterstrichen, dass im Norddeutschen Bund und im Deutschen Kaiserreich den Niedergelassenen aus andern Bundesstaaten die politischen Rechte im Aufenthaltsstaat nicht gewährt wurden. Ebd., S. 107f. 22 Brubaker, S. 79. 23 Weil, Qu’est-ce qu’un Français?, S. 10, sowie Noiriel, Etat, nation et immigration, S. 150, folgende Angaben: ebd., S. 158f. 24 Diesen Hinweis verdanke ich Gérald Arlettaz. 25 Vgl. z.B.: Rigert, S. 29, sowie Rieser, S. 92. 26 Brubaker, S. 79. 27 Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 168.

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Zur Terminologie in dieser Arbeit sei zusammenfassend festgehalten: Unter »Staatsbürgerschaft« wird in Anlehnung an die aktuelle sozialwissenschaftliche Forschung in einem normativen Sinn die rechtliche Mitgliedschaft in einem Staat mit den daran gebundenen Rechten, Pflichten und der politischen Partizipation verstanden. Für die allgemeine Bezeichnung der bloßen rechtlichen Mitgliedschaft von Personen in einem Staat soll in dieser Arbeit der Begriff der »Staatsangehörigkeit« verwendet werden. Dieser hat sich in der juristischen und teilweise auch in der geschichtswissenschaftlichen Literatur der Schweiz mittlerweile für die allgemeine Kennzeichnung der rechtlichen Mitgliedschaft in einem Staat durchgesetzt. Dagegen wird der in der deutschsprachigen Schweizer Rechtsliteratur kaum gebräuchliche Begriff der »Nationalität« nur dort in die Arbeit einfließen, wo er aus historischen Quellen zitiert wird. Bei der Verwendung des Begriffs »Schweizer Bürgerrecht« wird schließlich grundsätzlich von der doppelten Semantik der angehörigkeitsrechtlichen Dimension und der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten sowie der politischen Partizipation ausgegangen. Gleichzeitig wird der Begriff in seinen unterschiedlichen historischen Kontexten immer wieder neu auf die darin zur Geltung kommenden Konzepte des »Staatsbürgers« zu befragen sein.

2. Erklärungsansätze zum historischen Wandel von Staatsbürgerschaft Die doppelte Semantik der Begriffe »Staatsbürgerschaft« oder »Bürgerrecht« verweisen auf zwei in der Regel voneinander getrennte Forschungsgegenstände: auf die juristische Mitgliedschaft von Individuen in einem Staat einerseits und auf die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten sowie die politische Partizipation andererseits. Bei der Erforschung der beiden Gegenstände haben sich unterschiedliche Forschungspositionen herausgebildet. Die wichtigsten dieser idealtypisch sich gegenüber stehenden Positionen sollen im Folgenden – zuerst zur Staatsangehörigkeit und dann zu den staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten – nachgezeichnet werden. Bei der Auseinandersetzung mit dem historischen Wandel von Staatsangehörigkeit stehen sich zwei Erklärungsmodelle gegenüber. Zum einen handelt es sich um das Modell der Nation als einer »vorgestellten Gemeinschaft«28, die sich in den jeweiligen Staatsangehörigkeitsregelungen niederschlage. Zum andern wird von dem Modell ausgegangen, dass die Staatsangehörigkeit ein politisches Instrument zur Durchsetzung staatlicher Interessen bildet.

28 Anderson, S. 14.

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Den Ausgangspunkt der Debatten zur Rolle der Nation für die Definition von Staatsangehörigkeit bildete die im Jahr 1992 erschienene Studie des amerikanischen Soziologen Rogers Brubaker »Staats-Bürger: Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich«. Brubaker kommt darin zum Schluss, dass die Nation bei der Ausprägung und dem Wandel der französischen und deutschen Staatsangehörigkeit eine normative Rolle spielte. Seine Prämisse lautet, dass die Vorstellungen, die einer modernen Nation zugrunde liegen, indirekt die Definitionskriterien für die Mitgliedschaft in einem Nationalstaat darstellen: Im Nationalstaat repräsentiere die Staatsangehörigkeit die sich wandelnden Vorstellungen von der Nation.29 Entsprechend seien die Staatsinteressen »nicht unmittelbar durch wirtschaftliche, demografische und militärische Erwägungen bestimmt«, sondern vielmehr »durch das jeweilige Selbstverständnis …, durch kulturelle Idiome, durch die Art und Weise, wie man über das Nationale denkt und spricht.«30 So lasse sich etwa die Einführung des »ius soli« in Frankreich im Jahr 1889 »nur im Zusammenhang mit einem auf charakteristische Weise staatszentrierten und assimilationsorientierten Verständnis des Nationalen erklären.«31 Im Gegensatz dazu habe das deutsche »Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz« von 1913, mit dem das deutsche »ius sanguinis« konsequent durchgesetzt wurde, »die Nationalisierung, ja die Ethnisierung der deutschen Staatsangehörigkeit«32 bedeutet. Trotz der dezidierten Haltung vertritt Rogers Brubaker keine rein kulturalistische Position. Der Frage des Nationalen aber gibt er den Vortritt. So sei das Nationale nicht funktionalistisch mit demografischen oder militärischen Interessen zu erklären. Hingegen seien vorhandene »kulturelle Idiome« durch ihre besondere historische und institutionelle Umgebung aktiviert und verstärkt worden. Diese hätten wiederum das geprägt, was für den Staat politisch geboten gewesen sei. Insofern seien Interessen gleichzeitig Ergebnis und Ausdruck »kultureller Idiome«. Für die Zuschreibung der Staatsangehörigkeit bei Geburt bedeute dies konkret, dass die unterschiedlichen Konzeptionen des Nationalen festlegen, »auf welchen Bahnen die Einbürgerungspolitik von der Dynamik der Interessen vorangetrieben«33 wird. Gegen Rogers Brubakers Sichtweise stehen exemplarisch die Forschungsergebnisse von Patrick Weil und Dieter Gosewinkel. Der französische Historiker Weil interpretiert das »ius soli« in Frankreich vor allem als politisches Instrument, beispielsweise zur Durchsetzung egalitärer Prinzipien in der Frage des Wehrdienstes.34 So sei das optionale »ius soli« im Jahr 1851 in Frankreich im 29 30 31 32 33 34

Brubaker, S. 38–42. Ebd., S. 40. Ebd., S. 122. Ebd., S. 156. Ebd., S. 42. Weil, Qu’est-ce qu’un Français?, S. 53–55.

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Hinblick auf das Prinzip der gleichen Rechte und Pflichten, insbesondere der allgemeinen Wehrpflicht, eingeführt worden.35 Dieser Sachverhalt gilt gemäß Patrick Weil noch deutlicher für das im Jahr 1889 eingeführte »ius soli« ohne Optionsrecht für die dritte Generation. Dieses sei auch damals nicht Ausdruck eines offenen Nationsverständnisses gewesen, sondern für republikanische Zwecke gewählt worden.36 Analog dazu interpretiert Patrick Weil das Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland nicht als Ausdruck eines ethnisch-kulturellen Verständnisses der Nation. Vielmehr habe die Geschichte des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts gezeigt, dass dieses unabhängig von Nationsvorstellungen seinen Verlauf genommen habe. Entsprechend kommt Weil zum Schluss, dass die Opposition zwischen einem offenen Nationsverständnis in Frankreich, gekoppelt mit dem »ius soli«, und einem ethnischen Nationsverständnis in Deutschland, gekoppelt mit dem »ius sanguinis«, einer genaueren Untersuchung nicht standhält.37 Auch der deutsche Historiker Dieter Gosewinkel lehnt diese Opposition ab. Bei seiner Auseinandersetzung mit dem Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland synthetisiert er jedoch die beiden paradigmatischen Deutungen der deutschen Staatsangehörigkeit als »politisches Instrument« oder als Ausdruck und Produkt nationaler Gemeinschaftsvorstellungen. Dabei hebt er wie Patrick Weil die politische Funktion der Staatsangehörigkeit hervor, indem er nationale Prägungen über politische Interessen vermittelt sieht; nationalistische Interessen stünden gleichsam im Dienst der politischen. Daher kritisiert Dieter Gosewinkel, dass bei Rogers Brubaker die »politische[n] Beweggründe hinter der ethnisch-kulturellen Argumentation und staats- neben abstammungsbezogenen Angehörigkeitselementen …« zurücktreten. Gosewinkel interpretiert gerade die »ethnisch-kulturelle Dominante der deutschen Staatsangehörigkeitskonzeption« nicht allein als »vorpolitische Konstante«, sondern auch als »Ergebnis historisch bedingter, zeitverhafteter politischer Entscheidungen und Interessenkonstellationen«.38 So sei das deutsche »ius sanguinis« bis zum Ersten Weltkrieg Ausdruck einer Staatsangehörigkeitskonzeption gewesen, die sich in der Schwebe befunden habe zwischen ethnischen Nationsvorstellungen und politisch-etatistischen Interessen.39 Im Vordergrund habe dabei aber die Indienstnahme der deutschen Staatsangehörigkeit zur rechtlichen Homogenisierung und staatlichen Zentralisierung gestanden. Daraus folgert Dieter Gosewinkel, dass das deutsche »ius sanguinis« »keine biologisch-rassische Ho35 Ders., Zugang zur Staatsbürgerschaft, S. 103. Das optionale »ius soli« bestimmte, dass ein Kind eines ausländischen Vaters, dem die französische Staatsangehörigkeit bei Geburt auf französischen Boden zugeschrieben worden war, diese bei Volljährigkeit widerrufen konnte. 36 Ders., Qu’est-ce qu’un Français?, S. 60. 37 Ebd., S. 13. 38 Alle Zitate: Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 17f. 39 Ebd., S. 424.

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mogenität mit einem imaginierten Volkskörper«40 voraussetzte oder eine solche konstituierte. Die nationalsozialistische Staatsangehörigkeitspolitik habe daher einen fundamentalen Bruch mit den früheren Staatsangehörigkeitskonzeptionen Deutschlands – und somit auch mit dem bisherigen »ius sanguinis« – bedeutet. Aufgrund der geschilderten Forschungspositionen, die den Einfluss nationaler Gemeinschaftsvorstellungen auf die Ausgestaltung der Staatsangehörigkeit ablehnen oder relativieren, stellt sich die Frage, wie sich die markanten Unterschiede bei der Erlangung der Staatsangehörigkeit durch Geburt oder Einbürgerung gerade zwischen Frankreich und Deutschland erklären lassen. Patrick Weil sieht die Antwort darauf in der Rechtstradition der beiden Länder gegeben. Seine These lautet: Der traditionelle »Kern« eines Staatsangehörigkeitsrechts bleibt so lange bestehen, wie »eine Rechtstradition den Staatsinteressen in der Frage der Migration als angemessen erscheint oder ihnen zumindest nicht zuwiderläuft.«41 Hingegen wandeln sich Traditionen der Staatsangehörigkeit, wenn Brüche auftreten »zwischen den Folgen des traditionellen Rechts und dem Interesse des Staates oder Einzelner, die legitimerweise Ansprüche auf Staatsangehörigkeit« geltend machen. Insofern existiere »keine kausale Beziehung zwischen nationaler Identität und den Staatsangehörigkeitsgesetzen.«42 Seine These sieht Patrick Weil durch einen allgemeinen Angleichungsprozess der Staatsangehörigkeitsregelungen seit dem Zweiten Weltkrieg weit über Europa hinaus bestätigt. So führten demokratische Werte, stabile Grenzen, welche die Mehrheit der Staatsangehörigen einschließen, und eine Selbstwahrnehmung als Einwanderungsland dazu, dass in einer ersten Phase der Zugang zur Staatsangehörigkeit eingeschränkt wird. Diese Maßnahme solle verhindern, dass auf dem Weg der Einbürgerung und »unter Umgehung der Einwanderungsgesetze« ein Aufenthaltsrecht erwirkt werde. In einer zweiten Phase würden alle Bestimmungen abgeschafft, die einer Integration der Einwanderer der zweiten und dritten Generation im Wege stehen.43 Analog zu den Forschungsergebnissen von Patrick Weil und Dieter Gosewinkel wird in der vorliegenden Arbeit auch für die Schweiz kein prinzipieller Zusammenhang zwischen Vorstellungen von der schweizerischen Nation und dem Schweizer Bürgerrecht angenommen. Hingegen geht die Studie davon aus, dass dieser Zusammenhang in historisch wechselnden Situationen durchaus existierte und nicht ohne Wirkung blieb. So wird zwar einerseits zu zeigen sein, dass das mit der Bundesstaatsgründung von 1848 konsequent durchge40 41 42 43

Ebd., S. 426. Weil, Zugang zur Staatsbürgerschaft, S. 100. Beide Zitate: ebd., S. 109f. Ebd., S. 108.

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setzte schweizerische »ius sanguinis« auf einer in den Gemeinden und Kantonen seit dem Ancien Régime sich verfestigenden Rechtstradition beruhte, die nicht in ethnisch-nationalen Gemeinschaftsvorstellungen gründete. Andererseits führt der Blick auf die Geschichte des Schweizer Bürgerrechts im 20. Jahrhundert aber auch zu der Annahme, dass sich die Unterschiede zwischen dem exklusiven Schweizer Bürgerrecht und der tendenziell inklusiven französischen »nationalité« nicht nur aufgrund unterschiedlicher Rechtstraditionen erklären lassen. Denn der von Patrick Weil beobachtete Angleichungsprozess hin zur Einbürgerungsbeschränkung für die erste Einwanderergeneration kombiniert mit einer Hinwendung zum »ius soli« lässt sich für die Schweiz während des gesamten 20. Jahrhunderts nur in Teilen bestätigen. So wurden die Einbürgerungsbedingungen in der Schweiz seit 1917 für die erste Generation zwar sukzessive, mit der zwölfjährigen Wohnsitzfrist im Jahr 1952 aber weit über das europäische Mittel hinaus verschärft und bis ins 21. Jahrhundert hinein beibehalten. Weiter fand das »ius soli« während des gesamten 20. Jahrhunderts keine Anwendung, obwohl im Jahr 1928 Elemente davon in der Bundesverfassung verankert wurden. Zur Erklärung der schweizerischen Eigenheiten kann in Anlehnung an Weils These argumentiert werden, dass in der Schweiz des 20. Jahrhunderts zwar demokratische Werte vorherrschten und stabile Grenzen existierten, dass sich die offizielle Schweiz aber nicht als Einwanderungs-, sondern als Auswanderungsland verstand. Hinweise darauf geben zunächst die Abnahme der Ausländerquote in der Schweiz von 14,7 % im Jahr 1910 auf 5,2 % im Jahr 1941, die Maxime während des Zweiten Weltkriegs, dass die Schweiz kein Flucht-, sondern nur ein Transitland sei, sowie die diskriminierende Ausländerpolitik der Schweiz nach 1945, die beispielsweise für jahreszeitabhängige Branchen wie das Baugewerbe den Status des »Saisonarbeiters« einführte oder den Familiennachzug von »Jahresaufenthaltern« bis 1964 äußerst restriktiv regelte.44 Weitere Hinweise gibt die Geschichte der Auslandschweizerpolitik des Bundes und der Interessenvertretung der Auslandschweizer seit dem Jahr 1916. Damals gründete die Neue Helvetische Gesellschaft die »Auslandschweizer-Organisation«, um den Kontakt mit den Ausgewanderten aufrecht zu erhalten und deren Interessen in der Schweiz zu vertreten.45 Nach 1950 stieg die Zahl der im Ausland lebenden Schweizerinnen und Schweizer an, während gleichzeitig ein Orientierungswandel in der Auslandschweizerpolitik des Bundes stattfand:46 Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte der Bund ledig44 Vgl. zur Statistik: Ritzmann-Blickenstorfer, S. 134, zur Schweiz als Transitland für Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs: Erlanger, sowie zur Ausländerpolitik nach 1945: Mahnig/ Piguet sowie Niederberger. 45 Vgl. dazu: G. Arlettaz, La Nouvelle Société Helvétique, sowie Schweizerisches Bundesarchiv. 46 Thurnherr/Messerli, S. 68.

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lich die Auswanderung aus der Schweiz geregelt. Nach 1945 bezweckte er neu, seine Beziehung zu den Schweizerinnen und Schweizern im Ausland aufrecht zu erhalten, sie in Notsituationen finanziell zu unterstützen und ihren Zusammenhalt zu fördern.47 Es ist anzunehmen, dass die tendenzielle Selbstwahrnehmung der Schweiz als Auswanderungsland zwischen 1914 und den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Zusammenhang mit den damals zunehmenden und im europäischen Vergleich außerordentlichen Einbürgerungsrestriktionen steht: Während die Bindung der Auslandschweizer an die Schweiz intensiviert werden sollte – etwa durch die Gewährung des Stimmrechts oder den Ausbau der sozialen Sicherheit –, sollte die ausländische Wohnbevölkerung grundsätzlich nicht in die schweizerische Gesellschaft integriert werden. Ob die über dem europäischen Durchschnitt liegenden Verschärfungen damit aber abschließend erklärt werden, ist zweifelhaft. Denn mit dem Ersten Weltkrieg setzte sich in der Schweiz eine ethnisch-nationale Gemeinschaftsvorstellung durch, die sich mit dem Schlagwort der »Überfremdung« verband und die behördliche Abwehrpolitik gegen Ausländerinnen und Ausländer während des gesamten 20. Jahrhunderts prägte.48 Einiges weist denn auch darauf hin, dass die schweizerische Einbürgerungspolitik nach dem Ersten Weltkrieg die ethnisch-national begründete, xenophobe Ausländerpolitik der Bundesverwaltung flankierte, was eine genauere Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem Schweizer Bürgerrecht und den Vorstellungen von der schweizerischen Nation nötig macht.49 In diesem Zusammenhang gilt es schließlich auch, die These von Gérard Noiriel zum Wandel des Staatsangehörigkeitsrechts in europäischen Staaten gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Analyse des Schweizer Bürgerrechts einzubeziehen. Gérard Noiriel geht im Gegensatz zu Patrick Weil davon aus, dass die Nationalisierung und Demokratisierung europäischer Gesellschaften seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert für den Wandel des Asyl- und Staatsangehörigkeitsrechts in europäischen Staaten von großer Bedeutung waren. Zu jenem Zeitpunkt seien alle sozialen Schichten »durch das allgemeine Wahlrecht und die Einführung einer Sozialgesetzgebung in den Nationalstaat einbezogen« worden oder anders gesagt, in dem Moment, »als der Staat sich in das ökonomische und soziale Leben einzumischen begann, fand ein gewaltiger Prozess nationaler Integration statt.«50 Dieser Prozess habe 47 Ebd. Diese Neuorientierung fand 1966 Eingang in die schweizerische Bundesverfassung. Das Stimmrecht in Bundesangelegenheiten wurde den Auslandschweizerinnen und -schweizern im Jahr 1977 gewährt. Seit dem Jahr 1992 ist für Auslandschweizerinnen und -schweizer die briefliche Stimmabgabe möglich. Ebd., S. 77f. 48 Vgl. zum Überfremdungsdiskurs: Kury, Über Fremde reden, S. 25. 49 In seiner vergleichenden Untersuchung hat Weil, »Zugang zur Staatsbürgerschaft«, die Schweiz nicht berücksichtigt. 50 Beide Zitate: Noiriel, Die Tyrannei des Nationalen, S. 12 und S. 67. Vgl. ebd., S. 66–75.

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sich auch auf das Staatsangehörigkeitsrecht ausgewirkt: »Die Staatsbürgerschaft entwickelte sich zum grundsätzlichen rechtlichen und bürokratischen Mittel, mit dem das Staatsgebiet und insbesondere der Arbeitsmarkt geschützt wurden.«51 Ob die Beobachtungen von Gérard Noiriel zur Nationalisierung und zum Wandel des Staatsangehörigkeitsrechts auf die Entwicklung des Schweizer Bürgerrechts zutreffen, wird ebenfalls zu prüfen sein. Wie bei den geschilderten Forschungspositionen zur Staatsangehörigkeit sind in der Analyse staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten sowie der politischen Partizipation zwei paradigmatische Positionen auszumachen. Auf der einen Seite wird das emanzipatorische und integrative Potential der Staatsbürgerschaft gegenüber staatlicher Macht betont, auf der anderen Seite die Kritik an den Verwirklichungsdefiziten des staatsbürgerlichen Projekts. Nach der emanzipatorischen Lesart steht die Staatsbürgerschaft aufgrund ihrer Genese im Zuge der Französischen Revolution in einem normativen Sinn für bürgerliche Befreiung, Garantien politischer Mitbestimmung sowie Begrenzung und Kontrolle staatlicher Macht:52 Der Untertanenstatus der Menschen gegenüber dem souveränen Herrscher ist aufgehoben, die Staatsbürger sind mit gleichen Rechten und Pflichten ausgestattet, besitzen politische Mitspracherechte und werden vor Eingriffen des Staats in die persönliche Freiheit geschützt. Der englische Soziologe Thomas Humphrey Marshall legte in seinen Vorlesungen »Citizenship and Social Class« im Jahr 1947 den Schwerpunkt auf das prinzipiell emanzipatorische und integrative Potential der Staatsbürgerschaft.53 Dabei nahm Marshall eine Unterteilung der staatsbürgerlichen Rechte in freiheitliche, politische und soziale vor, um unter den Vorzeichen der liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsform insbesondere die Wirkung der sozialen Rechte auf die Schichtung der englischen Gesellschaft zu untersuchen. 54 Modellhaft schilderte Thomas Humphrey Marshall die sukzessive Herausbildung der staatsbürgerlichen Rechte in England. Zuerst bildeten sich freiheit51 Beide Zitate: ebd., S. 12. Vgl. dazu auch: Breuilly, S. 46, Anmerkung 2. 52 Brubaker, S. 62. Vgl. zur fehlenden politischen Mitbestimmung im Falle der deutschen Staatsangehörigkeit in den frühkonstitutionellen Verfassungen: Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 12. 53 Marshall, Staatsbürgerrechte und soziale Klassen. Marshalls Vorlesungen gelten für die Beschäftigung mit der modernen Staatsbürgerschaft noch immer als Grundlagentexte. Sie entstanden fünf Jahre nach der so genannten »Gründungsurkunde« des englischen Wohlfahrtsstaates von William Beveridge »Social Insurance and Allied Services« (1942). Vgl. dazu: Rieger, S. 21. 54 Marshall, S. 40. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unterschied Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 81–83, zwischen dem »status negativus« (den Freiheitsrechten), dem »status activus« (den politischen Rechten) und dem »status positivus« (den sozialen Rechten). Vgl. dagegen zur Unterscheidung zwischen der »positiven Freiheit« (republikanisch wahrgenommene Rechte und Pflichten) und der »negativen Freiheit« (individuelle Rechte und Pflichten): Berlin.

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liche Rechte heraus, mit denen sich die Bürger gegenüber den wirtschaftlichen Beschränkungen des Ancien Régimes durchsetzten. Danach wurden politische Rechte erkämpft und – infolge ihrer Ausdehnung auf immer weitere Kreise der männlichen Bevölkerung – die sozialen Rechte, die in einem antagonistischen Verhältnis zu den Freiheitsrechten stehen. Marshalls übergeordnetes Erkenntnisinteresse galt dabei der Rolle und den Möglichkeiten des Staats, mittels der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten die negativen Auswirkungen der kapitalistischen Wettbewerbswirtschaft abzufedern und die damit verbundene Chancenungleichheit zu verringern. Marshall machte zwar deutlich, dass soziale Rechte nicht nur der Umverteilung und gesellschaftlichen Integration dienen, sondern gleichzeitig neue soziale Ungleichheit begründen.55 Doch als Verfechter des wirtschaftlichen Liberalismus, den er um die Komponente des modernen Wohlfahrtsstaats ergänzt sehen wollte, akzeptierte er, dass die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten »selbst zum Architekten legitimer sozialer Ungleichheit«56 werden können. Mehr noch: Die prinzipielle soziale Ungleichheit sei für die Aufrechterhaltung der liberalen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung und somit für die Verhinderung des Sozialismus geradezu eine Notwendigkeit. Die gesellschaftlichen Unterschiede könnten aber akzeptiert werden, wenn sie durch demokratische Staatsbürgerrechte ihre Legitimierung fänden und durch soziale Rechte vermindert würden, vorausgesetzt die Unterschiede seien weder zu tief greifend noch vererbt und der »Staatsbürgerstatus« vereinige die Bevölkerung »zu einer einzigen Kultur«.57 Dem Staat komme dabei die Rolle zu, das Ensemble vielfältiger Rechte und Pflichten in seiner ausgleichenden Wirkung optimal zur Geltung zu bringen. Wenn dies gelinge, sei die grundsätzliche Gleichheit aufgrund des »Staatsbürgerstatus« mit der grundsätzlichen Ungleichheit sozialer Klassen zu vereinbaren.58 Die Zuversicht in eine fortschreitende egalisierende Wirkung der staatsbürgerlichen Rechte und die Betonung der damit verbundenen Formen gesellschaftlicher Inklusion, kurz, die optimistische Wertung des »Staatsbürgerstatus« war in der Programmatik von Marshalls Vorlesungen vorgegeben. Seine Überlegungen hatten zum Ziel, das damals junge, politisch brisante und der Kritik ausgesetzte Projekt des englischen Wohlfahrtsstaats historisch und soziologisch zu untermauern. Das von Thomas Humphrey Marshall in weiten Teilen normativ entworfene Konzept des liberalen und mit sozialen Rechten 55 Beispielsweise schilderte Marshall, S. 73 und S. 76, wie kostenlose Dienstleistungen im Gesundheitswesen zur Zunahme der Ungleichheit beitragen, da diese nicht dazu führen, dass die Einkommen aneinander angepasst werden. 56 Ebd., S. 39, folgende Angabe: S. 89. 57 Ebd., S. 33, Anmerkung*. Unter dem Begriff »Staatsbürgerstatus« verstand Marshall die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. 58 Ebd., S. 62 und S. 39.

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ergänzten »Staatsbürgerstatus« hatte sich in der Praxis erst noch zu bewähren. Wohl deshalb blieb dem Soziologen Marshall der Blick auf zahlreiche Formen des staatsbürgerlichen Ausschlusses verstellt. Dazu gehören etwa die Grenzziehungen durch vertikale Trennlinien, die wie Ethnie und Geschlecht die Wirkung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten durch alle Einkommensklassen hindurch beeinflussen,59 die Problematik sozialstaatlicher Leistungen, die zum Ausschluss aus Interdependenzbeziehungen führen können,60 oder die trotz wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen oft nur unzureichend realisierte Gleichheit politischer Partizipationschancen.61 Trotz der breiten und notwendigen Kritik an der Überbetonung der emanzipatorischen und integrierenden Wirkung der (sozialen) Staatsbürgerschaft, insbesondere seit der »Krise des modernen Wohlfahrtsstaats«, wurde Thomas Humphrey Marshalls Analyse zur theoretischen Basis für die Auseinandersetzung mit der Wirkung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten. Entscheidend dafür war, dass Marshall auf die grundsätzliche Bedeutung des »Staatsbürgerstatus« für Individuen innerhalb einer liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aufmerksam machte, auch wenn er zu einer anderen Bewertung kam als Soziologinnen, Politologinnen und Ethnologen nach ihm. Die Bedeutung seiner Untersuchung lag schließlich auch in der systematischen Darstellung der historischen Entwicklung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten in England und der zwischen diesen Rechten bestehenden kausalen, komplementären oder antagonistischen Beziehungen. Gleichzeitig erlaubte gerade die modellhafte Konzeptualisierung des »Staatsbürgerstatus«, dass normativ Entworfenes empirisch überprüft, Vernachlässigtes aufgegriffen und neue Fragen gestellt wurden. Und in der Tat hat sich eine geschichtswissenschaftliche und soziologische Forschungsposition etabliert, welche die Kritik an den ausschließenden Wirkungen der Staatsbürgerschaft betont und diese als Verwirklichungsdefizite des normativen staatsbürgerschaftlichen Konzepts deutet.62 Entlang der zentralen Kategorien »Geschlecht«, »soziale Schicht«, »Ethnie« und »Religion« werden in dieser noch jungen Forschungstradition die Ausschließungsdynamiken, die im Zusammenhang mit der Staatsbürgerschaft stehen, untersucht. Exemplarisch sei für Deutschland und Frankreich nochmals auf die Arbeiten von Dieter 59 Diese Trennlinien wurden vor allem im Rahmen der »colonial studies« bzw. »postcolonial studies« untersucht. Vgl. z.B. Anthias/Yuval-Davis. 60 Vgl. z.B.: Simmel, Soziologie, S. 9. 61 Vgl. dazu z.B. Barbalet. Weitere Kritikpunkte waren, dass Marshall die Rolle von sozialen Bewegungen und Kämpfen sowie Migration und Kriegen für die Entwicklung der Staatsbürgerschaft vernachlässigte und die Rolle der ökonomischen Klassenkämpfe zu einseitig betrachtete. J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 105f. 62 Vgl. für die Schweiz beispielsweise: Wecker, Staatsbürgerrechte, Studer, »L’Etat c’est l’homme«, sowie Kleger/D’Amato.

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Gosewinkel und Patrick Weil, für die Schweiz auf die Arbeiten von Brigitte Studer und Regina Wecker verwiesen. Ebenso kritisiert Jürgen Habermas das Staatsbürgerschaftskonzept von Thomas Humphrey Marshall. Allerdings steht dabei weniger die emanzipatorischinklusive Sichtweise im Zentrum der Kritik, sondern vor allem die von Marshall kaum berücksichtigte Rolle der politischen Rechte und der politischen Partizipation: »Die im großen und ganzen linear verlaufende Entwicklung«, die Marshall mit seinem Konzept der Staatsbürgerschaft verbinde, treffe, so Habermas, »allenfalls auf das zu, was Soziologen verallgemeinernd ›Inklusion‹ nennen. … Dieses Bild eines linearen Fortschritts verdankt sich freilich einer Beschreibung, die gegenüber Zuwächsen und Verlusten an Autonomie neutral bleibt. Sie ist blind gegenüber der tatsächlichen Nutzung eines aktiven Staatsbürgerstatus, über den der Einzelne auf die demokratische Veränderung seines Status einwirken kann.«63 Habermas sieht sich im Gegensatz zu Marshall einem republikanischen Staatsbürgerschaftskonzept verpflichtet, das im Sinne des klassischen Republikanismus von der Maxime der »Identität von Regierenden und Regierten«64 ausgeht und dessen Kern die Wahrnehmung der politischen Rechte im Sinne einer republikanischen Pflicht bildet.65 Seine Kritik richtet sich somit in spezifischer Weise auf das in der Tradition des Liberalismus stehende Staatsbürgerschaftskonzept, das die freiheitlichen Rechte betont, auch wenn Thomas Humphrey Marshall im Sinne des englischen Wohlfahrtsstaats nicht nur die freiheitlichen, sondern auch die sozialen Rechte hervorhob.66 Entsprechend hält Habermas dem Konzept von Marshall entgegen: »Nur die politischen Teilnahmerechte begründen ja die reflexive, auf sich selbst bezügliche Rechtsstellung eines Staatsbürgers. Die Freiheitsrechte und die sozialen Teilhaberechte können hingegen paternalistisch verliehen werden. Rechtsstaat und Sozialstaat sind im Prinzip auch ohne Demokratie möglich.« 67 Unter dem Gesichtspunkt politischer Mitspracherechte lehnt Jürgen Habermas aber auch eine einseitige »soziologische Entzauberung des Rechts« ab, die sich »auf eine aus der Beobachterperspektive vorgenommene Beschreibung des Verhältnisses von Norm und Wirklichkeit« beschränkt.68 Eine kritische 63 J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 104. Vgl. dazu: Parsons. 64 Weinmann, S. 333. In der republikanischen Denktradition beziehe sich die Staatsbürgerschaft, »nicht auf nationale Identität, sondern auf die Erhaltung der Freiheit in der Republik«. Zurbuchen, S. 10f. 65 Lister, S. 23–33. Vgl. zum Gegensatz von republikanischer und liberaler Staatsbürgerschaftskonzeption: Ebd., S. 13–33. 66 Als Grundlagenwerk für die liberale Deutung der Staatsbürgerschaft als eines passiven und privaten Status, bei dem die individuellen und freiheitlichen Rechte im Vordergrund stehen, gilt das im Jahr 1859 erschienene Werk »On liberty« von John Stuart Mill. 67 J. Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, S. 647. 68 Beide Zitate: J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 61 (mit Bezug auf Max Weber) und S. 109.

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Gesellschaftstheorie müsse außer der Kritik auch auf einer »Rekonstruktion der Geltungsbedingungen jenes ›Legalitätseinverständnisses‹« bestehen, »das in modernen Rechtssystemen vorausgesetzt wird.« 69 So lasse sich der »Legitimitätsanspruch« eines Rechtssystems erst durch die Analyse der »Ideen und Werte« rekonstruieren, die dem normativen Rechtssystem zugrunde liegen.70 Habermas plädiert also für eine Analyse der Bedingungen, unter denen die normativen Rechtssätze zustande gekommen sind. Denn in Abkehr von der Rechts- und Herrschaftssoziologie Max Webers ist Jürgen Habermas der Auffassung, dass die spezifische Bedeutung von Rechtssystemen darin bestehe, »dass sich Mitglieder nur aufgrund eines begründeten Konsenses dem Zwang staatlich sanktionierter Regeln unterwerfen.«71 Dass sich eine kritische und gerade von republikanischen Prämissen ausgehende Gesellschaftstheorie bei der Analyse des normativen Rechts mit der Frage nach den innern Begründungsprinzipien der Rechtssatzungen zu beschäftigen hat, ist nicht zu bestreiten. Habermas’ Postulat der Untersuchung des »Legalitätseinverständnisses« zum normativen Recht – eine Forderung, in der auch der Glaube an die grundsätzlich emanzipatorische Kraft der modernen, insbesondere politischen Staatsbürgerschaft zur Geltung kommt – wird aber im Fall einer soziologischen Analyse staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten gerade durch die Verwirklichungsdefizite der Staatsbürgerschaft unterwandert: Der Ausschluss von staatsbürgerlichen Rechten kommt a priori nicht aufgrund eines Konsenses der ausgeschlossenen Personen zustande; wer keine politischen Rechte besitzt, kann sich auf dem Weg der politischen Staatsbürgerschaft auch nicht für seine Gleichberechtigung einsetzen. Das hat sich beispielsweise beim langwierigen Kampf um das Frauenstimm- und -wahlrecht in der Schweiz gezeigt.72 Trotz der geäußerten Vorbehalte und der idealtypischen Gegenüberstellung von liberaler und republikanischer Deutungstradition der Staatsbürgerschaft bildet die geschilderte Unterscheidung in dieser Arbeit ein Analyseraster für die Begründungen der zeitgenössischen Akteure bei der ungleichen Verteilung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten.73 Dabei gilt es jedoch, die jeweilige Staatsbürgerschaftskonzeption nicht als normatives Programm zu verstehen, sondern diese als heuristisches Instrument für die historische Analyse staatsbürgerlicher In- und Exklusion fruchtbar zu machen. In diesem Sinn fragt die Arbeit auch nach der sich wandelnden ideengeschichtlichen Verortung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten in der 69 Ebd., S. 96. 70 Ebd., S. 94. 71 Ebd., S. 97. 72 Vgl. dazu: Wecker, Staatsbürgerrechte. 73 Eine »kritische Synthese« dieses Gegensatzes unternimmt Lister, S. 33–41, mit dem Konzept der »human agency«.

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Schweiz zwischen republikanischer und liberaler Tradition. Dabei ist davon auszugehen, dass sich republikanische und liberale Elemente der Staatsbürgerschaft in realpolitischen Entscheiden überlagerten.74 Insofern wäre etwa die ungleiche Verteilung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten im Jahr 1848 – beispielsweise der Ausschluss der Frauen von der politischen Staatsbürgerschaft – nicht nur negativ als eine »Inkonsequenz des Liberalismus«75 zu deuten, sondern auch affirmativ als Ausdruck eines republikanischen Verständnisses von Staatsbürgerschaft. Denn der klassische Republikanismus trug, was den Bürgerstatus betraf, durchaus exklusive Züge. So hat Barbara Weinmann in ihrer Untersuchung zum klassischen Republikanismus und Kommunalismus im Kanton Zürich des 18. und 19. Jahrhunderts dargelegt, dass die »waffenfähige, wirtschaftlich wie politisch unabhängige Existenz«76 zum Inbegriff des republikanischen Bürgerstatus gehörte. Daher ist anzunehmen, dass die Bundesverfassung von 1848 nicht nur Ausdruck liberaler Ideen mit einzelnen Ausnahmen war, sondern ebenso das Ergebnis einer pragmatisch-eklektizistischen Haltung der liberalen Verfassungsväter gegenüber den verschiedenen Deutungstraditionen der Staatsbürgerschaft.77 So betonten auch Zeitgenossen die pragmatische Seite der schweizerischen Politik, beispielsweise der renommierte Staatsrechtler und Berner Professor Carl Hilty im Jahr 1875. In seinen »Vorlesungen über die Politik der Eidgenossenschaft« richtete er folgende Worte an »die studirende Jugend der Schweiz«: »[B]ei uns ist Staatsrecht und Politik ein practisches Wissen, dessen Jedermann bedarf, das sofort von der Wissenschaft in’s Leben hinüberwirkt und wobei auch die Theorie stets neu aus dem Leben schöpfen muss. Nirgends so völlig, wie in der Schweiz zeigt sich in staatsrechtlichen Dingen die Unzulänglichkeit, ja die Verkehrtheit aller blossen Gelehrsamkeit, die nicht mitten im Leben steht …«78 Carl Hiltys Worte verweisen auch auf eine weitere, bisher noch nicht formulierte Hypothese zur Erklärung der Ausprägung und des Wandels des Schweizer Bürgerrechts. Danach kann das Bürgerrecht in der Schweiz aufgrund seiner Dreistufigkeit als Faktor und Produkt permanenter Aushandlungs- und Koordinationsprozesse zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden gedeutet werden, Prozesse, denen in der Regel ganz unterschiedliche Vorstellungen und Erfahrungen im Umgang mit dem Bürgerrecht zugrunde lagen. Wie diese 74 Zurbuchen, 14f. Vgl. zum Verhältnis von Republikanismus, Kommunalismus und Liberalismus in der Schweiz des 19. Jahrhunderts: Weinmann, S. 358, sowie Graber. 75 Mesmer, S. 4. 76 Weinmann, S. 333. 77 In ähnlicher Weise kann die konsequente Durchsetzung staatsbürgerlicher Rechte für alle Schweizer Männer und die Einführung direktdemokratischer Elemente mit der Bundesverfassung von 1874 analysiert werden. Vgl. dazu: Graber, S. 456, sowie mit Verweis auf die »Mischung republikanischer und liberaler Denkweisen in der historischen Realität«: Weinmann, S. 14. 78 Hilty, S. 297.

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Unterschiede in einen größeren historischen Zusammenhang gestellt werden können, bei dem die Entwicklung des modernen Staats und sein Regierungshandeln im Zentrum stehen, davon handeln die folgenden Ausführungen.

3. Der schweizerische Bundesstaat und das Schweizer Bürgerrecht im Rahmen liberaler Gouvernementalität Die bisherigen Ausführungen hatten zum Ziel, die Untersuchung der Staatsbürgerschaft in der Schweiz in Anlehnung an oder in Differenz zu den bestehenden Forschungspositionen theoretisch zu verorten. Dabei wurden vier Faktoren ermittelt, die in dieser Arbeit für die Erklärung des bürgerrechtlichen Aus- und Einschlusses in der Schweiz zwischen 1848 und 1933 herangezogen werden, sei es hinsichtlich der Bestimmungen zum Erwerb des Schweizer Bürgerrechts oder der Gewährung und Zuschreibung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten: erstens die kantonale und kommunale Rechtstradition, zweitens nationale Gemeinschaftsvorstellungen und die Nationalisierung der schweizerischen Gesellschaft, drittens politische Herausforderungen, insbesondere im Bereich der Immigration, und viertens die ideengeschichtlichen Paradigmata des Republikanismus und Liberalismus. Über die genannten Faktoren hinaus wird in diesem Kapitel das Metanarrativ der »Gouvernementalität« eingeführt, mit dem die Geschichte des Schweizer Bürgerrechts in einen größeren Erklärungszusammenhang gestellt werden soll.79 Bei der Gouvernementalität handelt es sich um ein von Michel Foucault entworfenes Machtmodell, wonach das hauptsächliche Ziel der Macht zunächst allgemein darin bestehe, auf das »Geschick«80 der Bevölkerung einzu79 Michel Foucault behandelte die Gouvernementalität in den Vorlesungsreihen »Sicherheit, Territorium, Bevölkerung« und »Die Geburt der Biopolitik« am Collège de France in den Jahren 1978 und 1979: Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 1 und 2. Vgl. zur Anwendung von Theorien unterschiedlicher Größenordnung in der historischen Analyse: Revel sowie J. Tanner, Historische Anthropologie, S. 114f. 80 Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 158. Nach Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28, bedeutet »Macht … jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.« Dagegen entwarf Foucault, Sexualität und Wahrheit 1, S. 112 und S. 114, eine »andere Theorie der Macht« als »einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft«. Vgl. dazu: ders., Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 13 (Sitzung vom 25. Januar 1978), S. 101f.: Die Macht in Form der Regierung der Bevölkerung versuche nicht, »wechselseitig ein Gehorsamverhältnis zwischen einem höheren Willen, dem des Souveräns, und den Einzelwillen, die ihm unterworfen sind, in Gang zu setzen.« Vielmehr gehe es darum, »eine bestimmte Ebene erscheinen zu lassen, auf der das Handeln der Regierenden notwendig und hinreichend ist.«

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wirken. Michel Foucault verwendete den Begriff der »Gouvernementalität« jedoch in unterschiedlicher Weise. Zum einen diente ihm der Begriff in einem allgemeinen Sinn als »Analyseraster« zur Untersuchung von Machtverhältnissen. Gouvernementalität bedeutet danach »die Art und Weise, mit der man das Verhalten der Menschen steuert.«81 Zum andern konzipierte Michel Foucault die Gouvernementalität in einem spezifischen Sinn als »Regierung in ihrer politischen Form«.82 Damit unternahm er den Versuch, eine »Genealogie des modernen Staates«83 zu entwerfen, das heißt, das Problem der »Macht« mit Fokus auf den Staat zu historisieren. Für die Bildung des modernen Staats, so die These, habe die »Regierung der Bevölkerung«84 mittels so genannter »Regierungstechniken«,85 eine zentrale Rolle gespielt.86 »Regieren« sei allerdings nicht dasselbe wie »Herrschen«, »Kommandieren« oder »Befehlen«.87 Vielmehr bezeichne der Begriff der »Regierung« einen bestimmten »Machttypus«,88 der sich aus einer altorientalischen, jüdischen und vor allem christlichen Tradition des »Pastorats«89 ableiten lasse. Im Sinne des neutestamentarischen Gleichnisses vom guten Hirten sei die pastorale Macht eine »Macht der Sorge«,90 mit der weder ein Staat noch ein Territorium noch eine politische Struktur, sondern »die Menschen«, »Individuen und Kollektive«,91 regiert werden. Und genau darin, in der Sorge um alles und jedes, in der Regierung der Bevölkerung, aber auch des Einzelnen, bestehe das Problem der »modernen Machttechniken«.92 81 Beide Zitate: Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 2, Vorlesung 8 (Sitzung vom 7. März 1979), S. 261. 82 Ders., Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 136. 83 Ebd., Vorlesung 13 (Sitzung vom 5. April 1978), S. 592. Vgl. dazu: Sennelart, ebd., S. 565f. 84 Ebd., Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 161. 85 Ebd., S. 158f. und S. 162. Unter dem Begriff der »Regierungstechnik« subsumierte Michel Foucault Verschiedenes. Als »wesentliches technisches Instrument« der Gouvernementalität bezeichnete ders., ebd., S. 162, die »Sicherheitsdispositive«. Als eine weitere »Technik der Regierung« und »Korrelat der Einsetzung von Sicherheitsdispositiven« galt ihm auch die »Freiheit« im Sinne einer »Zirkulationsfreiheit« von Menschen und Dingen. Ebd., Vorlesung 2 (Sitzung vom 18. Januar 1978), S. 78. Vgl. zum Verhältnis von »Freiheit« und »Sicherheit« die Ausführungen weiter unten. 86 Ebd., S. 164. Vgl. ebd., Vorlesung 3 (Sitzung vom 25. Januar 1978), S. 116, ebd., Vorlesung 5 (Sitzung vom 8. Februar 1978), S. 180, sowie ebd., Vorlesung 7 (Sitzung vom 22. Februar 1978), S. 242. 87 Ebd., Vorlesung 5 (Sitzung vom 8. Februar 1978), S. 173. 88 Ebd. sowie ebd., Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 162. 89 Ebd., Vorlesung 5 (Sitzung vom 8. Februar 1978), S. 186. Vgl. dazu ebd., Vorlesung 6 (Sitzung vom 15. Februar 1978), S. 217, sowie ebd., Vorlesung 7 (Sitzung vom 22. Februar 1978), S. 241f. und S. 268. 90 Ebd., Vorlesung 5 (Sitzung vom 8. Februar 1978), S. 189. 91 Beide Zitate: ebd., S. 183. 92 Beide Zitate: ebd., S. 191f.

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Folglich sei es im Zeitalter des Liberalismus die Aufgabe des Staats, dass »das Interesse jedes einzelnen auf eine solche Weise geregelt wird, dass es tatsächlich allen dient.«93 Als Inhaber des Lehrstuhls für die »Geschichte der Denksysteme« am Collège de France ging es Michel Foucault aber weniger um die »wirkliche Regierungspraxis, wie sie sich entwickelt hat.«94 Vielmehr interessierte er sich für das »Nachdenken über die bestmögliche Regierungsweise«, mit dem die Regierung immer auch von ihren Grenzen her betrachtet werde. Diese »Rationalisierung der Regierungspraxis bei der Ausübung der politischen Souveränität« fasste Foucault unter dem Begriff der »Regierungskunst« zusammen.95 Konkret erkannte er darin die »Kunst, die Macht in der Form und nach dem Muster der Ökonomie auszuüben«96 – eine Formulierung, die in den nachfolgenden Ausführungen verdeutlicht werden soll. Der Begriff der »Gouvernementalität« findet in der vorliegenden Studie im Rahmen von Foucaults Genealogie des modernen Staats als »Regierung in ihrer politischen Form« Verwendung. Zunächst werden in einem kurzen Überblick die historischen Entwicklungslinien der Gouvernementalität dargestellt, wobei der Fokus auf die Zeit der Herausbildung des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus gelegt werden soll.97 Ausgehend von der Beobachtung, dass die Entstehung und Entwicklung des schweizerischen Bundesstaats mehrere Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zum Konzept der Gouvernementalität aufweist, gilt es im Anschluss daran zu fragen, ob und inwiefern das Schweizer Bürgerrecht als Regierungstechnik eines gouvernementalen Staats gelesen werden kann. Michel Foucault datierte das Auf kommen der Gouvernementalität in die Zeit des 16. Jahrhunderts. Mit der Auflösung feudaler Strukturen, der Einrichtung großer Territorial- und Verwaltungsstaaten sowie der Reformation und Gegenreformation sei die Frage aufgetaucht, wie und zu welchem Zweck regiert werden soll.98 Zunächst habe sich die Regierung am Vorbild des verant93 Ebd., Vorlesung 13 (Sitzung vom 5. April 1978), S. 497. Vgl. dazu auch: ders., Geschichte der Gouvernementalität 2, Vorlesung 3 (Sitzung vom 24. Januar 1979), S. 100. 94 Ders., Geschichte der Gouvernementalität 2, Vorlesung 1 (Sitzung vom 10. Januar 1979), S. 14. 95 Alle Zitate: ebd. 96 Ders., Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 144f. 97 Vgl. zur Definition des Liberalismus: Ders., Geschichte der Gouvernementalität 2, Vorlesung 3 (Sitzung vom 24. Januar 1979), S. 94, sowie ebd., Zusammenfassung der Vorlesungen »Die Geburt der Biopolitik«, S. 436. 98 Ders., Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 135. Vgl. dazu ebd., S. 154f.: Auch Thomas Hobbes habe »die Leitprinzipien einer Kunst des Regierens« gesucht. Die damaligen Rechtsgelehrten seien aber bei dem Versuch, »aus einer erneuerten Theorie der Souveränität die Leitprinzipien einer Kunst des Regierens herzuleiten«, bei »der Formulierung allgemeiner Prinzipien des öffentlichen Rechts« stehen geblieben. Vgl. dazu: Hindess.

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wortungsvollen Familienvaters orientiert: Wer den Staat regieren wolle, müsse sich selbst, seine Familie und seinen Besitz regieren können. Umgekehrt seien die Väter dann in der Lage, ihre Familie gut zu regieren, wenn der Staat gut regiert werde.99 Deshalb habe sich die Regierungskunst zuerst mit der Frage beschäftigt, wie sich die »Ökonomie« – im Sinne des frühneuzeitlichen »Oikos« des »ganzen Hauses«100 – in die »Verwaltung des Staates«101 einfügen lasse. Durchgesetzt habe sich die Gouvernementalität jedoch erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts, als die Bevölkerungsentwicklung mit dem demografischen Anstieg und wirtschaftlichen Krisen als Problem wahrgenommen wurde.102 Die damalige »Statistik«103 habe allmählich gezeigt, dass die Bevölkerung ihre eigenen Regelmäßigkeiten besitze, die sich nicht auf die Familie reduzieren lassen.104 Aus diesem Grund sei die Familie als Modell der Regierung verschwunden.105 Dagegen habe nun der »höchste Zweck der Regierung«106 die Bevölkerung dargestellt, das heißt, das »Geschick der Bevölkerung zu verbessern, ihre Reichtümer, ihre Lebensdauer, ihre Gesundheit zu mehren.«107 Zur selben Zeit sei die Bevölkerung zum Bezugspunkt für die neue »Wissenschaft vom Regieren« geworden: der politischen Ökonomie.108 Diese habe sich in Abkehr von einem frühneuzeitlichen Ökonomieverständnis auf die Bevölkerung ausgerichtet und sich von der Ökonomie als einem »spezifischen Wirklichkeitsbereich« nicht mehr trennen lassen. In diesem »Wirklichkeitsfeld«

99 Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 142f. 100 Michel Foucault verwendete den Begriff des »ganzen Hauses« nicht. Vgl. dazu hingegen: Brunner, S. 103–127. Der Begriff geht auf den Gesellschaftstheoretiker W.A. Riehl zurück. Vgl. dazu auch: Mesmer, S. 6–10. 101 Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 144. 102 Ebd., S. 156. 103 Vgl. zum Begriff der »Statistik« im Ancien Régime und nach 1789: Desrosières, S. 30–35, insbesondere S. 35. 104 Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 157. Vgl. dazu: Malthus. 105 Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 157. 106 Ebd., S. 158. 107 Ebd. Damit sei die Bevölkerung aber auch selbst zum »Instrument der Regierung« geworden. Ebd. 108 Ebd., S. 159. Michel Foucault verwendete den Begriff der »politischen Ökonomie« im allgemeinen Sinn einer »Volkswirtschaftslehre«. Vgl. dazu ebd.: Eine »Wissenschaft der Regierung ist eine Wissenschaft der Beziehungen zwischen den Reichtümern und der Bevölkerung.« Vgl. dazu auch ebd., Vorlesung 3 (Sitzung vom 25. Januar 1978), S. 116–117, ders., Geschichte der Gouvernementalität 2, Vorlesung 1 (Sitzung vom 10. Januar 1979), S. 30, sowie Hartfiel/Hillmann, S. 590f.

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habe die politische Ökonomie zugleich »als Wissenschaft und als Interventionstechnik der Regierung« fungiert.109 Mit dem Zusammengehen von Regierung, Bevölkerung und politischer Ökonomie sei in der Mitte des 18. Jahrhunderts eine »neue Form der Gouvernementalität«110 aufgetreten und mit dem Auf kommen des wirtschaftlichen Liberalismus und der bürgerlich-liberalen Gesellschaft zusammengefallen.111 Die »Führung dieser bürgerlichen Gesellschaft«112 habe nun in der Verantwortung des Staats gelegen. Gleichzeitig sei es notwendig geworden, dass der Staat im Sinne des liberalen Grundsatzes des »Laisser faire« seine Interventionen begrenzte.113 Die Aufgabe der neuen Regierungskunst, der politischen Ökonomie, habe somit darin gelegen, die »Frage nach der Genügsamkeit der Regierung«114 zu stellen und herauszufinden, wie es möglich ist, »so wenig wie möglich zu regieren.«115 Die Antwort auf dieses »Problem der minimalen Regierung« habe man im Markt gefunden.116 Der freie Markt, der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts allein »›natürlichen‹ Mechanismen gehorchte und gehorchen sollte«, sei nun zum Maßstab für eine »gute Regierung«, zum Ort der »Veridiktion« geworden.117 Die politische Ökonomie, die Michel Foucault an anderer Stelle mit Adam Smith beginnen ließ,118 habe folglich die Aufgabe, die Regierungspraktiken 109 Alle Zitate: Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 162. 110 Ebd., Vorlesung 13 (Sitzung vom 5. April 1978), S. 498. Vgl. dazu auch: ders., Geschichte der Gouvernementalität 2, Vorlesung 1 (Sitzung vom 10. Januar 1979), ebd., Vorlesung 2 (Sitzung vom 17. Januar 1979), ebd., Vorlesung 3 (Sitzung vom 24. Januar 1979), ebd., Vorlesung 11 (Sitzung vom 28. März 1979), sowie ebd., Vorlesung 12 (Sitzung vom 4. April 1979). Die früheren Formen der politischen Gouvernementalität zwischen dem 16. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts – die »Staatsräson« und die »Polizei« – behandelte Michel Foucault in ders., Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesungen 9–13 (Sitzungen vom 8., 15., 22., 29. März und 5. April 1978). 111 Vgl. dazu die Ausführungen zur »liberalen Regierungskunst« und zur »bürgerlichen Gesellschaft« in ders., Geschichte der Gouvernementalität 2, Vorlesung 12 (Sitzung vom 4. April 1979). 112 Ders., Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 13 (Sitzung vom 5. April 1978), S. 502. 113 Ebd., S. 505f. 114 Ders., Geschichte der Gouvernementalität 2, Vorlesung 2 (Sitzung vom 17. Januar 1979), S. 51: »[Die] Frage der Genügsamkeit der Regierung ist gerade die Frage des Liberalismus.« 115 Ebd., S. 50. 116 Ebd., S. 52. Vgl. zum Übergang von geregelten zu selbstregulierenden Märkten: Polanyi, S. 87–112. Wie Michel Foucault beschäftigte sich Karl Polanyi mit dem Übergang von der ständisch-feudalen zur bürgerlich-liberalen Gesellschaft. Eine vergleichende Lektüre würde sich als lohnend erweisen. 117 Alle Zitate: Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 2, Vorlesung 2 (Sitzung vom 17. Januar 1979), S. 54 und S. 56. 118 Ebd., Vorlesung 11 (Sitzung vom 28. März 1979), S. 393f.

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nach ihrem Erfolg und Misserfolg hinsichtlich des Marktes und nicht nach ihrer Legitimität oder Illegitimität zu beurteilen.119 Daher galt es seither, »nicht sosehr das Wachstum des Staates an Kraft, Reichtum und Macht, also [das] unbegrenzte Wachstum des Staates sicherzustellen, sondern von innen her die Ausübung der Regierungsmacht zu begrenzen.«120 Bei der rechtlichen Formulierung dieser »Selbstbegrenzung«121 staatlicher Macht habe es zwei unterschiedliche Wege gegeben: »den revolutionären Weg, der sich wesentlich auf die traditionellen Positionen des öffentlichen Rechts gründet, und den radikalen Weg, der sich wesentlich auf die neue Ökonomie der gouvernementalen Vernunft gründet.«122 Im Rahmen dieser beiden Prinzipien – vereinfachend kann vom französischen und englischen Weg gesprochen werden – seien das Recht und die Freiheit unterschiedlich gedeutet worden. So sei das Gesetz gemäß dem französischen, revolutionären Weg als Ausdruck »eines kollektiven Willens« aufgefasst worden, während das Gesetz im Sinne des »englischen Radikalismus« das »Interventionsgebiet der öffentlichen Gewalt … von der Sphäre der Unabhängigkeit der Individuen« getrennt habe.123 In ähnlicher Weise sei die Freiheit im revolutionären Sinn »als Ausübung einer Reihe von Grundrechten aufgefasst« worden, im radikalen Sinn dagegen »einfach als Unabhängigkeit der Regierten gegenüber den Regierenden.«124 Die »Grenzen der Regierungskompetenz« bildeten danach »die Grenzen der Nützlichkeit einer Regierungsintervention«.125 Die »Ambiguität«126 dieser beiden Begrenzungsprinzipien, in denen sich die ideengeschichtlichen Paradigmen einer Rousseauschen und Millschen Auffassung von Staatsbürgerschaft spiegeln, habe den europäischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts und auch des 20. Jahrhunderts charakterisiert. Das Verhältnis der beiden Prinzipien sei jedoch kein dialektisches gewesen, sondern habe in der »Verknüpfung des Heterogenen«127 bestanden. Eine Bemerkung, die auch für die Analyse der Staatsbürgerschaft in der Schweiz von Bedeutung ist. Doch nach welchem Prinzip der Begriff der Freiheit auch immer gedeutet wird: In Anbetracht dessen, dass man im bürgerlich-liberalen Zeitalter, »nur noch unter der Bedingung gut regieren« konnte, »dass die Freiheit oder 119 Ebd., Vorlesung 1 (Sitzung vom 10. Januar 1979), S. 34. 120 Ebd., Vorlesung 2 (Sitzung vom 17. Januar 1979), S. 49. 121 Ebd., S. 63. 122 Ebd., S. 68. Unter dem Begriff des »Radikalismus« verstand Michel Foucault an dieser Stelle »die Haltung, die darin besteht, der Regierung und der Gouvernementalität im allgemeinen die Frage nach der Nützlichkeit oder Überflüssigkeit zu stellen.« 123 Alle Zitate: Ebd., S. 67 und S. 69. 124 Ebd., S. 69. 125 Beide Zitate: ebd., S. 67. 126 Ebd., S. 69. 127 Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 2, Vorlesung 2 (Sitzung vom 17. Januar 1979), S. 70.

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bestimmte Formen der Freiheit wirklich geachtet werden«, habe das »Hauptziel der Gouvernementalität« schließlich darin bestanden, »Sicherheitsmaßnahmen« zu ergreifen, »deren wesentliche Funktion es ist, die Sicherheit dieser natürlichen Phänomene, welche die Wirtschaftsprozesse oder für die Bevölkerung wesentliche Prozesse sind, zu garantieren.«128 So sollte die liberale Regierung beispielsweise »die Zirkulation [von Menschen und Gütern] gewähren lassen, die Zirkulation kontrollieren, die guten und schlechten aussortieren, bewirken, dass all dies stets in Bewegung bleibt, …, doch auf eine solche Weise, dass die dieser Zirkulation inhärenten Gefahren aufgehoben werden.«129 Nicht die Sicherung des Fürsten und seines Territoriums habe im Zentrum des liberalen Regierungshandelns gestanden, sondern die »Sicherheit der Bevölkerung«.130 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen sich infolge der sozialen Frage, der organisierten Arbeiterbewegung und der »Erfindung des Sozialen«131 (im Sinne einer neuen Objektivierung von Gesellschaft) einzelne europäische Staaten zu Sozialstaaten umzubauen.132 Während sich Michel Foucault ausführlich mit der neoliberalen Gouvernementalität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigte, führten verschiedene Autorinnen und Autoren seine Gouvernementalitätsanalyse am Beispiel der Transformation vom liberalen Staat zum Sozialstaat im Sinne einer »Genealogie des Wohlfahrtsstaates«133 weiter. Die Gemeinsamkeit dieser Arbeiten liegt, wie Thomas Lemke bemerkt, in der Annahme, dass die Herausbildung des Sozialstaats »nicht von einer epistemologisch-politischen Verschiebung in der Objektivierung von Gesellschaft zu trennen« ist, »die sich markant von der frühliberalen Vorstellung einer ›bürgerlichen Gesellschaft‹ unterscheidet.«134 Das neue, gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf kommende Wissen, das diese Verschiebung ermöglichte, habe aus einer Verbindung der Statistik mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung bestanden, die der belgische Ökonom, Statistiker und Mathematik128 Alle Zitate: Ders., Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 13 (Sitzung vom 5. April 1978), S. 506. 129 Ebd., Vorlesung 3 (Sitzung vom 25. Januar 1978), S. 101. Vgl. zum Begriff der »Freiheit« auch: ebd., Vorlesung 2 (Sitzung vom 18. Januar 1978), S. 78. 130 Ebd., Vorlesung 3 (Sitzung vom 25. Januar 1978), S. 101. 131 Donzelot, S. 20 und S. 50, geht für Frankreich davon aus, dass nach den »traumatischen« Erfahrungen der zweiten Republik (1848–1952), die zwar egalitär, aber nicht sozial ausgerichtet war, die »Erfindung des Sozialen« im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts notwendig wurde. Damit sind die Etablierung von Gesellschaftswissenschaften, insbesondere der Soziologie, und die damit einhergehende Deutung der Gesellschaft als eines eigenen Untersuchungs- und Regierungsgegenstandes gemeint. 132 Von der Schweiz wird erst mit der Einführung der Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV) im Jahr 1948 als einem Sozialstaat gesprochen. Haller/Kölz, S. 319. 133 Lemke, S. 196f., nennt Jacques Donzelot, François Ewald und Giovanna Procacci. 134 Ebd., S. 196.

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professor Adolphe Quetelet in den 1830er und 1840er Jahren vorgenommen hatte.135 Die Objektivierung von Gesellschaft stellte eine Voraussetzung für die Entstehung einer neuen Wissenschaft, der Soziologie, dar. Gleichzeitig sei die Gesellschaft »zu einer spezifischen Bezugsfolie politischer Strategien und Konzepte [geworden], in denen die Sicherheit der Gesellschaft gegen die Feinde, die sie bedrohen, ausgespielt werden konnte.«136 Die jetzt möglich gewordenen direkten staatlichen Eingriffe in die Gesellschaft betrafen vor allem die »Regierung der Armut«,137 die Absicherung sozialer Risiken wie Unfall und Krankheit mit Hilfe von »Versicherungstechnologien«138 und die »Verteidigung der Gesellschaft«139 gegen ihre nach kriminologischen, medizinischen und später rassistischen Kriterien definierten Feinde. Im Anschluss an die Ausführungen zur Foucaultschen Genealogie des modernen Staats und zur Gouvernementalität als »Regierung in ihrer politischen Form« stellen sich für die vorliegende Studie zwei Fragen: Was hat die Geschichte der Schweiz mit der Gouvernementalität gemeinsam, die Michel Foucault für das »gesamte Abendland«140 entworfen hat, und wie ist infolgedessen das Schweizer Bürgerrecht zu deuten? Nachstehend soll diesen Fragen für die Zeit zwischen der Regeneration der 1830er Jahre, die den Beginn des Liberalismus in der Schweiz markiert, und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachgegangen werden. Dabei ist auch die Frage nach gegenläufigen, in Foucaultscher Terminologie »souveränen«141 Herrschaftsformen in der damaligen Schweiz zu stellen. In den Jahren 1830 und 1831 erstritten die liberalen Bewegungen in elf Schweizer Kantonen die Einsetzung so genannter »Regenerationsverfassungen« 135 Lambert Adolphe/Jacques Quetelet (1796–1874) gilt als Begründer der modernen Sozialstatistik. Vgl. dazu: Desrosières, S. 11 und S. 85, sowie dtv-Lexikon in 20 Bänden, »Quetelet«, Bd. 15. Vgl. zum Verhältnis von statistischem Wissen und der Herausbildung des modernen Staats am Beispiel des Königreichs Sachsen: Schmidt. 136 Krasmann, S. 9. 137 Vgl. dazu: Procacci. 138 Vgl. dazu: Lemke, S. 211–221. 139 Vgl. dazu: ebd., S. 222–238. 140 Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 162. 141 Gemäß Foucault, Der Wille zum Wissen 1, S. 113, wird Macht nach der politischen Theorie der »Souveränität« vor allem in Rechtsbegriffen verstanden und zeichnet sich durch drei zentrale Merkmale aus: Erstens durch die »Regierungsmacht, als Gesamtheit der Institutionen und Apparate, die die bürgerliche Ordnung in einem gegebenen Staat garantieren«, zweitens durch eine »Unterwerfungsart« in »Form des Gesetzes« und drittens durch »ein allgemeines Herrschaftssystem, das von einem Element, von einer Gruppe gegen die andere aufrechterhalten wird und das in sukzessiven Zweiteilungen den gesamten Gesellschaftskörper durchdringt«. Ebd., S. 113. Auch der Volkssouveränität liege die Vorstellung einer souveränen Macht zugrunde. Ebd., S. 109f.

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und damit die repräsentative Demokratie.142 Gordon Alexander Craig verwies auf die frühe Entwicklung des Liberalismus in der Schweiz und dessen Rolle für andere Staaten, die von der Forschung unterschätzt worden sei. Mit Verweis auf William Leonard Langer führte Craig an, dass die Schweiz in den Jahren vor 1848 ein »großes Experimentierfeld des Liberalismus«143 gewesen sei. Eine »Schlüsselrolle«144 spielten dabei die Stadt und der Kanton Zürich mit Paul Usteri, dem »Stammvater des Zürcher Liberalismus«145 und Zürichs erstem Bürgermeister in der Regenerationszeit, sowie Jonas Furrer, Zürcher Bürgermeister und später erster Bundespräsident. Die Zürcher Kantonsverfassung von 1831 sei die »Stunde der Geburt eines liberal regierten Kantons«146 gewesen. Die liberalen Zürcher Staatsmänner besaßen aber auch bedeutenden Einfluss auf die Entstehung und die Politik des schweizerischen Bundesstaats von 1848, mit dem das liberale, repräsentativ-demokratische System in der gesamten Schweiz verankert wurde.147 Mit der Durchsetzung liberaler Kantonsregierungen und der Entstehung des schweizerischen Bundesstaats gingen zahlreiche Bestrebungen einher, das »Geschick der Bevölkerung«, wie Michel Foucault es genannt hat, durch die Herstellung bürgerlicher und wirtschaftlicher Freiheiten bei gleichzeitiger Durchsetzung gouvernementaler »Sicherheitsmaßnahmen« zu beeinflussen. Auf der Ebene einzelner Kantone wurde beispielsweise die Auf hebung des Zunftzwangs, die Gleichstellung der Landbürger mit den Stadtbürgern in Fragen der Niederlassung, die Verhinderung von Seuchen durch städtebauliche Maßnahmen, die Senkung der Kindersterblichkeit oder die Förderung der Volksbildung angestrebt.148 Zu den Maßnahmen der Tagsatzung, der Versamm142 Schaffner, »Direkte« oder »indirekte« Demokratie?, S. 273–275. Zu den elf Kantonen gehörten Tessin, Thurgau, Aargau, Luzern, Zürich, St. Gallen, Freiburg, Waadt, Solothurn, Bern und Schaff hausen. Ders., Direkte Demokratie, S. 192, weist darauf hin, dass der Machtwechsel in den elf liberalen Regenerationskantonen, anders »als die Historiographie später behauptete, … keine Folge der Julirevolution in Paris« war. Vgl. zum Begriff der »Regeneration«: ebd., S. 202. 143 Craig, S. 11. 144 Ebd. 145 Ebd., S. 42. 146 Ebd., S. 57. 147 Ebd., S. 88. Vgl. dazu: Ruffieux, S. 14 sowie Feusi Widmer, S. 104. Suter, 29f., sah die Erfolge der Bundesstaatsgründung von 1848 dadurch begünstigt, dass sich in der schweizerischen Eidgenossenschaft der Frühen Neuzeit keine absolutistischen Strukturen, sondern »ein Regiment« herausgebildet habe, »das man in Anlehnung an dasjenige von England mit E.P. Thompson als paternalistisch charakterisieren« könne. Dieses zeichne sich im Vergleich zu absolutistischen Staaten durch die fehlenden Machtgrundlagen für eine wirksame Beherrschung des abhängigen Territoriums aus. Insbesondere habe die geringere »Ressourcenabschöpfung weit grössere Freiräume für eine breitgesteuerte private Kapitalbildung und Investitionen [gelassen], was zusammen mit der ebenfalls geringeren Reglementierungsdichte günstige Bedingungen für die Protoagrarkapitalisierung, Protoindustrialisierung und Industrialisierung schuf.« Vgl. dazu: Thompson. 148 Vgl. zum Kanton Basel-Stadt: Wecker, 1833 bis 1910.

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lung der bevollmächtigten Boten der eidgenössischen Orte zur Zeit des Staatenbundes,149 und später des Bundes gehörten hauptsächlich Bestrebungen, den freien Personen- und Warenverkehr innerhalb der Eidgenossenschaft zu fördern.150 Insbesondere erreichte der junge schweizerische Bundesstaat von 1848 dieses Ziel durch die Einführung der Niederlassungsfreiheit für christliche Schweizer Männer, die Abschaffung der Binnenzölle, die Vereinheitlichung von Maßen, Münz und Gewichten sowie den Ausbau der Verkehrswege.151 Ein anderes Ziel des Bundes war es, die »Heimatlosigkeit« und »Nicht-Sesshaftigkeit« durch die Einbürgerung der »Heimatlosen« zu beseitigen.152 Darüber hinaus hielten sich die staatlichen Eingriffe in Grenzen. Der schweizerische Bundesstaat von 1848 blieb aber nicht nur angesichts des herrschenden Liberalismus ein schwacher Staat, sondern – aus einer zentralistischen Perspektive betrachtet – auch aufgrund des ausgeprägten schweizerischen Föderalismus sowie der Bedeutung von Vereinen und Gesellschaften, die in größer werdender Zahl das gesellschaftliche und politische Leben der Schweiz bestimmten.153 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts geriet das liberale politische System der Schweiz in die Krise.154 Zu den Ursachen dieser Krise sind die soziale Frage, der Einbezug der Katholisch-Konservativen in den Bundesrat (1891), der Aufstieg einer »neuen Rechten« und die zunehmende Verzahnung zwischen wirtschaftlichen Interessensgemeinschaften und der liberalen »classe politique« zu zählen.155 Ebenso nahm damals die Bedeutung intermediärer Interessen zwischen Bevölkerung und Staat zu, insbesondere die Bedeutung der Wirtschaftsverbände, die »schon seit den 1880er Jahren die wirtschaftspolitischen Problemlösungsmuster« prägten und die Politik »kolonialisierten«.156 Außer 149 Die Tagsatzung war bis 1848 die Versammlung, an der »bevollmächtigte Boten der eidgenössischen Orte gemeinsame Geschäfte berieten.« Historisches Lexikon der Schweiz, »Tagsatzung«. 150 Vgl. für die Zeit vor 1848 zum Beispiel den Tagsatzungsbeschluss über freien Verkehr im Innern der Eidgenossenschaft, vom 26. Heumonat [ Juli] 1831. 151 Einen Überblick über die Geschichte des schweizerischen Bundesstaats zwischen 1848 und 1914 gibt Ruffieux. 152 Gemäß Meier/Wolfensberger, S. 33, zeichneten sich die vom Rechtszustand der »Heimatlosigkeit betroffenen Personen … durch einen mangelhaften oder fehlenden bürgerrechtlichen Status aus.« Zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert bedeutete Heimatlosigkeit in der Schweiz vor allem »das Fehlen eines Bürger- oder Heimatrechts einer Gemeinde …« Unter dem Begriff der »Nicht-Sesshaftigkeit« verstehen dies., S. 435, eine fahrende Lebens- und Wirtschaftsweise. 153 Schaffner, Vereinskultur, S. 420. Die Vereine und Gesellschaften widmeten sich neben der Pflege der Geselligkeit auch politischen Themen wie der Bundesstaatsgründung, der »Heimatlosenfrage«, der Volksbildung oder der Landwirtschaft sowie der bürgerlichen Wohltätigkeit. Als einer der wichtigsten Vereine sei hier die 1810 gegründete »Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft« genannt, deren Präsident in den 1820er Jahren Paul Usteri war. Vgl. dazu: Geschichte der Schweizerischen gemeinnützigen Gesellschaft. 154 Vgl. zur »Krise im Fin de siècle«: Siegenthaler. 155 Jost, S. 24. 156 J. Tanner, Staat und Wirtschaft, S. 245f.

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der »Verwirtschaftlichung der Politik«157 setzte auch das Auf kommen einer »reaktionäre[n] Avantgarde«158 um die Jahrhundertwende der Hegemonie des politischen Liberalismus in der Schweiz ein Ende. Gleichzeitig scheiterten in der Schweiz des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verschiedene bundesstaatliche Versuche, die soziale Sicherheit der Bevölkerung durch die Einführung obligatorischer Sozialversicherungszweige zu erhöhen.159 Gelungene Beispiele staatlicher Eingriffe bildeten dagegen auf Bundesebene das Fabrikgesetz von 1877 oder die gesetzlichen Bestimmungen zu den Privatversicherungen in der Mitte der 1880er Jahre.160 Erst mit der Einführung der Alters- und Hinterbliebenenversicherung im Jahr 1948 fanden die Forderungen nach sozialstaatlichen Einrichtungen in der Schweiz eine damals zufriedenstellende Realisierung. Für die Sozialhilfe waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch weiterhin die Bürgergemeinden und seit dem Ersten Weltkrieg zunehmend die Niederlassungskantone zuständig. Gleichzeitig gab es einzelne Städte und Kantone wie etwa Basel-Stadt, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vermehrt zu »sozialstaatlichen« Maßnahmen griffen.161 Dennoch befand sich die schweizerische Gesellschaft während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem sozialstaatlichen Vakuum: Als Objekt sozialstaatlicher Eingriffe des Bundes war sie zwar »entdeckt«, gleichzeitig blieben sozialstaatliche Eingriffe größtenteils aus.162 157 Vgl. dazu: Dürr, S. 83: »Die Verwirtschaftlichung der Politik ist also eine unbestreitbare und überaus umgestaltende Tatsache. Die Entwicklung dazu war natürlich vor dem Kriege vorbereitet und durch den Krieg, diese ungeheuerliche Abkürzung eines geschichtlichen Prozesses, nur beschleunigt worden.« 158 Aufgrund ihrer modernen Handlungsmuster zur Durchsetzung rückwärtsgewandter Ziele bezeichnet Jost die »neue Rechte« als »reaktionär« und »avantgardistisch« zugleich. 159 Im Jahr 1890 war die Bestimmung in der Bundesverfassung verankert worden, dass der Bund ein Gesetz zur Einführung einer obligatorischen Kranken- und Unfallversicherung erlassen kann. Der erste Versuch, ein entsprechendes Gesetz (»Lex Forrer«) einzuführen, wurde am 20. Oktober 1900 vom schweizerischen Stimmvolk deutlich abgelehnt. Das Gesetz hätte unter anderem eine Kranken- und Unfallversicherung mit Obligatorium für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom 14. Lebensjahr an vorgesehen, sofern ihr Jahreslohn 5 000 Franken nicht überstieg. Die Vorlage wurde von liberaler Seite als »Anfang vom Staatssozialismus« und als zu »zentralistisch« bezeichnet. Eine neue Vorlage ohne Obligatorium in der Krankenversicherung wurde am 28. Juni 1911 erlassen und in der Volksabstimmung vom 4. Dezember 1912 knapp angenommen. Vgl. dazu: Maurer sowie Tschudi. 160 Vgl. dazu: Widmer. Vgl. zur frühen Versicherung für Schweizer Wehrmänner im Jahr 1852: Widmer, S. 170, sowie Humair. 161 Vgl. zur »Pionierrolle« des »Stadtstaats« Basel für die schweizerische Sozialpolitik: Mooser, Konflikt und Integration, S. 226–263. 162 Auf diese Weise blieb das Gemeindebürgerrecht von großer Wichtigkeit. Die armenrechtliche Bedeutung des Gemeindebürgerrechts wurde zudem durch das weitgehende Fehlen obligatorischer Sozialversicherungszweige bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gefestigt. Vgl. zur Herausbildung der wichtigsten Sozialversicherungszweige in der Schweiz: Studer, Soziale Sicherheit.

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Dagegen ergriffen die Bundesbehörden seit dem Ersten Weltkrieg vermehrt kulturprotektionistische Maßnahmen, mit denen außer Sozialisten und Kommunisten in der Schweiz auch ein »äußerer Feind« aus der schweizerischen Gesellschaft ausgeschlossen werden sollte: die Ausländer. Insofern ist zu vermuten, dass in der Schweiz zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Entpolitisierung der sozialen Ungleichheit weniger durch die Bekämpfung des »Pauperismus« stattfand als durch die Bekämpfung der Ausländer. Den Schlüsselbegriff dafür bildete der schweizerische Terminus der »Überfremdung«, der am Anfang der zunehmend rigorosen schweizerischen Fremdenabwehr des 20. Jahrhunderts stand.163 Aufgrund der Schilderungen zur schweizerischen Geschichte zwischen den 1830er Jahren und der Zwischenkriegszeit wird deutlich, dass das Regierungshandeln sowohl des schweizerischen Bundesstaats als auch einzelner Kantone gouvernementale Züge trug. Parallel zum gouvernementalen Regierungshandeln einzelner Kantone und des Bundes gab es in der Schweiz des 19. und 20. Jahrhunderts aber weiterhin souveräne Herrschaftsformen, die der Gouvernementalität Grenzen setzten. Insbesondere blieben zahlreiche schweizerische Gemeinden darauf bedacht, ihre Gemeindegüter zu mehren, die Zahl der daran berechtigten Personen, das heißt der Bürger, beschränkt zu halten und die kommunalen Kompetenzen gegenüber den Kantonen zu verteidigen. So blieb für viele Gemeinden der Schutz der eigenen Körperschaft, der Bürgergüter und der Armenkasse das vordringlichste Ziel. Allerdings stellte das Handeln der Gemeinden keine »innere« Grenze für die Gouvernementalität dar, wie sie dieser von der politischen Ökonomie gemäß der »Veridiktion des Marktes« gesetzt wurde, sondern eine »äußere«, in der Tradition der Gemeindeautonomie stehende Begrenzung. So bemerkte auch Michel Foucault, dass mit der Herausbildung des modernen Staats frühere Formen der Macht nicht einfach von der gouvernementalen Regierung ersetzt worden seien, sondern in Wirklichkeit immer ein Zusammenspiel bestehe.164 In ähnlicher Weise hat Michel Foucault, wie oben erwähnt, bei der Frage nach den rechtlichen Formen gouvernementaler Selbstbegrenzung von der »Verknüpfung des Heterogenen« gesprochen und damit auf die Verbindung des republikanischen mit dem radikal-liberalen Bürgerprinzip Bezug genommen. Diese Verknüpfung trifft in besonderem Maß auch auf die Schweiz des 19. und 20. Jahrhunderts zu. Wie die Historikerin Barbara Weinmann am Beispiel des Kantons Zürich dargestellt hat, konnte hier das sowohl republikanische als auch auf der altständischen Autonomie der Gemeinden auf bauende Leitbild einer »Identität von Regierenden und Regierten« mit der He163 Vgl. dazu: Kury, Über Fremde reden. 164 Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 161.

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rausbildung des liberalen privaten Eigentumsrechts seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts »dynamisiert« werden.165 In unterschiedlichen Etappen sei es in der Folge im Kanton Zürich zu einer Verbindung zwischen Kommunalismus, Republikanismus und Liberalismus gekommen.166 Eine Verbindung, die schließlich von der ständischen Gesellschaft »in die Erwerbs- und Industriegesellschaft der Moderne« und mit der Zürcher Kantonsverfassung von 1869 zur halbdirekten Demokratie geführt habe. Diese andere, »korporative[…] Bürgergesellschaft« verkörperte seither »eine moderne Form des republikanischen Ideals einer schichtenübergreifenden Bürgergesellschaft als politisch-sozialer Einheit …«167 Die Verbindung von mittelalterlich-kommunalistischen, frühneuzeitlichrepublikanischen und modern-liberalen Prinzipien im Kanton Zürich weist zahlreiche Ähnlichkeiten mit der Entwicklung des gesamtschweizerischen Bürgerprinzips zwischen der Helvetischen Republik von 1798, der Bundesstaatsgründung von 1848 und der ersten Totalrevision der Bundesverfassung im Jahr 1874 auf. Zwar wurde in der Schweiz zur Zeit des helvetischen Einheitsstaats zwischen 1798 und 1803 (»Helvetik« genannt) das liberale Gleichheitsprinzip – unter Ausschluss der Frauen und Juden – erstmals durchgesetzt. Die Mitwirkungsrechte der helvetischen Bürger erschöpften sich damals aber in der Möglichkeit, nationale Repräsentanten zu wählen; das republikanische Prinzip der »Identität von Regierenden und Regierten« setzte sich 1798 trotz Protestbewegungen ländlicher Unterschichten nicht durch.168 Insofern kann zwar eine direkte Verbindungslinie zwischen der Helvetik und dem Bundesstaat von 1848 gezogen werden, mit dem unter dem Signum des politischen Liberalismus eine repräsentative Demokratie etabliert wurde.169 Aus der Perspektive der republikanischen Volksbewegungen gelangt der Historiker Rolf Graber allerdings zu einer abweichenden Interpretation über die Bedeutung der Helvetik für das politische System des schweizerischen Bundesstaats. So hätten die damaligen Volksbewegungen »wichtige Lernprozesse befördert und beschleunigt, die für die Herausbildung der direktdemokratischen Elemente des politischen Systems der modernen Schweiz von grosser 165 Weinmann, S. 333. 166 Ebd., S. 19. Dies., S. 333f., zeigt, dass der Kommunalismus zahlreiche Affinitäten zum Republikanismus besaß, insbesondere die Vorstellung von der »Identität zwischen Regierenden und Regierten«. Darüber hinaus habe die »Teilhabe an der bürgerlichen Gemeinschaft … in beiden Fällen exklusive Züge« getragen. Als Voraussetzungen sowohl für den republikanischen als auch für den gemeindlich-genossenschaftlichen Bürgerstatus hätten die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit und die Waffenfähigkeit gegolten. 167 Alle Zitate: ebd., S. 358. Vgl. hingegen zur Entstehung der direkten Demokratie im Kanton Schwyz: Adler. 168 Graber, S. 456. 169 Vgl. zur Verbindung zwischen der Helvetik und der Bundesstaatsgründung von 1848 auch: Craig, S. 45.

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Bedeutung sind.« Deshalb seien »nicht nur jene Kontinuitätslinien zu verfolgen, die von der helvetischen Verfassung von 1798 zur Bundesverfassung von 1848 führen, sondern auch jener breitere geschichtliche Grundstrom der Volksbewegungen, der zur Verfassungsrevision von 1874 und damit zur Institutionalisierung der Volksrechte wesentlich beigetragen hat.«170 Das liberale Deutungsmodell der Staatsbürgerschaft, das die Verteidigung individueller Freiheiten und Eigentumsrechte gegenüber dem Staat höher veranschlagt als die direkte Partizipation an der staatlichen Macht, wurde denn auch mit der Verankerung republikanischer, direktdemokratischer Elemente in der Verfassung von 1874 ergänzt. In Übernahme der Terminologie Weinmanns kann damit auch auf Bundesebene seit 1874 von einer »korporativen Bürgergesellschaft«171 gesprochen werden. Allerdings mit einer gewichtigen Einschränkung: Bei der schichtenübergreifenden Korporation gleichberechtigter und mit politischen Rechten ausgestatteter Bürger handelte es sich ausschließlich um Männer. Schweizerinnen waren bis ins Jahr 1971 von den politischen Rechten auf Bundessebene ausgeschlossen. Zusammenfassend sei festgehalten: Außer der Selbstbeschränkung staatlicher Macht im Rahmen der liberalen Gouvernementalität hatte der schweizerische Bundesstaat auch äußere Faktoren in sein Regierungshandeln einzuplanen, die seine Macht begrenzten: Die republikanischen Selbstregierungsmöglichkeiten der männlichen Schweizer Bürger in Form direktdemokratischer Instrumente, den starken Föderalismus, das korporatistische Selbstverständnis der Gemeinden sowie den Einfluss zivilgesellschaftlicher Organisationen und wirtschaftlicher Interessensverbände.172 Insofern basierte die Funktionstüchtigkeit des liberalen Bundesstaats nicht auf der Maximierung seiner Macht, sondern auf einem permanenten Interessens- und Lastenausgleich mit Kantonen und Gemeinden sowie auf dem Einbezug von Stimmbevölkerung, Vereinen und Verbänden in seine Regierungstätigkeit. Die geschilderten Machtverhältnisse werden in der vorliegenden Studie als Rahmenbedingungen für die Entwicklung und Ausprägung des Schweizer Bürgerrechts gelesen. Entsprechend wird das Schweizer Bürgerrecht innerhalb des Spannungsbogens zwischen souveränen und gouvernementalen Herrschaftsformen gedeutet: einmal als juristisches Instrument souveräner Volksherrschaft und kommunaler Autonomie, andererseits als gouvernementale Regierungstechnik des Bundes und der liberal regierten Kantone zur Gewährung und Absicherung bürgerlicher Freiheiten und zur Verteilung indi170 Beide Zitate: Graber, S. 456. 171 Weinmann, S. 358. 172 Aufgrund des großen Einflusses von Verbänden auf die schweizerische Politik wird die Schweiz nicht selten als »Verbandsdemokratie« bezeichnet. Vgl. dazu: Brassel-Moser, insbesondere S. 59–62, Tschäni, S. 59, sowie Historisches Lexikon der Schweiz, »Verband«.

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vidueller Lebenschancen.173 Konkretisierung findet diese doppelte Deutung des Schweizer Bürgerrechts in den damit verbundenen Ausschließungs- und Integrationsdynamiken. Diese stellen das Produkt sowohl souveräner als auch gouvernementaler Grenzziehungen beim Erwerb und Verlust des Bürgerrechts oder bei der Zuschreibung bürgerlicher Rechte und Pflichten aufgrund bestimmter Kriterien wie etwa »Geschlecht« oder »sozialer Schicht« dar. Zugleich sind diese Dynamiken immer auch das (kontingente) Ergebnis der dabei zum Tragen kommenden Aushandlungs- und Koordinationsprozesse zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden. Mit dieser Deutung des Schweizer Bürgerrechts, die weniger auf einer ideengeschichtlichen Herleitung als auf den spezifisch schweizerischen Machtverhältnissen im Rahmen der Foucaultschen Genealogie des modernen Staats beruht, geht die Studie über bisherige Arbeiten hinaus.

173 Rechte, Recht und Gesetze seien im Rahmen gouvernementaler Herrschaft nur Varianten unterschiedlicher Regierungstaktiken. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 150.

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II. Longue durée: Das schweizerische Kantons- und Gemeindebürgerrecht vom Ancien Régime bis ins 20. Jahrhundert

Die Bundesverfassung von 1848 definierte die Zugehörigkeit einer Person zum schweizerischen Bundesstaat über das Kantonsbürgerrecht: Wer das Bürgerrecht eines Kantons besaß, galt auch als Schweizer Bürger.1 Wie zur Zeit des Ancien Régimes und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entschieden daher auch nach der Bundesstaatsgründung die Kantone darüber, wer Schweizerin oder Schweizer werden konnte. Dabei gewährten sie ihren Gemeinden weiterhin umfassende Mitspracherechte in Einbürgerungsfragen. 2 Die Rechtstradition des bis 1848 zweistufigen Kantons- und Gemeindebürgerrechts blieb damit gewahrt. Das bundesstaatliche Bürgerrecht kam lediglich als drittes Element hinzu. Das Kapitel stellt die Entwicklungslinien des schweizerischen Kantons- und Gemeindebürgerrechts von der Reformation bis ins 20. Jahrhundert dar. Dazu gehören die spannungsreiche Ausdifferenzierung der Kompetenzen im Bereich des Bürgerrechts zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden, der damit einhergehende Bedeutungswandel des kantonalen und kommunalen Bürgerrechts sowie die traditionellen Formen des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses. Diese Entwicklungen bildeten eine »longue durée«, ohne die die Ausprägung und Wirkung des 1848 geschaffenen, dreistufigen Schweizer Bürgerrechts nicht zu verstehen sind.3

1 Vgl. dazu: Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 12. Herbstmonat [September] 1848, Art. 42. 2 Zum Verhältnis von Kantons- und Gemeindebürgerrecht hielt Affolter, Die individuellen Rechte, S. 1, fest: »Art. 43 B.V. [von 1874] kennt ein Kantons- und Schweizerbürgerrecht. Von Gemeindebürgerrecht ist die Rede nicht; doch wird vorausgesetzt, dass das Kantonsbürgerrecht sich auf ein Gemeindebürgerrecht stütze.« 3 Die Forschungsliteratur zur frühen Entwicklung des Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht besteht vor allem aus älteren juristischen Dissertationen oder Vorträgen aus der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Für die Darstellung der Gemeindeentwicklung bietet diese Literatur eine wichtige Grundlage. Eine neuere Bearbeitung findet sich bei Meier/Wolfensberger, S. 97–128.

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1. Das Gemeindebürgerrecht als »pièce de résistance« gegen Kantone und Bund Die Entstehung des schweizerischen Gemeindebürgerrechts geht auf die Zeit der Reformation zurück.4 Es bildete die Grundlage des Kantonsbürgerrechts, das sich ebenfalls seit dem 16. Jahrhundert herausbildete und sich allmählich mit dem Gemeindebürgerrecht verschränkte.5 Die Herrschaftsansprüche der Kantonsregierungen im Bereich des Bürgerrechts führten seit jener Zeit zu Spannungen und Konflikten mit den Gemeinden. In Anbetracht dessen bedeutete das Bürgerrecht für die Gemeinden eine »pièce de résistance« gegen die Versuche der Kantone (und nach 1848 des Bundes), die Gemeindeautonomie zu schwächen. Den entscheidenden Faktor für die Herausbildung des schweizerischen Gemeindebürgerrechts stellte die obligatorische Armenunterstützung dar. Die Tagsatzung formulierte im Jahr 1551 den Grundsatz, »dass jeder Ort, auch jeder Flecken und Kilchhöri seine armen Leute selbst erhalten und andere Orte nicht mit denselben beschweren solle.«6 Damit hatte die Tagsatzung die Unterstützung der Armen den Heimatgemeinden übertragen. Die Frage, wer zu den Eigenen gehören sollte und wer nicht, wurde aufgrund dieser und weiterer armenrechtlicher Bestimmungen, den so genannten »Bettelordnungen«,7 für die Gemeinden von zentraler Bedeutung. Infolgedessen bildete sich in Abkehr »von einem primär über wirtschaftliche Interessen definierten Zusammenhalt der an einem bestimmten Ort gemeinsam angesessenen und nutzungsberechtigten Güterbesitzer«8 allmählich ein persönliches, zunehmend vom Besitz unabhängiges Bürgerrecht heraus. Durch die Verbindung von Bürgerrecht und Armenrecht war grundsätzlich und in völlig neuer Art und Weise auch für besitzlose Gemeindeangehörige ein bürgerlicher Rechtsstatus geschaffen worden.9 Mit der armenrechtlichen Bedeutung des Gemeindebürgerrechts änderten sich die Modalitäten für die Aufnahme von Nicht-Bürgern als Gemeindeangehörigen von Grund auf. Zuvor waren die Städte zur Stärkung von Wirtschaft und Wehrhaftigkeit und die Dörfer zur Kultivierung von Boden und Wald an der Zunahme von »Burgern« beziehungsweise »Dorf-Genossen« interessiert 4 Rieser, S. 19f. 5 Stahel, S. 139. 6 Zitiert nach: Rüttimann, Über die Geschichte, S. 21. 7 Der Begriff »Bettelordnungen« ist ein Sammelbegriff für obrigkeitliche Mandate, welche die Pflicht der Armenunterstützung den Gemeinden übertrugen. Rieser, S. 23f. 8 Meier/Wolfensberger, S. 98. 9 Ebd., S. 105. Dennoch wurden die politischen Rechte in der Regel den besitzlosen und ärmeren Bürgern bis zur Bundesverfassung von 1848 und teilweise bis über die Revision der Bundesverfassung von 1874 hinaus vorenthalten. Vgl. dazu: Lutz/Strohmann.

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gewesen.10 Nun wollten sowohl die Stadt- als auch die Landgemeinden die Zahl der Personen, die im Verarmungsfall ein Anrecht auf Unterstützung besaßen, so gering wie möglich halten.11 In der Folge zeichnete sich das schweizerische Gemeindebürgerrecht bis zum Ende des 18. Jahrhunderts durch eine weitgehende Schließung aus. Die Gemeinden waren peinlich darauf bedacht, besitzlose und arme Personen von der Nutzung der bürgerlichen Güter, von der politischen Mitsprache oder von der Schirmherrschaft der Stadt fernzuhalten. In den Landgemeinden waren die Einzugsgelder kaum bezahlbar und die Aufnahme in den Verband der DorfGenossen erfolgte in der Regel nur, wenn die betreffenden Personen Grundbesitz in der Gemeinde besaßen.12 Es entstanden so genannte »Gerechtigkeitsgenossenschaften«, ein enger mit politischen Rechten ausgestatteter Personenkreis, der sich von den zwar nutzungsberechtigten, aber politisch rechtlosen DorfGenossen und von den in der Gemeinde niedergelassenen »Hintersassen« und »Landsassen« abhob.13 Um dagegen die Abnahme der Zahl der eigenen DorfGenossen zu verhindern, belegten die Gemeinden den Wegzug mit Steuern und rechtlichen Einschränkungen. Zudem zogen längere Abwesenheit, Heirat über die Konfessions- oder Kantonsgrenzen, Konfessionswechsel oder eine strafrechtliche Verurteilung nicht selten den Verlust des Gemeindebürgerrechts nach sich. Auch die Einwohner der Städte besaßen eine unterschiedliche Rechtsstellung. In Bern wurde beispielsweise seit dem 16. Jahrhundert zwischen dem »grossen Bürgerrecht« mit politischen und ökonomischen Vorrechten und dem »kleinen Bürgerrecht«, das nur beschränkte Rechte gewährte, unterschieden.14 Immer weniger Personen gehörten zu den regimentsfähigen Familien. Zudem bürgerten einzelne Städte wie Zürich und Basel während längerer Zeit keine Personen mehr ein.15 Diese Situation änderte sich mit dem nationalen Pilotprojekt des helvetischen Einheitsstaats im Jahr 1798, dessen Neuerungen jedoch zeitlich begrenzt bleiben sollten. Die bisherigen Bürgergemeinden sowohl in den Städten als auch in den Dörfern wurden ihrer politischen Funktionen enthoben. Sie 10 Der Begriff »Burger« bezeichnete die Zugehörigen städtischer, der Begriff »Dorf-Genossen« die Mitglieder nicht-städtischer Gemeinden. Meier/Wolfensberger, S. 99. 11 Rieser, S. 27. 12 Alle Angaben: Rüttimann, Über die Geschichte, S. 10, sowie Meier/Wolfensberger, S. 102. 13 Der Begriff »Hintersassen« umfasste die in einer Gemeinde seit langer Zeit ansässigen Personen, die kein Gemeindebürgerrecht und somit auch keine politischen oder ökonomischen Partizipationsrechte besaßen. Dagegen besaßen sie in der Wohngemeinde zumeist ein Wohnrecht. Rüttimann, Über die Geschichte, S. 9, sowie Stahel, S. 166. Vgl. dazu: Meier/Wolfensberger, S. 99f. Mit dem Begriff »Landsassen« wurden diejenigen Personen bezeichnet, die ein Landrecht (Kantonsbürgerrecht), aber kein Gemeindebürgerrecht besaßen. Rieser, S. 53, Anmerkung 1. 14 Vgl. dazu: Meier/Wolfensberger, S. 33–95 und S. 99. 15 Pfister, S. 25.

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besaßen nunmehr lediglich den Status von Nutzungskorporationen. An ihrer statt übernahmen die vom helvetischen Einheitsstaat neu geschaffenen Einwohnergemeinden, die so genannten »Munizipalitäten«, die Funktion der politischen Gemeinde.16 Zu den helvetischen Staatsbürgern gehörten nicht nur die bisherigen Gemeinde- und Kantonsbürger (von »helvetischen Staatsbürgerinnen« war freilich nicht die Rede), sondern auch die in der Schweiz geborenen Landsassen und Hintersassen. Vom helvetischen Bürgerrecht blieben die Jüdinnen und Juden ausgeschlossen. Politische Rechte besaßen zudem nur die männlichen helvetischen Staatsbürger, die seit fünf Jahren in der Gemeinde ansässig waren. Frauen wurde die politische Staatsbürgerschaft nicht gewährt.17 Der helvetische Staat begründete die Neuorganisation des Bürgerrechts mit einem notwendigen Vereinheitlichungs- und Liberalisierungsschritt. In der einleitenden Passage des helvetischen Bürgerrechtsgesetzes vom 13. Februar 1799 hieß es: Die bisherigen Bürgerrechte sind »eine der wichtigsten der fehlerhaften Grundlagen …, welche sich jedem Begriffe der Einheit entgegensetzten, und den hohen Drang zum allgemeinen Wohl unterdrückten, indem sie den Helvetier nur an ein kleines Lokale fesselten, seine Anhänglichkeit an das Vaterland beschränkten, sein Interesse vereinzelten, seinen Wirkungskreis verengten, und oft sogar seinem Erwerbsfleiß die grössten Schwierigkeiten in den Weg legten …«18 Konsequenterweise wurden auch die Zünfte »als Hauptträger der Ungleichheit und des Zwangs«19 während der Zeit des helvetischen Einheitsstaats abgeschafft. Dagegen war die Niederlassungs- wie auch die Handels- und Gewerbefreiheit für die helvetischen Staatsbürger gewährleistet.20 Obwohl die staatlichen Zentralisierungs- und rechtlichen Gleichstellungsbestrebungen des helvetischen Einheitsstaats die schweizerischen Gemeinden und Kantone für die Zeit zwischen 1798 und 1803 entmachteten, führten sie noch nicht, wie dies Zygmunt Bauman modellhaft für die Entwicklung moderner Nationalstaaten festhält, zum Zusammenbruch der »kommunalen Selbstreproduktion«. Auch setzte sich der damit verbundene, »völlig neue[…] Machttypus von noch nie da gewesener Reichweite« in der Eidgenossenschaft nicht durch, der »ein planvolles Management sozialer Prozesse von bisher unbekanntem Ausmaß« auf gesamtstaatlicher Ebene hätte gewährleisten kön16 Stahel, S. 171. 17 Alle Angaben: ebd., S. 154f. Vgl. zum Bürgerrecht der Helvetik auch: S. Arlettaz. 18 Ingressus des Gesetzes über die Bürgerrechte, vom 13. Februar 1799. 19 Stahel, S. 150, folgende Angabe: ebd. 20 Dennoch vermochte sich während der »kurzen Zeitspanne des helvetischen Regiments … die Rechtsgleichheit auf dem Gebiet der Schweiz nicht durchzusetzen. Die traditionellen innerdörflichen Hierarchien und die Privilegierung der Ortsbürger gegenüber den Niedergelassenen erwiesen sich weiterhin als äusserst resistent.« Ebenso wurde der rechtliche Status der nicht-sesshaften Heimatlosen im Zuge dieser Neuerungen nicht aufgewertet. Meier/Wolfensberger, S. 135.

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nen.21 Die rigorose Art und Weise, mit welcher der helvetische Einheitsstaat versuchte, jahrhundertealte kommunale und kantonale Organisationsformen zu beseitigen und »die ehemals untertänig-unmündigen ›Landeskinder‹ gleichsam über Nacht in demokratie- und diskursfähige ›Staatsbürger‹«22 zu verwandeln, ließ den ersten schweizerischen Nationalstaat scheitern. Der liberale Bundesstaat sollte fünfzig Jahre später umsichtiger mit den historisch gewachsenen Gegebenheiten umgehen. Ein weiteres Problem der Helvetik stellte die Anerkennung der Hinter- und Landsassen als helvetische Bürger dar. Von wem sollten die neuen Bürgerinnen und Bürger im Fall der Verarmung unterstützt werden? Auch wenn das Armengut der Gemeinden an den finanziell schwachen helvetischen Einheitsstaat übergegangen wäre, hätte sich dieser nicht in der Lage gesehen, die Armenunterstützung für den nun vergrößerten helvetischen Bürgerinnen- und Bürgerverband zu tragen.23 Der jetzt lediglich als Nutzungskorporation definierte Mitgliederverband der ehemaligen Bürgergemeinden war deshalb weiterhin für die Unterstützung seiner armen Bürgerinnen und Bürger zuständig. Daher hatte der ursprüngliche Bürgerverband neben der Einwohnergemeinde weiterhin Bestand, das alte Gemeindebürgerrecht besaß im armenrechtlichen Sinn noch immer Bedeutung.24 Nach der Auflösung des helvetischen Einheitsstaats im Jahr 1803 kehrten die alten Herrschaftsträger in ihre Ämter zurück und an manchem Ort wurde die Bürgergemeinde wieder als politische Gemeinde eingesetzt. Dennoch führten die Kantone die Entmachtung der Bürgergemeinden fort. So zeichnete sich seit den 1830er Jahren die Tendenz ab, dass die Bürgergemeinden immer mehr politische Kompetenzen an die Kantone und Einwohnergemeinden abtreten mussten. Auf diese Weise nahmen einzelne Kantone die Politik des späteren Bundesstaats gegenüber den Gemeinden im Kleinen vorweg.25 Die Bundesverfassungen von 1848 und 1874 markierten für diejenigen Gemeinden, welche die politischen und freiheitlichen Rechte nur ihren Bürgern gewährten, wichtige Einschnitte. Verankert wurden im Jahr 1848 zunächst die 21 Alle Zitate: Bauman, S. 38. Bei dieser Interpretation fällt die Nähe zu Michel Foucaults Genealogie des modernen Staats auf. 22 Guggenbühl, S. 37. 23 Vgl. zur finanziellen Situation des helvetischen Einheitsstaats den Kommentar des helvetischen Parlamentariers Huber zur Botschaft des Direktoriums an den Grossen Rat vom 16. Februar 1799: Die Botschaft zeige, »dass unser Finanzzustand nicht blühend, dass unser Geldmangel gross ist, kurz, dass wir eine arme Nation sind.« Amtliche Sammlung der Acten aus der Zeit der Helvetischen Republik, Bd. 3, S. 1061. 24 Aus diesem Grund verbot das helvetische Gesetz über die Bürgerrechte vom 13. Februar 1799 – nach einer anfänglichen Aufteilung der privatrechtlichen Korporationsgüter unter die Bürger – die Veräußerung des Gemeindeguts und die Verteilung des Ertrags. Stahel, S. 152. 25 Vgl. etwa zum Kanton Basel-Stadt: Schaffner, Geschichte des politischen Systems, S. 40f., sowie Strasky, S. 15.

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Niederlassungsfreiheit und die politischen Rechte im Kanton der Niederlassung für männliche Schweizer christlicher Religion.26 Die revidierte Bundesverfassung von 1874 ging einen Schritt weiter. Sie garantierte allen männlichen Schweizern nach dreimonatiger Niederlassung in einem anderen Kanton das Stimm- und Wahlrecht nicht mehr nur in kantonalen Angelegenheiten wie 1848, sondern auch in kommunalen.27 Diese Bestimmung bedeutete für die schweizerischen Bürgergemeinden eine einschneidende Zäsur, die heute kaum mehr zur Kenntnis genommen wird: Die rechtliche Gleichstellung der niedergelassenen Schweizer in Gemeindeangelegenheiten machte, wo dies nicht bereits geschehen war, die Einwohnergemeinde zur politischen Gemeinde. Die Korporation der Gemeindebürger hatte somit nur noch über ihre eigenen Angelegenheiten wie etwa die Verwaltung und Nutzung des Bürgerguts, die Armenunterstützung und mancherorts die Einbürgerungen zu bestimmen.28 Hingegen konnte die Bürgergemeinde nicht mehr über die Köpfe der niedergelassenen Einwohner hinweg politische Entscheide treffen, die auch die Einwohner betrafen. Trotz der neuen Bedeutung der Einwohnergemeinde als politischer Gemeinde und verschiedenen Anträgen zur Einführung des Unterstützungswohnsitzes in der national- und ständerätlichen Kommission zur Vorberatung der Verfassungsrevision sowie im Nationalrat blieb die armenrechtliche Bedeutung des Gemeindebürgerrechts im Jahr 1874 im Gegensatz zu Deutschland bestehen.29 Gleichzeitig bestimmte die Bundesverfassung von 1874, dass die Niederlassung denjenigen kantonsfremden Schweizern entzogen werden kann, die »dauernd der öffentlichen Wohltätigkeit zur Last fallen« und deren Heimatgemeinde oder Heimatkanton sich nicht an der Unterstützung der betreffenden Personen beteiligt.30 Die Regierung des Wohnkantons konnte somit die bedürftigen Niedergelassenen in ihre Heimatkantone und -gemeinden »heimschaffen« lassen, wenn von dort keine Unterstützung erfolgte; die heimatlichen Kantone und Gemeinden waren nicht dazu verpflichtet, ihre auswärtigen Bürgerinnen und Bürger zu unterstützten. Ein Großteil der Kantone regelte schließlich in einem Konkordat vom 27. November 1916 die Heimatbeteiligung an Unterstützungsleistungen für 26 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 12. Herbstmonat [September] 1848, Art. 41. 27 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 29. Mai 1874, Art. 43, Abs. 4–5. 28 Vgl. dazu: Rüttimann, Über die Geschichte. 29 Das Prinzip des »Unterstützungswohnsitzes« wurde im Norddeutschen Bund 1870 eingeführt und vom Kaiserreich übernommen. Schönberger, Unionsbürger, S. 104. Vgl. zu den entsprechenden Debatten in der Schweiz: W. Burckhardt, Kommentar, S. 388f. 30 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 29. Mai 1874, Art. 45, Abs. 3.

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die in anderen Kantonen niedergelassenen Kantonsbürgerinnen und -bürger.31 Damit setzten die Konkordatskantone in Ansätzen das Wohnortsprinzip bei der Armenunterstützung durch. Dennoch kam es bis zur Revision des Konkordats im Jahr 1960 zu »Heimschaffungen« bedürftiger Schweizerinnen und Schweizer. Nicht zufälligerweise fiel die Revision des Konkordats in die Zeit der Hochkonjunktur.32 Schließlich sollte es aber noch bis zur Partialrevision der Bundesverfassung vom 7. Dezember 1975 und dem darauf auf bauenden Bundesgesetz vom 24. Juni 1977 »über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger«33 dauern, bis alle Kantone zur Unterstützung der im Kanton niedergelassenen Schweizer Bürgerinnen und Bürger gesetzlich verpflichtet wurden.

2. Die Verschränkung des Gemeindebürgerrechts mit dem Kantonsbürgerrecht Das schweizerische Landrecht, so die frühe Bezeichnung für das Kantonsbürgerrecht, bildete sich seit dem 16. Jahrhundert in der Regel auf der Grundlage der schon bestehenden Gemeindebürgerrechte aus.34 Eine Voraussetzung dafür war, dass die Schirmherrschaft nicht mehr von einer Vielzahl weltlicher und geistlicher Schirmherren oder von reichen Stadtbürgern ausgeübt wurde, sondern wie beispielsweise in Zürich für »den grössten Teil des Kantonsgebietes an die Stadt übergegangen war.«35 Eine weitere Voraussetzung bestand in der Durchsetzung einer einheitlichen Rechtsprechung, Polizei und Kontrolle über die kommunalen Verwaltungen. Seit jener Zeit wurde das Gemeindebürgerrecht allmählich mit dem Landrecht verknüpft. Noch im 16. Jahrhundert setzte sich in den Kantonen der Grundsatz durch, dass »für die Aufnahme von Hintersassen in eine Gemeinde die Bewilligung der Regierung sowie die Bezahlung eines Schutz- und Schirmgeldes an dieselbe erforderlich sei.«36 Mit dieser Bewilligungspflicht verloren die Gemeinden die Kompetenz, allein über Bürgerrechtsaufnahmen zu entschei31 Das Konkordat trat am 1. April 1920 in Kraft. Thomet, S. 17f. 32 Während der wirtschaftlichen Krisenjahre 1923 und 1937 waren die Bestimmungen des Konkordats zweimal zu Ungunsten der bedürftigen Niedergelassenen abgeändert worden. Ebd., S. 18f. 33 Vgl. dazu: ebd., S. 34–43. 34 Hingegen entstand in den Markgenossenschaften, den Wirtschafts- und Arbeitsgemeinschaften von Bauern, zuerst das Kantonsbürgerrecht. Stahel, S. 139. 35 Ebd., S. 137, folgende Angabe: ebd., S. 138. 36 Rieser, S. 31. Vgl. zu Zürich: Stahel, S. 138f.: »Ein eigentliches Landrecht entstand … zufolge der Vorschrift, dass Zuzüger, die nicht aus zürcherischen Gebieten stammten, nur noch mit

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den. Die Landrechtsgebühr unterstrich diesen Einschnitt in die Gemeindeautonomie.37 Sie brachte zudem zum Ausdruck, »dass der Aufgenommene nun zum Staat [zur kantonalen Obrigkeit] in ein besonderes, vom Gemeindebürgerrecht unterscheidbares Verhältnis trat, das selbständige Rechte und Pflichten umfasste und daher für den Einzelnen auch einen selbständigen Wert besass.«38 Verschiedene Umstände führten dazu, dass die Verschränkung zwischen dem Gemeindebürgerrecht und dem Landrecht nicht immer gewährleistet war. Beispielsweise wurde das Landrecht in manchen Kantonen den Bewerbern schon erteilt, noch bevor die Einbürgerung in einer Gemeinde tatsächlich erfolgt war. Auf diese Weise erhielten einzelne Bürgerrechtsbewerber zwar das Landrecht zugesprochen, nicht aber das Gemeindebürgerrecht. Weiter mussten die über eine Landschaft herrschenden Städte wie Zürich »das Landrecht auch den dauernden Bewohnern der sog. Höfe zubilligen, obwohl sie kein Gemeindebürgerrecht besassen.«39 Ganz besonders aber waren es die unterschiedlichen Gründe für den Verlust des Gemeindebürgerrechts und des Landrechts, die eine konsequente Verschränkung der beiden Bürgerrechte verhinderte. Beispielsweise verloren Gemeindebürger im Kanton Zürich, die Grundeigentum an einen Fremden verkauften, ihr Gemeindebürgerrecht, während sie das Landrecht behielten.40 Der helvetische Einheitsstaat von 1798 brachte wie für das Gemeindebürgerrecht auch für das Landrecht fundamentale Änderungen mit sich. Er löste die Herrschaft der kantonalen Obrigkeiten über ihre Gebiete auf und machte sie zu helvetischen Verwaltungsbezirken.41 Städte wie Zürich und Basel durften jetzt nur noch ihre kommunalen Aufgaben wahrnehmen. Während das Gemeindebürgerrecht, wie beschrieben, aufgrund seiner armenrechtlichen Bedeutung auch während der Helvetik eine gewisse Bedeutung besaß, wurde das Landrecht völlig bedeutungslos. Hingegen löste die Helvetik für kurze Zeit und in Teilen die bisherige Problematik der Inkongruenz zwischen Landrecht und Gemeindebürgerrecht: einerseits durch das einheitliche schweizerische Staatsbürgerrecht, andererseits durch die Anerkennung der Hinter- und Landsassen als »helvetische Staatsbürger«.42 Zustimmung des Ober- oder Landvogtes in das Gemeindebürgerrecht aufgenommen werden durften.« Diese Vorschrift stammte aus dem Jahr 1560. 37 Schon die frühen »Einzugsbriefe« der Kantone, welche die Höhe der Einkaufsgebühren in das Gemeindebürgerrecht festsetzten, unterschieden zwischen den Gebühren für Kantonsbürger und für Kantonsfremde. Die Einkaufsgebühren wurden von den kantonalen Behörden an die Höhe der Gemeindegüter und die Nutzungen, die den Bürgern zustanden, angepasst. 38 Stahel, S. 139. 39 Ebd., S. 120f. 40 Vgl. dazu: ebd., S. 139–141. Wie lange diese seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts geltende Regel in Kraft war, geht aus Stahels Ausführungen nicht hervor. 41 Hier und im Folgenden: ebd., S. 149f. und S. 165. 42 Ebd., S. 155.

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Die Zeit nach der Helvetik markierte für die Verschränkung des Kantonsbürgerrechts mit dem Gemeindebürgerrecht und für die rechtliche Fixierung der Definition des »Schweizerbürgers« eine wichtige Zäsur. Zwar hielten die wieder eingesetzten, kantonalen Obrigkeiten angesichts der Erfahrungen während des helvetischen Einheitsstaats vorerst noch in rückwärtsgewandter Manier an ihrer souveränen Machtstellung fest. Gleichzeitig zwang aber der weggefallene Untertanenstatus der Landbevölkerung die Kantone dazu, die Regierung der Bevölkerung unter den Vorzeichen der neuen Freiheit zu überdenken.43 So musste zunächst neu und einheitlich definiert werden, wer Bürger war und mit welchen Rechten und Pflichten die Bürger ausgestattet sein sollten. Zudem sollte der rechtliche Status der Land- und Hintersassen geklärt und die Entstehung neuer Heimatlosigkeit verhindert sowie die Nicht-Sesshaftigkeit beseitigt werden.44 Zu diesem Zweck förderten einzelne Kantone die Einbürgerung der von ihnen anerkannten Heimatlosen in die Gemeinden.45 Dieselben Ziele verfolgte die schweizerische Tagsatzung. Der eidgenössische Staatenbund als »Unikum im europäischen System der Monarchien«46 nach 1815 musste angesichts der zunehmenden Zahl an Staatsverträgen klären, wen er als Schweizer anerkannte. »Heimatlosigkeit als rechtlicher Status einer Bevölkerungsgruppe«47 konnte auf Dauer nicht mehr akzeptiert werden. Nicht nur Personen, die gleichzeitig das Bürgerrecht einer Gemeinde und eines Kantons besaßen, sondern auch die Hinter- und Landsassen sollten deshalb als Schweizerinnen und Schweizer gelten.48 Gleichzeitig sollten die Verlustgründe für das kommunale und kantonale Bürgerrecht harmonisiert werden.49 Hauptsächlich trugen zwei Konkordate aus dem Jahr 1819 zur rechtlichen Verschränkung von Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht und zur Definition des Schweizer Bürgers bei.50 Das Konkordat vom 10. Juli 1819 über die Nie43 Vgl. dazu: Stahel, S. 165. 44 Das helvetische Staatsbürgerrecht war den Land- und Hintersassen nach der Helvetik wieder entzogen worden. Meier/Wolfensberger, S. 435. 45 Ebd., S. 463–467. 46 Opitz-Belakhal, Von der Auf klärung, S. 177. 47 Meier/Wolfensberger, S. 435. 48 Rieser, S. 52. Verschiedene Konkordate zur Duldung und Einbürgerung von Hinter- und Landsassen waren die Folge. Zu den »Heimatlosenkonkordaten« der Jahre 1812, 1819, 1828 und 1844/47 vgl.: Meier/Wolfensberger, S. 442–462. 49 Ein Konkordat der Tagsatzung von 1812 hielt beispielsweise fest, dass gemischtkonfessionelle Ehen von den kantonalen Regierungen nicht mehr verboten oder mit dem Verlust des Bürgerrechts bestraft werden durften. Rieser, S. 48. 50 Vgl. zu den Konkordaten: Rieser, S. 55f. Daneben versuchten auch einzelne Kantonsregierungen die Kongruenz zwischen dem Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht zu gewährleisten. Vgl. dazu: [Zürcher] Gesetz über die Erwerbung, die Wirkung und den Verlust des Bürgerrechtes, so wie über die Revision der Einzugsbriefe, vom 20. Herbstmonat [September] 1833, § 5.

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derlassungsverhältnisse hielt fest, dass es für eine Niederlassungsbewilligung für Schweizer eines anderen Kantons einen Heimatschein brauche, der von der Heimatgemeinde ausgestellt und von den Kantonsbehörden beglaubigt wurde. Das Besondere daran war die explizite Verbindung von Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht, die durch den Heimatschein repräsentiert wurde. Hintersassen sollten überdies den Bürgern in Fragen der Niederlassung in einem fremden Kanton gleichgestellt werden.51 Darüber hinaus bestätigte die Tagsatzung mit dem Konkordat »betreffend Erteilung und Beurkundung des schweizerischen Bürgerrechts« vom 13. Juli 1819 einen Beschluss aus dem Jahr 1806, dass die Befugnis, das Bürgerrecht zu erteilen, den Kantonen zustehe.52 Weiter definierte das Konkordat, wer Schweizer Bürger war: »Um als Schweizerbürger anerkannt zu werden, muss man Bürger oder Angehöriger eines Kantons sein. Der Beweis dafür wird geleistet: entweder durch die Bescheinigung des Kantons- und Gemeindebürgerrechts, oder aber durch die Erklärung der Regierung, dass sie das betreffende Individuum als Anwohner und Angehöriger ihres Kantons anerkenne.«53 Aufgrund der rückwärtsgewandten Haltung einzelner Kantone konnte die Tagsatzung die Ziele der beiden Konkordate nicht gesamtschweizerisch durchsetzen. Die gänzliche Verschränkung des Gemeinde- und Kantonsbürgerrechts, die Durchsetzung einer klaren Definition des Schweizer Bürgers auf der Grundlage des Kantonsbürgerrechts sowie die rechtliche Gleichstellung der heimatlosen Bevölkerung mit den Bürgern waren damit zwar vorgezeichnet, sie sollten jedoch erst dem Bund gelingen.

3. Traditionelle Kriterien des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses Nach dem Überblick über die Entwicklung des schweizerischen Kantons- und Gemeindebürgerrechts seit dem 16. Jahrhundert werden im Folgenden die wichtigsten Kriterien für den bürgerrechtlichen Ein- und Ausschluss vor 1848 geschildert: »soziale Schicht«, »Geschlecht«, »Konfession«, »Religion« und »Leumund«. Der bürgerrechtliche Ein- und Ausschluss aufgrund dieser Kriterien betraf sowohl den Erwerb und Verlust eines Gemeinde- und Kantonsbürgerrechts als auch die Gewährung oder Verweigerung bürgerlicher Rechte. 51 Rieser, S. 55f. und S. 60. 52 Vgl. dazu: Beschluss der Tagsatzung, betreffend das schweizerische Kantonsbürgerrecht, vom 23. Juni 1806, S. 375. 53 Offizielle Sammlung der das schweizerische Staatsrecht betreffenden Aktenstücke I, S. 286. Zitiert nach: Rieser, S. 52. Der Bund übernahm im Jahr 1848 die Definition des Schweizer Bürgerrechts auf der Grundlage des Kantonsbürgerrechts.

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Der Ausdruck »traditionell« wird hier in dreifacher Weise verstanden. Erstens sind die genannten Kriterien für den bürgerrechtlichen Ein- und Ausschluss in einem zeitlichen Sinn als traditionelle Kriterien zu verstehen, weil sie lange vor dem Übergang vom Ancien Régime zum bürgerlich-liberalen Zeitalter zur Anwendung gelangten. Zweitens können »soziale Schicht«, »Geschlecht«, »Konfession«, »Religion« und »Leumund« hinsichtlich der alt-ständischen Organisationsform der Bürgergemeinden als traditionelle Kriterien bezeichnet werden, da sie sich deutlich vor der Herausbildung moderner Nationalstaaten als Ein- und Ausschlusskriterien von lokalen, korporativ organisierten Bürgergemeinden etabliert hatten. Und drittens lassen sich diese Kriterien wegen der vormodernen Argumentationsmuster, mit denen sie begründet wurden, als traditionell bezeichnen. »Traditionell« meint entsprechend wechselweise die Kennzeichnung der historischen Epoche des Ancien Régimes, die gesellschaftliche Organisationsform der Bürgergemeinden und die vormodernen Begründungsmuster für die genannten Ausschließungs- und Integrationskriterien. Diese Differenzierung ist deshalb notwendig, weil nach der Bundesstaatsgründung von 1848 gerade die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«54 ein konstitutives Moment des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses in der Schweiz darstellte. Damit ist gemeint, dass sich nach 1848 sowohl traditionelle als auch moderne Kategorien und Begründungsmuster bei den Einbürgerungsprozeduren, beim Verlust des Schweizer Bürgerrechts und bei der Gewährung oder Verweigerung staatsbürgerlicher Rechte mischten. Das Kriterium der »sozialen Schicht«55 bildete – zusammen mit dem Kriterium des »Geschlechts« – sowohl während des Ancien Régimes als auch während des 19. und 20. Jahrhunderts das wichtigste Kriterium für den bürger54 Vgl. zur kulturwissenschaftlichen Diskussion über die »Gleichzeitigkeit im Ungleichzeitigen«: Herrmann/Thums. 55 Der Begriff der »sozialen Schicht« stellt in der Soziologie eine komplexe und umstrittene Kategorie dar. In Anlehnung an die Klassentheorie von Karl Marx und den Begriff der »Klassenlage« von Max Weber diente der Terminus ursprünglich als »Schlüsselbegriff für empirische Ungleichheit von Lebenschancen und Handlungsdispositionen«, und zwar im Rahmen einer »politisch orientierten Gesellschafts- und Wirtschaftsanalyse«. (Alle Zitate: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, »Schicht, soziale«, Spalte 1263. Vgl. zur weiteren Verwendung des Begriffs im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts: ebd., Spalten 1263–1267.) Ausgehend von diesem Verständnis, soll der Begriff der »sozialen Schicht« im Folgenden der Bezugnahme auf die »vertikale … Struktur einer Gesellschaft« (Hartfiel/Hillmann, S. 666) dienen und mit Hilfe eher objektiver Merkmale wie Besitz, Vermögen, Einkommen, Beruf, Arbeitssituation und Bildungsstand operationalisiert werden. Der Grund für dieses Vorgehen liegt darin, dass die genannten Merkmale in den kantonalen Bürgerrechtsgesetzen und den kommunalen Einbürgerungsdossiers als Kriterien des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses greif bar werden, während eher subjektive Merkmale wie Lebenschancen, politische Mentalitäten, sozialer Habitus, soziales Handeln, Anerkennung oder Prestige nicht systematisch aus den Quellen zu eruieren sind. Vgl. zur Unterscheidung von »objektiven« und »subjektiven« Merkmalen der »sozialen Schichtung«: Hartfiel/ Hillmann, S. 666.

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rechtlichen Ein- und Ausschluss auf kommunaler und kantonaler Ebene. Die Grenzen, die das Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht zwischen Personen aus unterschiedlichen sozialen Schichten zog, waren tief greifend und setzten sich auch nach der Bundesstaatsgründung fort. Den Grund dafür stellte in erster Linie das Bürgerprinzip bei der Armenunterstützung dar, das, wie oben beschrieben, bis ins Jahr 1975 Geltung besaß. So achteten die Gemeinden konsequent darauf, dass eine Einbürgerung keine Risiken für die kommunale Armenkasse mit sich brachte. Entsprechend sollten hohe Einkaufsgebühren und während der Frühen Neuzeit teilweise auch die Bedingung, Grundbesitz in der Gemeinde zu erwerben, dieses Risiko so klein wie möglich halten. Im Verarmungsfall wurde den Bürgern das »Aktivbürgerrecht«56 entzogen: politische Mitspracherechte konnten sie dann keine mehr ausüben. Kehrten verarmte Gemeindebürger nach einer längeren Abwesenheit in ihre Heimatgemeinde zurück, wurden sie vor der Gründung des Bundesstaats zudem oft nicht mehr als Bürger anerkannt, womit ihnen auch das Recht auf Unterstützung genommen war.57 Erst die Bundesverfassung von 1848 verankerte die Bestimmung, dass das Bürgerrecht den Bürgern nicht mehr entzogen werden dürfe. Dennoch blieb die Festsetzung der unter Umständen prohibitiv hohen Einbürgerungsgebühren bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts allein den Kantonen und Gemeinden überlassen. Die Frage des Bürgerrechtserwerbs und -verlusts von Frauen wurde auf Gemeinde- und Kantonsebene ebenso restriktiv gehandhabt wie im Fall von finanzschwachen Personen. Während langer Zeit konnten sich Frauen nicht selbständig um ein Bürgerrecht bewerben. In der Stadt Basel war dies beispielsweise bis ins Jahr 1838 der Fall.58 Frauen hatten bis dahin lediglich die Möglichkeit, als Verlobte eines Basler Bürgers in das Bürgerrecht aufgenommen zu werden. Das geschah jedoch nicht automatisch durch die Heirat. Bis ins Jahr 1871 mussten die Basler Bürger ihre »kantonsfremden Bräute« vor der Heirat gegen eine Gebühr ins Bürgerrecht der Stadt einkaufen, andernfalls erteilten die Behörden dem Brautpaar keine Heiratsbewilligung.59 War der Leumund der Frau schlecht oder brachte sie nicht die notwendigen Bewilligungen ihrer heimatlichen Behörden mit, verweigerten die Basler Behörden die Einbürgerung und damit auch die Heiratsbewilligung.60 Gleichzeitig verloren Frauen 56 Der Begriff des »Aktivbürgerrechts« meint ein Bürgerrecht, das der betreffenden Person die vollumfänglichen bürgerlichen Rechte gewährt. Vgl. dazu: Kunz. 57 Die in der Eidgenossenschaft weit verbreitete Armutswanderung seit der Frühen Neuzeit bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war unter anderem eine direkte Folge des Bürgerrechtsverlusts. Vgl. dazu: Meier/Wolfensberger, S. 80–83. 58 [Basler] Bürgerrechts-Gesetz, vom 8. Februar 1838, S. 329–339. 59 24. Verwaltungsbericht des Stadtraths zu Basel an den Grossen Stadtrath, 1872, S. 13. 60 Vgl. dazu: 27.–33. Verwaltungsbericht des Stadtraths zu Basel an den Grossen Stadtrath, 1849–1855.

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bei der Heirat mit einem Schweizer aus einer andern Gemeinde oder einem andern Kanton ihr Gemeinde- beziehungsweise ihr Kantonsbürgerrecht, und dies bis ins Jahr 1981.61 Der automatische Verlust des Schweizer Bürgerrechts bei der Heirat von Schweizerinnen mit einem ausländischen Mann erfolgte bis ins Jahr 1952.62 Frauen waren innerhalb Gemeinde und Kanton zudem von den politischen Rechten ausgeschlossen. Männer hingegen galten als Träger der bürgerlichen Rechte und Pflichten. Der traditionelle bürgerrechtliche Ausschluss von Frauen basierte, so Beatrix Mesmer, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein auf einer langen Tradition der »alteuropäischen Gesellschaftsordnung«. Darin habe der frühneuzeitliche Oikos des »ganzen Hauses«,63 verstanden als eine soziale, rechtliche und wirtschaftliche Einheit, eine zentrale Rolle eingenommen. Die Einheit des »ganzen Hauses« habe hauptsächlich zwei Funktionen erfüllt. Zum einen vermittelte sie »Rechtsstatus und gesellschaftliche Stellung«.64 An der Spitze des »ganzen Hauses« stand der »Hausvater«. Er verfügte über die Arbeitskraft seiner Hausgenossen, besaß die Verantwortung für deren moralische Erziehung und deren Wohlergehen, verwaltete das Vermögen und die Produktionsmittel und vertrat das »ganze Haus« nach außen. Der »Hausmutter« kam in diesem »patriarchalen System … nur abgeleitete Kompetenz« zu; sie handelte im Auftrag ihres Ehemannes. Ihre wichtigste Funktion bestand darin, »die für den Fortbestand des Hauses unabdingbaren Kinder zur Welt« zu bringen.65 Zum anderen stellte der Oikos nicht nur eine in sich geschlossene ökonomische, rechtliche und soziale Einheit dar, sondern auch ein »Element der staatlichen Organisation«:66 Einerseits bedingten sich der patriarchal verfasste, gut regierte Obrigkeitsstaat und das gut geführte »ganze Haus« gegenseitig, andererseits vermittelte der Oikos die ständische Rechtsstellung seiner Mitglieder gegenüber der staatlichen Obrigkeit.67

61 Erst mit dem Artikel zur Gleichstellung von Mann und Frau in der revidierten Bundesverfassung von 1981 legte der Bund fest, dass Frauen ihr Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht bei Heirat mit einem Schweizer behalten konnten. Kreis/Kury, S. 36. 62 Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizerbürgerrechts, vom 29. September 1952. 63 Vgl. dazu: Brunner, S. 103–127, sowie Mesmer, S. 6–10. Vgl. zur Kritik am Konzept des »ganzen Hauses«: Opitz. 64 Beide Zitate: Mesmer, S. 6f. Vgl. dazu auch Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 230–233. 65 Mesmer, S. 7. Hinsichtlich der idealtypischen Differenzierung der Geschlechterrollen innerhalb der Familie und der Bedeutung der Familie für den Staat sei auch an die Schrift des Renaissancegelehrten Leon Battista Alberti (1404–1472) »Della Famiglia« aus den Jahren 1434/41 erinnert. 66 Alle Zitate: Mesmer, S. 7. 67 Die Ausführungen von Beatrix Mesmer weisen starke Ähnlichkeiten zu den Schilderungen von Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 142–144, zur frühneuzeitlichen Regierung als der klugen Lenkung der Familie durch den Familienvater und seiner vermittelnden Funktion für den Staat auf.

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Die geschilderte Rollenteilung für Frauen und Männer im »ganzen Haus« und in der ständischen Gesellschaft ist jedoch zu relativieren. So entspricht das »ganze Haus« einem idealtypischen Modell, das auf der so genannten »Hausväterliteratur« gründet und konsequent zu historisieren ist. Zudem beschränkte sich der Handlungsbereich von Frauen im Ancien Régime nicht nur auf den privaten Raum. So musste die Rechtsposition der adligen und bürgerlichen Frauen noch im 18. Jahrhundert nicht notwendigerweise eine Position der politischen Rechtlosigkeit sein.68 Ebenso weist Regina Wecker generell darauf hin, dass die geschlechtsspezifische Zuweisung von »Privatheit« und »Öffentlichkeit« von der jüngeren Frauengeschichtsforschung in Frage gestellt wird.69 Mehrfach seien die Schwierigkeiten betont worden, »die durch die Annahme der Trennung der beiden Bereiche für die Erfassung der Wirklichkeit von Frauen entstehen.« Zum Beispiel habe Karin Hausen für das 18. und 19. Jahrhundert aufgezeigt, »dass für Männer und Frauen die Verbindungen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit so eng waren, dass sie ›überaus vieldeutige Ordnungsprogramme‹ bleiben.«70 Trotz der notwendigen Vorbehalte gegen die Schablonenhaftigkeit der geschlechtsspezifischen Zuschreibung von privaten und öffentlichen Handlungsräumen kann argumentiert werden, dass die traditionelle ständische Rechtsstellung der Frauen bis weit ins 20. Jahrhundert in vielen Bereichen bestehen blieb. Neu kam im bürgerlichen Zeitalter der moderne, anthropologisch begründete Geschlechterdualismus hinzu, der die traditionelle ständische Rechtsstellung von Frauen auf neue Weise begründete. Darauf wird weiter unten einzugehen sein. Außer den Kriterien der sozialen Schicht und des Geschlechts ist als Drittes auch das Kriterium der Religions- und Konfessionszugehörigkeit zu nennen, das in der Schweiz für den traditionellen bürgerrechtlichen Ein- und Ausschluss bedeutsam war. Zwar stellte die Bundesverfassung von 1848 die Schweizer Bürger katholischer oder protestantischer Konfession gleich. Infolgedessen wurden die vielerorts geltenden, konfessionell motivierten Beschrän68 Vgl. dazu beispielsweise Appelt, S. 65f. 69 Wecker, Zwischen Ökonomie und Ideologie, S. 28–30. Vgl. dazu auch die differenzierenden Untersuchungen von R. Habermas zum Geschlechterverhältnis in der Frühen Neuzeit. 70 Beide Zitate: ebd., S. 29f. (mit Bezug auf: Karin Hausen, Öffentlichkeit und Privatheit – Gesellschaftspolitische Konstruktion und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen, in: Journal Geschichte 1, 1989, S. 16–25). Die grundsätzliche Zuschreibung des öffentlichen Raums für Männer und des privaten Raums für Frauen muss auch für das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert kritisiert werden. Für die Zeit zwischen 1870 und 1910 hat Wecker, Zwischen Ökonomie und Ideologie, S. 31, am Beispiel der Lohnarbeit von Frauen nachgewiesen, dass die »Definition der Arbeitswelt als männlicher Welt … eine Vorstellung [ist], die in den Ober- und Mittelschichten des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts ihren Anfang nahm.« Für »eine Mehrheit der Frauen des 19. Jahrhunderts, die Lohnarbeit und Familienarbeit verbanden und in beiden Bereichen verankert waren«, traf diese Sichtweise jedoch nicht zu.

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kungen für den Bürgerrechtserwerb auf Kantons- und Gemeindeebene aufgehoben. Ebenso führte nun auch die konfessionelle Konversion nicht mehr zum Verlust des Bürgerrechts, wie es in manchen Gemeinden und Kantonen bis zu jenem Zeitpunkt üblich gewesen war.71 Im Gegensatz zur rechtlichen Gleichstellung von Katholiken und Protestanten im Jahr 1848 dauerte der Ausschluss der Juden aus dem Schweizer Bürgerrecht bis in die 1870er Jahre an. Begründet wurde der Ausschluss mit Argumenten, die einem »christlichen Antijudaismus« entsprangen. Dieser sei, wie Aram Mattioli festhält, »als ein eminent christliches Phänomen« zu betrachten, »dem eine kirchlich sanktionierte ›Lehre der Verachtung‹ ( Jules Isaac) zugrunde lag und der vor allem im Zeichen religiöser Antithesen (›Gottesmörder‹, ›verstockte Ketzer‹, ›Teufelskinder‹, ›Hostienfrevler‹, ›Ritualmörder‹, ›Wucherer‹) stand.«72 Der Antijudaismus blieb bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein »Strang praktizierter Christlichkeit«.73 Daneben seien oft auch wirtschaftliche Überlegungen für die abwehrende Haltung gegen Juden ausschlaggebend gewesen.74 Im Jahr 1776 waren die Schweizer Juden, die sich damals nur in der von Zürich, Luzern und Glarus gemeinsam regierten Grafschaft Baden niederlassen durften, auf die dortigen Surbtaler Bauerngemeinden Oberendingen und Lengnau eingegrenzt worden, wo sie gegenüber der christlichen Mehrheit in mancher Hinsicht benachteiligt waren.75 In erster Linie besaßen die Juden kein Bürgerrecht. Zudem standen ihnen lediglich Handelsberufe und bis 1803 das Hausiergewerbe offen. Hinzu kam, dass viele der Surbtaler Juden in Armut lebten und kaum gesellschaftliches Ansehen besaßen.76 Auch die Zeit des helvetischen Einheitsstaats zwischen 1798 und 1803 brachte den Schweizer Juden nicht die rechtliche Gleichstellung mit den christlichen Schweizern. Die helvetischen Räte verweigerten den Surbtaler Juden im neuen 71 Meier/Wolfensberger, S. 35. De facto hielten sich die kommunalen Abwehrstrategien gegen konfessionsfremde Personen jedoch unterschiedlich lange. Vgl. dazu: Altermatt, Der Schweizer Katholizismus, S. 78–106, sowie Pfister, S. 96. 72 Mattioli, Antisemitismus in der Geschichte, S. 4. 73 Schramm, S. 318. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verband sich der moderne Antisemitismus, das heißt die säkularisierte Judenfeindschaft, die, wie Mattioli, Antisemitismus in der Geschichte, S. 4, ausgeführt hat, »im Dienste nationalistischer, sozialkonservativer oder rassistischer Ausgrenzungsideologien« steht, zunehmend mit der Tradition des christlichen Antijudaismus. Auf diesen Prozess wird weiter unten eingegangen. 74 Mattioli, »So lange die Juden Juden bleiben …«, S. 294. Vgl. zur Instrumentalisierung antijüdischer Argumente im Kampf gegen eine neue Aargauer Verfassung im Jahr 1863: Binnenkade, Kontaktnahmen. 75 Ders., Die Schweiz und die jüdische Emanzipation, S. 63 und S. 65. Vorhergehende Angaben: ebd. Vgl. aber auch zur Nähe zwischen jüdischer und christlicher Gemeinde in Lengnau: Binnenkade, Warum Sparsuppen. 76 Alle Angaben: Herlitz/Kirschner, »Schweiz«, Spalte 305, sowie Mattioli, Die Schweiz und die jüdische Emanzipation, S. 64.

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Kanton Baden indirekt die freiheitlichen und politischen Rechte, indem sie die Frage nach dem Bürgerstatus der Juden vertagten.77 Zwar wurden auch die Juden in einem angehörigkeitsrechtlichen Sinn als Schweizer anerkannt.78 Doch während die christlichen Hinter- und Landsassen mit der helvetischen Revolution den Status von gleichberechtigten Staatsbürgern erhielten, wurden den Juden die bürgerlichen Rechte hauptsächlich aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen verweigert.79 Nach der Helvetik beließ auch der 1803 geschaffene Kanton Aargau, zu dem die Surbtaler Gemeinden nun gehörten, Juden im »Status von ›ewigen Einsassen‹«.80 Auf der Grundlage des so genannten »Judengesetzes« vom 5. Mai 1809 konnten sie sich im Kanton weder frei niederlassen noch besaßen sie politische Rechte. Und als der Kanton Aargau im Jahr 1838 den im Kanton anerkannten christlichen Heimatlosen ein Ortsbürgerrecht verlieh, wurden die Juden davon ausgenommen.81 Nur allmählich erfolgte nach 1848 die bürgerrechtliche Gleichstellung: im Jahr 1856 mit der Gewährung der politischen Rechte (diese wurden im Kanton Aargau erst im Jahr 1863 durchgesetzt), 1866 und 1874 mit der Gewährung der Niederlassungs- und Kultusfreiheit und schließlich im Jahr 1878 mit der Anerkennung der Juden von Oberendingen und Lengnau als vollberechtigte Gemeindebürger.82 Abschließend sei an dieser Stelle auf ein weiteres traditionelles Kriterium für den bürgerrechtlichen Ein- und Ausschluss hingewiesen, das auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts den Ausgang eines Einbürgerungsgesuchs bestimmen konnte: den »guten« oder »schlechten Leumund«. Teilweise definierten die Kantone im 19. Jahrhundert genauer, was darunter zu verstehen sei. So hielt der Kanton Zürich in seinem Bürgerrechtsgesetz von 1833 fest: »Keinen guten Leumund haben: 1) Alle, die durch gerichtliches Urtheil zu Zuchthaus- oder Kettenstrafe verurtheilt, oder wegen eines Vergehens, das solche Strafe nach sich gezogen hätte, von der Instanz entlassen worden sind. 2) Alle, welche im Activbürgerrechte eingestellt sind. 3) Alle, die in den letzten fünf Jahren … wegen Diebstahls, Betrugs, Unterschlagung oder wegen eines ausschweifenden Lebenswandels mit einer Gefängnisstrafe belegt worden sind. 77 Mattioli, Die Schweiz und die jüdische Emanzipation, S. 66. 78 Rieser, S. 105, Anmerkung 1. 79 »Gekleidet wurden sie [die wirtschaftlichen Überlegungen] aber in eine Mischung aus religiösen und staatsrechtlichen Überlegungen. Juden – so hiess es – die an ein kommendes messianisches Reich glaubten und damit eine eigene ›Nation‹ bildeten, könnten eine Verfassung, die den Verzicht auf die Doppelbürgerschaft forderte, nicht annehmen.« Wecker, »Schweizer machen«, S. 129. 80 Mattioli, Die Schweiz und die jüdische Emanzipation, S. 69. 81 Ebd. 82 Bis dahin galten die Surbtaler Juden lediglich als »Korporationsgenossen« ihrer Korporationsgemeinden, obwohl sie das Kantons- beziehungsweise das Schweizer Bürgerrecht besaßen. Rieser, S. 105, Anmerkung 1.

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4) Alle, welche als Verschwender unter Vormundschaft stehen.«83 An Stelle des »unbescholtenen Leumunds« wurde teilweise der Ausdruck des »unbescholtenen Rufs« verwendet. Beispielsweise ersetzte das Basler Bürgerrechtsgesetz von 1879 die im Gesetz von 1866 gewählte Formulierung »unbescholtene[r] Leumden« mit dem Wortlaut »unbescholtene[r] Ruf«.84 Die semantischen Nuancen – ob es sich beim »unbescholtenen Ruf« etwa nur um die Art und Weise handelte, wie über jemanden gesprochen wurde, also um die gute oder schlechte Nachrede, oder auch um einen strafrechtlichen Leumund – wurden jedoch nicht explizit gemacht.

83 [Zürcher] Gesetz über die Erwerbung, die Wirkung und den Verlust des Bürgerrechtes, so wie über die Revision der Einzugsbriefe, vom 20. Herbstmonat [September] 1833, § 7. 84 [Basler] Bürgerrechtsgesetz, vom 11. Dezember 1866, § 1, sowie [Basler] Bürgerrechts-Gesetz, vom 28. Dezember 1879, § 7.

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III. Nation – ein neues Kriterium des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses

Die moderne Staatsbürgerschaft schuf neue Kriterien des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses. Eines davon bildete die Nation. Als vorgestellte und politische Gemeinschaft trat sie zu den traditionellen Kriterien wie »Geschlecht«, »soziale Schicht« oder »Religion« hinzu und verband sich mit ihnen oder überlagerte sie. Nachfolgend werden zunächst der Begriff der »Nation« sowie Aspekte des theoretischen und historischen Zusammenhangs zwischen Nation, Nationalstaat und Nationalismus geklärt sowie die Verbindung traditioneller Kriterien mit dem Kriterium der »Nation« diskutiert. Darüber hinaus wird ein weiteres Kriterium vorgestellt, das mit der Gründung von Nationalstaaten zu einem relevanten Kriterium des staatsbürgerlichen Ein- und Ausschlusses wurde und sich ebenfalls mit der Nation verband: der rechtliche Status des Ausländers. Abgeschlossen wird das Kapitel mit einem Überblick über die schweizerischen Ausprägungen nationaler Gemeinschaftsvorstellungen zwischen 1798 und dem ausgehenden 19. Jahrhundert.

1. Nation als vorgestellte und politische Gemeinschaft In der historischen Nationalismusforschung hat sich seit der ersten Hälfte der 1980er Jahre die Überzeugung durchgesetzt, dass Nationen kollektiv vorgestellte und politische Gemeinschaften sind. Benedict Andersons »Imagined Communities«,1 Eric Hobsbawms und Terence Rangers »The Invention of Tradition«,2 beide Schriften aus dem Jahr 1983, sowie Eric Hobsbawms »Nations and nationalism since 1780«3 standen am Anfang dieses »cultural turn«4 in der Nationalismusforschung. Mit dem ersten Aspekt seiner Definition – die Nation sei eine vorgestellte Gemeinschaft – ging Benedict Anderson davon aus, dass gerade das Imaginäre 1 2 3 4

Anderson, Imagined Communities. Hobsbawm/Ranger. Hobsbawm, Nations and nationalism. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat, S. 210–212.

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die »Wirklichkeit« einer Nation ausmache, dass also eine sprachliche, ethnische, rassische oder historische Vorstellung von nationaler Gemeinschaft keine Entsprechung in einer von diesen Vorstellungen getrennten »Wirklichkeit« finden muss.5 Verschiedentlich wurde in der Andersonrezeption auf frühere Nationalismusforscher hingewiesen, die von ähnlichen Prämissen ausgegangen seien. Beispielsweise auf Ernest Renan, der in seiner Vorlesung »Qu’est-ce que c’est une nation?«6 im Jahr 1882 das Nationen stiftende Moment im gemeinsamen »Willen«, eine Nation zu bilden, erkannte, auf Max Weber, der den »ethnischen Gemeinsamkeitsglauben«7 auch auf soziale und politische Interessen zurückführte, oder auf Ernest Gellner, der 1964 Nationen als Produkte des Nationalismus definierte und bemerkte: »Nationalismus ist keineswegs das Erwachen von Nationen zu Selbstbewusstsein: man erfindet Nationen, wo es sie vorher nicht gab.«8 Trotz der Ähnlichkeiten unterscheiden sich die Werke älterer Nationalismusforscher aber fundamental von den konstruktivistischen Forschungsansätzen zur Geschichte der Nation und des Nationalismus. Letztere gehen denn auch nicht von einer erfundenen Nation im Sinne Gellners als etwas »Falschem«9 aus und sie sind auch nicht mit einem nationalen Voluntarismus gleichzusetzen, also etwa mit Ernest Renans Konzept der »Willensnation«.10 Zwar liegt einem solchen Voluntarismus kein sprachlicher, völkischer oder rassischer Essentialismus zugrunde.11 Doch das Fehlen solcher Elemente bei der Definition von Nationen setzt nicht automatisch ein konstruktivistisches Nationsverständnis voraus. Während dieses das konstruktivistische Element von Nationen (sei es nun essentialistisch oder voluntaristisch) offen legt oder zurückblickend für die jeweilige konkrete historische Situation beschreibt, erhebt gerade ein nationaler Voluntarismus Renanscher Prägung das voluntaristische Moment zum Nationen stiftenden, normativen Faktor.12 Im Gegensatz dazu gehen konstruktivistische Analyseansätze nach dem »linguistic turn«13 ganz grundsätzlich davon aus, dass die »Wirklichkeit« von Gesell5 Anderson, Die Erfindung der Nation, S. 14–16. Vgl. hingegen zur Abkehr von dieser rein konstruktivistischen Sichtweise der Nation in der jüngsten Nationalismusforschung: Hroch. 6 Renan. 7 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 236f. 8 Gellner, Thought and Change, S. 169. Diese Sichtweise vertritt auch Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 21. 9 So die Kritik von Anderson, Die Erfindung der Nation, S. 15, an Gellner. 10 Vgl. dazu: Geulen, Die Nation als Wille, S. 68–80. 11 Renan, S. 33, lehnte »Rasse, Sprache, Interessen, religiöse Verwandtschaft, Geographie, militärische Notwendigkeiten« als Grundlage einer Nation explizit ab. 12 Entsprechend scheint die Einschätzung von J. Tanner, Nation, Kommunikation, Gedächtnis, S. 52, dass Renan »in seinem Text gewissermaßen einen Dekonstruktivismus ein Jahrhundert avant la lettre« praktiziert habe, nicht zuzutreffen. 13 Vgl. dazu: Schöttler.

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schaften nicht von ihrer Imagination getrennt werden kann.14 Vielmehr wird gesellschaftliche »Wirklichkeit« durch Versuche hervorgebracht, die Identität einer Gesellschaft durch hegemoniale politische Diskurse in Verbindung mit der Konstruktion eines ganz »Anderen« zu fixieren. Diesen Sachverhalt haben unter anderen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe theoretisch dargelegt.15 In Analogie dazu gilt es, die Andersonsche Definition von Nationen als »imagined communities« nicht im Rahmen einer Dichotomie von »vorgestellt« und »real«16 zu lesen, sondern im Rahmen semiotischer Prozesse und sprachlicher Übereinkünfte, die sich gegenüber anderen möglichen Deutungen der Nation durchsetzen konnten. Nicht, dass die soziale und wirtschaftliche Lage für die Art und Weise, wie Nationen vorgestellt werden, keine Rolle spielten. Doch die Vorstellungen von der Nation sind nicht kausal auf die entsprechenden Interessen der politischen Akteure zurückzuführen.17 Im Feld der politischen Diskurse verbinden sich die Vorstellungen von der Nation mit »verschiedensten regionalen und konfessionellen, sozialen und politischen Identitäten und Ordnungsmodellen«,18 so dass gemeinschaftliches Bewusstsein, gemeinschaftliche Emotionen und die gemeinschaftliche Konstituierung eines feindlichen »Außen« erst von Kommunikationsprozessen mit ihren unterschiedlichen historischen und medialen Bedingungen hervorgebracht werden.19 Dabei stehen die imaginierten und vom Diskurs hervorgehobenen Gemeinsamkeiten in Opposition zu Vorstellungen des antagonistischen »Außen«, und dies mit schwerwiegenden Folgen: Diejenigen Personengruppen, die zu verschiedenen Zeiten als das »ganz Andere« konstruiert wurden – beispielsweise die Frauen, die Juden oder die Ausländer – treffen rechtliche Ungleichheit, gesellschaftliche Diskriminierungen oder Wegweisungen vom staatlichen Territorium; das führt nur 14 Vgl. dazu: Castoriadis, S. 559–609, sowie ebd., S. 601–603: »Wir dürfen uns die Welt der gesellschaftlichen Bedeutungen also weder als ein irreales Doppel einer realen Welt denken noch als anderen Namen für ein hierarchisches System von ›Begriffen‹; … Wir haben die Welt der gesellschaftlichen Bedeutungen als ursprüngliche, anfängliche und irreduzible Setzung des Gesellschaftlich-Geschichtlichen und des gesellschaftlichen Imaginären zu denken, so wie es sich in einer Gesellschaft jeweils zeigt.« Vgl. dazu: ebd., S. 363 und S. 596, sowie J. Tanner, Nation, Kommunikation, Gedächtnis, S. 46. 15 Laclau/Mouffe, S. 165–168: Infolge der Überdeterminiertheit des politischen Feldes vermögen nur hegemoniale Diskurse soziale Identität für eine begrenzte Zeitdauer herzustellen, und zwar, indem sie ein »Äquivalenzverhältnis« zwischen den Gesellschaftsmitgliedern erzeugen, das negativ unter Bezugnahme auf eine »gemeinsame äußerliche Referenz« definiert wird. Vgl. dazu: Sarasin, Die Wirklichkeit der Fiktion, S. 32–38. 16 Anderson, Die Erfindung der Nation, S. 15, sowie J. Tanner, Nation, Kommunikation, Gedächtnis, S. 56–61. 17 Vgl. zum Verhältnis von Klassenfrage und Nation: Balibar, S. 81. 18 Geulen, Wahlverwandte, S. 25. 19 Vgl. zur Bedeutung eines gemeinsamen Feindes: Jeisman, sowie zur Bedeutung einer gemeinsamen Hochsprache, gemeinsamer Medien und gemeinsamen Erinnerns und Vergessens: Anderson, Die Erfindung der Nation.

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allzu deutlich vor Augen, wie real die Nation als vorgestellte Gemeinschaft und deren Wirkungen sind. Grundsätzlich unterscheiden sich Nationen voneinander »durch die Art und Weise, in der sie vorgestellt werden.«20 Jakob Tanner hat ausgeführt, dass dabei zwei Kategorien von Vorstellungen auszumachen sind. So könne »die Nation mit dem ›Demos‹ und – alternativ dazu – mit dem ›Ethnos‹ begründet werden. Demos heißt: Das ›Volk‹ ist die Gemeinschaft der mit gleichen Rechten ausgestatteten Bürger und es kann demnach nur der Staat sein, der die Nation kreiert. Und es ist jedem einzelnen männlichen Individuum überlassen, ob es sich dazu rechnen will oder nicht.«21 Dagegen sei der ethnische Nationalismus »von allem Anfang an dem Glauben verfallen [gewesen], das Volk würde durch gemeinsame Wurzeln zusammengehalten und die Essenz der Nation sei in der Kultur, in der Sprache oder anderen Traditionsbeständen zu finden. An die Stelle des Staatsbürgers trat so der Blutsbruder.«22 Diese idealtypische Unterscheidung schließt nicht aus, dass sich die Vorstellungen von der Nation auch gleichzeitig aus beiden Kategorien – dem Demos und dem Ethnos – speisen können. Insbesondere im Fall der Schweiz hat sich »nationale Identität als imaginär-ungleichzeitiges mixtum compositum«23 erwiesen: Die »nationale Identität« der Schweiz gründete einmal stärker auf Vorstellungen einer »Willensnation«, die über den gemeinsamen Willen der politisch gleichberechtigten Staatsbürger definiert wurde, ein anderes Mal stärker auf der Vorstellung einer ethnischen Abstammungsgemeinschaft.24 Trotz dieser Mischformen ist die idealtypische Unterscheidung von Nationen nach ihrer Definition über den Ethnos oder Demos für die Analyse bürgerrechtlicher Ausschließung und Integration sinnvoll. Mehrheitlich, so Jakob Tanner weiter, lässt sich nämlich beobachten, dass die »Herstellung nationaler Einheit über die Abwehr von Bedrohung … bei der Konstituierung der Nation über den Ethnos«25 viel ausgeprägter ist als bei nationalen Gemeinschaftsvorstellungen, die hauptsächlich über den Demos definiert werden. Xenophobie und Rassismus, moderner Antisemitismus und »Überfremdungsangst« vermischen sich in der Regel denn auch eher mit ethnischen Nationsvorstellungen als mit Vorstellungen einer voluntaristisch definierten, politischen »Staatsbürgernation«.26 20 Ebd., S. 15. 21 J. Tanner, Nationale Identität, S. 30. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 34 (Hervorhebung im Original). 24 Vgl. dazu die Kapitel »Vorstellungen von der schweizerischen Nation: Entwicklungslinien im 19. Jahrhundert« sowie »›Überfremdung‹: Vom Begriff zum Diskurs«. 25 J. Tanner, Nationale Identität, S. 30. 26 Vgl. zum Begriff der »Staatsbürgernation«: Bundeszentrale für politische Bildung sowie das Kapitel »Nationalismus, Rassismus und schweizerische Heterogenität«.

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Der zweite Aspekt von Andersons Definition – die Nation als politische Gemeinschaft – betrifft die Frage, wie nationale Gemeinschaftsvorstellungen politisch organisiert werden, ob es sich dabei etwa um Nationalbewegungen vor oder zur Gründung eines Nationalstaats handelt oder ob nationale Gemeinschaftsvorstellungen innerhalb eines bestehenden Nationalstaats organisiert werden. Mit dieser unterschiedlichen Sichtweise auf die politische Organisation der Nation wird die These älterer Forschungstraditionen abgelehnt, dass der Nationalismus primär eine »staatsbildende Integrationsideologie«27 darstellt. So besaß der Nationalismus, verstanden als Praxis der Imagination nationaler Gemeinschaften,28 auch nach den Nationalstaatsgründungen eine wichtige gesellschaftspolitische Funktion, die, nach den Worten von Erna Appelt, ein doppeltes politisches Programm mit sich brachte: »das einer Vereinheitlichung nach innen und das einer Abgrenzung bzw. Expansion nach außen«.29 Vor der Gründung von Nationalstaaten macht Eric Hobsbawm in der Geschichte nationaler Bewegungen im Europa des beginnenden 19. Jahrhunderts eine erste, »protonationale« Phase aus, die »rein kulturell, literarisch und volkskundlich« gewesen sei, »ohne dass sich daraus besonders politische oder gar nationale Folgerungen ergeben hätten …«30 Besondere Bedeutung sei hier zum einen den »heiligen Ikonen«31 (religiösen Symbolen und kollektiven Bräuchen) zugekommen, zum andern aber vor allem der gemeinsamen Geschichte. Eine zweite Phase datiert Hobsbawm in die Zeit von 1830 bis in die 1870er Jahre. Damals begannen Gruppen von Vorkämpfern für die »nationale[…] Idee« zu werben. Erinnert sei beispielsweise an Giuseppe Mazzini mit der 1831 gegründeten »Giovine Italia« oder an Emma und Georg Herwegh und die 1834 als Sektion des »Jungen Europa« gegründete revolutionäre Vereinigung »Junges Deutschland«.32 In dieser frühen Zeit des Nationalismus kam das »Nationalitätenprinzip« auf. Dieses ging davon aus, dass »Nationalitäten ab einer bestimmten Größe« einen Staat bilden sollten, wenn sie kulturell und wirtschaftlich »lebensfähig« seien.33 Zu den wichtigsten Nationalstaatsgründungen des 19. Jahrhunderts sind in diesem Zusammenhang die Gründung des Königreichs Italien 1861 und des Deutschen Kaiserreichs 1871 zu zählen. 27 Geulen, Wahlverwandte, S. 25. Vgl. dazu: Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 7. 28 Geulen, Wahlverwandte, S. 16. 29 Appelt, S. 176f. 30 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 23. 31 Ebd., S. 89. Vgl. zur Nation als einer Art Religionsersatz: Langewiesche, Nation, nationale Bewegung, Nationalstaat, S. 47. Eine andere Sichtweise vertritt Berghoff, S. 183f. 32 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 23, sowie Gruner, S. 283f. Vgl. zum »Jungen Deutschland« in der Schweiz: Eschen. Vgl. zur von Mazzini im Jahr 1835 gegründeten »Jungen Schweiz«: ebd., S. 414. 33 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 44.

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Die Zeit zwischen dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und der Neuaufteilung Europas am Ende des Ersten Weltkriegs stellt für Hobsbawm als dritte Phase schließlich »ein entscheidender Augenblick in der Chronologie nationaler Bewegungen«34 dar. Damals wandelte sich das bisherige »Nationalitätenprinzip« dahingehend, dass nun auch kleine Nationen das Recht auf Selbstbestimmung besaßen und dieses innerhalb eines souveränen Staats verwirklichen sollten.35 Darüber hinaus gewannen zeitgleich mit Imperialismus und erstarkendem Rassismus »nationalistische Programme die Unterstützung der Massen«.36 Die Vorstellung von der Nation als einer ethnischen und sprachlichen Gemeinschaft begann sich in breiten Bevölkerungsschichten durchzusetzen – oft infolge von Nationalstaatsgründung und Demokratisierung.37 So versuchten Nationalstaaten im Zuge der Ausweitung der Demokratie auf weitere Bevölkerungskreise, die Loyalität der nunmehr mit politischen Rechten ausgestatteten Unterschichten durch einen »Nationalismus von oben«38 an sich zu binden; nicht zuletzt, damit diese ihre staatsbürgerlichen, sprich: militärischen Pflichten im Ernstfall auch erfüllten. Mit der Popularisierung ethnischer Nationsvorstellungen wendeten sich die nationalen Gesinnungen in den bestehenden Nationalstaaten vom linken in das rechte Lager.39 Damit einher ging die zunehmende Abwehr gegen ausländische Menschen im eigenen Land. Doch auch die Vereinheitlichungstendenzen, die sich für einzelne Gesellschaftsgruppen mit staatsbürgerlichen Integrationsangeboten verbanden, enthielten ausschließende Momente. Während etwa, wie Erna Appelt ausführt, die Arbeiter in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielerorts ein solches Integrationsangebot unter der Bedingung einer »gewisse[n] Verbürgerlichung«, die Juden unter der Bedingung der »Assimilation und Akkulturation« erhielten, blieben solche Angebote für Frauen weitgehend aus.40 34 Ebd., S. 23. 35 Ebd., S. 122. 36 Ebd., S. 23. 37 Vgl. dazu: Noiriel, Die Tyrannei des Nationalen, S. 66–75. 38 Vgl. dazu: Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 97–119, insbesondere S. 99–101 und S. 109, sowie J. Tanner, Nationale Identität, S. 29f.: »Die ›nationale Identität‹ war das Vehikel, mit dem eine vertikale Integrationsideologie in der Gesellschaft verankert und von Bürgerinnen und Bürgern verinnerlicht werden konnte.« 39 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 122. In diesem Zusammenhang spricht Anderson, Die Erfindung der Nation, S. 80 und S. 98, von einem »offiziellen Nationalismus«, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgekommen sei. Anderer Meinung ist Geulen, Wahlverwandte, S. 26f., der darauf hinweist, »dass die ausgrenzenden und aggressiven Elemente des Nationalismus sich nicht erst im Verlaufe seiner Entwicklung und im Zuge eines politischen Funktionswandels von ›links nach rechts‹ manifestierten, sondern dem Rekurs auf Nation seit dem frühen 19. Jahrhundert (laut neuerer Studien sogar seit der Mitte des 18. Jahrhunderts) zu eigen waren«. 40 Beide Zitate: Appelt, S. 177.

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Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich das modifizierte »Nationalitätenprinzip« auf der Landkarte Europas durch. Schon bald zeigte sich aber, dass es nicht praktikabel war. Es schloss Minderheiten in Nationalstaaten ein, die zuvor noch in multinationalen Staaten existiert hatten. Massenvertreibungen und Völkermord waren Folgen davon. Zudem richteten sich die nationalistischen Bewegungen mit größer werdender Vehemenz gegen den internationalen Bolschewismus. Vor allem in den vormals Krieg führenden Staaten, in denen die sozialistischen Bewegungen am Ende des Ersten Weltkriegs gescheitert waren, nahm der Nationalismus immer militantere Formen an.41

2. Geschlechterdualismus, allgemeine Männerwehrpflicht und Nation In den neu gegründeten Nationalstaaten des 18. und 19. Jahrhunderts wurden Frauen später als Männer in die Bewegung der rechtlichen Vereinheitlichung durch die moderne Staatsbürgerschaft einbezogen. Insbesondere die Integrationsangebote zur Teilhabe an der politischen Staatsbürgerschaft galten in zahlreichen Ländern bis nach dem Ersten Weltkrieg nur für Männer. Seit der Auflösung der vormodernen »Standesgebundenheit politischer Rechte und politischer Mitsprache« im ausgehenden Ancien Régime war Politik »immer exklusiver mit Männlichkeit« assoziiert worden.42 Seither bildete die Ideologie des bürgerlichen Geschlechterdualismus die argumentative Grundlage für den Ausschluss der Frauen von der politischen Staatsbürgerschaft und somit von der Vorstellung einer Nation politisch gleichberechtigter Staatsbürger.43 Der Geschlechterdualismus gründete, wie Erna Appelt darlegt, auf den aufklärerischen Theorien »republikanischer Männlichkeit«.44 So zählte beispielsweise Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) in seiner Schrift »Der Gesellschaftsvertrag« in Anlehnung an die Definition des »Bürgers« und des »Untertans« bei Baruch de Spinoza (1632–1677) die Frauen indirekt zu den Untertanen.45 Nach Ansicht Rousseaus besaß allein der Mann die moralische und staatsbürgerliche Pflicht, ein »guter Bürger« zu sein.46 Ganz anders dagegen die Frauen: »Den 41 Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 157f. und S. 169. 42 Beide Zitate: Appelt, S. 60. Die folgenden Ausführungen stützten sich hauptsächlich auf Appelt, S. 60–85. 43 Vgl. dazu: Honegger, S. 107–212, Appelt, S. 60–85, sowie Geulen, Wahlverwandte, S. 217–220. 44 Appelt, S. 61. 45 Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, S. 22. Vgl. dazu: Spinoza, S. 435 und S. 520f., sowie Appelt, S. 61. 46 Appelt, S. 61. Hingegen bezog sich Kant (1724–1804), S. 137, bei der Definition des republikanischen Staatsbürgers stärker auf das männliche Besitzbürgertum. Wie Appelt, S. 147, festhält, führte erst die industrielle Entwicklung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dazu, dass

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Männern gefallen, ihnen nützlich sein, ihre Liebe und Achtung zu erwerben suchen, sie in der Jugend erziehen, für sie als Erwachsene sorgen, sie beraten, sie trösten, ihnen das Leben angenehm machen und versüßen – das sind die steten Pflichten der Frauen«,47 lautete Rousseaus Meinung. Im Gegensatz zu Spinoza begründete Rousseau die unterschiedlichen Rechte und Pflichten von Männern und Frauen anthropologisch.48 Die neuen, seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auf kommenden anthropologischen Wissenschaften waren für den modernen Geschlechterdualismus denn auch von herausragender Bedeutung.49 Sie generalisierten den Mann zum Menschen, die Frau hingegen zum Speziellen.50 Auf diese Weise wurde »ein politischer Widerspruch … auf das Terrain der Naturwissenschaften«51 verlagert. So war für Rousseau offenbar, dass das »Gebären« die »eigentümliche Bestimmung« der Frauen sei: »Mag übrigens auch eine oder die andere Frau wenig Kinder bekommen, was ändert dies? Ist es deswegen weniger die Bestimmung der Frau, Mutter zu sein? Und sorgen nicht Natur und Sitten durch allgemeingültige Gesetze über diese Bestimmung?«52 Daraus schloss Rousseau in einer langen Argumentationskette auf weitere zentrale Pflichten von Frauen wie Treue, Sittsamkeit, Zurückhaltung und Imagepflege.53 In einem solchen Frauenbild hatte die politische Staatsbürgerschaft von Frauen keinen Platz. Das Auf kommen des anthropologischen Geschlechterdualismus ging mit der Auflösung der »alteuropäischen Gesellschaftsordnung« einher, in der die rechtliche, wirtschaftliche und soziale Einheit des »ganzen Hauses« die Geschlechterrollen geprägt hatte. Mit dem Übergang vom Ancien Régime zum bürgerlichen Zeitalter wurde zum einen die Ordnung des »ganzen Hauses« als Element des Obrigkeitsstaats abgeschafft. Die Rechtsposition der Individuen war grundsätzlich nicht mehr über Häuser und Korporationen vermittelt. Vielmehr traten die Menschen jetzt in ein unmittelbares Rechtsverhältnis zum Staat. Seinen Ausdruck fand dieses Verhältnis in der modernen Staatsbürgerschaft. Zum anderen wurden aber die ständischen Regeln, die im frühneuzeitlichen Oikos gegolten unselbständige Erwerbsarbeit »zu einem anerkannten männlichen Status« wurde, was eine Bedingung für die Ausdehnung der politischen Staatsbürgerschaft auf weitere Männerkreise war. Vgl. dazu: Jauch. 47 Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, 2. Bd., 5. Buch (Sophie oder Das Weib), S. 97. 48 Den Ausschluss der Frauen von der politischen Partizipation begründete Spinoza zwar mit ihrer »natürlichen« Andersartigkeit. Diese Differenz bezog er jedoch nicht auf biologische Eigenschaften, sondern auf die im Vergleich zu den Männern vermeintlich schwächere »Seelenstärke« und den vermeintlich schwächeren »Geist« der Frauen. Spinoza, S. 520f. 49 Vgl. dazu: Honegger. 50 Vgl. zur »wissenschaftlichen Konzeptualisierung der Geschlechterdifferenz in der Neuzeit«: Geulen, Wahlverwandte, S. 218, sowie Honegger, S. 6. 51 Appelt, S. 64. Vgl. dazu: Honegger, S. 14. 52 Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, 2. Bd., 5. Buch (Sophie oder Das Weib), S. 94. 53 Ebd.

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hatten, für den häuslichen Bereich der liberalen bürgerlichen Gesellschaft nicht in Frage gestellt. Aufgrund der zugeschriebenen traditionellen Rolle der Frauen in Haus und Familie traf dieser Sachverhalt, der einerseits als »Inkonsequenz des Liberalismus«,54 andererseits als Produkt fortdauernder republikanischer Denktraditionen gedeutet werden kann, vor allem Frauen. Ihre rechtliche Stellung änderte sich kaum und es war, wie Beatrix Mesmer ausführt, gerade ihre Funktion in Haus und Familie, »mit der man ihren Ausschluss begründete.« 55 Dennoch sei die Rolle der Frauen innerhalb der privaten Sphäre von der neuen liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsform nicht unberührt geblieben. Die Aufgabe, die den Frauen in ihrem Wirkungsfeld der Familie und des Hauses jetzt zukam, bestand aus der Bereitstellung eines »Sicherheitsnetzes«56 gegen die Gefahren des gesellschaftlichen und ökonomischen Liberalismus. Das Haus gehörte »fortan zu den Freiräumen, innerhalb derer die vernunftgemässe Selbstentfaltung und das irdische Glück verwirklicht werden konnten.«57 Außer der Ideologie des Geschlechterdualismus spielten die Schaffung von Nationalarmeen zu Beginn des 19. Jahrhunderts und die damit verbundene allgemeine Männerwehrpflicht als Teil der »republikanischen Männlichkeit« eine wichtige Rolle für das Verhältnis von Staatsbürgerschaft, Nation und Geschlecht.58 Im Jahr 1793 hatte Frankreich die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. In den darauf folgenden Jahrzehnten setzte sich in den meisten europäischen Staaten das französische Modell durch: eine Nationalarmee als Instrument einer neuen Kriegsführung und Ausdruck eines neuen und gänzlich männlichen Militärwesens.59 Die neuen militärischen Prinzipien waren einerseits für die Verbreitung der nationalen Idee von Bedeutung. Während beispielsweise die preußische Armee bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch zur Hälfte aus Ausländern bestanden und insbesondere die ländlichen Unterschichten zum Kriegsdienst herangezogen hatte, unterstanden nun grundsätzlich alle männlichen Preußen der Pflicht, dem »Vaterland« zu dienen und im Ernstfall ihr Leben dafür zu lassen.60 Darin erkannten Teile der preußischen Bevölkerung trotz anfänglicher Ablehnung die Chance, Standesschranken sowie soziale und regionale Unterschiede zugunsten einer nationalen Gemeinschaft in der Person des Soldaten zu über54 Mesmer, S. 4. Vgl. dazu: ebd., S. 8f., sowie Joris, Die geteilte Moderne. 55 Mesmer, S. 9. 56 Ebd. Vgl. dazu: Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 1, Vorlesung 4 (Sitzung vom 1. Februar 1978), S. 162. 57 Mesmer, S. 7f. 58 Frevert sowie Appelt, S. 169f. 59 Die Einführung der allgemeinen Konskriptionspflicht fiel beispielsweise in Preußen ins Jahr 1813. Appelt, S. 170. 60 Ebd. Vgl. dazu: Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 97: Noch in den 1840er Jahren konnten Ausländer in die preußische Armee aufgenommen werden.

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winden.61 Dem Militär als »Hauptbildungsschule der ganzen Nation für den Krieg«62 und als »Schule der Männlichkeit«,63 kam die Rolle zu, die Nation nicht nur vorstellbar, sondern auch am eigenen (männlichen) Körper erfahrbar werden zu lassen. Andererseits führte die allgemeine Männerwehrpflicht und die damit geschaffene Figur des »Bürgersoldaten«64 dazu, Frauen von den politischen Rechten auszuschliessen. Wer keine staatsbürgerlichen Pflichten erfülle, könne auch keine Rechte beanspruchen, lautete das Argument. Die allgemeine Männerwehrpflicht wurde auf diese Weise zum Argument für die politische Mitsprache und gleichzeitig zum Argument gegen die demokratische Partizipation von Frauen schlechthin.65 Die Schwäche des Arguments liegt allerdings in seiner Inkonsequenz: Für den politischen Status von Männern spielte es beispielsweise im schweizerischen Bundesstaat keinen Einfluss, ob sie Militärdienst leisteten oder nicht. Auch diejenigen Männer, die als dienstuntauglich galten und somit ihre Wehrpflicht nicht erfüllten, waren weiterhin zur politischen Partizipation berechtigt.66 Insgesamt trug die allgemeine Wehrpflicht, wie Ute Frevert formuliert, dazu bei, »die Differenz zwischen Frauen und Männern, zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit schärfer zu markieren und lebensweltlich ebenso wie institutionell zu verankern.« 67 Krieg, Männlichkeit, Nation und Staatsbürgerschaft bildeten seither eine Einheit, die während langer Zeit dazu beitrug, den Ausschluss der Frauen von der politischen Staatsbürgerschaft zu rechtfertigen.

3. Judenfeindschaft, Antisemitismus und Nation Im Ausgang des Ancien Régimes begann sich das Verhältnis zwischen Juden und Christen in Europa tief greifend zu wandeln. Mit der Auf klärung und dem beginnenden liberalen Zeitalter setzte der lange Prozess der rechtlichen und gesellschaftlichen Emanzipation der Juden ein.68 Doch gerade die von den aufgeklärten Philosophen und Dichtern postulierte und in Frankreich mit der 61 Frevert, S. 80. 62 So der Wortlaut im preußischen Wehrgesetz von 1814. Zitiert nach: ebd. 63 Frevert, S. 82. 64 Vgl. zum Begriff des »Bürgersoldaten«: Jaun, Armee, Nation, Staat, S. 123. 65 Appelt, S. 171. 66 Umgekehrt besaßen auch Schweizer Juden bis ins Jahr 1866 auf Bundesebene keine politischen Rechte, obwohl sie seit 1852 in der schweizerischen Armee Dienst leisteten. Vgl. dazu: Mattioli, Der »Mannli-Sturm«, S. 136, sowie Kamis-Müller, S. 35–37. Vgl. dazu: Frevert, S. 79. 67 Frevert, S. 84f. 68 Geulen, Wahlverwandte, S. 60f.

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Revolution von 1789 durchgesetzte rechtliche Gleichstellung der Juden mit den Christen führte zu starker Verunsicherung und Opposition in der christlichen Bevölkerung.69 Vor dem Hintergrund dieses Wandels transformierte sich auch die traditionelle Judenfeindschaft. Aus dem christlichen Antijudaismus entstand »ein säkularisierter Grundtypus der Judenfeindschaft: der moderne Antisemitismus«.70 Dieser unterschied sich dadurch vom christlichen Antijudaismus, dass er die Juden wegen »ihrer vermeintlichen ›rassischen‹ oder ›nationalen‹ Andersartigkeit«71 ablehnte. Gleichzeitig wies der moderne Antisemitismus verschiedene Merkmale auf, die »zu den ideologischen Traditionsbeständen der christlichbürgerlichen Gesellschaft gehörten.« Sie traten »jedoch in einem spezifisch neuen Mischungsverhältnis« auf.72 Zur wahlweise nationalen oder rassischen Fundierung des modernen Antisemitismus kam ein weiteres Element hinzu: eine ausgesprochen antimodernistische Haltung. Die Verfechter des Antisemitismus stilisierten die Juden zum »Negativsymbol der bürgerlich-liberalen Gesellschaft und ihrer kapitalistischen Wirtschaftsordnung«.73 Deshalb ist der moderne Antisemitismus, mit Thomas Nipperdey und Reinhard Rürup gesprochen, auch als eine »Ideologie der Unzufriedenheit mit der modernen Welt und des Widerspruchs gegen ihre konstitutiven Prinzipien«74 zu interpretieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert rekrutierte sich die antisemitische Trägerschicht hauptsächlich aus dem katholischen, ultramontan ausgerichteten »Milieu«.75 Dies sei vor allem in den Staaten entlang des Rheins der Fall gewesen.76 Den rückwärtsgewandten Katholiken galt »die Heilsprojektion auf das goldene Mittelalter« als »Hoffnungshorizont«. So sollten die Säkularisierung und die »Dekatholisierung« gestoppt und die Errungenschaften von 1789 rückgängig gemacht werden.77 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erhielt der nationalistische, xenophobe, sozialdarwinistische und rassische Antisemitismus Auftrieb. Die rassische Variante des Antisemitismus fand dabei unter anderem bei Paul de Lagarde oder Houston 69 Berding, S. 57. Vgl. dazu: Geulen, Wahlverwandte, S. 59–61, sowie Blaschke, Die Anatomie, S. 23. 70 Mattioli, Antisemitismus in der Geschichte, S. 4. 71 Ebd. 72 Beide Zitate: J. Tanner, Diskurse der Diskriminierung, S. 330. Vgl. zum Verhältnis von Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich: Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus. 73 Mattioli, Antisemitismus in der Geschichte, S. 5. 74 Nipperdey/Rürup, S. 135. 75 Vgl. zum »Nexus zwischen Ultramontanismus und Antisemitismus«: Blaschke, Die Anatomie, S. 27–33. Vgl. zum Begriff des »Milieus«: ebd., S. 37–40. 76 Mattioli, »So lange die Juden Juden bleiben …«, S. 296. Vgl. dazu: ebd., S. 289. 77 Beide Zitate: Blaschke, Die Anatomie, S. 34.

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Stewart Chamberlain eine theoretische Begründung. Bei de Lagarde beispielsweise stellten sich »die ›Seelen und Körper‹ der Juden als genuin wesensfremd und von Natur aus nicht integrierbar heraus.«78 Den Antisemitismus aber lediglich als »Variante des Rassismus«79 zu verstehen, greift zu kurz, wie Olaf Blaschke in der Debatte zum katholischen Antisemitismus deutlich macht. Auch Jakob Tanner geht von der »These einer relativen Autonomie«80 von Antisemitismus, Sozialdarwinismus und Rassismus aus. Unter bestimmten Bedingungen würden sich diese jedoch verbinden und könnten gerade dadurch ihre Überzeugungskraft steigern. Von der Forschung widerlegt wurde auch die Vorstellung eines »ungebrochenen Antijudaismus«. Danach habe sich, so Blaschke, der moderne Antisemitismus neben den vor allem vom Katholizismus getragenen Antijudaismus gestellt; beide hätten gemäß dieser Vorstellung »nichts miteinander zu tun.«81 Damit verband sich hauptsächlich für Deutschland, mittlerweile aber auch für die Schweiz die These des »doppelten Antisemitismus«, die zwischen »einem guten, katholischen, gerechten Antisemitismus und einem schlechten, unchristlichen, blindwütigen Judenhass« unterschied.82 Dagegen verwies Olaf Blaschke mit Nachdruck auf die notwendigerweise vorzunehmende Differenzierung im Umgang mit dieser These: Erstens sei die Haltung der Katholiken gegenüber den Juden »aversiv« gewesen, auch wenn sie »den auf Rassenideologien reduzierten Judenhass ablehnten.« Von einem »guten, katholischen, gerechten Antijudaismus« könne also keine Rede sein. Und zweitens hätten die Katholiken gegenüber dem modernen Antisemitismus eine »gespaltene Haltung« eingenommen. Insofern sei in der These des »doppelten Antisemitismus« die »Ambivalenz gegenüber dem Antisemitismus bereits angelegt.«83

4. Soziale Schicht und Nation Das Verhältnis zwischen sozialen Unterschichten und nationalen Gemeinschaftsvorstellungen war im Europa des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts ein gespanntes. In zahlreichen Staaten blieben Arbeiter, Taglöhner, Kleinbauern und besitzlose Landarbeiter bis nach dem Ersten Weltkrieg insbesondere von der politischen Staatsbürgernation ausgeschlossen. Je nach Land konnte der Ausschluss aufgrund eines Zensus, aufgrund eines indirekten Wahlver78 79 80 81 82 83

Geulen, Wahlverwandte, S. 171. Blaschke, Die Anatomie, S. 7. J. Tanner, Diskurse der Diskriminierung, S. 324. Blaschke, Die Anatomie, S. 6. Ebd., S. 9. Vgl. dazu: ders., S. 10, Altermatt, Katholizismus und Antisemitismus, sowie M. Meier. Alle Zitate: Blaschke, Die Anatomie, S. 14.

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fahrens wie etwa des preußischen Dreiklassenwahlrechts oder – wie in der Schweiz – durch »eine willkürliche Handhabung der Niederlassungsbewilligung«84 (welche die Grundlage für die Ausübung der politischen Rechte war) zustande kommen. Dass die besitzlosen und ärmeren Bevölkerungsschichten von den politischen Rechten vielerorts bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgeschlossen blieben, bezeichnet Josef Mooser als ein gesamteuropäisches Phänomen des Liberalismus.85 Gleichzeitig war der liberale Grundsatz, dass nur die gebildeten, wirtschaftlich unabhängigen oder einem angesehenen Beruf nachgehenden Bürger die Voraussetzungen für eine unabhängige Meinungsbildung mitbrachten,86 ebenso der republikanischen Deutungstradition der Staatsbürgerschaft eigen.87 Jedenfalls war diese Überzeugung in der damaligen »Mittelklasse«88 weit verbreitet. Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz herrschten zur Zeit der großen Massenarmut in der Mitte des 19. Jahrhunderts »dieselben restriktiven Vorstellungen über die tatsächlichen Begrenzungen des Wahlrechts gegenüber Armen.«89 Das spannungsreiche Verhältnis zwischen sozialen Unterschichten und der Nation wurde durch die zunehmende Demokratisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert in verschiedenen europäischen Ländern entschärft. Allerdings belastete seither zunehmend die Frage des Internationalismus das Verhältnis zwischen Arbeiterschaft und nationalen Gemeinschaftsvorstellungen. Denn die Arbeiterbewegungen trennten sich nun sukzessive von den nationalen Bewegungen. In Deutschland geschah dies mit der Reichsgründung im Jahr 1871. Damals, so Erich Gruner, sei für die deutsche Arbeiterbewegung das »Ziel der deutschen Einheitsrepublik … endgültig begraben worden.«90 Dagegen seien die beiden Bewegungen – der Nationalismus und die Arbeiterbewegung – in der Schweiz bedeutend länger miteinander verbunden geblieben.91 So grenzte 84 Gruner, S. 157, sowie Mooser, Eine neue Ordnung, S. 52. Vgl. dazu: A. Tanner. 85 Mooser, Eine neue Ordnung, S. 59. 86 Craig, S. 42. Vgl. dazu: A. Tanner, S. 73, Gruner, S. 157, sowie Mooser, Eine neue Ordnung, S. 52. 87 Weinmann, S. 333. 88 Mooser, Eine neue Ordnung, S. 59. A. Tanner, S. 73 und S. 85, nennt als Angehörige der »Mittelklasse« das »Besitz-, Bildungs-, Handels- und Industriebürgertum« sowie den »gewerblich-bäuerlichen Mittelstand«. 89 Ebd., S. 57. Vgl. zur Armut in der Schweiz: Gruner, S. 21f. Ders., S. 28, schätzte die Zahl der Armen in der Schweiz in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf rund 8 %. Dennoch könne »die Schweiz einen Vergleich mit dem Ausland, besonders England, Belgien und den Niederlanden aushalten, wo trotz den auch für diese Länder stark differierenden Werten, die Massenarmut um die Jahrhundertmitte mit bis gegen 20 % bedeutend grösser gewesen sein muss.« 90 Ebd., S. 991. 91 Ebd. Hauptsächlich der 1838 gegründete Grütliverein, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den größten Teil der schweizerischen Arbeiter organisierte und sich für die Verfassungsrevision von 1874 eingesetzt hatte, trug maßgeblich zur Nationalisierung der schweizerischen

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sich der Grütliverein im Gegensatz zur 1864 gegründeten »Internationalen Arbeiter Assoziation« (IAA), der »Ersten Internationale«, und dem 1873 gegründeten Schweizerischen Arbeiterbund scharf gegenüber dem Ausland und Ausländern ab.92 Erst im Zuge des Zusammenschlusses der Sozialdemokratischen Partei mit dem national gesinnten Grütliverein im Jahr 1901, der seit 1900 »ständige[n] politischen Isolation der Arbeiterschaft in einer stigmatisierten politischen Minderheitsposition«93 und dem Militäreinsatz gegen Streikende während des Landesgeneralstreiks 1918 gewann die internationale Ausrichtung der schweizerischen Arbeiterschaft an Gewicht.

5. Die »Erfindung des Ausländers« Die »Erfindung des Ausländers«,94 so die Formulierung von Rogers Brubaker, geht auf die Französische Revolution zurück und ist untrennbar mit der Herausbildung der modernen, nationalen Staatsbürgerschaft verbunden: Die staatliche Mitgliedschaft war in Frankreich zur Zeit des Ancien Régimes »kein selbständiger Rechtsbereich.«95 Vielmehr wurde die staatliche Zugehörigkeit im absolutistischen Frankreich über das Erbrecht definiert – dies etwa im Gegensatz zur Schweiz, wo sich das Landrecht während des Ancien Régimes mit dem armenrechtlich begründeten Gemeindebürgerrecht verband. Insofern leiteten sich im damaligen Frankreich, wie Rogers Brubaker festhält, »nicht das Erbrecht (oder andere Rechte) … von einer unabhängig definierten Staatsbürgerschaft ab, sondern umgekehrt, die Definition der Staatsbürgerschaft hing von Erbschaftsfragen ab.«96 Ein »aubain«, so die damalige Bezeichnung für eine Person, welche die so genannte »qualité de français«97 nicht besaß, war also jemand, der seinen Besitz aufgrund des geltenden »droit d’aubaine« nicht an seine Nachkommen vererben konnte; bei seinem Tod wurde das Erbe vom König konfisziert. Seit Arbeiterschaft bei. Ebd., S. 475. Vgl. zum Verhältnis zwischen der demokratischen Bewegung und der Arbeiterschaft: ebd., S. 701–707, insbesondere S. 702. 92 F. Müller, S. 264. 93 Ebd., S. 268. 94 Brubaker, S. 75. 95 Ebd., S. 66. Vgl. dazu: Weil, Qu’est-ce qu’un Français?, S. 18. 96 Brubaker, S. 66. 97 Grundsätzlich wurde seit 1515 als Franzose anerkannt, wer in Frankreich geboren war und dort lebte. Hinzu kam im Jahr 1576 die Bestimmung, dass im Ausland geborene Kinder französischer Eltern ebenfalls als Franzosen anerkannt wurden, wenn sie in Frankreich ansässig waren. Zudem konnte der König so genannte »lettres de naturalité« verleihen, um die nicht in Frankreich oder nicht als Kind französischer Eltern geborenen Personen als Franzosen anzuerkennen. Angaben nach: Weil, Qu’est-ce qu’un Français?, S. 17f.

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dem 16. Jahrhundert verlor das bisherige Erbrecht an Geltung. Infolgedessen legten die französischen Gerichtshöfe die »qualité de français« immer großzügiger, gleichzeitig aber auch von Fall zu Fall verschieden aus.98 Erst die Französische Revolution schuf die Bedingungen, unter denen sich die moderne, nationale und einheitlich definierte Staatsbürgerschaft und somit der Rechtsstatus des »Ausländers« herausbilden konnten. Gemäß Rogers Brubaker etablierte die Französische Revolution erstens einen »allgemeinen Mitgliedsstatus auf Basis der Gleichheit vor dem Gesetz«.99 Die rechtliche Ungleichheit hatte zur Gesellschaftsordnung des Ancien Régimes gehört. Bei dieser Ungleichheit war jedoch nicht der Status als Franzose oder als »aubain« das wichtigste Kriterium gewesen, sondern die zahlreichen innergesellschaftlichen Differenzierungen, beispielsweise hinsichtlich des Standes oder der Religion.100 Zweitens brachte die Französische Revolution politische Teilnahmerechte, die einem großen Teil der französischen Staatsbürger zugestanden wurden. Ausgenommen waren Frauen, Kinder, Jugendliche und Arme.101 Gegen außen verstärkte die Französische Revolution drittens die Grenzen zwischen den Staaten und ihren Staatsbürgern beziehungsweise Untertanen.102 Entsprechend legte ein Gesetz im Frühjahr 1790 fest, unter welchen Bedingungen Ausländer Franzosen werden konnten. Ein Jahr später definierte die Verfassung vom 3. September 1791 erstmals für das gesamte französische Territorium, wer Franzose und damit indirekt wer Ausländer war.103 Schließlich schaffte die Französische Revolution viertens Privilegien und Körperschaften des Ancien Régimes ab und stellte somit das Individuum in eine direkte Verbindung zum Staat.104 Seither ist der rechtliche Status des modernen nationalen Staatsbürgers nicht ohne denjenigen des Ausländers denkbar. Oder nochmals mit Rogers Brubaker gesprochen: »Mit Erfindung des nationalen Bürgers und des rechtlich homogenen nationalen Staatsvolks erfand die Revolution zugleich den Ausländer.«105

98 Vgl. dazu: Brubaker, S. 64–66. 99 Ebd., S. 78. 100 Ebd., S. 63. 101 Weil, Qu’est-ce qu’un Français?, S. 19. 102 Brubaker, S. 78. Vgl. zur Differenzierung: ebd., S. 73, sowie Weil, Qu’est-ce qu’un Français?, S. 19. 103 Weil, Qu’est-ce qu’un Français?, S. 19f. Vgl. dazu: ebd., S. 20: Als Franzosen galten diejenigen Personen, die in Frankreich als Kind eines französischen Vaters geboren waren, die in Frankreich als Kind eines ausländischen Vaters geboren waren und in Frankreich wohnten, sowie diejenigen, die als Kind eines französischen Vaters im Ausland geboren waren, in Frankreich wohnten und den Bürgereid geleistet hatten. Vgl. zum Gesetz vom 30. April 1790: ders., L’histoire de la nationalité française, S. 56. 104 Brubaker, S. 78. Vgl. zur »Erfindung des Ausländers« aus einer kultur-anthropologischen Perspektive: Bauman, S. 23–49. 105 Brubaker, S. 75.

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6. Vorstellungen von der schweizerischen Nation: Entwicklungslinien im 19. Jahrhundert »Was ist der Geist unseres Volkes? Kennen wir ihn? … Ich kenne keinen. Vor zwei Jahren waren wir noch vierzig verschiedene Völkerschaften mit sehr verschiedenem Volksgeist, und wenn ich nun den Werdenberger, den Lemaner, den Italiener, den Oberländler, Basler, Solothurner u.s.w. zusammenstelle und mich frage, was diese unter sich gemein haben, das sie vor anderen Nationen auszeichne, so weiß ich mir keine Antwort zu geben …«106 Mit diesen Worten brachte der Zürcher Konrad Escher im helvetischen Grossen Rat, der Volksvertretung des schweizerischen Einheitsstaats zwischen 1798 und 1803, bei der Diskussion über die Revision der helvetischen Verfassung am 19. August 1799 die grundsätzliche Schwierigkeit auf den Punkt, die Schweiz als nationale Gemeinschaft zu definieren: Kulturelle oder sprachliche Gemeinsamkeiten drängten sich als Definitionsmerkmale der schweizerischen Nation nicht auf. Doch gerade aufgrund fehlender augenfälliger Gemeinsamkeiten waren der staatlichen und parastaatlichen Erinnerungspolitik,107 der »imagologischen Bastelei«108 des Nationalen, in der Schweiz kaum Grenzen gesetzt. Das politische »Patchwork der alten Eidgenossenschaft«,109 die sprachlichen, kulturellen, geografischen und historischen Differenzen, die fehlenden kriegerischen Handlungen der vergangenen Jahrhunderte – all das konnte vergessen werden, wenn die Konstruktionen des Gemeinschaftlichen und damit verbunden die imaginierten äußeren oder inneren »Feinde« genügend Integrationskraft zu entwickeln vermochten. Erste Formen moderner nationaler Gemeinschaftsvorstellungen haben sich in der Schweiz während des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts herausgebildet.110 Zu den Bedingungen dafür gehörten die Auflösung ständischer und religiöser Bindungen sowie die Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit und eines »romantisch-schwärmerischen Naturverständnisses«.111 Während der Helvetik und des frühen 19. Jahrhunderts berief sich die politische Elite – trotz einzelner Zweifel, wie sie Konrad Escher geäußert hatte

106 Amtliche Sammlung der Acten aus der Zeit der Helvetischen Republik, Bd. 4, S. 1379. 107 Vgl. dazu: Guggenbühl, S. 45, sowie zum Zusammenwirken von bewusster Manipulation (Erinnerungspolitik) und unbewusster Prägung (kollektives Gedächtnis): J. Tanner, Nation, Kommunikation, Gedächtnis, S. 51. 108 Marchal, Das »Schweizeralpenland«. 109 Guggenbühl, S. 40. 110 Vgl. zur Entwicklung früher nationaler Identitätsvorstellungen und der Bedeutung der 1762 gegründeten Helvetischen Gesellschaft: Zimmer, S. 41–79. 111 J. Tanner, Nationale Identität, S. 29.

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– auf die geistigen Grundlagen einer schweizerischen Nation.112 Damit reagierten die Politiker auf die empfundene Notwendigkeit, den inneren Zusammenhalt der Eidgenossenschaft zu festigen und diese gegenüber den benachbarten Monarchien als souveränes Staatsgebilde zu legitimieren. Im Rückgriff auf die Moralphilosophie der Auf klärung, die schweizerische Alpenwelt und die Freiheit von Fremdherrschaft konstruierten die helvetischen Politiker ein Bild des Nationalen, das aus angeblich genuin schweizerischen Tugenden »wie ›Redlichkeit, Biedersinn, Tapferkeit und Treue‹«113 bestand. »Ein armes, aber biederes, tapferes und mäßiges Volk ersetzt den Mangel an Reichthum durch Tugend«, glaubte etwa der helvetische Parlamentarier Huber zu wissen.114 Und Heinrich Zschokke ließ seinen »Schweizer Freiheits- und Kriegsgesang« im Jahr 1799 mit der Strophe beginnen: »Triumph, Triumph, Helvetia! / Stolz war des Feindes Drohn. / Du donnertest, Viktoria, / Und die Tyrannen flohn. / Dein Alpenthron bleibt immerdar / Der Freiheit ewiger Altar, / Und jeder Schweizer schwöret da: / Gesegnet sei Helvetia!«115 Mit der Beschwörung eines auf Freiheit, Natur und Tugend beruhenden nationalen »Volksgeistes« ging während der Helvetik erstmals auch die Konzeption einer »Staatsnation« einher, allerdings ohne explizit als solche benannt zu werden, wie Christoph Guggenbühl ausführt.116 Nach der Wiedereinsetzung der alten Kantonsherrschaft zur Zeit der Mediation und insbesondere mit dem Bundesvertrag von 1815 traten staatsnationale Vorstellungen aber wieder in den Hintergrund. Die Tagsatzung bildete als gesamteidgenössische Behörde lediglich eine Vertretung der restaurativen Kantone, eine Nationalvertretung fehlte. Seit den 1820er Jahren begannen sich zunehmend kantonsübergreifende Vereine und Gesellschaften zu bilden. Wie die zur selben Zeit auf kommenden »gesamteidgenössischen Schützen-, Turner- und Sängerfeste«117 trugen sie im gemeinsamen Erleben von Geselligkeit zu einer ersten Popularisierung des nationalen Gedankens bei. Doch die inszenierte und als zeitlos dargestellte geistige Gemeinschaft der Schweizer setzte sich vorerst vor allem auf politischer Ebene durch. Dort verband sie sich immer stärker mit der normativen Vorstellung einer nationalen politischen Gemeinschaft, die in Form eines Bundesstaats organisiert werden sollte. Zeitgleich mit der französischen Julirevolution von 1830 gewann diese Vorstellung an Auftrieb. Politiker der liberalen Regenerationskantone, in denen im Herbst und Winter 1830/31 die repräsentative Demokratie durchgesetzt worden war, forderten, dass der restaurative Bundesvertrag aus dem Jahr 1815 revidiert und ein liberaler, föderalistischer Bundesstaat geschaf112 113 114 115 116 117

Guggenbühl, S. 40. Ebd. Amtliche Sammlung der Acten aus der Zeit der Helvetischen Republik, Bd. 3, S. 1061. Zschokke, Der Schweizer Freiheits- und Kriegsgesang, S. 36. Guggenbühl, S. 40f. Ebd., S. 41.

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fen werde.118 Eine bundesstaatliche Neuordnung propagierten jedoch nicht nur die gemäßigten Liberalen, sondern auch die Radikalen.119 Ihre 1830 gegründete Zeitung »Der schweizerische Republikaner«, als dessen wichtigster Redaktor der radikale Publizist Ludwig Snell fungierte, verknüpfte in der damaligen publizistischen Landschaft die Frage der Nation gar »am stärksten … mit der Schaffung einer neuen staatlichen Ordnung.«120 Der Versuch einer Bundesrevision, mit der ein föderalistischer Bundesstaat geschaffen werden sollte, wurde von den Liberalen in den Jahren 1832 und 1833 gleich zweimal unternommen. Im Bericht der Tagsatzungskommission von 1833, der über die Arbeit der Kommission zur Revision des Bundesvertrags aus dem Jahr 1815 informierte, bildeten die »National-Souveränetät«, das »National-Gefühl« und das »National-Bedürfnis[…]« die Gegenprinzipien zum »Cantonal-Geist[…]« und zur »Idee der Cantonal-Souveränetät«.121 Letztere sei, nach den Worten des damaligen Berichterstatters der Tagsatzungskommission Pellegrino Rossi, in der Schweiz zwar noch immer die »vorherrschende« Idee, gleichzeitig aber auch »nicht mehr so schneidend in ihren Ansprüchen, in ihrer Eifersucht nicht mehr so herbe.«122 Wie Konrad Escher im Jahr 1798 war sich auch Pellegrino Rossi der trennenden Momente in der Schweiz bewusst. Doch im Gegensatz zu Escher unternahm Rossi den Versuch, das »National-Gefühl« und das »National-Bedürfnis« in der Schweiz mit dem gemeinsamen Namen und der gemeinsamen Geschichte, der gemeinsamen Streitkraft und Moral sowie der schweizerischen Brüderlichkeit und den Alpen zu begründen.123 Gleichzeitig erkannte Rossi, dass das von ihm beschworene »Nationalgefühl« nicht den Alltag der schweizerischen Bevölkerung bestimmte. Mit Pathos und Nüchternheit zugleich konstatierte Rossi: »Der Schweizerische Nationalsinn ist gewisser Massen unsere Poesie, unser Ideal. Er beflügelt unsere Einbildungskraft, er entflammt unsere Herzen. In entscheidenden gefahrvollen Augenblicken, wo die selbstsüchtige Berechnung verstummt, wo der Ruf des bedrohten Vaterlandes den schneidenden Misslaut der örtlichen Interessen übertönt, da wird das National-Gefühl zu einer mächtigen Triebfeder; … Aber im gewöhnlichen Lauf der Dinge, in den alltäglichen Bestrebungen, – gestehen wir es offen, da behauptet der Cantonal-Geist sein Uebergewicht.«124 Die Revision des Bundesvertrags scheiterte in den Jahren 1832 und 1833 am Widerstand der Konservativen und Radikalen. Keine der beiden rivalisie118 Schaffner, »Direkte« oder »indirekte« Demokratie?, S. 273–275. 119 Vgl. zu »Radikalen« und »Liberalen«: Luzzato, S. 69. 120 Meyerhofer, S. 49. 121 Alle Zitate: Bericht über den Entwurf einer Bundesurkunde 1833, S. 10, S. 21, S. 18, S. 15 und S. 12. 122 Ebd., S. 11f. 123 Ebd., S. 19f. 124 Ebd., S. 22.

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renden Gruppen hatte ihre Forderungen im liberalen Revisionsentwurf verwirklicht gesehen.125 Ob das »Nationalgefühl nicht mächtig genug [gewesen war], die kantonale Selbstsucht zu überwinden«,126 wie der Jurist Walther Rieser 1892 das Scheitern der Bundesrevision in den 1830er Jahren erklärte, sei dahingestellt. Pellegrino Rossi aber sollte insofern Recht behalten, als erst »der Ruf des bedrohten Vaterlandes« oder, anders gesagt, die Konstruktion eines gemeinsamen Feindes das »Nationalgefühl« für dessen »täglichen Gebrauch« tauglich machte. Denn im Rahmen der weiteren Debatten über einen zu schaffenden schweizerischen Bundesstaat begann sich vor 1848 in der Schweiz ein Begriff der Nation zu etablieren, der sich nicht mehr nur aus dem »Volksgeist« und einem in Zukunft zu errichtenden föderalistischen Bundesstaat speiste. Zunehmend konstruierten die Debatten zur schweizerischen Nation ein antagonistisches Außen, einen Feind, der im Zuge der politischen Ereignisse der 1840er Jahre immer deutlichere Konturen annahm: die Jesuiten und die katholisch-konservativen Kantone.127 Insbesondere bestimmte in den gesamtschweizerischen Vereinen und in der medialen Öffentlichkeit das Feindbild der katholisch-konservativen Kantone und der Jesuiten nach dem Sonderbundskrieg im Jahr 1847 die Debatten rund um die neuerliche Revision des Bundesvertrags.128 Dabei standen die Katholiken weniger für religiöse Glaubenssätze denn für Rückständigkeit und eine antinationale, ultramontane Gesinnung. Die Nation wurde im Gegensatz dazu als »fortschrittlich«, das heißt als liberal vorgestellt.129 So richtete sich beispielsweise das Zentralkomitee des Schweizerischen Volksvereins mit der Schrift »Leitende Gesichtspunkte für die schweizerische Bundesrevision« im Jahr 1848 an seine Mitglieder. Der Autor, Ludwig Snell,130 prangerte darin den »Kantonalegoismus der kleinen Kantone«131 an und stellte sich auf den Standpunkt, dass die Liberalen bei der Revision des Bundesvertrags aus dem Jahr 1815 von der Überzeugung ausgehen sollten, »dass die schweizerische Nation aus ihren grossen Opfern [gemeint war der Sonderbundskrieg] auch eine grosse Frucht zu erndten hofft; dass endlich die Anmassung der kleinen Demokratien, gleichen 125 Vgl. dazu: Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung, vom 8. April 1848, S. 5. 126 Rieser, S. 59. 127 Vgl. zur damaligen Rolle nationaler Vereine und Feiern, insbesondere der Schützenvereine und Schützenfeste, die den Republikanern auch als Plattform für ihre Rhetorik gegen die Jesuiten dienten: Zimmer, S. 127f. 128 Im Jahr 1845 war es zwischen den katholischen Kantonen Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg und Wallis zu einer »Schutzvereinigung«, dem so genannten »Sonderbund«, gekommen, der von den protestantischen Kantonen während des Sonderbundkriegs 1847 aufgelöst wurde. Vgl. dazu: Moos. 129 Guggenbühl, S. 44. 130 Snell hatte seine Mitarbeit am »Republikaner« 1842 beendet. Meyerhofer, S. 58, Anmerkung 1. 131 Snell, S. 7.

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Einfluss mit den grossen Kantonen im Bunde auszuüben, selbst von ihren früher befreundeten Confessionsgenossen … mit Entrüstung zurückgewiesen wird, weil sie während der Okkupation dieser Demokratien den Schmutz des Mittelalters kennen lernten, in welchem sie in allen Beziehungen noch stecken.«132 Der Radikale Emil Rothpletz schlug in die gleiche Bresche: »Die Schweiz, dieser aus den fremdartigsten und zufälligsten Elementen zusammengesetzte Staatenbund, erwarb ihre nationale Einheit durch den gemeinsamen Kampf um die höchsten Güter der Menschheit gegen den Jesuitismus.«133 Moderater äußerte sich der anerkannte Staats- und Völkerrechtler und Zürcher Professor Johann Caspar Bluntschli im Zuge des Sonderbundskriegs zur nationalen Einheit der Schweiz: »Das Gefühl der Kantonalsouveränität, der Besonderheit, der Particularität erwies sich in diesem Kriege schwächer, machtloser, abgestorbener, als die vorausgegangenen Anstrengungen des Sonderbundes hatten erwarten lassen.«134 Im Gegensatz zu Snell und Rothpletz hielt sich Bluntschli mit der Kritik an den Jesuiten und den katholischen Kantonen zurück. Vielmehr legte er Wert darauf, die Notwendigkeit einer gemeinsamen Bundesreform zu betonen, denn nach seiner Ansicht waren die Auflösung des Sonderbundes und die Vertreibung der Jesuiten »nur ein negatives Resultat, welches für sich allein die Nation unmöglich befriedigen kann.«135 Auf diesen Standpunkt stellte sich auch die Revisionskommission der Tagsatzung im Jahr 1848 in ihrem »Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung«, verfasst von den beiden Mitgliedern der Kommission Henri Druey und Johann Conrad Kern.136 Darin hieß es: »Der Nationalgeist hat selbst während böser Zeiten, welche die Schweiz vom Jahr 1833 an bis 1847 durchlebt hat, Fortschritte gemacht. Die Schwierigkeit, wichtige Fragen zu einer befriedigenden Lösung zu bringen, … die Unmöglichkeit, allgemein verlangte Verbesserungen ins Leben zu führen, die Gefahren, welchen die Schweiz in neuester Zeit ausgesetzt war, haben mehr als je es der schweizerischen Nation zum Bewusstsein gebracht, wie nothwendig es sei, die Bundeseinrichtungen mit den Bedingungen ihrer Existenz und den Fortschritten der Zeit in Einklang zu bringen.«137 Der Bericht der Kommission liest sich im Gegensatz zu den Schriften von Snell und Rothpletz versöhnlich. Die Kommission war, so scheint es, um einen gemeineidgenössischen Ausgleich bemüht. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass die siegreich aus dem Sonderbundskrieg hervorgegangenen protestantischen Kantone unter dem Druck des monarchischen Auslands standen. Dieser Druck habe, so der Historiker Oliver Zimmer, die Meinungsbil132 133 134 135 136 137

Ebd. Von einem Demokraten (vermutlich Emil Rothpeltz), S. 13. Stimme eines Schweizers (vermutlich J.C. Bluntschli), S. 6f. Ebd., S. 3f. Vgl. dazu: M. Steiner. Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung, vom 8. April 1848, S. 45.

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dung unmittelbar nach dem Krieg beschleunigt und den Nationalstaat zur passendsten Antwort auf die Krisensituation werden lassen.138 Im Zuge der liberalen Bewegung der 1830er Jahre hatte sich in der Schweiz aber nicht nur ein Nationsbegriff etabliert, der sich »ex negativo« aus dem gemeinsamen Feindbild der Jesuiten speiste. Angesichts der damaligen Durchsetzung repräsentativer Demokratien in den Regenerationskantonen hatten sich die Vorstellungen von der schweizerischen Nation auch zunehmend am »Demos«, an den gleichberechtigten Bürgern, zu orientieren begonnen. Diese Vorstellung einer schweizerischen Staatsbürgernation fand nun im Jahr 1848 mit der Bundesstaatsgründung ihre doppelte Entsprechung: zum einen durch die Einführung der Volkssouveränität in Form der repräsentativen Demokratie auf Bundesebene, zum anderen durch die rechtliche Gleichstellung der männlichen Gliedstaatsangehörigen im ganzen Gebiet der Schweiz, der Inländergleichstellung.139 Wie in Frankreich oder den USA fielen damit in der Schweiz Staatsgründung, Staatsbürgerschaft und Nation zusammen.140 Der Radikale Ignaz Paul Vital Troxler, Mitglied der Tagsatzungskommission zur Revision des Bundesvertrags, war die treibende Kraft für die Übernahme des amerikanischen Zweikammernsystems und somit für die Einsetzung der bisher fehlenden parlamentarischen Volksvertretung, der so genannten »Nationalrepräsentation«, durch die Kommissionsmehrheit gewesen. Für ihn galt eine Nation ohne Nationalrepräsentation als inexistent.141 Die rechtliche Gleichstellung der männlichen und christlichen Schweizer Bürger im ganzen Gebiet der Schweiz hatte der »Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung« vom 8. April 1848 hingegen folgendermaßen kommentiert: »Wenn man will, dass die Schweiz eine Nation, die Eidgenossenschaft eine Familie von Brüdern sei, so muss man die Gleichheit der Rechte der Eidgenossen als Prinzip aufstellen.«142

138 Zimmer, S. 130. Insofern scheint auch der versöhnliche Ton nicht Ausdruck davon gewesen zu sein, dass die Katholiken in die Regierung einbezogen werden sollten. Vielmehr ist zu betonen, dass nach dem Sonderbundskrieg in den katholisch-konservativen Kantonen liberale Regierungen eingesetzt worden waren. Die politische Integration der Katholisch-Konservativen in die Landesregierung ließ zudem bis 1891 auf sich warten. Vgl. dazu: Mooser, Eine neue Ordnung, S. 48. 139 Zimmer, S. 129–132, betont in diesem Zusammenhang die Rolle nationaler Volksbewegungen zwischen 1847 und 1851. 140 Vgl. dazu: Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, S. 30–32. Vgl. zur Entstehung der »revolutionäre[n] Idee ›Nation‹ im ausgehenden 18. Jahrhundert«: Langewiesche, Nation, nationale Bewegung, Nationalstaat, S. 47. Dennoch blieb der Begriff der Nation in der Schweiz umstritten. Vgl. zur abweichenden Deutung der Nation in den katholischen Kantonen: Zimmer, S. 147–153. 141 Vgl. dazu: Troxler. 142 Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung, vom 8. April 1848, S. 15.

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Auch die Wehrhaftigkeit nahm schließlich für die Vorstellung der schweizerischen Nation eine zentrale Stellung ein.143 Allerdings gestaltete sich hier das Verhältnis zwischen Militär und Nation ambivalenter und schwieriger als etwa in Preußen oder in Frankreich. Der föderalistische Auf bau der Bundesstreitkraft, die bescheidenen Kontingentgrößen, die nur unvollständig durchgesetzte allgemeine Wehrpflicht sowie die widerstreitenden Anschauungen über Milizarmee und Volksbewaffnung wirkten sich hemmend auf die Konstruktion der schweizerischen Nation über die nationale Streitkraft aus. Dennoch sei mit den liberalen »Revolutionen« von 1830 und 1847/48 das Verhältnis zwischen Armee und Staat »im Sinne der liberalen Bewegung noch stärker nationalisiert und die eidgenössische Bundesarmee als Repräsentant der politischen Nation begriffen«144 worden. Die Vorstellungen von der schweizerischen Nation sollten auch nach der Bundesstaatsgründung bis ins ausgehende 19. Jahrhundert hauptsächlich auf dem »Demos« beruhen. Während der Debatten um die Revision der Bundesverfassung zu Beginn der 1870er Jahre verstärkte sich diese Tendenz mit dem Einsetzen einer Nationalgeschichtsschreibung, die gegenüber dem trennenden schweizerischen Föderalismus für den gemeineidgenössischen Zusammenhalt plädierte. Wichtige Grundlagen dafür legte der bereits erwähnte Staatsrechtler Carl Hilty.145 Im Jahr 1875 äußerte er sich mit folgenden Worten zur Vorstellung einer sprachlich-ethnischen Nation: »Der Sprache überhaupt eine solche Wichtigkeit beizulegen, ist eine neuere, wesentlich französische, auf politischen Absichten beruhende Idee, die wir stets zurückweisen müssen. Die blosse Sprache macht keine Nationalität, sondern die Geschichte, verbunden mit dem thatkräftigen Bewusstsein und Willen des Zusammenhanges macht sie, wie dies alle kräftigen Nationen zeigen.«146 Indem Hilty die Nation über die gemeinsame Geschichte und den gemeinsamen Willen imaginierte, hatte er einen gangbaren Weg gefunden, die Schweiz trotz ihrer Sprachenvielfalt als »kräftige Nation« zu definieren. Ebenso konnte die Nationalgeschichtsschreibung auf diese Weise zur Legitimationswissenschaft des schweizerischen Bundesstaats avancieren.147 Gleichzeitig nahm Carl Hilty mit seiner Konzeption der schweizerischen Nation die Vorstellungen des bekannten französischen Sprach- und Religionswissenschaftlers Ernest Renan von der Nation als »Willensnation« vorweg. So verblüfft die Ähnlichkeit zwischen Hiltys Äußerungen und der berühmt gewordenen Sorbonner Vorlesung »Qu’est-ce qu’une nation?« im Jahr 1882 von 143 Jaun, Armee und Nation, S. 150. 144 Ders., Armee, Nation, Staat, S. 115. 145 Marchal, Nationalgeschichten, S. 154. 146 Hilty, S. 291 (Hervorhebung im Original). 147 Entsprechend formulierte Hilty, S. 14: »Richtig aufgefasst und in ihrem inneren Wesen verstanden, ist Geschichte des Staats, Staat, Staatsrecht und Staatsweisheit selber.«

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Ernest Renan. Ebenso wie Hilty lehnte Renan die Bedeutung der Sprache für eine Nation ab; auch er setzte dagegen auf den Willen und die Geschichte. So hielt Renan fest: »Beim Menschen gibt es etwas, was der Sprache übergeordnet ist: den Willen. Der Wille der Schweiz, trotz der Vielfalt ihrer Idiome geeint zu sein, ist eine viel wichtigere Tatsache als eine oft unter Zank und Streit erlangte Ähnlichkeit.«148 Und weiter unten führte Renan aus: »Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat.«149 Zurück aber zu Hilty: Seine voluntaristischen Vorstellungen von der Nation bildeten nicht nur eine Legitimationsstrategie für die Existenz der föderalistischen und demokratischen Schweiz, sondern stiegen auch zu einer wichtigen Integrationsideologie auf. Als solche sollte die Nation dazu beitragen, die auseinander strebenden Kräfte im Bundesstaat zu neutralisieren. Ein Beispiel für die Wirksamkeit dieser Ideologie bildete die bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts national ausgerichtete schweizerische Arbeiterbewegung.150 Schließlich aber begann sich die voluntaristische Definition von der schweizerischen Nation zeitgleich mit der Krise des Liberalismus, den veränderten Migrationsverhältnissen, dem Auf kommen einer »neuen Rechten« sowie der Internationalisierung der schweizerischen Arbeiterbewegung am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Richtung ethnisch-kultureller Vorstellungen von der schweizerischen Nation zu wandeln.151

148 Renan, S. 27. 149 Ebd., S. 34. Ob Ernest Renan die Schriften von Carl Hilty kannte, ist der Autorin nicht bekannt. 150 Gruner, S. 991. 151 Vgl. dazu: Jost, sowie das Kapitel »Der Aufstieg der ›neuen Rechten‹ und die Suche nach der ›nationalen Identität‹ seit 1900«.

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IV. Das Schweizer Bürgerrecht und die Schweizer, 1848–1874

Mit der Bundesstaatsgründung von 1848 kam zum bestehenden zweistufigen Bürgerrecht der schweizerischen Kantone und Gemeinden das bundesstaatliche Schweizer Bürgerrecht hinzu. Was die angehörigkeitsrechtlichen Bestimmungen betraf, so kam es jedoch zu keinem Bruch mit der »longue durée« des Gemeinde- und Kantonsbürgerrechts: Das schweizerische Staatsangehörigkeitsrecht blieb föderalistisch organisiert. Der damals geringe Ausländeranteil, der negative Wanderungsgewinn und die armenrechtliche Bedeutung des Gemeindebürgerrechts gaben den Verfassungsvätern von 1848 kaum Anlass, in die Rechtstradition der Kantone und Gemeinden einzugreifen. Hingegen waren die nationale Kohäsion, der unklare rechtliche Status der ausgewanderten Schweizer, die weit verbreitete Heimatlosigkeit, die diplomatischen Beziehungen mit dem Ausland sowie die spezifischen Herrschaftsverhältnisse im jungen Bundesstaat für die staatlichen Maßnahmen im Bereich der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten der Schweizer verantwortlich. Entsprechend zentral war die rechtliche Gleichstellung der männlichen Gliedstaatsangehörigen im ganzen Gebiet der Schweiz, die Inländergleichstellung. Von Bedeutung waren außerdem die vom Bund getroffenen Maßnahmen gegen die Heimatlosigkeit und Nicht-Sesshaftigkeit.

1. Unitarische Staatsbürgerschaft Die rechtliche Gleichstellung der Bürger einzelner Gliedstaaten bildet in Bundesstaaten ein wichtiges Element staatlicher Kohäsion. Darüber hinaus werden durch die Gleichstellung der Gliedstaatsangehörigen regionale Unterschiede vermindert, der nationale Raum gewinnt als rechtlicher Bezugspunkt für den einzelnen Bürger konkrete Bedeutung.1 Insofern steht bei der Gründung von Bundesstaaten nicht gezwungenermaßen die Definition der staatlichen Zugehörigkeit im Zentrum der bundesstaatlichen Politik. Von größerer Bedeutung ist es, den Gliedstaatsangehörigen im ganzen Staatsgebiet die gleichen Rechte 1 Vgl. zur Schweiz: Ruffieux, S. 14.

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und Pflichten zukommen zu lassen und somit eine unitarische Staatsbürgerschaft (im Sinne der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten) zu etablieren. Wie in den USA und später in Deutschland regelte der schweizerische Bundesstaat denn auch sogleich mit der ersten Bundesverfassung die Inländergleichstellung, während die Definition der Staatsangehörigen über die Kantone vermittelt blieb.2 Entsprechend beschäftigte sich die 22-köpfige Tagsatzungskommission zur Revision des Bundesvertrags, die zwischen dem 17. Februar und dem 8. April 1848 tagte, vor allem mit zwei Fragen zum Schweizer Bürgerrecht:3 Welche Rechte sollte der schweizerische Bundesstaat seinen Staatsbürgern gewähren und wer sollte davon ausgeschlossen bleiben? Dreh- und Angelpunkt der Inländergleichstellung bildete im Jahr 1848 das Recht auf freie Niederlassung für christliche Schweizer Männer. Dieses wurde in Artikel 41 der Bundesverfassung verankert. Dort hieß es: »Der Bund gewährleistet allen Schweizern, welche einer der christlichen Konfessionen angehören, das Recht der freien Niederlassung im ganzen Umfange der Eidgenossenschaft …«4 Bereits in der Sitzung der Revisionskommission vom 24. Februar 1848 war ein Antrag von 17 der 20 anwesenden Kommissionsmitglieder angenommen worden, dass die freie Niederlassung den Schweizer Juden nicht gewährt werden sollte.5 »Es würde nun in manchen Kantonen als ein wahres Unglück betrachtet«, hatte der Protokollant das Votum eines Mitglieds festgehalten, wenn Gemeinden »gezwungen werden könnten, den Juden ein Domizil zu gewähren.« Beanstandet hatte der Antragsteller insbesondere, dass »die Israeliten den zürcherischen Bezirk Regensperg … torturirt und durch Wucher ausgesaugt« 2 Vgl. zur Unionsbürgerschaft der USA: Schönberger, Unionsbürger, S. 61: »Vermittelte ursprünglich die Gliedstaatsangehörigkeit eine embryonale Bundesangehörigkeit [gemeint ist die Zeit während der Geltung der US-amerikanischen Konföderationsartikel von 1781–1788], so setzte sich nach dem Ende des Bürgerkriegs die noch heute geltende unitarische Lösung durch, dass die Bundesangehörigkeit bei Wohnsitznahme im jeweiligen Gliedstaat den Erwerb der dortigen Landesangehörigkeit nach sich zieht.« Vgl. zu Deutschland: Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 167, sowie Schönberger, Die Europäische Union, S. 114–117. 3 Zur Kommission unter dem Vorsitz des radikalen Berner Regierungsratspräsidenten und späteren Bundesrats Ulrich Ochsenbein (1811–1890) gehörten weitere hochrangige Mitglieder, genannt seien lediglich der liberale Zürcher Bürgermeister Jonas Furrer (1805–1861), der 1848 zum ersten Bundesratspräsidenten gewählt wurde, sowie der radikale Waadtländer Staatsrat und ebenfalls spätere Bundesrat Henri Druey (1799–1855). Protokoll über die Verhandlungen der am 16. August 1847 durch die hohe eidgenössische Tagsatzung mit der Revision des Bundesvertrags vom 7. August 1815 beauftragten Kommission, 1. Sitzung, 17. Februar 1848, S. 1. Vgl. zur schweizerischen Verfassungsgeschichte: Aubert. 4 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 12. Herbstmonat [September] 1848, Art. 41, Abs. 1. 5 Protokoll über die Verhandlungen der am 16. August 1847 durch die hohe eidgenössische Tagsatzung mit der Revision des Bundesvertrags vom 7. August 1815 beauftragten Kommission, 6. Sitzung, 24. Februar 1848, S. 37. Die Antragsteller wurden im Protokoll der Tagsatzungsrevisionskommission in der Regel nicht namentlich erwähnt.

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hätten.6 Ein Kommissionsmitglied hatte sich zwar für die Niederlassungsfreiheit der Schweizer Juden eingesetzt. Seine Begründung, nämlich dass die Juden »nie auf eine höhere Stufe der Sittlichkeit gelangen könnten, so lange sie stets als Heloten behandelt würden«,7 war aber ebenso von einem judenfeindlichen Vorurteil getragen wie das Votum seines Gegenredners. Während der Beratung der Revisionsvorlage in der Tagsatzung blieben schließlich auch die Abgeordneten aus den Kantonen Aargau, Genf, Neuenburg und Waadt mit ihrer Fürsprache für die rechtliche Gleichstellung der Schweizer Juden erfolglos.8 Außer der Zugehörigkeit zu einer christlichen Konfession stellte der Bund weitere Bedingungen für die Niederlassung von Schweizer Bürgern in einem fremden Kanton auf. Gefordert wurden ein Heimatschein, ein »Zeugnis sittlicher Aufführung« und eine Bescheinigung, dass die betreffende Person nicht strafrechtlich verurteilt war. Zudem musste sich ein Schweizer bei der Niederlassung in einem anderen Kanton »auf Verlangen« darüber ausweisen können, »dass er durch Vermögen, Beruf oder Gewerbe sich und seine Familie zu ernähren im Stande sei«. Eingebürgerte Schweizer mussten zudem während fünf Jahren im Besitz eines Kantonsbürgerrechts sein, um sich frei in einem anderen Kanton niederlassen zu können. Für Schweizer Juden, Frauen, Bedürftige, schlecht Beleumdete und strafrechtlich Verurteilte galt also per Verfassung die Niederlassungsfreiheit nicht, für eingebürgerte Schweizer galt sie erst nach fünf Jahren.9 Gleichzeitig herrschte im jungen Bundesstaat für ausländische Staatsangehörige weitgehend Personenfreizügigkeit. Grundsätzlich lag die Kompetenz, über den Aufenthalt und die Niederlassung von Ausländern zu bestimmen, bis zum Ersten Weltkrieg bei den Kantonen. Diese stellten aber kaum Regelungen im Umgang mit ausländischen Staatsangehörigen auf.10 Zudem schloss der Bund angesichts der schon vor 1848 »stark europäisiert[en] und internationalisiert[en]«11 Schweizer Wirtschaft zahlreiche Niederlassungsverträge mit andern Staaten ab. Danach waren die Staatsangehörigen der Vertragsstaaten den schweizerischen Niedergelassenen in rechtlichen Dingen mit Ausnahme der politischen Rechte und der zivilrechtlichen Angelegenheiten gleichgestellt.12 Auf diese Weise wurden die Kompetenzen der Kantone im Bereich des 6 Alle Zitate: ebd., S. 36. 7 Ebd., S. 37. 8 Abschied der ordentlichen eidgenössischen Tagsatzung des Jahres 1847, IV. Theil, Sitzung vom 22. Mai 1848, S. 75f. und S. 78. Vgl. dazu das Kapitel »Von der ›verpassten‹ zur ›erzwungenen‹ Emanzipation der Schweizer Juden«. 9 Alle Angaben und Zitate: Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 12. Herbstmonat [September] 1848, Art. 41, Abs. 1. 10 Historisches Lexikon der Schweiz, »Ausländer«. 11 J. Tanner, Staat und Wirtschaft, S. 243. 12 Die zivilrechtliche Gleichstellung der Ausländerinnen und Ausländer mit den schweizerischen Staatsangehörigen erfolgte mit dem Zivilgesetzbuch von 1912. Historisches Lexikon der Schweiz, »Ausländer«.

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Aufenthalts und der Niederlassung von Ausländern, wie Uriel Gast bemerkt, zunehmend »ausgehöhlt«.13 Die Rechtsgleichheit der kantonsfremden Schweizer Bürger mit Kantonsbürgern wurde über den Status der Niederlassung vermittelt. So hieß es in Artikel 41 der Bundesverfassung weiter: »Der Niedergelassene geniesst alle Rechte der Bürger des Kantons, in welchem er sich niedergelassen hat, mit Ausnahme des Stimmrechts in Gemeindeangelegenheiten und des Mitantheiles an Gemeinde- und Korporationsgütern. Insbesondere wird ihm freie Gewerbsausübung und das Recht der Erwerbung und Veräusserung von Liegenschaften zugesichert, nach Massgabe der Gesetze und Verordnungen des Kantons, die in allen diesen Beziehungen den Niedergelassenen dem eigenen Bürger gleich halten sollen.«14 Während kantonsfremde Schweizer im Kanton ihrer Niederlassung also grundsätzlich dieselben Rechte wie die Kantonsbürger besaßen und dort beispielsweise unter denselben Bedingungen wie die Kantonsbürger ein Gewerbe betreiben konnten – eine Bestimmung, die sich auch gegen die wirtschaftlich rückwärtsgewandten Zünfte wandte –, wurde ihnen die rechtliche Gleichstellung mit den Gemeindebürgern nicht garantiert: Das Stimmrecht in Gemeindeangelegenheiten und die Partizipation am Bürgergut war den Gemeindebürgern vorbehalten.15 Über die Niederlassung vermittelt waren auch die politischen Rechte. Die Bundesverfassung bestimmte in Artikel 42: »Jeder Kantonsbürger ist Schweizerbürger. Als solcher kann er in eidgenössischen und kantonalen Angelegenheiten die politischen Rechte in jedem Kanton ausüben, in welchem er niedergelassen ist. Er kann aber diese Rechte nur unter den nämlichen Bedingungen ausüben, wie die Bürger des Kantons, und in Beziehung auf die kantonalen Angelegenheiten erst nach einem längeren Aufenthalte, dessen Dauer durch die Kantonalgesetzgebung bestimmt wird, jedoch nicht über zwei Jahre ausgedehnt werden darf. …«16 Der Tagsatzungsvertreter des Kantons Basel-Stadt hatte bei der Beratung des Verfassungsentwurfs die Streichung dieses Artikels verlangt.17 Schon zuvor war in der Sitzung der Revisionskommission vom 4. April 1848 mit Verweis auf das quantitative Verhältnis zwischen Nieder13 Gast, S. 15. 14 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 12. Herbstmonat [September] 1848, Art. 41, Abs. 4. 15 Vgl. dazu: Rüttimann, Über die Geschichte, S. 11f. 16 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 12. Herbstmonat [September] 1848, Art. 42. Daneben verankerte die Bundesverfassung von 1848 auch Rechte, die nicht an die Niederlassung und teilweise auch nicht an den Bürgerstatus gekoppelt waren. Dazu gehörten die Kultusfreiheit für die »anerkannten christlichen Konfessionen im ganzen Umfange der Eidgenossenschaft« (Art. 44 BV), die Pressefreiheit (Art. 45 BV), die Vereinsfreiheit für »Bürger« (Art. 46 BV) oder das Petitionsrecht (Art. 47 BV). 17 Abschied der ordentlichen eidgenössischen Tagsatzung des Jahres 1847, IV. Theil, Sitzung vom 23. Mai 1848, S. 81f. Vgl. dazu: W. Burckhardt, Kommentar, S. 386.

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gelassenen und Bürgern im Kanton Basel-Stadt der Antrag gestellt worden, den schweizerischen Niedergelassenen keine politischen Rechte im Kanton der Niederlassung zu gewähren.18 In Basel herrschte noch bis ins Jahr 1875 das rückwärtsgewandte, so genannte »Ratsherrenregiment«, das die Macht der alten Basler Familien und der Zünfte in den Räten vor der politischen Mitbestimmung der Niedergelassenen schützen wollte.19 Der Antragsteller hatte in der Revisionskommission daher zu bedenken gegeben, dass mit der freien Niederlassung »voraussichtlich die Zahl der Nichtbürger sich noch bedeutend vermehren [dürfte] und dadurch Besorgnisse entstehen, dass die Niedergelassenen bei Wahlen einen Einfluss geltend zu machen im Stande wären, welcher mit den Ansichten und den Interessen der eigentlichen Bürger im Widerspruch stände.«20 Immerhin sechs Kommissionsmitglieder hatten dem Antrag zugestimmt, während zehn Kantonsvertreter dagegen gewesen waren. 21 Ebenso hatte ein ähnlicher Antrag in der Tagsatzung die Unterstützung der Kantone Uri, Schwyz, Obwalden, Basel-Stadt und Appenzell Innerrhoden erhalten. 22 Erfolgreich war hingegen der Tagsatzungsabgeordnete des Kantons Genf mit einem Antrag zur Änderung von Artikel 42, der zunächst gelautet hatte: »Jeder Kantonsbürger ist Schweizerbürger. Als solcher kann er die politischen Rechte in jedem Kanton ausüben, in welchem er niedergelassen ist.«23 Dreizehn Mitglieder der Tagsatzung hatten sich für den Vorschlag des Genfer Kollegen ausgesprochen, dem Passus die Formulierung »in eidgenössischen und kantonalen Angelegenheiten« hinzuzufügen.24 Somit wurden die Niedergelassenen gleich doppelt, nämlich in Artikel 41 und 42 der Bundesverfassung, von den politischen Rechten in Gemeindeangelegenheiten ausgenommen. Außer dem gleichen und allgemeinen Männerwahlrecht auf Kantonsebene, das mit einer maximal zweijährigen Wartefrist belegt war, und dem in Artikel 47 der Bundesverfassung verbrieften Petitionsrecht (das jedoch nicht an den Bürgerstatus oder an die Niederlassung gebunden war) gehörte hauptsächlich das passive Wahlrecht auf Bundesebene sowie das Recht, den Nationalrat zu 18 Protokoll über die Verhandlungen der am 16. August 1847 durch die hohe eidgenössische Tagsatzung mit der Revision des Bundesvertrags vom 7. August 1815 beauftragten Kommission, 28. Sitzung, 4. April 1848, S. 174. Anzunehmen ist, dass es sich bei dem Antragsteller um das Basler Kommissionsmitglied, Joh. Georg Fürstenberger, handelte. Ebd., S. 2. 19 Vgl. dazu das Kapitel »Bürger machen: Das Basler Kantons- und Gemeindebürgerrecht 1833–1914«. 20 Protokoll über die Verhandlungen der am 16. August 1847 durch die hohe eidgenössische Tagsatzung mit der Revision des Bundesvertrags vom 7. August 1815 beauftragten Kommission, 28. Sitzung, 4. April 1848, S. 174. 21 Ebd. 22 Abschied der ordentlichen eidgenössischen Tagsatzung des Jahres 1847, IV. Theil, Sitzung vom 23. Mai 1848, S. 84. 23 Ebd., S. 82. 24 Ebd., S. 84.

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wählen, zu den politischen Rechten der christlichen Schweizer. Damit wurde in der Schweiz von 1848 die repräsentative Demokratie verankert. Obwohl die Einführung des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts in der Schweiz angesichts des damals fast ausschließlich monarchisch regierten Europa außergewöhnlich war, ist seine Bedeutung zu relativieren. Wie dünn die politische Basis im Jahr 1848 tatsächlich war, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass einerseits über die Hälfte der schweizerischen Staatsangehörigen – die Frauen, die Juden und die nicht-sesshaften Bevölkerungsteile – grundsätzlich von der politischen Staatsbürgerschaft ausgeschlossen waren. Andererseits galt aber auch das Wahlrecht für ungefähr 20 % der eigentlich wahlberechtigten Männer im Alter von über zwanzig Jahren nicht.25 Der Grund dafür lag in den kantonalen Bestimmungen über die Wahrnehmung der politischen Rechte und in der Koppelung der politischen Rechte an den rechtlichen Status der Niederlassung, der auch den christlichen Schweizern, beispielsweise beim Fehlen der geforderten Schriften, in einem fremden Kanton verweigert werden konnte. Die Verknüpfung der politischen Rechte mit dem rechtlichen Status der Niederlassung förderte die geografische Mobilität im Sinne des wirtschaftlichen Liberalismus (auch wenn die Handels- und Gewerbefreiheit erst in der revidierten Bundesverfassung von 1874 verankert wurde). 26 Denn ohne die Gewährung der politischen Rechte hätte die Niederlassungsfreiheit an Attraktivität verloren. Die geografische und soziale Mobilität forderte die rechtliche Gleichstellung der Bürger im gesamten Gebiet der Schweiz. Oder mit dem Nationalismusforscher Ernest Gellner ausgedrückt: »Die moderne Gesellschaft ist nicht mobil, weil sie egalitär ist, sie ist egalitär, weil sie mobil ist.«27 Insofern kann argumentiert werden, dass das allgemeine und gleiche Wahlrecht für christliche Schweizer nicht nur den Grundstein für eine politische Staatsbürgernation legte, sondern zusammen mit der Niederlassungsfreiheit, der Abschaffung der Binnenzölle, der Vereinheitlichung von Maßen, Münz und Gewichten sowie dem Ausbau der Verkehrswege schließlich auch dazu beitrug, die wirtschaftliche Prosperität des jungen Bundesstaats zu fördern.28 25 Mooser, Eine neue Ordnung, S. 52. 26 Vgl. dazu: Guggenbühl, S. 44: »Der ›freie Markt der Waren und Ideen‹ wird als Katalysator zivilisatorischen Fortschritts schlechthin betrachtet; das freie Spiel von Angebot und Nachfrage im materiellen wie im ideellen Bereich gilt als Garant für Qualität, Weisheit und Bedürfnisgerechtigkeit. Auch im Bundesstaatsprojekt ist … ›die politische und die materielle Frage eng miteinander verknüpft‹.« 27 Gellner, Nationalismus und Moderne, S. 42. 28 Zimmer, S. 130, warnt bei der Deutung der Bundesstaatsgründung vor einem ökonomischen Funktionalismus. Mit Bezug auf Margrit Müller und Hansjörg Siegenthaler argumentiert er, dass die Bundesstaatsgründung zwar zur wirtschaftlichen Prosperität der Schweiz beigetragen habe, dass die Schweiz aber nicht auf ökonomische Interessen zurückzuführen sei. Vgl. dazu: Mooser, Eine neue Ordnung, S. 54.

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Aufgrund der liberalen Ausrichtung des jungen schweizerischen Bundesstaats erstaunt schließlich nicht, dass das republikanische Prinzip der »Identität von den Regierenden und den Regierten« im Jahr 1848 das Nachsehen hatte. Außer dem obligatorischen Referendum für die Partial- und Totalrevision der Bundesverfassung (Art. 113 und 114) sowie der Möglichkeit, mit 50 000 Unterschriften von stimmberechtigten Bürgern die Totalrevision der Bundesverfassung zu verlangen (Art. 113), wurden keine direktdemokratischen Partizipationsrechte eingeführt. Im Gegensatz dazu setzte sich im Jahr 1848 bei der allgemeinen Wehrpflicht, der zentralen staatsbürgerlichen Pflicht, ein republikanisches Verständnis durch.29 Die schweizerische Bürgergesellschaft sollte eine wehrhafte, soldatische Staatsbürgernation bilden, in der grundsätzlich jeder Bürger auch Soldat war. Diese Konzeption einer schweizerischen Milizarmee als Bundesstreitkraft der Eidgenossenschaft war während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts umstritten gewesen. Ihr hatte die Vorstellung »unverbundener kantonaler Milizverbände«30 entgegengestanden. Nach dem Bundesvertrag von 1815 und der Garantie der bewaffneten Neutralität der Schweiz durch die europäischen Restaurationsregierungen hatte sich das Konzept der national-republikanisch gedachten Milizarmee zwar durchgesetzt. Doch die Schwierigkeiten, die sich durch die föderalistische Organisation der Bundesstreitkraft ergeben hatten, waren zahlreich gewesen.31 Entsprechend war auch die Debatte zwischen der reinen Volksbewaffnung, die sich mit einer »romantisch rückwärtsgewandten, statischen, national-ethnischen Auffassung des Volkes«32 verband, und der national-republikanischen Bundesarmee bestehen geblieben. Die Bundesverfassung von 1848 hielt jedoch am föderalistischen Konzept einer Milizarmee fest. Schon seit den 1840er Jahren hatten zahlreiche ranghohe Offiziere der liberalen Bewegung angehört und immer mehr Einfluss auf die eidgenössische Streitkraft genommen. Schließlich hatte die Bundesarmee 1847 unter liberaler Führung die Auflösung des Sonderbundes der sieben katholischen Stände erzwungen.33 Der »Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung« vom 8. April 1848 bemerkte entsprechend zur allgemeinen Wehrpflicht: »Im Art. 18 finden wir die Bestimmung, dass jeder Schweizerbürger militärpflichtig sei, gleich wie hinwieder der Art. 40 die Vorschrift enthält, dass jeder Kantonsbürger Schweizerbürger sei und als solcher überall, wo er seinen 29 Vgl. dazu: Haller/Kölz, S. 365: Gemeint sind »Pflichten des Bürgers, die sich unmittelbar aus der Verfassung ergeben«, so zum Beispiel die allgemeine Wehrpflicht und die Verpflichtung zum Besuch des Primarschulunterrichts. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Jaun, Armee und Nation, sowie ders., Armee, Nation, Staat. 30 Jaun, Armee und Nation, S. 149. 31 Ders., Armee, Nation, Staat, S. 113. 32 Ebd., S. 117. 33 Ders., Armee und Nation, S. 155.

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Wohnsitz hat, die politischen Rechte ausüben könne. Die schweizerische Einheit liegt also den militärischen Einrichtungen der Eidgenossenschaft ebenso wohl zu Grunde, wie den politischen.«34 Damit ergänzten die liberalen Politiker die über eine Nationalrepräsentation und gleiche staatsbürgerliche Rechte definierte Staatsbürgernation mit der allgemeinen Wehrpflicht. Allerdings wurden die zur Verfügung stehenden Kontingente in der Folgezeit nicht ausgeschöpft; die Zahl der Soldaten errechnete sich aus lediglich 3 % der Wohnbevölkerung für den »Bundesauszug« und 1,5 % für die »Reserve«. 35 Im Zuge der demokratischen Bewegung der 1860er Jahre und der Epoche der europäischen Einigungskriege zwischen 1859 und 1870 sollte das schweizerische Militär effizienter organisiert werden. Damals wurde deutlich, dass die Truppenführung der schweizerischen Streitkraft, der Mannschaftsbestand und die Bewaffnung nicht mehr dem europäischen Standard entsprachen. Milizarmee und Volksbewaffnung sollten deshalb in Form der »nation armée« vereint, das heißt die allgemeine Wehrpflicht vollumfänglich durchgesetzt werden.36 Das darauf begonnene Reformprogramm für die schweizerische Bundesstreitkraft von Bundesrat Emil Welti im Jahr 1868 fand seine theoretische Begründung in der idealistischen Staats- und Geschichtsphilosophie. Danach hatte nur ein Nationalstaat Bestand, der »das gesamte Männerpotenzial militärisch ausbilden würde und seine Souveränität auch durch militärische Macht beweisen könne …«37 In der Bundesverfassung von 1874 konnte Weltis Reformprogramm, die geforderte »Einheit von Nation und Streitkraft«,38 jedoch nur mit Abstrichen realisiert werden.

2. Föderalistische Staatsangehörigkeit »Jeder Kantonsbürger ist Schweizerbürger«,39 hieß es in Artikel 42 der Bundesverfassung von 1848. Während die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten unitarisch definiert waren, hatte sich der junge Bundesstaat für eine föderalis34 Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung, vom 8. April 1848, S. 21. 35 Ebd., S. 21f. Auch das 1850 erlassene Militärorganisationsgesetz änderte die Strukturen des schweizerischen Militärwesens kaum. Vgl. dazu: Jaun, Armee und Nation, S. 155. Dagegen waren die Kantone jetzt »nur noch für die Ausbildung der Infanterie zuständig, während sich der Bund um die Spezialtruppen kümmerte.« Historisches Lexikon der Schweiz, »Militärische Schulen«. 36 Vgl. dazu: Jaun, Armee und Nation, S. 156 und S. 159. 37 Ders., Armee, Nation, Staat, S. 115. 38 Ders., Armee und Nation, S. 159. 39 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 12. Herbstmonat [September] 1848, Art. 42.

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tisch organisierte Staatsangehörigkeit entschieden; das Schweizer Bürgerrecht wurde über die Zugehörigkeit zu einem Kanton definiert. Die gesetzlichen Bestimmungen zur Einbürgerung standen somit fast ganz in der Kompetenz der Kantone. Ihren Gemeinden erkannten sie die Möglichkeit zur Mitbestimmung im Einbürgerungsverfahren zu. Der Bund hielt zum Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts lediglich zwei Rahmenbedingungen fest. Artikel 43 der Bundesverfassung formulierte: »Kein Kanton darf einen Bürger des Bürgerrechtes verlustig erklären. Ausländern darf kein Kanton das Bürgerrecht ertheilen, wenn sie nicht aus dem frühern Staatsverband entlassen werden.«40 Mit dem Passus zur Unverlierbarkeit des Bürgerrechts bezweckte der Bund, neue Fälle von Heimatlosigkeit zu verhindern.41 Aus diesem Grund hatte sich die Revisionskommission für die Streichung der zunächst gewählten Formulierung entschieden, dass kein Kanton einen Bürger »gegen dessen Willen«42 des Bürgerrechts verlustig erklären dürfe. Die Unverlierbarkeit des Bürgerrechts sollte, so war man sich ohne Gegenstimme einig gewesen, generell Geltung besitzen.43 Auch während der Debatte in der Tagsatzung war an diesem Prinzip festgehalten worden. Entsprechend hatte ein Antrag aus Zürich keine Chance gehabt, die Geltung des Unverlierbarkeitsprinzips mit dem Passus einzuschränken, »es wäre denn, dass derselbe [Bürger] im Ausland ein unbestrittenes Heimatrecht besitzen würde«. Die Zürcher Gesandtschaft war der Meinung, dass das schweizerische Bürgerrecht »einer Verjährung unterliegen müsse.« Die Kantone und Gemeinden erhielten nämlich, so die Argumentation, durch die auswandernden Schweizer »eine auswärtige Bevölkerung, die zum Heimatlande in keinem nähern Zusammenhange stünde und auf das Bürgerrecht gelegentlich nur dann Anspruch machen würde, wenn dadurch gewisse Vortheile zu erlangen seien …«44 Nur gerade die Kantone Zürich und St. Gallen hatten dem Antrag zugestimmt.45 Die übrigen Kantone hatten sich hingegen der Argumentation eines Tagsatzungsmitgliedes angeschlossen, »das schweizerische Bürgerrecht müsse so heilig geachtet werden, dass eine Verjährung in Beziehung auf dasselbe durchaus 40 Ebd., Art. 43. 41 Dazu gehörte auch, dass das Schweizer Bürgerrecht für im Ausland lebende Schweizer Doppelbürger nicht verloren gehen konnte. Vgl. dazu: Rigert, S. 43. Vgl. zur Heimatlosigkeit die Ausführungen weiter unten. Vgl. zum Verlust des Bürgerrechts von Frauen das Kapitel: »›Unsichere Staatsbürgerinnen‹: Das Bürgerrecht von Schweizer Frauen«. 42 Protokoll über die Verhandlungen der am 16. August 1847 durch die hohe eidgenössische Tagsatzung mit der Revision des Bundesvertrags vom 7. August 1815 beauftragten Kommission, 26. Sitzung, 30. März 1848, S. 145. 43 Die Streichung des Passus wurde mit 21 Stimmen angenommen. Ebd., S. 147. Vgl. dazu: ebd., 31. Sitzung, 8. April 1848, S. 193. 44 Alle Zitate: Abschied der ordentlichen eidgenössischen Tagsatzung des Jahres 1847, IV. Theil, Sitzung vom 23. Mai 1848, S. 85. 45 Ebd., S. 86.

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nicht zugelassen werden sollte.«46 Für Schweizerinnen, die einen ausländischen Staatsangehörigen heirateten, galt das Prinzip der Unverlierbarkeit des Schweizer Bürgerrechts nicht. Ihr Bürgerrecht ging in einem solchen Fall bis ins Jahr 1952 stillschweigend verloren. Die zweite Bestimmung, dass die doppelte Staatsangehörigkeit für eingebürgerte Schweizerinnen und Schweizer nicht zugelassen sei, war ebenfalls von der Zürcher Gesandtschaft der Tagsatzung beantragt worden.47 Schon die Zürcher Bürgerrechtsgesetze aus den Jahren 1833 und 1842 hatten bestimmt, dass sich der »landesfremde Einkäufer verpflichtet, sich über die Entlassung aus dem bisherigen Staatsverband auszuweisen, wo es der Regierungsrath [Kantonsexekutive] in Berücksichtigung der Verhältnisse zu diesem Staate für nothwendig erachtet.«48 Mit der Adaption dieser zürcherischen Regelung durch die eidgenössische Tagsatzung – eine Mehrheit von 13 Kantonen hatte sich für den Zusatz ausgesprochen – sollte verhindert werden, dass ein Schweizer Bürger gleichzeitig Untertan einer fremden Monarchie war und sich Konflikte mit andern Staaten ergaben.49 Aber auch das »Nationalgefühl« sollte geschont werden. Entsprechend hatte der Zürcher Delegierte argumentiert: »Abgesehen davon, dass ein derartiges Verhältnis für das Nationalgefühl etwas Verletzendes hätte, könnte eine solche Doppelstellung nicht selten zu Kollisionen führen.«50 Das föderalistische, dreistufige Schweizer Bürgerrecht entsprach dem damals geltenden staatsrechtlichen Grundsatz, dass der Bundesstaat einen Ausgleich zwischen dem kantonalen und dem nationalen »Element« zu schaffen habe. So hatte der Abschlussbericht der Revisionskommission der Tagsatzung den Entwurf der neuen Bundesverfassung von 1848 mit folgenden Worten kommentiert: »Ein Föderativsystem, welches die beiden Elemente, welche nun einmal in der Schweiz vorhanden sind, nämlich das nationale oder gemeinsame und das kantonale oder besondere, achtet, welches jedem dieser Elemente gibt, was ihm im Interesse des Ganzen und seiner Theile gehört … – das ist’s, was die jetzige Schweiz bedarf, das ist’s, was die Kommission anstrebte in dem 46 Ebd., S. 85. 47 Ebd., S. 80. Während der zusätzliche Passus in der Sitzung vom 23. Mai ursprünglich als Ergänzung des späteren Artikels 42 »Jeder Kantonsbürger ist Schweizerbürger« angenommen wurde (ebd., S. 84), erscheint er nach der Beratung des Entwurfs vom 26. Juni 1848 als Teil von Artikel 43. Zu welchem Zeitpunkt der Passus in Artikel 43 aufgenommen wurde, geht aus dem Protokoll der Tagsatzung nicht hervor. 48 [Zürcher] Gesetz über die Erwerbung, die Wirkung und den Verlust des Bürgerrechtes, so wie über die Revision der Einzugsbriefe, vom 20. Herbstmonat [September] 1833, § 6, sowie [Zürcher] Gesetz über die Erwerbung, die Wirkung und den Verlust des Bürgerrechtes, so wie über die Revision der Einzugsbriefe, vom 28. Herbstmonat [September] 1842, § 6. 49 Abschied der ordentlichen eidgenössischen Tagsatzung des Jahres 1847, IV. Theil, Sitzung vom 23. Mai 1848, S. 80 und S. 84, sowie: Rieser, S. 66. 50 Abschied der ordentlichen eidgenössischen Tagsatzung des Jahres 1847, IV. Theil, Sitzung vom 23. Mai 1848, S. 80.

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Entwurf einer Bundesverfassung …; das ist der Grundgedanke der ganzen Arbeit, der Schlüssel zu allen Artikeln.«51 Insgesamt kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die damals geltenden staatsrechtlichen Lehren vom Bundesstaat weniger den Ausschlag für die föderalistische Ausprägung der Staatsangehörigkeit gegeben hatten denn pragmatische Überlegungen. Mehrfach betonten nämlich die Bundesbehörden, dass zu rigorose Eingriffe in die kantonalen und kommunalen Kompetenzen in Einbürgerungsfragen nicht angebracht seien oder nur unter zu großen Verlusten zu verwirklichen wären. So kam die Beibehaltung des Status quo dem Bund vor allem in finanzieller Hinsicht entgegen. Mit der Aufrechterhaltung der herkömmlichen Kompetenzen der Kantone und Gemeinden konnte die Armenunterstützung weiterhin den Heimatgemeinden überlassen werden. Die Loslösung des Schweizer Bürgerrechts vom Gemeindebürgerrecht hätte dagegen die Loslösung von der kommunalen Armenunterstützung bedeutet und den Bund möglicherweise in finanzielle Engpässe geführt (eine bundesstaatliche Einkommenssteuer wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt).52 Gleichzeitig stellten die Einbürgerungen und Einbürgerungsgebühren für die Gemeinden und teilweise auch für die Kantone eine lukrative Einnahmequelle dar.53 Hinzu kam, dass die Gesetzgebungskompetenz in Fragen des Erwerbs des Schweizer Bürgerrechts von Ausländerinnen und Ausländern für den Bund im Jahr 1848 kaum von Bedeutung war. Noch war die Schweiz ein Auswanderungsland. Während zwischen 1837 und 1850 rund 16 000 Menschen in die Schweiz einwanderten, emigrierten in derselben Zeitspanne 35 000 Personen.54 Ebenso überstieg die Zahl der im Ausland lebenden Schweizerinnen und Schweizer die Zahl der eingewanderten Menschen. So lebten im Jahr 1850 ungefähr 103 000 Schweizer im Ausland, was 4,3 % der in der Schweiz angesiedelten Bevölkerung entsprach.55 Gleichzeitig waren rund 70 000 Personen oder 3 % der damals knapp 2,4 Millionen umfassenden Bevölkerung Ausländerinnen und Ausländer.56 Diese wurden von den bundesstaatlichen Behörden weder zahlenmäßig noch kulturell, weder finanziell noch rechtlich als Problem wahrgenommen. Ohne Bedenken konnten die Verfassungsväter daher den mehrfach betonten Grundsatz des föderativen Ausgleichs zwischen Bund und Kantonen hochhalten und die Einbürgerung in der Kompetenz der Kantone und Gemeinden belassen. Dass aber dieser föderative Ausgleich de facto nicht Ausdruck einer in 51 Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung, vom 8. April 1848, S. 45. 52 Bis zum Ersten Weltkrieg waren die Außenzölle die bedeutendste Einnahmequelle des Bundes. Ruffieux, S. 15. 53 Vgl. dazu: Argast, Die Bürgerrechtsgesetze. 54 Gruner, S. 89. 55 Ritzmann–Blickenstorfer, S. 376. 56 Ebd., S. 95 und 137.

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die Praxis umgesetzten staatsrechtlichen Lehre vom schweizerischen Bundesstaat, sondern Ergebnis politischer Aushandlungs- und Koordinationsprozesse, insbesondere eines finanziellen Lastenausgleichs zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden war, soll im Folgenden verdeutlicht werden.

3. Bundesstaatsrecht und Schweizer Bürgerrecht Die Revisionskommission der Tagsatzung hatte im Jahr 1848 den föderalistischen Ausgleich als Schlüssel zu allen Artikeln ihres Entwurfs einer neuen Bundesverfassung bezeichnet. Diese Aussage wirft die grundsätzliche Frage nach der Bedeutung der jeweils geltenden staatsrechtlichen Lehre vom Bundesstaat für die Ausgestaltung des Schweizer Bürgerrechts auf: Gibt es einen systematischen Zusammenhang zwischen den staatsrechtlichen Deutungstraditionen des Bundesstaats und der Ausprägung des schweizerischen Staatsangehörigkeitsrechts? Zur Beantwortung dieser Frage werden zunächst die im deutschsprachigen Raum geltenden staatsrechtlichen Lehren vom Bundesstaat im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert und die damit normativ in Zusammenhang gebrachten föderalistischen oder unitarischen Ausprägungen der Staatsangehörigkeit referiert. Im Verlauf der Studie soll dann anhand historischer Beispiele die Annahme erhärtet werden, dass die föderalistische Ausprägung des schweizerischen Staatsangehörigkeitsrechts nicht systematisch vom geltenden Bundesstaatsrecht abgeleitet werden kann, sondern vielmehr durch realpolitische Koordinationsprozesse bestimmt wurde. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts herrschte im juristischen Expertendiskurs zum Bundesstaatsrecht in Deutschland und in der Schweiz die Lehre von der »geteilten Souveränität« vor.57 Nach dieser Lehre kommt »dem Bund Souveränität für die Angelegenheiten der Bundeskompetenz zu und in gleicher Weise den Gliedstaaten für die ihnen verbliebenen Aufgaben.«58 Die Lehre von der »geteilten Souveränität« geht auf den französischen Theoretiker Alexis de Tocqueville (1805–1859) und den deutschen Historiker Georg Waitz (1813– 1886) zurück. Sie beruht auf der Überzeugung, dass sowohl Bundesgewalt als auch die Gewalt des Gliedstaats in ihrem jeweiligen Bereich als »höchste« Gewalten erscheinen; keine der beiden Gewalten darf sich in die Angelegenheiten der andern einmischen.59 57 Vgl. zu Deutschland: Waitz, sowie zur Schweiz: Rüttimann, Das nordamerikanische Bundesstaatsrecht. 58 Haller/Kölz, S. 141. Vgl. die fast gleich lautende Formulierung bei Fleiner, S. 53. 59 Haller/Kölz, S. 141.

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Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geriet die Lehre von der »geteilten Souveränität« durch die so genannte »klassische Staatslehre« in Kritik. Nach der Gründung des Deutschen Kaiserreiches im Jahr 1871 war es »ein Bedürfnis der überwiegend nationalliberal-unitarisch gesinnten Staatsrechtslehre, das neue Reich als starken Bundesstaat zu interpretieren.«60 Zu diesem Zweck, so Christoph Schönberger, unterschieden die deutschen Staatsrechtler idealtypisch zwischen Staatenbund und Bundesstaat: Während dem Staatenbund eine rein völkerrechtliche Beziehung zwischen seinen souveränen Mitgliedstaaten zugrunde liege und dieser auf einem völkerrechtlichen Vertrag auf baue, leite der Bundesstaat seine Kompetenzen nicht von den Mitgliedstaaten, sondern aus seiner eigenen Verfassung her.61 Damit verband sich die Vorstellung, dass »die Souveränität als höchste Gewalt (›summa potestas‹) nicht teilbar«62 sei. Die klassische Staatslehre wurde maßgeblich vom deutschen Staatsrechtler Georg Jellinek (1851–1911) geprägt. In seiner Schrift »Die Lehre von den Staatenverbindungen« aus dem Jahr 1882 definierte Jellinek »Souveränität« als die »Eigenschaft eines Staates, kraft welcher er nur durch eigenen Willen rechtlich gebunden werden kann«, und folgerte daraus auf die »Untheilbarkeit der Souveränetät«:63 Diese liege in Bundesstaaten allein beim Bund. Doch die klassische Staatslehre entsprach zur Zeit des Kaiserreichs nicht der Rechtswirklichkeit des deutschen Bundesstaats, was auch durch das föderative Staatsangehörigkeitsrecht unterstrichen wird. Vielmehr sei, so Schönberger weiter, die damalige deutsche Bundesstaatslehre unitarisches Programm, der Einheitsstaat ihr »Interpretationsschema« 64 gewesen. Die Dichotomie zwischen Staatenbund und Bundesstaat in der klassischen Staatslehre fand ihren Niederschlag auch in der juristischen Expertenliteratur der Schweiz, zunächst vor allem hinsichtlich des damit verbundenen politischen Programms eines starken Bundesstaats. So erkannte Carl Hilty im Jahr 1875 die Zukunft »einer schweizerischen Nationalität in der Form eines richtig construirten, eng geschlossenen eidgenössischen Bundesstaats.« 65 Hilty stand auch der Vorstellung eines Einheitsstaats nicht ablehnend gegenüber. Er hielt fest: »Ich stünde meinerseits nicht an, selbst die volle Einigung der Schweiz zu einem wirklichen Einheitsstaat zu acceptiren, sofern sie jemals freiwillig, ohne Druck von Aussen, oder zufälliger Umstände, von Innen heraus herbeige-

60 Schönberger, Die Europäische Union, S. 89. Auch der Schweizer Staatsrechtler Hilty, S. 290– 292, unternahm diesen Versuch, nachdem die unitarisch ausgerichtete Revision der schweizerischen Bundesverfassung im Jahr 1872 gescheitert war. 61 Schönberger, Die Europäische Union, S. 88. 62 Haller/Kölz, S. 142. 63 Beide Zitate: Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, S. 34f. 64 Schönberger, Die Europäische Union, S. 94. 65 Hilty, S. 140. Vgl. dazu: Marchal, Nationalgeschichten.

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führt wird, als das Resultat factischer Einheit des Volkes.«66 Doch der Versuch, die Bundesverfassung in Richtung eines unitarisch geprägten Bundesstaats zu revidieren, war im Jahr 1872 gescheitert. Wohl deshalb lag nach Hiltys Meinung »die richtige Mitte … immerhin noch in der successiven Ausbildung des ›Bundesstaates‹«, der, und damit nahm Hilty die heutigen Debatten zur europäischen Integration vorweg, »überhaupt die staatsrechtliche Zukunft Europa’s zu bedeuten scheint.«67 Trotz der frühen Rezeption der klassischen Staatslehre in der Schweiz setzte sich hier die Vorstellung von der unteilbaren Souveränität in Bundesstaaten erst mit der ersten systematischen Darstellung des schweizerischen Bundesstaatsrechts aus dem Jahr 1923 von Fritz Fleiner (1867–1937) durch.68 Wie schon Georg Jellinek bezeichnete Fleiner diejenige Staatsgewalt als souverän, die nur von ihrem eigenen Willen geleitet werde.69 Der Bund besitze also die »Kompetenz-Kompetenz«.70 Gleichzeitig besäßen die Gliedstaaten eine »Staatsgewalt ›kraft eigenen Rechtes‹«. Dadurch würden sie sich von reinen Selbstverwaltungskörpern unterscheiden.71 Mit ihrem Bestreben, die Souveränität im Staatenbund bei den Gliedstaaten und im Bundesstaat beim Bund zu lokalisieren, musste die klassische Staatslehre angesichts der zahlreichen »föderative[n] Doppelungen«,72 die gerade auch im Staatsangehörigkeitsrecht und besonders im Schweizer Bürgerrecht bestehen, Programm bleiben. So ließ sich der normativ hergestellte Zusammenhang zwischen der Lehre von der geteilten Souveränität mit einem föderalistischen Staatsangehörigkeitsrecht sowie der Lehre von der »summa potestas« oder der Kompetenz-Kompetenz des Bundes mit einem unitarischen Staatsangehörigkeitsrecht bis heute weder in der Schweiz noch in Deutschland ohne föderalistisch-unitarische Mischungsverhältnisse in die Rechtswirklichkeit übersetzen. Entsprechend schwerfällig fielen denn auch zeitgenössische Versuche aus, das Schweizer Bürgerrecht im Sinne des klassischen Bundesstaatsrechts als unitarisches Staatsangehörigkeitsrecht zu interpretieren. Beispielsweise widersprach der Staatsrechtler und Solothurner Regierungsrat Albert Affolter im Jahr 1892 66 Hilty, S. 292. 67 Beide Zitate: ebd. Sieben Jahre später sollte Renan, S. 36, eine ähnliche Prognose wagen, als er sagte: »Die Nationen sind nichts ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden einmal enden. Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen.« 68 Fleiner. Vgl. dazu: Haller/Kölz, S. 142. 69 Fleiner, S. 52. 70 Ebd. Vgl. dazu auch: Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 769f. 71 Haller/Kölz, S. 142. Im Jahr 1949 etablierte Giacometti, S. 38 und S. 44, dagegen in der überarbeiteten Fassung von Fleiners »Schweizerische[m] Bundesstaatsrecht« die Lehre, wonach der Bund zwar die »Kompetenzkompetenz« besitze, die Kantone aber trotz ihrer in der Bundesverfassung verbrieften Souveränität nur »Selbstverwaltungskörper der Eidgenossenschaft« darstellten. 72 Schönberger, Die Europäische Union, S. 111. Vgl. dazu: ebd., S. 115.

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der Ansicht, dass in Bundesstaaten »die Angehörigkeit zum Gliedstaate das Primäre und Unmittelbare«73 sei. Er argumentierte im Sinne Georg Jellineks: »Die bundesstaatliche Rechtsordnung hat … zu bestimmen, wie das bundesstaatliche Bürgerrecht erworben wird, und kann dies (so in Deutschland und der Schweiz) auch so bestimmen, dass dasselbe erworben werde durch Erwerb des gliedstaatlichen Bürgerrechts. Aber auch dann wird man Bürger des Gesamtstaats nicht, weil man Bürger des Gliedstaates geworden ist, sondern weil die bundesstaatliche Rechtsordnung das bundesstaatliche Bürgerrecht knüpft an die Thatsache des Erwerbes eines gliedstaatlichen Bürgerrechts.«74 Neuere, funktionale Konzeptionen des Bundesstaats übten Kritik an der klassischen Staatslehre, insbesondere an der normativen Dichotomie zwischen Staatenbund und Bundesstaat und dem Fokus auf die Frage nach der Souveränität.75 Im Gegensatz dazu müsse, so Christoph Schönberger, die Souveränitätsfrage in föderalen Ordnungen »immer offen«76 bleiben. Föderale Ordnungen seien keine Ordnungen der Hierarchie, sondern solche der Koordination.77 Auch bei der Untersuchung des Schweizer Bürgerrechts zeigt sich dieser Sachverhalt: Die hier immer wieder notwendige Koordination zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden unterwandert zwangsläufig jeden systematischen Versuch, die Ausprägung und Entwicklung des Schweizer Bürgerrechts auf die staatsrechtlichen Lehren der Souveränität im Bundesstaat zurückbinden zu wollen.

4. Das »Heimatlosengesetz« von 1850 Die Beseitigung der Heimatlosigkeit in der Schweiz bildete eines der dringlichsten Ziele des jungen Bundesstaats. Während Jahrhunderten hatten vor allem Gemeinden ihren Bürgerinnen und Bürgern das Bürgerrecht aberkannt, wenn diese beispielsweise ihre Konfession gewechselt hatten, eine gemischtkonfessionelle Ehe eingegangen waren, einen so genannt »liederlichen« oder »verschwenderischen« Lebenswandel geführt hatten, während längerer Zeit ab-

73 Affolter, Grundzüge, S. 14f., Anmerkung 12. 74 Ebd. 75 Haller/Kölz (mit Verweis auf Max Imboden, Professor für öffentliches Recht an der Universität Basel in den Jahren 1953–1969), S. 144f. Vgl. dazu (mit Bezug auf die 1928 veröffentlichte Verfassungslehre des Bonner Professors für öffentliches Recht Carl Schmitt): Schönberger, Die Europäische Union, S. 99. 76 Schönberger, Die Europäische Union, S. 105. 77 Ebd., S. 98. Vgl. zum Begriff des »Kooperativen Föderalismus«: Haller/Kölz, S. 168.

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wesend waren oder in fremden Heeren dienten.78 Ohne das Bürgerrecht einer Gemeinde besaßen die ehemaligen Bürger und ihre Nachfahren aber kaum Rechte, insbesondere entbehrten sie im Fall von Armut der Unterstützung der Gemeinde. So war der rechtliche Status der Heimatlosigkeit zumeist mit prekären ökonomischen Verhältnissen oder offensichtlicher Armut der betroffenen Personen verbunden. Manche von ihnen wurden auf diese Weise zu einer nicht-sesshaften Lebens- und Wirtschaftsweise gezwungen.79 Vor der Bundesstaatsgründung hatten die Bestrebungen der Tagsatzung, die Ursachen der Heimatlosigkeit und die daraus resultierende Armutswanderung in der Schweiz zu bekämpfen, zum ersten Mal im Jahr 1812 zu einem so genannten »Heimatlosenkonkordat« geführt. Die Kantone, die das Konkordat unterzeichneten, bezweckten damit hauptsächlich, den angehörigkeitsrechtlichen Status der heimatlosen Bevölkerung mittels Aufnahme in das Kantonsbürgerrecht zu verbessern. Allerdings ließen die Konkordatskantone offen, ob und welche bürgerlichen Rechte sich mit einer solchen Aufnahme verbinden sollten.80 Darüber hinaus waren weder das Konkordat von 1812 noch die darauf folgenden Konkordate in den Jahren 1819, 1828 und 1844/47 konsequent durchzusetzen. Einerseits wehrten sich einzelne Kantone mehrfach gegen eine gesamteidgenössische Gangart. Andererseits kam es infolge des Konkordats von 1819 gar in kontraproduktiver Weise zu »einer Welle von Vertreibungen und Abschiebungen«81 heimatloser Personen, weil verschiedene Kantone die Heimatlosen, die sich in ihrem Gebiet auf hielten, nicht einbürgern wollten. Schließlich verblieb das Thema der Heimatlosigkeit bis zur Bundesstaatsgründung auf der Traktandenliste der Tagsatzung. Entsprechend konstatierte der Bundesrat im Jahr 1850, dass die bisherigen Konkordate »zwar gutgemeint, aber ungenügend und dürftig in ihrer Anlage« gewesen seien. Zudem hätten sie »selten eine geneigte Vollziehung« gefunden.82 Der schweizerische Bundesstaat von 1848 musste definitiv klären, wer zum schweizerischen Staatsvolk gehörte, um sich gegenüber den größtenteils monarchischen Mächten Europas als eigenständiger Staat zu legitimieren. Die heimatlosen Nachfahren ehemaliger Schweizerinnen und Schweizer, die kaum Rechte besaßen und nicht selten gezwungen waren, eine nicht-sesshafte Lebens- und Wirtschaftsweise zu führen, gehörten nicht in das Bild eines funktionstüchtigen, bürgerlich-liberalen Nationalstaats. Die »grosse Nationalsün-

78 Vgl. dazu: Meier/Wolfensberger, S. 33–96 und S. 435–437. 79 Vgl. dazu: ebd., S. 68–82. 80 Vgl. zum »Heimatlosenkonkordat« von 1812: ebd., S. 442f., folgende Angaben: ebd., S. 445–462. 81 Ebd., S. 448. 82 Beide Zitate: Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung über das Gesetz, betreffend die Heimathlosigkeit, vom 30. September 1850, S. 123.

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de«,83 wie der St. Galler Landammann Gallus Jakob Baumgartner die Heimatlosigkeit im Jahr 1836 bezeichnet hatte, sollte daher durch die Einbürgerung der Heimatlosen beseitigt werden. Allerdings war mit der bürgerrechtlichen Integration der Heimatlosen auch die Forderung nach ihrer kulturellen Assimilation an die hegemoniale Lebensweise der bürgerlichen Gesellschaft verbunden. So war nach Ansicht des Bundesrats »die möglichste Gleichstellung mit den Rechten der übrigen Bürger, die Annäherung der Heimathlosen an die übrigen Interessen der Gesellschaft, die Theilnahme an den vorhandenen Anstalten für Kultur … der einzig mögliche Weg, die Heimathlosen oder wenigstens ihre Kinder der Zivilisation allmälig wieder zuzuführen.«84 Um den doppelten Zweck der bürgerrechtlichen Integration und kulturellen Assimilation zu erreichen, hielt die Bundesverfassung von 1848 fest, dass die »Ausmittlung von Bürgerrechten für Heimathlose und die Massregeln zur Verhinderung der Entstehung neuer Heimathloser … Gegenstand der Bundesgesetzgebung«85 seien. Zwei Jahre später, im Jahr 1850, erließ der schweizerische Gesetzgeber das »Bundesgesetz, die Heimathlosigkeit betreffend«.86 Das so genannte »Heimatlosengesetz« ermächtigte den Bund dazu, das Bürgerrecht derjenigen Menschen zu ermitteln, die zur umfangreichen Bevölkerungsgruppe der Heimatlosen gehörten, und diese einem Kanton zur Einbürgerung zuzuteilen. Entsprechend bestimmte Artikel 3 des Gesetzes: »Für die Heimathlosen … soll durch die Bundesbehörden ein Kantonsbürgerrecht und durch die betreffenden Kantone ein Gemeindsbürgerrecht ausgemittelt werden.«87 Als heimatlos galten nach dem Wortlaut des Gesetzes die von einem Kanton anerkannten »Geduldete[n] oder Angehörige[n]«, die weder in einem anderen Staat noch in einem schweizerischen Kanton oder einer Gemeinde ein Bürgerrecht besaßen, sowie die so genannten »Vaganten«, Personen, die vorübergehend oder dauernd eine nicht-sesshafte Lebens- und Wirtschaftsweise führten.88 Dabei schätzte der Bundesrat die Zahl der Heimatlosen auf 11 600 Personen.89 Weiter sah das Gesetz Maßnahmen vor, um neue Fälle von Heimatlosigkeit zu verhindern.90 Beispielsweise sollten auch die »Landsassen, ewigen Einsassen oder andere Personen, welche gegenwärtig ein Kantonsbür83 Zitiert nach: Meier/Wolfensberger, S. 9. 84 Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung über das Gesetz, betreffend die Heimathlosigkeit, vom 30. September 1850, S. 125. 85 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 12. Herbstmonat [September] 1848, Art. 56. 86 Bundesgesetz, die Heimathlosigkeit betreffend, vom 3. Dezember 1850. 87 Ebd., Art. 3. 88 Beide Zitate: ebd., Art. 1 und 2. 89 Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung über das Gesetz, betreffend die Heimathlosigkeit, vom 30. September 1850, S. 129. 90 Bundesgesetz, die Heimathlosigkeit betreffend, vom 3. Dezember 1850, Art. 15–23.

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gerrecht, nicht aber ein Gemeinde- oder Ortsbürgerrecht haben«,91 ein Gemeindebürgerrecht erhalten. Mit dem Heimatlosengesetz war eine bundesstaatliche Strategie gegen das weitere »Umsichgreifen dieses krankhaften Zustandes«92 gefunden worden, wie der Bundesrat die Heimatlosigkeit nannte. Einerseits besaß das Gesetz eine integrative Wirkung, indem es den zwangseingebürgerten Männern grundsätzlich die staatsbürgerlichen Rechte wie die Niederlassungsfreiheit und die politischen Mitspracherechte gewährte. Unterstrichen wird dieser Sachverhalt dadurch, dass sich einzelne Bevölkerungsgruppen aktiv um die Umsetzung des Heimatlosengesetzes bemühten oder sich in späteren Jahren darauf beriefen, so etwa die Berner Landsassen im Jahr 1857 und die Aargauer Juden 1863.93 Andererseits führte die von oben verordnete Integration nicht zur rechtlichen Gleichstellung der heimatlosen Personen. Das Gleichheitspostulat trat in manchen Fragen hinter das wirtschaftliche und politische Kalkül von Bund, Kantonen und Gemeinden zurück, die wiederum um den Ausgleich der anfallenden Lasten bemüht waren. Insbesondere unterwanderten im föderalistischen Bundesstaat die Kantone und Gemeinden die gewährten Integrationschancen. So mussten die Gemeinden »Geduldete oder Angehörige« sowie »Vaganten« von Gesetzes wegen nicht in ihr volles Bürgerrecht aufnehmen.94 Das bedeutete für die Betroffenen, dass sie trotz ihres neu gewonnenen Bürgerstatus nicht am Bürgernutzen der Gemeinde teilhaben konnten.95 Zwar war der Bundesrat grundsätzlich der Meinung, man dürfe »mit Recht den Gemeinden auch etwas zumuthen; denn es lässt sich da, wo seit alter Zeit eine grosse Anzahl Heimathloser oder Tolerirter wohnte, mit Grund annehmen, dass die Gemeinden ursprünglich auch einen wesentlichen Antheil an der Verschuldung [der Heimatlosigkeit] hatten.«96 Doch der Bundesrat war sich bewusst, dass er Kompromisse einzugehen hatte, um für das Gesetz die Unterstützung der beiden parlamentarischen Räte zu erhalten. Die Rücksichtnahme auf die Gemeinden begründete der Bundesrat denn auch mit dem Widerstand, der »überall äusserst heftig sein«97 dürfte, wenn die Gemeinden dazu gezwungen würden, den Bürgernutzen mit den zwangsweise eingebürgerten Personen zu teilen. In diesem 91 Ebd., Art. 17. Vgl. dazu: Meier/Wolfensberger, S. 440. 92 Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung über das Gesetz, betreffend die Heimathlosigkeit, vom 30. September 1850, S. 124. 93 Vgl. zu den Berner Landsassen: Meier/Wolfensberger, S. 489, sowie zu den Aargauer Juden: Mattioli, Der »Mannli-Sturm«, S. 160. 94 Beide Zitate: Bundesgesetz, die Heimathlosigkeit betreffend, vom 3. Dezember 1850, Art. 2. 95 Vgl. dazu: ebd., Art. 4. 96 Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung über das Gesetz, betreffend die Heimathlosigkeit, vom 30. September 1850, S. 132. 97 Ebd., S. 129.

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Sinn erläuterte der Bundesrat in seinem Bericht zum Heimatlosengesetz: »Die Vermehrung der Bürger hat natürlich [d]ie Beschränkung der Nuzungen zur Folge, zumal wenn nicht ein Äcquivalent als Einkauf in die Gemeindekasse gelegt wird. Die Gemeinden werden nicht ermangeln, eine erzwungene Vermehrung der Bürger als Eingriff ins Eigenthum darzustellen und doch ist den Kantonen kaum zuzumuthen, für sämmtliche Heimathlose die volle Einkaufssumme in die Gemeindegüter aus der Staatskasse zu bezahlen.« 98 Darüber hinaus waren die Kantone nicht gezwungen, Frauen über fünfzig Jahre und Männer über sechzig Jahre sowie Personen, »die eine kriminelle oder entehrende Strafe erlitten haben bis zur eingetretenen Rehabilitation«,99 den Gemeinden zur Einbürgerung zuzuweisen. Der Bericht des Bundesrats zum Heimatlosengesetz nannte als Grund für diese Bestimmung, dass die mit der Einbürgerung solcher Personen »verbundenen Kosten in keinem Verhältnisse stehen zu der Nothwendigkeit der Einbürgerung. Denn ältere, unverheirathete Personen werden allmälig ohne Descendenz aussterben und für Kriminalisierte noch besondere Einbürgerungskosten zu bezahlen, kann man einem Kanton nicht wohl zumuthen.«100 Von der Möglichkeit, älteren und strafrechtlich verurteilten Menschen das Bürgerrecht zu verwehren, machten denn auch die meisten Kantone Gebrauch.101 Die genannten Personengruppen verblieben damit im rechtlichen Status von Hintersassen. Von den Chancen der Zwangseinbürgerung blieben sie ausgeschlossen. Immerhin waren aber die Kantone dazu verpflichtet, diese Menschen auf ihrem Gebiet zu dulden und sie im Fall von Armut zu unterstützen.102 Hinzu kam der Sachverhalt, dass das Heimatlosengesetz besonders für die nicht-sesshafte Bevölkerung ein Janusgesicht besaß. Das ausgewiesene Ziel des Gesetzgebers war es, die nicht-sesshafte Lebens- und Wirtschaftsweise zu zerstören.103 Konsequenter als zuvor setzte man zu diesem Zweck auf die kulturelle Assimilation der nicht-sesshaften Bevölkerung an die Lebensweise der sesshaften, bürgerlichen Gesellschaft. Zwar galt nun die »gänzliche Entfernung solcher Heimathlosen nämlich aus dem Schweizergebiete durch Übersiedlung in ein fremdes überseeisches Land«104 – so ein früherer Vorschlag des Kantons Luzern in einem Kreisschreiben vom 28. Dezember 1842 – nicht mehr als op98 Ebd. 99 Bundesgesetz, die Heimathlosigkeit betreffend, vom 3. Dezember 1850, Art. 3. 100 Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung über das Gesetz, betreffend die Heimathlosigkeit, vom 30. September 1850, S. 127f. Das Aargauer Gesetz über die Einbürgerung der Landsassen, Heimathlosen und ewigen Einsassen, vom 1. September 1847, hatte dafür Modell gestanden. Vgl. dazu: Meier/Wolfensberger, S. 464f. 101 Meier/Wolfensberger, S. 497. 102 Bundesgesetz, die Heimathlosigkeit betreffend, vom 3. Dezember 1850, Art. 3. 103 Meier/Wolfensberger, S. 499. 104 Zitiert nach: ebd., S. 455.

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portun. Gleichwohl konnte sich der Bund bei der Durchsetzung des Heimatlosengesetzes auf eine aus dem Ancien Régime tradierte, kollektive Wahrnehmung stützen. Während Jahrhunderten hatten die obrigkeitlichen Diskurse die nicht-sesshaften Bevölkerungsmitglieder als »Bettler«, »Gauner«, »Zigeuner«, »Vaganten« oder »Krebsschaden« stigmatisiert.105 Doch die neue Mischung aus hergebrachten Stereotypen und bürgerlich-hegemonialen Integrationsdiskursen (so etwa dem philanthropisch-pädagogischen Diskurs) besaß ihre eigene Wirkungsmacht: Die bundesstaatlichen Integrationsmaßnahmen enthielten zahlreiche ausschließende Momente, die vor allem aus der geforderten Assimilationsleistung für nicht-sesshafte Menschen resultierte. Artikel 18 des Gesetzes stellte beispielsweise die nicht-sesshafte Lebensweise bei Androhung von »Verhaft oder Zwangsarbeit« unter Strafe und Artikel 16 verordnete, die Kinder der ehemals Heimatlosen zu »regelmässigem Schul- und Religionsunterricht anzuhalten«, was die Subsistenz der nicht-sesshaften Familien ungemein erschwerte.106 Zudem hielt Artikel 15 fest: »Die bisherigen Heimathlosen, welche in einem Konkubinatsverhältnisse stehen, haben sich entweder zu trennen oder gesezlich zu ehelichen, so fern lezteres nach den allgemeinen Gesezen des Kantons, in welchem sie eingebürgert wurden, zulässig ist.«107 Weiter sahen sich die nicht-sesshaften Personen auch im Zuge der Umsetzung des Heimatlosengesetzes diskriminierenden Maßnahmen ausgesetzt: Zur Ermittlung des Einbürgerungskantons wurden 800 bis 900 nicht-sesshafte Menschen während Monaten in Bern und teilweise in Zürich und Aarau interniert und zum Bürgerrecht ihrer Vorfahren, zu ihrem eigenen Aufenthalt in den vergangenen Jahren, ihrer Lebensweise und ihren sozialen Netzen befragt.108 Gleichzeitig wurden die Gefangenen medizinischen Untersuchungen und Entlausungskuren unterworfen und vom Berner Fotografen Carl Durheim in inszenierter Pose und Kleidung systematisch abgelichtet.109 Schließlich war auch für die in ein Kantons- und Gemeindebürgerrecht aufgenommenen nicht-sesshaften Menschen die Wahrnehmung der neu gewonnenen Rechte im Alltag oft nicht möglich. Wenn die neue Situation einzelnen auch Chan105 Vgl. dazu: Zschokke, Betrachtung eines alten Krebsschadens, S. 64–90. 106 Beide Zitate: Bundesgesetz, die Heimathlosigkeit betreffend, vom 3. Dezember 1850, Art. 15. 107 Ebd. Erst im Jahr 1874 stellte die Bundesverfassung die Ehe unter den Schutz des Bundes. Bis dahin verweigerten einzelne Kantone aus armenrechtlichen, aber auch aus moralischen oder konfessionellen Bedenken die Erteilung von Heiratsbewilligungen, so etwa der Kanton Schwyz. Das Ziel dieser restriktiven Bewilligungspraxis lag darin, das Reproduktionsverhalten der ärmeren Bevölkerungsschichten zu beeinflussen. Vgl. dazu: Meier/Wolfensberger, S. 55–58, sowie Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 29. Mai 1874, Art. 54. 108 Vgl. dazu: Meier/Wolfensberger, S. 475–481. 109 Vgl. dazu: ebd., S. 193f. und S. 477. Die Polizeifotografien wurden litografiert und den Kantonen als Fahndungsinstrument zur Verfügung gestellt. Vgl. dazu: Gasser u.a. sowie Meier/ Wolfensberger, S. 477–480.

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cen eröffnen mochte, so befanden sich doch viele der ehemals heimatlosen und besonders der nicht-sesshaften Menschen weiterhin in einer gesellschaftlich und finanziell schwierigen Lage.110 Eine Beschreibung der Lebensweise der im Schwyzer Bezirk Einsiedeln im Jahr 1851 eingebürgerten Heimatlosen macht den Umgang der dortigen Behörden mit den so genannten »Neubürgern« und ihre rechtliche Ungleichstellung in erdrückender Weise deutlich.111 Abschließend können die rechtlichen und kulturellen Homogenisierungsmaßnahmen im Zuge des Heimatlosengesetzes von 1850 als Versuche gedeutet werden, die heimatlose Bevölkerung in die liberale Gesellschafts- und Wirtschaftsform zu integrieren und die bundesstaatliche Herrschaft zu stabilisieren. Zwar gestalteten sich die Verhandlungen des Bundes mit den Kantonen über die Zuteilung der Heimatlosen oft zäh und zogen sich über Jahre hin. Erst in den 1870er Jahren wurden die letzten Fälle in den Kantonen Tessin, Waadt und Wallis entschieden.112 Doch bis ins Jahr 1872 umfassten die Einbürgerungslisten der Kantone »eine Gesamtzahl von 25 000–30 000 effektiv eingebürgerter teilweise oder vollständig heimatloser Personen«.113 Damit war es dem Bund gelungen, den unsicheren Rechtsstatus der Heimatlosigkeit größtenteils zu beseitigen, die Kontrolle über die Armutswanderung bei gleichzeitiger Niederlassungsfreiheit an sich zu ziehen und das eigene Staatsvolk zu definieren. Gleichzeitig hatte er seinen Verwaltungsapparat ausgebaut, neue Techniken im Bereich von Hygiene und Identifikation erprobt und sich ein systematisches Wissen über die Lebensführung der nicht-sesshaften Bevölkerung erschlossen.

5. Das »ius sanguinis« im Ländervergleich – Ausdruck einer ethnisch-kulturellen Nation? Im theoretischen Teil dieser Arbeit wurde auf die These des amerikanischen Soziologen Rogers Brubaker hingewiesen, dass die jeweiligen Vorstellungen von der Nation für die Art und Weise, wie die Staatsangehörigkeit an die Nachgeborenen weitergegeben wird, eine normative Rolle besitzen. Ob eine Nation eher ethnisch-kulturell oder politisch vorgestellt werde, nehme direkt Einfluss auf die Wahl des Paradigmas, nach dem die Zuschreibung der Staatsangehörig-

110 Meyer, S. 143–145. Vgl. dazu: Meier/Wolfensberger, S. 495–523. 111 Vgl. dazu das Kapitel »Heimatlose und Nicht-Sesshafte nach der Zwangseinbürgerung: Das Beispiel Einsiedeln«. 112 Meier/Wolfensberger, S. 495. 113 Ebd.

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keit erfolgt: nach dem »ius sanguinis« oder dem »ius soli«.114 Diese deterministische Sichtweise wurde von verschiedenen Seiten widerlegt.115 Im Folgenden sollen diejenigen Faktoren eruiert werden, welche in der Schweiz das zwischen 1848 und 1903 alleine geltende Abstammungsprinzip, also das »ius sanguinis«, begründet haben. Zu diesem Zweck werden zunächst die Entwicklungslinien des deutschen, französischen und schweizerischen »ius sanguinis« im 19. Jahrhundert nachgezeichnet, um im Vergleich mit Deutschland und Frankreich Antworten auf die Frage zu finden, ob das schweizerische Abstammungsprinzip des 19. Jahrhunderts Ausdruck einer ethnisch-kulturellen Nation war. Im frühen 19. Jahrhundert galt in Preußen, dem größten deutschen Staat, für die Zuschreibung der Untertanenschaft das »ius sanguinis« ohne Elemente des »ius soli«.116 Daran änderte auch das preußische »Untertanengesetz« vom 31. Dezember 1842 nichts, das für die Staatsangehörigkeit im Norddeutschen Bund ab 1870 und schließlich für die deutsche Reichs- und Staatsangehörigkeit im Kaiserreich wegweisend sein sollte. Dagegen wurde mit dem Untertanengesetz von 1842 das seit 1826 bestehende »Domizilsprinzip« abgeschafft: Die in Preußen ansässigen »Fremden« sollten nicht mehr wie bisher nach einer zehnjährigen Niederlassung im Staatsgebiet automatisch als Untertanen anerkannt werden. Alle »Fremden« hatten von nun an ein Gesuch auf Einbürgerung zu stellen, wollten sie dem preußischen Staatsverband angehören. Zugleich kam jedoch die Regelung hinzu, dass eine unerlaubte zehnjährige Landesabwesenheit zum Verlust der preußischen Staatsangehörigkeit führe; eine Regelung, die auch nach der Reichsgründung im Jahr 1871 aufrechterhalten wurde. Dieter Gosewinkel macht deutlich, dass damit das »hergebrachte Domizilsprinzip – in negativer Form und außerhalb des Staatsgebiets – weitergetragen«117 wurde. Die Hinwendung zum »Aufnahmeprinzip« durch die Abschaffung des Domizilsprinzips beim Erwerb der preußischen Staatsangehörigkeit sei, so Gosewinkel weiter, aus Gründen der »Bevölkerungspolitik und administrativen Sozialkontrolle« geschehen. Insbesondere zielte der preußische Gesetzgeber »auf eine effiziente Kontrolle der Einwanderung und der Sozialleistungen«.118 Nachdem das Domizilsprinzip für den Erwerb der Staatsangehörigkeit abgeschafft worden war, konnte bei der Aufnahme neuer Untertanen eine spezifische Auswahl getroffen werden, so zum Beispiel aufgrund des Leumunds der Antragsteller, aufgrund ihrer materiellen Verhältnisse oder aufgrund 114 Vgl. dazu: Brubaker, S. 38–42. 115 Vgl. zur Kritik an Rogers Brubaker das Kapitel »Erklärungsansätze zum historischen Wandel von Staatsbürgerschaft«. 116 Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen, S. 85. Dagegen galt zu Beginn des 19. Jahrhunderts in den drei süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg und Baden neben dem Abstammungsprinzip auch ein Territorialprinzip. Ebd., S. 48f. 117 Alle Angaben und Zitate: ebd., S. 91–93, S. 69, S. 85. 118 Beide Zitate: ebd., S. 423.

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»berufspolitische[r] Kapazitätserwägungen«.119 Die »Konstituierung einer ethnisch-kulturellen, ›nationalen‹ Gemeinschaft«120 habe Preußen im Jahr 1842 dagegen fern gelegen. Dennoch drängte sich nach der Reichsgründung allmählich ein ethnischkulturelles Konzept der deutschen Staatsangehörigkeit in den Vordergrund. Ein solches hatte sich mit der deutschen Nationalbewegung der 1840er Jahre parallel zur »politische[n] und etatistische[n] Konzeption« der Staatsangehörigkeit im preußischen Untertanengesetz von 1842 herauszubilden begonnen. Das damalige »historische Nebeneinander« einer politischen, etatistischen Konzeption der Staatsangehörigkeit und einer Konzeption der Staatsangehörigkeit als »Zugehörigkeit zu einer ethnisch und kulturell definierten deutschen Nation« sei bis nach dem Ersten Weltkrieg in der »Schwebe« geblieben; keines der beiden Konzepte konnte sich bis dahin ganz durchsetzen.121 Mit »der Bekräftigung des reinen Abstammungsprinzips« im Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913 – das Domizilsprinzip für den Verlust der deutschen Reichs- und Staatsangehörigkeit hatte jetzt seine Gültigkeit verloren – wurde der »Vorrang« des »staatsnationalen Prinzip[s]« beseitigt. Doch noch immer sei das ethnisch-kulturelle Prinzip der Staatsangehörigkeit eine »Funktion der Politik« geblieben. Erst mit dem Ersten Weltkrieg änderte sich diese Sachlage. Ein völkisch geprägter Nationalismus nahm im Zuge der Gebietsabtretungen Deutschlands im Jahr 1918 zunehmend Einfluss auf die deutsche Staatsangehörigkeitspolitik. Die »Zäsur des Krieges im Nationalbewusstsein« habe schließlich, so Dieter Gosewinkel, »in den Bruch des tradierten Staatsangehörigkeitssystems unter der Herrschaft des Nationalsozialismus« geführt: Das Paradigma der »Rasse« löste 1933 die Vorstellung von der ethnischen Volkszugehörigkeit ab.122 Die Geschichte des »ius sanguinis« in Frankreich ist in manchen Punkten anders verlaufen als in Preußen und im Deutschen Kaiserreich. Im Ancien Régime wurde ein Franzose durch seine Stellung zum König definiert. Die Geburt auf französischem Boden machte die Kinder automatisch zu Untertanen des französischen Königs. Das »ius soli« galt daher als Zeichen der Monarchie und – im Zuge der Französischen Revolution von 1789 – schon bald als Zeichen eines überkommenen Zeitalters.123 Mit der Französischen Revolution wurden die Untertanen der französischen Krone zu Staatsbürgern. Die Gründung des Nationalstaats und eine erste fundamentale Demokratisierung fielen in eins. Die französischen Staatsbürger er119 120 121 122 123

Ebd., S. 97. Ebd., S. 423. Alle Zitate: ebd., S. 424. Alle Zitate: ebd., S. 424f. Weil, L’histoire de la nationalité française, S. 55.

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hielten – mit Ausnahme der Frauen – freiheitliche und politische Rechte, sie konnten sich aktiv an der staatlichen Herrschaft beteiligen und unterstanden ab 1793 der allgemeinen Wehrpflicht. Ebenso erhielten Juden, Menschen anderer Hautfarbe und Sklaven den Status eines französischen Staatsbürgers.124 Dagegen änderte sich an den Kriterien für die Zuschreibung der französischen Staatsbürgerschaft während der Revolution kaum etwas: Die Geburt auf französischem Boden blieb das dominante Kriterium; wie bisher galt zudem auch das ergänzende »ius sanguinis« für die im Ausland geborenen Kinder französischer Eltern.125 Schließlich wurde mit dem Code Napoleon im Jahr 1804 erstmals ein dauerhaftes »ius sanguinis« eingeführt, das nun als vorherrschendes Kriterium für die Zuschreibung der französischen Staatsangehörigkeit galt. Es stand für den Bruch mit der Monarchie und für die republikanische Staatsbürgerschaft.126 Ein erster Entwurf des Code Civil, der das Territorialprinzip weiterhin vorgesehen und von Napoleon Unterstützung gefunden hatte, war zuvor gescheitert. Kritisiert worden war, dass ein Kind ausländischer Eltern, das in Frankreich geboren wurde, keine Bindung zu Frankreich auf bauen könne, falls die Familie das Land wieder verlasse.127 Erst im Jahr 1851 sollte in Frankreich wieder das optionale »ius soli« und im Jahr 1889 das »ius soli« ohne Optionsrecht für die dritte Generation eingeführt werden – diese Male allerdings nicht als Ausdruck der Monarchie, sondern als Ausdruck der republikanischen Gleichheit im Hinblick auf die allgemeine Wehrpflicht.128 Das schweizerische Gemeindebürgerrecht und Landrecht wurde während des Ancien Régimes zunehmend allein nach dem Abstammungsprinzip weitergegeben.129 Während sich aber im Verlauf der Frühen Neuzeit immer mehr ein »persönliches, erbliches Bürgerrecht, frei von dinglichen Beschränkungen« (beispielsweise des Land- oder Immobilienbesitzes) herausbildete, konnte dieses bei längerer Abwesenheit verloren gehen. Insofern galt als Verlustgrund für das Bürgerrecht in der Eidgenossenschaft während des Ancien Régimes wie in Deutschland mancherorts das Domizilsprinzip. Teilweise blieben jedoch auswärtige Bürger, die Grundbesitz in einer Gemeinde besaßen, von dieser Sanktion verschont: Im Jahr 1552 beschloss beispielsweise der Berner Rat, »dass die Ausburger sich binnen Jahr und Tag in Bern eigene Häuser kaufen oder bauen sollten, ›oder des Burgerrechts hin und ab sin‹.«130 124 Ebd., S. 56. 125 Ebd. 126 Weil, Qu’est-ce qu’un Français?, S. 12. 127 Ders., L’histoire de la nationalité française, S. 57. 128 Ders., Qu’est-ce qu’un Français?, S. 60, sowie ders., Zugang zur Staatsbürgerschaft, S. 103. 129 Rieser, S. 26. 130 Beide Zitate: ebd., S. 30f. und S. 27f.

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Der Verlust des Bürgerrechts aufgrund des Domizilsprinzips wurde auch während des helvetischen Einheitsstaats von 1798 bis 1803 aufrechterhalten. Helvetische Staatsbürger verloren ihr Bürgerrecht, wenn sie mehr als zehn Jahre ohne Bewilligung der heimatlichen Behörde im Ausland lebten. Weitere Verlustgründe waren die Einbürgerung in einem anderen Land, Desertion oder eine gerichtliche Verurteilung.131 Die Helvetik hatte in dieser Frage keinen Bruch mit der Entwicklung der vergangenen Jahrhunderte herbeigeführt. Obwohl die helvetische Verfassung die Frage nach dem bürgerrechtlichen Status der schweizerischen Hintersassen und Landsassen mit deren Anerkennung als helvetische Staatsbürger gelöst hatte, war mit den genannten Verlustgründen für das Bürgerrecht die Voraussetzung für neue Fälle von Heimatlosigkeit gegeben. Nach der Helvetik verloren die ehemaligen Land- und Hintersassen ihren neuen Status als Bürger wieder. Die Frage der Heimatlosigkeit und Nicht-Sesshaftigkeit wurde, wie oben gezeigt, zu einem zentralen Thema der eidgenössischen Tagsatzung. Politische Lösungsversuche zur Zeit der Restauration bestanden aber nicht nur in der Anerkennung der in einem Kanton lebenden Heimatlosen als Kantonsbürger, sondern auch darin, die Gründe für den Verlust des Bürgerrechts zu reduzieren. Unter anderem kam es zu diesem Zweck zum Konkordat vom 10. Juli 1819 über die Niederlassungsverhältnisse, das den Zugehörigen der Konkordatskantone ein Rückkehrrecht garantierte.132 Erst der schweizerische Bundesstaat von 1848 erreichte die Abschaffung des Domizilsprinzips für den Verlust des Bürgerrechts und somit die konsequente Durchsetzung des »ius sanguinis«, das nun nicht nur beim Erwerb, sondern auch beim Verlust des Schweizer Bürgerrechts Geltung besaß: Die Bundesverfassung von 1848 verbot den Kantonen, ihren Bürgern das Bürgerrecht zu entziehen. Der Verlust des Schweizer Bürgerrechts aufgrund längerer Landesabwesenheit war mit der Bundesverfassung von 1848 abgeschafft; eine Maßnahme, die das Deutsche Kaiserreich erst 65 Jahre später mit dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 ergreifen sollte.133 Auf die Frage, weshalb im Jahr 1848 bei der Zuschreibung des Schweizer Bürgerrechts kein »ius soli« eingeführt wurde (die Frage nach einem solchen wurde erst im Rahmen der zunehmenden Einwanderung gegen Ende des 131 Ebd., S. 35. 132 Ebd., S. 56. Die Konkordate vom 7. und 8. Juli 1819 über gemischtkonfessionelle Ehen, das Konkordat vom 5. Juli 1820 über den Konfessionswechsel sowie das Konkordat vom 14. Juli 1828 über das Eintreten in fremde Kriegsdienste und die Heirat im Ausland besaßen denselben Zweck. Ebd., S. 54. 133 Heute wird das Schweizer Bürgerrecht von der zweiten Auslandschweizergeneration verwirkt, wenn die betreffenden Personen sich im »Besitz einer anderen Staatsangehörigkeit« befinden und sich bis zum 22. Altersjahr nicht bei einer schweizerischen Behörde im In- oder Ausland angemeldet und erklärt haben, dass sie das Schweizer Bürgerrecht beibehalten möchten.« Häfelin/Haller, S. 177.

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19. Jahrhunderts laut), lassen sich verschiedene Antworten geben. Grundsätzlich bestand für den Bund angesichts des geringen Ausländeranteils – der, wie erwähnt, im Jahr 1850 lediglich 3 % der Gesamtbevölkerung ausmachte – und des negativen Wanderungsgewinns um die Mitte des 19. Jahrhunderts kein Anlass zur Ergänzung des herrschenden »ius sanguinis« mit dem »ius soli«, um etwa die Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung zu reduzieren. Außerdem besaß die bundesstaatliche Milizarmee keine Nachfrage nach zusätzlichen Soldaten; die Zahl der Schweizer Bürger reichte aus, um die vereinbarten Kontingente der eidgenössischen Armee zu stellen. Gleichzeitig bedeutete die bundesstaatliche Weiterführung des traditionellen »ius sanguinis« aber weder eine Abgrenzung gegenüber dem monarchischen »ius soli« wie in Frankreich noch bildete es ein Instrument, um ethnisch-nationale Gemeinschaftsvorstellungen in der Definition des Staatsvolks aufgehen zu lassen. Solche Vorstellungen drangen 1848 nicht in die Beratungen zum Schweizer Bürgerrecht ein.134 Den Schlüssel zum Verständnis der konsequenten Durchsetzung des »ius sanguinis« in der Schweiz durch den jungen Bundesstaat bilden dagegen zwei andere Aspekte. Zum einen kann die Beibehaltung des »ius sanguinis« bei der Zuschreibung des Bürgerrechts als Teil der kommunalen und kantonalen Selbstbestimmung gedeutet werden, die der Bund respektierte: Die automatische Zuschreibung des Bürgerrechts aufgrund der Geburt auf kantonalem und kommunalem Territorium hätte für die Gemeinden einen Kontrollverlust darüber bedeutet, wie viele Bürgerinnen und Bürger sich das Gemeindegut zu teilen hatten und ob die auf Gemeinde- oder Kantonsboden geborenen Kinder von gemeinde- oder kantonsfremden sowie von ausländischen Eltern einmal zu Bürgerinnen oder Bürgern werden sollten. Ausschlaggebend für diese Haltung war wie im Ancien Régime, dass die Aufnahme ins Gemeindebürgerrecht aufgrund der kommunal organisierten Armenunterstützung eine Gefahr darstellte, einer Bürgerin oder einem Bürger im Verarmungsfall Unterstützungsleistungen zahlen zu müssen. Gleichzeitig hätten die Gemeinden und Kantone auf lukrative Einbürgerungsgebühren verzichten müssen.135 Zum anderen besaß der Bund den Verfassungsauftrag, neue Fälle von Heimatlosigkeit und Nicht-Sesshaftigkeit zu verhindern. Mit dem bundesstaatlichen Verbot, jemanden des Bürgerrechts verlustig zu erklären, ging denn auch die bisherige Geltung des Domizilsprinzips als Instrument zur Aberkennung des Bürgerrechts durch die Kantone und Gemeinden verloren. Die Aufrechterhaltung des traditionellen »ius sanguinis« mit der Bundesstaatsgründung von 1848 ist daher auch im Rahmen bundesstaatlicher Gouvernementalität zu lesen. So stellte die konsequente Durchsetzung des Abstammungsprinzips ein 134 Vgl. dazu das Kapitel »Vorstellungen von der schweizerischen Nation: Entwicklungslinien im 19. Jahrhundert«. 135 Vgl. dazu: Argast, Die Bürgerrechtsgesetze.

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bevölkerungspolitisches Integrationsinstrument des Bundes dar. Im Gegensatz zu Preußen und dem Deutschen Kaiserreich, die das Problem der innerdeutschen Armutswanderung in der Manier souveräner Obrigkeit bis 1913 mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit aufgrund längerer Landesabwesenheit angingen, griff der Bund zu einer sozial-integrativen Maßnahme. Dies nicht zuletzt, um das eigene Staatsvolk gegenüber den benachbarten monarchischen Mächten klar zu definieren und die Bevölkerungsverhältnisse im Innern rechtlich und kulturell zu stabilisieren.

6. Bürger zweiter Klasse Die staatsbürgerlichen Integrationsleistungen des jungen Bundesstaats von 1848 waren im Vergleich mit den übrigen Ländern Europas bedeutend. Sie umfassten weitgehende freiheitliche und politische Rechte für die Mehrheit der christlichen Schweizer Männer im ganzen Gebiet der Schweiz sowie die Einbürgerung der heimatlosen und nicht-sesshaften Menschen. Damit führte der schweizerische Bundesstaat die rechtlichen Gleichstellungsversuche des helvetischen Einheitsstaats und einzelner Kantone weiter, die diese seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beim Übergang von einer ständischen zu einer bürgerlich-liberalen Gesellschaft unternommen hatten. Dennoch stellte die moderne Staatsbürgerschaft des schweizerischen Bundesstaats von 1848 im dynamischen Prozess der rechtlichen Gleichstellung nur einen Markstein dar. Die gewährte Gleichheit war keine umfassende, auch nicht für Schweizerinnen und Schweizer. Die getroffenen Integrationsmaßnahmen gingen mit zahlreichen Exklusionsdynamiken einher. Teilweise gründete der bürgerrechtliche Ausschluss noch immer auf kantonalen und kommunalen Rechtstraditionen. Infolgedessen musste der Bund das bürgerlich-liberale Projekt nicht selten gegen die Opposition der Kantone und Gemeinden durchsetzen. Grundsätzlich folgte die rechtliche Ungleichstellung jetzt aber einem anderen Prinzip als zur Zeit des Ancien Régimes: Während die ständischen Gesellschaften der Frühen Neuzeit durch das Prinzip der Ungleichheit strukturiert gewesen waren, war es nun das Prinzip der Gleichheit, dem der bürgerrechtliche Ein- und Ausschluss gehorchte: Mit der modernen Staatsbürgerschaft war das bürgerlich-liberale Versprechen der rechtlichen Gleichheit in der Bundesverfassung von 1848 verankert worden. Dieses implizierte eine fortschreitende Ausdehnung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten auf immer mehr Bevölkerungsmitglieder. Damit aber die Bevölkerung gerade im Rahmen der neuen Freiheiten (nicht zuletzt derjenigen des Marktes) und des unter Umständen destabilisierend wirkenden Gleichheitsversprechens regierbar blieb, hatte der junge Bundesstaat 129 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

den bürgerrechtlichen Ein- und Ausschluss permanent den Herausforderungen der neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung anzupassen. Nachfolgend werden die ausschließenden Wirkungen des Schweizer Bürgerrechts für Schweizerinnen und Schweizer in der Zeit nach 1848 am Beispiel von fünf Personengruppen beleuchtet: Frauen, Juden, Katholiken, sesshaften Unterschichten sowie zwangsweise eingebürgerten, ehemaligen Heimatlosen und Nicht-Sesshaften. Gemessen am Gleichheitsprinzip der Bundesverfassung von 1848 können sie – bis zu ihrer jeweiligen staatsbürgerlichen Emanzipation – als »Bürger zweiter Klasse« bezeichnet werden.

7. »Unsichere Staatsbürgerinnen«: Das Bürgerrecht von Schweizer Frauen In Artikel 4 der Bundesverfassung von 1848 hieß es: »Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich. Es gibt in der Schweiz keine Unterthanenverhältnisse, keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Familien oder Personen.«136 Von diesem Gleichheitsgrundsatz wich die rechtliche Stellung der Schweizerinnen bis zur Einführung des allgemeinen Erwachsenenstimm- und -wahlrechts auf Bundesebene im Jahr 1971 in krasser Weise ab. Doch der staatsbürgerliche Ausschluss von Frauen fand nach 1848 nicht nur auf der Ebene der politischen Staatsbürgerschaft statt. Die Ungleichstellung von Frauen betraf ebenso die freiheitlichen Rechte, die zivilrechtliche Stellung sowie den Erwerb, den Verlust und die Weitergabe des Schweizer Bürgerrechts. Gerade aufgrund der Konstruktion der vermeintlichen Gleichheit »aller Schweizer vor dem Gesetz«, so Regina Wecker, konnte »die Realität der Frauen ausgeblendet«137 werden. Diese Realität der rechtlichen Ungleichstellung wurde maßgeblich vom bürgerlichen Geschlechterdualismus gestützt und fand ihre Entsprechung teilweise im geschriebenen Recht, vor allem aber auch im ungeschriebenen Gewohnheitsrecht, in behördlichen Prozeduren und im Alltag.138 Vor der Bundesstaatsgründung waren nur wenige Stimmen zugunsten einer rechtlichen Gleichstellung von Frauen und Männern zu vernehmen gewesen. Beispielsweise hatte der Stäfner Verleger Johann Jakob Leuthy im Jahr 1833 in der ersten und gleichzeitig letzten Ausgabe seiner Zeitschrift »Das Recht der Weiber« formuliert: »Wir stellen den Gegnern der Mündigkeitserklärung des 136 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 12. Herbstmonat [September] 1848, Art. 4. 137 Wecker, »Ehe ist Schicksal«, S. 37. 138 Zum Gewohnheitsrecht gehören nach Haller/Kölz, S. 112, die »ungeschriebenen Rechtsnormen, die als verbindliches Recht Geltung erlangen …«

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weiblichen Geschlechts folgende einfache Frage: Hat der Mensch das Recht, frei zu seyn? Sind die Weiber auch Menschen? Haben sie daher ein gleiches Recht, frei zu seyn?«139 Hinzu kam, dass weder in der Revisionskommission der Tagsatzung, die sich von 1847 bis 1848 mit der Ausarbeitung der Bundesverfassung beschäftigte, noch in der Tagsatzung im Jahr 1848 der Ausschluss der Frauen vom Gleichheitsgrundsatz erwähnt wurde. Und auch der »Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung vom 8. April 1848« der Revisionskommission zu Händen der Tagsatzung verwies nur indirekt darauf, was mit der postulierten Rechtsgleichheit der Schweizer gemeint war. Wie im Zusammenhang mit der Inländergleichstellung bereits zitiert, stand im Bericht zu lesen: »Wenn man will, dass die Schweiz eine Nation, die Eidgenossenschaft eine Familie von Brüdern sei, so muss man die Gleichheit der Rechte der Eidgenossen als Prinzip aufstellen.«140 In Anlehnung an den Kampfruf »liberté, égalité und fraternité« der Französischen Revolution macht die grotesk wirkende Metapher der »Familie von Brüdern« deutlich, dass das weibliche Geschlecht nicht in die propagierte Gleichheit eingeschlossen war. Auch nach 1848 hielt sich in der Schweiz die rechtliche Ungleichstellung zwischen den Geschlechtern hartnäckig. Das war zunächst bei der politischen Staatsbürgerschaft der Fall. Mit der demokratischen Bewegung der 1860er Jahre wurden die politischen Rechte auf immer weitere Kreise der Schweizer Männer ausgedehnt, die männlichen Schweizer Juden erhielten in den Jahren 1856 und 1863 die politischen Rechte und zahlreiche Staaten führten nach dem Ersten Weltkrieg das allgemeine Erwachsenenstimm- und -wahlrecht ein. Schweizer Frauen blieben davon jedoch bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts ausgeschlossen. Als Erklärung für den Ausschluss der Schweizerinnen von den politischen Rechten verweist Regina Wecker auf die bis ins 20. Jahrhundert hinein geltende Interpretation staatsbürgerlicher Gleichheit im liberalen Staat. Diese Interpretation sei davon ausgegangen, dass nur die »Gleichen« an der staatsbürgerlichen Gleichheit teilhaben können, wobei »Gleichheit« am bürgerlichen Männerideal gemessen wurde. Folglich galten Frauen gemäß dem Differenzkonzept des Geschlechterdualismus als »Ungleiche« und konnten von der Gleichheitsgarantie der Bundesverfassung ausgeschlossen werden.141 Die fehlende Wehrpflicht für Schweizerinnen kam dieser Logik nur entgegen. Darüber hinaus führte auch das schweizerische Verfassungskonzept zum außergewöhnlich langen Ausschluss der Frauen vom Stimm- und Wahlrecht: Aufgrund des Fehlens eines Grundrechtskatalogs in der schweizerischen Bun139 Johann Jakob Leuthy, Das Recht der Weiber: Zeitschrift für Frauen und Jungfrauen. Zitiert nach: Mesmer, S. 4. 140 Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung, vom 8. April 1848, S. 15. 141 Wecker, »Ehe ist Schicksal«, S. 14f.

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desverfassung konnte hier das allgemeine Erwachsenenstimm- und -wahlrecht nicht aufgrund einer Verfassungsinterpretation eingeführt werden, wie dies etwa die Schweizer Juristin Iris von Roten-Meyer in den 1950er Jahren gefordert hatte. Somit war die Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts nur durch einen Mehrheitsbeschluss der männlichen Stimmbevölkerung, das heißt durch eine plebiszitäre Verfassungsrevision, möglich.142 Diese von Regina Wecker ausführlich begründete These wird auch vom juristischen Expertendiskurs des 19. Jahrhunderts bestätigt. So äußerte sich der Jurist Hans Kunz im Jahr 1892 in seiner Abhandlung über das zürcherische und schweizerische »Aktivbürgerrecht« lapidar: »Die Frage des Frauenstimmrechts ist als eine Frage der Politik und nicht des Rechts hier im übrigen bei Seite zu lassen.«143 Die ausweichende Argumentation des Juristen Hans Kunz verweist auf den offensichtlichen Erklärungsnotstand beim Ausschluss der Schweizerinnen von den politischen Rechten. Die juristischen Experten taten sich schwer, die Ungleichstellung von Frauen rechtlich zu begründen. So erläuterte Kunz tautologisch, dass staatsbürgerliche Rechte jedem zustünden, »der die Eigenschaft eines ›Bürgers‹ hat.«144 Die Bezugnahme auf die doppelte Semantik des Begriffs »Bürger«, das heißt auf die Unterscheidung zwischen Aktiv- und Passivbürger, bildete die Grundlage für diesen Erklärungsversuch. So führte Kunz am Beispiel von Artikel 2 der Zürcher Kantonsverfassung von 1869 aus, dass der Ausdruck »Bürger« hier »doppelsinnig gebraucht« werde. Die Gleichheit vor dem Gesetz beziehe »sich auch auf diejenigen Bürger, welche politisch nicht berechtigt sind, z.B. auf die Frauen, die staatsbürgerlichen Rechte dagegen offenbar nur auf den engern Kreis der sog. Staatsbürger oder, wie bei uns sonst gesagt wird, Aktivbürger. Es frägt sich, wer solcher sei. Die Verfassung giebt darauf keine direkte Antwort. Zunächst erscheint als selbstverständlich, dass es sich nur um Staatsangehörige handelt. … Es handelt sich sodann nur um männliche Staatsangehörige. Das ist einer der unzweifelhaftesten Sätze des Gewohnheitsrechts.«145 Und noch im Jahr 1941 sollte der Jurist Arnold Stahel eine damals über hundert Jahre alte Schrift von Johann Caspar Bluntschli aus dem Jahr 1838 bemühen: Bluntschli nenne »das Bürgerrecht der Frauen und Kinder ›mehr ein ruhendes‹, im Gegensatz zu dem hauptsächlich durch das Aktivbürgerrecht ergänzten, mehr ›tätigen‹ Bürgerrecht der erwachsenen männlichen 142 Wecker, Staatsbürgerrechte, S. 385f. Grundrechte zeichnen sich nach Wecker, ebd., dadurch aus, dass sie weder Mehrheitsentscheidungen oder parlamentarischen Beschlüssen unterzogen werden noch durch Volksentscheide eingeschränkt werden dürfen. 143 Kunz, S. 69, Anmerkung 2. 144 Ebd., S. 68. 145 Beide Zitate: Kunz, S. 68f. Ders., S. 70, Anmerkung 2, wies auch auf die Volkseingaben zur rechtlichen Gleichstellung der Frauen mit den Männern anlässlich der Zürcher Verfassungsrevision von 1869 hin. Der Zürcher Verfassungsrat habe diese Eingaben jedoch nur am Rande besprochen.

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Bürger.«146 Die Ideologie des Geschlechterdualismus besaß auch im zwanzigsten Jahrhundert ihre Gültigkeit.147 Ebenso wenig wie zur fehlenden politischen Staatsbürgerschaft von Frauen äußerte sich die Bundesverfassung von 1848 zur Geltung der Niederlassungsfreiheit für Schweizerinnen. Deshalb konnten die Kantone den Frauen dieses Recht prinzipiell verwehren. Noch im Jahr 1911 machte der Staatsrechtler und damalige Bundesrichter Albert Affolter deutlich, dass Frauen, »die sowieso das Stimmrecht nicht besitzen, als im Nichtbesitze der bürgerlichen Rechte und Ehren befunden und ihnen die Niederlassung verweigert werden«148 könne. Wie etwa zuvor im Fall der Schweizer Juden verband sich auch hier das Fehlen der Niederlassungsfreiheit mit dem Fehlen der politischen Staatsbürgerschaft. Pikant an Affolters Argumentation ist jedoch, dass sie die in der Bundesverfassung festgelegte Kausalität zwischen der Niederlassungsfreiheit und den politischen Rechten im Fall der Frauen ins Gegenteil verkehrte: Nicht das Recht auf freie Niederlassung bildete in Affolters Argumentation die Bedingung für die Gewährung der politischen Rechte, sondern der Besitz politischer Rechte bedingte die freie Niederlassung. Der Zirkelschluss aus der Feder eines gestandenen Juristen wie Affolter ist erstaunlich. Eine andere Form des Ausschlusses von Frauen lag in ihrer zivilrechtlichen Stellung begründet. Sie zeigte sich etwa im ehelichen Güterrecht, das bis zur Einführung des eidgenössischen Zivilgesetzbuches von 1912 durch die Kantone geregelt wurde, oder in der Geschlechtsvormundschaft. In der Schweiz galt die Geschlechtsvormundschaft sowohl für verheiratete als auch für unverheiratete Frauen bis ins Jahr 1881. Frauen besaßen also einen Vormund, »ohne den sie keine Rechtsgeschäfte tätigen durften, das heisst, sie durften ohne seine Einwilligung keine Verträge abschließen, nicht über ihr Vermögen verfügen und nicht vor Gericht klagen.«149 Mit dem Bundesgesetz »betreffend die persönliche Handlungsfähigkeit« vom 22. Juni 1881 wurde die Geschlechtsvormundschaft für unverheiratete Frauen gesamtschweizerisch aufgehoben. Für verheiratete Frauen richtete sich die Geschlechtsvormundschaft jedoch noch bis zum Inkrafttreten des eidgenössischen Zivilgesetzbuches im Jahr 1912 nach den Gesetzen der Kantone. Bis 146 Stahel, S. 24, Anmerkung 40. Vgl. dazu: Bluntschli sowie Joris, Geschlechtshierarchische Arbeitsteilung, S. 191: »Johann Caspar Bluntschli (1808–1881), der Verfasser des Zürcher Privatrechtlichen Gesetzbuches von 1854, dem eigentlichen Vorläufer des späteren eidgenössischen Zivilgesetzbuches, dem ZGB von 1912, geizte nicht mit Begründungen für die Unterordnung der Ehefrau unter den Willen des Ehegatten. … Da dies den Alltag der Frauen weit stärker einschränkte als die fehlenden Rechte, bezogen sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die kollektiven Proteste von Frauen vor allem auf privatrechtliche Gesetzesbestimmungen.« 147 Vgl. zur entsprechenden Sichtweise des Adjunkten der eidgenössischen Fremdenpolizei Max Ruth im Jahr 1938: Wecker, »Ehe ist Schicksal«, S. 30–33. 148 Affolter, Die individuellen Rechte, S. 78, Anmerkung 2. 149 Wecker, Zwischen Ökonomie und Ideologie, S. 100.

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zu diesem Zeitpunkt hielten sechs Kantone an der Geschlechtsvormundschaft für verheiratete Frauen fest.150 Erst durch die Revision des Eherechts im Jahr 1985 wurden die Frauen schließlich aufgrund weiterer Gleichstellungsmaßnahmen von »ihrer faktischen ›Bevormundung‹ durch den Ehemann«151 befreit. Wie am Beispiel der Geschlechtsvormundschaft angedeutet wurde, spielte die Ehe bei der Ungleichstellung der Frauen gegenüber den Männern eine bedeutende Rolle. So hält Regina Wecker fest, dass die Ehe als Teil der geltenden Geschlechterordnung nicht nur das Zivilrecht, sondern auch das Staatsangehörigkeitsrecht und schließlich die gesamte politische Ordnung beeinflusste.152 Dies zeigt sich zunächst beim Grundsatz der Unverlierbarkeit des Schweizer Bürgerrechts, wie ihn die Bundesverfassung von 1848 festgehalten hatte. Für verheiratete Frauen besaß dieser Grundsatz keine Gültigkeit. Schon in der Zeit des schweizerischen Staatenbundes hatte ein Konkordat im Jahr 1808 geregelt: »Eine nach den Landesgesetzen geschlossene und eingesegnete Ehe macht die Frau zur Angehörigen desjenigen Kantons, in welchem der Mann das Heimathrecht besitzt.«153 Das Konkordat hatte zwar dazu geführt, dass geschiedene oder verwitwete Frauen vom Heimatkanton des Mannes als Angehörige anerkannt werden mussten. Gleichzeitig wurde damit stillschweigend vorausgesetzt, dass das ursprüngliche Bürgerrecht der Frau bei Heirat mit einem kantonsfremden Mann verloren ging und die Kinder aus einer ehelichen Verbindung das Bürgerrecht des Vaters erhielten. Die Regelung über den Verlust des Kantonsbürgerrechts der Frau galt auch nach der Bundesstaatsgründung fort, und dies, obwohl seither doppelte Kantonsbürgerrechte erlaubt waren. Es wäre also durchaus möglich gewesen, das eigene Kantonsbürgerrecht bei Heirat mit einem kantonsfremden Mann zu behalten.154 Dieser Sachverhalt ist insofern von Relevanz, als verwitwete oder geschiedene Schweizerinnen, die in ihrem ehemaligen Heimatkanton wohnten, de jure bis ins Jahr 1975 im Verarmungsfall in den Heimatkanton des Ehemannes abgeschoben werden konnten. 150 Durch die kantonale Regelung der Geschlechtsvormundschaft galten für die persönliche Handlungsfähigkeit von Schweizerinnen unterschiedliche Rechtsverhältnisse. So waren beispielsweise unverheiratete Bernerinnen in Basel bis zur Auflösung der Geschlechtsvormundschaft für unverheiratete Frauen im Kanton Basel-Stadt im Jahr 1876 besser gestellt als Baslerinnen. Sie konnten ohne Einschränkungen in Basel Verträge abschließen, während dies den unverheirateten Baslerinnen bis 1876 nicht möglich war. Wecker, Zwischen Ökonomie und Ideologie, S. 105. Vgl. zur Geschlechtsvormundschaft in der Schweiz auch: dies., Geschlechtsvormundschaft, sowie Joris/Witzig, S. 343. 151 Wecker, Zwischen Ökonomie und Ideologie, S. 110. 152 Dies., »Ehe ist Schicksal«, S. 15. Vgl. dazu: Pateman. 153 Konkordat wegen des Heimathrechtes der in einen anderen Kanton einheiratenden Schweizerinnen, vom 8. Juli 1808, bestätigt den 9. Juli 1818. Dem Konkordat waren alle Kantone beigetreten. 154 Seit Inkrafttreten des neuen Eherechts im Jahr 1986 können Schweizerinnen, die einen kantonsfremden Schweizer heiraten, ihr Gemeinde- und somit ihr Kantonsbürgerrecht behalten.

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Auch auf Bundesebene gehörte nach 1848 der Verlust des Bürgerrechts von Frauen bei der Heirat mit einem ausländischen Mann, die so genannte »Heiratsregel«, zum ungeschriebenen Gewohnheitsrecht.155 Gleichzeitig besaß die »umgekehrte Heiratsregel« Gültigkeit: Ausländische Frauen, die einen Schweizer heirateten, wurden bis ins Jahr 1990 automatisch zu Schweizerinnen.156 In geschriebenes Recht übersetzt wurde der Verlust des Bürgerrechts von Frauen, die einen Ausländer heirateten, erstmals mit dem »Bundesratsbeschluss über Änderung der Vorschriften über Erwerb und Verlust des Schweizerbürgerrechts« vom 11. November 1941.157 Doch ob Gewohnheitsrecht oder geschriebenes Recht: Erst mit dem Bundesgesetz über »Erwerb und Verlust des Schweizerbürgerrechts« vom 29. September 1952 konnten Schweizerinnen bei der Heirat mit einem ausländischen Mann das Schweizer Bürgerrecht behalten.158 Allerdings mussten sie auch dann eine entsprechende Willensbekundung unterschreiben. Wenn ehemalige Kantonsbürgerinnen oder ehemalige Schweizerinnen nach der Ehescheidung oder dem Tod des Ehemannes ihr altes Bürgerrecht wiedererlangen wollten, mussten sie sich neu einbürgern lassen. Dabei hatten sie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zumeist dieselben Bedingungen zu erfüllen wie kantonsfremde oder ausländische Einbürgerungswillige. Die Wiedereinbürgerung war deshalb von Bedeutung, weil nur sie im Fall der Verarmung der verwitweten oder geschiedenen ehemaligen Bürgerin einen wirksamen Schutz vor der Ausschaffung in den Kanton oder das Land des geschiedenen oder verstorbenen Ehemannes bildete.159 Darüber hinaus waren die Gemeinden bis in die 1870er Jahre in der Lage, einer kantons- oder gemeindefremden Verlobten die Aufnahme in das Bürgerrecht und somit die Heiratsbewilligung zu verweigern, beispielsweise aufgrund ökonomischer oder moralischer Bedenken. Von dieser Befugnis machte beispielsweise, wie erwähnt, der Kanton Basel-Stadt bis ins Jahr 1871 Gebrauch.160 155 Noch im Jahr 1923 formulierte der Schweizer Staatsrechtler Fleiner, S. 41, Anmerkung 16: »Auf Gewohnheitsrecht beruht z.B. der Satz, dass die Schweizerin, die sich mit einem Ausländer verheiratet, das Schweizerbürgerrecht verliert.« Erst seit dem Gleichstellungsartikel vom 1. Juli 1985 sind Kinder von Schweizer Müttern automatisch Schweizer, auch wenn der Vater eine andere Staatsangehörigkeit besitzt. 156 Der entsprechende Art. 2 des Bundesgesetzes über Erwerb und Verlust des Schweizerbürgerrechts vom 29. September 1952 wurde am 23.3.1990 aufgehoben. Vgl. dazu: Bürgerrechtsgesetz, Änderung, vom 23.3.1990, S. 1598. 157 Vgl. dazu: Bundesratsbeschluss über Änderung der Vorschriften über Erwerb und Verlust des Schweizerbürgerrechts« vom 11. November 1941, Art. 5. Dagegen hatte auf kantonaler Ebene beispielsweise der Kanton Basel-Stadt den Verlust des Bürgerrechts von verheirateten Frauen schon im Jahr 1838 ausdrücklich in seinem Bürgerrechtsgesetz festgehalten. 158 Vgl. dazu: Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizerbürgerrechts, vom 29. September 1952, Art. 9, Abs. 1. 159 Wecker, »Ehe ist Schicksal«, S. 23f. 160 Vgl. dazu: [Basler] Bürgerrechtsgesetz vom 11. Dezember 1866, § 7, sowie StA BS, 38. Verwaltungsbericht des Stadtraths zu Basel an den Grossen Stadtrath, 1870, S. 13 und S. 16.

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Die Bundesverfassung von 1874 setzte dieser Praxis ein Ende, indem sie die Ehe »unter den Schutz des Bundes«161 stellte. Abschließend sei nochmals auf den zentralen Zusammenhang zwischen dem Bürgerrecht von Frauen und der Ehe hingewiesen. Die Wirkungen dieser Verbindung gingen »weit über die Gruppe der tatsächlich ›Ausheiratenden‹ hinaus und liess nach innen das Verhältnis der Frauen zum Staat als weniger fest, sie selbst als unsichere (Staats-)Bürgerinnen erscheinen.«162 Im lange dauernden, rechtlichen Gleichstellungsprozess der Frauen seit 1848 stand deshalb zunächst die zivil- und insbesondere die eherechtliche Gleichstellung an oberster Stelle.

8. Von der »verpassten« zur »erzwungenen« Emanzipation der Schweizer Juden Die Verfassungsväter des neu gegründeten Bundesstaats von 1848 schlossen nicht nur die Schweizer Frauen, sondern auch die Schweizer Juden von der rechtlichen Gleichstellung aus. Die liberale Bundesverfassung garantierte nur den Schweizern christlicher Religion die Niederlassungs- und Kultusfreiheit.163 Der »Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung« vom 8. April 1848 hielt zur fehlenden Niederlassungsfreiheit für Juden fest: »Der Art. 39 [in der Schlussfassung Artikel 41] garantirt die freie Niederlassung nur den Schweizern, welche einer christlichen Konfession angehören. Man hatte hier vorzüglich im Auge, die Juden auszuschließen, besonders mit Rücksicht auf die fremden, welche nicht ermangeln würden, auf zwischen der Schweiz und Nachbarländern bestehende Verträge sich zu berufen, welche festsetzen, dass die Bürger dieser Staaten den Eidgenossen gleich gehalten werden sollen.« Die fehlende Kultusfreiheit für Juden kommentierte der Bericht ebenfalls nur knapp: »Die freie Religionsausübung ist nur den beiden anerkannten christlichen Konfessionen gewährleistet, das heisst, der katholischen Religion in den protestantischen oder gemischten, und der protestantischen Konfession in den katholischen oder gemischten Kantonen. Es ist also nicht jeder Art von Sekten die Kultusfreiheit garantirt.«164 161 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 29. Mai 1874, Art. 54, Abs. 1. 162 Wecker, »Schweizer machen«, S. 132. 163 Vgl. dazu: Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 12. Herbstmonat [September] 1848, Art. 41 und Art. 44. 164 Beide Zitate: Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung, vom 8. April 1848, S. 16.

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Die Mehrheit der Mitglieder der Revisionskommission und der Tagsatzung hatte sich gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden gewehrt und damit die Judenemanzipation in der Schweiz im Jahr 1848 verhindert. Nur die Tagsatzungsdelegationen der Kantone Aargau, Genf, Neuenburg und Waadt hatten sich, wie oben erwähnt, für die Niederlassungsfreiheit der Juden eingesetzt.165 Besonders der Vertreter aus dem Kanton Aargau, wo der größte Teil der jüdischen Bevölkerung in der Schweiz lebte, hatte sich für die Streichung der christlichen Religion als Bedingung für die freie Niederlassung stark gemacht. Er hatte laut Protokoll der Tagsatzung zu bedenken gegeben: »Die Israeliten legten ein löbliches Streben an den Tag, sich auf die nämliche Stufe der Berechtigung mit ihren christlichen Brüdern zu erheben; sie leisteten thatsächlich den Beweis, dass sie in Bezug auf Kultus, Schule und Moralität keineswegs hinter den Miteidgenossen zurückstehen wollten; sie hätten selbst den Wunsch ausgesprochen, in die Reihen der eidgenössischen Armee einzutreten …« Der »Hass« gegen die Juden stamme »aus einer barbarischen Zeit« und es sei »die engherzige und schiefe Politik der Christen«, welche sie in den »Schacherhandel« getrieben habe.166 Entgegnet worden war dem Aargauer Tagsatzungsabgeordneten, dass es nicht aus »Religionshass« oder »übertriebenem Eifer für die christliche Religion« geschehe, dass man sich gegen die Gleichberechtigung der Juden ausspreche. Es sei hingegen eine Tatsache, »dass die Gleichberechtigung der Israeliten durchaus unpopulär sei, indem ihr Schacherhandel, ihr Wucher, das Aussaugsystem, welchem die Mehrzahl sich hingebe, schlechterdings gegen sie einnehmen müssen …« Hinzu komme, »dass infolge des namentlich mit Frankreich bestehenden Staatsvertrages eine Unzahl französischer Juden die Schweiz überfluthe und ihr so die abentheuerlichsten Glücksritter gewiss nur zu ihrem Nachtheile zugeführt würden … Man möge über gewissen philantropischen (sic) Ideen die realen, praktischen Rücksichten nicht außer Auge lassen.«167 Obwohl die Juden im Jahr 1848 von den staatsbürgerlichen Rechten ausgeschlossen blieben, waren diese, was die Wahrnehmung der staatsbürgerlichen Pflichten betraf, Teil der Staatsbürgernation: Seit dem Jahr 1852 leisteten Schweizer Juden Wehrdienst.168 Doch auch hier waren die jüdischen Männer nicht mit den christlichen Männern gleichgestellt. Bei der Beurlaubung jüdischer Wehrmänner an israelitischen Feiertagen kam es wiederholt zu Konflikten.169 Hinzu kam, dass den jüdischen Wehrmännern der Aufstieg 165 Abschied der ordentlichen eidgenössischen Tagsatzung des Jahres 1847, IV. Theil, Sitzung vom 22. Mai 1848, S. 75f. und S. 78. Vgl. dazu: Mattioli, Antisemitismus in der Geschichte, S. 10. 166 Alle Zitate: Abschied der ordentlichen eidgenössischen Tagsatzung des Jahres 1847, IV. Theil, Sitzung vom 22. Mai 1848, S. 75. 167 Alle Zitate: ebd., S. 76. 168 Vgl. dazu: Mattioli, Der »Mannli-Sturm«, S. 136, sowie Kamis-Müller, S. 35–37. 169 Vgl. dazu: Kamis-Müller, S. 37f.

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zu einem hohen Offiziersgrad vor allem in kampffähigen Truppen zumeist verwehrt blieb.170 Während Josef Mooser die »Grenzen der liberalen Bundesverfassung« für Frauen und Arbeiter als »europäisches Phänomen des Liberalismus«171 deutet, stellt die verweigerte Judenemanzipation weder ein gesamteuropäisches noch ein gesamtschweizerisches Phänomen dar. So hatte beispielsweise das Großherzogtum Luxemburg die Emanzipation der Juden bereits vor 1848 verwirklicht,172 und auch die Frankfurter Nationalversammlung hatte in der Paulskirchenverfassung von 1849 die vollständige Emanzipation der Juden vorgesehen.173 In der Schweiz waren die Juden in den Städten Genf und Bern in den Jahren 1841 und 1846 mit den Schweizern christlicher Religion gleichgestellt worden.174 In Anbetracht dessen und der rechtlichen Gleichstellung der christlichen Schweizer stellt sich die Frage, wie der Ausschluss der Juden von den freiheitlichen und politischen Rechten auch nach der Bundesstaatsgründung zu erklären ist. Aram Mattioli geht von der These aus, dass der damaligen Judenfeindschaft sowohl ein tradierter christlicher Antijudaismus als auch ein moderner Antisemitismus zugrunde lag, dass sich also in der damaligen Judenfeindschaft alt hergebrachte mit neuen Reflexen der Abwehr mischten.175 Insofern seien für die rechtliche Ungleichstellung der Juden in der Bundesverfassung von 1848 vor allem »judenfeindliche Vorurteile und ökonomische Konkurrenzängste«176 verantwortlich gewesen. Diese seien sowohl von den katholisch-konservativen und freisinnigen Kantonsvertretern in der Revisionskommission der Tagsatzung von 1848 als auch vom »mittelständisch-kleinbürgerlichen Elektorat in der katholischen und freisinnigen Schweiz«177 geteilt worden. Hinzu komme, dass die damalige »Spielart des Antisemitismus … bereits im Banne einer ethnonationalen Ausgrenzungslogik [stand], die die Juden als ›fremdes Volk‹ und andere ›Race‹ konstruierte.«178 Die frühe Demokratisierung in der Schweiz führte also auch im Fall der Juden dazu, dass sie die rechtliche Gleichstellung nach 1848 mühsam erkämpfen mussten. So konnte die »verpasste Emanzipation«179 der Schweizer Juden in den Jahrzehnten nach 1848 nur auf der Grundlage einer Verfassungsände170 171 172 173 174 175 176 177 178 179

Ebd., S. 35f. Mooser, Eine neue Ordnung, S. 59. Mattioli, »So lange die Juden Juden bleiben …«, S. 287. Mooser, Eine neue Ordnung, S. 57. Pfister, S. 94. Mattioli, Antisemitismus in der Geschichte, S. 4. Ders., Die Schweiz und die jüdische Emanzipation, S. 70. Ebd., S. 72. Vgl. dazu: Gruner, S. 993f. Mattioli, »So lange die Juden Juden bleiben …«, S. 297 (Hervorhebung im Original). Ders., Die Schweiz und die jüdische Emanzipation, S. 70, folgende Angaben: ebd., S. 74.

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rung nachgeholt werden, wie das auch bei der politischen Staatsbürgerschaft der Schweizer Frauen der Fall war. Für die Juden sollte die Emanzipation im europäischen Vergleich erst spät, in den Jahren 1866 und 1874, durch Mehrheitsbeschluss der männlichen und christlichen Schweizer Stimmbevölkerung zustande kommen, ein Prozess, der im Folgenden beschrieben werden soll. Seit den 1850er Jahren begann sich die Haltung der freisinnigen Machtelite gegenüber der Judenemanzipation zu ändern. Zwar kam es noch im Jahr 1855 zu einem Handelsvertrag zwischen den USA und der Schweiz, in dem die amerikanischen Juden von der freien Niederlassung in der Schweiz ausgenommen wurden. Doch die internationalen Vertragspartner der Schweiz billigten solche diskriminierenden Bestimmungen gegenüber den Juden immer weniger. Die Schweiz hatte sich mit ihrer antiemanzipatorischen Judenpolitik »in West- und Mitteleuropa zusehends ins Abseits manövriert.«180 Dadurch drohte die internationale Außenhandelspolitik ins Stocken zu geraten: Länder wie die Niederlande und Frankreich, in denen die Gleichstellung der Juden seit längerer Zeit in der Verfassung verankert war, knüpften den Abschluss von Handelsverträgen zunehmend an die Bedingung der Judenemanzipation.181 Deshalb stellte der Bundesrat mit Beschluss vom 24. September 1856 die Schweizer Juden hinsichtlich der politischen Rechte den christlichen Schweizern gleich.182 Viele der Schweizer Juden mussten jedoch auch dann noch bis ins Jahr 1863 auf die politischen Rechte auf Kantons- und Bundesebene warten. Im Kanton Aargau, wo um 1860 noch mehr als ein Drittel der damals rund 4 200 in der Schweiz ansässigen Jüdinnen und Juden lebten,183 wehrte sich nämlich ein Teil der christlichen und insbesondere der katholischen Bevölkerung hartnäckig gegen die Emanzipationspolitik des Bundes und des Kantons.184 Wie in anderen europäischen Staaten wurde die Opposition gegen die Judenemanzipation in der Schweiz in den Jahrzehnten nach der Bundesstaatsgründung hauptsächlich von Katholiken getragen.185 Der katholische antimodernistische Widerstand richtete sich aber nicht allein gegen die Juden, sondern auch gegen den politischen Freisinn.186 Der Katholizismus inszenierte dabei geschickt die bekannten Feindbilder, um »die Bindungskräfte des eigenen Milieus in Abgrenzung gegen den antiklerikalen Gegner zu stärken.«187 Gleichzeitig stellten die katholischen Emanzipationsgegner dem freisinnigen Konzept einer Staatsbürgernation, das nun in den Augen mancher liberaler Politiker auch für die 180 181 182 183 184 185 186 187

Ebd., S. 74. Ebd. Ebd., S. 73f. Ders., Der »Mannli-Sturm«, S. 135. Vgl. dazu: ebd. Ders., »So lange die Juden Juden bleiben …«, S. 296. Vgl. dazu: Binnenkade, Kontaktnahmen. J. Tanner, Diskurse der Diskriminierung, S. 328.

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Schweizer Juden gelten sollte, das Konzept einer »christlichen Nation«188 gegenüber. Nach diesem Differenzkonzept, das über den tradierten christlichen Antijudaismus hinausging, stellten die Juden eine eigene Nation dar, die sich durch Religion und Geschichte von der schweizerischen Nation unterscheide und eine Gefahr für die christliche Gesellschaft bilde.189 Den Juden seien daher die staatsbürgerlichen Rechte zu verweigern. In den Jahren 1861 und 1862 führte der populistische, antisemitische und mehrheitlich katholische Widerstand im Kanton Aargau gegen die Judenemanzipation zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen die ansässigen Juden in Oberendingen, zu zahlreichen Protestversammlungen der Bevölkerung und zu politischen Eingaben. Die Proteststimmung führte schließlich zur Abwahl des Aargauer Grossen Rats und zum Rücktritt der Aargauer Regierung. Erst nach einer Beschwerde der Aargauer Juden an den Bundesrat, in der sie sich auf das Heimatlosengesetz von 1850 beriefen, sprach der Bund am 28. August 1863 ein Machtwort.190 Die politischen Rechte wurden den aargauischen Juden nun auf kantonaler und Bundesebene zugestanden. Der Schachzug der Aargauer Juden, sich auf das Heimatlosengesetz von 1850 zu berufen, verdeutlicht die durchaus integrative Bedeutung des Gesetzes, und zwar noch Jahre nach dessen Erlass. Gleichzeitig wird aber auch die Macht der damaligen Bürgergemeinden deutlich, denn die Ortsbürgerrechte von Lengnau und Oberendingen wurden den Juden weiterhin verweigert. Diese erhielten die Aargauer Juden – wiederum auf Geheiß des Bundes – erst dreizehn Jahre später, am 21. März 1876. Die Judenkorporationen in Oberendingen und Lengnau wurden nun, nachdem auch der erneut von den Emanzipationsgegnern angefochtene Bundesbeschluss vom Bundesgericht im Jahr 1877 bestätigt worden war, zu selbstständigen Ortsbürgergemeinden. Im Jahr 1879 schlossen sich diese mit den christlichen Ortsbürgergemeinden Oberendingen und Lengnau zu Einwohnergemeinden zusammen.191 Die Niederlassungsfreiheit der Schweizer Juden war auf Druck des Auslandes früher eingeführt worden als die Ortsbürgerrechte. Im Jahr 1864 war es der französischen Regierung gelungen, mit einem schweizerisch-französischen Handelsvertrag die Niederlassungsfreiheit für die französischen Juden in der Schweiz zu erwirken.192 Auch gegen diesen Niederlassungsvertrag war Widerstand laut geworden. Insbesondere hatten der Luzerner Nationalrat Philipp 188 Mattioli, Die Schweiz und die jüdische Emanzipation, S. 75. 189 Ebd., S. 75f. 190 Ders., Der »Mannli-Sturm«, S. 160, folgende Angaben: ebd. 191 Ebd., S. 161. 192 Ders., Die Schweiz und die jüdische Emanzipation, S. 74. Vgl. dazu: ebd., S. 75: »Eigentlich wäre die Landesregierung nicht zum Abschluss des Vertrages berechtigt gewesen, weil dessen Bestimmungen zur Niederlassungsfreiheit in die Rechtssetzungskompetenz der Kantone eingriffen. Doch der antiemanzipatorische Widerstand war in der ›Suisse profonde‹ derart stark,

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Anton von Segesser und seine mehrheitlich katholischen Mitstreiter dagegen opponiert. Doch die wirtschaftlichen Bedenken der freisinnigen Bundespolitiker besaßen vor der »christlichen Nation« des katholischen Konservativismus Vorrang, so dass der Handelsvertrag mit Frankreich dennoch zustande gekommen war. Damit waren die französischen Juden in der Schweiz gegenüber den Schweizer Juden privilegiert. Nach Protestnoten der Schweizer Juden zog der Bund mit der Partialrevision der Verfassung nach. In den revidierten Artikeln 41 und 48 der Bundesverfassung vom 14. Januar 1866 fiel das Kriterium der christlichen Religion für die Gewährung der freien Niederlassung weg. Allerdings verweigerte der Schweizer Souverän in der Abstimmung vom 14. September 1866 den Juden noch immer die Kultusfreiheit. Diese wurde erst in der Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung von 1874 durchgesetzt. Die »verpasste Emanzipation« der Juden war schließlich zu einer erzwungenen Emanzipation geworden: In Anbetracht der wirtschaftlichen Erfordernisse und des Drucks des Auslandes hatte der Bund die rechtliche Diskriminierung beseitigen müssen.193

9. Schweizer Katholiken zwischen rechtlicher Gleichstellung und Kulturkampf Die Bundesverfassung von 1848 gewährte den Schweizer Katholiken die gleichen staatsbürgerlichen Rechte wie den Protestanten. Wirtschaftlich waren die Katholiken jedoch oft schlechter gestellt und in den gemischtkonfessionellen oder protestantischen Kantonen wurden sie sozial kaum integriert.194 Zwar war die Ungleichbehandlung der Katholiken in der Verfassung von 1848 nicht vorgesehen. Dennoch wurde sie noch lange geduldet und im Kulturkampf der 1870er und 1880er Jahre neu belebt.195 Die ungleiche Behandlung der Katholiken in den Jahren nach 1848 wird beispielsweise durch die fortdauernde antikatholische Einbürgerungspolitik der Stadt Basel verdeutlicht. Im Zuge der Bundesverfassung hob der kantonale Gesetzgeber die konfessionell motivierten Beschränkungen für den Bürgerrechtserwerb auf Kantons- und Gemeindeebene zwar auf.196 In der Zeit zwischen 1848 und 1866 wurden aber nur gerade 72 katholische Bewerberinnen dass sich der Bundesrat zu diesem kühnen Schritt entschloss, um das Land aus dem drohenden aussenhandelspolitischen Abseits herauszuführen.« 193 Ebd., S. 77. 194 Vgl. dazu: Altermatt, Der Schweizer Katholizismus, S. 78–106. 195 Vgl. dazu: Jorio, Zwischen Rückzug und Integration. 196 [Basler] Bürgerrechtsgesetz, vom 4. Dezember 1848, § 7.

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und Bewerber in das Basler Bürgerrecht aufgenommen, was bei insgesamt 666 positiv entschiedenen Gesuchen im selben Zeitraum knapp 11 % der Einbürgerungen ausmachte.197 Der Anteil der katholischen Kantonsbevölkerung lag hingegen bereits im Jahr 1850 bei 18,5 %, im Jahr 1860 gehörten gar 24 % der Kantonsbevölkerung der katholischen Konfession an.198 Bei der Abwehr gegen Angehörige der konfessionellen Minderheit traten hauptsächlich die Behörden der Basler Stadtgemeinde in Erscheinung. Grundsätzlich war es ihr Ziel, möglichst viele katholische Bewerberinnen und Bewerber vom Stadtbürgerrecht fernzuhalten. Ein unverheirateter katholischer Bewerber hatte beispielsweise lediglich eine Chance eingebürgert zu werden, wenn er mit einer Protestantin verlobt war. Zudem musste er das Versprechen ablegen, dass seine Kinder protestantisch erzogen würden.199 Im Jahr 1859 formulierte der Basler Stadtrat (Gemeindeexekutive) folgende Maxime: »Wir können nämlich mit der Aufnahme beziehungsweise Vermehrung der Katholiken in unsre Bürgerschaft für den ungestörten gedeihlichen Fortbestand unsrer innern bürgerlichen Verhältnisse nur Uebelstände und Schwierigkeiten voraussehen, die gewiss besser vermieden werden, wenn die Aufnahme von Katholiken beschränkt bleibt.«200 Während 18 Jahren duldete die Basler Kantonsregierung die restriktive stadträtliche Praxis. Erst im Jahr 1866 monierte der Kleine Rat (die Kantonsexekutive) in seinem »Ratschlag« zum kantonalen Bürgerrechtsgesetz von 1866, es habe »sich ein modus vivendi gebildet, welcher die im Gesetz für die Katholiken principiell geöffnete Thür denselben im einzelnen Fall in der Regel verschloss.«201 Angesichts dessen, dass mit dem Basler Bürgerrechtsgesetz von 1866 die diskriminierenden Ausnahmebestimmungen für Jüdinnen und Juden wegfielen, schien ihm dieser »modus vivendi« nicht mehr passend zu sein. Dazu hielt der Kleine Rat fest: Wenn nun der »moderne Staat in Bezug auf den diametralen Unterschied zwischen Glauben und Nichtglauben alles Abwägen und Richten [hat] aufgeben müssen, so lasse er unter so ganz veränderten Verhältnissen auch das Glaubens-Mass bei Seite, worunter er bei uns die Bürger197 Zahl der positiv entschiedenen Gesuche von Katholikinnen und Katholiken nach Pfister, S. 96. Gesamtzahl der positiv entschiedenen Einbürgerungsgesuche errechnet aus: StA BS Verwaltungs-Bericht des Stadtrathes zu Basel an den Grossen Stadtrath 1848–1866, Nr. 15–33. 198 Prozentzahlen für den Kanton Basel-Stadt errechnet aus: Ritzmann-Blickenstorfer, S. 94 und S. 154. Da der Kanton Basel-Stadt ein Stadtkanton ist, der im 19. Jahrhundert außer der Stadt Basel lediglich drei Landgemeinden umfasste, werden hier die zur Verfügung stehenden, das heißt die städtischen und kantonalen Verhältniszahlen miteinander verglichen. Das Verhältnis zwischen Katholiken und der gesamten Kantonsbevölkerung nahm auch in den folgenden Jahrzehnten weiter zugunsten der Katholiken zu. 199 StA BS DS BS Ratschläge 1866 (Nr. 351), Rathschlag und Entwurf eines Bürgerrechtsgesetzes, dem Grossen Rath vorgelegt den 1. Oktober 1866, S. 34. 200 Zitiert nach: ebd., S. 32. 201 Ebd., S. 36f.

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rechtskandidaten bisher gestellt hat.«202 Trotz der hier scheinbar zur Geltung kommenden Offenheit, verdeutlicht die Aussage die noch immer empfundene kulturelle Distanz der protestantischen Kantonsregierung sowohl zur katholischen als auch zur jüdischen Einwohnerschaft. Mit seiner Äußerung degradierte der Kleine Rat den jüdischen Glauben implizit zum »Nichtglauben«. Dem katholischen Glauben gestand der Kleine Rat zwar immerhin den Status eines »Glaubens« zu, allerdings sprach er ihm indirekt das richtige »Mass« ab. In Anbetracht dessen erstaunt es auch nicht, dass der hier propagierte Laizismus im bevorstehenden Kulturkampf wieder vergessen gehen sollte.203 Und tatsächlich: Die Stellung der Katholiken verschlechterte sich zunächst auf Bundesebene mit der »Rekonfessionalisierung der Bundespolitik«204 infolge des Kulturkampfes. So enthielt die Bundesverfassung von 1874 mehrere Ausnahmeartikel gegen die katholische Kirche und die Katholisch-Konservativen. Beispielsweise konnten Angehörige des geistlichen Stands nicht in den Nationalrat gewählt werden und die Neugründung von Orden und Klöstern wurde verboten.205 Aber auch in Basel-Stadt – um nochmals auf das kantonale und städtische Beispiel zurückzukommen – verschlechterte sich in den 1870er und 1880er Jahren das Verhältnis zwischen der katholischen und protestantischen Konfession: Bei der kantonalen Verfassungsrevision von 1875 konstituierte sich die römisch-katholische Kirche Basels als öffentlich-rechtlicher Verein. Damit verlor sie die Aussicht auf finanzielle Unterstützung des Kantons.206 Zur Subventionierung der reformierten Kirche aus der Basler Staatskasse trugen aber indirekt auch die katholischen Steuerzahlerinnen und -zahler bei.207 Auf dem Höhepunkt des Konflikts zwischen der katholischen Kirche und dem reformierten Freisinn wurde ein Grossratsbeschluss zum Verbot der Schulleitung und des Unterrichts durch Angehörige religiöser Orden im Februar 1884 von der stimmfähigen Bevölkerung des Kantons angenommen. Die katholische Schule Basels musste darauf ihre Tore für die rund 1300 Schülerinnen und Schüler schließen.208 Am Beispiel Basels lässt sich abschließend exemplarisch zeigen, dass die Abwehr gegenüber Katholikinnen und Katholiken nicht allein auf deren Konfession zurückzuführen war. Die Gründe dafür sind ebenso im schnellen sozialen Wandel und der hohen gesellschaftlichen Mobilität des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu suchen. So geht der Historiker Philipp Sarasin davon aus, dass 202 203 204 205 206 207 208

Ebd., S. 38. Vgl. zum Kulturkampf in Basel: P. Burckhardt, S. 315 und S. 326f. Jorio, Zwischen Rückzug und Integration, S. 106. Vgl. dazu: Jost, S. 36. Jorio, Zwischen Rückzug und Integration, S. 105f. P. Burckhardt, S. 315. Mooser, Konflikt und Integration, S. 247. P. Burckhardt, S. 326f.

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»der nackte Gegensatz von ländlichem Sozialisationshintergrund der Zugewanderten und der neuen grossstädtischen Realität« das eigentliche Konfliktpotential bildete, das wie zahlreiche andere Konflikte des 19. Jahrhunderts ins »Konfessionelle verdreht« wurde. So sei schließlich der konfessionelle Gegensatz zur Zeit des Kulturkampfes im Basel der 1880er Jahre »auf der Bühne der städtischen Politik sichtbar« geworden und nicht die »ländlichen Erfahrungen und die ländliche Kultur der Immigranten und Immigrantinnen«.209 Ob Philipp Sarasin die konfessionelle Dimension mit seiner Interpretation an dieser Stelle womöglich unterschätzt, sei dahingestellt. Fest steht, dass sich für die protestantische Mehrheit der missliebige Katholizismus mit den Vorstellungen von ländlicher Kultur und sozialer Unterschicht durch die Zuwanderung zahlreicher katholischer Arbeitsuchender aus ländlichen Gegenden der Schweiz und des Auslands vermischte.210

10. Soziale Grenzen der Rechtsgleichheit Der schweizerische Bundesstaat von 1848 setzte, wie auch das Beispiel der schweizerischen Katholiken zeigt, nicht nur kulturelle, sondern auch »soziale Grenzen der Rechtsgleichheit«.211 So war die Wahrnehmung der freiheitlichen und politischen Rechte an materielle Bedingungen geknüpft, die vor allem Schweizer Männer unterer Einkommensklassen, beispielsweise Arbeiter, Tagelöhner, Gesellen, Dienstboten, Knechte, oder Arbeitslose davon ausschlossen. 212 Die sozialen Grenzen der Rechtsgleichheit fanden sich in der Bundesverfassung zwar weniger offenkundig wieder wie etwa der Ausschluss der Juden, »aber doch wirksam im Gestrüpp der Einzelbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit bzw. die Gewerbefreiheit und das Wahlrecht«.213 Zunächst musste sich ein Schweizer, wenn er die Niederlassungsfreiheit erhalten wollte, gemäß Artikel 41 der Bundesverfassung »auf Verlangen« darüber ausweisen können, »dass er durch Vermögen, Beruf oder Gewerbe sich und seine Familie zu ernähren im Stande sei.«214 Derselbe Artikel hielt zudem fest,

209 Alle Zitate: Sarasin, Stadt der Bürger, S. 35. 210 Mooser, Konflikt und Integration, S. 229. 211 Ders., Eine neue Ordnung, S. 51. 212 Vgl. zum Begriff »soziale Schicht« das Kapitel »Traditionelle Kriterien des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses«. 213 Mooser, Eine neue Ordnung, S. 51. 214 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 12. Herbstmonat [September] 1848, Art. 41.

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dass Niedergelassene im Fall der Verarmung aus dem Kanton der Niederlassung weggewiesen werden konnten.215 Auch die politischen Rechte galten, wie oben ausgeführt, aufgrund der kantonalen Bestimmungen über das Aktivbürgerrecht und der Koppelung der politischen Rechte an die Niederlassungsfreiheit für gut ein Fünftel der grundsätzlich wahlberechtigten Männer nicht. Auf Kantonsebene kam es zudem vor, dass den schweizerischen Niedergelassenen die Ausübung der politischen Rechte systematisch erschwert wurde. Im Kanton Basel-Stadt mussten diese beispielsweise vier Wochen vor einer Wahl die entsprechenden Wahlausweise auf dem »Bureau für Niedergelassene« abholen. Hinzu kam, dass hier die Wahlen in den Bezirksversammlungen (im Gegensatz zu den Wahlen in den Zünften) an Werktagen stattfanden, was Arbeitern eine Teilnahme unmöglich machte. Weiter galt in Basel-Stadt das Passivwahlrecht bis zur Bundesverfassung von 1874 nicht für männliche Dienstboten.216 Noch im Jahr 1871 bemerkte Albert Bitzius, der Sohn des bedeutenden Schweizer Schriftstellers Jeremias Gotthelf, dass die schweizerische Bundesverfassung von 1848 »nur für die Hablichen, nicht für den Armen und nicht für den Arbeiter«217 da sei. So reiße »die mit Stimmrechten so freigebige Bundesverfassung« den in einem anderen Kanton niedergelassenen Schweizer im Fall einer dauernden Unterstützungsbedürftigkeit »von seinem Wohnort fort und transportirt ihn unerbittlich heim. Um gegen dieses Schicksal aufzukommen, um sich in den Tagen seiner Arbeitsfähigkeit ein Plätzchen zu sichern, wo man sein Haupt hinlegen und sterben kann, gibt es in der Schweiz kein anderes Mittel als Geld, viel Geld – ohne Geld kein Schweizer und kein Schweizerbürgerrecht.«218 Zudem monierte Bitzius wortgewaltig die für Arbeiter fehlende politische Staatsbürgerschaft: »Seit vierzig Jahren füttern wir nun diese Letztern mit den Leckerbissen imaginärer politischer Rechte und möchten sie dadurch vergessen machen, dass sie kein Brot haben, dass sie heimathlos sind im eigenen Vaterland.«219 Die »grosse Kluft« zwischen Anspruch und Wirklichkeit und die »›demonstrative Nachlässigkeit‹ des Bundesrates gegenüber seinen eigenen Normen« deutet Josef Mooser als bewusst in Kauf genommenen Ausschluss unterer sozialer Schichten von der politischen Staatsbürgerschaft. So sei die Überzeugung weit verbreitet gewesen, dass erst »Bildung und materielle Selbständigkeit … eine eigenständige Urteilsbildung erlauben würden.«220 Eine staatlich organisierte Volksbildung, das heißt der unentgeltliche Primarschulunterricht, wur215 216 217 218 219 220

Ebd. P. Burckhardt, S. 278f. Reformblätter aus der bernischen Kirche, S. 142. Ebd., S. 159. Ebd. Beide Zitate: Mooser, Eine neue Ordnung, S. 52.

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de jedoch erst infolge der demokratischen Bewegung der 1860er Jahre mit der Bundesverfassung von 1874 etabliert.221

11. Heimatlose und Nicht-Sesshafte nach der Zwangseinbürgerung: Das Beispiel Einsiedeln Über das Leben der nicht-sesshaften Bevölkerung nach ihrer Zwangseinbürgerung im Zuge des Heimatlosengesetzes von 1850 ist wenig bekannt. In welchem Umfang Nicht-Sesshafte ihre bisherige Lebensweise aufgaben, wie sich ihr Verhältnis zu den alt eingesessenen Bürgern gestaltete, welche Formen der Subsistenz sie wählten und ob sie vom Integrationsangebot des Bundesstaats Gebrauch machen konnten, sind Fragen, die aufgrund der Quellenlage bisher nur ansatzweise beantwortet werden konnten. 222 Bekannt ist zwar, dass viele der eingebürgerten Nicht-Sesshaften unter anderem auch aufgrund der großen Massenarmut der 1840er und 1850er Jahre nicht die Möglichkeit besaßen, ihren Unterhalt mit einer sesshaften Lebensweise zu bestreiten. Weitere Schwierigkeiten resultierten aus der oft willkürlichen Zuteilung eines Gemeindebürgerrechts durch die Kantone, dem Verhältnis zu den sesshaften Mitbürgern, der Trennung vom Konkubinatspartner oder den Versuchen kommunaler und kantonaler Behörden, die ehemaligen Heimatlosen mit einer finanziellen Abfindung zur Auswanderung nach Übersee zu bewegen.223 Größtenteils aber verlieren sich die Spuren der heimatlosen und nicht-sesshaften Personen nach deren Zwangseinbürgerung in den behördlichen Akten.224 Vor dem Hintergrund der wenigen Dokumente über das Leben der zwangsweise eingebürgerten nicht-sesshaften Personen nach 1850 legt das so genannte »Stammbuch« von Einsiedeln ein außergewöhnliches und bisher weitgehend unbekanntes Zeugnis ab. Das Stammbuch stellt ein Familienregister der Heimatlosen dar, die im Jahr 1851 dem Bezirk Einsiedeln im Kanton Schwyz zur Einbürgerung zugeteilt wurden.225 Bis ins Jahr 1867 finden sich darin re221 Vgl. dazu: Gruner, S. 159f. 222 Vgl. dazu: Meyer. 223 Vgl. dazu: Meier/Wolfensberger, S. 496, S. 498f. und S. 511–523, sowie Gruner, S. 20. 224 Meier/Wolfensberger, S. 523. 225 Gemeindearchiv Einsiedeln/Zivilstandsamt der Gemeinde Einsiedeln, M I 4.1, Burger (Neuburger) Vagabunden-Verzeichnis gem. Einbürgerungsverordnung, vom 26./27 November 1851. Das später transkribierte und hier in der Maschinenabschrift des Einsiedler Zivilstandsbeamten Paul Henseler vorliegende Personenverzeichnis beruhte auf einer 1854 erschienenen »Controlle über die eingetheilten Heimatlosen« (so der Hinweis im Stammbuch auf Seite 4f.). Der ursprüngliche Verfasser ist aus der Abschrift nicht zu eruieren. Das Original des Stammbuchs befindet sich laut Register des Gemeindearchivs Einsiedeln unter dem Standort M II 3. Die fol-

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gelmäßig Einträge zu insgesamt 28 Familien, zu ihrer Lebensweise, ihren Beziehungen, ausgestellten Schriften, Zivilstandsangelegenheiten oder strafrechtlichen Verurteilungen. Der Großteil der verzeichneten Personen, die nun euphemistisch »Neubürger« genannt wurden, hatte bis zur Zwangseinbürgerung eine nicht-sesshafte Lebensweise geführt. Der Kanton Schwyz war in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Agrarkanton. Gleichzeitig ist das Bild von Einsiedeln als einer in sich geschlossenen, agrarischen Dorfgemeinschaft zu relativieren: Kloster und Markt machten Einsiedeln zu einem Anziehungspunkt für zahlreiche Pilger und Marktfahrer. Möglicherweise war auch die häufige Anwesenheit von ortsfremden Menschen ein Grund, weshalb die Einsiedler Behörden über die ihnen zugewiesenen »Neubürger« besonders genau Buch führten.226 Das Stammbuch beginnt mit folgenden Worten: »Die in vorstehender Kontrolle verzeichneten Individuen sind diejenigen, welche laut Verordnung über Einbürgerung der Heimatlosen im Kanton Schwyz vom 26./27. November 1851 im hiesigen Bezirke eingebürgert wurden und somit nie in den vollen Besitz des hiesigen Bürgerrechtes gelangt sind. Man nennt diese Bürger jetzt am bezeichnetsten ›Neubürger‹, da man sie doch als eine eigene Klasse der Bevölkerung bezeichnen will und bezeichnen muss, denn durch ihre Lebensweise unterscheiden sie sich von der übrigen Bevölkerung so auffallend, dass man wirklich Grund genug hat, ein besonderes Stammbuch für dieselben einzurichten und fortzuführen. … [D]as Vagabundieren ist ihnen gleichsam angeboren und wird ihnen auch schwer abzubringen sein.«227 Zu den »Neubürgern« zählten also die eingebürgerten Heimatlosen. Deutlich wird jedoch, dass der Schreiber diese rechtliche Definition unter Hinweis auf das »angeborene Vagabundieren« mit einer kulturellen und gleichzeitig biologistischen Definition kombinierte. Daher war es zweitrangig, ob die im Stammbuch verzeichneten Personen nach der Einbürgerung ihre fahrende Lebensweise aufgaben. In der Wahrnehmung des Schreibers blieben diese Menschen »Vagabunden«. So hielt er beispielsweise über einen »Neubürger« fest: »Obschon eine echte Vagabundennatur, wie seine Geschwister, konnte er es doch dazu bringen, dass ihm genden Ausführungen stützen sich auf die Maschinenabschrift von Paul Henseler. Offensichtliche Tippfehler werden stillschweigend korrigiert. Die Identität der Personen wurde durch die Wahl veränderter Initialen anonymisiert. Der Autorin sind die Namen bekannt. 226 Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Schilderungen im Einsiedler Stammbuch auch für andere Regionen der Schweiz gelten, insbesondere nicht für städtische Zentren. In anderen Agrarkantonen der Schweiz herrschten aber möglicherweise ähnliche Bedingungen. So hielt der Schreiber des Stammbuchs fest: »Was von unsern Neubürgern gesagt wird, gilt so ziemlich für diejenigen der übrigen Bezirke und der gesamten Schweiz; denn es gibt deren überall eine bedeutende Zahl, wenn auch nicht, etwa mit Ausnahme des Kantons Bern, überall soviel wie im hiesigen Kanton.« Ebd., S. 3. 227 Ebd., S. 1 (Hervorhebung im Original).

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vom h. Bezirksrathe im vergangenen Jahre die Verehelichung mit der M. von Schübelbach bewilligt wurde. … Seit ca. einem Jahre hält er sich mit Familie auf dem Birchli auf und soll fleissig arbeiten.«228 Das Stammbuch ist von einer Mischung aus menschlicher Anteilnahme und äußerster Geringschätzung gegenüber den »Neubürgern« geprägt. Die negativen Verhaltensweisen, die der Verfasser dieser Bevölkerungsgruppe zuschrieb, erklärte er mit dem nicht vollwertigen Bürgerstatus und den unsicheren Lebensverhältnissen der betroffenen Personen. Er schrieb: Da die »Neubürger« »mit Korbflechten für ihre oft grossen Haushaltungen zu wenig verdienen & zum grossen Theil auf den Bettel angewiesen sind, so leiden sie oft Hunger & kennen gegentheils, wenn sie etwas Geld besitzen in Fress oder Fütterei und namentlich im Schnapstrinken, kein Mass. Bei dieser wilden und unregelmässigen Lebensweise sind sie in Zucht und Sitte sehr verkommen. Uneheliche Geburten bilden die Regel; die wenigen Ehen sind vom Staate nicht anerkannt, weil sie nicht mit Zustimmung des Staates geschlossen sind. […] Untugenden, die die Neubürger als eine gesunkene Menschenklasse kennzeichnen, wie die Angeberei bei der Polizei sind nur die traurigen Folgen ihrer bürgerlichen Stellung.«229 In der Figur des »Neubürgers« vereinigten sich an dieser Stelle die gegensätzlichen Topoi der Armut und der Maßlosigkeit. Diese Ambivalenz erinnert an die Ausführungen des Soziologen Zygmunt Bauman zur »Ambivalenz des Fremden«: Jegliche Form von Ambivalenz verunsichere und bedrohe die Menschen. Das »Fremde« verkörpere diese Ambivalenz, während der Gegensatz zwischen »Freund« und »Feind« die Welt deutbar mache. Der Fremde dagegen setze als »Unentscheidbares« der »ordnenden Macht der Gegensätze ein Ende« und verwische die Grenzlinie, »die zur Konstruktion partikularer sozialer Ordnungen und partikularer Lebenswelten lebensnotwendig« seien.230 Unter diesen Vorzeichen betrachtet, blieben die Einsiedler »Neubürger« in ihrer wahrgenommenen Ambivalenz »Fremde«, obwohl sie nun als Schweizer, Schwyzer und Einsiedler Bürgerinnen und Bürger zu den »Eigenen« gehörten. Die Bezeichnung »Neubürger« markiert daher nicht nur die rechtliche Sonderstellung zwischen »Heimatlosen« und »Bürgern«, sondern auch die ihnen gegenüber empfundene Ambivalenz, das Gefühl der »Fremdheit«. Im Verlauf der Jahre löste sich die beschriebene Ambivalenz im Stammbuch auf. Während sich der Schreiber im einleitenden Teil noch um eine aufgeklärte und ausgewogene Betrachtung bemüht hatte, wurden die Einträge immer verächtlicher. Oft betrafen diese Bemerkungen weibliche »Neubürger« im Zusammenhang mit Mutterschaft, Partnerschaft oder Heirat. So hieß es in 228 Ebd., S. 8. 229 Ebd., S. 2f. 230 Alle Zitate: Bauman, S. 26 und S. 31.

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einem Eintrag vom 11. November 1862: »Laut Bericht vom löbl. Bezirksammannamtes Schwyz ist diese Person, die uns gleichzeitig polizeilich zugeführt wurde, schwanger, nachdem sie seit dem Jan. h.a. mit einem K. im Concubinate gelebt hatte. Also auch diese fast 40 jährige schielende u. fast blödsinnige Person hat noch einen Liebhaber gefunden!«231 Überhaupt waren es die Frauen, die von ihrem Status als »Neubürger« am wenigsten profitierten: Sie erhielten keine bürgerlichen Rechte wie die männlichen »Neubürger« und sie gerieten schneller in Verdacht, sich der bürgerlichen Moral nicht unterzuordnen. Dies zeigt sich etwa darin, dass bei den Einträgen im Stammbuch zu Heirat, Konkubinat und Prostitution hauptsächlich die weiblichen »Neubürger« im Zentrum der behördlichen Kritik standen. Hinzu kamen rechtliche Normen, deren negative Folgen vor allem Frauen betrafen: Um das Reproduktionsverhalten der ärmeren Bevölkerungsschichten zu beeinflussen, verweigerte der Kanton Schwyz finanzschwachen Personen auch nach 1850 die Heirat. Gleichzeitig war das Zusammenleben im Konkubinat verboten.232 In der Folge gerieten Frauen bei unehelichem Geschlechtsverkehr prinzipiell unter Verdacht, sich zu prostituieren. Ein Eintrag im Stammbuch vom 21. Juni 1860 hielt diesbezüglich fest: Diese »beiden Erzdirnen wurden heute abermals wegen unsittlichem Lebenswandel von Pfeffikon her transportiert u. einstweilen im Spitale zur Entgegennahme von etwelchen Ruthenstreichen verwahrt.«233 Aber auch den männlichen »Neubürgern« brachte der Status als Bürger nur wenige Vorteile. Durch die Einbürgerung erhielten sie zwar neue wirtschaftliche Möglichkeiten: Im Besitz eines Heimatscheins konnten sie sich in anderen Kantonen der Schweiz niederlassen und arbeiten. Doch viel weiter gingen die integrativen Maßnahmen nicht. Die Unterstützungsleistungen halfen kaum, einen Ausweg aus der Armut zu finden, in der sich zahlreiche »Neubürger« befanden. So erstaunt es wenig, dass Nicht-Sesshaftigkeit und Betteln die beiden Verhaltensweisen waren, die im Stammbuch am häufigsten angemahnt wurden. Mit Datum vom 17. Juni 1861 ist dazu zu lesen: »V. zeigt heute beim Bezirksammann auch an, dass sie schwanger sei u. zwar in folge verbotenem Unfanges (sic) mit G., Neubürger von Sattel, mit dem sie vagabundierte. Die Mühe und Kosten der Armenpflege, die Person die sonst anscheinend gutes versprach, Seidenweber zu lernen u. so auf einen festen Wohnsitz zu kommen, fruchteten also nicht.«234 231 Gemeindearchiv Einsiedeln/Zivilstandsamt der Gemeinde Einsiedeln, M I 4.1, Burger (Neuburger) Vagabunden-Verzeichnis gem. Einbürgerungsverordnung, vom 26./27 November 1851, S. 44. 232 Vgl. dazu: Meier/Wolfensberger, S. 56–58. 233 Gemeindearchiv Einsiedeln/Zivilstandsamt der Gemeinde Einsiedeln, M I 4.1, Burger (Neuburger) Vagabunden-Verzeichnis gem. Einbürgerungsverordnung, vom 26./27 November 1851, S. 37. 234 Ebd., S. 41.

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Schließlich machen Bemerkungen im Einsiedler Stammbuch über verstorbene Kinder der »Neubürger« deutlich, wie weit die Verachtung gegenüber dieser Personengruppe gehen konnte. Viermal finden sich Bemerkungen, die den Tod von Kindern begrüßten. So hieß es beispielsweise im November 1851: »Von demselben B. hatte sie ferner die A. eine durch und durch nichtsnutzige und namentlich sehr sittenlose Person. Von zwei unbekannten Vätern erzeugte sie zwei Kinder; die glücklicherweise gestorben sind.«235 Insgesamt legt das Einsiedler Stammbuch Zeugnis davon ab, dass die fortdauernde gesellschaftliche Segregation der »Neubürger« durch die Einsiedler Behörden die gouvernementale Integrationspolitik des jungen, liberalen Bundesstaats unterwanderte. Die »Neubürger« konnten die verordnete staatsbürgerliche Integration des Bundes zwar teilweise nutzen, zugleich bestimmte weiterhin die Abwehr der lokalen Behörden und der Gemeinschaft der alt eingesessenen Bürger ihr Leben.

12. Fazit: Von der »unvollständigen« zur »korporativen Bürgergesellschaft« Die geschilderten Ausschließungs- und Integrationsdynamiken in den Jahrzehnten nach der Bundesstaatsgründung machen deutlich, dass der junge Bundesstaat nur eine »unvollständige Bürgergesellschaft«236 etablierte. Von den in der Bundesverfassung verankerten staatsbürgerlichen Rechten profitierten ausschließlich die männlichen, sesshaften und mittelständischen Schweizer christlicher Religion. Dass die bundesstaatlichen Integrationsbemühungen und Exklusionsdynamiken einerseits mit den traditionellen Kategorien des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses konfligierten, diese andererseits aber auch weiterführten, fordert nach einer differenzierten Bewertung der Rolle der Bundesstaatsgründung für die schweizerische Bürgergesellschaft. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass mit der Bundesstaatsgründung die Bestrebungen der Regenerationskantone, den liberalen Gleichheitsgrundsatz politisch umzusetzen, dynamisiert wurde. Die Argumentationsfolie der liberalen Bundespolitiker bildete dabei die Vorstellung von der schweizerischen Nation als einer Nation der gleichberechtigten Staatsbürger. Das bundesstaatliche Gleichheitsparadigma wurde jedoch von zwei Bewegungen unterwandert. Zum einen standen seiner Umsetzung in zahlreichen Fällen kantonale und kommunale Widerstände, populistische Protestbewegungen, die patriar235 Ebd., S. 9. 236 Mattioli, Die Schweiz und die jüdische Emanzipation, S. 73.

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chale Geschlechterordnung, judenfeindliche und antikatholische Abwehrreflexe und mittelständische Konkurrenzängste entgegen. Während der Bund und teilweise die Kantone versuchten, verschiedene Bevölkerungsgruppen wie zunächst die Heimatlosen und Nicht-Sesshaften sowie die Katholiken, später auch die Schweizer Juden, den sesshaften und protestantischen beziehungsweise christlichen Schweizer Männern gleichzustellen, hielten oft die Gemeinden am bürgerrechtlichen Ausschluss dieser Gruppen fest. Aber auch für die Bundespolitiker galt 1848 »der ortsansässige, lokal stabile, persönlich unabhängige, mit Besitz und einer gewissen Bildung ausgestattete, in die christliche Kultur eingebettete Hausvater« 237 als Bürger. Der Ausschluss der Frauen, Juden und Unterschichten von den freiheitlichen und politischen Rechten war daher, mit Barbara Weinmann gesprochen, in der republikanischen und kommunalistischen »Denktradition« begründet, in der »der Mittelstand, d.h. die kleinen Handwerker, Händler und Bauern als Kern der Bürgerschaft« galt.238 Zum andern war dem Gleichheitsparadigma des Bundes eine eigene Logik des Ausschlusses inhärent: Während »Gleiche« in die liberale und politische Staatsbürgernation eingeschlossen wurden, konnten »Ungleiche« wie etwa Frauen oder Juden davon ausgeschlossen werden. Bei der Definition der »Gleichen« und »Ungleichen« griffen die Verfassungsväter und Bundespolitiker aber nicht nur auf die alte Vorstellung vom Bürger als christlichem Hausvater zurück. Vielmehr, so lässt sich in Weiterführung der Überlegungen von Josef Mooser und Barbara Weinmann festhalten, verschmolzen diese herkömmlichen Vorstellungen des Bürgers mit der Vorstellung von einem mit freiheitlichen und politischen Rechten ausgestatteten Staatsbürger einer modernen Staatsbürgernation. Entsprechend vermischten sich in der Vorstellung des »männlichen Bürgers« zunächst die in der Geschlechtsvormundschaft aufrecht erhaltene ständische Rechtsstellung der Frauen mit dem modernen, anthropologisch unterfütterten Geschlechterdualismus. Sodann fanden sich in der Vorstellung vom »christlichen Bürger« Anteile einer traditionellen, christlichen Judenfeindschaft gepaart mit den antimodernistischen Reflexen eines nationalistischen – und vor allem im Fall des Kantons Aargau katholischen – Antisemitismus wieder.239 Schließlich verbanden sich in der Vorstellung des »mittelständischen Bürgers« traditionelle, armenrechtlich motivierte Abwehrreflexe mit dem auf klärerischen Argument, dass Unterschichten erst durch eine adäquate Bildung ihre Unmündigkeit hinter sich lassen und zu vollwertigen Mitgliedern der politischen Staatsbürgernation werden konnten.

237 Mooser, Eine neue Ordnung, S. 53. 238 Beide Zitate: Weinmann, S. 334. 239 Dieses Argument wurde von wirtschaftlichen Überlegungen flankiert. Vgl. dazu: Mattioli, Die Schweiz und die jüdische Emanzipation, S. 72.

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Mit der Bundesstaatsgründung von 1848 mischten sich also in Fragen des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses moderne mit althergebrachten Argumentationsmustern. In diesem Sinn sind der bürgerrechtliche Ein- und Ausschluss nach 1848 auch als Teil einer schwachen schweizerischen Zentralgewalt und der liberalen Regierung zu lesen. Diese Deutung lässt sich mit einem Blick zurück in die Zeit der Helvetik erhärten: Der zentralistische Einheitsstaat war am rigorosen Bruch mit den tradierten Herrschaftsformen der Gemeinden und Kantone gescheitert. Anders als 1798 gehörte jetzt, im Jahr 1848, die Suche nach einem sinnvollen Ausgleich zwischen Alt und Neu, zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden, zwischen Wirtschaftsliberalismus und »mittelständische[r] Marktgesellschaft«, 240 zwischen Ausschluss und Einschluss zum Inbegriff eines funktionstüchtigen und stabilen Bundesstaats.241 In diesem Rahmen lässt sich auch über eine ideologie- und ideengeschichtliche Perspektive hinaus erklären, weshalb ausgerechnet die beiden Gruppen der Heimatlosen und Katholiken im Jahr 1848 in die nationale Gemeinschaft der gleichberechtigten Staatsbürger integriert wurden, obwohl beide Bevölkerungsgruppen in der sesshaften und protestantischen Mehrheitsbevölkerung noch immer auf breite Ablehnung stießen. Einerseits waren die liberalen Bundesstaatsgründer bestrebt, die staatliche Kohäsion nicht unnötig zu gefährden und entsprechend das Konfliktpotenzial des Konfessionalismus so weit als möglich zu entschärfen; eine Haltung, die zwischen den 1860er und 1870er Jahren in ähnlicher Weise zur Integration der Juden (allerdings auf Druck des Auslandes) und der sesshaften Unterschichten in die politische Staatsbürgernation führen sollte. Bei der rechtlichen Gleichstellung der Heimatlosen durch das Heimatlosengesetz von 1850 hatten die Bundespolitiker andererseits die Stellung der Schweiz im damaligen Europa vor Augen: Zu einem ernst zu nehmenden Bundesstaat gehörte ein klar definiertes Staatsvolk. Das bis dahin nicht gelöste Problem der schweizerischen Heimatlosen, das die Tagsatzung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder beschäftigt hatte, bildete jetzt die Nagelprobe für die Funktionstüchtigkeit des Bundes. Insofern kann die These formuliert werden, dass die Integration der Heimatlosen und Nicht-Sesshaften in den Augen des Bundes mehr die Lösung eines dringlichen staatlichen Transformationsproblems darstellte und erst in zweiter Linie die Lösung eines sozialen Problems. In ähnlicher Weise spielten bei der Durchsetzung der staatsbürgerlichen Emanzipation der Juden außenpolitische und ökonomische Sicherheitsüberle240 Ebd. 241 »Die wichtigste Aufgabe des neuen Bundesstaates und der in ihm herrschenden liberalradikalen Kräfte war nach 1848 die Sicherung der erreichten Systemänderung nach aussen und innen, kurz die Absicherung der Revolution.« A. Tanner, S. 65.

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gungen des Bundes eine tragende Rolle. Die Gefährdung des schweizerischen Außenhandels und der diplomatischen Beziehungen wog schwerer als der massive Widerstand der Gemeindebehörden der Aargauer »Judendörfer« und der aufgebrachten Aargauer Bevölkerung. Die Schweizer Frauen konnten dagegen noch lange von den staatsbürgerlichen Rechten ausgeschlossen bleiben; ihr Ausschluss von der politischen Staatsbürgerschaft und ihre Ungleichstellung in zivilrechtlichen Belangen gefährdeten weder die innere staatliche Kohäsion noch die äußere Sicherheit der Schweiz. In manchen Punkten hatte sich die Situation schließlich ein viertel Jahrhundert später verändert: Mit der revidierten Bundesverfassung von 1874 wurde das liberale Konzept bürgerlicher Freiheit und Gleichheit stärker durchgesetzt als im Jahr 1848. So garantierte die Bundesverfassung erstmals die Handels- und Gewerbefreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie das Recht auf Ehe. 242 Ebenso wurde die Kultusfreiheit nun auch den Schweizer Juden gewährt und die Niederlassungsfreiheit auf mehr Schweizer ausgedehnt:243 Um sich in einem Kanton niederzulassen, mussten die betreffenden Personen gemäß Artikel 45 jetzt lediglich einen Heimatschein oder eine gleichwertige Ausweisschrift besitzen. Das in der Verfassung von 1848 geforderte »Zeugnis sittlicher Aufführung« und die Bescheinigung, dass der Betreffende nicht strafrechtlich verurteilt war, fielen weg. Ebenso fehlte die Bedingung von 1848, dass ein kantonsfremder Schweizer »sich und seine Familie zu ernähren im Stande« sein musste.244 Weiter verband die neue Bundesverfassung von 1874 ausgeprägter als zuvor Elemente des politischen Liberalismus mit Elementen des klassischen Republikanismus, der auf direktdemokratische Partizipationsrechte setzte: Zunächst wurden die demokratischen Volksrechte – vermittelt über die Erweiterung der Niederlassungsfreiheit – auf breitere männliche Bevölkerungsschichten ausgedehnt. Weiter führte die Bundesverfassung von 1874 das republikanische, direktdemokratische Element des fakultativen Referendums für Bundesgesetze und allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse ein. Es bildete in der Folge ein wichtiges Instrument für parlamentarische Minderheiten gegen die Vormacht des politischen Freisinns.245 Im Jahr 1891 wurde es durch die Einführung der 242 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 29. Mai 1874, Art. 31, 49 und 54. 243 Ebd., Art. 50 und 45. 244 Beide Zitate: Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 12. Herbstmonat [September] 1848, Art. 41, Abs. 1. Dieser Passus war schon bei der Teilrevision der Bundesverfassung im Jahr 1866 gestrichen worden, und zwar zusammen mit der Bedingung der christlichen Religion sowie der Bestimmung, dass eingebürgerte Schweizer während fünf Jahren nicht die freie Niederlassung besitzen. W. Burckhardt, Kommentar, S. 387. 245 Mit der in der Verfassung verankerten »Dringlichkeitsklausel« konnte das fakultative Referendum allerdings umgangen werden. Die Klausel hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Gesetzesreferendum »auf kaltem Wege« beseitigt. Historisches Lexikon der Schweiz, »Bundesverfassung (BV)«.

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Initiative für die Partialrevision der Verfassung ergänzt. Und schließlich wurde die Bestimmung eingeführt, dass die niedergelassenen Schweizer Bürger an ihrem Wohnsitz die politischen Rechte nicht mehr nur in kantonalen, sondern auch in kommunalen Angelegenheiten wahrnehmen konnten, und zwar nach drei Monaten der Niederlassung. Auf kommunaler Ebene waren sie jetzt nur mehr von der Nutzung des Bürgerguts sowie vom Stimmrecht in rein bürgerlichen Angelegenheiten ausgenommen.246 In krassem Gegensatz zu den Artikeln, welche die staatsbürgerlichen Rechte erweiterten oder auf weitere Bevölkerungskreise ausdehnten, stand der fortgesetzte Ausschluss der Frauen von der rechtlichen Gleichstellung.247 In Anbetracht dessen und der erweiterten freiheitlichen und politischen Rechte in der revidierten Bundesverfassung von 1874 kann abschließend auch auf Bundesebene von der Konstituierung einer »korporativen Bürgergesellschaft«248 gesprochen werden, einer Bürgergesellschaft notabene, die noch lange eine männliche bleiben sollte.

246 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 29. Mai 1874, Art. 43, Abs. 4. 247 Die 1868 gegründete »Association internationale des femmes« hatte »vergeblich die zivilrechtliche und wirtschaftliche Gleichstellung der Geschlechter« gefordert. Joris, Geschlechtshierarchische Arbeitsteilung, S. 191. Vgl. dazu: Wecker, Zwischen Ökonomie und Ideologie, S. 307f. Einzig die Arbeiterinnen profitierten im Zuge der Bundesverfassung von 1874 von den Bestimmungen zum Arbeiterinnenschutz und in der Folge vom eidgenössischen Fabrikgesetz von 1877. 248 Weinmann, S. 358.

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V. Das Schweizer Bürgerrecht und die Ausländer I: Kontrolle und Integrationsversuche 1874–1914 Die Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung im Jahr 1874 brachte einen doppelten Wandel im Bereich des Schweizer Bürgerrechts. Zum einen gelang es dem Bund, seine Zuständigkeit bei den Staatsangehörigkeitsregelungen zu erweitern. Zum anderen gerieten damit neu Ausländerinnen und Ausländer als relevante Gruppe bundesstaatlicher Bürgerrechtspolitik in den Blick. Nicht mehr die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten der Schweizer Männer oder die Einbürgerung der Heimatlosen und die Beseitigung der Nicht-Sesshaftigkeit standen jetzt im Zentrum der bundesstaatlichen Bürgerrechtspolitik, sondern die Bedingungen für den Erwerb des Schweizer Bürgerrechts von Ausländerinnen und Ausländern. Die folgenden Kapitel behandeln die Zeit zwischen 1874 und 1914. Während dieser Zeit durchlief das Schweizer Bürgerrecht zwei verschiedene Phasen. Das Gesetz von 1876 ermöglichte es dem Bundesrat, das Schweizer Bürgerrecht als Kontrollinstrument bei der Einbürgerung von militärpflichtigen Ausländern zu nutzen, um Konflikte mit dem Ausland zu vermeiden. Mit dem Bürgerrechtsgesetz von 1903 strebten die Bundesbehörden danach, die in der Schweiz ansässigen Ausländerinnen und Ausländer mittels erleichterter Einbürgerung in die schweizerische Bürgergesellschaft zu integrieren. Ihre Zahl sollte auf diese Weise verringert werden. Das Scheitern der Liberalisierungsbestrebungen vor dem Ersten Weltkrieg rief schließlich intermediäre Akteure wie Kantonspolitiker, Juristen und private Organisationen auf den Plan, um die Staatsangehörigkeitspolitik des Bundes in die gewünschten Bahnen zu lenken.

1. Das Schweizer Bürgerrecht in der Bundesverfassung von 1874 Die Bestrebungen zur Revision der schweizerischen Bundesverfassung begannen gegen Ende der 1860er Jahre infolge der demokratischen Bewegung. Diese hatte im Jahr 1869 in Zürich zur Revision der kantonalen Verfassung geführt und gleichzeitig die Verfassungsrevision auf Bundesebene in Gang gebracht. Die demokratische Bewegung wurde vor allem vom gewerblich-bäuerlichen 155 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

Mittelstand getragen und setzte sich dafür ein, das vom Freisinn dominierte politische Repräsentativsystem durch direktdemokratische Einrichtungen zu ergänzen und dem Bund mehr Kompetenzen einzuräumen. Doch die Revision der Bundesverfassung scheiterte in einem ersten Anlauf im Jahr 1872 am Referendum.1 Die Revisionsvorlage war aufgrund der zahlreichen zentralistisch ausgerichteten Bestimmungen nicht mehrheitsfähig gewesen. Hauptsächlich hatten die Föderalisten aus der Romandie und die Katholisch-Konservativen zur Vereitelung der Revision beigetragen.2 Die Befürworter einer zentralistisch ausgerichteten Bundesverfassung erkannten nach der Ablehnung der ersten Revisionsvorlage von 1872, dass sie die antikatholischen Argumente stark machen mussten, um breite protestantische Bevölkerungskreise von der Notwendigkeit der Revision zu überzeugen. Dabei kam den Revisionsbefürwortern das erste Vatikanische Konzil im Jahr 1870 mit dem Unfehlbarkeitsdogma des Papstes in Glaubensfragen entgegen, das vom Freisinn als fortschrittsfeindliche Provokation gegen das von ihm propagierte Staatskirchentum bewertet wurde.3 Mit verschiedenen Verfassungsartikeln zur Verschärfung der konfessionellen »Ausnahmebestimmungen« gegen die ultramontan ausgerichteten Katholiken sollte eine breite Basis von Revisionsbefürwortern geschaffen werden. Außerdem enthielt der neue Entwurf zahlreiche Kompromisse zwischen Zentralisierungsbefürwortern und Föderalisten. So wurden dem Bund 1874 weniger Kompetenzen in den Bereichen Armee, Recht und Schule zugestanden, als zunächst geplant gewesen war.4 Ebenso gingen die demokratischen Rechte weniger weit als im Entwurf von 1872. So enthielt der Verfassungsentwurf vom 31. Januar 1874 nur noch das fakultative Referendum für Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse, während der Entwurf vom 5. März 1872 auch das Initiativrecht für Schweizer Bürger und Kantone vorgesehen hatte.5 Mit diesen Änderungen ging die Rechnung der Revisionsbefürworter auf. Der neue Entwurf zur Totalrevision der schweize1 Die Abstimmung vom 12. Mai 1872 brachte ein Ergebnis von 260 895 zu 255 609 Volksstimmen und 13 zu 9 Standesstimmen. Historisches Lexikon der Schweiz, »Bundesverfassung (BV)«. 2 A. Tanner, S. 85. Vgl. dazu: Schaffner, Die Demokratische Bewegung, sowie Haller/Kölz, S. 229. 3 Jorio, Zwischen Rückzug und Integration, S. 105f. 4 Historisches Lexikon der Schweiz, »Bundesverfassung (BV)«, sowie Mattioli, Die Schweiz und die jüdische Emanzipation, S. 71. 5 Vgl. dazu: Protokoll über die Verhandlungen der eidgenössischen Räthe betreffend Revision der Bundesverfassung, 1873/1874, Beilage VII, Art. 85 des Enwurfs vom 5. März 1872, S. 208, sowie ebd., Art. 89 des Entwurfs vom 5. März 1872, S. 210, sowie ebd., Beilage XII, Art. 89 des Entwurfs vom 31. Januar 1874, S. 318. Besonders der Aargauer Bundesrat Emil Welti hatte sich im Jahr 1872 als kompromissloser Anwalt des Repräsentativsystems und gleichzeitig als »spiritus rector« (Staehelin, S. 180) des zentralistischen Revisionsversuches von 1872 gegen das fakultative Referendum zur Wehr gesetzt. Protokoll über die Verhandlungen des schweiz. Nationalrats betreffend Revision der Bundesverfassung 1870/71, Sitzung vom 24. Januar 1872, S. 439.

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rischen Bundesverfassung wurde am 19. April 1874 von Volk und Kantonen deutlich angenommen.6 Der Bund erweiterte mit der revidierten Bundesverfassung von 1874 die eigenen Kompetenzen in Fragen des Erwerbs des Schweizer Bürgerrechts. Schon beim ersten Revisionsentwurf bestand der Bundesrat in seiner Botschaft vom 17. Juni 1870 darauf, ein Mitspracherecht bei der Einbürgerung von Ausländern zu erhalten. Sein Anliegen begründete er damit, dass der Bund im Jahr 1848 »mehr aus praktischen, denn aus grundsätzlichen Gesichtspunkten« die Einbürgerung den Kantonen und Gemeinden überlassen habe. Laut Verfassung sei aber jeder Kantonsbürger Schweizer Bürger. Daher wäre das »logisch richtige Verhältnis … ein Zusammenwirken von Bund und Kantonen bei solchen Aufnahmen.«7 Die bundesrätliche Forderung stand in engem Zusammenhang mit dem Verkauf von Gemeindebürgerrechten an Ausländer, die der allgemeinen Wehrpflicht in ihrem Heimatstaat entgehen wollen. So wies der Bundesrat in seiner Botschaft auf das »seltsame Schauspiel« hin, »dass Agenten ihr Bürgerrecht in Deutschland wie einen Handelsartikel ausboten, dass geldgierige Gemeinden dasselbe wirklich massenhaft an Personen verschacherten, die sie in ihrem Leben nie gesehen, und dass Kantonsbehörden dann schwach genug waren, dieser Spekulation nicht entgegen zu treten.«8 Die dadurch entstandenen Konflikte mit auswärtigen Regierungen wollte der Bundesrat nun wirksamer als bisher verhindern. Um zu veranschaulichen, welche Dimensionen ein solcher Konflikt annehmen konnte, soll an dieser Stelle ein Blick auf die »Frankfurter Ausweisungsangelegenheit«9 geworfen werden. Im August 1870, nur zwei Monate nach Erscheinen der bundesrätlichen Botschaft, informierte das preußische Polizeipräsidium mehrere in Frankfurt lebende Familien darüber, dass gegen ihre minderjährigen Söhne, die das Schweizer Bürgerrecht erworben hatten, die Ausweisung verfügt worden sei.10 Betroffen waren 26 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen fünf und siebzehn Jahren, die in der Mehrzahl im Kanton Solothurn eingebürgert worden waren. Das preußische Polizeipräsidium begründete sein drastisches Vorgehen damit, dass das Verhalten der »Betroffenen darauf schließen lasse, die Entlassung aus dem 6 Die Abstimmung brachte ein Verhältnis von 340 199 Ja- zu 198 013 Nein-Stimmen. Zudem sprachen sich 13,5 Kantone für und 8,5 Kantone gegen die Vorlage aus. Historisches Lexikon der Schweiz, »Bundesverfassung (BV)«. 7 Beide Zitate: Botschaft des Bundesrathes an die h. Bundesversammlung, betreffend die Revision der Bundesverfassung vom 17. Juni 1870, S. 681. Vgl. dazu: W. Burckhardt, Kommentar, S. 410. 8 Botschaft des Bundesrathes an die h. Bundesversammlung, betreffend die Revision der Bundesverfassung vom 17. Juni 1870, S. 681. 9 Hier und im Folgenden: Geschäftskreis des Politischen Departements. 10 Frankfurt am Main war im Jahr 1866 von Preußen annektiert worden.

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preußischen Staatsverbande sei nur zu dem Zweke bewirkt worden, dieselben der allgemeinen Wehrpflicht zu entziehen.«11 Der Grund für diese Annahme war: Die Eltern von 25 der 26 eingebürgerten Kindern und Jugendlichen hatten das Schweizer Bürgerrecht nur für ihre Söhne erworben; die Eltern selbst waren Preußen geblieben. Die meisten der betroffenen Familien suchten in der Folge beim schweizerischen Bundesrat um Unterstützung nach – schließlich waren die Kinder und Jugendlichen jetzt Schweizer. Doch das mit der Sache betraute Politische Departement sah keine Veranlassung, sich für die eingebürgerten Schweizer in Frankfurt zu verwenden. Das Departement argumentierte, dass die Entlassung aus dem preußischen Staatsverband zum Zweck der Auswanderung geschehen sei. Doch gerade von der Auswanderung und Übersiedlung in die neue Heimat sei bei den Neubürgern nie die Rede gewesen. Ebenso wenig seien die Neubürger gewillt, ihre staatsbürgerlichen Pflichten in der Schweiz wahrzunehmen.12 In der Folge lehnte der Bundesrat eine Intervention zu Gunsten derjenigen Kinder und Jugendlichen ab, die ohne ihre Familien in der Schweiz eingebürgert worden waren.13 Damit setzte der Bundesrat die Umgehung des Konflikts mit der preußischen Regierung über das Recht seiner Bürger auf diplomatischen Schutz im Ausland. Zugleich schuf der Bundesrat auf diese Weise ein Präjudiz beim Erwerb des Schweizer Bürgerrechts: In der Schweiz eingebürgerte Kinder, die keinen Wohnsitz in der Schweiz besaßen und deren Eltern ausländische Staatsangehörige blieben, wurden vom Bundesrat nicht als vollwertige Schweizer anerkannt. Sechs Jahre später sanktionierte das Bundesgesetz von 1876 diese Praxis, indem es eine zweijährige Wohnsitzpflicht für die Einbürgerung in der Schweiz einführte. Trotz des Mahnrufs des Bundesrats vor Konflikten mit dem Ausland wurde während der Verhandlungen zur Revision der Bundesverfassung eine Kompetenzerweiterung des Bundes bei Einbürgerungen kontrovers diskutiert. Zunächst sprach sich die Revisionskommission des Nationalrats in ihrer Sitzung vom 10. März 1871 dagegen aus, da dieses »Verfahren mit Komplikationen verbunden wäre und den Betheiligten unnüze Kosten verursachen müsste«.14 Außerdem hielt die nationalrätliche Revisionskommission »aus politischen Gründen dafür, dass der Bundesrath sich mit solchen Kleinigkeiten nicht befassen solle, zumal solche Angelegenheiten besser durch die Parteien selbst [die Kantone, Gemeinden und Einbürgerungskandidaten], als auf diplomatische Wege ihre Erledigung finden.«15 Der Ständerat hingegen nahm einen entsprechenden 11 Ebd., S. 423. 12 Ebd., S. 425f. 13 Ebd., S. 426. 14 Protokoll über die Verhandlungen der im Juli 1870 mit Vorberathung der Revision der Bundesverfassung vom 12. September 1848 beauftragten Kommission des schweizerischen Nationalrats, 17. Sitzung vom 10. März 1871, S. 131. 15 Ebd. Vgl. dazu ebd., S. 39, S. 224 und S. 242.

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Antrag zur Erweiterung der Bundeskompetenz an, was in der Folge auch vom Nationalrat akzeptiert wurde.16 Einen Schritt weiter gingen die radikalen Mitglieder der Bundesversammlung in ihrem »Programm einer Revision der Bundesverfassung«17 vom Dezember 1869 und Januar 1870 sowie der Grütliverein Basel mit einer Eingabe vom 17. Oktober 1870.18 Beide forderten, dass ein einheitliches Schweizer Bürgerrecht eingeführt werde (Indigenat), was die Abschaffung des Gemeinde- und Kantonsbürgerrechts bedeutet hätte. Die Forderungen fanden jedoch keine Berücksichtigung.19 In den Revisionsverhandlungen der Jahre 1873/74 wurde die ursprüngliche Formulierung im Verfassungsentwurf vom 5. März 1872 zur Gesetzgebungskompetenz des Bundes übernommen. Der politisch links stehende Berner Nationalrat Pierre Jolissaint und der freisinnige Genfer Nationalrat Antoine Carteret stellten zudem den Antrag, dass der Bund auch für die Einbürgerung von Schweizern zuständig sein sollte. Carteret schlug sogar vor, Schweizer Bürgern das Recht auf Einbürgerung zu gewähren.20 Carteret kritisierte besonders die Gewohnheit der Bürgergemeinden, »den Umfang der Bürgerschaft möglichst zu beschränken.«21 Es sei »eine stossende Ungleichheit«, dass »der Reiche sich einbürgern könne, der Arme aber nicht …«.22 Der Vorschlag, die Befugnisse der Bürgergemeinde in Einbürgerungsfragen zu begrenzen, hatte jedoch keine Chance, ebenso wenig wie der Antrag von Nationalrat Jolissaint.23 Im Ständerat wurden keine Änderungsanträge gestellt.24 Somit blieb das Schweizer Bürgerrecht in der revidierten Bundesverfassung von 1874 über die Zugehörigkeit zu einem Kanton definiert (Artikel 43). Weiterhin galt auch das Verbot, einem Bürger das Bürgerrecht zu entziehen (Artikel 44, Absatz 1). Neu hingegen war die Bestimmung in Artikel 44, Absatz 2, dass der Bund den Erwerb des Schweizer Bürgerrechts und den Verzicht darauf gesetzlich regeln konnte. Die Verfassung hielt fest: »Kein Kanton darf einen Kantonsbürger aus seinem Gebiete verbannen (verweisen) oder ihn des Bürgerrechtes verlustig erklären. / Die Bedingungen für die Ertheilung des Bür16 Protokoll über die Verhandlungen des schweiz. Nationalrats betreffend Revision der Bundesverfassung 1871/72, Beilage VIII, S. 127. 17 Ebd., S. XVIIIf. 18 Eingaben zur Bundesrevision, S. 458. Vgl. dazu: Jahrbuch der sozialdemokratischen Partei, 1914, S. 6. 19 Vgl. dazu: Protokoll über die Verhandlungen des schweiz. Nationalrats betreffend Revision der Bundesverfassung 1871/72, Beilage VIII, S. 127. 20 Protokoll über die Verhandlungen der eidgenössischen Räthe betreffend Revision der Bundesverfassung, 1873/1874, 51. Sitzung des Schweizerischen Nationalrathes, 20. Dezember 1873, S. 98 f. 21 Ebd., S. 99. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 101. 24 Ebd., 20. Sitzung des Schweizerischen Ständerathes, 12. Dezember 1873, S. 332.

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gerrechtes an Ausländer, sowie diejenigen, unter welchen ein Schweizer zum Zweke der Erwerbung eines ausländischen Bürgerrechtes auf sein Bürgerrecht verzichten kann, werden durch die Bundesgesetzgebung geordnet.«25

2. Das Bundesgesetz von 1876: Wider Konflikte mit dem Ausland Mit dem ersten bundesstaatlichen Bürgerrechtsgesetz vom 3. Juli 1876 beschränkte der schweizerische Gesetzgeber seine neue Kompetenz, in das Staatsangehörigkeitsrecht einzugreifen, auf ein Minimum. Wie die Verfassung von 1874 stand auch der Gesetzgebungsprozess im Zeichen eines Ausgleichs zwischen Föderalismus und Zentralisierung. Allerdings spielte dieses Kompromissschema bei der Regelung des Verzichts auf das Schweizer Bürgerrecht und der Wiedereinbürgerung von Frauen und Kindern keine Rolle. In diesem Bereich konnte der Bundesrat die Erweiterung seiner Kompetenzen ohne Opposition aus den Kantonen und Gemeinden durchsetzen. Den Gesetzesentwurf zum ersten bundesstaatlichen Bürgerrechtsgesetz erarbeitete der zum Bundesrichter berufene, ehemalige Zürcher National- und Bundesrat Jakob Dubs in seiner Funktion als juristischer Experte des Bundes. 26 Dabei stand die Verhinderung von Konflikten mit dem Ausland im Zentrum seiner Überlegungen. Als Verfechter des föderalistischen Gedankens ließ sich der Bundesrichter gleichzeitig vom Ziel leiten, die Eingriffe des Bundes im Bereich des Schweizer Bürgerrechts so gering wie möglich zu halten. Dubs’ Gesetzesentwurf stand dabei ganz im Zeichen liberaler Gouvernementalität: Der Entwurf vereinte die Suche nach größtmöglicher Sicherheit für die Schweiz bei gleichzeitiger Minimierung bundesstaatlicher Eingriffe. Wie schon die Botschaft zur Revision der Bundesverfassung vom 17. Juni 1870 festgehalten hatte, erkannte auch Jakob Dubs den »Uebelstand« im schweizerischen Einbürgerungswesen darin, »dass die Ertheilung des Schweizerbürgerrechtes mit allen seinen wichtigen politischen Folgen so ziemlich vom Belieben eines Gemeinderathes oder einer Gemeinde« abhänge.27 Abhilfe sah Dubs in der Einführung einer Bundesbewilligung für die Einbürgerung von ausländischen Staatsangehörigen. Dabei schlug er folgende Kompetenzauftei25 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 29. Mai 1874, Art. 44. 26 Dubs war 1872 von seinem Amt als Bundesrat zurückgetreten, nachdem er sich gegen den Aargauer Bundesrat Emil Welti in der Frage der Armeereform nicht hatte durchsetzen können. Jakob Dubs hatte sowohl gegen die zentralisierende Armeereform Weltis als auch gegen den zentralistisch ausgerichteten Verfassungsentwurf von 1872 gekämpft. Jorio, Jakob Dubs, S. 165. 27 Beide Zitate: BAR E 21 20587, BG v. 3. Juli 1876 betr. Erwerb des Schweizerbürgerrechts und Verzicht auf dasselbe, Bemerkungen zum Entwurf eines Bundesgesezes betreffend den Erwerb des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, September 1875, S. 3.

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lung vor: »Der Bund kann nun die ökonomische und moralische Seite einer Bürgeraufnahme füglich der souveränen Entscheidung der Kantone und Gemeinden überlassen; ihn interessirt wesentlich nur die politische Seite der Naturalisation, soweit es sich darum handelt, das Verhältniss des zu Naturalisirenden zu seinem bisherigen Heimatstaate festzustellen …«28 Mit der Einführung einer bundesrätlichen Bewilligung für die Einbürgerung sollte der Bundesrat in Zukunft prüfen können, ob die Gesuchsteller in ihrer Heimat wehrpflichtig waren. Was Jakob Dubs dagegen ablehnte, war eine bundesrätliche Prüfung der finanziellen und persönlichen Verhältnisse der Bewerberinnen und Bewerber sowie die Festlegung einer Wohnsitzfrist.29 Grundsätzlich waren der Bundesrat sowie der National- und Ständerat damit einverstanden, die Eingriffe des Bundes im Bereich des Schweizer Bürgerrechts auf ein minimales Maß zu beschränken, auch wenn in der Ständeratskommission nüchtern bemerkt worden war, dass das Schweizer Bürgerrecht bisher ein Bürgerrecht »ohne realen Gehalt«30 gewesen war. Doch der äußerst föderalistisch geprägte Gesetzesentwurf von Bundesrichter Dubs erfuhr bis zur Verabschiedung des Gesetzes im Jahr 1876 verschiedene Änderungen, die dem Bund mehr Befugnisse einräumten, als Dubs vorgesehen hatte. Am 3. Juli 1876 wurde das erste Bundesgesetz »betreffend die Ertheilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe« 31 erlassen, ohne dass dagegen das Referendum ergriffen wurde. Das Gesetz regelte zwei verschiedene Bereiche des Schweizer Bürgerrechts: zum einen den Erwerb des Schweizer Bürgerrechts durch ausländische Staatsangehörige, zum anderen den Verzicht auf das Schweizer Bürgerrecht von Schweizern zur Erwerbung eines ausländischen Bürgerrechts und – damit verbunden – die Wiedereinbürgerung von geschiedenen oder verwitweten Frauen und Kindern, die mit ihren Ehemännern beziehungsweise Vätern aus dem Schweizer Bürgerrecht entlassen worden waren. Der Bundesrat und die parlamentarischen Räte hatten zahlreiche Punkte des Gesetzesentwurfs von Jakob Dubs gutgeheißen, beispielsweise die Einführung einer Einbürgerungsbewilligung des Bundesrats.32 Insgesamt waren sie mit den Eingriffen in die Kompetenz der Kantone jedoch weiter gegangen als Dubs in seinem Entwurf. Besonders mit Artikel 2 des Gesetzes hatten sie eine zweijährige Wohnsitzpflicht in der Schweiz als Bedingung für den Ein28 Ebd., S. 11. 29 Ebd., S. 15. 30 BAR E 21 20587, BG v. 3. Juli 1876 betr. Erwerb des Schweizerbürgerrechts und Verzicht auf dasselbe, Genehmigung der Botschaft und des Gesetzesentwurfes, Bundesratsbeschluss vom 2. Juli 1876, 2. Bericht der Kommission des Ständerates, 10. Juni 1876. 31 Bundesgesez (sic) betreffend die Ertheilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 3. Heumonat [ Juli] 1876. 32 Ebd., Art. 1.

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bürgerungsantrag durchgesetzt.33 Die Zuständigkeit für die Erteilung der bundesrätlichen Bewilligung fiel dem Eidgenössischen Politischen Departement zu, was angesichts des Ziels, Konflikte mit dem Ausland zu verhindern, nur konsequent war.34 Von Bedeutung war auch Artikel 3 des Gesetzes. Er hielt fest, dass sich die Einbürgerung eines verheirateten Mannes auf die Frau und minderjährigen Kinder erstreckt.35 Damit wurde der Grundsatz der bürgerrechtlichen Einheit der Familie gesetzlich verankert und über die individuellen Interessen von Frauen, Kindern und Jugendlichen gestellt. Ein Vorbehalt wurde für die minderjährigen Söhne gemacht, da diese in Frankreich und Deutschland trotz der Einbürgerung militärpflichtig blieben. Sie konnten durch die zuständigen Behörden von der Einbürgerung einer Familie ausgenommen werden. Dagegen waren Doppelbürgerrechte nicht mehr ausdrücklich verboten. Artikel 5 hielt fest, dass Schweizer Doppelbürger keinen Anspruch auf diplomatischen Schutz hatten, wenn sie sich in ihrem zweiten Heimatstaat befanden. 36 Ebenso wie Artikel 3 ließ sich auch Artikel 8 des Gesetzes vom Grundsatz der bürgerrechtlichen Einheit der Familie leiten. Er bestimmte, dass sich die Entlassung eines Bürgers aus dem Schweizer Bürgerrecht auch auf die Ehefrau und die minderjährigen Kinder erstreckt. Diese Regelung führte während des Gesetzgebungsprozesses kaum zu Diskussionen.37 Zwar gab der Bundesrat zu bedenken, dass die Ausdehnung des Verzichts auf die engsten Familienangehörigen dazu führe, dass der Ehemann beliebig über Frau und Kinder verfügen und sie ihrer Heimat und somit »allen Schuzes und aller Hülfe«38 berauben könne. Angesichts des Grundsatzes der Einheit der Familie hielt der Bundesrat aber am Verlust des Bürgerrechts für Frau und Kinder fest. Dabei übertrug der Bundesrat die Verantwortung für die rechtliche Ungleichbehandlung den Schweizerinnen. Es sei den Frauen schließlich freigestellt, sich der Entlassung aus dem gemeinsamen ehelichen Bürgerrecht durch Scheidung zu entziehen. Der Bundesrat betonte: »Geschieht die Auswanderung gegen ihren Willen und nimmt sie [die Ehefrau] an derselben keinen Antheil, so wird sie in der Regel

33 Ebd., Art. 2. 34 Das Politische Departement war das Departement des Äußeren. Es hatte allerdings auch innenpolitische Aufgaben wahrzunehmen. Im Jahr 1926 wurde die Bürgerrechtsabteilung dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement unterstellt. 35 Bundesgesez (sic) betreffend die Ertheilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 3. Heumonat [ Juli] 1876, Art. 3. 36 Ebd., Art. 5. 37 Ebd., Art. 8, Abs. 3. 38 Botschaft des Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung zum Gesezentwurf, betreffend den Erwerb des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, vom 2. Juni 1876, S. 903.

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auch das eheliche Band zu lösen trachten und auf diesem Wege für ihr eigenes Interesse sorgen.«39 Um die »Härten« des Bürgerrechtsverlusts für Frauen und Kinder zu mildern, sah der Bundesrat »den Vorbehalt des Rüktrittes« vor.40 Gemeint war damit das Recht auf Wiedereinbürgerung. Als Bedingung mussten die Bewerberinnen und deren Kinder in der Schweiz wohnen.41 Vorgesehen war jedoch nur ein Recht auf Wiedereinbürgerung für die mit dem Vater beziehungsweise Ehemann aus dem Bürgerrecht entlassenen Kinder und verwitweten oder geschiedenen Frauen. Für ehemalige Schweizerinnen, die ihr Bürgerrecht durch Heirat verloren hatten, galt das Recht auf Wiedereinbürgerung nicht. Dafür waren ökonomische Bedenken verantwortlich. So hatte etwa Jakob Dubs davor gewarnt, dass die »Rücktrittsfreiheit verarmter Personen, welche sich an die Fleischtöpfe der obligatorischen Armenunterstützung der Heimat erinnern möchten, eine gewisse ökonomische Gefahr für die Gemeinde« bedeute. Deshalb sei es ratsam, »sich auf das Notwendigste zu beschränken.«42 Erstaunlicherweise rief die Einführung des Rechts auf Wiedereinbürgerung keine Gegner auf den Plan. Die Wiedereinbürgerungen wurden allein vom Bundesrat verfügt, die Kantone und Gemeinden besaßen kein Recht auf Mitsprache.43 Damit hatte der Bund die Kompetenzen der Kantone auf unzulässige Weise beschnitten und das Prinzip unterlaufen, dass die Einbürgerungen in der Schweiz durch die Kantone und Gemeinden vorzunehmen seien. Während die diesbezügliche Kompetenzerweiterung des Bundes erstmals im Jahr 1903 auf Widerstand stoßen sollte, wurde die Verfassungsgrundlage für diese Bestimmung erst mit der Partialrevision der Bundesverfassung im Jahr 1928 gelegt.44 Außer den Bestimmungen zur Wiedereinbürgerung scheint das Bürgerrechtsgesetz von 1876 keine bedeutenden materiellen Änderungen gebracht zu haben. Dennoch waren die – wenn auch minimalen – Eingriffe für den Bund von großer Wichtigkeit. Denn mit dem Gesetz von 1876 hatte der Bundesrat, das bisher ausschließlich föderalistisch definierte schweizerische Staatsangehörigkeitsrecht mit bundesstaatlichen Elementen versehen und eine für moderne Nationalstaaten zentrale Frage – die rechtliche Definition des Staatsvolks – an39 Ebd. 40 Beide Zitate: ebd. 41 Bundesgesez (sic) betreffend die Ertheilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 3. Heumonat [ Juli] 1876, Art. 9, Abs. 2. 42 Beide Zitate: BAR E 21 20587, BG v. 3. Juli 1876 betr. Erwerb des Schweizerbürgerrechts und Verzicht auf dasselbe, Motive zu den Abänderungsvorschlägen der Kom. betr. die Erteilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, Manuskript von BR Dubs, Abschrift, S. 11f. 43 Bundesgesez (sic) betreffend die Ertheilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 3. Heumonat [ Juli] 1876, Art. 9, Abs. 3. 44 Stahel, S. 158f.

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satzweise in seine Kompetenz überführt. Für die zukünftigen Einflussmöglichkeiten des Bundes in das schweizerische Staatsangehörigkeitsrecht war dies von zentraler Bedeutung. Mit der Einführung der Bundesbewilligung und der zweijährigen Wohnsitzfrist hatte der Bund nun auch das schweizerische Staatsangehörigkeitsrecht als Regierungstechnik etabliert.

3. Zürich als Schrittmacherin einer neuen Bürgerrechtspolitik des Bundes Im »Fin de siècle« herrschte in der Schweiz Krisenstimmung.45 Zahlreiche Schweizer Städte wie Zürich oder Basel waren in besonderem Maß von politischen, wirtschaftlichen, demografischen, sozialen und städtebaulichen Veränderungen geprägt. Der schnelle soziale Wandel führte mancherorts zu Spannungen und Konflikten. Fremdenfeindliche Reflexe waren Ausdruck davon, wie etwa der so genannte »Italienerkrawall« in Zürich im Jahr 1896 deutlich macht. In der Folge beklagten die Zürcher Gemeindebehörden die Zunahme der ausländischen Wohnbevölkerung. Sie sahen darin eine Gefahr für Wirtschaft, Recht und Demokratie. In der erleichterten Einbürgerung von Ausländern glaubten sie die Lösung des Problems gefunden zu haben. Während aber die Liberalisierungsbemühungen im Zürich der Jahrhundertwende scheiterten, sprang der Funke von hier auf den Bund über. Zürich erlebte seit der Mitte der 1880er Jahre eine wirtschaftliche Blütezeit, welche die »Grosse Depression« zwischen 1876 und 1885 beendete. Mit dem Wirtschaftsaufschwung stieg die Mobilität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in und aus den Zürcher Ausgemeinden stark an.46 Während das Bevölkerungswachstum in der Altstadt bis 1893 nur langsam vor sich ging – die Altstadt erreichte damals mit 28 000 Einwohnerinnen und Einwohnern ihre bisher größte Bevölkerungsdichte – nahm die Wohnbevölkerung in den Zürcher Ausgemeinden rapide zu. Geht man von der Bevölkerung der elf im Jahr 1893 eingemeindeten Ausgemeinden zusammen mit der Stadtzürcher Bevölkerung aus, so stieg diese zwischen 1888 und 1900 von etwas über 94 000 auf ungefähr 150 000 Personen an. Dies entsprach einer Wachstumsquote von knapp 5 % oder ungefähr 4 700 Menschen pro Jahr.47 Der Bevölkerungsanstieg war um etwas mehr als die Hälfte auf einen Wanderungsüberschuss zurückzuführen.48 Der Wanderungsüberschuss gibt aber 45 46 47 48

Vgl. dazu: Graetz/Mattioli. Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 3, S. 182. Stadtarchiv Zürich, Hundert Jahre Gross-Zürich, S. 8. Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 3, S. 83.

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nur ungenügend Aufschluss über das enorme Ausmaß der damaligen geografischen Mobilität; nicht alle Zugewanderten fanden in Zürich Arbeit, viele von ihnen zogen nach kurzer Zeit wieder weg.49 Die zugewanderten Menschen stammten zu einem großen Teil aus dem Ausland, die meisten davon aus Deutschland, etwas weniger aus Italien und Österreich-Ungarn. Sie fanden hier vor allem als Handwerker, Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Dienstbotinnen und Dienstboten ihr Auskommen. Rund 22 % der Menschen, die im Jahr 1888 in Zürich und den elf besagten Ausgemeinden lebten, waren Ausländerinnen und Ausländer: Bei 94 000 Einwohnerinnen und Einwohnern waren dies knapp 21 000 Menschen.50 Die Zahl der ausländischen Zugewanderten stieg in den folgenden Jahren an, bis die ausländischen Staatsangehörigen im Jahr 1910 ein Drittel der Zürcher Bevölkerung ausmachten. Die Deutschen bildeten dabei, gemessen an der Stadt-Zürcher Gesamtbevölkerung, mit etwas mehr als 21 % die größte ausländische Bevölkerungsgruppe, italienische Einwohnerinnen und Einwohner machten knapp 5,8 % der jetzt in Zürich lebenden Menschen aus (rund 11 000 Italienerinnen und Italiener bei einer Gesamtbevölkerung der Stadt Zürich von rund 190 000 Menschen).51 Trotz dieses relativ geringen Anteils wurde vor allem die italienische Wohnbevölkerung als problematisch wahrgenommen. Das hing einerseits mit der empfundenen kulturellen Distanz zusammen, andererseits mit dem starken Anstieg der Einwanderung von oberitalienischen Textilarbeiterinnen und Bauarbeitern im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts: Zwischen 1890 und 1900 hatte sich die Zahl der Italienerinnen und Italiener in Zürich annähernd verfünffacht.52 Mit der Bevölkerungszunahme und den erhöhten Wanderungsbewegungen stieß die städtische Infrastruktur in den Zürcher Arbeiterquartieren wie Aussersihl oder Wiedikon an ihre Grenzen. Die dortigen Einwohnerinnen und Einwohner gehörten denn auch zu den Verliererinnen und Verlierern der gleichzeitigen wirtschaftlichen Blüte: Neben der Tatsache, dass sich der Wirtschaftsaufschwung kaum auf die Reallöhne ausgewirkt hatte – der Pro-KopfVerbrauch an Lebensmitteln nahm seit 1882 in der Zürcher Bevölkerung ab –, breiteten sich Wohnungsnot und Obdachlosigkeit aus. Auch die öffentlichen 49 In der Zeit zwischen 1893 und 1918 betrug der Wanderungsüberschuss rund 59 000 Personen. In diesem Zeitraum zog etwa eine Million Menschen in die Stadt, manche nur für kurze Zeit. Ebd., S. 182. 50 Stadtarchiv Zürich, Hundert Jahre Gross-Zürich, S. 8f. 51 Alle Angaben: Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 3, S. 84 und S. 182f. 52 Skinner, S. 59f. und S. 21. Der Anstieg der ausländischen Bevölkerung wurde um 1900 zum wichtigen Faktor für die Problematisierung des Verhältnisses zwischen Schweizern und Ausländern. Dies bedeutet jedoch nicht, dass ein hoher Ausländeranteil für die Wahrnehmung der einheimischen Bevölkerung gegenüber Ausländerinnen und Ausländern ausschlaggebend sein muss. Vgl. zum Phänomen der »Xenophobie ohne Fremde«: Romano sowie J. Tanner, Nationalmythos und »Überfremdungsängste«, S. 11–26.

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Einrichtungen wie Schulen oder die Trinkwasserversorgung konnten die Bedürfnisse der in Zürich lebenden Menschen nicht genügend decken.53 Der Zusammenschluss von elf Zürcher Ausgemeinden mit der Stadt Zürich im Jahr 1893, die erste so genannte »Eingemeindung«, kann als ein wichtiger Faktor der »Orientierungskrise«54 im Zürich des ausgehenden 19. Jahrhunderts gelesen werden. Mit der Eingemeindung wuchs die Bevölkerung der Stadtgemeinde mit einem Mal von 28 000 auf 107 000 Personen an. Dies entsprach knapp einem Drittel der damaligen Kantonsbevölkerung.55 Als erste unter den Schweizer Städten war Zürich damit zur Großstadt geworden, während sie bei der schweizerischen Volkszählung im Jahr 1888 noch um einiges kleiner als Bern, Basel und Genf gewesen war. Die sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und demografischen Folgen der Eingemeindung überforderten die städtischen Behörden. Trotz der herrschenden sozialen Not in einzelnen der ehemaligen Ausgemeinden, Spannungen zwischen der eingewanderten und der seit langer Zeit ansässigen Bevölkerung sowie der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt blieben sozialpolitische Maßnahmen größtenteils aus oder erzielten nicht die gewünschte Wirkung. Die Krise gipfelte 1896 in fremdenfeindlichen Ausschreitungen der städtischen Unterschichten, dem so genannten »Italienerkrawall«.56 Nachdem es schon 1893 in Bern und in Lausanne zu Ausschreitungen gegen italienische Immigranten und ihre Einrichtungen gekommen war, richtete sich die Gewalt Ende Juli 1896 auch im Zürcher Quartier Aussersihl gegen die italienischen Bewohnerinnen und Bewohner. Beim Einsatz der Polizei und kantonaler Truppenkontingente gegen die militanten Massen richteten diese ihre Gewalt schließlich auch gegen die Ordnungshüter. Die Ausschreitungen in Zürich waren mit Abstand die heftigsten und dauerten vier Tage und Nächte. Eine zeitgenössische Schätzung geht von bis zu 10 000 Personen aus, die bei dem Krawall dabei gewesen seien.57 Nach dem Zürcher »Italienerkrawall« wurden zahlreiche Versuche unternommen, die Ereignisse zu deuten und die herrschende Krise zu überwinden. In der schweizerischen Presselandschaft war es die Diskussion über die so genannte »Italienerfrage«, die Abhilfe gegen die allgemeine Ratlosigkeit schaffen sollte. Die Zürcher Exekutive reagierte hingegen mit einer umfassenden Berichttätigkeit und einem Katalog von Maßnahmen, mit dem vor allem die ausländische, gleichzeitig aber auch die einheimische Bevölkerung besser kontrol-

53 Alle Angaben: Geschichte des Kantons Zürich, Bd. 3, S. 147, sowie Skinner, S. 41. 54 Eine Orientierungskrise kennzeichnet sich nach Siegenthaler, S. 57, dadurch, dass die Menschen das »Regelvertrauen« verlieren und keine Perspektive in der Zukunft mehr sehen. 55 Zahl nach: Dütschler, S. 9. 56 Vgl. dazu: Looser sowie Skinner. 57 Vgl. zu den Vorgängen während des »Italienerkrawalls«: Looser sowie Skinner, S. 28–32.

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liert werden sollte.58 Gegenüber der damals herrschenden Personenfreizügigkeit waren die kantonalen und kommunalen Behörden aber größtenteils machtlos. Das Netz von Niederlassungsverträgen zwischen der Schweiz und auswärtigen Staaten zu hinterfragen, das heißt die Einwanderung oder Niederlassung zu beschränken, lag zu jenem Zeitpunkt außerhalb des Möglichen.59 Zudem war den Zürcher Behörden bewusst: Zürichs Wirtschaft brauchte die ausländischen Arbeitskräfte. So hielt das Protokoll der bürgerlichen Abteilung des Stadtrats (Gemeindeexekutive) vom 2. Dezember 1897 fest: »Die Fremden wegzuweisen, … verbieten nicht bloss Verfassung und Staatsverträge, sondern es wären solche Bemühungen der Wohlfahrt des Landes und der Stadt im höchsten Grade zuwider, da die Fremden, die einwandern, meist arbeitsame und geschickte Leute sind, wohl fähig, das wirtschaftliche Gedeihen des Landes fördern zu helfen …«60 Schließlich wurde eine andere Lösung gefunden: Um den als bedrohlich empfundenen Ausländeranteil in der Stadt zu verringern, sollten Ausländerinnen und Ausländer, die in Zürich geboren waren und während der letzten zehn Jahre hier gewohnt hatten, von der Stadt unentgeltlich eingebürgert werden. Mit welchen Widerständen die Befürworter der erleichterten Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern dabei zu rechnen hatten, verdeutlicht ein Beispiel zur restriktiven Einbürgerungspraxis der Stadt Zürich kurz vor der Jahrhundertwende. Am 30. Mai 1897 stellte das deutsche Ehepaar H. in Zürich ein Gesuch auf Einbürgerung.61 Der aus Preußen stammende F. H. war als Klarinettist im Zürcher Tonhalleorchester angestellt, seine Frau I. H. arbeitete am Theater. Von den sechs Kindern lebten fünf im mütterlichen Haushalt, ein Sohn befand sich auswärts, der Vater lebte vorübergehend von der Familie getrennt. Da F. H. nicht in der Schweiz geboren war, lag die Zuständigkeit für die Behandlung seines Gesuchs bei der Bürgerrechtskommission des Grossen Stadtrats (Gemeindelegislative). Die eingeforderten schriftlichen Zeugnisse über F. H. hatten nichts Nachteiliges ergeben. Ein weniger eindeutiges Bild zeichnete der Polizei-Rapport des Detektivs J. vom 28. Juni 1897. Seine Erkundigungen hatten ergeben, dass H. »als ein achtbarer Mann bekannt ist. Infolge eines zwischen den Eheleuten H. bestehenden Zerwürfnisses, leben dieselben getrennt. Frau H. wohnt samt den Kindern …gasse No. 40. Derselben kann nichts Nachteiliges bewiesen [im Original unterstrichen] werden. Mit Mühe kann Frau H. die Kosten für den 58 Skinner, S. 66f. 59 Schläpfer, S. 158. 60 Stadtarchiv Zürich V.B.a.13, Protokoll der bürgerlichen Abteilung des Stadtrates Zürich vom Jahre 1897, 2. Dezember 1897, S. 67. 61 Stadtarchiv Zürich, Akten zum Protokoll des Stadtrats Zürich, bürgerliche Abteilung II B 348 1897. Die Identität der Personen wurde durch die Wahl veränderter Initialen anonymisiert. Der Autorin sind die Namen bekannt. Folgende Angaben: ebd.

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Lebensunterhalt bestreiten. Im Hause …str. No 71 kam es zwischen den Ehegatten öfters zu skandalösen Auftritten. Als die Familie H. im Hause …str. 131 wohnte, kaufte Frau H., statt die Miete zu bezahlen, ein Klavier.« 62 Getrennte Haushalte, Mühe beim Bestreiten des Lebensunterhalts, skandalöse Auftritte und der Kauf eines Klaviers anstatt der Bezahlung der Miete – diese Beschreibungen konnten nichts Gutes verheißen. Sie ließen trotz des tadellosen Zeugnisses, das F. H. attestiert wurde, Zweifel an der guten Lebensführung der Familie laut werden. Der Bericht eines zweiten Polizisten G. stammt vom 21. Juli 1897. Dieser förderte weitere Details aus dem Privatleben der Familie H. zutage. Detektiv G. berichtete von seinen Nachforschungen: »Das Zusammenleben habe Gehässigkeit seitens der Frau unmöglich gemacht. Während Herr H. ein netter ruhiger und sparsamer Mann sei, müsse und könne seine Frau als böses Weib taxiert werden. Sie habe den Mann aus dem Hause verdrängt. H. zeige Liebe zu seinen nacherzogenen Kindern, und daselbst besuche er dann und wann seine Familie. … Familienstreit sei nicht selten gewesen, und müsse dieser die Trennung herbeigeführt haben. Liebschaften der ältesten Tochter sollen auch schon zu Zwistigkeiten geführt haben. In finanzieller Beziehung stehe es immer etwas schief, jedoch werde nach und nach wieder bezahlt. … In einigen Verkaufläden sagte man mir, der Frau H. werden nur noch Waren gegen Barbezahlung gegeben, weil man ihr nicht traue. Im ganzen geht aus den Aussagen hervor, dass diese Familie, der Mann ausgenommen, ein luftiges Volk ist, nach Art der Schauspieler. Obschon Hr. Z. [der Vermieter] angibt, die Miete sei immer pünktlich bezahlt worden, muss er doch zugeben, dass hie & da der Zins nicht vollständig habe bezahlt werden können. Wenn auch gute Erwerbsverhältnisse vorhanden sind, so ist eben auch demgemäss der Verbrauch.«63 Das Schwarzweiß-Bild, das der zweite Rapport zeichnete – hier I. H. als verschwenderisches und »böses Weib«, da F. H. als »netter ruhiger und sparsamer Mann« –, ließ die als nachteilig bewerteten Eigenschaften und Verhaltensweisen von Frau H. scharf hervortreten. Zudem wurde die wohl gut gemeinte Aussage des Vermieters Z., dass die Miete immer pünktlich bezahlt worden sei, vom Polizisten angezweifelt. Dass die Familie H. den Zins zuweilen zu spät bezahlte, wog in seinen Augen mehr als die Tatsache, dass der Vermieter wohlwollend für Frau H. eingestanden war. Ein dritter Bericht desselben Detektivs G. vom 10. September 1897 sollte schließlich die im Juli eingeholten Erkundigungen bestätigen. Zudem wusste der Polizist jetzt zu berichten: »Von Personen, bei welchen nachgefragt wurde, fiel[…] die Bemerkung, ›man werde doch einer solchen Bande das Bürgerrecht nicht geben.‹«64 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Ebd.

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Die Kommission des Grossen Stadtrats stellte den Antrag auf Nichterteilung des Bürgerrechts, worauf auch der Stadtrat am 6. November 1897 von seinem zunächst gestellten Antrag auf Annahme Abstand nahm. Doch in der Zwischenzeit hatte auch F. H. reagiert. Am 3. November 1897 hatte er sein Gesuch auf Einbürgerung zurückgezogen. Der Entscheid der Einbürgerungskommission war kein Einzelfall. In der Zeit von 1897 bis 1902 lag in Zürich die Ablehnungsquote bei Bürgerrechtsgesuchen deutscher Staatsangehöriger durchschnittlich bei 30 %. Die Gesuche von Italienerinnen und Italienern wurden sogar in rund 50 % der Fälle abgelehnt.65 Die Grundlage für die Einbürgerungspraxis der Bürgerkommission des Grossen Stadtrats bildete ein vertrauliches »Regulativ« aus dem Jahr 1893. Darin hatte die damals neu eingesetzte Kommission des Grossen Stadtrats gleich zu Beginn ihrer Arbeit die Grundsätze ihrer Einbürgerungspraxis fixiert. Die aufgestellten Bedingungen für den Bürgerrechtserwerb geben eindrücklich Aufschluss über das Bild, das die Kommissionsmitglieder des Grossen Stadtrats von sich und der Zürcher Bürgerschaft besaßen. Bürger von Zürich zu sein, bedeutete, den moralischen Normen der bürgerlich-patriarchalen Gesellschaft in der Zwingli-Stadt des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu entsprechen. Dazu gehörten in erster Linie eine sittlich vorbildhafte und finanziell abgesicherte Lebensführung sowie die Erfüllung der Pflichten in Gemeinwesen, Familie und Beruf. Der Charakter des Bewerbers sollte dafür Gewähr bieten, dass er und seine Familie eine Bereicherung für die Zürcher Bürgerschaft darstellten und der Stadt finanziell nicht zur Last fallen würden.66 Insgesamt erinnern die von den Bewerbern erwarteten Eigenschaften wie Arbeitsmoral, Fleiß und Pflichterfüllung an die Grundsätze einer »protestantischen Ethik«.67 Schließlich sollte die von Zürich geforderte fünfjährige Wohnsitzfrist in der Schweiz – sie lag um drei Jahre höher als die damalige Rahmenbedingung des Bundes – wohl eine gewisse Gewähr dafür bieten, dass sich die Kandidatinnen und Kandidaten auch in ihrem Verhalten den Schweizerinnen und Schweizern angenähert hatten.68 Um zu überprüfen, ob die geforderten Bedingungen erfüllt waren, ernannte die Kommission des Grossen Stadtrats jeweils für jede Kandidatin und jeden Kandidaten einen »Referenten«. Dieser musste gemäß Regulativ Informationen bei Freunden und Bekannten des Bewerbers einholen, und zwar »über dessen 65 Skinner, S. 90f. 66 Stadtarchiv Zürich V.A.a.20, Grosser Stadtrat Zürich (bürgerliche Sektion), Protokoll der Kommission zur Vorberatung der Anträge des Stadtrates betreffend die Bürgerrechtsgesuche, 1. Sitzung, Samstag den 8. Juli 1893. 67 Vgl. dazu: Weber, Die protestantische Ethik. 68 Stadtarchiv Zürich V.A.a.20, Grosser Stadtrat Zürich (bürgerliche Sektion), Protokoll der Kommission zur Vorberatung der Anträge des Stadtrates betreffend die Bürgerrechtsgesuche, 1. Sitzung, Samstag den 8. Juli 1893.

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Herkunft, Alter, Zivilstand, Beruf oder Anstellung, Dauer seines Aufenthaltes in der Schweiz und in der Stadt, Konfession, Leumund, Gesundheit, Versicherung gegen Krankheit, Unfall & Tod, über seine Lebensführung im Beruf (Fleiss, Sparsamkeit, loyale Geschäftsgrundsätze, Erfüllung der oekonomischen Verbindlichkeiten, Betreibungen), in der Familie (Benehmen gegenüber Frau und Kindern, Familienleben), in der Gemeinde (Leistung öffentlicher Dienste, Feuerwehr etc., Steuern); über die Lebensführung der Familie (ob Auslagen & Aufwand im richtigen Verhältnis zu Vermögen und Einkommen).« 69 Nach eingeholten Informationen durch den Einsatz von Detektiven hatte der Referent die Kommission über das Resultat seiner Erkundigungen zu informieren. Darauf folgte die persönliche Einvernahme der Bewerberin oder des Bewerbers und schließlich die Beratung und Abstimmung in der Kommission. Das ablehnende Ergebnis im Fall der Familie H. erstaunt angesichts der Einbürgerungsgrundsätze der Kommission des Grossen Stadtrats nicht. Insgesamt drei Polizeiberichte legten Zeugnis darüber ab, dass die Einbürgerung der Familie H. nicht im Interesse der Bürgerschaft stehen könne. Am Maßstab des Selbstbildes der Zürcher Bürgerschaft gemessen, hatte die als »luftiges Volk« bezeichnete Künstlerfamilie H. keine Aussicht auf Einbürgerung. Trotz des politischen Willens, die Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern in der Stadt Zürich zu erleichtern, sollte sich die Einbürgerungspraxis der Kommission des Grossen Stadtrats sowie ihr Selbst- und Fremdbild noch längere Zeit halten. Hingegen setzte sich im selben Jahr 1897, in dem die Familie H. ihr Einbürgerungsgesuch gestellt hatte, bei der Zürcher Exekutivbehörde, dem Stadtrat, die Meinung durch, dass die Einbürgerung von Ausländern in Zürich zu erleichtern sei.70 Die Erleichterung sollte aus der unentgeltlichen Aufnahme in das städtische Bürgerrecht bestehen und drei verschiedene Personenkategorien betreffen: die in Zürich niedergelassenen Bundes-, Kantons- oder Stadtangestellten (Ausländer jedoch nur, wenn sie in der Schweiz geboren waren), Bürger anderer Kantone, die in Zürich geboren waren, sowie ebenfalls in Zürich geborene Ausländerinnen und Ausländer, wenn sie in den letzten zehn Jahren ununterbrochen in Zürich gewohnt hatten.71 Dem stadträtlichen Antrag ging eine längere Abhandlung zum quantitativen und qualitativen »Missverhältnis«72 zwischen der schweizerischen und ausländischen Bevölkerung und den dagegen zu ergreifenden Maßnahmen voraus. Die entsprechenden Passagen lesen sich wie Ausschnitte aus einem Integrations69 Ebd. 70 Stadtarchiv Zürich V.B.a.13, Protokoll der bürgerlichen Abteilung des Stadtrates Zürich vom Jahre 1897, 2. Dezember 1897, S. 66–70. 71 Ebd., S. 70. 72 Ebd., S. 67.

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programm, wie sie von verschiedenen Schweizer Städten und Kantonen seit den 1990er Jahren formuliert wurden. So konstatierte die bürgerliche Abteilung des Stadtrats im Jahr 1897: Es sei ein »Missstand«, dass besonders junge Männer, die in Zürich geboren und aufgewachsen seien, die »hier Sprache und Gebräuche angenommen haben …, genötigt werden, in die ursprüngliche Heimat ihrer Eltern auszuwandern, um dort die Militärpflicht zu erfüllen.« Um diesen »Missstand« zu beheben, dürfe »die Stadt wohl ein kleines Opfer bringen …; ja es würde wohl einer einsichtigen Gesetzgebung der Gedanke nicht fernliegen, solche Einwohner von Rechtes wegen als Bürger zu erklären.«73 Doch nicht nur für die ausländische Bevölkerung, sondern auch für die Stadt erachtete der Stadtrat die Einbürgerung der Ausländer als Vorteil. So äußerte sich der Stadtrat in republikanischem Sinn, dass sich das Ansehen eines Staates und seiner politischen Einrichtungen darauf stütze, »dass in letztern der Wille des Volkes zum Ausdruck kommt. Je vollkommener dies zutrifft, um so mehr ist der Anspruch begründet, dass die Mitglieder des Gemeinwesens dessen Einrichtungen achten; daher wird die öffentliche Ordnung in ihrer Festigkeit geschwächt, wenn eine grosse Zahl von Einwohnern das Stimmrecht nicht besitzt, um ihre Wünsche auf dem verfassungsmässigen Wege geltend zu machen.«74 Die Identität zwischen Regierenden und Regierten bildete für den Zürcher Stadtrat die Grundlage für ein sicheres und beständiges Gemeinwesen. Zwar waren die Zürcher Gemeinden schon seit 1875 verpflichtet, die in der Schweiz geborenen Ausländer nach einer fünfjährigen Niederlassung in Zürich in ihr Bürgerrecht aufzunehmen. Gleichwohl hatten die ausländischen Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller die Einkaufsgebühr in das Gemeindebürgerrecht der Stadt zu bezahlen. Darin sah der Stadtrat einen Grund, weshalb »es doch eine grosse Zahl solcher [gibt], die aus freiem Willen Ausländer bleiben.«75 Deshalb sei es notwendig, dass die Stadt auf die Einkaufsgebühr verzichte. Dem Antrag des Stadtrats an den Grossen Stadtrat war kein Erfolg beschieden. Die vorberatende Kommission des Grossen Stadtrats empfahl den Antrag zwar zur Annahme. Doch der Grosse Stadtrat lehnte die Neuerungen am 29. Oktober 1898 mit der Begründung ab, dass die bevorzugte Behandlung von Personen im öffentlichen Dienst nicht zu unterstützen sei. Zudem hegte der Grosse Stadtrat Bedenken, dass mit der unentgeltlichen Aufnahme von Angestellten oder Arbeitern »einer unbekannten jedenfalls nicht unbeträchtlichen Zahl von Personen in zum Teil bescheidenen Verhältnissen Hand«76 ge73 Alle Zitate: ebd., S. 69. 74 Ebd., S. 67. 75 Beide Zitate: ebd., S. 69. 76 Stadtarchiv Zürich V.B.a.13, Protokoll der bürgerlichen Abteilung des Stadtrates Zürich vom Jahre 1904, 17. Februar 1904, S. 15.

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boten werde. Das Kriterium der finanziellen Verhältnisse einer Gesuchstellerin oder eines Gesuchstellers galt dem Grossen Stadtrat als einer der wichtigsten Gründe, Einbürgerungen abzulehnen. Auf keinen Fall sollten Personen eingebürgert werden, die dereinst der Armenkasse zur Last fallen könnten. Als nur scheinbar paradox ist der Sachverhalt zu bewerten, dass weder Rückbezüge auf den »Italienerkrawall« noch der Begriff der »Italienerfrage« in die Debatten der Zürcher Räte zur Einbürgerungserleichterung eindrangen.77 Der Grund dafür lag wohl darin, dass man sich weder an das kaum prestigeträchtige Ereignis des »Italienerkrawalls« noch an die ungelösten Schwierigkeiten der sozialen Lage und des Zusammenlebens von schweizerischen und ausländischen Unterschichtangehörigen erinnern wollte. Den politischen Eliten war bewusst, dass die italienischen Einwanderer für die schweizerische Volkswirtschaft, insbesondere für den Eisenbahnbau und das übrige Baugewerbe, von zentraler Bedeutung waren. Den Begriff der »Italienerfrage« in die behördlichen Debatten einzubeziehen, hätte angesichts der wirtschaftlichen Bedeutung der Italienerinnen und Italiener geheissen, Schritte zu ihrer rechtlichen und gesellschaftlichen Integration zu unternehmen. Doch mit der angestrebten Erleichterung der Einbürgerung von Ausländern meinten die damaligen Politiker gerade nicht die Italienerinnen und Italiener.78 Acht Jahre nach dem ersten Liberalisierungsversuch des Zürcher Stadtrats scheiterte auch ein zweiter Versuch. Am 24. September 1902 hatte die bürgerliche Kommission des Grossen Stadtrats dem Stadtrat einen Antrag zur erleichterten Einbürgerung zur Prüfung überwiesen.79 Nach der Überarbeitung durch den Stadtrat ging der Antrag in der Fassung vom 17. Februar 1904 wieder an die Kommission der Gemeindelegislative zurück. Die stadträtliche Version hielt fest, dass die bisherige Zuständigkeit der Gemeindelegislative bei Einbürgerungen von nicht in der Schweiz geborenen Ausländerinnen und Ausländern an die Gemeindeexekutive übergehen sollte. Kein Geringerer als 77 Auch in der zeitgenössischen Literatur fand die »Italienerfrage« wenig Niederschlag. Als zwei der wenigen zeitgenössischen Publikationen zur »Italienerfrage« sind diejenigen von TurriDegen und Lorenz zu nennen. 78 Das machen die damaligen Einbürgerungsstatistiken nur allzu deutlich: Zwischen 1889 und 1908 wurden im Kanton Zürich insgesamt 138 Einbürgerungsfälle von Personen, die aus Italien stammten, gutgeheißen. Die Ehefrauen und Kinder mitgezählt, waren es 382 Italienerinnen und Italiener, die das Bürgerrecht innerhalb dieses zwanzigjährigen Zeitraums im Kanton Zürich erworben hatten. Im gleichen Zeitraum waren im Kanton Zürich insgesamt 3 219 positiv entschiedene Einbürgerungsfälle von Ausländerinnen und Ausländern zu verzeichnen, was 10 366 Personen entsprach. Davon machten die Deutschen mit 2 435 Fällen beziehungsweise 7 912 Personen den größten Anteil aus. Zahlen nach: Eidgenössisches Statistisches Bureau, S. 42. 79 Stadtarchiv Zürich V.A.a.20, Grosser Stadtrat Zürich (bürgerliche Sektion), Protokoll der Kommission des Grossen Stadtrates für Prüfung der Bürgerrechtsgesuche, Amtsdauer 1901–1904, 25. September 1902, sowie Stadtarchiv Zürich V.B.a.13, Protokoll der bürgerlichen Abteilung des Stadtrates Zürich vom Jahre 1904, 17. Februar 1904, S. 16.

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der Exponent der schweizerischen Arbeiterbewegung Herman Greulich unterstützte als Mitglied der vorberatenden Kommission des Grossen Stadtrats die Kompetenzverschiebung zu Gunsten des Stadtrats.80 Doch Herman Greulichs Dafürhalten entsprach nicht der Ansicht seiner Kollegen. Die Einbürgerung von nicht in der Schweiz geborenen ausländischen Staatsangehörigen sollte in den Händen der Kommission der Gemeindelegislative bleiben. Schließlich pochte der Grosse Stadtrat auf die Durchführung eines obligatorischen Referendums, das auch die mehrfach modifizierte Vorlage zum Scheitern brachte.81 Nachdem die Bemühungen des Zürcher Stadtrats und der Kommission des Grossen Stadtrats zur erleichterten Einbürgerung von Ausländern vor dem Ersten Weltkrieg größtenteils scheiterten – auf stadtzürcherischer Ebene wurden lediglich im Jahr 1908 die erleichterte Einbürgerung von Beamten, Angestellten, Arbeitern und Lehrern durchgesetzt und im Jahr 1919 die erleichterte Einbürgerung von kantonsfremden Schweizern –, 82 beschloss der Regierungsrat (Exekutive) des Kantons Zürich im Jahr 1910, die Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern zu erleichtern.83 Ebenso hatten die Kantone Basel-Stadt und Genf ihre Bürgerrechtsgesetze in den Jahren 1902 und 1905 explizit auch für Ausländer liberalisiert.84 In der Stadt Zürich indessen hatten zwischen 1898 und 1905 zuerst der Grosse Stadtrat und dann die Bürgergemeinde den Erleichterungsbestrebungen der Gemeindeexekutive und der Kommission des Grossen Stadtrats einen Strich durch die Rechnung gemacht. Zwar nahmen die Einbürgerungen von Ausländerinnen und Ausländern nach 1906 in Zürich aufgrund einer höheren Zahl von Gesuchen und einer geringeren Ablehnungsquote zu.85 Doch ironischerweise waren die Vorstöße zur Liberalisierung der Einbürgerungsbestimmungen gerade in derjenigen Stadt gescheitert, die zur wichtigsten Schrittmacherin der Liberalisierungstendenzen der damaligen Schweizer Bürgerrechtspolitik geworden war, was im Folgenden verdeutlicht werden soll.

80 Stadtarchiv Zürich V.B.a.13, Protokoll der Kommission betr. Erleichterung des Bürgerrechtserwerbs 1904, 7. Juli 1904. 81 Stadtarchiv Zürich V.B.a.13, Protokoll der bürgerlichen Abteilung des Stadtrates Zürich vom Jahre 1905, 18. Januar 1905 und 27. September 1905, S. 54. 82 Beschluss der bürgerlichen Abteilung des Stadtrates, vom 13. Juni 1908, sowie Beschluss der Bürgerschaft, vom 16. März 1919. 83 Beschluss des Regierungsrates betreffend Erleichterung der Einbürgerung von Ausländern im Kanton Zürich, vom 10. März 1910. 84 Vgl. dazu: Loi sur la nationalisation genevoise et la renonciation à la nationalité genevoise, vom 21. Oktober 1905, sowie [Basler] Bürgerrechts-Gesetz vom 19. Juni 1902. 85 Dütschler, S. 75f., sowie Eidgenössisches Statistisches Bureau, S. 22.

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4. Das Postulat Curti im Jahr 1898 In der nationalrätlichen Aprilsession von 1898 stellte der St. Galler und ehemalige Zürcher Nationalrat Theodor Curti folgendes Postulat: »Der Bundesrat wird eingeladen, zu untersuchen und darüber Bericht zu erstatten, ob es nicht Mittel und Wege gebe, um die Einbürgerung in der Schweiz wohnender Ausländer zu erleichtern.«86 Nationalrat Curti begründete sein Postulat mit der »bedenkliche[n] Erscheinung, dass zufolge der letzten Volkszählung in der Schweiz rund eine Viertelmillion Ausländer dauernd sich auf halten und dass, zumal in den grösseren Grenzstädten, die ausländische Bevölkerung die einheimische nachgerade zu überflügeln« 87 drohe. So sei jeder »neunte Mann« in der Schweiz ein Ausländer. Theodor Curti erkannte in dieser Situation außer einer politischen auch eine wirtschaftliche Gefahr. Den Schweizern drohe eine »verderbliche Erwerbskonkurrenz«,88 weil die niedergelassenen Ausländer im Gegensatz zu den Schweizern von der allgemeinen Wehrpflicht befreit seien und deshalb bessere Chancen auf dem inländischen Arbeitsmarkt besäßen. Die einzige Möglichkeit, um diese Gefahr abzuwenden, erkannte Curti darin, »durch Erleichterung der Bürgerrechtsaufnahme die sich dazu überhaupt eignenden Elemente der schweizerischen Nation zu assimilieren.« 89 Eine Begrenzung der Einwanderung in der Schweiz war vor dem Ersten Weltkrieg nicht denkbar. Zudem bildeten die ausländischen Arbeitskräfte in der Schweiz, wie erwähnt, einen bedeutenden Faktor für die schweizerische Volkswirtschaft. Angesichts dessen, dass Curti als Gründer der »Zürcher Post«, als ehemaliger Zürcher Kantonsrat (1891–1894) und ehemaliger Zürcher Nationalrat (1890–1896) mit den Zürcher Verhältnissen bestens vertraut war, erstaunt es nicht, dass ausgerechnet er diesen Antrag im Parlament stellte. Mit seinem Postulat fasste Theodor Curti die Einbürgerung ausländischer, in der Schweiz geborener Kinder ins Auge. Curti nannte in diesem Zusammenhang die Zahl von 90 000 in der Schweiz ansässigen ausländischen Staatsangehörigen, die hier geboren waren.90 Das entsprach rund 39 % der damals vom Bundesrat in seiner Botschaft genannten Zahl von rund 230 000 Auslän86 BAR E 21 20589, BG v. 25. Juni 1903 betr. die Erwerbung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, 1. Bd., 1899–1901, Genehmigung des Postulats zur Erleichterung der Einbürgerung durch den Nationalrat (9. Dezember 1898). 87 Postulat Curti, zitiert nach: Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Revision des Bundesgesetzes betreffend die Erteilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 20. März 1901, S. 458. 88 Ebd. 89 Ebd., S. 458f. 90 Ebd., S. 459.

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derinnen und Ausländern.91 In Anbetracht dieser Zahlen gab Curti wie der Zürcher Stadtrat ein Jahr zuvor zu bedenken, dass es doch »ein höchst beklagenswerter Missstand« sei, »wenn Personen, die nach Geburt, Erziehung, Domizil und ganzer wirtschaftlicher Thätigkeit de facto Schweizer«92 sind, in den ausländischen Militärdienst eingezogen würden. Insofern meinte Curti mit der Formulierung »die sich dazu überhaupt eignenden Elemente der schweizerischen Nation zu assimilieren« nicht die Verinnerlichung von Traditionen, Wert- und Verhaltensmustern durch die ausländische Bevölkerung, was heute gewöhnlich unter dem Bergriff der »Assimilation« verstanden wird.93 Vielmehr verstand Curti unter dem Begriff »assimilieren« die staatsbürgerliche Integration der in der Schweiz lebenden Ausländer in die schweizerische »Staatsbürgernation«, eine Integration also, die aus der Übernahme von Pflichten und der Wahrnehmung politischer Mitspracherechte bestand. Der staatsbürgerlichen Integration der ausländischen Wohnbevölkerung standen in der Schweiz hauptsächlich das Fehlen des »ius soli« und die restriktive Einbürgerungspraxis der meisten Kantone und Gemeinden entgegen. Die Einbürgerungsziffern waren gering. Im Jahr 1889 waren in der Schweiz insgesamt 396 Einbürgerungsgesuche von ausländischen Bewerberinnen und Bewerbern gutgeheißen worden. Ehepartnerinnen und Kinder mitgerechnet, waren auf diese Weise insgesamt 1 339 Personen zu Schweizerinnen und Schweizern geworden. Im Verhältnis zur Gesamtzahl der ausländischen Wohnbevölkerung (229 650 im Jahr 1888) hatte diese Zahl einer Einbürgerungsziffer von knapp 0,45 % entsprochen. Im Jahr 1900 lag die Zahl der positiv entschiedenen Einbürgerungsgesuche ausländischer Staatsangehöriger zwar etwas höher. Nun waren es 849 Fälle, mit den Ehefrauen und Kindern betraf dies 2 771 Personen. Gleichzeitig lebten jetzt aber 383 424 ausländische Staatsangehörige in der Schweiz. Somit lag die Einbürgerungsziffer im Jahr 1900 mit etwas mehr als 0,7 % noch immer markant unter 1 %.94 Die Überlegung von Theodor Curti, die Zahl der ausländischen Wohnbevölkerung durch die erleichterte Einbürgerung insbesondere der in der Schweiz geborenen Kinder zu reduzieren, lag angesichts dieser Zahlen nahe. 91 Ebd., S. 460. Sowohl Nationalrat Curti als auch der Bundesrat bezogen sich auf die Zahlen der Volkszählung von 1888. Neuere Zahlen lagen zu diesem Zeitpunkt nicht vor. Vgl. dazu: Eidgenössisches Statistisches Bureau, S. 28. 92 Beide Zitate: Postulat Curti, zitiert nach: Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Revision des Bundesgesetzes betreffend die Erteilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 20. März 1901, S. 459. 93 In den Sozialwissenschaften wird der Begriff der »Assimilation« definiert als »Vorgang der Durchdringung und Verschmelzung, bei dem Einzelne oder Gruppen die Traditionen, Wertund Verhaltensmuster anderer Gruppen übernehmen und in diesen allmählich aufgehen«. dtvLexikon in 20 Bänden, Bd. 1. 94 Alle Angaben: Eidgenössisches Statistisches Bureau, S. 134.

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Gleichzeitig konnte Nationalrat Curti von den Erfahrungen des französischen Gesetzgebers bei der Einführung des »ius soli« im Jahr 1889 profitieren. In Frankreich hatte sich mit dem Staatsangehörigkeitsgesetz von 1889 das Territorialprinzip durchgesetzt, zu dem Zeitpunkt also, da Frankreich ebenso wie Deutschland und die Schweiz zu einem Einwanderungsland geworden war.95 Seit 1851 hatte in Frankreich ein optionales »ius soli« für die dritte Einwanderergeneration bestanden. Im Jahr 1889 war dieses durch das »ius soli« für die dritte Generation ohne Optionsrecht und das optionale »ius soli« für die zweite Generation ersetzt worden. Letzteres war an die Bedingung geknüpft, dass die Kinder bei Volljährigkeit im Land wohnhaft blieben. Mit der automatischen Zuschreibung der französischen Staatsangehörigkeit bei Geburt hatten die Revisionsbefürworter in den 1880er Jahren hauptsächlich das Ziel verfolgt, die Wehrpflicht auch auf die in Frankreich geborenen und sozialisierten Ausländer auszudehnen.96 Allerdings hatten dafür, wie Patrick Weil ausführt, weder demografische noch militärisch-strategische Überlegungen den Ausschlag gegeben; das sollte erst nach dem Ersten Weltkrieg der Fall sein. Viel dringender habe sich in den 1880er Jahren die Frage nach den republikanisch-egalitären Prinzipien gestellt, die mit dem »ius soli« durchgesetzt werden sollten.97 Insbesondere habe dabei die Gleichheit der Pflichten im Zentrum gestanden. So hatten die Revisionsbefürworter in den siebenjährigen Debatten zum neuen Staatsangehörigkeitsgesetz in Frankreich vor allem den Umstand diskutiert, dass die zweite Einwanderergeneration aufgrund der fehlenden Wehrpflicht gegenüber den jungen Franzosen auf dem Arbeitsmarkt bevorzugt sei.98 Die Ähnlichkeit zwischen den Argumenten, die in Frankreich zur Einführung des »ius soli« verwendet worden waren, und Theodor Curtis Argumenten ist offensichtlich. So entsprach besonders der Topos der ausländischen Konkurrenz auf dem einheimischen Arbeitsmarkt der französischen Argumentation. In seiner vermeintlichen Plausibilität wurde dieser Topos auch in der Schweiz kaum angezweifelt. Selbst juristische Experten führten dieses Argument ins 95 Zwischen 1888 und 1900 übertraf die Zahl der in die Schweiz einwandernden Menschen die Zahl der auswandernden Menschen erstmals. Für Schweizerinnen und Schweizer betrug die Wanderungsbilanz damals –1,6 ‰, für Ausländerinnen und Ausländer betrug sie +34,6 ‰. Ritzmann-Blickenstorfer, S. 357. 96 Weil, L’histoire de la nationalité française, S. 60. Vgl. dazu: Ders., Zugang zur Staatsbürgerschaft, S. 103. 97 Mit dem »ius soli« für die zweite Generation wurden lediglich 4 000 neue Soldaten gewonnen, während jedes Jahr 300 000 junge Franzosen in den Militärdienst eintraten. Allerdings hatte man 1889 für diese Anzahl Soldaten gar keine Verwendung. Konsequenterweise ging deshalb mit der Einführung des »ius soli« auch die Verkürzung des Militärdienstes und die Ausdehnung desselben auf bisher privilegierte Gruppen wie Wohlhabende, Studierende, Priester und Lehrer einher. Weil, L’histoire de la nationalité française, S. 60, sowie Brubaker, S. 38. 98 Noiriel, La tyrannie du national, S. 84–86.

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Feld.99 Als einer der wenigen, die dem Topos der »ausländischen Erwerbskonkurrenz« widersprachen, ist der radikal-demokratische Basler Regierungs- und Nationalrat Heinrich David zu nennen. In der Nationalratsdebatte zum neu zu erlassenden Bundesgesetz in den Jahren 1901 und 1902 warnte er davor, sich »durch eine falsche Gefahr schrecken zu lassen.«100 Doch erst im Jahr 1910 bestätigte der Bericht des eidgenössischen statistischen Bureaus über die Ergebnisse der Volkszählung von 1910, dass Schweizer aufgrund der Wehrpflicht gegenüber ausländischen Arbeitskräften nicht benachteiligt seien.101 Theodor Curtis Postulat wurde am 9. Dezember 1898 vom Nationalrat angenommen. Es markierte einen Wendepunkt in der bundesstaatlichen Bürgerrechtspolitik. Die Ausländer wurden damit als zentraler Gegenstand der bundesstaatlichen Einbürgerungspolitik »entdeckt«. Zwar hatte der Bundesrat schon in einem Kreisschreiben im Jahr 1890 auf »das beträchtliche Anwachsen der landesfremden Bevölkerung in der Schweiz«102 hingewiesen und die Kantone dazu aufgefordert, ihn über jedes Einbürgerungsgesuch in Kenntnis zu setzen. Auf der Grundlage dieser Daten wollte der Bundesrat eine regelmäßige Statistik zu den Einbürgerungen in der Schweiz führen. Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass der Bundesrat dieses Kreisschreiben ein Jahr nach der Einsetzung der Bundesanwaltschaft an die Kantone gerichtet hatte. Mit der Bundesanwaltschaft war eine Institution geschaffen worden, die seither über die reguläre Prüfung der eingereichten Schriften hinaus Nachforschungen zu den einbürgerungswilligen Personen anstellte. Darüber hinaus hatte eine Kommission des Ständerats im Jahr 1891 auf das »progressive Anwachsen« der Zahl der Ausländer in der Schweiz hingewiesen und dem Bundesrat geraten, »diesen unnatürlichen und für unser kleines Land nicht ungefährlichen Verhältnissen rege Aufmerksamkeit zu schenken.«103 Die Kommission hatte dem Bundesrat sogar signalisiert, dass der Ständerat die erleichterte Einbürgerung von Ausländern unterstützen würde, wenn diese familiär, beruflich oder durch Geburt mit der Schweiz verbunden seien. Doch der Bundesrat hatte sich damals über die getroffenen Maßnahmen innerhalb der Bundesverwaltung hinaus nicht zum Handeln veranlasst gesehen.

99 Vgl. z.B. Carlin, S. 23. 100 Nationalrat Heinrich David, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 21, XII. Jg., 1902, 17. Juni, Nationalrat, S. 278. Heinrich David war von 1897–1910 Basler Regierungsrat und von 1899–1908 Nationalrat. 101 Göttisheim, Das Ausländerproblem, S. 337. 102 Kreisschreiben des Bundesrates an sämmtliche Kantonsregierungen betreffend statistische Erhebungen über Einbürgerung von Landesfremden, vom 7. August 1890, S. 1185, folgende Angabe: ebd., S. 1186. 103 Bericht der Kommission des Ständerathes über die Geschäftsführung des Bundesrathes und des Bundesgerichtes im Jahre 1890, vom 23. Mai 1891, S. 1055f., folgende Angabe: ebd.

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Dass die Ausländer nun schließlich im Jahr 1898 zum Gegenstand der bundesrätlichen Einbürgerungspolitik wurden, dazu hatten keine neuen Zahlen über die Zunahme der ausländischen Bevölkerung beigetragen – noch im Jahr 1900 lagen dem Bundesrat nur die Zahlen von 1888 vor –,104 sondern die Zürcher Erfahrungen und die kollektive Verunsicherung im »Fin de siècle«. Zum ersten Mal seit 1848 rückte jetzt, kurz vor der Jahrhundertwende, die staatsbürgerliche Integration der Ausländerinnen und Ausländer ins Zentrum der bundesstaatlichen Bürgerrechtspolitik. Diese Bestrebungen sollten bis zum Ersten Weltkrieg und teilweise bis ins Jahr 1928 andauern.

5. Erleichterte Einbürgerung von Ausländern? Die Haltung der Kantone In Reaktion auf das Postulat Curti gelangte der Bundesrat am 28. März 1899 als Erstes mit einem Kreisschreiben an die Kantone. Der Bundesrat wusste, dass die Frage der erleichterten Einbürgerung eine Frage der Kantone mit größeren städtischen Zentren und einzelner Grenzkantone war. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung war hier am größten, was hauptsächlich von den Kantons- und Stadtbehörden als Problem wahrgenommen wurde. So lag der Ausländeranteil im Kanton Zürich damals bei 16,6 %, in der Stadt Zürich war jede dritte Person ausländischer Herkunft. Noch höhere Werte besaßen die an Frankreich und Deutschland grenzenden Kantone Basel-Stadt (34,4 %) und Genf (39,4 %). Diese Kantone und Städte, so nahm der Bundesrat an, würden die Erleichterung der Einbürgerung begrüßen. Wie stand es aber mit denjenigen Kantonen, in denen der Ausländeranteil zwischen 1,9 % wie in Freiburg und 9,1 % wie in Neuenburg betrug?105 Würden sie eine entsprechende Revision des Bundesgesetzes aus dem Jahr 1876 befürworten? In seinem Kreisschreiben forderte der Bundesrat die Kantonsregierungen auf, zu verschiedenen Fragen Stellung zu nehmen. Die Fragen betrafen das quantitative Verhältnis zwischen ausländischer und schweizerischer Bevölke104 BAR E 21 20589, BG v. 25. Juni 1903 betr. die Erwerbung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, 1. Bd., 1899–1901, Botschaftsentwurf des Politischen Departements, vom 28. Mai 1900, S. 3. 105 Alle Zahlen nach: BAR E 21 20589, BG v. 25. Juni 1903 betr. die Erwerbung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, 1. Bd., 1899–1901, Botschaftsentwurf des Politischen Departements, vom 28. Mai 1900, S. 2f. Zum Vergleich: In Frankreich lag der Ausländeranteil um 1900 bei 2,7 %, in Italien bei 1 %, in Österreich bei 1,7 % und im deutschen Reich bei 3 %. Angaben nach Bundesrat Ernst Brenner im Jahr 1902. Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 44, XII. Jg., 1902, 5. Dezember, Ständerat, S. 627.

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rung, die jeweilige Zahl der eingereichten und abgelehnten Einbürgerungsgesuche, die kantonalen Einbürgerungsbedingungen und deren Wirkung auf die kantonale Einbürgerungsziffer sowie die Meinung der Kantone zu einer allfälligen Erleichterung der Einbürgerung von Ausländern durch die Revision des Bundesgesetzes aus dem Jahr 1876.106 Das Ergebnis der bundesrätlichen Erhebung war ernüchternd. 16 der 22 Kantone sprachen sich gegen die erleichterte Einbürgerung von Ausländern und gegen weitere Eingriffe des Bundes in die kantonalen und kommunalen Kompetenzen im Bereich des Bürgerrechts aus.107 Als Grund dafür nannten mehrere Kantone die Freiheit der Gemeinden und das an die Bürgergemeinde gebundene Armenrecht. Die Luzerner Kantonsregierung hielt beispielsweise fest, dass den Gemeinden nicht zugemutet werden könne, »jeden beliebigen Ausländer unentgeltlich oder gegen ganz geringe Taxen als Bürger aufnehmen zu müssen, nachdem die erstern verpflichtet sind, die Bürger im Verarmungsfalle zu unterstützen. In Anbetracht dessen ist es gewiss billig, dass den Gemeinden volle Freiheit darüber gelassen wird, ob und wie sie einem Ausländer das Bürgerrecht erteilen wollen …«108 Im Kanton Luzern machte im Jahr 1898 der Anteil der ausländischen Bevölkerung an der Kantonsbevölkerung 2,3 % aus. Insgesamt fünf ausländische Personen hatten in diesem Jahr ein Bürgerrechtsgesuch für sich und ihre Familien gestellt.109 Mehrere Kantone, die eine Einbürgerungserleichterung für Ausländer ablehnten, betonten, dass jeder Kanton seine Probleme selbst lösen solle. Zu diesen gehörte der Kanton Schwyz, wo im Jahr 1898 der Ausländeranteil 5,3 % betrug. Die Schwyzer Regierung sprach sich dafür aus, alles so zu belassen, wie es sei. Denn die Bedürfnisse der Grenzkantone und der Grenzstädte seien von denen der Innerschweizer Kantone so verschieden, dass eine gemeinsame Lösung nicht möglich sei.110 Zur föderalistischen Vielfalt hinsichtlich des Bürgerrechts äußerte sich auch die Regierung des Kantons Freiburg: »Unsrer Ansicht nach liegt das beste Mittel, die von Ihnen berührte nationale Gefahr zu beschwören, in den Händen der Kantone … Wenn daher einige derselben die Notwendigkeit fühlen, auf specielle Art und Weise die Einbürgerung der Fremden zu erleichtern, so können sie von sich selber aus dazu gelangen und es 106 BAR E 21 20589, BG v. 25. Juni 1903 betr. die Erwerbung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, 1. Bd., 1899–1901, Botschaftsentwurf des Politischen Departements, vom 28. Mai 1900, S. 2f. Dem Botschaftsentwurf waren die Antworten der Kantone beigefügt. Vgl. ebd., S. 43–118. 107 Dazu gehörten die Kantone Bern, Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Glarus, Zug, Freiburg, Solothurn, Schaff hausen, Wallis, Neuenburg und die beiden Halbkantone Baselland und Appenzell Innerrhoden. Vgl. dazu: ebd., S. 43–118. 108 Ebd., Antwortschreiben des Kantons Luzern, S. 63. 109 Ebd., S. 62. 110 Ebd., Antwortschreiben des Kantons Schwyz, S. 65f.

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bedarf dafür keines Dazwischentretens der Bundesgewalt.«111 Die Absage der Freiburger Regierung an eine gesamtschweizerische Gangart war deutlich. Obwohl der Bundesrat in seinem Kreisschreiben die Frage nach möglichen Änderungen auf der Ebene der Bundesgesetzgebung sehr allgemein formuliert hatte, nahmen verschiedene Kantone direkt Stellung zu der von Nationalrat Theodor Curti aufgeworfenen Frage nach der automatischen Einbürgerung von in der Schweiz geborenen ausländischen Kindern. Dabei gingen die Kantone von einer »Zwangseinbürgerung« in Anlehnung an Frankreich aus. Gemeint war damit das »ius soli« ohne Optionsrecht – ob für die zweite oder dritte Einwanderergeneration war unklar. Gegen solche Zwangseinbürgerungen sprach sich beispielsweise die Regierung des Kantons Neuenburg aus. Dabei brachte sie Argumente vor, die sich in merkwürdiger Mischung auf die schweizerische »Willensnation« und die »schweizerische Volksfamilie« bezogen: »Wir wollen die schweizerische Nationalität nicht Leuten aufdrängen, welche Franzosen und Italiener bleiben und nicht zu unserm Volke gehören wollen; wir wollen sie nicht gegen ihren Willen an uns ketten; lassen wir ihnen die Freiheit, ihre Nationalität zu behalten, so lange sie wollen, und warten wir ab, bis sie selber ihre Aufnahme in die schweizerische Volksfamilie nachsuchen.«112 Die Kantone Zürich, Basel-Stadt, St. Gallen, Thurgau und Tessin unterstützten dagegen sowohl die erleichterte Einbürgerung als auch das Eingreifen des Bundes. Ein besonderes Augenmerk verdienen die Vorschläge der Kantone Basel-Stadt, Zürich und Genf. Sie beschäftigten sich zu jener Zeit am stärksten mit der Frage der Einbürgerung im Sinne einer Liberalisierung. Die Zürcher Kantonsregierung legte ihre Standpunkte im Vergleich mit den übrigen Kantonen am umfassendsten dar. Dabei äußerte sie dieselben Bedenken, wie sie schon der Stadtrat im Jahr 1897 formuliert hatte. Insbesondere nannten die Zürcher Behörden die wirtschaftliche Konkurrenz der ausländischen Arbeitskräfte für die militärpflichtigen Schweizer sowie die Rechtlosigkeit der Ausländer, die für die schweizerische Demokratie einen Nachteil darstelle. Im Zürcher Antwortschreiben an den Bundesrat war zu lesen: »Wenn der demokratische Staatsgedanke in Volkswahl und Volksgesetzgebung das Unterpfand der Treue der Bürger erblickt zu Behörde und Gesetz, und wenn diese um so sicherer ruhen, je vollständiger die Grundlage volksmässiger Stimm- und Wahlberechtigung, so verliert, je grösser andererseits die Zahl derer, die davon ausgeschlossen sind, um so mehr die öffentliche Ordnung an innerer Festigkeit. Wenn die Ausländer als Inländer aufgenommen werden, so teilen sie nicht nur deren Rechte, sondern auch deren Interessen.«113 Wiederum wurden hier republikanische Grundsätze formuliert. Gleichzeitig bedeu111 Ebd., Antwortschreiben des Kantons Freiburg, S. 77. 112 Ebd., Antwortschreiben des Kantons Neuenburg, S. 116. 113 Ebd., Antwortschreiben des Kantons Zürich, S. 53.

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tete die staatsbürgerliche Integration der in der Schweiz niedergelassenen Ausländer für die Zürcher Regierung aber auch eine Maßnahme zur Stärkung der »öffentlichen Ordnung«. Aufgrund der dargelegten Nachteile des hohen Ausländeranteils für Demokratie und Wirtschaft betonte die Zürcher Regierung die Notwendigkeit, auf gesamtschweizerischer Ebene nach Lösungen zu suchen. Sie formulierte denn auch verschiedene Vorschläge, wie die Einbürgerung von Ausländern in der Schweiz durch die Bundesgesetzgebung erleichtert werden könnte. Der Maßnahmenkatalog war umfangreich. Er betraf die Ausdehnung des Rechts auf Wiedereinbürgerung auf ehemalige Schweizerinnen, die ihr Bürgerrecht durch Heirat mit einem Ausländer verloren hatten, die Herabsetzung der Bundesgebühr von 35 auf 10 Franken, das Recht auf Einbürgerung bei Geburt oder längerem Wohnsitz in der Schweiz, die Unentgeltlichkeit der Einbürgerung unter bestimmten Bedingungen und die Einführung eines optionalen »ius soli«.114 Ebenso wie Zürich war auch Genf der Meinung, »dass es passend ist, die Einbürgerung der bei uns geborenen Ausländer zu erleichtern.« Dem Genfer Grossen Rat liege bereits ein entsprechender kantonaler Gesetzesentwurf vor. Zur Frage nach weiteren Eingriffen des Bundes hieß es aber aus Genf: »Wir haben Ihnen keinen Vorschlag zu machen.«115 Auch die Regierung des Kantons Basel-Stadt unterstützte die bundesrätliche Absicht, die Einbürgerung von Ausländern zu erleichtern, und brachte einen neuen Gedanken ins Spiel. »Wir halten vor Allem dafür«, so der Basler Regierungsrat, »dass eine wesentliche Erleichterung des Bürgerrechterwerbs geschaffen würde, wenn die Kantone vorschreiben könnten, dass durch Geburt im Kanton und continuierlichen Aufenthalt in demselben während einer bestimmten Zeitdauer das kantonale Bürgerrecht erworben wird, vorbehältlich der Option nach eingetretener Mehrjährigkeit.«116 Was die Basler Regierung zu diesem Zeitpunkt wohl kaum ahnte: Gerade ihr Vorschlag sollte sich als föderalistische Variante eines »ius soli« als politisch konsensfähig erweisen und im Bundesgesetz von 1903 seinen Niederschlag finden. Abschließend soll auf drei Punkte hingewiesen werden, die bei der Lektüre der Antwortschreiben der Kantone deutlich werden. Zunächst war die Schweiz in der Frage nach der Einführung des »ius soli« im Jahr 1899 entlang der Grenze zwischen den Kantonen mit einem niedrigeren und einem höheren Ausländeranteil gespalten. In den Kantonen mit hohem Ausländeranteil hatte die damalige Rechtstradition des schweizerischen Gemeinde- und Kantonsbürgerrechts aufgrund der Migration an Geltung eingebüßt. In den Augen der 114 Ebd., S. 57. 115 Beide Zitate: ebd., Antwortschreiben des Kantons Genf, S. 118. 116 Ebd., Antwortschreiben des Kantons Basel-Stadt, S. 81.

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betreffenden Kantonsregierungen musste das schweizerische Staatsangehörigkeitsrecht den neuen Gegebenheiten angepasst werden. Weiter zeigen die Antwortschreiben, dass selbst die Kantone, die für die erleichterte Einbürgerung von Ausländern eintraten, das Mittel der Zwangseinbürgerung, das »ius soli« ohne Optionsrecht, ablehnten. Angesichts des mehrfach von den Kantonsregierungen erwähnten Desinteresses, das die ausländische Bevölkerung gegenüber dem Schweizer Bürgerrecht besitze, stellt sich allerdings die Frage, ob die Einführung eines »ius soli« mit Optionsrecht tatsächlich zur Senkung des Ausländeranteils beigetragen hätte. Schließlich bleibt festzuhalten, dass die Umfrage bei den Kantonen nicht ohne Wirkung blieb, auch wenn der Bundesrat mit seinem Kreisschreiben auf eine breite Allianz von Erleichterungsgegnern gestoßen war. So hatte der Bundesrat hauptsächlich einen ersten Schritt getan, um das quantitative Verhältnis zwischen der einheimischen und der ausländischen Bevölkerung und die Frage nach der erleichterten Einbürgerung von Ausländern im Problembewusstsein der Kantonsregierungen zu verankern.

6. Carl Alfred Schmid: »Unsere Fremdenfrage« Die Kantone, die sich 1899 gegen das Eingreifen des Bundes zur erleichterten Einbürgerung von Ausländern geäußert hatten, erhielten ein Jahr später vom Zürcher Armensekretär Carl Alfred Schmid Unterstützung. Dieser befürwortete zwar vehement die erleichterte Einbürgerung von Ausländern. Doch gleichzeitig stemmte er sich nicht weniger gegen die Erweiterung der Bundeskompetenzen im Bereich des Schweizer Bürgerrechts. Im Jahr 1899 hatte die Stiftung »von Schnyder von Wartensee für Kunst und Wissenschaft in Zürich« das Thema der Einbürgerung aufgegriffen und einen Wettbewerb ausgeschrieben. Die Wettbewerbsaufgabe hatte darin bestanden, die »Gesetzgebung und Praxis betreffend der Rechtsstellung und die Einbürgerung ausländischer Einwohner« darzustellen, die »Bedeutung der ausländischen Bevölkerung für die Schweiz« zu würdigen, eine »Kritik des geltenden Rechts« vorzunehmen sowie »Sanierungsvorschläge« zu formulieren.117 Der Wettbewerb der Stiftung von Schnyder von Wartensee stellt ein frühes Zeugnis dafür dar, dass sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts allmählich private Vereine, Gesellschaften oder überparteiliche Gruppierungen für das Thema des Schweizer Bürgerrechts zu interessieren begannen.

117 Alle Zitate: C.A. Schmid, Unsere Fremdenfrage (1900), S. III.

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Die einzige Arbeit, die im Rahmen des Wettbewerbs der Stiftung von Schnyder von Wartensee eingereicht wurde, stammte aus der Feder des Sekretärs der »Freiwilligen und Einwohnerarmenpflege der Stadt Zürich« Carl Alfred Schmid.118 Seine Arbeit trug den Titel »Unsere Fremdenfrage«. Anlässlich der Jahresversammlung der »Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft« in Murten im Jahr 1896 hatte Schmid ein Referat zum Thema »Die Unterstützung der Ausländer in der Schweiz« gehalten. Seither, so die Worte Schmids, sei die »Fremdenfrage« zu seinem »Lieblingsthema« geworden.119 Mit Verve brachte er seine Beobachtungen und Überlegungen zu Papier. Ganz im Zeichen des »Fin de siècle« zeichnete Schmid ein schwarzes Bild: Seit den 1890er Jahren habe die »unauf haltsam … vor sich gehende Fremdeneinwanderung« den »Charakter einer eigentlichen Invasion« angenommen.120 Wenn es so weiter gehe, sei das Bestehen der Schweiz bis ins Jahr 2000 nicht gewährleistet. Um seinen Ausführungen Gewicht zu verleihen, bemühte Schmid eine neue Wortschöpfung: den Begriff der »Überfremdung«. So schien es für Schmid »festzustehen, dass unter den gegebenen Rechtszuständen und Niederlassungsverhältnissen bei der geradezu riesigen Anziehungskraft der schweizerischen Grossstädte (Zürich, Basel, Genf ) in absehbarer Zeit eine so hochgradige Ueberfremdung der Schweiz stattfindet, dass ihre nationale Existenz nur durch ein Wunder denkbar ist.«121 Zu den Gründen für die Zunahme der Einwohnerzahlen in den genannten Städten zählte Schmid nicht nur die hohe Einwanderung, sondern auch den Geburtenüberschuss der ausländischen Bevölkerung und die niedrige Einbürgerungsziffer.122 Für die »nationale Existenz« – so Schmid weiter – entstünden aus dieser Situation vor allem Nachteile, während die niedergelassenen Ausländer von zahlreichen Vorteilen profitieren würden: Diese müssten keinen Militärdienst leisten und könnten in einzelnen Kantonen – wie etwa in Zürich – im Verarmungsfall nicht ausgewiesen werden. Das politische Stimmrecht bilde hingegen keinen genügenden Anreiz für die »freiwillige Einbürgerung«.123 Deshalb seien die Vorteile der Niederlassung gegenüber der Einbürgerung zu beseitigen und die Zahl der Einbürgerungen anzuheben. Ein Mittel dafür sah Schmid in der Einführung der »automatischen Einbürgerung«. Dies hätte seiner Meinung nach bedeutet, »dass die niedergelassenen Fremden durch eine gesetzliche Vorrichtung gleichsam automatisch, sobald 118 Carl Alfred Schmid war später Präsident der Kommission der schweizerischen Armenpflegerkonferenz und blieb bis in die 1920er Jahre einer der aktivsten Exponenten im Kampf gegen die so genannte »Überfremdung«. 119 C.A. Schmid, Unsere Fremdenfrage (1900), S. IV. 120 Beide Zitate: ebd., S. 1. 121 Beide Zitate: ebd., S. 5. 122 Ebd., S. 4f. 123 Beide Zitate: ebd., S. 12f.

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gewisse Bedingungen der Zeit u.s.w. vorhanden sind, ohne ihr Zutun Bürger werden …«124 Damit schlug Carl Alfred Schmid eine ähnliche Maßnahme zur Lösung der »Fremdenfrage« vor wie der Bundesrat zur selben Zeit im Zuge der Revision des Bundesgesetzes aus dem Jahr 1876 – allerdings mit bedeutenden Unterschieden. Zum einen plädierte Schmid für die »automatische Einbürgerung«, die von den Gemeinden und »immer unter der Voraussetzung des Fehlens einer bundesrätlichen Einmischung« durchzuführen sei. Schmids Begründung war einfach: »[N]icht nur der Bund, sondern auch der Kanton [kann] ja ohne die Gemeinden keine Bürger machen.« Zum andern sah Schmid aber auch in der Zwangseinbürgerung eine legitime Möglichkeit, um auf das empfundene Missverhältnis zu reagieren: »Sind wir aber darauf angewiesen, um jeden Preis Bürger zu bekommen, so kann uns auch eine Periode der Zwangseinbürgerung keine Skrupel machen. In Notlagen darf man auch vor energischen Massregeln nicht zurückschrecken.«125 Trotz der inhaltlichen Nähe zu den Liberalisierungsbestrebungen des Bundes stellte Schmids Text insgesamt ein Pamphlet gegen die Kompetenzen des Bundes in Einbürgerungsfragen dar. Schmid vertrat die Meinung, dass die Erteilung einer Einbürgerungsbewilligung nicht zu den Befugnissen des Bundes gehören sollte, solange die Armenpflege kommunal und kantonal organisiert sei. Das Kantonsbürgerrecht sei die notwendige Voraussetzung für das Schweizer Bürgerrecht und staatsrechtlich seien nur die Kantone befugt, die Gemeinden zu überwachen. Deshalb brauche es für Einbürgerungen keine vorhergehende Bewilligung des Bundes. Andernfalls müsste der Bund die Gemeinden bei der Armenpflege finanziell unterstützen.126 Im selben Atemzug monierte Schmid, dass sich die bisherige Staatsangehörigkeitspolitik des Bundes durch Nachlässigkeit und Untätigkeit ausgezeichnet habe. Beispielsweise war für ihn »unbegreiflich, dass der Bundesrat, der sich doch heute die Bewilligung zum Erwerb des Bürgerrechts in der Schweiz vorbehält, in seinen Akten nicht einmal notiert, ob die Kandidaten in der Schweiz geboren sind, noch, ob die Ehefrau als ledig (eventuell als Witwe) Schweizerin war.«127 Zudem warf Schmid dem Bund vor, die Attraktivität der Niederlassung von Ausländern durch Niederlassungsverträge mit anderen Staaten zu sehr gefördert zu haben. »Die nachgiebige äussere Politik des Bundes«, klagte Schmid, »wirft so ihre bedenklichen Reflexe auf das kantonale Niederlassungsund Einbürgerungswesen.« Deshalb müsse »der Vorteil der Nichtnaturalisation für die fremden Niedergelassenen, der heute in frappanter Weise besteht, 124 125 126 127

Beide Zitate: ebd., S. 28f. Alle Zitate: ebd. Ebd., S. 25f. Ebd., S. 28.

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von Grund aus beseitigt werden. Die fremden Niedergelassenen sollen von der Niederlassung zum Vorteil auch den Nachteil haben.«128 Niedergelassene Ausländer besaßen in Zürich ein Recht auf Unterstützungsleistungen. Doch im Gegensatz zu den Zürcher Bürgerinnen und Bürgern mussten sie keine Armensteuer entrichten. Schließlich konstatierte Schmid, dass die Schweiz »trotz aller Fortschritte zum einheitlichen Nationalstaat es unentschuldbarerweise« versäumt habe, in die »unhaltbar gewordenen Zustände der Bevölkerungszusammensetzung« einzugreifen. Und polemisch stellte der Zürcher Armensekretär die Frage: »Was nützt es uns, wenn wir Einen nationalen Rechtsstaat haben, Ein grosses Bundesrecht, aber keine schweizerische Nation dazu?«129 Schmids Ansichten fanden bei den Begutachtern der Stiftung von Schnyder von Wartensee keine Anerkennung. Sie sahen sich nicht in der Lage, dem Verfasser einen Preis zu verleihen.130 Als namhafte Schweizer Staatsrechtler mussten die Wettbewerbsjuroren Walther Burckhardt und Fritz Fleiner die Opposition Schmids gegen den Bund ablehnen. Zudem konnten die angesehenen Juristen die Einführung eines »ius soli« ohne Optionsrecht der betroffenen Personen wohl nicht unterstützen: Die geltenden völkerrechtlichen Richtlinien hielten damals für die zweite Einwanderergeneration nur ein optionales »ius soli« für zulässig.131

7. Das kantonale »ius soli« im Bundesgesetz von 1903 Trotz der ablehnenden Haltung eines Großteils der Kantone gegenüber der erleichterten Einbürgerung der ausländischen Wohnbevölkerung nahm der Bundesrat im Jahr 1899 die Revision des Bundesgesetzes »betreffend die Ertheilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe« aus dem Jahr 1876 an die Hand. Das Kernstück des Gesetzesentwurfs bestand in der Erlaubnis für die Kantone, das »ius soli« für die zweite Generation der Einwanderer mit Optionsrecht einzuführen.132 Gemäß der bundesrätlichen Vorlage sollten die 128 Alle Zitate: ebd., S. 16f. 129 Alle Zitate: ebd., S. 23. 130 Stiftung von Schnyder von Wartensee, Bericht über die Jahre 1894 bis 1903, Zürich 1904, S. 5. Trotz dieses Sachverhalts wurde »Unsere Fremdenfrage« in der Zürcher Post, Nr. 167, Juli 1900, veröffentlicht, deren Herausgeber Theodor Curti war. 131 Skinner, S. 77. 132 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Revision des Bundesgesetzes betreffend die Erteilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 20. März 1901, S. 492.

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Kantone damit die Befugnis erhalten, »auf dem Wege der Gesetzgebung zu bestimmen, dass der Geburt ein massgebender Einfluss auf die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes eingeräumt« werde, und zwar ohne dass die Bewilligung des Bundesrates eingeholt werden müsse. Zudem sollten die Kantone das Recht erhalten, per Gesetz »die im Kanton gebornen Kinder von Ausländern, welche zur Zeit der Geburt wenigstens zehn Jahre im Kanton gewohnt haben, zu Kantonsbürgern zu machen.«133 Der Bundesrat kommentierte den Gesetzesentwurf in seiner Botschaft vom 20. März 1901. Darin fasste er zunächst die Antworten aus den Kantonen auf das Kreisschreiben vom 28. März 1899 zusammen, um schließlich für die Minderheitsposition der Liberalisierungsbefürworter Stellung zu beziehen. Auf die Volkszählung von 1900 Bezug nehmend – der Anteil der Ausländerinnen und Ausländer gemessen an der Zahl der Gesamtbevölkerung war zwischen 1888 und 1900 von 7,9 % auf 11,6 % gestiegen – gab der Bundesrat zu bedenken:134 Man müsse es »als ein anormales Verhältnis bezeichnen …, wenn ein erheblicher Prozentsatz eines Landes Fremde sind, die vermöge dieser Eigenschaft von den öffentlichen Institutionen ausgeschlossen bleiben, d.h. jeder Mitwirkung an der Selbstverwaltung, die im demokratischen Staate eine immer ausgedehntere wird, enthoben sind.«135 Abgesehen davon, dass die Ausländer den allgemeinen Steuern unterstellt seien, besäßen sie weder Rechte noch Pflichten, seien bei der Wehrpflicht besser gestellt als die Schweizer und müssten auch keine Militärpflichtersatzsteuer leisten.136 Der Bundesrat verband in seiner Argumentation liberale mit republikanischen Vorstellungen von der schweizerischen Bürgergesellschaft. Wichtig war ihm nicht nur der republikanische Grundsatz einer Identität von regierenden und regierten Männern, sondern auch die liberale Ausdehnung der staatsbürgerlichen Rechte auf immer weitere Bevölkerungskreise, in diesem Fall auf die in der Schweiz geborenen und lebenden ausländischen (männlichen) Staatsangehörigen. Das Mittel dazu erkannte der Bundesrat in der Zuschreibung der Staatsangehörigkeit bei Geburt auf kantonalem Boden. Zwar gäbe es, so der Bundesrat weiter, verschiedene Bedenken bei der Einführung eines kantonalen »ius soli« mit Optionsrecht, beispielsweise neue Konflikte mit dem Ausland, die uneinheitliche Rechtslage innerhalb der Schweiz oder die Bevorzugung der im Kanton geborenen Ausländer gegenüber den im 133 Beide Zitate: ebd., S. 481. 134 Zahlen gemäß Ritzmann-Blickenstorfer, S. 134. Vgl. dazu: Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Revision des Bundesgesetzes betreffend die Erteilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 20. März 1901, S. 490. 135 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Revision des Bundesgesetzes betreffend die Erteilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 20. März 1901, S. 477. 136 Ebd.

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Kanton geborenen kantonsfremden Schweizern.137 Der Bundesrat wolle aber dennoch versuchen, »dem abnormalen Verhältnis zwischen der einheimischen und fremden Bevölkerung, welches nicht zu leugnende Missstände im Gefolge hat, in irgend einer Weise entgegenzutreten.«138 Dass den Kantonen die Befugnis erteilt werden sollte, auf Wunsch das optionale »ius soli« einzuführen, war nicht von Anfang an vorgesehen gewesen. In der Absicht, die Einbürgerung von in der Schweiz geborenen Ausländern zu fördern, hatte das Politische Departement im Vorfeld der parlamentarischen Debatte zunächst die Frage geprüft, ob das »ius soli« auf Bundesebene eingeführt werden könne. Zwei Möglichkeiten hatten dabei zur Debatte gestanden: eine Partialrevision der Bundesverfassung oder die Revision des Bundesgesetzes »über die Erteilung des Schweizer Bürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe« aus dem Jahr 1876. In dieser Frage hatte sich auch das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement zu Wort gemeldet. In seinem »Mitbericht« zum Botschaftsentwurf des Politischen Departements hatte das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement die Meinung vertreten, dass die Notwendigkeit einer Verfassungsrevision zur Einführung des »ius soli« »entschieden zu verneinen«139 sei. Auch wenn die Mehrheit der Kantone nicht für die Einführung des »ius soli« zu gewinnen sei, müsse doch geltend gemacht werden, »dass es nicht eine Frage kantonalen Rechtes und kantonaler Gesetzgebungspolitik allein ist, welche hier zur Lösung gelangen soll. Sobald durch die mit der Überzahl der Ausländer zusammenhängenden Verhältnisse, das Wohl des Gesamtstaates berührt wird, ist der Bund befugt, über den kantonalen Standpunkt zur Tagesordnung zu schreiten …«140 Insofern sei die Einführung des »ius soli« auf der Ebene der Bundesgesetzgebung durchzuführen. In Anlehnung an das zentralistisch organisierte, französische Staatsangehörigkeitsrecht hatte das Justiz- und Polizeidepartement deshalb vorgeschlagen, die Kinder eines in der Schweiz geborenen und hier lebenden Ausländers bei Geburt auf Schweizer Boden automatisch als Schweizer Bürger anzuerkennen. Ein Optionsrecht sollte ihnen dabei nicht zugestanden werden. Dies kam einer Forderung nach Zwangseinbürgerungen für die dritte Einwanderergeneration gleich. Für die zweite Generation, das heißt für Kinder, die in der Schweiz geboren waren und deren Eltern seit mindestens zehn Jahren ihren Wohnsitz in der Schweiz hatten, hatte das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement da137 Ebd., S. 482f. 138 Ebd., S. 483. 139 BAR E 21 20589, BG v. 25. Juni 1903 betr. die Erwerbung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, 1. Bd., 1899–1901, Mitbericht des Justiz- und Polizeidepartements zum Entwurfe einer Revision des Bundesgesetzes betreffend die Ertheilung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, vom 22. Oktober 1900, S. 3. 140 Ebd., S. 2.

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gegen ein optionales »ius soli« einführen wollen.141 Artikel 44 der Bundesverfassung von 1874 könne aufgrund seiner offenen Formulierung dahingehend ausgelegt werden, dass der Bund »vollständig frei« sei, Einbürgerungsbedingungen zu formulieren, »wie ihm dieselben als zweckmässig und richtig erscheinen.«142 Eine ganz andere Haltung hatte das Eidgenössische Politische Departement vertreten. Es war zum Schluss gekommen, dass einerseits die Einführung eines bundesstaatlichen »ius soli« durch die Bundesgesetzgebung auf der Grundlage des geltenden Artikels 44 der Bundesverfassung von 1874 nicht zulässig sei. Andererseits sei aber zum jetzigen Zeitpunkt eine Verfassungsänderung abzulehnen. Schließlich setzte sich das Politische Departement bei der Ausarbeitung des Gesetzesentwurfs gegenüber dem Justiz- und Polizeidepartement durch.143 In seiner Botschaft vom 20. März 1901 zum Gesetzesentwurf des Politischen Departements erläuterte der Bundesrat seine Haltung. Im Gegensatz zum Mitbericht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vertrat auch er strikt die Meinung, dass für die Einführung eines bundesstaatlichen »ius soli« eine Verfassungsrevision notwendig wäre. Um diesen Standpunkt zu untermauern, argumentierte der Bundesrat mit der historischen Entwicklung des Schweizer Bürgerrechts seit 1848 und der staatsrechtlichen Lehre von der »geteilten Souveränität« in Bundesstaaten. Entsprechend erinnerte die Botschaft daran, es sei schon in den Debatten zu den Verfassungsentwürfen von 1872 und 1874 mehrfach betont worden, dass bei der Erteilung des Schweizer Bürgerrechts »zwei Souveränitäten in Frage kommen, diejenige des Bundes soweit es das Verhältnis nach Aussen betreffe, und diejenige der Kantone, da das Schweizerbürgerrecht auf dem Bürgerrecht in Kanton und Gemeinde beruhe …«144 Der damalige gesetzgeberische Wille habe darin bestanden, »nicht über eine Kontrolle des Bundes über den Erwerb des Bürgerrechtes mit Rücksicht auf die Verhältnisse zum frühern Heimatstaat«145 hinauszugehen. Aufgrund des Wortlauts von Artikel 44 der Bundesverfassung sei es zwar möglich, das »ius soli« in das bundesstaatliche Recht aufzunehmen. Dagegen verbiete es aber die Entstehungsgeschichte von Artikel 44, dass der Bund in »Verhältnisse« eingreife, »welche den Grundlagen der Verfassung gemäss der Souveränität der Kantone anheimgegeben sind.«146 141 Ebd., S. 25. 142 Beide Zitate: ebd., S. 5. 143 Vgl. dazu: BAR E 21 20589, BG v. 25. Juni 1903 betr. die Erwerbung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, 1. Band, 1899–1901, Botschaftsentwurf des Politischen Departements vom 28. Mai 1900. 144 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Revision des Bundesgesetzes betreffend die Erteilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 20. März 1901, S. 480. 145 Ebd. 146 Ebd.

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Mit dem Festhalten an der historischen Deutung des Schweizer Bürgerrechts und der Bezugnahme auf die »zwei Souveränitäten« bekannte sich der Bundesrat zum Grundsatz, dass der Bund seine Macht gegenüber den Kantonen begrenzen musste, wenn er die Funktionalität des politischen Systems der Schweiz sichern und gewährleisten wollte. Die Einführung des »ius soli« auf Bundesebene, so die logische Folgerung des Bundesrats, sei deshalb nur auf der Grundlage einer Verfassungsänderung zu erreichen. Dafür aber sei der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen.147 Ob sich der Bundesrat tatsächlich nur von staatsrechtlichen Überlegungen leiten ließ oder etwa auch vom Gedanken an das noch immer geltende Heimatprinzip bei der Armenunterstützung, darüber schweigt die Botschaft. Auf jeden Fall sah der Bundesrat die einzige, und zwar föderalistische Lösung des Problems in der Befugnis für die Kantone, in ihrem Gebiet das »ius soli« einzuführen. Am 25. Juni 1903 verabschiedete das schweizerische Parlament das Bundesgesetz »betreffend die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe.«148 Das Referendum gegen die Vorlage wurde nicht ergriffen. Die materiellen Bestimmungen des neuen Gesetzes gingen denn auch kaum über diejenigen des bundesstaatlichen Bürgerrechtsgesetzes vom 3. Juli 1876 hinaus. So schwungvoll die neue Beschäftigung mit der erleichterten Einbürgerung von Ausländern im Jahr 1898 auf Bundesebene begonnen hatte, so bescheiden fiel das Ergebnis mit dem Gesetz von 1903 aus. Entsprechend hatte auch der Basler Bundesrat Ernst Brenner in der Eintretensdebatte zur Beratung des Gesetzes im Nationalrat am 17. Juni 1902 konstatiert: »Es muss von vornherein zugegeben werden, dass das Schiff, das Sie vor 3 Jahren ausgeschickt haben, um Fracht zu suchen, mit einer ausserordentlich bescheidenen Fracht in den Hafen zurückkehrt.«149 Das neue Bundesgesetz vom 25. Juni 1903 baute auf dem ersten bundesstaatlichen Bürgerrechtsgesetz von 1876 auf. Verschiedene Artikel hatten dabei eine Änderung erfahren. Dazu gehörten Artikel 2, der die Bedingungen für die Erteilung der Einbürgerungsbewilligung des Bundesrats regelte, Artikel 4 zur Gültigkeitsdauer der Bundesbewilligung von drei statt zwei Jahren sowie Artikel 5, der den Kantonen die Befugnis erteilte, ein optionales »ius soli« einzuführen. Neu legte zudem Artikel 10 die Wiedereinbürgerung von Frauen (und ihren Kindern), die durch Heirat mit einem Ausländer das Schweizer 147 Ebd., S. 481. 148 Bundesgesetz betreffend die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 25. Juni 1903. 149 Bundesrat Ernst Brenner, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 21, XII. Jg., 1902, 17. Juni, Nationalrat, S. 279. Im Jahr 1901 war Bundesrat Ernst Brenner Vorsteher des Eidgenössischen Politischen Departements, zwischen 1897 und 1900 sowie zwischen 1902 und 1907 Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements. Kreis, S. 275.

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Bürgerrecht verloren hatten, in die alleinige Kompetenz des Bundesrats. Artikel 11 bestimmte die Herabsetzung und den Erlass der Bundesgebühr unter bestimmten Bedingungen. Zudem wurde mit Artikel 12 die »Nichtigerklärung« eingeführt, das heißt die Möglichkeit, die Einbürgerung ausländischer Staatsangehöriger rückgängig zu machen.150 Artikel 5, der die Kantone dazu berechtigte, nach Bedarf das optionale »ius soli« für die zweite Einwanderergeneration einzuführen, galt als Kern, ja sogar als »Quintessenz«151 des Gesetzes. Danach konnten die Kantone bestimmen, dass die Kinder von im Kanton wohnenden ausländischen Eltern bei Geburt auf kantonalem Boden ohne die Bewilligung des Bundesrats automatisch Kantons- und damit Schweizer Bürger wurden, »a. wenn die Mutter schweizerischer Herkunft ist, oder b. wenn die Eltern zur Zeit der Geburt des Kindes wenigstens fünf Jahre ununterbrochen im Kanton gewohnt haben. Die Kantone sollen das Recht der Option vorbehalten.«152 An der Wirkung eines solchen Artikels waren noch während der parlamentarischen Debatten Zweifel aufgekommen. Der freisinnige Thurgauer Nationalrat Johann Konrad Egloff, deutschsprachiger Berichterstatter der nationalrätlichen Kommission zur Vorberatung des Gesetzes, hatte beispielsweise in der Sitzung vom 17. Juni 1902 festgehalten: »Ich glaube nicht, dass bei der Fakultät der Erleichterung der Einbürgerung, wie sie den Kantonen gewährt werden will, viel herauskommen wird. Von dieser Fakultät werden voraussichtlich nur diejenigen Kantone Gebrauch machen, welche dieselbe als ein Bedürfnis erkennen.«153 Selbst der freisinnige Bundesrat Ernst Brenner, der das Gesetz in den parlamentarischen Räten vertreten hatte, war skeptisch gewesen: »Wie weit dieses Mittel [das kantonale »ius soli«] von den Kantonen benutzt werden wird, wissen wir allerdings nicht, allein es hat nicht den Anschein, als ob eine grosse Zahl davon Gebrauch machen werde. Selbst die jetzt in Bezug auf die ausländische Bevölkerung am meisten bedrängten Kantone werden es sich zweimal überlegen, ob sie von dieser Berechtigung Gebrauch machen wollen …«154 Für die Zukunft hatte Brenner dennoch prognostiziert, dass die 150 Bundesgesetz betreffend die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 25. Juni 1903. Vgl. zu den Art. 2, 10 und 12 das Kapitel: »Feinere Netze: Neue Befugnisse für den Bundesrat«. 151 So der deutschsprachige Berichterstatter der nationalrätlichen Kommission zur Vorberatung des Gesetzes von 1903. Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 21, XII. Jg., 1902, 17. Juni, Nationalrat, S. 268. 152 Bundesgesetz betreffend die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 25. Juni 1903, § 5. 153 Nationalrat Johann Konrad Egloff, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 21, XII. Jg., 1902, 17. Juni, Nationalrat, S. 278. Gleicher Meinung war der freisinnige Genfer Nationalrat M.-Eugène Rizchel. Ebd., S. 273. 154 Bundesrat Ernst Brenner, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 21, XII. Jg., 1902, 17. Juni, Nationalrat, S. 282.

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kantonalen Regierungen auf das »ius soli« zurückgreifen werden, »wenn sie nicht in einem Centrum leben wollen, wo sie umgeben sind von einer Mehrheit der ausländischen Bevölkerung …«155 Später würde die Zeit kommen, in der – auf den Erfahrungen der Kantone auf bauend – das »ius soli« in die Bundesgesetzgebung aufgenommen werden soll.156 Die Prognose von Bundesrat Brenner trat während des gesamten 20. Jahrhunderts nicht ein. Das Bundesgesetz »betreffend die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe« vom 25. Juni 1903 brachte weder die erleichterte Einbürgerung von Ausländern noch war es der erste Schritt zu einem bundesstaatlichen »ius soli«. Kein Kanton machte von der neuen Befugnis Gebrauch, ein optionales »ius soli« auf Kantonsebene einzuführen; nicht einmal Zürich, Basel-Stadt oder Genf. Der freisinnige Basler Nationalrat Emil Göttisheim ging sieben Jahre später in einem Referat vor dem »Schweizerischen Juristenverein« im Jahr 1910 den Gründen für diesen Misserfolg nach. Seiner Meinung nach waren die Kantone hauptsächlich wegen des Bürgerprinzips bei der Armenunterstützung und dem Nutzungsrecht an den Gemeindegütern vor der Einführung eines »ius soli« zurückgeschreckt. Andere Gründe bildeten in seinen Augen die ungleiche Behandlung von kantonsfremden Schweizer Bürgern und ausländischen Staatsangehörigen sowie die »staats- und völkerrechtlichen Schwierigkeiten, welche die Anwendung des Art. 5 und insbesondere des Optionsvorbehaltes auf kantonalem Gebiet verursacht« hätte. Schließlich nannte Göttisheim auch den »Wert« des Schweizer Bürgerrechts, der die Kantone von der Umsetzung der neuen Befugnis abgehalten habe. So bedeute das Bürgerrecht in den Augen vieler noch immer eine »Ehrung für den, dem es erteilt wird, als eine Auszeichnung, die nicht dem ersten besten, sondern nur demjenigen zusteht, der sich darum verdient gemacht hat.«157 Zu welchen Schwierigkeiten das kantonale »ius soli« in der Rechtspraxis möglicherweise geführt hätte, lässt sich aufgrund des missglückten Genfer Versuchs erahnen, Artikel 5 des Bundesgesetzes von 1903 umzusetzen. Am 21. Oktober 1905 erließ der Kanton Genf ein neues Bürgerrechtsgesetz.158 Artikel 3 des Gesetzes ermöglichte es den im Kanton geborenen Ausländern, die das Kind einer ehemaligen Schweizerin waren oder deren Eltern seit fünf Jahren im Kanton Genf wohnten, bei Volljährigkeit das Genfer Bürgerrecht zu verlangen (aber nicht bei Geburt, wie es Artikel 5 des Bundesgesetzes von 1903 vorgesehen hatte). Die betreffenden Personen mussten dazu keine Bun155 Ebd. 156 Ebd. 157 Alle Zitate: Göttisheim, Die Einbürgerung der Ausländer, S. 581–583. 158 Loi sur la nationalisation genevoise et la renonciation à la nationalité genevoise, vom 21. Oktober 1905.

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desbewilligung beibringen.159 Auf dieser Grundlage bürgerte der Kanton Genf zwischen 1905 und 1909 schließlich 73 Personen ein.160 Bei der späten Überprüfung des Genfer Gesetzes durch das Eidgenössische Politische Departement im Jahr 1909 stellte sich jedoch heraus, dass das kantonale Gesetz im Widerspruch zum Bundesgesetz von 1903 stand.161 Die Genfer Regierung sah sich auf Druck des Eidgenössischen Politischen Departements gezwungen, die Bewilligungspflicht des Bundes nachträglich in das Gesetz einzufügen.162 Das Eidgenössische Politische Departement begründete sein Durchgreifen mit sicherheitspolitischen Bedenken. Am 8. Dezember 1909 erteilte der Bundesrat den 73 Personen, die in Genf ohne Bundesbewilligung eingebürgert worden waren, nachträglich die entsprechende Bewilligung.163 Drei Tage später genehmigte er auch das nun abgeänderte Genfer Gesetz.164 Trotz dieses missglückten Versuchs des Kantons Genf kann zum Bundesgesetz von 1903 Folgendes festgehalten werden: Der Bundesrat und die parlamentarischen Räte hatten mit dem Gesetz von 1903 zu einem föderalistischen »ius soli« Ja gesagt, das den Kantonen größtmögliche Freiheiten ließ. Doch gerade ohne Zwang gegenüber den Kantonen ließ sich das Ziel der Verminderung des Ausländeranteils durch die forcierte Einbürgerung ausländischer Staatsangehöriger nicht erreichen. Gesamtschweizerisch nahmen die Einbürgerungen nach 1903 zwar zu, doch war dies vor allem auf die in kantonaler Regie liberalisierten Bürgerrechtsgesetze der Kantone Basel-Stadt, Genf und Zürich sowie auf die vom Bund verordneten Wiedereinbürgerungen ehemaliger Schweizerinnen zurückzuführen.165 Insofern trifft Patrick Weils These für den schweizerischen Bundesstaat um 1900 nicht zu, dass sich die bestehende Rechtstradition im Bereich des Staatsangehörigkeitsrechts dann ändert, wenn diese Tradition den neuen Einwanderungsproblemen nicht mehr genügt.166 Doch mit dieser Feststellung allein ist die heuristische Stärke von Pa159 BAR E 21 20591, Briefwechsel mit der Genfer Reg. betr. das Genfer Naturalisationsgesetz v. 21. Oktober 1905, Burckhardt I, No 321/V, 1905–1909, Politisches Departement der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 9. August 1909 an den Bundesrat. 160 Ebd., Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des schweizerischen Bundesrates, Präsidialverfügung vom 8. September 1909, Politisches Departement, Antrag vom 7. September 1909. 161 Ebd., Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des schweizerischen Bundesrates, 17. August 1909. 162 Ebd., Le Conseil d’Etat de la République et Canton de Genève à Monsieur le Président & Messieurs les Membres du Conseil fédéral Suisse, 24. August 1909. 163 Ebd., Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des schweizerischen Bundesrates, Präsidialverfügung vom 8. September 1909, Politisches Departement, Antrag vom 7. September 1909. 164 Ebd., Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des schweizerischen Bundesrates, 11. Dezember 1909. 165 Vgl. dazu die Bemerkungen des Eidgenössischen Statistischen Bureaus, S. 22–25, im Jahr 1911. 166 Weil, Zugang zur Staatsbürgerschaft, S. 100.

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trick Weils These nicht erschöpft. Denn die Bemühungen, Elemente des »ius soli« einzuführen, waren auch beim Bundesrat und den parlamentarischen Räten prinzipiell vorhanden. Daher muss an diese Feststellung die Frage anschließen, warum es um 1900 nicht zur Einführung eines bundesstaatlichen »ius soli« kam und welche Folgen dieser Sachverhalt für die behördliche und öffentliche Wahrnehmung der ausländischen Wohnbevölkerung hatte. Für die Beharrungskraft der Rechtstradition im Bereich des schweizerischen Staatsangehörigkeitsrechts waren einerseits der ausgeprägte schweizerische Föderalismus und die traditionelle Dreistufigkeit des Schweizer Bürgerrechts verantwortlich. Andererseits war es wiederum die an das Gemeindebürgerrecht gebundene Armenunterstützung: Solange das Gemeindebürgerrecht eine armenrechtliche Bedeutung besaß, war die Einführung eines bundesstaatlichen »ius soli« ohne finanzielle Beteiligung des Bundes an den Armenlasten der Gemeinden nicht mehrheitsfähig. Darüber hinaus scheinen diejenigen Kantone, die zur prinzipiellen Änderung der schweizerischen Rechtstradition bereit gewesen wären, in ihrer Minderheitenposition zu schwach gewesen zu sein, um einen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Ein solcher hätte zum einen darin bestanden, das bundesstaatliche »ius soli« in der Verfassung zu verankern. Zum anderen hätten damit ein entsprechender Finanzausgleich bei den Armenlasten zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden oder die Einführung des Wohnortsprinzips bei der Armenunterstützung einhergehen müssen. Doch die Allianz zwischen dem historisch argumentierenden Bundesrat, den korporativ sich abschließenden Gemeinden und der Mehrzahl der Kantone ohne empfundenes »Einwanderungsproblem« führte dazu, dass keine praxisrelevante Lösung für die diskutierten Probleme gefunden wurde. Somit war das kantonale »ius soli« auch Ausdruck für das Scheitern des gouvernementalen »Laisser faire«: Zwar zeichnete sich der junge schweizerische Bundesstaat durch die Selbstbeschränkung staatlicher Macht aus. Doch der Fall des kantonalen »ius soli« im Bundesgesetz von 1903 macht deutlich, dass es auch ein Zuviel an staatlicher Machtbeschränkung beziehungsweise ein Zuwenig an staatlicher Einflussnahme gibt. Auch wenn der Bundesrat aufgrund der Referendumsmöglichkeit für Bundesgesetze nach mehrheitsfähigen Lösungen suchen musste, hatte er mit dem kompromissreichen kantonalen »ius soli« seine damalige Möglichkeit zur Steuerung des Ausländeranteils aus der Hand gegeben. Insofern trifft auch die eingangs geschilderte Beobachtung von Gérard Noiriel, dass das Staatsangehörigkeitsrecht seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zum Schutz des einheimischen Arbeitsmarktes eingesetzt wurde (nachdem sich der Staat »in das ökonomische und soziale Leben einzumischen begann« und ein »gewaltiger Prozess nationaler Integration« stattgefunden habe), für die Schweiz an der Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts nicht zu.167 Zwar wurde während 167 Beide Zitate: Noiriel, Die Tyrannei des Nationalen, S. 67.

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der Revisionsdebatten mehrfach darauf hingewiesen, dass die Schweizer nur mittels der staatsbürgerlichen Integration der ausländischen Wohnbevölkerung auf dem inländischen Arbeitsmarkt konkurrenzfähig bleiben könnten. Doch das kantonale »ius soli« erwies sich dazu, wie gesehen, als ungeeignet. Als wirksames Instrument zum Schutz des schweizerischen Arbeitsmarktes sollte das schweizerische Ausländerrecht erst in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eingesetzt werden. Allerdings wurde dieses Ziel dann nicht mehr durch den erleichterten Zugang zur Staatsbürgerschaft angestrebt, sondern durch den erschwerten Zugang zur Niederlassung und zum Aufenthalt in der Schweiz, das heisst, durch eine systematische Politik der Fremdenabwehr.168 Dass sich die gouvernementale Regierungstechnik des Schweizer Bürgerrechts im Jahr 1903 als untaugliches Instrument erwiesen hatte, um den Ausländeranteil in der Schweiz zu senken, bildet aber – wenn überhaupt – nur einen Teil der Problematik. Viel gewichtigere Folgen hatte der Sachverhalt, dass die Ausländer erst durch das bundesrätliche und parlamentarische Sprechen im Zusammenhang mit dem Schweizer Bürgerrecht gesamtschweizerisch als Problem konstruiert worden waren. Mehr noch: Während des ganzen 20. Jahrhunderts sollte dieses »Problem« nicht in Vergessenheit geraten; auch dann nicht, als der Ausländeranteil in der Schweiz stark rückläufig war wie etwa in der Zwischenkriegszeit. Mit dieser Hypothek – hier die diskursive Verfestigung eines gesamtschweizerischen Problems, da ein Übermaß an staatlichem »Laisser faire« gegenüber Kantonen und Gemeinden – trat die schweizerische Gesellschaft in ein Jahrhundert ein, für dessen Herausforderungen sie besser hätte gewappnet sein müssen.

8. Feinere Netze: Neue Befugnisse für den Bundesrat Die materiellen Bestimmungen des Gesetzes von 1903 gingen nur leicht über diejenigen des Bundesgesetzes aus dem Jahr 1876 hinaus. Dennoch ist auf die weniger augenfälligen Änderungen hinzuweisen, die dem Bundesrat gegen Ende des 19. Jahrhunderts in einem damals neu aufscheinenden Horizont gouvernementaler Herrschaft – nämlich dem Ziel, die »Sicherheit der Gesellschaft«169 mittels direkter staatlicher Eingriffe zu erhöhen – zunehmend erstrebenswert erschienen. Auf die damalige Schweiz bezogen, ist damit Folgendes gemeint: Obwohl sich die Schweiz, wie eingangs geschildert, um die vorletzte 168 Vgl. dazu das Kapitel »Das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer von 1931«. 169 Krasmann, S. 9. Vgl. dazu: Lemke, S. 222–238.

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Jahrhundertwende nicht wie andere europäische Staaten allmählich zu einem Sozialstaat transformierte, wurde damals auch die schweizerische Gesellschaft zum Ziel politischen Handelns, um sie »gegen die Feinde, die sie bedrohen«170 zu schützen. Die »Feinde«, vor denen der Bundesrat die nationale Gemeinschaft mit den neuen Gesetzesbestimmungen zu bewahren hoffte, waren zum einen die ausländischen Bürgerrechtsbewerber, die den moralischen Vorstellungen des Bundesrats nicht genügten. Zum andern war es die drohende Armut ehemaliger Schweizerinnen und deren Kinder, die ihr Bürgerrecht durch Heirat oder Entlassung aus dem Schweizer Bürgerrecht verloren hatten. Welche Bestimmungen das Bundesgesetz vom 25. Juni 1903 entsprechend einführte und wie der Bundesrat sowohl die neu geknüpften Maschen im Netz der Sicherheit als auch die damit einhergehenden Kompetenzerweiterungen zu legitimieren suchte, soll im Folgenden näher betrachtet werden. Artikel 2 des Gesetzes bestimmte wie bisher, dass für die Einbürgerungsbewilligung des Bundesrats ein zweijähriger ordentlicher Wohnsitz in der Schweiz notwendig war und der Bundesrat die Beziehungen des Bewerbers zu seinem bisherigen Heimatstaat prüfen konnte. Hinzu kam nun aber auch die Befugnis für den Bundesrat, die »sonstigen persönlichen und Familienverhältnisse« eines Bewerbers oder einer Bewerberin zu untersuchen. Der Bundesrat konnte entsprechend die Bewilligung verweigern, »wenn diese Beziehungen oder diese Verhältnisse so beschaffen sind, dass aus der Einbürgerung des Gesuchstellers der Eidgenossenschaft Nachteile erwachsen würden.«171 Damit galt der im Jahr 1876 aufgestellte Grundsatz nicht mehr, dass der Bundesrat nur die politischen Verhältnisse des Bewerbers zu seinem Heimatstaat zu prüfen habe.172 Der deutschsprachige Berichterstatter der vorberatenden Kommission, Nationalrat Lutz, versuchte in der Nationalratsdebatte vom 18. Juni 1902 mögliche Zweifel seiner Ratskollegen an der Neufassung von Artikel 2 zu zerstreuen. Er hielt fest: »Mit Bezug auf die erste Neuerung wurden allerdings schon in der Kommission Bedenken erhoben, und zwar ist der drastische Ausdruck erfolgt, der Bundesrat könnte auf diese Weise einen Bewerber abweisen, wenn ihm nur seine Nase nicht gefallen würde. Ich glaube nicht, dass so etwas zu befürchten sei. Es ist dem übrigens im Schlusssatz des 2. Alineas der Riegel gesteckt. Es wird dort als Vorbedingung für eine solche Abweisung aufgestellt, dass aus der Aufnahme des Gesuchstellers der Eidgenossenschaft Nachteile erwachsen könnten. Der Eidgenossenschaft wird nun schwerlich ein Nachteil daraus erwachsen, ob die Nase eines Bewerbers diese oder jene Konfigurati170 Krasmann, S. 9. 171 Beide Zitate: Bundesgesetz betreffend die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 25. Juni 1903, Art. 2. 172 Gemeint war damals insbesondere die Frage der Wehrpflicht.

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on besitzt.«173 Die Ironie von Nationalrat Lutz verfehlte ihre Wirkung nicht. Während der Beratung des Artikels fielen kaum kritische Voten. Einzig der freisinnige Zürcher Nationalrat Amsler bemerkte, dass der Bundesrat bei der Erteilung der Einbürgerungsbewilligung »liberaler sein dürfte.«174 Einen Gegenantrag zu Artikel 2 stellte er jedoch nicht. Selbst die despektierlich klingenden Äußerungen von Bundesrat Ernst Brenner riefen keine Gegner gegen die Prüfung der privaten Verhältnisse der Bürgerrechtsbewerberinnen und -bewerber auf den Plan. Brenner klagte: »… wir haben es oft schwer empfunden, dass wir eine solche Berechtigung zur Prüfung nicht hatten. Wenn wir beispielsweise durch unsere Organe bei den kantonalen und Gemeindebehörden Erkundigungen einziehen über die Persönlichkeit eines Bewerbers und uns nun Berichte zugestellt werden, aus denen hervorgeht, dass mit der Erteilung zur Bewilligung eines Schweizerbürgerrechtes an jemanden eine solche Bewilligung ausgehändigt wird, wo man nach seinem ganzen Vorleben, nach seiner Aufführung, nach seinen Vorstrafen, die er hat, sagen muss, dass wir im Begriffe stehen, ein durchaus faules Element in den Staatsverband aufzunehmen, da empfindet man es schwer, wenn trotz alledem der Bundesrat die Bewilligung ausstellen soll.«175 Bundesrat Brenner bekannte allerdings offen, dass sich mittlerweile »in besonders eklatanten Fällen, wo uns eine ganze Serie von Vorstrafen bekannt war«, die Praxis durchgesetzt habe, die Bewilligung abzulehnen, auch wenn »eine solche Berechtigung im Gesetz nicht vorlag.«176 Nun sei es aber an der Zeit, »dass, wenn wir aus der Aufnahme eines Bewerbers ganz notorisch einen Zuwachs von verbrecherischen Naturen bekämen, wir nicht mit gebundenen Händen trotzdem genötigt sind, die Bewilligung auszustellen, und es darauf ankommen zu lassen, ob die Gemeinden und Kantone es auch merken und dahinter kommen, was vorliegt oder er durchschlüpfen kann … aus Mangel an Erkenntnis der thatsächlichen Verhältnisse, namentlich wenn die Betreffenden splendid genug waren, etwas hohe Gebühren zu bezahlen oder gar Geschenke bei der Aufnahme in Aussicht zu stellen.«177 Die Kritik an den Gemeinden und Kantonen ist nicht zu überhören: Auch sie sollten in die Pflicht genommen und daran gehindert werden, aus materiellen Erwägungen über Vorstrafen einbürgerungswilliger 173 Nationalrat Lutz, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 22, XII. Jg., 1902, 18. Juni, Nationalrat, S. 285. Ob es sich bei Nationalrat Lutz um den freisinnigen Aargauer Jakob Konrad Lutz (1841–1928) oder um den katholisch-konservativen St. Galler Johann Gebhard Lutz (1835–1910) handelt, konnte nicht eruiert werden. 174 Nationalrat Amsler, ebd., S. 286. Um welchen der beiden freisinnigen Zürcher Nationalräte mit dem Namen Amsler es sich handelt, um Johann Jakob Amsler (1896–1908 im Rat) oder Johann-Rudolf Amsler (1899–1917 im Rat), konnte nicht eruiert werden. 175 Bundesrat Ernst Brenner, ebd., S. 287. 176 Ebd. 177 Ebd.

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Personen hinwegzusehen, sprich: sich von Bürgerrechtsbewerbern bestechen zu lassen. Die Erklärungen des Vorstehers des Eidgenössischen Politischen Departements, Ernst Brenner, täuschen jedoch nicht über die Tatsache hinweg, dass der Bundesrat mit dem neuen Passus in Artikel 2 die Bürgerrechtsbewerberinnen und -bewerber künftig auch in privater Hinsicht unter die Lupe nehmen wollte und konnte. Um die Ausdehnung seiner Kompetenzen zu begründen, hatte Bundesrat Brenner zwar hauptsächlich »verbrecherische Naturen« in den Blick genommen.178 Doch mit der fast beliebig auslegbaren Formulierung, dass der Bundesrat die »persönlichen und Familienverhältnisse« der Gesuchstellenden prüft, stand nun der Kontrolle der ökonomischen Verhältnisse oder der Prüfung von Gesinnung und Charakter nichts mehr im Weg. In eine ähnliche Richtung ging Artikel 12 zur »Nichtigerklärung« der Bundesbewilligung und der Einbürgerung. Nach diesem Artikel konnte der Bundesrat die Bundesbewilligung »während fünf Jahren seit der Kantonsbürgerrechtserwerbung für nichtig erklären, wenn es sich herausstellt, dass die im Gesetz für die Erteilung dieser Bewilligung aufgestellten Bedingungen nicht erfüllt waren.«179 Zudem konnte der Bundesrat die »Einbürgerung jederzeit nichtig erklären, wenn sie auf betrügerische Weise erlangt worden«180 war. Das gleiche Recht stand den Kantonen zu. Auch im Fall von Artikel 12 hatte sich während der Parlamentsdebatten gezeigt, dass die Gesetzesänderung lediglich eine nachträgliche Anpassung an die Praxis des Bundesrats und seiner Verwaltung darstellte. So war in der Botschaft zum Gesetzesentwurf vom 20. März 1901 zu lesen, es hätten »sich in der Praxis Fälle gezeigt, in denen der Bundesrat genötigt war, die erteilte Bewilligung und damit auch den Erwerb des Schweizerbürgerrechtes nichtig zu erklären, sei es, dass der Petent gefälschte Zeugnisse vorgelegt oder den Bundesrat über das Vorhandensein einer zur Erlangung der Bewilligung erforderlichen Bedingung getäuscht hatte.«181 Insgesamt unterstrich Artikel 12 die in Artikel 2 zur Geltung kommende bundesrätliche Absicht, die Gemeinschaft der Schweizerinnen und Schweizer, in den Worten von Bundesrat Brenner, vor »faule[n] Element[en]« zu schützen, die etwa »gefälschte« Zeugnisse vorgelegt oder den Bundesrat »getäuscht« hatten.

178 Vgl. zur Konsturktion der Figur des »kriminellen Ausländers«: Argast, Bürgerrecht und Kriminalisierungsprozesse, sowie Procacci und Krasmann. 179 Bundesgesetz betreffend die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 25. Juni 1903, Art. 12. 180 Ebd. 181 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Revision des Bundesgesetzes betreffend die Erteilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 20. März 1901, S. 489.

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Die Bestimmungen in Artikel 10 zur Wiedereinbürgerung wiesen in eine integrativere Richtung. Das Bundesgesetz aus dem Jahr 1876 hatte bestimmt, dass verwitwete oder geschiedene Frauen und Kinder, die mit ihrem Ehemann beziehungsweise mit ihrem Vater aus dem Schweizer Bürgerrecht entlassen worden waren, ein Recht auf unentgeltliche Wiedereinbürgerung hatten. Ein Mitspracherecht besaßen die Kantone oder Gemeinden dabei nicht. Nun weitete der Bundesrat seine Kompetenz gegenüber den Kantonen und Gemeinden zusätzlich aus, und zwar mit einer Bestimmung, die für die betroffenen Frauen und Kinder grundsätzlich von Vorteil war: Aufgrund des neuen Artikels 10 konnte der Bundesrat verfügen, dass auch geschiedene oder verwitwete Frauen, die das Schweizer Bürgerrecht durch Heirat mit einem ausländischen Mann verloren hatten, samt ihren Kindern unentgeltlich in das Schweizer Bürgerrecht aufgenommen werden.182 Die Bedingungen dafür waren, dass die betreffenden Frauen in der Schweiz ihren Wohnsitz hatten und das Gesuch auf Wiedereinbürgerung »binnen zehn Jahren nach Auflösung oder Trennung der Ehe« und im Fall der mit ihrem Vater aus dem Bürgerrecht entlassenen Kinder »binnen der gleichen Frist nach zurückgelegtem zwanzigsten Altersjahr« gestellt wurde.183 Ein subjektives Recht auf Wiedereinbürgerung war dabei jedoch nicht vorgesehen. Ebenso wurde mit dem Gesetz von 1903 das 1876 eingeführte Recht auf Wiedereinbürgerung für diejenigen Frauen und Kinder zurückgenommen, die mit ihrem Mann beziehungsweise Vater aus dem Schweizer Bürgerrecht entlassen worden waren. Dazu hatte der Bundesrat in seiner Botschaft von 1901 festgehalten: »Der Bundesrat ist also befugt, nicht verpflichtet, die Wiederaufnahme auszusprechen, weil er auch hier in der Lage sein soll, die Verhältnisse frei zu prüfen und unter Umständen einen ablehnenden Bescheid zu geben.«184 Während das nunmehr gänzlich fehlende subjektive Recht auf Wiedereinbürgerung in der Behandlung der Gesetzesvorlage im National- und Ständerat zu keinen Diskussionen führte, wurde die Kompetenzerweiterung des Bundesrats auf Kosten der Kantone und Gemeinden kritisiert. So wies beispielsweise der katholisch-konservative Walliser Ständerat Henri de Torrenté in der Sitzung vom 5. Dezember 1902 darauf hin, dass das Schweizer Bürgerrecht in Wirklichkeit nur eine Folge des Kantonsbürgerrechts sei. Diesem Prinzip widerspreche es aber, wenn der Bundesrat die einzige Instanz sei, die über

182 Bundesgesetz betreffend die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 25. Juni 1903, Art. 10. 183 Ebd. 184 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Revision des Bundesgesetzes betreffend die Erteilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 20. März 1901, S. 488.

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die Wiedereinbürgerung entscheiden könne.185 Zudem handle es sich bei den Kindern derjenigen Frauen, die ihr Bürgerrecht durch Heirat verloren haben, um Kinder, die nie Schweizer gewesen seien, also um »kleine Deutsche, Franzosen, Italiener«, die »reintegriert« werden sollten.186 Weiter würden sich die Gemeinden fragen, mit welchem Recht ihnen der Bundesrat »kleine Franzosen« und »kleine Deutsche« zuteile, die nachher von der Gemeinde unterstützt werden müssten.187 Wiederum stand Bundesrat Brenner in der Sitzung vom 9. Dezember 1902 Rede und Antwort. Schon im Jahr 1876 sei man davon ausgegangen, dass das Schweizer Bürgerrecht der Frau als ein »latentes Bürgerrecht zu betrachten sei, das wieder auflebe in dem Momente, wo sie sich des Ehemannes entledigt hat, bezw. ihr Ehemann nicht mehr da ist.«188 Deshalb sollte der Bundesrat bestimmen können, dass sie wieder in ihr ehemaliges Kantons- und Gemeindebürgerrecht aufgenommen wird. Es habe »nämlich etwas ausserordentlich Hartes und etwas Rücksichtsloses und uns in unserm Innersten Widerstrebendes, wenn wir die Frau schweizerischer Herkunft mit ihren Kindern in dem Momente, wo ihr Mann stirbt, sofern derselbe Ausländer ist, aus der Schweiz hinausstossen sollten in die Fremde, in ein Land, das ihr tatsächlich unter Umständen, trotzdem sie eine Ehe mit einem Ausländer eingegangen, 10, 20, 30 Jahre lang vollständig fremd geblieben ist.«189 Der neue Artikel 10 zur Wiedereinbürgerung im Bundesgesetz von 1903 fand während der Parlamentsdebatten schließlich eine Mehrheit. Trotz der »humanitäre[n]«190 Seite, die Bundesrat Ernst Brenner darin erkannte, fällt die heutige Bewertung der Bestimmungen zur Wiedereinbürgerung ehemaliger Schweizerinnen ambivalent aus. Einerseits besaßen nun auch die »ausgeheirateten« Frauen die Möglichkeit, unentgeltlich und durch bundesrätliche Verfügung wieder in ihr altes Kantons- und Gemeindebürgerrecht aufgenommen zu werden. 185 Ständerat Henri de Torrenté, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 44, XII. Jg., 1902, 5. Dezember, Ständerat, S. 639. »Il me semble que ce chapitre est en opposition avec le principe général qui se trouve à la base du projet de loi que nous discutons. M. le rapporteur de la commission a dit éloquement hier que le droit de cité suisse n’existait pas en réalité, il n’y a que le droit de cité cantonal qui entraine la nationalité suisse. Il me paraît que ce chapitre III contient des dispositions contraires à ce principe, en instituant le conseil fédéral comme unique autorité compétente pour rendre le droit de cité à un citoyen ou à la femme qui l’auraient perdu.« 186 Ebd. »Ce sont de petits Allemands, Français, Italiens que vous voulez ›réintégrer‹ dans le droit de cité suisse.« 187 Ebd., S. 640. »Quelle sera la situation financière de ces familles? Elles seront dans l’aisance ou dans la pauvreté. … De quel droit, diront-elles [les communes], le conseil fédéral vient-il nous gratifier de petits Italiens, de petits Français, de petits Allemands qui vont être à notre charge?« 188 Bundesrat Ernst Brenner, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 46, XII. Jg., 1902, 9. Dezember, Ständerat, S. 664. 189 Ebd. 190 Ebd.

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Damit verbesserte sich auch ihre zivil- und armenrechtliche Stellung. Dies wird am Beispiel der Allgemeinen Armenpflege der Stadt Basel deutlich, die verwitweten oder geschiedenen ehemaligen Baslerinnen, die ihre Unterstützungsbedürftigkeit anmeldeten, seit dem Jahr 1904 mit der Heimschaffung drohte.191 Andererseits konnte der Umstand, dass das subjektive Recht ehemaliger Schweizerinnen auf Wiedereinbürgerung im Jahr 1903 aus dem Gesetz gestrichen wurde, für die betroffenen Frauen fatale Folgen haben.192 So verweigerten zur Zeit des Nationalsozialismus die Schweizer Behörden den ehemaligen Schweizerinnen, »die als Jüdinnen aufgrund der deutschen Rassengesetze staatenlos geworden waren«,193 in der Regel die Einreise und Wiedereinbürgerung. Schließlich lässt sich anfügen, dass die Änderungen in Artikel 10 zwar die Ungleichheit zwischen »ausgeheirateten« und aus dem Bürgerrecht »entlassenen« ehemaligen Schweizerinnen beseitigten. Gleichzeitig wurde damit aber auch die auf der Kategorie »Geschlecht« beruhende rechtliche Ungleichheit von Frauen stabilisiert. Die Betrachtung der neuen Bestimmungen in den Artikeln 2, 10 und 12 des Bundesgesetzes von 1903 (Prüfung der »persönlichen und Familienverhältnisse«, »Nichtigerklärung« der Bundesbewilligung oder der Einbürgerung sowie Wiedereinbürgerung ehemaliger Schweizerinnen und ihrer Kinder) macht insgesamt deutlich, dass der Bundesrat mit dem Gesetz von 1903 trotz des erfolglosen, kantonalen »ius soli« feinmaschigere Sicherheitsnetze auszulegen begann. Im Schatten der Debatten über das kantonale »ius soli«, das letztlich bedeutungslos blieb, waren diese Bestimmungen fast ohne Opposition in das Gesetz von 1903 eingeflossen. Sie machten den Anfang für die zunehmende Kontrolle der Bürgerrechtsbewerberinnen und -bewerber durch den Bundesrat.

9. Das Sprechen über Ausländer: Ein Diskursmuster formiert sich Während der parlamentarischen Beratung des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1903 verfestigte sich mit dem neuen Sprechen über Ausländer gleichzeitig ein Sprechen über das »abnormale Verhältnis« zwischen der schweizerischen und ausländischen Bevölkerung. Von diesem »abnormalen Verhältnis«, so wurde immer wieder betont, gehe eine Gefahr für die schweizerische Demokratie, die schweizerische Rechtssicherheit und die Konkurrenzfähigkeit der Schweizer auf dem einheimischen Arbeitsmarkt aus. Die Gefahren- und Abnorma191 Vgl. dazu das Kapitel »Wiedereinbürgerungen von Frauen«. 192 Wecker, »Ehe ist Schicksal«, S. 34. Vgl. in diesem Zusammenhang zur Rolle und Person des Adjunkten der eidgenössischen Fremdenpolizei Max Ruth: ebd., S. 30–34, sowie Kury, Über Fremde reden, S. 193–200. 193 Wecker, »Ehe ist Schicksal«, S. 34.

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litätssemantiken prägten die Argumentationen verschiedener Nationalräte. Besonders deutlich war dies bei den Voten des ersten Arbeitervertreters im Nationalrat der Schweiz, des Zürchers Jakob Vogelsanger. Im Zusammenhang mit der vermeintlich bevorzugten Stellung der ausländischen Bewohner auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt verwies Vogelsanger wiederholt auf die »so grosse[…] Zahl von Ausländern« und auf die »Ausländer in Scharen«, die »unsere Arbeitsplätze occupieren.«194 Dabei ließ Vogelsanger auch Adjektive aus der Medizin in seine Formulierungen einfließen: Seiner Ansicht nach bildete das »ungesunde Missverhältnis zwischen einheimischer und fremder Bevölkerung einen Gegenstand der Beunruhigung.« Und schließlich machte Vogelsanger auch vor Kriegsmetaphern nicht halt. So sprach er – die Äußerung eines nationalrätlichen Kollegen wiederholend – von einer möglichen »Ausländer-Invasion«.195 Die Ausführungen von Nationalrat Vogelsanger im Juni 1902 machen deutlich, wie schnell die eingängigen Topoi, Argumente und Wortketten aus Carl Alfred Schmids »Unsere Fremdenfrage« aus dem Jahr 1900 verinnerlicht wurden.196 Vogelsangers Voten bilden ein frühes Beispiel für die diskursive Prägekraft von Carl Alfred Schmids Schrift, eine Prägekraft, die auch von den zahlreichen späteren Texten Schmids ausgehen sollte.197 In den Redebeiträgen von Nationalrat Vogelsanger wird das beispielsweise am Begriff der »Fremdenfrage«, am wiederholten Beschwören einer »Invasion« von Ausländern oder am Standpunkt, dass die »Fremdenfrage« eine Frage von »nationalem Aufsehen« sei, deutlich – Topoi, die auch Schmid in seiner Schrift verwendet hatte.198 Jakob Vogelsanger bezog sich zudem auf das von Carl Alfred Schmid erwähnte, abschreckend wirkende Beispiel der südafrikanischen Burenrepublik Transvaal, wo den englischen Einwanderern im Jahr 1897 die vollen Bürgerrechte verweigert worden waren.199 Zusammen mit Oranje-Freistaat verteidigte Transvaal im Burenkrieg seit 1899 erfolglos seine Unabhängigkeit gegen Großbritannien. Auf diese Weise wurde Transvaal in der Wahrnehmung der Zeitgenossen zum Topos eines unabhängigen, republikanischen Staatswesens,

194 Nationalrat Jakob Vogelsanger, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 22, XII. Jg., 1902, 18. Juni, Nationalrat, S. 296. 195 Beide Zitate: ebd., S. 295. 196 Vogelsanger verwies in der Nationalratssitzung vom 18. Juni 1902 explizit auf Schmid. Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 22, XII. Jg., 1902, 18. Juni, Nationalrat, S. 297. Vgl. dazu: Kury, Über Fremde reden, S. 59. 197 Vgl. dazu: C.A. Schmid, Die Schweiz im Jahr 2000, ders., Unsere Fremdenfrage (1915), sowie ders., Nationale Bevölkerungspolitik. 198 Nationalrat Jakob Vogelsanger, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 22, XII. Jg., 1902, 18. Juni, Nationalrat, S. 296. 199 Ebd.

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dessen Existenz durch die Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte fundamental bedroht worden war.200 Auch wenn die Voten von Nationalrat Jakob Vogelsanger eindringlicher waren als diejenigen seiner Kollegen, so zeichnete sich in den parlamentarischen Debatten der Jahre 1901 und 1902 doch das Diskursmuster für das zukünftige Sprechen über Ausländer ab: Mit dem Thema »die Ausländer« wurden Argumente aus zwei wirkungsmächtigen Interdiskursen verkettet:201 das Argument der »Abnormalität« aus dem Interdiskurs des »Normalismus«202 und das Argument der »Gefahr« aus dem Interdiskurs der »Sicherheit der Gesellschaft«. 203 Im Zuge der Herausbildung neuer Gesellschaftswissenschaften wie der Soziologie und der Kriminologie, der Berechnung gesellschaftlicher Regelmäßigkeiten und Risiken mit Hilfe von Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung und der zunehmenden staatlichen Eingriffe in die Gesellschaft hatten sich der Normalitäts- und Sicherheitsdiskurs gegen Ende des 19. Jahrhunderts etabliert.204 Sie bündelten Spezialwissen aus Biologie, Medizin, Anthropologie, Soziologie, Rechtswissenschaft, Kriminologie, Ökonomie und weiteren Wissensbereichen, das wiederum in Spezialdiskurse einfloss, so etwa in das parlamentarisch institutionalisierte Reden über die Ausländer.205 Die Verkettung der interdiskursiven Argumente »Abnormalität« und »Gefahr« mit dem Thema »Ausländer« beziehungsweise »Ausländerzahlen im Verhältnis zur schweizerischen Bevölkerung« sollte dabei so lange Bestand haben, wie der Normalitäts- und der Sicherheitsdiskurs ihre Wirkungsmacht entfalteten. Und dies scheint rückblickend während des gesamten 20. Jahrhunderts der Fall gewesen zu sein. Im Gegensatz dazu variierten während des 20. Jahrhunderts die politischen Lösungsversuche, um das »abnormale Verhältnis« wieder in den Bereich der – freilich nicht definierbaren – »Normalität« zurückzuführen,206 um die »Sicherheit« der schweizerischen Gesellschaft zu garantieren. Um 1900 wurde zwischen zwei Lösungen unterschieden: zwischen der staatsbürgerlichen Integration der in der Schweiz geborenen oder seit langer Zeit ansässigen Ausländer mittels der forcierten Einbürgerung auf der einen Seite und dem Ausschluss 200 Auch im Rahmen der »Ausländerfrage« vor dem Ersten Weltkrieg und des Überfremdungsdiskurses nach 1914 wurde mehrfach der Transvaal-Topos bemüht. Vgl. dazu: Göttisheim, Das Ausländerproblem, S. 335f., Wullschleger, S. 16. Vgl. zum Transvaal-Topos: Kury, Über Fremde reden, S. 64f. 201 Vgl. dazu: Link, Diskursive Ereignisse, S. 152. 202 Ders., Versuch über den Normalismus, erkannte im »Normalismus« den ersten genuinen Interdiskurs. 203 Krasmann, S. 9. 204 Vgl. dazu: Donzelot sowie Lemke, S. 195–197 und S. 218. 205 Vgl. dazu: Link, Diskursive Ereignisse, S. 155. 206 Vgl. zu den Normalitätsvorstellungen, die mit den von Schmid und anderen Exponenten des Überfremdungsdiskurses extrapolierten Wachstumsannahmen impliziert wurden: Kury, Über Fremde reden, S. 61–63.

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von Ausländern mittels der Begrenzung der Einwanderung oder Niederlassung auf der andern Seite. Allerdings waren Einwanderungs- und Niederlassungsbeschränkungen vor dem Ersten Weltkrieg völkerrechtlich und wirtschaftlich kaum durchführbar. Somit bildete um 1900 die staatsbürgerliche Integration der Ausländer für die bundesstaatlichen Politiker die einzige mögliche Lösung für das von ihnen empfundene Problem. Erstmals flossen jetzt auch Vorstellungen von der schweizerischen Nation in die Ratsdebatten zum Schweizer Bürgerrecht ein. Dabei blieb die schweizerische Nation zunächst noch über den Demos definiert: eine politische Gemeinschaft der stimmfähigen, wehrpflichtigen und gleichberechtigten Schweizer Bürger. Vorstellungen von der Nation als ethnisch-kulturelle Gemeinschaft der Schweizerinnen und Schweizer drangen nicht in die Debatten ein. Im Gegenteil: Einzelne Ratsmitglieder brachten sogar Vorstellungen von der schweizerischen Nation zum Ausdruck, die auf dem schweizerischen Föderalismus fußte. Der Genfer Ständerat Adrien Lachenal verwies beispielsweise auf den Auf bau der Nation von unten, das heißt von den Gemeinden her. Er bezeichnete die schweizerischen Gemeinden als »Zellen der Nation« und »nationale Moleküle«. Gleichzeitig wünschte er sich in Fragen des Bürgerrechts eine stärkere Kohäsion und die Überwindung des »Kantönligeists«.207 Die Schweiz, so Lachenal, besitze im Gegensatz zu den umliegenden Staaten eigentlich gar kein gesamtstaatliches Bürgerrecht.208 Das von ihm geforderte kantonale »ius soli« konnte dagegen zwar keine Abhilfe schaffen. Doch Lachenal erkannte in dieser Neuerung immerhin eine Möglichkeit, die auch von ihm monierte Gefahr der steigenden Zahl der Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz zu bannen und gleichzeitig die Interessen der Kantone und Gemeinden zu wahren.209 Auch der Basler Nationalrat Heinrich David zeichnete ein Bild der Schweizer und der jetzt neu ins Spiel gebrachten »schweizerischen Eigenart«, das nicht auf ethnisch-kulturelle Vorstellungen zurückzuführen war. Vielmehr war es die »Liebe zum Vaterland«, die in seinen Augen den Schweizer ausmachte. Dem Patriotismus des 18. Jahrhunderts und – als Sohn von Auslandschweizern 207 Ständerat Adrien Lachenal, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 42, XII. Jg., 1902, 4. Dezember, Ständerat, S. 608f. »… il y a encore toutes les exigences de la commune qui est la cellule, l’organisme primordial de la nation et c’est précisément de ce côté que sont suscité les difficultés et les entraves. … Dans presque tous les domaines la Suisse a marché dans le sens de la cohésion et du rapprochement des molécules nationales, mais sur le terrain de la naturalisation nous sommes, hélas, restés animés de ce que nos confédérés de la Suisse allemande appellent le ›Kantönligeist‹, l’esprit du cantonalisme le plus étroit.« 208 Ebd., S. 608. »Le premier caractère c’est que, contrairement à ce que nous voyons dans tous les pays qui nous entourent, notre pays ne possède pas, à proprement parler, de droit de cité suisse.« 209 Ebd., S. 610. »… faisant de bon fédéralisme, nous arriverons à réaliser un grand progrès sans offusquer personne et chaque canton pourra développer sa législation à sa guise et au mieux des intérêts qui lui sont confiés.«

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– wohl auch der eigenen Biografie verpflichtet,210 formulierte David zu den Grundsätzen der Unverjährbarkeit und Unverlierbarkeit des Schweizer Bürgerrechts: »Dieser Grundsatz ist nicht aus einer Zufälligkeit entstanden; denn dieser Grundsatz entspricht unserer Eigenart, er entspricht der ausgeprägten Liebe des Schweizers für sein Vaterland. Der Schweizer bleibt Schweizer, wo immer er auch sein mag; der Schweizer bleibt Schweizer, selbst wenn er ein auswärtiges Bürgerrecht erworben hat, sofern er nicht auf das Schweizerbürgerrecht verzichtet …« Doch auch in diesem Fall bleibe der Schweizer »im Innersten des Herzens Schweizer«.211 Dem schweizerischen Selbstbild, das auf der »Liebe zum Vaterland« auf baute, und der Vorstellung von der schweizerischen Nation als zusammengerückten »nationalen Molekülen« entsprach auch die damalige politische Bedeutung des Begriffs der »Assimilation«. So gingen etwa die Nationalräte von Planta und Curti davon aus, dass Ausländer durch die Einbürgerung an die Schweizer »assimiliert« werden sollten. Zwar plädierte von Planta dafür, dass das einzuführende »ius soli« der Kantone nur dann Geltung besitzen sollte, wenn die Eltern vor der Geburt ihres Kindes einen längeren Aufenthalt in der Schweiz verbracht hatten, damit sie »einigermassen mit unsern schweizerischen Verhältnissen verwachsen« seien. Planta ging es dabei aber nicht um habituelle Eigenschaften oder um eine innere Gesinnung, sondern um die Aneignung einer politischen Kultur: »Es ist ja nicht das gleiche, ein Schweizerbürger zu sein oder ein Untertan eines anderen Staates.«212 In ähnlicher Weise äußerte sich auch Bundesrat Ernst Brenner: »Wo aber von einer Selbstverwaltung so grosse Teile der Bevölkerung ausgeschlossen bleiben, wird dieser Umstand lähmend wirken, da erkaltet das Interesse überhaupt an diesen öffentlichen Institutionen, … auch sie wird gefährdet, wenn wir nicht darnach trachten, diese hineinströmenden Elemente, die an sich eine ganz zweckentsprechende Auffrischung sind, gegen die wir uns in keiner Weise abschliessen wollen, die uns sehr gut tun, ich sage, wenn wir uns nicht bestreben, diese Elemente zu assimilieren. Darin liegt die politische Gefahr in allen diesen geschilderten Verhältnissen.«213

210 Der Basler Anwalt, ehemalige Staatsanwalt und ehemalige Strafgerichtspräsident Heinrich David (1856–1935) wurde in Rio de Janeiro geboren. Der Vater, Nikolaus Heinrich David, war Kaufmann und Generalkonsul in Rio de Janeiro. Seine Schulzeit verbrachte Heinrich David in St. Gallen. Zwischen 1878 und 1881 war er Rechtsstudent in Straßburg, Leipzig und Basel. Historisches Lexikon der Schweiz, »David, Heinrich«. 211 Beide Zitate: Nationalrat Heinrich David, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 21, XII. Jg., 1902, 17. Juni, Nationalrat, S. 274f. 212 Beide Zitate: Nationalrat von Planta, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 7, XIII. Jg., 1903, 20. März, Nationalrat, S. 142. 213 Bundesrat Ernst Brenner, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 44, XII. Jg., 1902, 5. Dezember, Ständerat, S. 627.

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»Assimilation« bedeute in diesem republikanischen Sinn die Ausstattung mit staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten und somit die Einbürgerung. Das Verhältnis, das die schweizerischen Bundespolitiker um 1900 zwischen Schweizern und Ausländern diskursiv konstruierten, war, abschließend betrachtet, ambivalent. Einerseits stilisierte der Diskurs die ausländische Wohnbevölkerung in staatspolitischer, wirtschaftlicher, militärischer und rechtlicher (kaum aber in kultureller) Hinsicht zu einer Gefahr für die Schweiz und die Schweizer. Andererseits wurde mit der erleichterten Einbürgerung nach einer integrativen Maßnahme gesucht, um die als bedrohlich wahrgenommene Zahl der Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz zu reduzieren. Die damals herrschenden Vorstellungen von der schweizerischen Nation als einer politischen Staatsbürgernation, die auf dem Zusammenschluss der Gemeinden und Kantone beruhe, die Definition des Schweizers über die patriotische »Liebe zur Heimat« und die republikanische Semantik des Begriffs »Assimilation« entsprachen diesem integrativen Lösungsversuch. Dennoch stellte die diskursive Verkettung der Begriffe »Ausländer«, »Abnormität« und »Gefahr« ein Argument bereit, das durch seine beliebige Verwendbarkeit bestens dazu geeignet war, auch eine rigorose Politik der Abwehr gegen Ausländer zu rechtfertigen. Dass dem um 1900 etablierten Muster des Sprechens über Ausländer eine Ausschließungslogik inhärent war, sollte sich mit dem Ersten Weltkrieg zeigen.

10. Wiedereinbürgerungen ehemaliger Schweizerinnen und der Widerstand der Gemeinden Nach der Gesetzesrevision von 1903 wurde es auf Bundesebene still um die erleichterte Einbürgerung.214 Zwischen 1904 und 1909 führten lediglich einzelne, vom Bund verfügte Wiedereinbürgerungen unterstützungsbedürftiger Frauen zur Kritik der betroffenen Gemeinden. Sie protestierten insbesondere gegen Wiedereinbürgerungen bedürftiger Frauen und Kinder.215 Stein des Anstoßes 214 Auf kantonaler und kommunaler Ebene hingegen setzten ein paar wenige Kantons- und Stadtregierungen die Bestrebungen zur Erleichterung der Einbürgerung von Ausländern fort. So kam es in Genf und Zürich zur Revision der kantonalen Bürgerrechtsgesetze. Vgl. dazu: Loi sur la nationalisation genevoise et la renonciation à la nationalité genevoise, vom 21. Oktober 1905, und Beschluss des Regierungsrates betreffend Erleichterung der Einbürgerung von Ausländern im Kanton Zürich, vom 10. März 1910. Der Kanton Basel-Stadt hatte die Einbürgerung schon im Jahr 1902 erleichtert. Vgl. dazu: [Basler] Bürgerrechts-Gesetz, vom 19. Juni 1902. 215 Vgl. dazu: Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend den Rekurs der Burgergemeinde Bern gegen die Wiedereinbürgerung der Witwe Elisabeth Bernard geb. Meyer, vom 17. Dezember 1908, sowie Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend den Rekurs des Gemeinderates Waldhäusern gegen die Wiedereinbürgerung der Witwe Karo-

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bildete also wie schon so oft die kommunal organisierte Armenunterstützung, an der sich der Bund trotz den von ihm verordneten Wiedereinbürgerungen ehemaliger Schweizerinnen und ihrer Kinder nicht beteiligen wollte. Im Jahr 1905 kam es diesbezüglich zu einer Eingabe der Armenpfleger-Konferenz an die Bundesbehörden.216 Und ein Jahr später, am 26. Juni 1906, wurde dem Bundesrat eine nationalrätliche Motion überwiesen: Der Bundesrat solle darüber Bericht erstatten, ob er sich nicht an den Mehrkosten der Gemeinden, die aus der unentgeltlichen Wiedereinbürgerung entstehen können, beteiligen müsste. Der entsprechende Bericht des Bundesrats an die Bundesversammlung folgte anderthalb Jahre später am 7. Dezember 1907.217 Darin stellte sich der Bundesrat auf den Standpunkt, dass Artikel 10 des Bundesgesetzes von 1903 zur Wiedereinbürgerung »das praktisch wichtigste Ergebnis der infolge des Postulates vom 9. Dezember [1898] unternommenen Revisionsarbeit« sei. Damit signalisierte der Bundesrat, dass er nicht dazu bereit war, die neuen Kompetenzen in Sachen Wiedereinbürgerung abzutreten. Der Bundesrat fuhr fort: »Unsere Vorschläge blieben in der Bundesversammlung nicht unangefochten, allein alle dagegen erhobenen Bedenken mussten schließlich der Einsicht weichen, dass jener humane Zweck nicht erreicht werden könnte, wenn dem Bundesrat nicht die Befugnis eingeräumt würde, Wiedereinbürgerungen auch gegen den Willen der Gemeinden und der Kantone zu verfügen.«218 Noch immer also rechtfertigte der Bundesrat seine Kompetenzerweiterung in Fragen der Wiedereinbürgerung mit dem Hinweis auf eine »humane« Wiedereinbürgerungspraxis. Zugleich aber betonte er, dass die Bundesbehörden »die Wiederaufnahme unterstützungsbedürftiger Personen abzulehnen [pflegen], wenn ihnen die ferne Heimat auch der Sprache nach nicht ganz fremd ist, so dass keine grosse Härte darin läge, sie dahin abzuschieben.«219 Die Äußerung macht deutlich, dass der »humanen« Wiedereinbürgerungspraxis des Bundesrats Grenzen gesetzt waren. Dennoch scheinen die finanziellen Erwägungen der Gemeinden für den Bundesrat zweitrangig gewesen zu sein. Größeres Gewicht legte er wie schon im Jahr 1902 darauf, dass vorbestrafte Personen nicht in den schweizerischen Bürgerinnen- und Bürgerverband aufgenommen wurden, auch wenn es sich lina Birsner geb. Schmid, vom 2. November 1909. Vgl. ebd., Antrag auf Wiedereinbürgerung der Karolina Birsner geb. Schmid an den Bundesrat, Bundesratsbeschluss betreffend die Wiederaufnahme der Frau Karolina Birsner geb. Schmid (22. Juli 1909), Beschwerde für die Ortsbürgergemeinde Waldhäusern, Kanton Aargau, vertreten durch den Gemeinderat Waldhäusern (3. August 1909). 216 Schläpfer, S. 184. 217 Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die finanzielle Beteiligung des Bundes an den Armenlasten, die den Gemeinden aus den unentgeltlichen Wiedereinbürgerungen erwachsen, vom 7. Dezember 1907, S. 372. 218 Beide Zitate: ebd., S. 376. 219 Ebd., S. 377.

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dabei um ehemalige Schweizerinnen handelte.220 Dass der Bundesrat die Klagen der Gemeinden über die finanziellen Lasten als Folge von Wiedereinbürgerungen nicht ganz ernst nahm, macht zudem eine dem Bericht beigelegte Statistik deutlich. Dieser war zu entnehmen, dass zwischen 1904 und 1907 vom Bundesrat 755 Wiedereinbürgerungsfälle mit insgesamt 1 973 Personen positiv entschieden worden waren.221 Diese Wiedereinbürgerungen hätten für die Gemeinden und Kantone »Armenlasten« von 15 876 Franken verursacht. Entsprechend, so der Bundesrat, »ist wohl der Schluss berechtigt, dass von ausserordentlichen Lasten, welche den Gemeinden und den Kantonen aus den vom Bundesrate verfügten Wiedereinbürgerungen erwachsen, nicht die Rede sein kann.«222 In Anbetracht dieser geringen Summe kann vermutet werden, dass es den Gemeinden bei der Frage der Wiedereinbürgerung wohl nicht nur um finanzielle Bedenken, sondern auch um eine Prinzipienfrage ging: Ganz gleich, wie hoch die »Armenlasten« für die Gemeinden ausfielen, solange der Bund sich nicht daran beteiligen wollte, sollte er den Gemeinden auch keine Wiedereinbürgerungen aufzwingen können. Der Bundesrat hingegen wehrte sich seinerseits vehement dagegen, dass dem Bund »ein Teil der Armenlasten der schweizerischen Gemeinden aufgebürdet wird.« Das Armenwesen sei ausschließlich Sache der Kantone; wenn der Bund sich daran beteiligen sollte, so wäre zunächst eine Revision der Bundesverfassung notwendig. Daher und in Anbetracht dessen, »was der Bund zur Hebung der allgemeinen Wohlfahrt« schon leiste – der Bundesrat verwies auf das in Planung stehende Bundesgesetz zur Kranken- und Unfallversicherung –, lehnte er eine finanzielle Beteiligung ab.223 Über die Streitfrage der finanziellen Beteiligung des Bundes an die Unterstützungsleistungen der Gemeinden für wieder eingebürgerte Frauen und Kinder hinaus machte der Bundesrat mit seinem Bericht über die »finanzielle Beteiligung des Bundes an den Armenlasten« indirekt deutlich, dass er auch in Zukunft nicht zur Einführung eines bundesstaatlichen »ius soli« oder eines vom Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht losgelösten, so genannten »Indigenats« bereit sei. Gerade solche Neuerungen hätten zwingend zu einer armenrechtlichen Neuordnung führen müssen. Und in der Tat: Der Auseinandersetzung um die erleichterte Einbürgerung von Ausländern, die zwei Jahre später, im Jahr 1909, durch ein nationalrätliches Postulat von Neuem in Gang gebracht wurde, begegnete der Bundesrat bis ins Jahr 1912 mit einer ausgeprägten Passivität.

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Vgl. dazu: ebd. Ebd., Einlage zwischen den Seiten 376 und 377. Ebd., S. 377. Beide Zitate: ebd., S. 378.

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11. Liberalisierungsversuche vor dem Ersten Weltkrieg Herman Greulich, Zürcher Nationalrat und Arbeitersekretär, griff die Frage der erleichterten Einbürgerung von Ausländern im Jahr 1908 als Mitglied der nationalrätlichen Geschäftsprüfungskommission wieder auf. Seinen Kommissionskollegen schlug er vor, ein entsprechendes Postulat an den Bundesrat zu richten. In drei Sitzungen behandelte die Geschäftsprüfungskommission den Vorschlag von Greulich und unterbreitete am 15. Juni 1909 dem Nationalrat ein Postulat mit folgendem Wortlaut: »Der Bundesrat wird eingeladen zu prüfen und Bericht zu erstatten, wie die Einbürgerung der sesshaften und der in der Schweiz gebornen Ausländer zu erleichtern sei. Dabei ist insbesondere zu prüfen die Frage der Schaffung eines vom Gemeindebürgerrecht losgelösten Indigenats, sowie die der Zwangseinbürgerung der in der Schweiz geborenen Ausländer.«224 Das Postulat wurde in der Nationalratssitzung vom 21. Juni 1910 behandelt. Der Berichterstatter der nationalrätlichen Geschäftsprüfungskommission, der liberale, basel-städtische Nationalrat Paul Speiser, erläuterte dabei, was unter dem Begriff des »Indigenats« zu verstehen sei: ein »Schweizerbürgerrecht …, das nicht auf der Voraussetzung eines Kantonsbürgerrechtes und namentlich eines Gemeindebürgerrechtes beruht.« Für die Kommissionsmitglieder käme die Einführung eines »Indigenats« vor allem dann in Frage, »wenn das Schweizervolk es ablehnen wollte, den Ausländern ein Gemeindebürgerrecht durch Zwangseinbürgerung zu eröffnen.« Da Nationalrat Speiser, wie er selbst einräumte, der »Lösung der Bürgerrechtsfrage durch das Mittel der Zwangseinbürgerung etwas pessimistisch oder wenigstens nicht sehr optimistisch« gegenüber stand, habe die Geschäftsprüfungskommission »auch den Gedanken des vom Gemeindebürgerrecht losgelösten Indigenats vorgeschlagen.«225 In der Entmachtung der Gemeinden und Kantone bei der Einbürgerung von Ausländern sah Speiser den gangbareren Weg als in der Einführung eines bundesstaatlichen »ius soli«, das diese zur Einbürgerung der in der Schweiz geborenen Ausländer zwang. Dabei war es der Kommission bewusst, dass ein »Indigenat« zur finanziellen Beteiligung des Bundes an der Unterstützung bedürftiger Bürgerinnen und Bürger führen müsste. Mit dem Passus zum schweizerischen »Indigenat« stellte die Geschäftsprüfungskommission auf parlamentarischer Ebene erstmals die Möglichkeit zur 224 Amtliches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 15, XX. Jg., 1910, 21. Juni, Nationalrat, Postulat der Geschäftsprüfungskommission vom 15. Juni 1909 betr. die Einbürgerung der Ausländer, S. 288. 225 Alle Zitate: Nationalrat Paul Speiser, Amtliches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 15, XX. Jg., 1910, 21. Juni, Nationalrat, S. 287f., folgende Angabe: ebd.

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Diskussion, den traditionellen dreistufigen Auf bau des Bürgerrechts aufzuheben. Dies war ein Novum. Doch nicht nur das: Erstmals brachte Nationalrat Speiser ein Argument ins Spiel, das den bisherigen Topos des inexistenten Schweizer Bürgerrechts – das letzte Mal noch im Jahr 1902 von Ständerat Adrien Lachenal formuliert226 – in sein Gegenteil verkehrte: »Ein Kantonsbürgerrecht«, argumentierte Speiser, »haben wir eigentlich bereits nicht mehr, denn es hat kein einziger Kantonsbürger in der Schweiz mehr Rechte als der Schweizerbürger in dem Kanton, wo er den Wohnsitz hat, und wir haben auch nicht mehr ein Gemeindebürgerrecht in dem Sinne, dass die Einwohnergemeinden, die Munizipalgemeinden, für ihre Bürger Vorrechte hätten gegenüber andern Gemeinden, wir üben faktisch in den Kantonen und Einwohnergemeinden nur ein Schweizerbürgerrecht aus. So fern liegt also der Gedanke eines schweizerischen Bürgerrechts nicht. Das Schweizerbürgerrecht existiert de facto seit Art. 43 der Verfassung von 1874, unter sehr kleinen Vorbehalten für alle Schweizerbürger an dem Orte, wo sie wohnen.«227 In seiner weiteren Argumentation – insbesondere bei der Frage, weshalb die Einbürgerung von Ausländern zu erleichtern sei – knüpfte Speiser an die Argumente der Gesetzgebungsdebatten zum Bundesgesetz von 1903 an. Hauptsächlich wies er nochmals auf die Zunahme des Ausländeranteils in der Schweiz hin, den Speiser nun auf über 12 % schätzte, sowie auf die damit verbundenen Gefahren.228 Noch bevor aber das Postulat im Nationalrat am 21. Juni 1910 zur Abstimmung gelangte, hatten der Bundesrat und die radikal-demokratischen Gruppen der Bundesversammlung das darin geforderte »Indigenat« abgelehnt. 229 So sei, wie Paul Speiser monierte, schon in der Nationalratssitzung vom 15. Juni 1909, »ruchbar [geworden], dass der Bundesrat keine besondere Freude an demselben [dem Indigenat] habe und es wurde von einzelnen Mitgliedern angeregt, ob man das Postulat nicht fallen lassen sollte …« Darauf, so Speiser weiter, habe er selbst geantwortet, »dass die Postulate nicht da seien, um vom Bundesrate das 226 »Le premier caractère c’est que, contrairement à ce que nous voyons dans tous les pays qui nous entourent, notre pays ne possède pas, à proprement parler, de droit de cité suisse.« Ständerat Adrien Lachenal, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 42, XII. Jg., 1902, 4. Dezember, Ständerat, S. 608. Vgl. dazu auch die Formulierung der Ständeratskommission über das Schweizer Bürgerrecht »ohne realen Gehalt« im Jahr 1876: BAR E 21 20587, BG v. 3. Juli 1876 betr. Erwerb des Schweizerbürgerrechts und Verzicht auf dasselbe, Genehmigung der Botschaft und des Gesetzesentwurfes, Bundesratsbeschluss vom 2. Juli 1876, 2. Bericht der Kommission des Ständerates, 10. Juni 1876. 227 Nationalrat Paul Speiser, Amtliches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 15, XX. Jg., 1910, 21. Juni, Nationalrat, S. 288. 228 Ebd., S. 286. Der Ausländeranteil lag damals, wie in der Volkszählung von 1910 deutlich werden sollte, bei 14,7 %. Ritzmann-Blickenstorfer, S. 134. 229 Bundesratsbeschluss vom 29. März 1910 und Versammlung der radikal-demokratischen Gruppen der Bundesversammlung vom 16. Juli 1910. Zitiert nach: Schläpfer, S. 187.

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zu verlangen, was er von selbst geben will, sondern die Postulate seien eben Forderungen an den Bundesrat für Sachen, die er nicht von selbst gibt.«230 Unter diesen Bedingungen hatte die Geschäftsprüfungskommission auch am 21. Juni 1910 kein leichtes Spiel: Der Nationalrat nahm nur den ersten Teil des Postulats an, der den Bundesrat dazu verpflichtete, Bericht über die Möglichkeiten zur Erleichterung der Einbürgerung von Ausländern zu erstatten; die Vorgabe, dass die Einführung der Zwangseinbürgerung und eines »Indigenats« speziell zu prüfen sei, fiel weg.231 Wie im Vorfeld der Gesetzesrevision von 1903 hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, dass die Kompetenzen der Kantone und Gemeinden nicht beschnitten werden sollten. Nun lag der Ball beim Bundesrat. In der Zwischenzeit sahen sich überparteiliche und überkantonale Interessengruppen sowie gesellschaftliche Organisationen zur Einflussnahme auf die Staatsangehörigkeitspolitik des Bundes veranlasst. Schon im Jahr 1908 war es in Genf zur Gründung eines Komitees gekommen, das sich zum Ziel gesetzt hatte, gemeinsam mit anderen Kantonen eine Initiative zur Revision der Bundesverfassung hinsichtlich des Schweizer Bürgerrechts anzuregen.232 Auf einer ersten interkantonalen Konferenz im Jahr 1909 genehmigten die dort versammelten Politiker die vom Initiativkomitee verfasste »Denkschrift über Assimilation der Ausländer in der Schweiz«.233 Zusammen mit einer Resolution sendeten sie diese an den Bundesrat. Darin forderten die Politiker die Einführung eines »ius soli« für Kinder der dritten Einwanderergeneration und die erleichterte Einbürgerung von Ausländern als Schritt auf dem Weg zur »Assimilation«. Zudem warnte das Komitee vor der bestehenden Gefahr des damaligen Ausländeranteils für die schweizerische Nation. 234 In der zweiten Konferenz im Jahr 1910 beschloss das Genfer Komitee, sich mit Zürich, Basel sowie der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft zusammenzuschließen und eine Kommission mit der Ausarbeitung eines Vorschlags für die Revision der Bundesverfassung zu beauftragen. Zu den Mitgliedern dieser Kommission, der später so genannten »Neunerkommission«, zählten Camille Favre (Genf; nach dessen Tod der Anwalt Albert Picot, Genf ), Grossrat Edmond Boissier (Genf ), Grossrat Paul Pictet (Genf ), Stadtschreiber Rudolf Bollinger (Zürich, Präsident der »Neunerkommission«), Nationalrat 230 Beide Zitate: Nationalrat Paul Speiser, Amtliches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 15, XX. Jg., 1910, 21. Juni, Nationalrat, S. 285f. 231 Schläpfer, S. 187. 232 Dem Komitee gehörten an: Oberst Camille Favre (vermutlich handelte es sich dabei um den Genfer Archivaren und Archäologen Camille Favre [1845–1914]), der Vizepräsident des Schweizer Schulrats Gustave Naville sowie die Grossräte Eugène Berlie, Edmond Boissier und Paul Pictet. Ebd., S. 269, Anmerkung 12. 233 Denkschrift über Assimilation der Ausländer. 234 Ebd.

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Herman Greulich (Zürich), Ständerat Paul Usteri (Zürich), Nationalrat Paul Speiser (Basel-Stadt), Nationalrat Emil Göttisheim (Basel-Stadt) und Regierungsrat Eugen Wullschleger (Basel-Stadt).235 Einzelne dieser Mitglieder hatten sich schon mit dem Postulat der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrats vom 21. Juni 1910 hervorgetan, so etwa Herman Greulich und Paul Speiser. Am 13. Dezember 1910 trafen sich acht der neun Politiker zu einer ersten Zusammenkunft der als »Kommission betr. gemeinsames Vorgehen der Städte Genf, Basel und Zürich in der Ausländerfrage« bezeichneten Gruppe. Als Präsident wählten die Anwesenden den Zürcher Stadtschreiber Rudolf Bollinger, der während der gesamten Kommissionsarbeit auch inhaltlich eine führende Rolle einnehmen sollte. Diskutiert wurden mögliche Anträge, die im Vorfeld der Sitzung von Rudolf Bollinger, von Emil Göttisheim und vom Genfer Komitee formuliert worden waren und die zur »Lösung der Fremdenfrage« beitragen sollten.236 Konsens war, dass ein schweizerisches »Indigenat«, wie es die Geschäftsprüfungskommission in ihrem Postulat vom 15. Juni 1909 vorgeschlagen hatte, also ein Schweizer Bürgerrecht ohne Kantons- und Gemeindebürgerrecht, nicht zur Debatte stand. Zwar lehnten einige der Kommissionsmitglieder ein schweizerisches »Indigenat« nicht grundsätzlich ab; nicht einmal Emil Göttisheim, der sich im Nationalrat gegen die bundesrätliche Prüfung eines solchen stark gemacht hatte. Er antwortete auf die Kritik seines Basler Kollegen Paul Speiser: »Auf den Einwand von Herrn Speiser gebe ich ohne weiteres zu, dass mir ein vom Kantons- und Gemeindebürgerrecht losgelöstes Schweizerbürgerrecht lieber wäre, als was wir hier vorschlagen. Ich glaube aber, dass es im gegenwärtigen Zeitpunkt völlig unerreichbar ist, und wenn es misslünge, was wir jetzt unternehmen, hätten wir mehr verloren, als wenn wir nichts begännen.« Ebenso zeigte sich Arbeitersekretär Herman Greulich als Realpolitiker, als er hinzufüge: »Dagegen glaube ich auch, dass wir das reine Schweizerbürgerrecht heute nicht durchbringen.«237 Einig waren sich die Kommissionsmitglieder außerdem über die als zu passiv empfundene Haltung des Bundesrats. In der zweiten Sitzung vom 13. Juni 1911 – die interkantonale Politikergruppe nannte sich inzwischen »Kommission betr. die Ausländerfrage« – konstatierte der Zürcher Stadtrat Bollinger angesichts der nun vorliegenden Zahlen der eidgenössischen Volkszählung von 1910, die einen Ausländeranteil von 14,7 % ergeben hatte:238 »Merkwürdiger-

235 Stadtarchiv Zürich V.L.193, Protokoll der Kommission betreffend die Ausländerfrage 1910–1912, Protokoll der 1. Sitzung vom 13. Dezember 1910, S. 1. 236 Beide Zitate: ebd. 237 Beide Zitate: ebd., S. 5. 238 Ritzmann-Blickenstorfer, S. 134. Im Jahr 1900 hatte der Ausländeranteil gemessen an der schweizerischen Gesamtbevölkerung 11,6 % betragen.

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weise war aber sogar der Bundesrat bis heute nicht dazu zu bringen, anzuerkennen, dass die Lösung der Ausländerfrage eine Staatsnotwendigkeit sei.«239 Nach weiteren Sitzungen und einer Konferenzen in einem größeren Kreis von Experten und Politikern überreichte die seit Dezember 1911 als »Neunerkommission für die Ausländerfrage«240 bezeichnete Gruppe dem Bundesrat am 17. Dezember 1912 ihre Ergebnisse in Form einer Petition. Diese trug den Titel »Petition der ›Neunerkommission‹ betreffend Massnahmen gegen die Überfremdung der Schweiz«.241 Die Petition enthielt einen umfangreichen Vorschlag zur Revision von Artikel 44 der schweizerischen Bundesverfassung. Der von der »Neunerkommission« erarbeitete Verfassungsartikel sollte das bundesstaatliche »ius soli« für die dritte Einwanderergeneration einführen, wenn ein Elternteil in der Schweiz geboren war. Für die zweite Generation sollte das »ius soli« gelten, wenn die Mutter des Kindes ehemals Schweizerin war oder wenn beide Eltern zehn Jahre vor der Geburt des Kindes ununterbrochen in der Schweiz niedergelassen waren. Ein Optionsrecht war für keinen der Fälle vorgesehen. Weiter sollten Ausländerinnen und Ausländer, die sich seit fünfzehn Jahren in der Schweiz auf hielten oder in der Schweiz geboren waren, den Anspruch auf den Einkauf in das Bürgerrecht derjenigen Gemeinde erhalten, in der sie seit fünf Jahren niedergelassen waren. Die Einkaufsgebühr durfte in einem solchen Fall 300 Franken nicht übersteigen und war jeweils vom Bundesrat festzulegen. Ein solcher Bewerber durfte nicht wegen einer Straftat verurteilt worden sein, die »auf eine gemeine Gesinnung« hinwies, durfte keine Unterstützungsleistungen der Armenkasse in Anspruch genommen und musste die Steuern pünktlich bezahlt haben. Weiter sah der Vorschlag der »Neunerkommission« – den alten Zankapfel zwischen Bund und Gemeinden aufnehmend – eine Beteiligung des Bundes an den Armenlasten der Gemeinden vor. Er sollte im Fall der Unterstützungsbedürftigkeit von Personen, die aufgrund des »ius soli« oder des Rechts auf Einkauf eingebürgert worden waren, die Hälfte des finanziellen Aufwands tragen.242 Das bundesstaatliche »ius soli« für die zweite und dritte Generation begründete nun auch die »Neunerkommission« mit der herrschenden »Staatsgefahr«, die von denjenigen Ausländern ausgehe, die »in nicht nur vorübergehender 239 Stadtarchiv Zürich V.L.193, Protokoll der Kommission betreffend die Ausländerfrage 1910–1912, Protokoll der 2. Sitzung vom 13. Juni 1911, S. 5. 240 Stadtarchiv Zürich V.L.193, Protokoll der Kommission betreffend die Ausländerfrage 1910–1912, Protokoll der 3. Sitzung vom 12. Dezember 1911, S. 1. Vgl. ebd., Konferenz betreffend redaktionelle Bereinigung des Entwurfes der »Neunerkommission« zu Verfassungsartikeln über die Zwangseinbürgerung von Ausländern, Mittwoch, den 21. Februar 1912 im Stadthause zu Zürich, sowie ebd., Tagung in Bern betreffend gemeinsames Vorgehen der Städte Genf, Basel und Zürich in der Ausländerfrage. 241 Petition der »Neunerkommission«. 242 Alle Angaben: ebd., S. 1f.

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Lebensgemeinschaft« mit der Schweiz stünden. Doch rund 40 % der 565 296 in der Schweiz lebenden Ausländer im Jahr 1910 sei in der Schweiz geboren. Um diese »Staatsgefahr« abzuwenden, müssten »alle für die wahrscheinliche künftige Lebensgemeinschaft des in der Schweiz geborenen Ausländerkindes schlüssigen Verhältnisse zu Voraussetzungen der Einbürgerung von Gesetzes wegen erhoben werden.« So gründe das »ius soli« für die dritte Generation auf der »Annahme einer gewissen Wahrscheinlichkeit«, dass das im Inland geborene Kind in einer engen Beziehung zum Geburtsland bleibe.243 Die Formulierungen »in engen Beziehungen zum Geburtslande bleiben« und »in Lebensgemeinschaft mit dem Geburtslande bleiben« machen deutlich, dass die »Neunerkommission« die Schweizer Bürgerinnen und Bürger nicht über eine essentialistisch verstandene, »schweizerische Eigenart« definierte, sondern über das Eingegliedertsein in die schweizerische Gesellschaft. In ähnlicher Weise äußerte sich die »Neunerkommission« zur Einführung eines subjektiven Rechts auf Einkauf in ein Gemeindebürgerrecht für diejenigen Personen, die während längerer Zeit in der Schweiz gelebt hatten. In solchen Fällen ging die »Neunerkommission« von einer – in heutigen Termini gesprochen – pauschalen »Integrationsvermutung«244 aus. Sie hielt fest: »Ebensosehr wie diese sind mit dem Lande verwachsen die in früher Jugend eingewanderten und im Lande aufgewachsenen Ausländer. Der Besuch der Volksschule vermittelt ja allein eine fast unwiderstehliche tatsächliche Nationalisierung. Die in reiferem Alter eingewanderten, aber seit mehr als zehn Jahren in der Schweiz ununterbrochen sesshaften Ausländer werden vielleicht psychisch nicht so vollständig angepasst sein, aber auch sie sind feste Elemente unserer Verhältnisse geworden, ihr Wiederausscheiden ist unwahrscheinlich.«245 Das Recht auf Einkauf in ein Gemeindebürgerrecht bestand allerdings nur unter dem Vorbehalt, dass die betreffenden Personen weder bevormundet noch strafrechtlich verurteilt waren, während der Zeit der Volljährigkeit keine Unterstützungsleistungen in Anspruch genommen hatten und keine Steuerschulden besaßen.246 Die genannten Vorbehalte basierten auf tradierten, insbesondere finanziellen und strafrechtlichen Kriterien des bürgerrechtlichen Ausschlusses, die schon lange vor der Bundesstaatsgründung auf der Ebene der Gemeinden und Kantone Geltung besessen hatten. Einbürgerungsbedingungen wie die Aneignung einer »schweizerischen Eigenart« oder die kulturelle »Assimilierbarkeit« stellte die »Neunerkommission« nicht auf.

243 Alle Zitate: ebd., S. 5 und S. 11. 244 Vgl. dazu beispielsweise das Reglement über die Erteilung und Zusicherung des Bürgerrechts der Stadt Bern (Einbürgerungsreglement; EBR), vom 18. Mai 2003 (in Kraft: 1. Januar 2004). 245 Petition der »Neunerkommission«, S. 11. 246 Ebd., S. 12.

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Dagegen verwendete die »Neunerkommission« zur Begründung der finanziellen und strafrechtlichen Kriterien in irritierender Weise den Begriff der »Auslese«. So hielt die Kommission in ihrem Kommentar zur Petition fest: Alle diese »Ausschliessungsgründe zusammen bringen es mit sich, dass nur eine Auslese der an und für sich aus Art. 44ter Berechtigten dazu kommen kann, den Anspruch wirklich geltend zu machen, eine Auslese, mit der das Land gewiss nicht schlecht fahren wird. Nochmals im Sinne einer Auslese wirkt, dass immerhin eine für viele Leute nicht unbeträchtliche Einkaufsgebühr [von maximal 300 Franken] gezahlt werden muss.«247 Der sozialdarwinistische Begriff der »Auslese« wurde an dieser Stelle von der »Neunerkommission« auf althergebrachte Kriterien des bürgerrechtlichen Ausschlusses angewendet. Wie es scheint, hatte die »Neunerkommission« den Begriff plötzlich und aus heutiger Sicht in naiver Weise übernommen. Die von der »Neunerkommission« geforderte staatsbürgerliche Integration der ausländischen Wohnbevölkerung verband sich hier mit einem Diskurselement, in dem der Ausschluss aufgrund sozialdarwinistischer Kriterien grundsätzlich angelegt war. Bei der Entgegennahme der Petition »betreffend Massnahmen gegen die Überfremdung der Schweiz« am 17. Dezember 1912 versicherte Bundespräsident Ludwig Forrer den Mitgliedern der mittlerweile angesehenen »Neunerkommission«: »Die Tatsache der Überfremdung steht fest. Zwar besitzt sie wohl nicht diejenige Bedeutung, die ihr Herr Dr. Schmid in Zürich in seinem sehr interessanten Aufsatze beimisst; das schweizerische Wesen übt eine so gewaltige Assimilationskraft aus, wie wir es in Europa sonst nirgends finden. Immerhin muss der Überfremdung ernstlich entgegengearbeitet werden und zwar nicht durch private Tätigkeit allein, sondern nunmehr in der Hauptsache durch den Staat und durch staatliche Vorschriften.«248 Damit signalisierte Forrer, dass der Bundesrat nun doch dazu bereit war, aktiv zur Förderung der Einbürgerung von Ausländern beizutragen. Zum plötzlichen Kurswechsel des Bundesrats hatte jedoch nicht nur die »Neunerkommission« oder Carl Alfred Schmids Schrift »Die Schweiz im Jahre 2000«249 aus dem Jahr 1912 beigetragen, auf die sich Ludwig Forrer bei seinem Dank bezog. Auch andere gesellschaftliche Vereinigungen hatten den Bundesrat zur dringlichen Behandlung der Einbürgerung von Ausländern gemahnt. So hatte etwa der »Schweizerische Juristenverband« am 13. September 1910 die prioritäre Behandlung der Revision des Bundesgesetzes von 1903 gefordert. Ebenso hatten sich Vertreter der Schweizerischen Gemeinnützigen Ge247 Alle Zitate: ebd., S. 12f. 248 BAR, E 22 545, Materialien zur Petition der »Neunerkommission« betr. Massnahmen gegen die Überfremdung der Schweiz, vom 17. Dezember 1912. Vgl. zum Begriff der »Überfremdung« das Kapitel »›Überfremdung‹: Vom Begriff zum Diskurs«. 249 Vgl. dazu: C.A. Schmid, Die Schweiz im Jahre 2000.

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sellschaft und des »Schweizerischen Städteverbandes« anlässlich ihrer Jahrestagungen im Jahr 1911 in diesem Sinn geäußert.250 Für die nun ins Rollen gebrachte Revisionsarbeit der Bundesbehörden wurde der Vorschlag der »Neunerkommission« zum Grundlagenpapier. Er beeinflusste direkt die Arbeit des Politischen Departements, das heißt seines Vorstehers, des freisinnigen St. Galler Bundesrats Arthur Hoffmann (1857–1927). Auf der Grundlage des Vorschlags der »Neunerkommission« verfasste er einen umfangreichen Bericht zu Händen des Gesamtbundesrats. Der Bericht sah die Einführung des bundesstaatlichen »ius soli« vor, und zwar unter denselben Bedingungen, wie sie die »Neunerkommission« vorgeschlagen hatte (automatische Einbürgerung bei Geburt auf Schweizer Boden ohne Optionsrecht, wenn ein Elternteil in der Schweiz geboren war, wenn die Mutter des Kindes eine ehemalige Schweizerin war oder wenn beide Eltern zehn Jahre vor der Geburt des Kindes ununterbrochen in der Schweiz gelebt hatten).251 Eine weitere Übereinstimmung zwischen dem Politischen Departement und der »Neunerkommission« lag beim Recht auf Einkauf in eine Gemeinde vor.252 Und ebenso wie die Mitglieder der »Neunerkommission« war Bundesrat Arthur Hoffmann davon überzeugt, dass die kulturelle Assimilation keine Voraussetzung für Einbürgerungen darstellten konnte. Der Prozess der Assimilation ginge »viel zu langsam« voran und deshalb, so Hoffmann, müsse »auf die durch die Einbürgerung bewirkte oder wenigstens beförderte Assimilation« abgestellt werden.253 Schließlich sprach sich der Bericht von Bundesrat Arthur Hoffmann in Anlehnung an die Petition der »Neunerkommission« auch für die Mitwirkung des Bundes bei der Unterstützung bedürftiger Neubürgerinnen und Neubürger aus, die aufgrund des »ius soli« zu Schweizern geworden waren. Dabei ging der Vorsteher des Politischen Departements allerdings weiter als der Vorschlag der »Neunerkommission«. Er schlug vor, nicht nur die Hälfte des Unterstützungsaufwandes der Gemeinden zu übernehmen, sondern drei Viertel.254 Der entscheidende Unterschied zwischen dem »Bericht Hoffmann« und der Petition der »Neunerkommission« lag aber darin, dass Bundesrat Hoffmann die einzelnen Bestimmungen zum »ius soli« nicht direkt in einen Verfassungsartikel aufnehmen, sondern die Ausführung gänzlich der Bundesgesetzgebung überlassen wollte.255 250 Bollinger, Der heutige Stand der Ausländerfrage, S. 3f. 251 BAR E 22 505, Bericht des Politischen Departements betr. Massnahmen gegen die Überfremdung, vom 30. Mai 1914, S. 39–40 und S. 47. Vgl. dazu: Schweizerische Vereinigung für internationales Recht, S. 7–15. 252 BAR E 22 505, Bericht des Politischen Departements betr. Massnahmen gegen die Überfremdung, vom 30. Mai 1914, S. 105. 253 Beide Zitate ebd., S. 40. Vgl. zur damals stattfindenden semantischen Verschiebungen des Begriffs »Assimilation« das Kapitel: »Das diskursive Ereignis der ›Ausländerfrage‹ 1910/11«. 254 Ebd., S. 83–97. 255 Ebd., S. 101–105.

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Am 2. Juli 1914 nahm der Gesamtbundesrat den Bericht aus dem Politischen Departement mit geringfügigen Änderungen an. Doch die Ausarbeitung der Botschaft des Bundesrats durch das Politische Departement wurde mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs auf ungewisse Zeit vertagt. Die Arbeit der »Neunerkommission« macht einerseits deutlich, wie sehr die erleichterte Einbürgerung von Ausländern in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein Anliegen der Kantone mit größeren städtischen Zentren und einem hohen Anteil an Ausländerinnen und Ausländern darstellte. Im Gegensatz zum Bundesrat, der sich nach den gescheiterten Erleichterungsbestrebungen mit dem Bundesgesetz von 1903 von einer erneuten Revision der Bürgerrechtsgesetzgebung distanzierte, nahmen Politiker, Verwaltungsmitglieder und Juristen aus Zürich, Genf und Basel-Stadt die Angelegenheit in die Hand. Andererseits verdeutlicht das Engagement der »Neunerkommission« die zunehmende Verflechtung von gesellschaftlichen, kantonalen und bundesstaatlichen Akteuren im Bereich der Schweizer Bürgerrechtspolitik über Parteigrenzen hinweg sowie die geschwächte Stellung des Bundes im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts: Die Mitglieder der »Neunerkommission« waren eng mit der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft verbunden, gehörten mehrheitlich der damals wichtigsten Partei, dem Freisinn, aber auch der Sozialdemokratie an und leisteten für den fast ausschließlich freisinnigen Bundesrat eine wichtige Vorarbeit.256 Dieser hatte sich zur selben Zeit mit der aufwendigen Ausarbeitung eines Bundesgesetzes zur Kranken- und Unfallversicherung sowie mit der Einführung des schweizerischen Zivilgesetzbuches zu beschäftigen. So bedeutete die Arbeit der kommunalen, kantonalen, parlamentarischen sowie gesellschaftlichen Akteure nicht nur eine Stärkung und Orientierungshilfe für den Bundesrat, sondern legitimierte auch deren politische Einflussnahme und trug nicht zuletzt zur Verständigung zwischen Freisinn und Sozialdemokratie bei.257 256 Der Bundesrat setzte sich damals aus sechs freisinnigen Mitgliedern und einem katholisch-konservativen Mitglied zusammen. Ein zweiter Bundesratssitz ging 1919 an die Katholisch-Konservativen. Die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei erhielt 1929 einen Sitz. Die Sozialdemokratie wurde erst im Jahr 1943 in die Landesregierung einbezogen. Historisches Lexikon der Schweiz, »Bundesrat«. 257 Die sozialdemokratische Partei und der Grütliverein hatten in den 1870er Jahren ein »Indigenat« und die Anbindung der Armenpflege an die Einwohnergemeinden gefordert. Jetzt, im Jahr 1909, glaubte auch die schweizerische Arbeiterschaft mit der intensivierten Einbürgerung der ausländischen Berufsgenossen die wahrgenommenen Probleme lösen, beziehungsweise die wirtschaftliche Konkurrenz verringern zu können. Mit dem Einsitz des Arbeitersekretärs Herman Greulich und des sozialdemokratischen Basler Regierungsrats Eugen Wullschleger in die »Neunerkommission« konnten vermutlich die kritischen Stimmen aus der Sozialdemokratie zunächst neutralisiert werden. Doch der sich über Jahre dahin ziehende Revisionsprozess nährte ihre Unzufriedenheit. Sie waren der Meinung, dass die Freisinnigen die Gesetzesrevision verschleppten, um die Einbürgerung sozialistischer Arbeiter zu verhindern. Jahrbuch der sozialdemokratischen Partei, Zürich 1914, S. 6.

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12. Das diskursive Ereignis der »Ausländerfrage« 1910/1911 Der Begriff der »Ausländerfrage« oder synonym dazu der Begriff der »Fremdenfrage« hatte um 1900 nur zögerlich Eingang in die Parlamentsdebatten zum Bundesgesetz »betreffend die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe« vom 25. Juni 1903 gefunden. In den parlamentarischen Räten und im Bundesrat waren die beiden Termini lediglich von Exponenten aus den Kantonen mit hohem Ausländeranteil verwendet worden, beispielsweise vom Basler Regierungs- und Nationalrat Heinrich David, vom Basler Bundesrat Ernst Brenner, vom Zürcher Nationalrat Jakob Vogelsanger sowie vom Genfer Ständerat Adrien Lachenal. In den Antwortschreiben der Kantonsregierungen auf das Kreisschreiben des Bundesrats im Jahr 1899 hatten die beiden Begriffe hingegen noch gefehlt. Zwar hatte der um 1900 noch junge Begriff der »Ausländerfrage« einen ersten Versuch dargestellt, die Kombination der diskursiven Elemente »abnormales« Verhältnis zwischen ausländischer und einheimischer Bevölkerung, Gefahrenszenario und Erleichterung der Einbürgerung zu bündeln und auf einen griffigen Nenner zu bringen. Wie wenig der Begriff der »Ausländerfrage« damals aber verfestigt war, zeigen die zumeist umschreibenden Formulierungen, die während der Behandlung des Gesetzes von 1903 für die als problematisch wahrgenommene Zunahme der ausländischen Wohnbevölkerung und die befürchteten Folgen gesucht worden waren. So hatte etwa Nationalrat David die Formulierung »in dieser Frage der Ausländer«258 verwendet, während der Mitbericht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom »Zunehmen des Ausländertums«259 oder von »diese[r] Sache«260 gesprochen hatte. Oft war dem Begriff der »Ausländerfrage« auch das Wort »so genannt« vorangestellt worden. Beispielsweise hatte Nationalrat David am 17. Juni 1902 formuliert: »Ich glaube, dass die sogenannte Ausländerfrage nicht für sich allein betrachtet werden kann, sondern dass sie in praktischer Beziehung durchaus mit der schweizerischen Niederlassungsfrage zusammenhängt.«261 Hinzu kam, dass die damaligen Debatten größtenteils auf das Parlament begrenzt geblieben waren.

258 Nationalrat Heinrich David, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 21, XII. Jg., 1902, 17. Juni, Nationalrat, S. 274. 259 BAR E 21 20589, BG v. 25. Juni 1903 betr. die Erwerbung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, Entwurf des Justiz- und Polizeidepartements vom 22. Okt. 1900, Mitbericht des Justiz- und Polizeidepartements zum Entwurfe einer Revision des Bundesgesetzes betreffend die Ertheilung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, S. 8. 260 Ebd., S. 5. 261 Nationalrat Heinrich David, Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, No. 21, XII. Jg., 1902, 17. Juni, Nationalrat, S. 274.

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Außer dem Zürcher Armensekretär Carl Alfred Schmid hatten sich kaum außerparlamentarische Experten zu Wort gemeldet. 262 Das änderte sich in den Jahren 1910 und 1911. Die »Ausländerfrage« wurde damals zum »diskursiven Ereignis«:263 Zum einen bildete der Begriff jetzt eine feste Klammer um das Diskursmuster des Sprechens über Ausländer, das sich um 1900 in der Verkettung des »abnormalen Verhältnisses« zwischen ausländischer und einheimischer Bevölkerung, der davon ausgehenden »Gefahr« und der erleichterten Einbürgerung von Ausländern verfestigt hatte. Zum anderen überschritt die »Ausländerfrage« nun den parlamentarischen Gesprächsrahmen. Auf Zusammenkünften des Schweizerischen Juristenverbandes, der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft und des Schweizerischen Städteverbandes wurden seit 1910 Diskussionsplattformen bereitgestellt, auf denen die »Ausländerfrage« innerhalb eines engen Kreises von juristischen Experten, Politikern, Verwaltungsmitgliedern und teilweise auch Medienvertretern außerhalb der eidgenössischen Ratsdebatten etabliert wurde. Aus all diesen Zusammenkünften gingen Resolutionen an den Bundesrat hervor, die eine Erleichterung der Einbürgerung von Ausländern forderten.264 Zu den Mitgliedern dieses Kreises gehörten zunächst die in der »Neunerkommission« zusammengeschlossenen Politiker. Besonders zu nennen sind der Präsident der »Neunerkommission« Rudolf Bollinger sowie Emil Göttisheim, Edmond Boissier und Paul Pictet. Hinzu kamen Staats- und Bürgerrechtsexperten aus Verwaltung und Rechtswissenschaft, allen voran der namhafte Berner Professor für Staats- und Völkerrecht Walther Burckhardt, dann aber auch der Sekretär des Naturalisationsbüros des Bundes, Hermann Winkler, sowie der Zürcher Armensekretär Carl Alfred Schmid. Auf der Jahrhundertfeier der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft vom 20. September 1910 war außerdem der freisinnige Nationalrat, Parteipräsident und Chefredaktor der »Neuen Zürcher Zeitung«, Walter Bissegger, als Referent zu Wort gekommen. Die Folgenlosigkeit der Gesetzesrevision von 1903 in Fragen der Einbürgerung von Ausländern hatte Zweifel an der Macht der kantonalen und bundesstaatlichen Regierungen und Parlamente auf kommen lassen. »Das Bundesgesetz vom Jahre 1903«, formulierte etwa der Zürcher Stadtschreiber Rudolf 262 Das wird auch dadurch unterstrichen, dass Carl Alfred Schmid der einzige Teilnehmer des ausgeschriebenen Wettbewerbs zur »Gesetzgebung und Praxis betreffend der Rechtsstellung und die Einbürgerung ausländischer Einwohner« war. C.A. Schmid, Unsere Fremdenfrage (1900), S. III. 263 Unter »diskursiven Ereignissen« werden an dieser Stelle in Anlehnung an Link, Diskursive Ereignisse, S. 149 und S. 153, über eine kürzere Zeit geführte Debatten zu einem bestimmten Thema verstanden. Vgl. zu anderen Deutungen der »Ausländerfrage«: G. Arlettaz, Démographie, sowie Schläpfer. 264 Eine Zusammenstellung der Resolutionen findet sich bei: Bollinger, Der heutige Stand der Ausländerfrage, S. 3f.

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Bollinger auf dem schweizerischen Städtetag in Glarus im Jahr 1911, »zeigt klar, dass für eine gute Lösung nicht auf die Behörden und die Räte – kantonale und eidgenössische – allein abgestellt werden kann. Es müssen weiteste Volkskreise bewegt und gewonnen werden.«265 Doch der kleine Expertenkreis aus Politik, Rechtswissenschaft, Verwaltung und Medien blieb auch in den folgenden Jahren begrenzt; die »Ausländerfrage« entwickelte sich nicht zu einer »eigentlichen Volksbewegung«, wie Rudolf Bollinger schon im Jahr 1912 feststellen musste. Den Grund dafür sah Bollinger in der Materie gegeben. Zwar sei die »Ausländerfrage … eine politische Frage ersten Ranges«, gleichzeitig sei sie »aber ebenso sehr ein staatsrechtliches Problem«.266 Die Mischung aus politischen Gegenwartsfragen und juristischen Lösungsansätzen im Bereich des Schweizer Bürgerrechts scheint zu komplex gewesen zu sein, um von einer breiten Öffentlichkeit eingehend diskutiert zu werden. Denn neben Aussagen über das Ansteigen der ausländischen Wohnbevölkerung, über Gefahren für die nationale Existenz, Demokratie und Wirtschaft bildeten auch rechtliche Detailfragen zur Erleichterung der Einbürgerung von Ausländern ein wichtiges Element des diskursiven Ereignisses der »Ausländerfrage«. Die drei genannten diskursiven Elemente wurden von den Sprechenden in verschiedenen Variationen miteinander in Beziehung gesetzt: Einmal stand mehr das als »abnormal« empfundene Verhältnis zwischen ausländischer und einheimischer Bevölkerung im Zentrum, ein anderes Mal wurden stärker die empfundenen Gefahren betont oder die staatsrechtlichen, armenrechtlichen und zivilrechtlichen Voraussetzungen und Wirkungen, die es bei der erleichterten Einbürgerung von Ausländern zu bedenken galt. Insgesamt aber war auch hier die Kette »abnormales Verhältnis zwischen ausländischer und einheimischer Bevölkerung – Gefahr für die nationale Existenz – erleichterte Einbürgerung der Ausländer« das wiederkehrende Schema. So betonte der Basler Nationalrat Emil Göttisheim in seinem eindringlichen und metaphernreichen Referat »Das Ausländerproblem: eine nationale Frage« auf der Jahresversammlung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft im Jahr 1910 zunächst das »Gefühl des Unbehagens über die Ausländerverhältnisse«.267 Am Beispiel Basels führte er aus: »Der Schweizerbürger fühlt sich in seinem eigenen Hause nicht mehr heimisch, denn er muss dieses Haus teilen mit einem Mitbewohner, dessen Familie von Jahr zu Jahr mehr anwächst und mehr Raum beansprucht und der den Hausherrn immer mehr einschränkt in der freien Benützung desselben.«268 Die Situation sei so weit fortgeschritten,

265 266 267 268

Ders., Die Ausländerfrage, S. 7. Beide Zitate: Ders., Der heutige Stand der Ausländerfrage, S. 2. Göttisheim, Das Ausländerproblem, S. 327. Ebd., S. 328.

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»dass die Fremden im Begriffe stehen, wie in Basel, so auch in andern Städten unseres Landes die Mehrheit der Bevölkerung zu bilden.«269 Weiter evozierte Emil Göttisheim mit Begriffen wie »Fremdinvasion«270 und »starke Fremdkolonien im Lande«271 Gefahrenszenarien, die schon um 1900 von Carl Alfred Schmid verwendet worden waren. Das zentrale Anliegen von Emil Göttisheim bestand denn auch darin, »darauf hinzuweisen, inwiefern das starke Ausländertum in der Schweiz dazu führt, unser nationales Denken, Fühlen und Handeln ungünstig zu beeinflussen und wie daraus Inkonvenienzen und Gefährdungen entstehen, … die die Wohlfahrt des schweizerischen Bundes in Frage zu stellen geeignet sind.«272 Das so genannte »Ausländertum« gefährdete nach der Meinung von Göttisheim also den schweizerischen Bundesstaat sowie den nationalen Zusammenhalt der Schweizer. Und diese Gefahr mache vor keiner Landesgegend, vor nichts und niemandem Halt. In den Worten Göttisheims: »Nicht einzelne Personen, nicht einzelne Bevölkerungsklassen und -schichten, nicht einzelne Bezirke und Kantone werden davon betroffen; direkt oder in ihren Konsequenzen berühren sie alle [die »Inkonvenienzen und Gefährdungen«] das Interesse unseres gesamten Volkes, unseres ganzen Landes, unseres staatlichen Lebens und Wirkens überhaupt auf das tiefste und fordern deshalb die Aufmerksamkeit, den guten Willen und die Kräfte aller derjenigen heraus, denen an einer gedeihlichen Fortentwicklung unseres Bundes und unserer Nation gelegen ist.«273 Der Aufruf zum gemeinsamen Handeln des freisinnigen Emil Göttisheim lässt vermuten, dass die »Ausländerfrage« auch vor dem Hintergrund anderer divergierender Kräfte in der Schweiz – etwa der zunehmend international organisierten Arbeiterschaft oder der ultramontan ausgerichteten KatholischKonservativen – eine integrative Wirkung haben sollte. Ebenso wie Emil Göttisheim erkannte Rudolf Bollinger in einer zu hohen Zahl an Ausländern eine Gefahr. Die Schweiz, so der Zürcher Stadtschreiber in seinem Referat »Die Ausländerfrage« am schweizerischen Städtetag in Glarus vom 2. September 1911, sei »der erste europäische Staat, in dem die Zahl der Ausländer eine Höhe erreicht hat, die als eine Gefahr für den Staat empfunden wird.«274 Besonders gefährdet sah Bollinger die republikanischen Werte der Schweiz. »In Hunderttausenden politisch rechtloser und doch in unsere Verhältnisse hineingewachsener Ausländer hätten wir … den Feind der staatlichen Apathie, der staatlichen Desorientierung im Lande«,275 hielt er fest. Darüber hinaus betonte Bollinger auch die wirtschaftliche Gefahr, die 269 270 271 272 273 274 275

Ebd. Ebd. Ebd., S. 331. Ebd., S. 338. Ebd. Bollinger, Die Ausländerfrage, S. 5. Ebd., S. 8.

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von der großen Zahl der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz ausgehe. Davor schütze die Überlegenheit der Schweizer in politischen Dingen nicht. Vielmehr sei die »Idee der ›Beherrschung‹ des wirtschaftlich eher noch besser gestellten Ausländers durch den Stimmzettel des Schweizers … eine törichte Einbildung.«276 Dennoch wehrte sich Bollinger vehement gegen eine einseitige Betrachtung der »Ausländerfrage«, indem er die sozioökonomische Bedeutung der Ausländer in der Schweiz und die Geltung der auf Reziprozität beruhenden Staatsverträge zwischen der Schweiz und andern Staaten unterstrich: »Erstens sind die Ausländer da, weil wir sie für unsere Volkswirtschaft gar nicht entbehren können. Sie essen bei uns nicht das Brot der Gnade, sondern leben vom Lohne der Arbeit, die wir brauchen und selbst nicht tun können oder mögen. Zweitens aber sind die den Ausländern durch die Staatsverträge gewährten Niederlassungs- und Verkehrsrechte wiederum nicht der Ausfluss unseres gnädigen Beliebens oder unserer Harmlosigkeit, sondern der vom Auslande unbedingt geforderte Preis dafür, dass unsre eigenen Leute und, wohl gemerkt, unsere Industrieerzeugnisse ungehindert die Auslandsmärkte aufsuchen können.«277 Die Stimmen von Emil Göttisheim und Rudolf Bollinger bildeten unter den Diskursträgern der »Ausländerfrage« keine Ausnahme. Im Gegensatz zu den Gesetzesdebatten um 1900 sprachen nun alle, die sich im Rahmen der »Ausländerfrage« äußerten, vom quantitativen Verhältnis zwischen Ausländern und Schweizern und der davon ausgehenden »nationalen Gefahr«. Mit der diskursiven Verfestigung ging die Radikalisierung der zu ergreifenden Maßnahmen im Bereich des Bürgerrechts einher: die Einführung eines bundesstaatlichen »ius soli« ohne Optionsrecht (im Gegensatz zum kantonalen »ius soli« mit Optionsrecht im Jahr 1903) und die Einführung eines Rechts auf Einbürgerung für lange in der Schweiz wohnende Ausländer. Die wichtigsten diskursiven Verschiebungen bildeten im Vergleich mit den Debatten um die Jahrhundertwende denn auch die konsensuale Verwendung der Begriffe »Zwangseinbürgerung« und »Recht auf Einbürgerung« (im Gegensatz zur Formulierung »Erleichterung der Einbürgerung von Ausländern«) sowie die nun selbstverständliche Verwendung des Begriffs »Nation« (im Gegensatz etwa zur Klage über den »Kantönligeist« und die Definition der Nation als »zusammengerückte Gemeinden« durch Ständerat Adrien Lachenal im Jahr 1902). Mit der Forderung nach »Zwangseinbürgerungen« und nach einem Recht auf Einbürgerung drang der Begriff der »Assimilation« stärker in die Debatten zur »Ausländerfrage« ein, als dies noch um 1900 der Fall gewesen war. Noch immer galt zwar die Einbürgerung als ein Schritt auf dem Weg zur »Assimila-

276 Ebd., S. 7f. 277 Ebd., S. 9.

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tion«.278 Die Diskursträger der »Ausländerfrage« machten nun aber einen expliziten Unterschied zwischen einer »rechtlichen« und einer »geistigen« Assimilation. So hielt Emil Göttisheim im Jahr 1910 fest: »Es ist begreiflich, dass diese Frage der Assimilierung zur Erwägung kommt, sobald man von Zwangseinbürgerung spricht; allein man muss sich wohl hüten, sie in ihrer Wichtigkeit zu überschätzen. … Wir dürfen und können die Einbürgerung der Ausländer nicht schlechtweg abhängig machen von ihrer Assimilation. Man hat das bis jetzt auch nie und nirgends getan. Wenn ein Ausländer in einer Gemeinde, einem Kanton um das Bürgerrecht nachsucht, wenn er beim Bundesrat um die Einbürgerungsbewilligung einkommt, so fragt heue kein Mensch danach, ob er uns geistig assimiliert ist.«279 In diesem Sinne sprach sich Emil Göttisheim vor allem für die »rechtliche Assimilation« aus, die nur durch die staatsbürgerliche Integration zustande kommen könne. Die »geistige Assimilation« kam für Göttisheim erst an zweiter Stelle: »Gut, also öffnen wir diesen Fremden unser Bürgerrecht, assimilieren wir sie uns rechtlich, und wenn möglich auch geistig!«,280 hielt Emil Göttisheim fest. Desgleichen lehnten die juristischen und politischen Exponenten, die sich mit der »Ausländerfrage« beschäftigten, eine »Gesinnungsprüfung« bei Bürgerrechtsbewerbern ab. Hier tat sich wiederum der Zürcher Stadtschreiber und Präsident der »Neunerkommission« Rudolf Bollinger mit einer dezidierten Meinung hervor: »Wir wollen und brauchen keine Papierschweizer, heisst es; nur solche Ausländer sollen zur Einbürgerung gelangen, die auch schweizerische Staatsgesinnung haben. Nur wenn diese festgestellt ist, darf die Aufnahme erfolgen. Das ist, bei der Notwendigkeit entschlossenen, ins Grosse wirkenden Handelns, nicht Patriotismus, sondern ein gedankenschwaches Spiel mit patriotisch klingenden Redensarten. Nörgelnde, unfruchtbare Kritik. Denn die heiklen Herren, die keine Papierschweizer wollen, nur Kernschweizer, unternehmen es nicht, zu zeigen, wie der Verfremdung der Schweiz anders als durch entschlossene Nationalisierung der einbürgerungsreifen Ausländer zu steuern wäre.«281 Und Bollinger fuhr fort: »Gesinnung, Anschauung sind übrigens innerliche Vorgänge. Ein Bekennen mit Worten beweist noch nicht, dass die Gesinnung auch tatsächlich vorhanden sei. Sodann aber wäre die Bewertung der Gesinnungen darauf, ob sie dem Staate genehm seien, eine heikle Sache. Was soll Urteilsnorm sein? Was ist schweizerische Gesinnung?«282 Abschließend brachte Bollinger in unmissverständlicher Art seine Meinung auf den Punkt: »Mehr, eine Seelenrie278 279 280 281 282

Vgl. dazu: Arlettaz/Burkart. Göttisheim, Das Ausländerproblem, S. 346. Ebd., S. 328. Bollinger, Die Ausländerfrage, S. 12. Ebd., S. 12.

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cherei, ist nicht nötig. Wenn nur alle Schweizer in einem solchen Verfahren bestehen möchten.«283 Mit dem Begriff der »rechtlichen Assimilation« korrelierte die von den Exponenten der »Ausländerfrage« zumeist republikanisch definierte schweizerische Nation.284 Beispielsweise machte der freisinnige Parteipräsident und Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung, Walter Bissegger, an der Jahresversammlung der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft vom 20. September 1910 in seinem Referat »Die Erhaltung schweizerischer Eigenart und die Stärkung des Volkstums« deutlich, dass die schweizerische Nation aus den mit politischen Rechten ausgestatteten Bürgern bestehe. In der Tradition Carl Hiltys und Ernest Renans stehend, hielt er der Suche nach einer sprachlich begründeten »nationalen Identität« seine staatsbürgerlichen Maximen entgegen: »Ob wir eine Nation sind? Das ist eine Doktorfrage, welche die Rassenpolitiker verneinen mögen. Solange wir Schweizer sie einmütig bejahen, kann uns das gleichgültig sein. Jedenfalls sind wir ein Staat, der seine Kulturfragen schlecht und recht, wir dürfen ohne Überhebung sagen, leidlich so gut wie andere Staaten erfüllt. Dass es in Zukunft so bleiben möge, hängt von der Entschiedenheit ab, mit der wir jeden Versuch bekämpfen, die Sprachenfrage bei uns aufzurollen.«285 Dennoch bestand Walter Bissegger auf der Existenz einer »schweizerischen Eigenart«. Eine solche sah er aber nicht in der Sprache, der Rasse oder der Alpenwelt gegeben, sondern im gemeinsamen politischen Wirken der Schweizer Männer im Rahmen der schweizerischen »Staatsgemeinschaft«, der »patriotischen Kraft der Bürger«.286 So legte er in seinem Referat einem fiktiven Ausländer folgende Worte in den Mund, die an die über hundert Jahre zuvor formulierten Zweifel an der Existenz einer schweizerischen Nation des helvetischen Politikers Konrad Escher erinnern: »Gibt es eine schweizerische Eigenart? Kann es eine geben in eurem von drei Stämmen mit verschiedenen Sprachen besetzten Lande? Besteht nicht ein grundlegender Unterschied, der bis zur Unvereinbarkeit zu gehen scheint, zwischen dem Charakter der Deutschschweizer im Kanton Bern oder Schaff hausen, und dem der Welschen in Genf und Tessin?«287 Während sich Konrad Escher im Jahr 1899 auf derartige Fragen »keine Antwort zu geben«288 gewusst hatte, fuhr Bissegger in seinem Referat 283 Ebd., S. 13. 284 Vgl. zum »interdependenten Verhältnis« zwischen der »Ausländerfrage« und der Suche nach der »nationalen Identität«: Kury, Über Fremde reden, S. 71. 285 Bissegger, S. 325. 286 Ebd., S. 319. 287 Ebd. 288 Amtliche Sammlung der Acten aus der Zeit der Helvetischen Republik, Bd. 4, S. 1379. Vgl. dazu das Kapitel: »Vorstellungen von der schweizerischen Nation: Entwicklungslinien im 19. Jahrhundert«

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fort: »Der Ausländer wird die beiden ersten Fragen ohne weiteres mit Nein, die dritte mit Ja beantworten; ich antworte ohne Besinnen und Bedenken im entgegengesetzten Sinne. Ich fühle mit den Welschen, und ich weiss, dass von ihrer Seite unsere Gefühle erwidert werden. Das liegt an der jahrhundertelangen Gewohnheit des Zusammenseins und Zusammenwirkens in einer Staatsgemeinschaft.«289 Insgesamt erteilten also die Diskursträger der »Ausländerfrage« der kulturellen Assimilation und einer Gesinnungsprüfung als Bedingungen für die Einbürgerung sowie einer kulturell definierten, schweizerischen Nation eine klare Absage. Aufgrund dieser Sachlage könnte davon ausgegangen werden, dass die »Ausländerfrage« resistent war gegen die gleichzeitige Suche der seit 1900 aufsteigenden »neuen Rechten« nach einer essentialistisch definierten »nationalen Identität« oder »nationalen Eigenart«.290 Dies war jedoch nicht der Fall. Der essentialistische Identitätsdiskurs der »Neuen Rechten« und die Ausländerfrage liefen nicht ohne Berührungspunkte nebeneinander her, sondern griffen zuweilen auch ineinander.291 Für den Staats- und Völkerrechtler Walther Burckhardt beispielsweise lag das Ziel der Einbürgerung nicht primär in der rechtlichen Gleichstellung der Ausländer mit den Schweizern oder der Aneignung einer politischen Kultur. Vielmehr sollte die Einbürgerung zu einer »innerlichen« Assimilation führen, was für Walther Burckhardt soviel wie die Fähigkeit bedeutete, sich als Schweizer zu fühlen. Er formulierte im Jahr 1913: »Assimilieren ist nicht gleich einbürgern, aber die Einbürgerung ist die notwendige Voraussetzung einer wirksamen Assimilation. … Bürgern wir nicht ein, so werden sich die Ausländer jedenfalls noch viel weniger Schweizer fühlen, ja sie werden sich überhaupt nie assimilieren. Der Staat kann nicht viel anderes tun zur innerlichen Gewinnung (sic) der niedergelassenen Ausländer, als dass er sie zu Schweizerbürgern macht, und er würde schwer fehlen, wenn er es unterliesse.«292 Darüber hinaus finden sich bei Walther Burckhardt erstmals rassistische Diskurselemente, die in die »Ausländerfrage« eindrangen. So hielt er fest: »Man wird es vielleicht später als einen Fehler einsehen, nicht mehr Gewicht auf die Erhaltung unserer Rasse gelegt zu haben. Ob eine Rasse der andern überlegen sei und ob unsere Volksstämme gerade am höchsten zu stellen seien, ist nicht 289 Bissegger, S. 319. 290 Vgl. dazu das Kapitel: »Der Aufstieg der ›neuen Rechten‹ und die Suche nach der ›nationalen Identität‹ seit 1900«. 291 Kury, Über Fremde reden, S. 57. 292 W. Burckhardt, Die Einbürgerung der Ausländer, S. 22f. In eine ähnliche Richtung gingen die Äußerungen des Genfers Edmond Boissier. Er sah die »Assimilation« der Ausländer als eine erzieherische, staatsbürgerliche Pflicht, als ein patriotisches Werk der Schweizer. Von Kindesbeinen an sollten die Ausländer von einem »nationalen Geist« und patriotischen Gefühl umgeben sein. Vgl. Boissier, De l’Assimilation des Etrangers, S. 38f.

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die Frage.«293 Zwar lehnte Burckhardt die Hierarchisierung von »Rassen« ab. Allerdings sollte es seiner Meinung nach »nicht dem Spiel des Zufalles überlassen werden, ob sich heute Hunderte oder Tausende von Polen, morgen ebenso viele Russen und Juden, und übermorgen vielleicht Chinesen oder Malayen ansiedeln. Diesem Zufall steht aber der Staat gegenwärtig machtlos gegenüber … Für die Ausländerfrage wäre aber mit der Einschränkung der Einwanderung in den erwähnten Richtungen wenig gewonnen, denn die Masse der gegenwärtig in der Schweiz niedergelassenen Ausländer sind nicht Slawen, Semiten oder Mongolen, sondern Stammesverwandte der Schweiz, und diese Masse bildet die politische Gefahr.«294 Walther Burckhardts Griff nach rassistischen Argumenten stellte im Rahmen der »Ausländerfrage« eine Ausnahme dar. Das Beispiel macht aber deutlich, dass das Diskursmuster des Sprechens über Ausländer grundsätzlich auch mit solchen Diskurselementen kombinierbar war. Mit Blick auf die Zeit nach 1914, in der essentialistisch geführte Identitätsdiskurse zunehmend mit ausschließenden Strategien in der Bürgerrechtspolitik kombiniert wurden, drängt sich daher die Vermutung auf, dass im Sprechen über Ausländer, das sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert aus den Interdiskursen der »Sicherheit der Gesellschaft« und des »Normalismus« speiste, die ausschließenden Strategien bereits angelegt waren.295 Verband sich also das beschriebene Muster des Sprechens über Ausländer nur ausnahmsweise – nämlich unter der Vorgabe des liberalen Zeitalters und der damit verbundenen internationalen Personenfreizügigkeit – mit staatsbürgerlich-integrativen Diskurselementen und Strategien? Die von der bisherigen Forschung konstatierte ursächliche Bedeutung des Ersten Weltkriegs für den abrupten Wandel im Umgang der offiziellen Schweiz mit der ausländischen Bevölkerung muss vor diesem Hintergrund neu überdacht werden. Zweifellos wurde durch die Zäsur des Ersten Weltkriegs und das damit eintretende Ende der Personenfreizügigkeit in Europa die Möglichkeit erst geschaffen, die Niederlassungs- und Bürgerrechtspolitik der Schweiz als Instrumente der schweizerischen Fremdenabwehr einzusetzen. Neu zu diskutieren ist aber die Frage, ob der Erste Weltkrieg weniger die alles erklärende Ursache, sondern eher das auslösende Moment für den plötzlichen Wandel darstellte, indem er den Rahmen für das nationalstaatliche Handeln schlagartig erweiterte.

293 W. Burckhardt, Die Einbürgerung der Ausländer, S. 21. 294 Ebd. 295 Vgl. dazu das Kapitel: »Das Sprechen über Ausländer: Ein Diskursmuster formiert sich«.

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VI. Bürger machen: Das Basler Kantons- und Gemeindebürgerrecht 1833–1914

In den bisherigen Kapiteln stand die Entwicklung des bundesstaatlichen Schweizer Bürgerrechts zwischen 1848 und 1914 im Zentrum. Der Bund besaß während dieser Zeit nur wenige Kompetenzen in Einbürgerungsfragen – die wichtigsten Einbürgerungsorgane waren die schweizerischen Kantone und Gemeinden. Darüber hinaus hatte die Revision des bundesstaatlichen Bürgerrechtsgesetzes von 1903 nicht zum gewünschten Resultat, der erleichterten Einbürgerung von Ausländern, geführt. Zu viele Kantone und Gemeinden hielten weiterhin an ihrer restriktiven Bürgerrechtspolitik fest. Im Fokus der folgenden Ausführungen steht das kantonale und kommunale Bürgerrecht. Gefragt wird nach der Funktionsweise der bürgerrechtlichen Ausschließungs- und Integrationsdynamiken auf kantonaler und kommunaler Ebene und den spannungsreichen Koordinationsprozessen zwischen Gemeinde, Kanton und Bund in Fragen des Bürgerrechts. Als Untersuchungskanton und -gemeinde wurden der Kanton Basel-Stadt und die Stadt Basel gewählt. Den Grund für diese Wahl bildete zunächst der Sachverhalt, dass die Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz spätestens seit den 1890er Jahren zu einem überwiegend städtischen Phänomen geworden war.1 Ein weiterer Grund liegt in der vergleichsweise liberalen Einbürgerungspolitik der Basler Kantonsbehörden um 1900. So wurden damals im Kanton BaselStadt – gemessen an der Zahl der ansässigen Ausländer – am meisten ausländische Staatsangehörige eingebürgert. Während der Kanton Basel-Stadt im Jahr 1900 mit einer Einbürgerungsziffer von 1,18 % an der Spitze der Schweizer Kantone lag, betrug der gesamtschweizerische Wert lediglich 0,67 %.2 Die Basler Bürgergemeinde hielt der Liberalisierung durch die Kantonsbehörden jedoch mit restriktiven Einbürgerungsentscheiden entgegen. Die Untersu1 Die meisten Einbürgerungen von Ausländerinnen und Ausländern fanden damals in den rasch wachsenden Städten statt, insbesondere in Basel, Zürich und Genf. Eidgenössisches Statistisches Bureau, S. 23–25 und S. 27. Eine statistische Übersicht über die gesamten Bürgerrechtsaufnahmen in der Schweiz liegt für die Zeit vor 1889 nicht vor. 2 Bei den Zahlen handelt es sich um die Einbürgerungsziffer von Ausländern. Alle Zahlen: ebd., S. 24 und S. 34. Die absoluten Einbürgerungszahlen des Kantons Basel-Stadt lagen zwischen 1889 und 1908 mit 10 066 eingebürgerten ausländischen Staatsangehörigen unter denjenigen Zürichs (10 366) und Genfs (10 099). Die Einbürgerungen in den drei Basler Landgemeinden fielen dabei für den Kanton Basel-Stadt kaum ins Gewicht.

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chung der Einbürgerungspolitik des Kantons Basel-Stadt und der Stadtgemeinde Basel soll zeigen, wie weit die integrativen Möglichkeiten des dreistufigen Schweizer Bürgerrechts vor dem Ersten Weltkrieg ausgeschöpft wurden, welche Instanzen die erleichterte Einbürgerung zu verhindern wussten und welche Kriterien auf lokaler Ebene über den bürgerrechtlichen Ein- oder Ausschluss entschieden.

1. Basel in einer Zeit raschen Wandels Im Jahr 1833 trennte sich der Kanton Basel in die beiden Halbkantone BaselStadt und Baselland. Die eidgenössische Tagsatzung hatte den Kanton nach dem Bürgerkrieg zwischen der Stadt und der Landschaft zur Trennung gezwungen. Somit umfasste nach 1833 das Hoheitsgebiet des Kantons Basel-Stadt nur noch das Gebiet der Stadt und der drei Landgemeinden Riehen, Bettingen und Kleinhüningen.3 In den folgenden acht Jahrzehnten fand in Basel ein rascher demografischer, wirtschaftlicher, sozialer und politischer Wandel statt. Dieser Wandel bildete – außer der sukzessiven rechtlichen Gleichstellung der Schweizer Männer durch den Bund nach 1848 – den strukturellen Kontext der damaligen Basler Bürgerrechtspolitik. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nahm in der Stadt Basel die Bevölkerung stark zu. Die Zahl von rund 26 000 Einwohnerinnen und Einwohnern im Jahr 1847 stieg bis ins Jahr 1900 auf 109 000 Personen an, im Jahr 1910 zählte die Stadt sogar schon 132 000 Menschen.4 Gleichzeitig erhöhte sich der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung an der gesamten Kantonsbevölkerung. Während der kantonale Ausländeranteil im Jahr 1860 bei 28,7 % lag (gesamte Schweiz: 4,6 %), stieg die Zahl bis ins Jahr 1900 auf 38,1 % an (gesamte Schweiz: 11,6 %).5 Infolge der Niederlassungsfreiheit für (zunächst christliche) Schweizer Bürger seit 1848, der herrschenden Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und dem Ausland, der geografischen Lage Basels an der Grenze zu Frankreich und Deutschland sowie der wachsenden Basler Industrie – ge3 Alioth, S. 35. Die »Verschmelzung der Bürgergemeinde Kleinhüningen« mit der Basler Bürgergemeinde fand im Jahr 1908 statt. StA BS, 33. Verwaltungsbericht des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel, 1908, S. 23. 4 Zahlen nach: Sarasin, Stadt der Bürger, S. 433, Tabelle 1–1, sowie S. 16, Grafik 1. 5 Zahlen nach: Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Revision des Art. 44 der Bundesverfassung (Massnahmen gegen die Überfremdung), vom 9. November 1920, S. 5f., sowie Nachtrag zu der Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung vom 9. Dezember 1920 betreffend Revision des Art. 44 der Bundesverfassung (Massnahmen gegen die Überfremdung) (Vom 14. November 1922), S. 664.

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nannt seien der Aufstieg der Seiden-, Baumwoll-, Tabak- und Papierindustrie nach der Kantonstrennung, die später entstehende, ertragreiche Metall-, Maschinen- und chemische Industrie sowie das gegen Ende des 19. Jahrhunderts blühende Bauwesen6 – verzeichneten der Kanton und insbesondere die Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen beträchtlichen Anstieg der Mobilitätsrate und einen Wanderungsgewinn.7 Zur selben Zeit erhöhte sich in der Stadt Basel auch der Frauenanteil. Darauf wurde seit der Basler Volkszählung im Jahr 1837 regelmäßig hingewiesen. So betrug das Verhältnis zwischen der Zahl an männlichen und weiblichen Einwohnern im Jahr 1850 schon 100 zu 117, zwanzig Jahre später kamen auf 100 Männer gar 124 Frauen.8 Wie Regina Wecker aufzeigt, war die Frauenmehrheit eine allgemeine städtische Erscheinung. In Basel kam sie vor allem durch das Arbeitsplatzangebot für weibliche Arbeitskräfte im Dienstleistungssektor und in der Textilindustrie sowie die stärkere Zuwanderung von Frauen als von Männern zustande.9 Mit dem Bevölkerungswachstum und dem Aufstieg Basels zur Industriestadt gingen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zunehmend sozioökonomische Herausforderungen einher. Die Arbeitszeiten in den Fabriken waren lang, die Löhne niedrig. Im Jahr 1892 verdienten beispielsweise rund drei Viertel der in Basel steuerpflichtigen Personen jährlich unter 2 000 Franken, »die als ausreichend für den Unterhalt einer Familie gelten konnten.«10 Entsprechend lebten drei Viertel der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler Basels zu Beginn der 1890er Jahre in bescheidenen bis sehr armen Verhältnissen.11 Überdies fehlten Versicherungen gegen Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit weitgehend. Zu gesellschaftlichen Spannungen kam es im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts auch infolge der noch jungen Einwanderung von Italienerinnen und Italienern. Wie in andern Schweizer Städten wurden sie in Basel als fremd wahrgenommen.12 In der Stadt zeigte sich die gegen Italiener gerichtete, xenophob 6 Sarasin, Stadt der Bürger, S. 78, Tabelle 6. Die Gewinne der städtischen Industrie machten allerdings nur einen Teil des Reichtums der Stadt aus. Die Erträge der weit über die Schweizer Grenzen hinaus abgesetzten Produkte baslerischer Herkunft flossen zu einem bedeutenden Teil ins internationale Finanz- und Kreditgeschäft der Basler Banken. Ebd., S. 84f. 7 Vgl. zum wechselseitigen Verhältnis von Migration und Industrialisierung: ebd., S. 101. Für die hohe geografische Mobilität der Bevölkerung (die Mobilitätsrate betrug im Jahr 1900 342 ‰) waren auch die Abwanderungen verantwortlich. Ebd., S. 29. Vgl. dazu: ebd., S. 433, Tabelle 1–2, sowie S. 22. Vgl. zur Basler Industrie: ebd., S. 78, Tabelle 6, und S. 84f. 8 Wecker, Zwischen Ökonomie und Ideologie, S. 58. 9 Ebd., S. 58–60. 10 Dies., 1833 bis 1910, S. 213f. Vgl. dazu: Sarasin, Stadt der Bürger, S. 124, sowie Degen, Das Basel der andern, S. 211. 11 Dagegen verdienten knapp 2 % der in Basel steuernden Personen mehr als 20 000 und teilweise bis weit über 100 000 Franken. Sarasin, Stadt der Bürger, S. 124 und S. 129. 12 Vgl. dazu: Skinner, S. 59f. und S. 21.

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motivierte Abwehr in unterschiedlicher Weise. Am Bahnhof wurden ab 1898 so genannte »Italienersäle«, separate Warteräume für Italienerinnen und Italiener, eingerichtet, und im Jahr 1905 schloss die »Allgemeinen Armenpflege« Italienerinnen und Italiener von den Unterstützungsleistungen aus. Darüber hinaus betrachteten Teile der deutschsprachigen Arbeiterschaft ihre italienischen Arbeitskollegen als Konkurrenz, die bürgerliche Presse druckte fremdenfeindliche Zeitungsartikel und Bewohner des Spalenquartiers verfassten antiitalienische Protestbriefe an die Behörden.13 Zu größeren gewaltsamen Übergriffen der einheimischen gegen die italienische Bevölkerung kam es in der Stadt zwar nicht. Hingegen war das in den Gemeinden Birsfelden, Binningen und Allschwil, die zum Kanton Basel-Landschaft gehörten und an den Stadtkanton angrenzten, nach 1900 mehrfach der Fall. Auch hier wurden die gegen die Italiener gerichteten Krawalle wie in Zürich oder Bern von jungen Schweizer Männern aus unterprivilegierten Bevölkerungsschichten angezettelt und durchgeführt.14 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kam es zu einem fundamentalen Bruch im politischen System des Kantons Basel-Stadt. Während in den Regenerationskantonen, beispielsweise im Kanton Zürich, der Übergang vom Ancien Régime in eine liberale bürgerliche Gesellschaft schon mit den Regenerationsverfassungen zu Beginn der 1830er Jahre stattgefunden hatte, fiel dieser Übergang im Kanton Basel-Stadt ins Jahr 1875. Bei der Kantonstrennung von 1833 hatte die eidgenössische Tagsatzung bestimmt, das bis anhin duale Regierungssystem zwischen Kanton und Stadtgemeinde, die sowohl bürgerliche als auch munizipale Aufgaben wahrnahm, beizubehalten. Dadurch sollte verhindert werden, dass eine einzige Behörde zu viel Macht auf sich vereinte.15 Dennoch hatten die alteingesessenen Basler Familien und die Zünfte in der Zeit des so genannten »Ratsherrenregiments«, dem damaligen Basler Regierungssystem bis 1875, weiterhin das Sagen gehabt. Zudem war die Wahl von Angehörigen aus unteren sozialen Schichten und kantonsfremden Schweizern in einen der Basler Räte durch die geltenden Wahlmodalitäten erschwert gewesen.16 Erst infolge der revidierten Bundesverfassung von 1874, welche die rechtliche Gleichstellung der Kantonsbürger mit den niedergelassenen Schweizer Bürgern nun auch auf kommunaler Ebene forderte, gab das Basler Ratsherrenregiment dem bestehenden Reformdruck nach. Das duale politische System zwischen Kanton und Stadtgemeinde, die politische Macht der Zünfte und das umständliche Wahlverfahren gehörten mit der Kantonsverfassung von 1875 der Vergangenheit an. Seither sind in Basel die Kantonsbehörden (Grosser Rat und 13 119. 14 15 16

Alle Angaben: Manz, S. 176–181, S. 197, S. 200, S. 215–217, sowie A.K. Schmid, S. 116– Vgl. dazu: ebd., S. 197–215. Vgl. dazu: Schaffner, Geschichte des politischen Systems, S. 37–53. P. Burckhardt, S. 278f. Vgl. dazu auch: Schaffner, Geschichte des politischen Systems.

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Regierungsrat) nicht nur für die Angelegenheiten des Kantons zuständig, sondern auch für die Aufgaben der nun neu geschaffenen Einwohnergemeinde.17 Parallel zur Einwohnergemeinde der Stadt Basel, in deren Kompetenz nun alle munizipalen Angelegenheiten lagen, entstand im Jahr 1875 die Basler Bürgergemeinde. Ihre Vertreter, der Engere und Weitere Bürgerrat, waren für die Bürgerrechtsaufnahmen in der Stadt zuständig. Der Engere Bürgerrat (Gemeindeexekutive) hatte die Mitglieder der Bürgerkommission zu wählen, die über die Aufnahme neuer Bürgerinnen und Bürger ratschlagte. Die 40 Mitglieder des Weitern Bürgerrats (Gemeindelegislative) stimmten über die Aufnahme neuer Bürgerinnen und Bürger ab und wählten den damals fünfköpfigen Engern Bürgerrat. Außerdem lagen die bürgerliche Armenunterstützung und die Verwaltung des Bürgerguts (so etwa des Spitals, des Waisenhauses, des Almosenamts oder des Vermögens der Zünfte) in der Verantwortung der Bürgergemeinde.18 Mit der Verfassung von 1875 ging in Basel ein Machtwechsel einher. Der Freisinn, der das aufsteigende, mittelständische Bürgertum repräsentierte, wurde zur stärksten politischen Kraft, während die bisherigen Machteliten, die Liberal-Konservativen an Einfluss verloren. Im Jahr 1886 erkämpften außerdem erstmals Vertreter der Arbeiterschaft Sitze im Grossen Rat, dem Kantonsparlament.19 Die Demokratisierung des politischen Systems des Kantons Basel-Stadt war damit aber noch nicht abgeschlossen. Im Jahr 1889 verankerte die total revidierte Kantonsverfassung die Volkswahl des Regierungsrats. Bedeutend war auch im Jahr 1905 der Wechsel vom Majorz- zum Proporzsystem für die Wahl des Grossen Rats. Damit wurde die Zahl der Stimmen, die eine Partei im Verhältnis zu den Stimmen der übrigen Parteien auf sich vereint, für die Sitzverteilung im Parlament ausschlaggebend. Wie folgenreich diese Änderung war, zeigt die Tatsache, dass der Freisinn noch im selben Jahr die absolute Mehrheit im Kantonsparlament zugunsten der 1890 gegründeten Sozialdemokratischen Partei (SP) und der 1905 entstandenen Katholischen Volkspartei (KVP) verlor.20 Die Konservativen, die sich seit 1905 in der Liberalen Partei (LDP) organisierten, verloren seither an Stärke und Einfluss.21 Hingegen gelang es den Sozialdemokraten mit den Wahlen von 1908 zur stärksten Partei Basels aufzusteigen und bis im Jahr 1914 etwas mehr als ein Drittel der Sitze zu erringen.22 Der so genannte »Wohlfahrtsartikel« in der Kantonsverfassung von 1889 flankierte die demokratischen Neuerungen. Nach dessen Wortlaut musste der 17 Vgl. dazu: [Basler] Gemeindegesetz, vom 26. Juni 1876, § 1. 18 Alle Angaben: [Basler] Gemeindegesetz, vom 26. Juni 1876, § 13 und § 15. Vgl. dazu: Verfassung des Kantons Basel-Stadt, vom 10. Mai 1875, § 16. 19 Mooser, Konflikt und Integration, S. 244, sowie Wecker, Zwischen Ökonomie und Ideologie, S. 99. 20 Schaffner, Geschichte des politischen Systems, S. 50f. 21 Vgl. dazu: Trümpy, S. 147f. 22 Mooser, Konflikt und Integration, S. 419, Tabelle 15.

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Kanton »nach Kräften für die Wohlfahrt des Volkes wirken und dessen Erwerbsfähigkeit heben.«23 Die Freisinnigen und Radikalen hatten den Artikel gegen die Konservativen und ihre Tradition der bürgerlichen Wohltätigkeit durchgesetzt.24 Die gesamte Bevölkerung von Basel sollte gegen soziale Risiken wie Armut, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter abgesichert werden. Zu diesem Zweck waren neue Regierungsinstrumente vorgesehen: die Einführung obligatorischer Versicherungszweige sowie die finanzielle Beteiligung des Kantons an der »Allgemeinen Armenpflege«, die – unter »heimatlicher« Beteiligung – für die Unterstützung der in Basel niedergelassenen bedürftigen Schweizer und Ausländer zuständig war.25 Die geplanten Maßnahmen setzten sich nur teilweise durch. Die Einführung einer obligatorischen Kranken- und Arbeitslosenversicherung scheiterte zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Referendum und die rücksichtslosen, von der »Allgemeinen Armenpflege« initiierten Heimschaffungen bedürftiger Niedergelassener nach 1904 standen in krassem Gegensatz zum Zweck des »Wohlfahrtsartikels«.26 Hingegen gelang dem zunehmend von der Sozialdemokratie beherrschten Kanton Basel-Stadt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Ausbau einer funktionierenden »wohlfahrtsstädtischen«27 Gesundheitspolitik.

2. Der Topos von der notwendigen Zunahme der Basler Bürger Seit der Kantonstrennung im Jahr 1833 war es das ausgewiesene Ziel der kantonalen Basler Räte, die Einbürgerung zu erleichtern. Die vorgenommenen Änderungen im Basler Bürgerrechtsgesetz waren zunächst zwar noch bescheiden, bis zum Gesetz von 1902 nahmen die Liberalisierungsmaßnahmen jedoch laufend zu. Untrennbar damit verknüpft war der Topos von der notwendigen Vermehrung der Basler Bürger; ein Topos, der bis zum Ersten Weltkrieg die Basler Bürgerrechtspolitik bestimmen sollte. Schon im Jahr 1757 hatte der Basler Ratsschreiber Isaak Iselin in seiner Schrift »Freimüthige Gedanken über die Entvölkerung unserer Vaterstadt«28 mahnend auf die rückläufige Zahl der Basler Bürger als Folge der damaligen Schließung des Bürgerrechts hingewiesen. 29 Mit der Abnahme der Bürger23 Verfassung des Kantons Basel-Stadt, vom 2. Dezember 1889, § 11. 24 Vgl. dazu: P. Burckhardt, S. 329, und Schaffner, Geschichte des politischen Systems, S. 47. 25 Verfassung des Kantons Basel-Stadt, vom 2. Dezember 1889, § 16. 26 Vgl. zur Arbeitslosenversicherung: Degen, Arbeitslosigkeit, S. 360, sowie zur »Allgemeinen Armenpflege«: A.K. Schmid. 27 Mooser, Konflikt und Integration, S. 227. Vgl. dazu: ebd., S. 239–241. 28 Iselin, S. 8f. 29 Vgl. zur Schließung städtischer Bürgerrechte im Verlauf des 18. Jahrhunderts: Rieser, S. 27.

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schaft verringere sich auch, wie Iselin klagte, die wirtschaftliche Kraft der Stadt. Der Grund dafür: In der Zunftstadt Basel konnten nur Basler Bürger ein Gewerbe auf eigene Rechnung betreiben. Der Ratsschreiber Iselin war jedoch davon überzeugt, »dass eine grössere Anzahl in die Fremde handelnder und fabricirender Bürger hier noch sehr wol wohnen, und nicht nur ohne Nachteil, sondern mit dem grössten Nuzzen des Staates aufgenommen werden könnte.«30 Deshalb müsse Basel dem Beispiel der »weisen in Gott ruhenden Voreltern folgen, welche bis zu Anfange dieses Jahrhunderts alle ehrlichen Leute mit Vergnügen zu Mitbürgern angenommen«31 hätten. Isaak Iselins Plädoyer für die Öffnung des Basler Bürgerrechts und die politischen Bestrebungen seiner Mitstreiter zeigten vorerst kaum Wirkung. Nachdem während kurzer Zeit die Aufnahme neuer Bürger in das städtische Bürgerrecht möglich geworden war, schloss der Grosse Rat im Dezember 1763 das Bürgerrecht wieder.32 Und auch nach den revolutionären Umwälzungen zur Zeit des helvetischen Einheitsstaats, die in Basel nicht zuletzt auf die zunehmende Verengung des Kreises ämterfähiger Bürger geantwortet hatten, wandten sich die Basler Politiker nach 1803 wieder den alten Prinzipien zu: Zwar ermöglichten die Räte mit dem Erlass des Bürgerrechtsgesetzes vom 20. Dezember 1803 grundsätzlich wieder die Aufnahme neuer Bürger. Das ausgewiesene Ziel des Gesetzes bestand jedoch darin, dass »den Fremden die Erhaltung der Gemeindebürgerrechte so viel immer möglich erschwert und solche Requisita festgesetzt werden sollen, dass nicht ein jeder sich beikommen lassen könne, ein solches im Kanton zu erwerben …«33 Erst nach der Einsetzung des Bundesvertrags von 1815 wurde das in die Jahre gekommene Plädoyer von Isaak Iselin wieder aufgegriffen. Das »Gesetz wegen Bürgerrechtsgebühren der Stadt Basel« vom 2. April 1816 »erleichterte« denn auch die Einbürgerung für Basler Landbürger bei einer damals noch immer kaum bezahlbaren Einbürgerungsgebühr von 600 Franken. Begründet wurde diese Maßnahme, mit der »wieder zum Bewusstsein kommende[n] Nothwen30 Iselin, S. 12. 31 Ebd., S. 40f. 32 Vgl. dazu: Pfister, S. 25, sowie StA BS DS BS Ratschläge 1866 (Nr. 351), Rathschlag und Entwurf eines Bürgerrechtsgesetzes, dem Grossen Rath vorgelegt den 1. Oktober 1866, S. 5: »Am 26. April 1762 wurde die betreffende Verordnung erlassen und es erfolgte eine Reihe von Bürgeraufnahmen. Bald aber erhob sich gewaltige Opposition; schon im Herbst desselben Jahrs wurde im Grossen Rath der Anzug gestellt, es sollte einmal mit Annahme der neuen Bürger ein Ende gemacht werden. … Obgleich nun die Abänderung von der Hand gewiesen wurde, so erfolgte doch in Folge beständigen Andringens der Gegner schon im December folgenden Jahrs ein Grossrathsbeschluss, der die Suspension der neuen Bestimmungen auf sechs Jahre aussprach, welche Suspension 1770 auf abermals zehn Jahre ausgedehnt wurde.« 33 Bericht zum Bürgerrechtsgesetz der »Hauptkommission« an den Rath im Jahr 1803. Zitiert nach: StA BS DS BS Ratschläge 1866 (Nr. 351), Rathschlag und Entwurf eines Bürgerrechtsgesetzes, dem Grossen Rath vorgelegt den 1. Oktober 1866, S. 7.

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digkeit einer Vermehrung der Bürgerschaft«.34 Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte verfestigte sich das alte Iselinsche Argument zu einem festen Topos; kaum eine Revision des Bürgerrechtsgesetzes, bei der sich die Basler Staatsmänner nicht darauf beriefen. Während jedoch die Forderung nach der erleichterten Einbürgerung zur Vergrößerung der Basler Bürgerschaft immer gleich lautete, änderten sich die damit verbundenen politischen Ziele der kantonalen und später auch der kommunalen Räte. So stand während der Revisionsdebatten zum Bürgerrechtsgesetz von 1866 nicht mehr wie etwa im 18. Jahrhundert ein ökonomisches Argument im Vordergrund, sondern eine rückwärtsgewandte gemeindepolitische Überlegung: Die städtische Bürgerschaft sollte durch die erleichterte Einbürgerung vergrößert werden, um die Einführung der politischen Einwohnergemeinde abzuwenden. Der Kleine Rat (Kantonsexekutive) äußerte sich folgendermaßen dazu: Eine »Korporation, die in ihren Mitgliedern theilweise wechselt [durch die sich niederlassenden Schweizer], als Ganzes aber gegeben ist und von der Bürgerschaft durch eine Scheidewand getrennt bleibt, das ist ein unter allen Umständen bedenklicher, bei Gelegenheit zu den fatalsten Folgen führender Zustand.«35 Es müsse alles daran gesetzt werden, »dass die Niedergelassenen nicht als Fremde unter uns fortexistieren, sondern möglichst zahlreich in unsre Bürgerschaft hereinwachsen.«36 Die Forderung der Basler Kantonsregierung fand auch bei der Mehrzahl der Stadträte Unterstützung, obwohl diese noch immer eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber der Aufnahme neuer Bürger vertraten.37 Auch die Gemeinderäte sahen nämlich ihre Kompetenzen im Bereich munizipaler Aufgaben durch die Einführung einer gesonderten Einwohnergemeinde gefährdet. 38 Einerseits hätten sie wie die Kantonsbehörden munizipale Aufgaben an die politische Einwohnergemeinde abtreten müssen, andererseits wären niedergelassene Schweizer in munizipalen Gemeindeangelegenheiten stimmberechtigt geworden.39 Die Forderung des Ratsherrenregiments, die Einbürgerung in der Stadt zu 34 Zitiert nach: StA BS DS BS Ratschläge 1866 (Nr. 351), Rathschlag und Entwurf eines Bürgerrechtsgesetzes, dem Grossen Rath vorgelegt den 1. Oktober 1866, S. 9. 35 Beide Zitate: StA BS DS BS Ratschläge 1866 (Nr. 351), Rathschlag und Entwurf eines Bürgerrechtsgesetzes, dem Grossen Rath vorgelegt den 1. Oktober 1866, S. 24. 36 Ebd. Vgl. dazu auch: StA BS DS BS Ratschläge 1837 (Nr. 112), Rathschlag und Entwurf eines Bürgerrechts-Gesetzes, dem Grossen Rath eingegeben den 4. Dezember 1837, S. 6. 37 Eine oppositionelle Haltung nahmen die Stadträte Burckhardt und Bernoulli-Bär ein. Sie waren der Meinung, dass in Basel de facto schon längst eine Einwohnergemeinde existiere, die durch die kantonalen Behörden beherrscht werde. Anonyme Beilage der Basler Nachrichten, Nr. 273, 17.11.1866. 38 Ebenso wurde die erleichterte Einbürgerung in mehreren Zeitungsartikeln unterstützt. Vgl. z.B. die anonyme Einsendung in den Basler Nachrichten vom 7. Oktober 1865, Nr. 238, S. 1878, sowie Strasky, S. 34–36, S. 39–45, S. 58f., S. 62–65. 39 Schon vor der Kantonstrennung hatten sich die Kompetenzbereiche des Kantons und der Stadtgemeinde überschnitten, beispielsweise im Polizeiwesen. Dem Kanton war es nach der

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liberalisieren, besaß also ein machtpolitisch rückwärtsgewandtes Motiv. Durch die Vermehrung der Bürgerschaft sollte alles beim Alten bleiben: sowohl das bestehende Kräfteverhältnis zwischen kantonalen und kommunalen Behörden als auch das Verhältnis zwischen Bürgern und Niedergelassenen. Dennoch konnte die politische Einwohnergemeinde nicht abgewendet werden. Mit der revidierten Bundesverfassung von 1874 erhielten die schweizerischen Niedergelassenen politische Mitspracherechte in Gemeindeangelegenheiten, womit der Bürgergemeinde als politischer Gemeinde grundsätzlich ein Ende gesetzt wurde. Doch schon im Zuge der Basler Verfassungsrevision von 1875 lebte der alte Topos von der Vermehrung der Bürgerschaft wieder auf. Jetzt war es die zahlenmäßige Vertretung der städtischen Bürger in der neu geschaffenen politischen Einwohnergemeinde, die zur erleichterten Einbürgerung drängte. Die Mitglieder der Kommission zur Revision der Basler Verfassung bezeichneten es als eine »doppelte Pflicht, dafür zu sorgen, dass das bürgerliche Element in der Einwohnergemeinde erhalten und gemehrt werde, damit nicht das flottante auswärtige Element allzu sehr die Oberhand gewinne, und dass Verwaltung und Gesetzgebung nicht unter jenen ab- und zugehenden Strömungen und Sprüngen leiden, welchen eben dieses flottante Element aus auf der Hand liegenden Gründen unterworfen ist.«40 In diesem Zusammenhang wurde vier Jahre später während der Debatten zur neuerlichen Revision des Basler Bürgerrechtsgesetzes erstmals explizit zwischen Frauen und Männern unterschieden. Aufgrund der fehlenden politischen Rechte der Basler Bürgerinnen und des ungleichen gesellschaftlichen Status der Geschlechter sollte nicht die Einbürgerung von Frauen, sondern hauptsächlich diejenige der Männer gefördert werden. Während der Basler Mathematikprofessor und Statistiker Hermann Kinkelin schon im Jahr 1870 darauf hingewiesen hatte, dass Frauen die Wirtschaftskraft der Bevölkerung senken würden und deshalb die Einbürgerung von »sesshaften Familienvätern«41 zu fördern sei, hielt nun der Basler Bürgerrat zu den Einbürgerungsgesuchen des Jahres 1879 in republikanischer Manier fest: »Nicht nur bei Bewerbern nach § 6 [Recht auf unentgeltliche Einbürgerung], sondern auch bei anderen machte sich der Eindruck geltend, eine absolute Gleichbehandlung des weiblichen Geschlechts, wenn schon der Wortlaut des Gesetzes keine Verschiedenheit statuire, gehe doch über die bei Annahme des Gesetzes leitenden Gesichtspunkte thunlichster Ausgleichung der Wohnbevölkerung mit den politisch berechtigten Trennung zunehmend gelungen, zahlreiche Aufgaben der Stadtgemeinde in seinen Kompetenzbereich zu überführen. Schaffner, Geschichte des politischen Systems, S. 40f. 40 Bericht der Kommission zur Revision der Verfassung von 1875, hier zitiert nach: StA BS DS BS Ratschläge 1878 (Nr. 536), Rathschlag und Entwurf betreffend Bürgerrechtsgesetz, dem Grossen Rath vorgelegt den 1. Juli 1878, S. 7. 41 Ztiert nach: Wecker, Zwischen Ökonomie und Ideologie, S. 60. Vgl. dazu: ebd., S. 61, sowie dies., 1833 bis 1910, S. 202.

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Personen hinaus, und übersehe die social ungleiche Stellung.«42 Entsprechende Auswirkungen auf den Gesetzestext hatte diese Äußerung jedoch nicht. Ganz anders im Jahr 1902. Der Topos von der Vermehrung der männlichen Basler Bürger legitimierte nun nicht nur die geplanten Einbürgerungserleichterungen, sondern auch gesetzlich verankerte Unterschiede bei der Einbürgerung von Männern und Frauen. So argumentierte der Regierungsrat, dass bei Männern das »Bürgerrecht durchaus selbständig [ist], während es bei Frauen durch Verheiratung z.B. untergeht, sofern Ausländer in Betracht kommen, verleiht es den Männern allein die politische Stimmberechtigung und unterwirft sie der Wehrpflicht. Das grösste Interesse besteht daher unzweifelhaft an der Einbürgerung der männlichen Nichtbürger.«43 Gleichzeitig rückte die Unzufriedenheit der Basler Behörden über die niedergelassenen Schweizer in den politischen Gremien der Einwohnergemeinde um 1900 allmählich in den Hintergrund. Bisher hatte der Topos von der Vermehrung der Basler Bürger vor allem die Einbürgerung der kantonsfremden Schweizer angestrebt, da diese – im Gegensatz zu den Ausländern – sowohl in kantonalen als auch in munizipalen Fragen stimmberechtigt waren. Hingegen bezeichnete jetzt der freisinnige Regierungsrat Rudolf Philippi, aus dessen Feder der Entwurf zur Revision des Basler Bürgerrechtsgesetzes im Jahr 1902 stammte, die Einbürgerung der Ausländer als »weitaus wichtiger als die der Schweizerbürger anderer Kantone.«44 Das Kreisschreiben des Bundesrats vom 28. März 1899 über die Stellung der Kantone zur erleichterten Einbürgerung von Ausländern sowie die sich abzeichnenden Ergebnisse der eidgenössischen Volkszählung von 1900 hatten Regierungsrat Philippi die Argumentation des Bundes übernehmen lassen.45 Dennoch blieben zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Äußerungen der Basler Behörden über die ausländische Wohnbevölkerung im Vergleich zu den Debatten auf Bundesebene marginal und blass. Noch immer war es die allgemein notwendig erscheinende Vermehrung der männlichen Basler Bürgerschaft und nicht die Verringerung der Zahl der Ausländer, die den Gesetzgebungsprozess leitete. Ebenso blieb der argumentative Rückgriff auf die »Nation« aus.

42 StA BS, 4. Verwaltungsbericht des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel, 1879, S. 29. 43 StA BS Bürgerrecht B5, Bürgerrechtsgesetze überhaupt Revisionen 1895–1923–36, Bericht des Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt an E. E. Grossen Rat, Basel, den 8. März 1902, S. 1f. 44 StA BS Bürgerrecht B5, Bürgerrechtsgesetze überhaupt Revisionen 1895–1923–36, Das Departement des Innern des Kantons Basel-Stadt an den Regierungsrat, Basel, den 3. März 1902, S. 1. 45 Vgl. zum Kreisschreiben des Bundesrats vom 28. März 1899 an die Kantone das Kapitel »Erleichterte Einbürgerung von Ausländern? Die Haltung der Kantone«.

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3. Im Zeichen der Liberalisierung: Das basel-städtische Bürgerrechtsgesetz im Längsschnitt Der Kanton Basel-Stadt regelte den Erwerb und Verlust des kantonalen und kommunalen Bürgerrechts schon während des 19. Jahrhunderts mittels Bürgerrechtsgesetzen. Das Gesetz legte die Bedingungen für die Einbürgerung in Kanton und Gemeinden fest. Dazu gehörten die Einbürgerungsgebühr, die minimale Dauer des Wohnsitzes sowie persönliche Eigenschaften der Kandidatinnen und Kandidaten, beispielsweise Geschlecht, finanzielle Verhältnisse, Religion, Konfession, Beruf, Charakter, Leumund, Lebenswandel, familiäre Bindungen oder die lebensgeschichtliche Verbundenheit mit Stadt und Kanton. Zwischen der Kantonstrennung im Jahr 1833 und dem Ersten Weltkrieg wurde der Zugang zum Basler Bürgerrecht kontinuierlich erleichtert. Von einer generellen Liberalisierung der Basler Bürgerrechtsgesetzgebung kann allerdings nicht gesprochen werden. Zwischen verschiedenen Personengruppen zog der Gesetzgeber tiefe Trennlinien, besonders entlang der Kriterien des Geschlechts, der Religion, der Konfession, der finanziellen Verhältnisse und des Leumunds. In der Zeit zwischen 1833 und 1914 wurde das Basler Bürgerrechtsgesetz fünfmal revidiert, und zwar in den Jahren 1838, 1848, 1866, 1879 und 1902. Die zahlreichen Revisionen lassen sich zum einen mit der laufend notwendigen Anpassung an die rechtlichen Vorgaben des Bundes erklären. Zum andern verweisen die häufigen Änderungen darauf, dass das Basler Bürgerrechtsgesetz den schnell wechselnden Herausforderungen der damaligen Zeit nicht gewachsen war. So verfehlten die Basler Bürgerrechtsgesetze mit Ausnahme des Gesetzes von 1902 ihr ausgewiesenes Ziel, die (männliche) Basler Bürgerschaft mittels erleichterter Einbürgerungsbestimmungen zu vergrößern. Erstmals verankerte die Kantonsverfassung vom 8. April 1847 den Grundsatz, dass die Einbürgerung im Kanton Basel-Stadt zu fördern sei. Nach deren Wortlaut sollte das Bürgerrechtsgesetz die Einbürgerung derjenigen Personen erleichtern, »die im Kanton geboren und erzogen sind und für solche, die einen längern Aufenthalt im Kanton aufzuweisen haben.«46 Die erste liberale Verfassung des Kantons Basel-Stadt aus dem Jahr 1875, mit der die Herrschaft des Freisinns begann, ging einen Schritt weiter. Sie bestimmte, dass die Aufnahme neuer Bürger »thunlichst erleichtert werden« müsse. Außerdem verankerte sie das Recht auf Einbürgerung für diejenigen »Nichtbürger«, die in einer baselstädtischen Gemeinde geboren waren.47 Dieser Grundsatz wurde in der Kan-

46 Verfassung des Kantons Basel-Stadt, vom 8. April 1847, § 9. 47 Beide Zitate: Verfassung des Kantons Basel-Stadt, vom 10. Mai 1875, § 18.

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tonsverfassung von 1889 bestätigt und während des gesamten 20. Jahrhunderts in der Verfassung belassen.48 Dass die Basler Räte die erleichterte Einbürgerung bis ins Jahr 1902 von der Geburt in einer Basler Gemeinde abhängig machten, ist ein Hinweis darauf, dass sie bei den Verfassungs- und Gesetzesrevisionen seit 1847 unausgesprochen von einer lebensgeschichtlich begründeten Integrationsvermutung ausgingen. Bereits die Bürgerrechtsgesetze von 1838 und 1848 setzten die exorbitanten Einbürgerungsgebühren leicht herab und gewährten den familiär oder lebensgeschichtlich mit Basel verbundenen Personen größere Vergünstigungen. Darüber hinaus fiel im Basler Bürgerrechtsgesetz von 1848 angesichts der Gleichstellung der christlichen Schweizer Männer in der schweizerischen Bundesverfassung der bisher geltende katholische Konfessionsvorbehalt bei Einbürgerungen.49 Mit der Gesetzesrevision von 1866 wurde schließlich die unentgeltliche Einbürgerung für in Basel geborene und aufgewachsene Personen eingeführt.50 Davon profitierten die unter 25 Jahre alten Bewerber, die in einer basel-städtischen Gemeinde geboren und aufgewachsen waren oder den größten Teil ihrer Jugend im Kanton Basel-Stadt verbracht hatten.51 Hinzu kam, dass die bisher geltende Einbürgerungsbedingung der christlichen Religion im revidierten Basler Gesetz von 1866 gestrichen wurde. Im Anschluss an die Partialrevision der Bundesverfassung vom 14. Januar 1866, welche die jüdischen Schweizer den christlichen Schweizern in Fragen der Niederlassung und der Ausübung eines Gewerbes gleichgestellt hatte, konnte der diskriminierende Ausschluss der Juden aus dem Basler Bürgerrecht – zumindest was den Wortlaut des Gesetzes betraf – nicht mehr aufrechterhalten werden.52 Weiter sah das Basler Bürgerrechtsgesetz von 1866 vor, dass die Wiedereinbürgerung von verwitweten oder geschiedenen ehemaligen Basler Bürgerinnen, die einen Nicht-Basler geheiratet und auf diese Weise ihr Bürgerrecht verloren hatten, unentgeltlich war.53 Dasselbe galt für deren minderjährigen Söhne und unverheirateten Töchter. Schon im Jahr 1838 hatte der Basler Gesetzgeber explizit bestimmt, dass eine Baslerin bei Heirat mit einem gemeinde-, kantons- oder landesfremden Mann ihr Bürgerrecht verlor.54 Diese wohl 48 Verfassung des Kantons Basel-Stadt, vom 2. Dezember 1889, § 24. 49 [Basler] Bürgerrechtsgesetz, vom 4. Dezember 1848, § 7. 50 Vgl. zu den Gesetzesbestimmungen von 1838 und 1848: [Basler] Bürgerrechtsgesetz, vom 8. Februar 1838, § 8 und § 12, sowie [Basler] Bürgerrechtsgesetz, vom 4. Dezember 1848, § 8 und § 9. 51 [Basler] Bürgerrechtsgesetz, vom 11. Dezember 1866, § 9. Die Obergrenze von 25 Jahren hatte der Grosse Rat festgelegt. 52 StA BS, DS BS Ratschläge 1866 (Nr. 351), Rathschlag und Entwurf eines Bürgerrechtsgesetzes, dem Grossen Rath vorgelegt den 1. Oktober 1866, S. 30. 53 [Basler] Bürgerrechtsgesetz, vom 11. Dezember 1866, § 14. 54 »Eine Frauensperson verliert ihr Gemeindebürgerrecht, wenn sie sich mit einem Bürger einer andern Gemeinde oder eines andern Staats verheirathet.« [Basler] Bürgerrechts-Gesetz,

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bedeutsamste Ungleichstellung von Frauen im Bürgerrecht hatte zur Folge, dass den Witwen oder geschiedenen Frauen, die ihr Bürgerrecht durch Heirat verloren hatten, im Verarmungsfall die Heimschaffung in die Heimatgemeinde oder das Land des Mannes drohte. Im Jahr 1866 wurden nun die negativen Folgen des Bürgerrechtsverlusts von Frauen mit der Einführung der unentgeltlichen Wiedereinbürgerung abgeschwächt. Gegen Ende der 1870er Jahre setzte der Basler Gesetzgeber die Erleichterungen im Bereich der Einbürgerung fort. Mit der Gesetzesrevision von 1879 führte er das Recht auf unentgeltliche Einbürgerung für volljährige »Nichtbürger« unter 25 Jahren ein (ohne Unterscheidung zwischen Schweizern und Ausländern), die seit 15 Jahren in der Einbürgerungsgemeinde wohnten oder die dort geboren waren und seit 10 Jahren ihren Wohnsitz im Kanton hatten.55 Die Bewerberinnen und Bewerber, welche diese Bedingungen erfüllten, mussten also eingebürgert werden, wenn sie es wünschten. Damit wollten die kantonalen Behörden zum einen den Erwerb des Basler Bürgerrechts für die zahlreichen Niedergelassenen attraktiver gestalten. Zum andern bezweckten sie mit dem subjektiven Recht auf unentgeltliche Einbürgerung, die Kompetenzen der Bürgergemeinde in Einbürgerungsfragen zu beschneiden, damit diese ihre restriktive Einbürgerungspraxis nicht ungehindert weiterführen konnte. Vom Recht auf unentgeltliche Einbürgerung ausgenommen war allerdings ein Bewerber, wenn er »a. durch Strafurtheil oder Falliment [Konkurs] bürgerliche Rechte und Ehren verloren hat, oder b. sich eines notorisch anstössigen Lebenswandels schuldig macht, oder c. der öffentlichen Wohlthätigkeit zur Last fällt.«56 Außerdem musste ein Bewerber nachweisen können, dass er »sich und seine Familie zu erhalten«57 im Stande war. Weiterhin also bildeten der »Leumund« und die »finanziellen Verhältnisse« zwei der wichtigsten Kriterien bei der Einbürgerung. Das Bürgerrechtsgesetz von 1879 legte zwar dieselben Gebühren für reguläre Einbürgerungen fest wie das Gesetz von 1866. Für Kantonsbürgerinnen und -bürger betrug die Einkaufssumme 200 Franken, für Schweizerinnen und Schweizer 500 Franken und für ausländische Staatsangehörige 800 Franken. Um die Hälfte ermäßigt wurde die Gebühr, wenn der Bewerber mit einer Bürgerin verheiratet war, einen vierjährigen ununterbrochenen Wohnsitz in der Gemeinde oder einen vierjährigen Verwaltungs-, Militär- oder Feuerwehrdienst vorweisen konnte. Trafen zwei der genannten »Vergünstigungsgründe« zusammen oder wohnte die einzubürgernde Person ununterbrochen vom 8. Februar 1838, § 14. Auf Bundesebene blieb dieser Grundsatz bis zum »Bundesratsbeschluss über Änderung der Vorschriften über Erwerb und Verlust des Schweizerbürgerrechts« vom 11. November 1941 Gewohnheitsrecht. 55 [Basler] Bürgerrechts-Gesetz vom 27. Januar 1879, § 6. 56 Ebd. 57 Ebd., § 7.

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acht Jahre in der Einbürgerungsgemeinde, so wurde die Gebühr auf ein Viertel verringert.58 Obwohl die Vergünstigungen beachtlich waren, blieb die Einbürgerung für viele der im Kanton Basel-Stadt wohnenden Personen unbezahlbar. Ein Schweizer Arbeiter der Seidenstoffindustrie musste bei einem Tageslohn von 2.65 Franken den Ertrag von rund 47 Arbeitstagen aufwenden, um die auf ein Viertel verringerte Einbürgerungsgebühr bezahlen zu können. Für einen ausländischen Metallarbeiter entsprach die ebenfalls auf ein Viertel reduzierte Gebühr einem Aufwand von 75 Arbeitstagen.59 Aufgrund der niedrigeren Löhne von Frauen sah die Rechnung für Arbeiterinnen noch ungünstiger aus. Um die Mitte der 1870er Jahre verdiente eine Baumwollspinnerin durchschnittlich 1.50 Franken pro Tag. Für die maximal reduzierte Gebühr musste eine kantonsfremde Spinnerin entsprechend 83 Tageslöhne bezahlen, eine ausländische Arbeiterin sogar 133 Tageslöhne.60 Im Jahr 1876 wurde im Kanton Basel-Stadt die Geschlechtsvormundschaft von ledigen Frauen aufgehoben. In der Folge fiel im Bürgerrechtsgesetz von 1879 die Bestimmung aus dem Jahr 1848 weg, dass Frauen die Einwilligung ihrer »Vormünder und Vögte« 61 für die Einbürgerung brauchten. Bis dahin waren Einbürgerungsgesuche von unverheirateten, verwitweten oder geschiedenen Frauen selten gewesen.62 Aber auch nach 1879 stellten nur wenige Frauen ein selbständiges Einbürgerungsgesuch, was angesichts der oben geschilderten Einkommensverhältnisse kaum erstaunt. Hauptsächlich waren es ehemalige Bürgerinnen, welche die Wiedereinbürgerung anstrebten. Das Gesetz aus dem Jahr 1879 hatte entsprechende Erleichterungen gebracht. So konnten verwitwete oder geschiedene Frauen, die das Bürgerrecht einer Gemeinde des Kantons Basel-Stadt durch Heirat verloren hatten, ihr ehemaliges Bürgerrecht unentgeltlich »wieder ansprechen«.63 Mit dieser Formulierung blieb jedoch unklar, ob der Gesetzgeber ein subjektives Recht auf unentgeltliche Wiedereinbürgerung begründet hatte. Diese Unsicherheit war insofern von Bedeutung, als einzig das Recht auf unentgeltliche Wiedereinbürgerung die verwitweten oder geschie58 Alle Angaben: [Basler] Bürgerrechts-Gesetz vom 27. Januar 1879, § 9. 59 Da die Angaben zum Einkommen in verschiedenen Industriezweigen bei Gruner, S. 125, Tabelle 6, sowie S. 129, Grafik B, nicht über 1875 hinausgehen, wurden hier die Zahlen für die Jahre zwischen 1870 und 1875 gewählt. 60 Auch hier wurden die Zahlen für die Jahre zwischen 1870 und 1875 gewählt. Ders., S. 126, Tabelle 7. 61 [Basler] Bürgerrechtsgesetz, vom 4. Dezember 1848, § 14. 62 Gemäß Wecker, Zwischen Ökonomie und Ideologie, S. 62, waren zwischen 1861 und 1870 rund 5,5 % der eingebürgerten Personen alleinstehende Frauen. Darunter fielen aber auch die wieder eingebürgerten Frauen. Dies entsprach bei 734 Bürgerrechtsaufnahmen (ohne Familienangehörige und »fremde Bräute«) in dieser Zeit einer Zahl von 40 Frauen (inklusive Wiedereinbürgerungen). Eine Auswertung der Verwaltungsberichte des Stadtrats gibt für diese Zeit keinen Aufschluss über eigenständige Gesuche von Frauen. 63 [Basler] Bürgerrechts-Gesetz, vom 27. Januar 1879, § 14.

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denen ehemaligen Baslerinnen vor Heimschaffungen in die Heimatgemeinde oder das Land des ehemaligen Mannes hätte schützen können. In der Folge führte die zweideutige Formulierung zu einer wechselnden Auslegung des Gesetzes durch die Basler Kantonsregierung. Diese Situation nützte der Bürgerrat, der bei Wiedereinbürgerungen ein Anhörungsrecht besaß, mehrfach aus.64 Mit Stellungnahmen an den Regierungsrat stemmte er sich wiederholt gegen die Wiedereinbürgerung von finanziell schwachen, ehemaligen Bürgerinnen. Dabei lautete die Argumentation der Vertreter der Basler Bürgergemeinde immer gleich: Ehemalige Bürgerinnen würden die Armenkassen überdurchschnittlich belasten. In diesem Sinn hatte der Bürgerratschreiber Carl Bernoulli bereits während der Ausarbeitung des Gesetzes von 1879 festgehalten: »Andere Gemeinden und Staaten nehmen ihre an Basler verheiratheten frühern Angehörigen als Wittwen nicht mehr zurück, und diese wissen meist, warum sie lieber in Basel bleiben; wir behalten sie also und bekommen auch die früheren Baslerinnen dazu, die ihr Bürgerrecht vermannt haben, aber finden, man werde doch besser versorgt in Basel, als an den meisten anderen Orten.«65 Das Bürgerrechtsgesetz vom 19. Juni 1902 bildete vorerst den Höhepunkt der seit der Kantonstrennung angestrebten Liberalisierung der Basler Einbürgerungsnormen. Es dehnte das Recht auf unentgeltliche Einbürgerung aus, gewährte ein Rekursrecht in denjenigen Fällen, in denen ein Recht auf Einbürgerung vorlag, und es reduzierte die Gebühren für Schweizerinnen und Schweizer. Weiter enthielt das Gesetz mit dem neuen Paragrafen 15 eine gänzlich neuartige Bestimmung zur Förderung der Einbürgerung: Danach sollten männliche Schweizer und Ausländer, die seit 15 beziehungsweise 25 Jahre im Kanton wohnten, persönlich von der Regierung zur unentgeltlichen Einbürgerung aufgefordert werden.66 Frauen waren von dieser Bestimmung auf Ansuchen des Bürgerrats ausgenommen worden. Der Regierungsrat hatte der entsprechenden Eingabe des Bürgerrats zunächst skeptisch gegenüber gestanden. Schließlich hatte er aber diese unterstützt, möglicherweise um die gesamte Revision nicht zu gefährden. So hatte der Regierungsrat die Argumentation des Bürgerrats übernommen, dass Frauen aufgrund der fehlenden politischen Rechte das »bürgerliche Element« in der Einwohnergemeinde sowieso nicht stärken würden und aufgrund der fehlenden Wehrpflicht auch keine Gefahr für die Schweiz darstellten.67 64 Vgl. dazu StA BS, 9. Verwaltungsbericht des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel, 1884, S. 23f., sowie StA BS, 14. Verwaltungsbericht des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel, 1889, S. 17. 65 StA BS Bürgerrecht B4, Bürgerrechtsgesetz vom 27. Januar 1879 1872–1879–95, Bernoulli, Carl, Einige Bemerkungen zum Entwurf eines neuen Bürgerrechts-Gesetzes, 1. November 1878, S. 32f. 66 [Basler] Bürgerrechts-Gesetz vom 19. Juni 1902. 67 StA BS Bürgerrecht B5, Bürgerrechtsgesetze überhaupt Revisionen 1895–1923–36, Bericht des Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt an E. E. Grossen Rat, Basel, den 8. März 1902, S. 1f.

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Darüber hinaus hatte der Bürgerrat armenrechtliche Bedenken ins Feld geführt, um die gesetzliche Diskriminierung von Frauen zu rechtfertigen. Besonders die süddeutschen Dienstbotinnen, die in zahlreichen Basler Haushalten arbeiteten, sollten nicht zur Einbürgerung »aufgemuntert« werden. Ein solches »Vorgehen würde nichts anderes bedeuten als ein Geschenk an die nachbarlichen deutschen Heimatgemeinden der Betreffenden«, so der Engere Bürgerrat.68 Im Gegensatz zur Aufforderung zur unentgeltlichen Einbürgerung galt das Recht auf unentgeltliche Einbürgerung wie zuvor für Männer und Frauen. Neu betraf dies volljährige »Nichtbürger«, die während 15 Jahren im Kanton (zuvor: in der betreffenden Gemeinde) gewohnt hatten und unter 45 Jahre (zuvor: unter 25 Jahre) alt waren.69 Somit galt jetzt nur noch die Dauer des Domizils und nicht mehr die Geburt auf Basler Boden als erleichterndes Kriterium. Während das Bundesgesetz von 1903 ein Jahr nach Erlass des Basler Gesetzes den Kantonen die Möglichkeit gewährte, ein kantonales »ius soli« einzuführen, verzichtete der Kanton Basel-Stadt im Jahr 1902 auf die bisherige Privilegierung der Geburt auf Basler Boden als Kriterium für die Einbürgerungserleichterung. Der lebensgeschichtlichen Nähe zum Kanton Basel-Stadt und seinen Gemeinden durch einen langen Wohnsitz gab er den Vorrang. Das Gesetz von 1902 klärte außerdem die bisher strittige Frage, ob im Kanton Basel-Stadt ein subjektives Recht auf Wiedereinbürgerung für ehemalige Bürgerinnen bestand. Der Basler Gesetzgeber entschied sich dabei für einen Mittelweg. Geschiedene oder verwitwete Frauen, die ihr Bürgerrecht durch die Bürgerrechtsentlassung ihres Mannes oder durch Heirat verloren hatten, besaßen das »Recht auf Wiederaufnahme in das frühere Gemeindebürgerrecht«,70 wenn sie im Kanton wohnten. Ausgenommen waren Frauen, die sich eines »notorisch anstössigen Lebenswandels schuldig«71 machten. Diese Bestimmung war Teil des Katalogs der Hinderungsgründe für eine Einbürgerung, die in Paragraf zwei des Gesetzes festgehalten waren. Zu diesem Katalog gehörte auch, dass eine Bewerberin oder ein Bewerber, die »der öffentlichen oder privaten Wohltätigkeit zur Last«72 fielen, nicht eingebürgert werden konnten. Ehemalige Baslerinnen wurden davon jedoch ausgenommen. Die Wiedereinbürgerung wurde ihnen auch dann nicht verweigert, wenn sie von Gemeinde und Kanton unterstützt werden mussten.73

68 Beide Zitate: StA BS Bürgerrecht B5, Bürgerrechtsgesetze überhaupt Revisionen 1895– 1923–36, Der Engere Bürgerrat an den Grossen Rat des Kantons Basel-Stadt, Basel, den 29. Januar 1902, S. 1–3. 69 [Basler] Bürgerrechts-Gesetz, vom 19. Juni 1902, § 3. 70 Ebd., § 4, folgende Angaben ebd. 71 Ebd., § 2. 72 Ebd., § 4. 73 Ebd.

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Die Bestimmungen zur erleichterten Einbürgerung im Bürgerrechtsgesetz von 1902 verringerten die Möglichkeiten der Basler Bürgerräte, Einbürgerungsgesuche abzulehnen. Entsprechend nahmen in den darauf folgenden Jahren die positiv entschiedenen Gesuche merklich zu. Zwar stieg in dieser Zeit auch die Zahl der Gesuchstellenden an, gleichzeitig vergrößerte sich aber ebenso die Aufnahmequote. So waren im Jahr 1901 insgesamt 519 Gesuche hängig gewesen, wovon bei 48 Abweisungen, 147 unerledigten und einigen wenigen zurückgezogenen Gesuchen 308 (59 %) positiv entschieden wurden: 152 Gesuche von Schweizerinnen und Schweizern (29 %) sowie 156 Gesuche von Ausländerinnen und Ausländern (30 %).74 Nach Inkrafttreten des Basler Bürgerrechtsgesetzes von 1902 stieg die Zahl der neuen Gesuche im Jahr 1903 schlagartig auf 1 089 an. Von den nun insgesamt 1 405 hängigen Gesuchen wurden noch im selben Jahr 1 026 (73 %) positiv entschieden; 764 von Schweizerinnen und Schweizern (54 %) sowie 262 von Ausländerinnen und Ausländern (19 %).75 Das dabei auftretende Missverhältnis zwischen den positiv entschiedenen Gesuchen von Ausländern und Schweizern war eine Folge des neuen Paragrafen 15, wonach Schweizer nach einem 15-jährigen und Ausländer nach einem 25-jährigen Wohnsitz im Kanton Basel-Stadt zur unentgeltlichen Einbürgerung aufgefordert wurden. Während etwa im Jahr 1903 lediglich 21 ausländische Niedergelassene und ihre Familien nach den Bestimmungen von Paragraf 15 in das Basler Bürgerrecht aufgenommen wurden, profitierten gleichzeitig 428 schweizerische Niedergelassene mit Ehefrauen und Kindern von der neuen Regelung. Dieses Missverhältnis setzte sich auch in den folgenden Jahren fort. Immer deutlicher zeigte sich, dass mit der Aufforderung zur unentgeltlichen Einbürgerung die Einbürgerungsquote zwar insgesamt stieg, dass aber nur wenige Ausländer davon betroffen waren, da die meisten von ihnen die Bedingung des 25-jährigen Wohnsitzes nicht erfüllten. Entsprechend kommentierte der Verwaltungsbericht des Engern Bürgerrats im Jahr 1909 die Wirkung von Paragraf 15 mit folgenden Worten: »Seinen Zweck, eine Vermehrung der bürgerlichen Bevölkerung herbeizuführen, erreicht er wohl, aber das Ziel, das vom politischen und nationalen Standpunkte aus, besonders in unserer Grenzstadt, zu erreichen am notwendigsten wäre, nämlich die Assimilation der Ausländer, bleibt in weiter Ferne.«76

74 StA BS, 26. Verwaltungsbericht des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel, 1901, S. 18f. Bei den hängigen Gesuchen unterschied der Verwaltungsbericht nicht zwischen Ausländern und Schweizern, weshalb die Prozentzahl der Annahmequote nur auf der Basis aller Gesuche errechnet werden kann. 75 StA BS, 28. Verwaltungsbericht des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel, 1903, S. 20f. Insgesamt entsprachen diese Gesuche 2 421 eingebürgerten Personen. 76 StA BS, 34. Verwaltungsbericht des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel, 1909, S. 20.

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In den Jahren zwischen 1904 bis 1913 pendelte sich die Zahl der neuen Gesuche zwischen 689 und 887 Gesuchen ein.77 Die positiv entschiedenen Gesuche ausländischer und schweizerischer Staatsangehöriger hielten sich nun aber trotz Paragraf 15 stärker die Waage als im Jahr 1903.78 Gleichzeitig ging die Abweisungsquote von 12,9 % im Jahr 1901 auf 6,8 % im Jahr 1913 zurück. Noch im Jahr 1897 hatte die Abweisungsquote 37 % betragen.79 Damit hatte der Kanton Basel-Stadt das Ziel der Vermehrung der Bürgerzahlen durch die Zunahme der Einbürgerungen erreicht. Die Verwaltungsberichte des Engern Bürgerrats legten denn auch jährlich in einer gesonderten Rubrik Rechenschaft darüber ab, welchen »Zuwachs« 80 die Bürgerschaft durch die Einbürgerungen erhalten hatte. Für die in Basel niedergelassenen Personen gingen jedoch die Einbürgerungserleichterungen und somit die Chancen zur bürgerrechtlichen Integration unterschiedlich weit. Bestimmend waren vor allem die Kriterien des Geschlechts, der finanziellen Verhältnisse und der Herkunft. Wie das Einbürgerungsverfahren in seinen Grundzügen verlief und wie die kommunalen Räte die Einbürgerungschancen einzelner Personen entlang verschiedener Kriterien konkretisierten, wird in den folgenden Kapiteln dargestellt.81

4. Der Instanzenweg im Basler Einbürgerungsverfahren Wer sich im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert in einer Gemeinde des Kantons Basel-Stadt einbürgern lassen wollte, musste – wie dies auch in zahlreichen andern Kantonen der Fall war – nicht nur die geforderten Einbürgerungsbedingungen erfüllen, sondern auch Ausdauer beweisen. Der Instanzenweg, den die Bewerberinnen und Bewerber von der Einreichung des Gesuchs 77 Vgl. dazu: StA BS, Verwaltungsberichte des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel, 1904–1913. 78 Im Jahr 1904 waren es 428 positiv entschiedene Gesuche von Schweizerinnen und Schweizern bei 266 positiv entschiedenen Gesuchen von Ausländerinnen und Ausländern. In den folgenden Jahren lag das Verhältnis bei 322 : 267 im Jahr 1905, 300 : 304 (1906), 347 : 274 (1907), 276 : 240 (1908), 314 : 281 (1909), 400 : 374 (1910), 382 : 350 (1911), 333 : 316 (1912), 459 : 520 (1913). StA BS, Verwaltungsberichte des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel, 1904–1913. 79 Alle Angaben: StA BS, 27. Verwaltungsbericht des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel, 1902, S. 26, sowie StA BS, 38. Verwaltungsbericht des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel, 1913, S. 18. 80 Vgl. dazu beispielsweise: 38. Verwaltungsbericht des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel, 1913, S. 17f. 81 Auf die Darstellung der antikatholischen Einbürgerungspolitik der Basler Stadtgemeinde zwischen 1848 und 1866 wird in diesem Kapitel verzichtet. Vgl. dazu die Basler Beispiele im Kapitel »Schweizer Katholiken zwischen rechtlicher Gleichstellung und Kulturkampf«.

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bis zur Einbürgerung durchliefen, war lang und mühselig. Grundsätzlich wurde das Gesuch bei der Kantonsexekutive eingereicht. Diese prüfte, ob die Gesuchstellenden die gesetzlich festgelegten Bedingungen erfüllten, und informierte sich bei andern Amtsstellen beispielsweise über die finanziellen Verhältnisse oder über etwaige Vorstrafen der Bewerber. Die Kantonsexekutive reichte das Gesuch an die Gemeindeexekutive und die kommunale Bürgerkommission weiter, welche die Kandidatinnen und Kandidaten befragte, ebenfalls Informationen einholte und einen Antrag auf Abweisung oder Annahme stellte. Darauf entschied die Gemeindeexekutive über das Gesuch. Eine Ausnahme machten die Gesuche von ausländischen Bewerbern, die kein Recht auf Einbürgerung besaßen. In solchen Fällen beschloss die Gemeindelegislative über das Gesuch. Danach ging dieses an die Kantonsbehörden zurück, die nun ihrerseits über das Gesuch abstimmten. Die Bewerberinnen und Bewerber wurden aktiv in das Einbürgerungsverfahren einbezogen. Zwischen 1838 und 1866 hatten sie insgesamt fünfmal auf einer Amtsstelle zu erscheinen: beim Amtsbürgermeister, der Bürgerkommission, dem Kleinen Stadtrat, dem Grossen Stadtrat und dem Kleinen Rat. Bis zum Bürgerrechtsgesetz von 1866 konnten sich die Kandidaten jedoch nur vor dem Amtsbürgermeister und der Bürgerkommission zu ihrem Gesuch, ihrer Person oder ihrer Lebenslage äußern. Für die übrigen Instanzen waren die Bewerberinnen und Bewerber nach den Worten des Kleinen Rats im Jahr 1866 »Gegenstand prüfender Anschauung«.82 Noch im selben Jahr wurde auf die »prüfende Anschauung« durch den Kleinen Stadtrat und den Kleinen Rat verzichtet. Im Jahr 1902 fiel schließlich auch das Gespräch mit dem Bürgermeister weg, weil das Gesuch nun auf der Staatskanzlei einzureichen war.83 Die Ermittlungen über die Gesuchstellenden wurden im Kanton BaselStadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts intensiviert, wobei auch private Detekteien zum Einsatz kamen. So lassen sich in den Basler Einbürgerungsdossiers seit den 1910er Jahren vermehrt Detektivberichte über Bürgerrechtsbewerber finden.84 Darüber hinaus mussten die Kandidatinnen und Kandidaten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert immer mehr Schriften beibringen. Zum Heimatschein, dem Leumundszeugnis und den schriftlichen Nachweisen über die finanzielle Lage und die familiären Verhältnisse kamen seit 1879 besonders 82 StA BS, DS BS Ratschläge 1866 (Nr. 351), Rathschlag und Entwurf eines Bürgerrechtsgesetzes, dem Grossen Rath vorgelegt den 1. Oktober 1866, S. 39, folgende Angaben: ebd. 83 [Basler] Bürgerrechts-Gesetz, vom 19. Juni 1902, § 10. 84 Vgl. dazu: StA BS Gemeindearchive Bürgergemeinde Basel C3, Bürgerrechtsbegehren 1800–1966, 1917, Bürgerrechtsgesuch von V. Z. Der Name wurde durch die Wahl veränderter Initialen anonymisiert. Der Autorin ist der Name bekannt. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts untersuchten in Basel »speziell ausgebildete Detektive der polizeilichen Administrativabteilung« die persönlichen Verhältnisse der Bewerberinnen und Bewerber. Imboden, S. 42.

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auch Versicherungspolicen hinzu, beispielsweise von Kranken- und Lebensversicherungen, Feuerversicherungen oder Mobiliarversicherungen. Ebenso interessierten sich die Einbürgerungsbehörden seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert für die Schulzeugnisse der Kinder in Betragen und Fleiß und für deren Sparbuch.85 Auch wenn der Instanzenweg bei der Einbürgerung im Kanton Basel-Stadt vom Prinzip her während der gesamten Untersuchungsperiode der gleiche geblieben ist, so zeigt sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert doch eine Intensivierung und Professionalisierung bei den Nachforschungen über die Bürgerrechtskandidatinnen und -kandidaten. Diese Entwicklung, die zur selben Zeit auch auf Bundesebene beobachtet werden kann, fiel jedoch nicht mit den beginnenden Restriktionen bei der Einbürgerung im Zuge des Ersten Weltkriegs zusammen, sondern mit dem Höhepunkt der Liberalisierungsbestrebungen um 1900. Die verstärkte Kontrolle ist somit weniger als ein Bündel von Abwehrmaßnahmen gegen Fremde zu deuten, sondern eher als Ausdehnung der kommunalen und kantonalen Maßnahmen zum Schutz der Bürgerschaft vor Einbürgerungskandidaten, die entweder moralisch nicht dem Selbstbild der Basler Bürgerschaft entsprachen oder finanziell eine Gefahr für die Armenkasse darstellten.

5. Das Bürgerrecht von Jüdinnen und Juden: Exklusion und unvollendete Integration Der Basler Gesetzgeber stand bis in die sechziger Jahre des vorletzten Jahrhunderts in der Tradition antijüdischer Abwehrpolitik des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Nach einer kurzen Phase der Liberalisierung im Zuge der Helvetik hatte das kantonale Niederlassungsgesetz vom 19. Mai 1816 festgelegt, dass den aus dem Elsass stammenden Jüdinnen und Juden keine Niederlassungsbewilligung mehr erteilt werden soll.86 Und mit der gesetzlichen Auf hebung des katholischen Konfessionsvorbehalts im Basler Bürgerrechtsgesetz von 1848 war gleichzeitig der ungeschriebene Grundsatz bestätigt worden, dass Menschen jüdischer Religion nicht Bürgerinnen und Bürger Basels werden konnten. 85 Vgl. dazu: StA BS Bürgerrecht B5, Bürgerrechtsgesetze überhaupt Revisionen 1895–1923– 36, Brief von K. V. an die Grossrats-Kommission zur Vorberatung des Bürgerrechtsgesetzes vom 16. Dezember 1900. Der Name des Schreibers wurde durch die Wahl veränderter Initialen anonymisiert. Der Autorin ist er Name bekannt. 86 Kury, »Man akzeptierte uns nicht …«, S. 20.

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Im Zuge der Partialrevision des Bundesverfassung vom 14. Januar 1866, welche die Juden bezüglich der Niederlassung und der freien Ausübung eines Gewerbes den Christen gleichstellte, strich auch der Kanton Basel-Stadt die Bedingung der christlichen Religion aus seinem Bürgerrechtsgesetz. Doch die staatsbürgerliche Integration der Jüdinnen und Juden ließ vorerst noch auf sich warten. Weitere sechs Jahre sollten vergehen, bis 1872 die ersten aus dem Elsass stammenden jüdischen Familien Aufnahme ins Basler Bürgerrecht fanden. Zu den ersten in Basel eingebürgerten Juden in den Jahren 1872 und 1873 gehörten der 46-jährige französische Kaufmann M. E. und seine beiden Söhne sowie der 16-jährige J. U. aus dem elsässischen Blotzheim, Sohn des französischen Holzhändlers O. U.87 Sowohl der im Woll- und Baumwollgeschäft tätige Kaufmann M. E. als auch der Vater des jüngeren Bewerbers waren äußerst wohlhabend und besaßen eine Zweigniederlassung ihrer Geschäfte in Basel. Bisher hatte sich keiner der Bewerber während längerer Zeit in Basel aufgehalten. Erst vor kurzem hatten sie sich entschlossen, ihren Wohnsitz nach Basel zu verlegen. Die Einbürgerung sollte in beiden Fällen dazu dienen, die Söhne der Konskriptionspflicht in Frankreich zu entziehen. Da die Bewerber über ein beachtliches Vermögen verfügten, hatten die Basler Behörden nichts gegen die Einbürgerung einzuwenden. Ebenso wenig stellte die jüdische Religion der Bewerber für die Kantons- und Gemeindevertreter ein Thema dar. Im Fall des jungen J. U. und seines Vater O. U. hielt die Bürgerkommission am 26. September 1872 fest: »Die elsässische Behörde hat dem Sohn einen Entlassungsschein ausgestellt, während der Vater für sich und seine Tochter für Frankreich optiert hat. Formell ist also die Sache in Ordnung, da der Vater des Petenten hier seit Jahren Geschäfte macht, anerkanntermassen ein ansehnliches Vermögen besitzt, Hauseigenthümer ist, der Sohn mit ordentlichen Zeugnissen die Gewerbeschule besucht, auch sonst als gesitteter u. wohlerzogener Knabe bezeichnet wird …« Ähnliches wusste die Bürgerkommission über den Wollhändler M. E. zu berichten: »Genaue und verlässliche Angaben haben ergeben, dass der Petent an seinem frühern Wohnort Mülhausen, nicht nur den Ruf eines reichen Mannes genoss, sondern dass auch sein Haus als solid u. loyal bei der Geschäftswelt in grosser Achtung steht. Er gibt an, er habe ein Vermögen von F. 200,000 u. er werde sich bleibend hier niederlassen.« Der Einbürgerung von M. E. und seinen beiden Söhnen sowie von J. U. stand nichts entgegen. Die Bürgerrechtsgebühr belief sich auf je 800 Franken.

87 Hier und im Folgenden: StA BS Gemeindearchive Bürgergemeinde Basel C3, Bürgerrechtsbegehren 1800–1966, 1872–1873, Bürgerrechtsgesuche von M. E. und J. U. Die Identität der Personen wurde durch die Wahl veränderter Initialen anonymisiert. Der Autorin sind die Namen bekannt.

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Einen anderen Ausgang nahm hingegen das Bürgerrechtsgesuch des jüdischen Viehhändlers F. E. im Jahr 1885.88 Der 51-jährige gebürtige Franzose aus dem elsässischen Hegenheim lebte bereits seit 18 Jahren mit seiner Frau W. E. in Basel, das älteste ihrer sechs Kinder war 16 Jahre alt. Nach dem Gesetz von 1879 hätte F. E. mit seiner Familie ein Recht auf unentgeltliche Einbürgerung gehabt. Doch angesichts des Geschäftsganges von F. E. stellte die Bürgerkommission den Antrag auf Ablehnung des Gesuchs. Insbesondere, so die Bürgerkommission, habe sich bei »Erkundigungen auf der Gerichtsschreiberei« herausgestellt, dass F. E. »stark betrieben« werde. Offensichtlich war es aber nicht allein die Sorge um die kommunale Armenkasse, welche die Bürgerkommission dazu veranlasste, beim Bürgerrat den Antrag auf Abweisung des Gesuchs zu stellen. Vielmehr kamen bei der Prüfung des Gesuchs auch antijüdische Vorurteile zum Tragen. So hielt die Bürgerkommission in ihrem Schreiben an den Bürgerrat fest: »Die schon öfters bei Juden gemachte Erfahrung, dass sie auf die an sie gestellten Fragen mit langen Umschweifungen antworten, macht sich bei diesem Petenten ebenfalls fühlbar; seinen Erwerb könne er nicht beziffern, da er in letzter Zeit nicht mehr mit Vieh handle, weil bei den Gängen über Land die Gesundheit leide … Auf die Bemerkung, er müsse doch wissen, wie es stehe u. was er verdiene, giebt er dann 3000–4000 als seinen Erwerb an. An Erwerbsteuer hat er aber pro 1882 f 20.– 1883 gar f 10.– bezahlt. … Er habe auch noch Geld ausstehen bei Metzgers für Vieh.« Zweifellos befand sich die Familie E. im Jahr 1885 in einer schwierigen Lage. F. E. konnte seinen Beruf nicht ausüben, Rechnungen waren offen geblieben, der Verdienst der Frau war klein und die sechs Kinder trugen noch nicht zum Unterhalt der Familie bei. Dass aber die »Umschweifungen«, wie es die Bürgerkommission nannte, wohl gerade Ausdruck dieser prekären Lage waren, schien nicht im Vorstellungsvermögen der Kommissionsmitglieder zu liegen. Ihr antijüdischer Reflex, die Erklärungsversuche von F. E. als eine »bei Juden gemachte Erfahrung« zu deuten, wog schwerer als dessen Recht auf unentgeltliche Einbürgerung in der Stadt Basel. Das Gesuch wurde abgelehnt. In den 28 Jahren zwischen 1872 und 1900 entschieden Stadt und Kanton insgesamt 130 Einbürgerungsfälle von Jüdinnen und Juden positiv.89 In dieser Zeit wuchs auch die israelitische Gemeinde Basels an. Während sie im Jahr 1870 erst 503 Mitglieder zählte, waren es 40 Jahre später 2 440 Personen. Bis gegen Ende der 1880er Jahre war ihre Zahl hauptsächlich aufgrund der Zu88 Hier und im Folgenden: StA BS Gemeindearchive Bürgergemeinde Basel C3, Bürgerrechtsbegehren 1800–1966, 1885, Bürgerrechtsgesuch von F. E. Die Identität der Personen wurde durch die Wahl veränderter Initialen anonymisiert. Der Autorin sind die Namen bekannt. 89 Zahlen aus den Verwaltungsberichten des Stadtrats [Gemeindeexekutive vor 1875] beziehungsweise des Engern Bürgerrats 1872–1923, folgende Angaben ebd.

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wanderung aus dem Elsass gestiegen. Danach ließen sich in Basel vermehrt auch jüdische Menschen aus anderen Gebieten Deutschlands, insbesondere aus Baden, nieder. Seit der vorletzten Jahrhundertwende setzte die Einwanderung von Jüdinnen und Juden aus Russland und Österreich-Ungarn ein. Im Jahr 1900 lebten von insgesamt 1 906 ansässigen Jüdinnen und Juden 234 so genannte »Ostjuden« aus Russland und Österreich-Ungarn in Basel. Zehn Jahre später waren es 619 Glaubensgenossinnen und -genossen aus Osteuropa.90 Das Verhältnis zwischen der jüdischen Minderheit und der nicht-jüdischen Mehrheit in der Stadt Basel war ambivalent. Beispielsweise stießen die zionistische Bewegung von Theodor Herzl und der von ihm im Jahr 1897 in Basel organisierte erste Zionistenkongress »auf eine durchaus nicht selbstverständliche Offenheit«91 seitens der Regierung, der Presse und der Bevölkerung. Dagegen sahen sich vor allem die oft mittellosen Ostjüdinnen und Ostjuden zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt.92 Stereotype wie dasjenige des »wuchernden Juden« fanden schon bald Eingang in die behördliche Praxis. Beispielsweise gehörten Juden aus Osteuropa bei den »Lebensmittelwucherprozessen« während des Ersten Weltkriegs in Basel zu den am meisten verurteilten Personen.93 Nach 1900 nahmen die Einbürgerungen von jüdischen Menschen in Basel zu. In den Jahren zwischen 1901 und 1923 waren es insgesamt 435 Fälle. Während Zürich sein Bürgerrecht für Juden während des Ersten Weltkriegs fast gänzlich schloss, verzeichneten die Basler Behörden während dieser Zeit die höchsten Einbürgerungszahlen von Menschen jüdischer Religion. Allein im Kriegsjahr 1917 waren es beispielsweise 44 positiv entschiedene Fälle. Unter den bewilligten Gesuchen waren auch solche jüdischer Immigrantinnen und Immigranten aus Osteuropa. Eines davon war dasjenige des Kaufmanns V. Z. aus Lodz mit seiner Frau E. Z. und der 19-jährigen Tochter W.94 Der Informant der Basler Behörden vom »Handelsauskunft- und Inkassobureau F.X. Moeschlin« wusste über den mit »Papierwaren, Tinten und Bureauartikeln« handelnden V. Z. »streng vertraulich« zu berichten: »Bisher hat der Mann in Ordnung bezahlt, wird punkto Arbeitsamkeit gelobt und lebt er auch sehr sparsam und solid.« Für die Basler 90 Alle Angaben: Kury, »Man akzeptierte uns nicht …«, S. 22, S. 27 und S. 76f., Tabelle II. 91 Guth Biasini, S. 134. 92 Vgl. dazu: StA BS Bürgergemeinde Basel, Nr. 182, Bericht über den Anzug Burckhardt betreffend Bürgeraufnahmen, vom 8. November 1905, S. 6: Unter der Rubrik »aus diversen Gründen abgewiesene (meist osteuropäische Juden, die erst kurze Zeit hier wohnten)« gab der Bericht für das Jahr 1903 beispielsweise sechs Personen an. 93 Kury, »Man akzeptierte uns nicht …« S. 27 und S. 76f., Tabelle II, und: Kamis-Müller, S. 76–78. 94 Hier und im Folgenden: StA BS Gemeindearchive Bürgergemeinde Basel C3, Bürgerrechtsbegehren 1800–1966, 1917, Bürgerrechtsgesuch von V. Z. Die Identität der Personen wurde durch die Wahl veränderter Initialen anonymisiert. Der Autorin sind die Namen bekannt.

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Behörden schienen diese Eigenschaften zu genügen. Jedenfalls wurde das Gesuch von V. Z. gutgeheißen, obwohl der Informant seinen Bericht an die Basler Behörden mit folgenden Worten schloss: »Ueber das Geschäftsgebahren ist Nachteiliges auch nicht bekannt, doch wird empfohlen, mit ihm klare Abmachungen zu treffen und nicht zu weit zu gehen, denn mit derartigen russischen Existenzen hat man schon trübe Erfahrungen gemacht.«

6. Der Schutz des bürgerlichen Armenguts Mit der Einführung des Rechts auf Einbürgerung und Wiedereinbürgerung beschnitt der Kanton Basel-Stadt, wie oben ausgeführt, zunehmend die Befugnisse der Gemeindebehörden bei Einbürgerungen. Das Ziel dieser kantonalen Politik lag darin, die Zahl der Bürger mittels vermehrter Einbürgerungen zu erhöhen. In denjenigen Fällen aber, in denen der Entscheidungsspielraum der Gemeindevertreter nicht durch das Recht auf Einbürgerung oder Wiedereinbürgerung eingeschränkt war, hielten die kommunalen Basler Räte an ihrer mehrheitlich restriktiven Haltung bei Einbürgerungen fest. Außer der Reputation der Bürgerschaft, die durch die eingehende Prüfung der Gesuchstellenden gewahrt werden sollte, waren es hauptsächlich ökonomische Kriterien, die dafür verantwortlich waren. Das bürgerliche Armengut sollte nicht durch die Einbürgerung von Personen gefährdet werden, von denen die Gemeinderäte schon im voraus annahmen, dass sie später materiell unterstützt werden müssten. Dieser Haltung entsprechend wurden die Gesuche von Personen, die sich »in ungünstiger ökonomischer Lage« befanden, in der Stadt Basel grundsätzlich abgelehnt. Zwischen 1902 und 1905 waren es insgesamt 221 Gesuche, die hier aufgrund ökonomischer Kriterien negativ entschieden wurden, was einem Anteil von knapp 73 % der insgesamt abgewiesenen Fälle entsprach. Eine weitere Gruppe von nicht eingebürgerten Bewerberinnen und Bewerbern waren Menschen über 60 Jahre, bei denen, nach den Worten der städtischen Gemeindevertreter, »die Arbeitskraft abzunehmen beginnt und daher keine Aussicht auf irgendwelche Besserung der schwachen ökonomischen Lage besteht.« Sie machten knapp 8 % oder 24 der insgesamt 303 abgewiesenen Gesuche zwischen 1902 und 1905 aus.95 Die folgenden Schilderungen zu einem Einbürgerungsfall aus dem Jahr 1885 verdeutlichen die armenrechtlichen Überlegungen, von 95 Alle Angaben und Zitate nach: StA BS Bürgergemeinde Basel, Nr. 182, Bericht über den Anzug Burckhardt betreffend Bürgeraufnahmen, vom 8. November 1905, S. 6f. und S. 9. Unter dem Begriff »Anzug« wird in der Schweiz ein Antrag im Parlament verstanden.

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denen sich die Gemeindebehörden auch bei Personen leiten ließen, die bisher keine Unterstützungsleistungen in Anspruch genommen hatten. Die Witwe H. K., Fabrikarbeiterin und Mutter eines neunjährigen Kindes, stammte aus dem Kanton Aargau. Sie war 32 Jahre alt und gehörte der protestantischen Konfession an. H. K. war in Basel geboren und aufgewachsen, womit sie ein Recht auf unentgeltliche Einbürgerung besaß. Wie der Bericht der Bürgerkommission vom 12. Februar 1885 festhielt, waren ihre finanziellen Mittel jedoch minimal. Pro Woche verdiente die allein erziehende Mutter lediglich 15 Franken, »wenn es gut gehe mehr«. Dennoch hatte H. K. bisher keine Unterstützung der Gemeinde oder des Kantons in Anspruch genommen. Hingegen waren sie und ihr Sohn L. trotz der bescheidenen Einkünfte in der »Allgemeinen Krankenpflege« versichert. Für eine positive Empfehlung der Bürgerkommission an den Bürgerrat reichte dies jedoch nicht aus. Die Bürgerkommission beharrte kleinlich darauf, dass die junge Witwe wegen eines Aufenthalts in Neuenburg im Jahr 1876 nicht dazu berechtigt sei, unentgeltlich in das Bürgerrecht aufgenommen zu werden. Gleichzeitig wusste aber die Bürgerkommission, dass es H. K. »gar nicht möglich« war, die entsprechende Einbürgerungsgebühr von 125 Franken aufzubringen, entsprach diese Gebühr doch zwei ganzen Monatseinkommen der Arbeiterin. Die Bürgerkommission kam zum Schluss: »Die Verhältnisse sind auch sonst sehr schwach, keine Mobiliarversicherung, nicht die geringsten Ersparnisse, so dass wir auf Abweisung antragen.«96 Am 26. März 1885 wurde das Einbürgerungsgesuch der Witwe H. K. vom Weitern Bürgerrat abgelehnt. Der Schutz des bürgerlichen Armenguts führt auch dazu, dass der Basler Bürgerrat seit den späten 1870er Jahren die Einbürgerung vom Vorhandensein von Versicherungspolicen abhängig machte. Die im Bürgerrechtsgesetz von 1879 festgehaltene Bedingung, dass ein Bewerber »sich und seine Familie zu erhalten« im Stande sein müsse, hatte der Bürgerratsschreiber Carl Bernoulli in seinen 1878 formulierten Bemerkungen zum Entwurf des Gesetzes weit ausgelegt: Die Bestimmung besage, dass »man also vom Petenten verlangen kann, dass er vorwärts komme und auch für Krankheit, Brandunglück und Todesfall nach Thunlichkeit sorge.« Auf diese Weise erst könne die Bürgerschaft sicher sein, dass keine Personen eingebürgert werden, »die nur beabsichtigen, die Hilfe der Gemeinde in Anspruch zu nehmen, weil sie finden, das Bürgerrecht sei doch die billigste Alters- und Sterbefallversicherung, besonders wenn es gar nichts kostet.«97 Für Carl Bernoulli bedeutete die Bestimmung, dass ein Bewerber »sich 96 Alle Angaben und Zitate: StA BS Gemeindearchive Bürgergemeinde Basel C3, Bürgerrechtsbegehren 1800–1966, 1885, Bürgerrechtsgesuch von H. K. Die Identität der Personen wurde durch die Wahl veränderter Initialen anonymisiert. Der Autorin sind die Namen bekannt. 97 Beide Zitate: StA BS Bürgerrecht B4, Bürgerrechtsgesetz vom 27. Januar 1879 1872 – 1879 – 95, Bernoulli, Carl, Einige Bemerkungen zum Entwurf eines neuen Bürgerrechts-Gesetzes, 1. November 1878, S. 18f.

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und seine Familie zu erhalten« in der Lage sein musste, also mehr als die Subsistenz einer Familie sicherzustellen. In seinen Augen musste ein Bürgerrechtsbewerber darüber hinaus gegen alle Gefahren des Lebens gewappnet sein, damit er für die Gemeinschaft der Bürger und vor allem für die bürgerliche Armenkasse kein Risiko darstellte. Zu diesem Zweck bestand der Bürgerratsschreiber Bernoulli elf Jahre vor dem Basler Wohlfahrtsartikel von 1889 und rund 20 Jahre vor den erfolglosen Abstimmungen über die Einführung obligatorischer Versicherungszweige in Basel auf einem völlig neuen, im Gesetz nicht genannten Einbürgerungskriterium: dem Willen und der finanziellen Möglichkeit, die Risiken des Lebens zu versichern. Dass dieses Kriterium in Basel seither regelmäßig bei der Prüfung von Einbürgerungsgesuchen zur Anwendung gelangte, bestätigt der Verwaltungsbericht des Engern Bürgerrats aus dem Jahr 1884. Dort hieß es: »Bei einigen Petenten wurde ein empfehlender Antrag davon abhängig gemacht, dass dieselben ihr Leben um eine angemessene Summe versicherten. Es geschah dies namentlich bei solchen, die bei einem regelmässigen Einkommen keine oder wenigstens keine liquiden Ersparnisse vorwiesen. Es kann ohne Zweifel verlangt werden, dass Petenten wenigstens das in ihren Kräften stehende thun, um der Gemeinde die Last eventueller Versorgung zu mindern.«98 Ein Beispiel für die Bedeutung abgeschlossener Versicherungspolicen im Basler Einbürgerungsverfahren stellt die Einbürgerung des italienischen Schuhmachermeisters J. P. am 14. Juni 1917 dar.99 J. P. war 1882 in Turin geboren, katholisch und mit P. P. verheiratet, die ebenfalls aus Italien stammte. Das Paar hatte vier Kinder zwischen fünf und elf Jahren. Die Bürgerkommission bemerkte kaum etwas zum Gesuch des Schuhmachermeisters, der seit 1908 in Basel wohnhaft war. Besondern Wert legte der Bericht der Bürgerkommission vom 12. Januar 1917 lediglich auf die Sparguthaben und die abgeschlossenen Versicherungen der Familie, die schließlich zur positiven Empfehlung der Behörde führten. In ihrem Bericht an den Bürgerrat hielt sie fest: »Auf den Namen der Frau sind bei der Zinstragenden Ersparnisskasse Fr. 1025.25 eingelegt. Petent hat eine Volksversicherung bei der Bâloise à Fr. 410.–, die Frau eine solche à Fr. 205.–, beide per 1923 (seit 1913). Zwei der Kinder haben Volksversicherungen à Fr. 210.–, ebenfalls per 1923 (seit 1913), ein drittes Kind eine solche à Fr. 225.– per 1934 (seit 1913). Die ganze Familie ist bei der Oeffentl. Krankenkasse als Selbstzahler. … Da er sowohl Ersparnisse als auch verschiedene Versicherungen hat, so empfehlen wir ihn zur Aufnahme gegen Bezahlung von Fr. 200.–.« 98 StA BS, 9. Verwaltungsbericht des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel, 1884, S. 21. 99 Hier und im Folgenden StA BS Gemeindearchive Bürgergemeinde Basel C3, Bürgerrechtsbegehren 1800–1966, 1917, Bürgerrechtsgesuch von J. P. Die Identität der Personen wurde durch die Wahl veränderter Initialen anonymisiert. Der Autorin sind die Namen bekannt.

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Abschließend lässt sich sagen, dass die Basler Bürgergemeinde mittels der weiten Auslegung des Passus »die Fähigkeit sich und seine Familie zu erhalten« im Gesetz von 1879 und über den Umweg der restriktiven Einbürgerungsentscheide den Versicherungszwang für einbürgerungswillige Niedergelassene eingeführt hatte. Im Gegensatz dazu sollten die kantonalen Versuche, obligatorische Versicherungszweige einzuführen, mehrfach scheitern.

7. Wiedereinbürgerungen von Frauen Eine ähnlich restriktive Haltung wie bei finanziell schwachen Personen legten die Basler Bürgerräte bei der Wiedereinbürgerung ehemaliger Baslerinnen an den Tag. Umso wichtiger war die Verankerung des Rechts auf Wiedereinbürgerung im Bürgerrechtsgesetz von 1902 für verwitwete oder geschiedene Frauen, die ihr Basler Bürgerrecht durch Heirat oder Entlassung des Mannes aus dem Bürgerrecht verloren hatten. Wie bedeutsam dieses sein konnte, zeigt das Beispiel der Witwe D. O. im Jahr 1878. D. O. war die Tochter eines ehemaligen Bürgers aus dem Kanton BaselLandschaft, der nach der Kantonstrennung im Jahr 1833 in der Stadt Basel eingebürgert worden war.100 Das Jahr der Einbürgerung lässt vermuten, dass er während der Trennungswirren auf der Seite der Stadt gekämpft hatte, da nach der Kantonstrennung nur Landbürger im neuen Kanton Basel-Stadt eingebürgert worden waren, die zuvor zur Stadt gehalten hatten.101 Doch die Einbürgerung des Vaters und seine möglichen Verdienste für die Stadt hatten 45 Jahre später keinen Einfluss auf die Haltung der Basler Bürgergemeinde gegenüber der Notlage, in der sich D. O., Witwe und Mutter einer 19-jährigen Tochter, befand. Durch die Heirat mit einem Bürger aus Malzville, französisch Lothringen, hatte D. O. das Basler Bürgerrecht verloren. Nach dem Tod ihres Mannes stellte sie im Jahr 1878 ein Gesuch auf Wiedereinbürgerung. Neun Jahre zuvor hatte D. O. ein Auge verloren, das zweite war sehr schwach. Entsprechend bemerkte die Bürgerrechtskommission am 6. März 1878, dass der gesundheitliche Zustand von D. O. »zwar zur Besorgung der Hausgeschäfte, nicht aber zur Arbeit« ausreiche. Die Verhältnisse der Witwe seien »mehr als dürftig«, nach der Einbür100 Hier und im Folgenden: StA BS Gemeindearchive Bürgergemeinde Basel C7, Bürgerrechtsbegehren 1860–1966, 1878, Wiedereinbürgerungsgesuch der Witwe D. O. Der Name wurde durch die Wahl veränderter Initialen anonymisiert. Der Autorin ist der Name bekannt. 101 Dies betraf rund 355 in der Stadt lebende Landbürger mit ihren Familien. StA BS DS BS Ratschläge 1866 (Nr. 351), Rathschlag und Entwurf eines Bürgerrechtsgesetzes, dem Grossen Rath vorgelegt den 1. Oktober 1866, S. 11.

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gerung würde sie »sogleich der Unterstützung bedürfen.« Der Bericht der Bürgerkommission an den Bürgerrat hielt die materielle und menschliche Notlage von D. O. ausführlich fest, ohne jedoch eine moralische Unterstützungspflicht daraus abzuleiten: »Das Mobiliar musste nach und nach Alles verkauft werden, hier wird sie dermalen von 2 französischen Hilfsgesellschaften unterstützt mit je fr. 10 p Monat und auf Verwendung haben die französischen Behörden ihr Versorgung in Aussicht gestellt, ohne Zweifel in einer Departementalanstalt. Petentin ist aber dort völlig unbekannt und hat daher den Versuch gemacht, ob sie nicht in ihrer frühern Vaterstadt Aufnahme und Versorgung finden könnte.« Obwohl D. O., die ursprünglich Basler Bürgerin war, die Ausschaffung ins französische Lothringen drohte, kam die Bürgerkommission zum Schluss: »Die Kommission kann sich aber nicht entschliessen durch einen empfehlenden Antrag zur Aufnahme solcher Verpflichtungen zu rathen, so bedauernswert die Lage der Petentin sein mag und trägt auf Abweisung des Gesuchs an.«

8. Leumund, Ruf und Lebenswandel Ein weiteres Kriterium, das in Basel über den Ausgang eines Einbürgerungsgesuchs entschied, war dasjenige des nur vage definierten »Leumunds«. Bereits das Bürgerrechtsgesetz von 1838 hielt als unerlässliche Bedingung für die Einbürgerung in Basel das Kriterium des »unbescholtenen Leumdens«102 fest. Näher definiert wurde der Begriff nicht. Anzunehmen ist aber, dass der Terminus wie im Fall des Zürcher Bürgerrechtsgesetzes aus dem Jahr 1833 weit ausgelegt wurde und sowohl das Fehlen einer strafrechtlichen Verurteilung als auch den Besitz eines guten Rufs umfasste.103 Zehn Jahre später kam im Basler Bürgerrechtsgesetz ein neues Kriterium zu demjenigen des »guten Leumunds« hinzu. Laut dem revidierten Gesetz von 1848 hatte ein Bürgerrechtsbewerber nachzuweisen, dass er und die Mitglieder seiner Familie »im Besitz eines unbescholtenen Leumdens und in bürgerlichen Rechten und Ehren«104 standen. Die zusätzliche Formulierung »im Besitz bürgerlicher Rechte und Ehren« hatte der Basler Gesetzgeber in Übereinstimmung mit der Bundesverfassung von 1848 gewählt, die diese Bedingung für die freie Niederlassung vorschrieb.105 Damit war grundsätzlich gemeint, dass 102 [Basler] Bürgerrechts-Gesetz vom 8. Februar 1838, § 7. 103 Vgl. dazu: [Zürcher] Gesetz über die Erwerbung, die Wirkung und den Verlust des Bürgerrechtes, so wie über die Revision der Einzugsbriefe, vom 20. Herbstmonat [September] 1833, § 7, sowie das Kapitel »Traditionelle Kriterien des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses«. 104 [Basler] Bürgerrechtsgesetz, vom 4. Dezember 1848, § 7. 105 Vgl. dazu: StA BS DS BS Ratschläge 1848 (Nr. 182), Rathschlag und Entwurf eines revidirten Bürgerrechts-Gesetzes, E. E. Grossen Rath vorgelegt den 16. October 1848, S. 6.

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der Bewerber und die Familienmitglieder nicht im Aktivbürgerrecht still gestellt, also weder strafrechtlich verurteilt noch Konkurs gegangen noch bevormundet waren.106 Die semantische Überschneidung, die sich im Jahr 1848 durch die Formulierung »im Besitz eines unbescholtenen Leumdens und in bürgerlichen Rechten und Ehren« ergeben hatte, wurde mit dem neuerlich revidierten Bürgerrechtsgesetz im Jahr 1879 aufgehoben. Der Gesetzgeber ersetzte die bisherige Formulierung des »unbescholtenen Leumunds« durch die Wendung des »unbescholtenen Rufs«, die nun die Formulierung »in bürgerlichen Rechten und Ehren« ergänzte. Das Gesetz von 1879 schuf jedoch eine neue semantische Unsicherheit. Es führte das Kriterium des »notorisch anstössigen Lebenswandels« ein, das auf diejenigen Bürgerrechtsbewerber angewendet werden konnte, die laut Gesetz ein Recht auf unentgeltliche Einbürgerung besaßen.107 Damit war den Einbürgerungsbehörden ein Instrument in die Hand gegeben, um mit dem Basler Bürgerrecht die Lebensführung der Einbürgerungskandidatinnen und -kandidaten zu beeinflussen: Bürger sollte nur werden, wer sich bei der Führung seines eigenen Lebens und der Führung seiner Familie von den Vorstellungen eines »untadelhaften Lebenswandel[s]«108 leiten ließ. Der Beschwerdebrief eines abgewiesenen Bürgerrechtsbewerbers an die vorberatende Grossrats-Kommission zur Revision des Basler Bürgerrechtsgesetzes im Jahr 1902 legt Zeugnis davon ab, wie die in Gesetz und Einbürgerungsprozeduren verfestigen Kriterien auch die Vorstellungen der Bürgerrechtsbewerberinnen und -bewerber von einem »untadelhaften Lebenswandel« bestimmten. Der deutsche Staatsangehörige K. V. beklagte sich am 16. Dezember 1900 darüber, »wie beschwerlich es ist, in das hiesige Bürgerrecht aufgenommen zu werden«.109 Obwohl er seit 25 Jahren in Basel wohnhaft sei und ein gutes Arbeitszeugnis von seinem langjährigen Arbeitgeber vorweisen könne, sei er nicht eingebürgert worden. Er besitze »achthundert Mark, aber nicht baares Vermögen«, habe eine Feuerversicherung abgeschlossen, seine Familie sei in der Allgemeinen 106 Vgl. dazu: Kunz sowie [Basler] Bürgerrechts-Gesetz vom 28. Dezember 1879, § 6. 107 Dazu gehörten sowohl erwachsene Schweizerinnen und Schweizer als auch erwachsene Ausländerinnen und Ausländer unter 25 Jahren, die seit 15 Jahren in der betreffenden Einbürgerungsgemeinde Basel, Riehen, Bettingen oder Kleinhüningen wohnten oder in der Einbürgerungsgemeinde geboren waren und seit 10 Jahren im Kanton Basel-Stadt wohnten. [Basler] Bürgerrechts-Gesetz vom 27. Januar 1879, §§ 6 und 7. 108 So die Formulierung des Engeren Bürgerrats im Jahr 1899. StA BS Bürgerrecht B5, Bürgerrechtsgesetze überhaupt Revisionen 1895–1923–36, Der Engere Bürgerrat der Stadt Basel an E. E. Regierungsrat, Basel, den 22. März 1899, S. 3. 109 Hier und im Folgenden: StA BS Bürgerrecht B5, Brief von K. V. an die Grossrats-Kommission zur Vorberatung des Bürgerrechtsgesetzes vom 16. Dezember 1900. Der Name des Briefschreibers wurde durch die Wahl veränderter Initialen anonymisiert. Der Autorin ist er Name bekannt.

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Krankenpflege versichert und pro Jahr bezahle er 3 Franken Steuern. Die drei Kinder hätten gute Schulzeugnisse in Betragen und Fleiß, eines von ihnen besitze überdies ein Sparguthaben von 119 Franken. Auch auf seine gute Zahlungsmoral wies K. V. die Kommissionsmitglieder hin: »Habe imer die Miethe Hauszins bereits imer den letzten 28., 29. oder letzten bezahlt, so wie alle laufenten Ausgaben und kann alle Belege vorweisen.« Abschließend machte K. V. seiner Enttäuschung über das abgelehnte Bürgerrechtsgesuch mit Vorwürfen und der Bitte um eine weitherzigere Einbürgerungspolitik Luft: »Aber wo bleibt da die Klausel von der Erleichterung zur Aufnahme? Leere Worte von anderm gar nicht sagen. Möchte Sie daher im Namen Aller bitten die auch in der Lage sind sich als Burger bewerben einzustehen und nicht so engherzig zu verfahren.« K. V. scheint in seinem Beschwerdebrief kein Kriterium ausgelassen zu haben, das bei Einbürgerungen in Basel von Bedeutung war: den langen Wohnsitz, das gute Arbeitszeugnis, die langjährige Arbeitsstelle, die Versicherungen und die zu erwartenden Geldbeträge, die pünktliche Bezahlung von Rechnungen und Miete sowie das gute Betragen der Kinder in der Schule. Selbst das Sparguthaben eines seiner Kinder bedeutete für K. V. einen Grund, der für die Einbürgerung sprach. Vermutlich wählte K. V. in seinem Schreiben diejenigen Worte, von denen er zu wissen glaubte, dass es für die Behörden die richtigen sein würden. Seine Beschwerde kam insofern einer (idealisierten) Beschreibung der eigenen Lebensführung und derjenigen seiner Familie gleich. K. V. hatte die herrschenden Wertvorstellungen darüber, wie ein Basler Bürger zu leben habe, internalisiert. Im Jahre 1902 verzichtete der Gesetzgeber auf die Bezeichnung des »guten Rufs«. Neu sollte die Formulierung des »notorisch anstössigen Lebenswandels« für alle Bewerberinnen und Bewerber als Hinderungsgrund für eine Einbürgerung gelten.110 Eine längere Debatte zwischen der Basler Bürgergemeinde und dem Kanton ging dieser Änderung voraus.111 Grund dafür war das Wort »notorisch«. Damit war es dem Bürgerrat nicht mehr möglich, Bewerberinnen und Bewerber lediglich aufgrund des schlechten Rufs in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz abzuweisen. So konstatierte der liberale Regierungsrat Paul Speiser, der in der Grossrats-Kommission zur Vorberatung des neuen Bürgerrechtsgesetzes Einsitz hatte, »dass der Ausdruck ›notorisch anstössige[r] Lebenswandel‹ gewählt worden sei, um die bisher üblichen Erkundigungen über die Bürgerrechtsbewerber auszuschliessen.«112 Gemeint waren die Nachforschungen der 110 [Basler] Bürgerrechts-Gesetz vom 28. Dezember 1879, § 7, sowie [Basler] BürgerrechtsGesetz vom 19. Juni 1902, § 2. 111 Auch der Gemeinderat von Riehen hatte seine Kritik daran geäußert. Vgl. dazu: StA BS Bürgerrecht B5, Bürgerrechtsgesetze überhaupt Revisionen 1895–1923–36, Der Bürgerrat Riehen an den Hoh. Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt, Riehen, den 23. Februar 1899, S. 1. 112 StA BS Bürgerrecht B5, Bürgerrechtsgesetze überhaupt Revisionen 1895–1923–36, Protokoll der Grossratskommission zur Beratung des Entwurfs eines Bürgerrechtsgesetzes, Sitzung vom 28. Januar 1901, S. 5.

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Bürgerkommission bei Nachbarn, bei Freunden und im Bekanntenkreis der Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller, die im Falle ungünstiger Informationen in der Regel zur Abweisung der Gesuche führten. Darauf zeigte sich der Engere Bürgerrat in einer Eingabe an die Kantonsregierung empört. Er stehe den Bewerbern »von vorneherein wohlmeinend gegenüber«. Natürlich müssten die Einbürgerungskandidaten gewissen Mindestanforderungen entsprechen. Dabei dachte der Bürgerrat »in erster Linie an den guten Ruf, an die Achtung, der sich Einer bei seinen Mitmenschen erfreut«. Hingegen sei der im revidierten Gesetz vorgesehene Paragraf »recht zurückhaltend«. So müsse der »anstössige Lebenswandel«, um als Hinderungsgrund für eine Einbürgerung gelten zu können, »notorisch«, also offenkundig und für alle leicht ersichtlich sein. Unter dieses Kriterium, so der Engere Bürgerrat, würden sehr wenige Bewerberinnen und Bewerber fallen. Da müsse »es Einer schon recht bunt treiben, bis sein Wandel notorisch anstössig ist.« Wichtig sei doch aber auch, »ob der Petent ein rechter Familienvater ist, oder ob er seinen Verdienst vertrinkt, ob er um die Erziehung seiner Kinder sich in liebevoller Weise kümmert und in sittlicher Beziehung einen untadelhaften Lebenswandel führt.«113 Mit der Formulierung des »notorisch anstössigen Lebenswandels« werde aber »mancher moralisch recht geringwertige Petent aufgenommen werden müssen, bloss weil er kein ausgesprochen leichtsinniges oder unsittliches Leben führt.«114 Der Bürgerrat hatte damit das Bild derjenigen (männlichen) Bewerber skizziert, die in seinen Vorstellungen nicht zur Bürgerschaft passten. Dazu gehörten nicht nur diejenigen, die es »recht bunt« trieben, sondern auch diejenigen, die ihren »Pflichten« nicht konsequent nachkamen. Bürger zu sein, beinhaltete für den Bürgerrat folglich, gebührliches Verhalten an den Tag zu legen und gesellschaftliche Pflichten, insbesondere diejenigen des verantwortungsbewussten Familienvaters, zu erfüllen. Daher war für den Bürgerrat die Änderung des geplanten Paragrafen geboten: »Wenn an Stelle der jetzigen Formulierung die Bedingung des ›unbescholtenen Rufs‹ treten würde, würden immerhin viele zweifelhafte Elemente, die nach der Fassung des Entwurfs ein Recht auf Aufnahme haben, abgehalten sich zu melden, gewiss nicht zum Nachteil unserer Stadt und Bürgerschaft.«115 Doch der Regierungsrat hielt an seinem Entwurf fest. Für ihn galt der Grundsatz, dass die Bürgerrechtsaufnahme nicht durch »allzu strenge Anforderungen« an die »moralische Qualität«116 der Bewerber in Frage gestellt werden 113 Alle Zitate: StA BS Bürgerrecht B5, Bürgerrechtsgesetze überhaupt Revisionen 1895– 1923–36, Der Engere Bürgerrat der Stadt Basel an E. E. Regierungsrat, Basel, den 22. März 1899, S. 2. 114 Ebd., S. 2f. 115 Ebd., S. 3f. 116 Beide Zitate: StA BS Rathschlag und Entwurf betreffend Bürgerrechtsgesetz, Dem Grossen Rath vorgelegt den 8. März 1900, Nr. 1242, S. 10.

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dürfe, damit die Zunahme der Basler Bürgerschaft gewährleistet sei. Und tatsächlich hielten sich in den Jahren zwischen 1902 und 1905 die Abweisungen aufgrund »ungünstiger Informationen über Aufführung« in Grenzen. Von insgesamt 303 abgewiesenen Gesuchen waren es lediglich 24 Gesuchstellerinnen und Gesuchsteller, deren Einbürgerung wegen »ungünstiger sittlicher Aufführung«117 abgelehnt wurden.

9. Die Einbürgerung von Italienerinnen und Italienern zu Beginn des 20. Jahrhunderts Die erleichterten Einbürgerungsbestimmungen im Bürgerrechtsgesetz des Kantons Basel-Stadt von 1902 führten hauptsächlich zu einer Zunahme der Einbürgerung kantonsfremder Schweizer und deutscher Staatsangehöriger. So wurden zwischen 1903 und 1918 insgesamt 4 834 Gesuche von Deutschen positiv entschieden, während es im selben Zeitraum lediglich 237 positiv beurteilte Gesuche von französischen und 133 positiv beurteilte Gesuche von italienischen Staatsangehörigen waren.118 Dass von den niedergelassenen Ausländern vor allem Deutsche eingebürgert wurden, hatte verschiedene Gründe. Zunächst bildeten deutsche Staatsangehörige die größte Gruppe unter den ansässigen Ausländern. So stammten im Jahr 1900 rund 30 200 oder 44 % der nach Basel gewanderten Menschen aus Deutschland und Elsass-Lothringen, 23,5 % allein aus Baden. Weiter wohnten viele der deutschen Zuwanderer schon seit längerer Zeit in Basel, womit sie in den Genuss verringerter Einbürgerungsgebühren kamen. Beide Faktoren lassen vermuten, dass deutsche Staatsangehörige zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch prozentual häufiger ein Einbürgerungsgesuch stellten als andere ausländische Staatsangehörige. Hinzu kam, dass die aus dem angrenzenden Deutschland stammenden Zuwanderer in Basel kaum als kulturell fremd wahrgenommen wurden und ihre Herkunft nicht als Einbürgerungshindernis galt.119 Anders verhielt es sich mit den aus Italien zugewanderten Menschen. Im Jahr 1900 waren lediglich 3,2 % der nach Basel gezogenen Personen in Italien 117 Beide Zitate: StA BS Bürgergemeinde Basel, Nr. 182, Bericht über den Anzug Burckhardt betreffend Bürgeraufnahmen, vom 8. November 1905, S. 6f. 118 Zahl nach: StA BS, Verwaltungsberichte des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel zwischen den Jahren 1903 und 1918. Die Zahl der Gesuche nach Herkunft der Gesuchstellenden sowie die entsprechenden Ablehnungsquoten werden aus den Verwaltungsberichten nicht ersichtlich. 119 Zahlen nach: Sarasin, Stadt der Bürger, S. 434, Tabelle 1–4, sowie StA BS, Verwaltungsberichte des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel.

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geboren, was rund 2 200 Personen entsprach. Viele von ihnen hatten sich erst seit ein paar Jahren in der Stadt niedergelassen (der Anteil der in Italien gebürtigen Menschen hatte sich in den zwölf Jahren zwischen 1888 und 1900 mehr als verfünffacht), was im Falle einer Einbürgerung hohe Gebühren bedeutete. Darüber hinaus wurden Italienerinnen und Italiener, wie oben ausgeführt, in der Basler Bevölkerung und von den Behörden als fremd wahrgenommen. Die im Vergleich mit den Einbürgerungen von deutschen, aber auch von französischen Staatsangehörigen tiefen Einbürgerungszahlen (um 1900 lag der Anteil der aus Frankreich stammenden Personen an der zugewanderten Bevölkerung mit 1,1 % rund zwei Drittel tiefer als der Anteil der aus Italien zugewanderten Personen) lassen daher erwarten, dass auch die kulturelle Distanz und xenophobe Abwehrreflexe für die geringe Zahl der Einbürgerungen von Italienerinnen und Italienern zu Beginn des 20. Jahrhunderts verantwortlich sind. Entsprechende Hinweise – etwa fremdenfeindliche Äußerungen in den Berichten der Bürgerkommission – ließen sich in den untersuchten Stichproben allerdings nicht finden.120 Dazu gehörte das Gesuch des italienischen Farbarbeiters Y. I. aus San Lazzaro, das er im Jahr 1917 stellte.121 Der 41-jährige Y. I. wohnte seit 15 Jahren in Basel und hatte sich im Jahr 1903 mit H. I. verheiratet, einer in Basel geborenen Badenserin. Ihre beiden Kinder waren zwei und drei Jahre alt. Als Arbeiter in der »Gesellschaft für Chemische Industrie« verdiente Y. I. einen Wochenlohn von 38 Franken. Der Bericht der Bürgerkommission vom 15. Dezember 1916 hatte zur Person von Y. I. kaum etwas zu bemerken. Angesichts des langen Wohnsitzes in Basel und der ununterbrochenen 15-jährigen Anstellung schien Y. I. bewiesen zu haben, dass er für sich und seine Familie sorgen konnte. Über seine italienische Herkunft fiel kein Wort. Hingegen bemerkte die Bürgerkommission zu den bescheidenen, aber gesicherten Verhältnissen: »Der Hausrat ist bei Phönix für Fr. 2000.– versichert. Bei der Kantonalbank hat er ein Guthaben von Fr. 525.35. Er ist Mitglied der Krankenkasse Kleinhüningen und als Arbeiter der Gesellschaft für Chemische Jndustrie für Fr. 1000.– auf Ableben versichert. An Steuern zahlt er Fr. 7.70 Einkommens- und III. Klasse Gemeindesteuer.« Unter diesen Bedingungen empfahl die Bürgerkommission Y. I. und seine Familie dem Bürgerrat zur unentgeltlichen Aufnahme. Die Einbürgerung wurde am 14. Juni 1917 vom Grossen Rat bestätigt. 120 Erst eine eingehende Untersuchung eines Großteils der Einbürgerungsdossiers italienischer Staatsangehöriger kann daher Aufschluss über die Gründe für die geringe Zahl an Einbürgerungen von Italienern zu Beginn des 20. Jahrhunderts geben. Zahlen nach: Sarasin, Stadt der Bürger, S. 434, Tabelle 1–4, sowie StA BS, Verwaltungsberichte des Engern Bürgerrats an den Weitern Bürgerrat der Stadtgemeinde Basel. 121 Hier und im Folgenden: StA BS Gemeindearchive Bürgergemeinde Basel C3, Bürgerrechtsbegehren 1800–1966, 1917, Bürgerrechtsgesuch von Y. I. Die Identität der Personen wurde durch die Wahl veränderter Initialen anonymisiert. Der Autorin sind die Namen bekannt.

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Dem 22-jährigen italienischen Bautechniker S. J. war es im Jahr 1909 anders ergangen.122 In Basel geboren und aufgewachsen, besaß er ein Recht auf unentgeltliche Einbürgerung. Am 21. Juni 1909 empfahl die Bürgerkommission dem Bürgerrat, das Gesuch aufgrund des geltenden Paragrafen zwei »wegen notorisch anstössigem Lebenswandel« abzuweisen. Im Bericht an den Bürgerrat erläuterte die Kommission ihre Haltung damit, »dass Petent seit längerer Zeit nicht arbeitet und nicht arbeiten wolle, sich von seinen Eltern aushalten lässt und überdies mit einer Frauensperson in wilder Ehe lebt …« Wahrscheinlich trug auch ein Brief des ehemaligen Lehrmeisters von S. J., eines Architekten aus Bellinzona, zum ablehnenden Urteil bei. Mit Schreiben vom 24. November 1908 ließ dieser die Basler Bürgerratskanzlei wissen: »Soeben erhalte von Hr. S. J. ein Bittschreiben, ich möchte ihm ein Lehrzeugnis ausstellen, da er sich um das Baslerbürgerrecht beworben habe. Kann betr. Zeugnis nicht ausstellen, da J. hier in Bellinzona während seiner Lehrzeit Schulden gemacht hat & dieselben zuerst gedeckt, d.h. zurückbezahlt werden müssen. – Dies nur zur gefl. Kenntnissnahme, bei event. Fälschung eines Lehrzeugnisses.« Im Bericht der Bürgerkommission an den Bürgerrat war von diesem Schreiben nicht die Rede. Die Tatsache aber, dass der ehemalige Lehrmeister von S. J. diesem kein Zeugnis ausstellen wollte und ihm sogar die Fälschung eines Zeugnisses zutraute, passte in das negative Bild der Bürgerkommission. Doch auch in diesem Fall fielen keine antiitalienischen Äußerungen, wie sie etwa in den vier Petitionen an die Basler Behörden zwischen 1899 und 1901 von Bewohnern des Spalenquartiers zum Ausdruck gekommen waren. Darin hatten anonyme Schreiber ihre Beobachtungen zum Verhalten italienischer Quartierbewohner festgehalten. Stereotype Zuweisungen wie lautes Verhalten, Gewaltbereitschaft, fehlender Sauberkeitssinn oder fehlende Moral hatten sich darin zum Bild »des Italieners« verfestigt.123 Obwohl die Bürgerkommission an der Lebensführung von S. J. Punkte kritisierte, die mit diesem Bild übereinstimmten, verband diese keine solchen Topoi mit der italienischen Herkunft des jungen Bautechnikers. Der fehlende Arbeitswille, der S. J. attestiert worden war, das schlechte Verhältnis zum früheren Lehrmeister und die nicht legitimierte Liebesbeziehung zu einer Frau reichten für die Abweisung des Gesuchs aus.

122 Hier und im Folgenden: StA BS Gemeindearchive Bürgergemeinde Basel C3, Bürgerrechtsbegehren 1800–1966, 1909, Bürgerrechtsgesuch von S. J. Der Name wurde durch die Wahl veränderter Initialen anonymisiert. Der Autorin ist der Name bekannt. 123 Vgl. dazu: Manz, S. 182–196.

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10. Erfolg und Grenzen der Liberalisierung Der Kanton Basel-Stadt tat sich in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg bei der Einbürgerung von Ausländern als der liberalste unter den schweizerischen Kantonen hervor. Seit der Kantonstrennung im Jahr 1833 wurde das kantonale Bürgerrechtsgesetz sukzessive liberalisiert. In erster Linie waren es die Kantonsbehörden, die sich für die Lockerung der restriktiven Bestimmungen im Basler Bürgerrechtsgesetz einsetzten. Eine zentrale Bedeutung besaß dabei der Topos von der notwendigen Vermehrung der Basler Bürger. So wurde schon im Jahr 1847 in der Basler Kantonsverfassung die Bestimmung verankert, dass die Einbürgerung für Personen, die in Basel geborenen und aufgewachsenen oder einen »längern Aufenthalt im Kanton« verbracht hatten, seien es kantonsfremde Schweizer oder Ausländer, gefördert werden soll. Die Verfassung aus dem Jahr 1875, mit der in Basel die Herrschaft des Freisinns begann, erweiterte diese Bestimmung. Nach deren Wortlaut musste grundsätzlich die Aufnahme neuer Bürger »thunlichst erleichtert« werden. Darüber hinaus verankerte die Kantonsverfassung von 1875 erstmals das Recht auf Einbürgerung für Personen, die in einer Basler Gemeinde geboren beziehungsweise aufgewachsen waren. Die Kantonsverfassung von 1889 bestätigte diese Grundsätze. Zwar fiel der Beginn der Liberalisierung der Einbürgerungsbestimmungen im Kanton Basel-Stadt nicht mit dem Übergang von einer in der Tradition des Ancien Régime stehenden Gesellschaft in eine liberale Bürgergesellschaft im Jahr 1875 zusammen. Dennoch schränkten die Verfassungsbestimmungen und die darauf auf bauenden Bürgerrechtsgesetze des freisinnig regierten Kantons seit 1875 (insbesondere das subjektive Recht auf unentgeltliche Einbürgerung für bestimmte Personengruppen seit 1879) die Gemeindebehörden in ihren Einbürgerungsentscheiden stärker ein als zuvor. So erreichte der Kanton Basel-Stadt besonders infolge des kantonalen Bürgerrechtsgesetzes von 1902 sein Ziel, die Zahl der Bürger durch die Zunahme von Einbürgerungen zu vergrößern. Ebenso war es dem Kanton während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelungen, diejenigen Einbürgerungsnormen und -prozeduren abzuschaffen beziehungsweise einzudämmen, die konfessionelle und religiöse Minderheiten diskriminierten. Die Liberalisierung des Basler Bürgerrechts hätte allerdings weiter gehen können. Zum einen stand ihr das Heimatprinzip bei der Armenunterstützung entgegen. Zwar hätte mit dem »Wohlfahrtsartikel« von 1889 und der kantonal subventionierten »Allgemeinen Armenpflege«, die vor allem für Niedergelassene zuständig war, die Möglichkeit bestanden, die armenrechtliche Bedeutung des Basler Bürgerrechts zu verringern. Die restriktive Heimschaffungspraxis der »Allgemeinen Armenpflege« stand dieser Möglichkeit allerdings entgegen. Somit bildete das Basler Bürgerrecht auch weiterhin die einzige Gewähr da261 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

für, dass Personen im Verarmungsfall in Basel-Stadt Unterstützung fanden und nicht weggewiesen wurden. Auf diese Weise blieben die armenrechtliche Tradition des Gemeindebürgerrechts und die armenrechtlich motivierte, restriktive Einbürgerungspraxis der Bürgergemeinde bestehen. Zum andern verharrte das Bürgerrecht von Frauen trotz der Liberalisierungstendenzen in den traditionellen Formen des bürgerrechtlichen Ausschlusses. Obwohl der Kanton seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die Wiedereinbürgerung ehemaliger Baslerinnen gegen den Widerstand der Bürgergemeinde gefördert hatte, erhielten Basler Bürgerinnen auch weiterhin keine politischen Rechte. Zudem wurden kantons- oder landesfremde Frauen gerade mit dem Argument, dass sie als Bürgerinnen keine politischen Rechte besitzen und nicht der allgemeinen Wehrpflicht unterstehen, von einer zentralen Bestimmung zur erleichterten Einbürgerung im Gesetz von 1902 ausgenommen. In der Aufrechterhaltung der rechtlichen Ungleichstellung von Frauen gingen die Kantons- und Gemeindebehörden Hand in Hand. Somit wird zur Funktionsweise der bürgerrechtlichen Ausschließungsund Integrationsdynamiken auf kantonaler und kommunaler Ebene am Beispiel des Basler Bürgerrechts Folgendes deutlich: Zunächst war es im Rahmen des ausgeprägten »Laisser faire« des Bundes in Einbürgerungsfragen vor dem Ersten Weltkrieg möglich, die Zunahme der Einbürgerung von Ausländern durch kantonale Eingriffe wirksam zu steuern. Darüber hinaus befanden sich die Kantone in der Lage, die abwehrende Haltung der Bürgergemeinden beispielsweise durch das Recht auf unentgeltliche Einbürgerung für bestimmte Personengruppen erfolgreich zu umgehen. Schließlich waren es aber die armenrechtliche Bedeutung des kommunalen Bürgerrechts sowie die Wahrnehmung von Frauen als »Ungleiche«, die auch im liberalsten Schweizer Kanton in Fragen des Bürgerrechts der erleichterten Einbürgerung Grenzen setzten.

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VII. Das Schweizer Bürgerrecht und die Ausländer II: Von der Integration zur Abwehr 1914–1933

Mit dem Ersten Weltkrieg ging das liberale Zeitalter des 19. Jahrhunderts zu Ende. Im Rahmen des integralen Nationalismus, dem Ende der Personenfreizügigkeit, einer neuen protektionistischen Politik des Bundes und der ethnisch-kulturell motivierten »Überfremdungsbekämpfung« des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements verkehrten sich die bisherigen Versuche zur Liberalisierung der Einbürgerung von Ausländern in ihr Gegenteil. Das Schweizer Bürgerrecht wurde Schritt für Schritt zum Instrument behördlicher Fremdenabwehr und Ausdruck ethnisch-nationaler Gemeinschaftsvorstellungen. Von besonderer Bedeutung für diese Entwicklung war das Jahr 1917. Damals nahmen fremdenfeindliche Reflexe in der schweizerischen Bevölkerung, der Presse und gesellschaftlichen Organisationen zu. Verantwortlich dafür waren hauptsächlich die angespannte Versorgungslage, das Fehlen einer tauglichen Wirtschaft in Kriegszeiten und sozialstaatlicher Einrichtungen, die zunehmenden Klagen über »Kriegsgewinnler«, die Einreise von Militärflüchtlingen sowie die antibolschewistische Stimmung nach der Oktoberrevolution. Um die Einwanderung zu begrenzen, beschloss der Bundesrat noch im selben Jahr die Schaffung der eidgenössischen Zentralstelle für Fremdenpolizei, des Vorläufers der schweizerischen Fremdenpolizei. Gleichzeitig erhöhte er die Wohnsitzfrist für Einbürgerungen von Ausländern von bisher zwei auf vier Jahre. Diese Maßnahme sollte in erster Linie die Einbürgerungen von Refraktären und Deserteuren verhindern. Nach dem Krieg wurde die Bekämpfung der so genannten »Überfremdung« zur Hauptaufgabe der Zentralstelle für Fremdenpolizei. Mit der Eingliederung der Bürgerrechtsabteilung in die Zentralstelle für Fremdenpolizei im Jahr 1926, dem »Bundesgesetz über Aufenthalt und die Niederlassung der Ausländer« vom 26. März 1931 und dessen Vollziehungsverordnung vom 5. Mai 1933 wurde diese Politik institutionell verankert.1 Das Bürgerrecht galt nun als Abwehrinstrument gegen »unerwünschte Fremde«. Einzelne Pressuregroups und politische Vertreter aus Kantonen und Städten besaßen bei diesem Wandel der bundesstaatlichen Bürgerrechtspolitik eine 1 Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer, vom 26. März 1931 (ANAG), in Kraft: 1. Januar 1934. Vgl. zur Vollziehungsverordnung: Ludwig, S. 25.

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wichtige Schrittmacherfunktion. Während die Neue Helvetische Gesellschaft eine Plattform für den Aufstieg des Überfremdungsdiskurses bildete und deren Vertreter nach dem Krieg Einsitz in die Beratungen der Bundesbehörden nahmen, erschwerte die Stadt Zürich die Einbürgerungsbedingungen für Ostjuden seit dem Jahr 1912. Der Bund übernahm diese Politik im Jahr 1926 mit einem generellen Einbürgerungsstopp für Ostjuden.

1. Der Aufstieg der »neuen Rechten« und die Suche nach der »nationalen Identität« seit 1900 Das Bundesgesetz »betreffend die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe« aus dem Jahr 1903 hatte sich als untaugliches Instrument erwiesen, die Zahl der Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz auf eine staatsbürgerlich-integrative Weise zu verringern. Die damaligen Probleme, die vor allem Grenzkantone und größere Städte mit der Immigration von Ausländerinnen und Ausländern bekundet hatten, waren im Zuge der Gesetzesrevision zwar zu einem gesamtschweizerischen Thema geworden, zu einer gesamtschweizerischen Lösung war es aber nicht gekommen. Von dieser Situation profitierte in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine zunehmend lauter werdende, xenophob argumentierende »neue Rechte«, die der Historiker Hans Ulrich Jost aufgrund ihrer rückwärtsgewandten Ziele bei gleichzeitig modernem Auftreten als »reaktionäre Avantgarde«2 bezeichnet. Die »neue Rechte« des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bestand weder aus einer politischen Partei noch war sie eine homogene Gruppe. Vielmehr stellte sie ein loses Konglomerat von konservativen Intellektuellen, Wissenschaftlern, politischen Exponenten sowie zahlreichen neu gebildeten Vereinen und Gesellschaften dar. In der Westschweiz ragte der intellektuelle, fremdenfeindliche Kreis der »Helvétistes« hervor, der sich um den Literaturwissenschaftler und Historiker Gonzague de Reynold gebildet hatte.3 Für die deutschsprachige Schweiz sind als Exponenten der »neuen Rechten« verschiedene Organisationen wie der 1904 entstandene »Deutschschweizerische Sprachenverein«, die im Jahr 1914 gegründete Neue Helvetische Gesellschaft und der radikale, nach dem Ersten Weltkrieg aus Bürgerwehren hervorgegangene Schweizerische Vaterländische Verband zu nennen. Zur selben Zeit entstanden in der gesamten Schweiz zahlreiche Vereinigungen, die sich der Bewahrung der »schweizerischen Kultur« widmeten, so 2 Vgl. dazu: Jost. 3 Vgl. dazu: Clavien.

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etwa die Heimatschutz-, Trachten- und Volksliedervereinigungen oder die Sprachenvereine.4 Das verbindende Element der »neuen Rechten« kann als kulturpessimistische Kritik an der Moderne mit wechselweise antiliberaler, antisozialistischer, fremdenfeindlicher, antisemitischer, rassistischer oder antifeministischer Stoßrichtung bezeichnet werden. Die Kritik der »neuen Rechten« akzentuierte die seit den 1870er Jahren eingetretene Krise des politischen Freisinns.5 Damit einher ging – in Ablehnung der Schweiz als Staatsbürgernation – die Suche nach der »nationalen Identität«. Dabei kam es »zu einer neuen Konvergenz« 6 in der Art und Weise, wie die schweizerische Nation vorgestellt wurde. Während Vorstellungen von einer voluntaristischen Staatsbürgernation hauptsächlich in liberalen und sozialdemokratischen Kreisen weiterexistierten, kamen jetzt ethnisch-kulturelle oder naturalistische Vorstellung von der schweizerischen Nation hinzu, beispielsweise die Vorstellungen einer über Sprache, Alpenwelt und Natur definierten »nationalen Identität«.7 Diese sollten das Konzept der demokratischen »Willensnation« Schweiz zunehmend verdrängen.8 Ein wichtiges Sprachrohr für die ethnisch-kulturellen Identitätsvorstellungen bildete in der Deutschschweiz seit 1907 die vom Zürcher Literaturprofessor Ernest Bovet gegründete Kulturzeitschrift »Wissen und Leben«. Zwar sind die idealistischen Positionen von Ernest Bovet weder als politisch reaktionär noch als fremdenfeindlich oder gar als rassistisch zu bezeichnen. Seine Halbmonatsschrift bildete aber ein wichtiges Forum für die Diskussion auch solcher Gedanken. So wurde »Wissen und Leben« bis zum Ersten Weltkrieg zu einer viel gelesenen Zeitschrift, deren Leser- und Autorschaft im intellektuellen, bürgerlich-konservativen Lager beheimatet war.9 In einem 1908 in »Wissen und Leben« publizierten Artikel mit dem Titel »Betrachtungen über die französischen Impressionisten« übte beispielsweise der damals noch junge Schweizer Architekt Alexander von Senger (1880–1968) eine rassisch begründete Kritik an der impressionistischen Malerei der Franzosen. Die Ursache für diese Malerei glaubte Alexander von Senger im »Aussterben« des »Homo Europaeus« in Frankreich zu erkennen. Er formulierte: »Es liegt eine derartig ungeheure Kluft zwischen den neoimpressionistischen Malereien und der bisherigen europäischen Art zu malen, dass eine Erklärung dieser auf4 Kury, Über Fremde reden, S. 48–50. 5 Die Krise des politischen Freisinns zeigte sich gemäß Jost, S. 17 und S. 24, im Rechtsrutsch der gesamten »freisinnige[n] Familie«, in privaten und wirtschaftlichen Affären in der »classe politique« sowie in den Referendumskämpfen der katholisch-konservativen Opposition. 6 J. Tanner, Nationale Identität, S. 31f. 7 Vgl. zu den weiterhin bestehenden voluntaristischen Nationsvorstellungen in der Schweiz das Kapitel »Das diskursive Ereignis der ›Ausländerfrage‹ 1910/1911«. 8 J. Tanner, Diskurse der Diskriminierung, S. 328. 9 Vgl. dazu: Kury, Über Fremde reden, S. 53–56.

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fallenden Tatsache nur in der Anthropologie zu finden ist. Diese lehrt uns, dass Frankreich von keiner einheitlichen Rasse bewohnt wird. Zwei Haupttypen bildeten die Masse der Bevölkerung: 1. Die eigentlichen Europäer (Homo Europaeus) oder Germanen. 2. Allerlei unarische Volkstrümmer (Homo Alpinus, Mongoloide, Negroide). Die Anthropologen haben bewiesen, dass die europäischen Bewohner Frankreichs im Aussterben begriffen sind …«10 Alexander von Sengers Versuch, den vermeintlichen Niedergang der französischen Kultur mit rassistischen Argumenten zu erklären, veranlasste Ernest Bovet zur Replik. Er wehrte sich vehement gegen das biologische Konzept der »Rasse« und setzte dagegen – ebenfalls in einem Artikel in »Wissen und Leben« – auf das Konzept einer nicht rassisch begründeten »Nation«. Dabei bezog sich Ernest Bovet auf den »Homo Alpinus«, den Alexander von Senger unter die »unarische[n] Volkstrümmer« subsumiert hatte. Die Schweizer seien »etwas viel Besseres« als eine »Rasse« oder eine »Mischung von Rassen«. Die Schweizer seien eine »Nation«, die genügend stark sei, um unterschiedlichste »Elemente« zu »assimilieren«. Der »Rasse«, so Bovet weiter, stellten die Schweizer die »Nation« entgegen, der »Rivalität« die »Zivilisation«, der »blinden Natur« das »Bewusstsein«.11 Mit der Ablehnung des Konzepts der »Rasse« verband Ernest Bovet allerdings nicht automatisch die Vorstellung einer schweizerischen »Willensnation«. Vielmehr glaubte er zu wissen, dass die Schweiz seit siebenhundert Jahren von einer »mysteriösen Kraft« zusammengehalten werde, einer Kraft, die den Schweizern die Demokratie gegeben habe. Es sei der »Geist«, der von den »Höhen her wehe«, der »Geist der Alpen und Gletscher«. Die Berge hätten schon immer das »moralische Leben« der Schweizer bestimmt, alle anderen Faktoren seien lediglich »Varianten«.12 Die Anleihen Bovets an der Moralphilosophie der Auf klärung und die schon zur Zeit der Helvetik beschworene schweizerische Alpenwelt zur Begründung der schweizerischen Nation sind unverkennbar. Allerdings wurde dieser »tektonische Essentialismus«13 nicht nur bemüht, um der sprachlichen Heterogenität der Schweiz ein einigendes Moment gegenüber zu stellen. Neuerdings sollte damit auch die Vorstellungen von der »Willensnation« Schweiz verdrängt werden.14 10 Senger, S. 243f. Vgl. dazu: Keller. 11 »Nous sommes beaucoups mieux qu’une race, ou un mélange de races, nous sommes une nation, assez forte pour s’assimiler des éléments divers … A la race nous opposons la nation; à la haine, la civilisation; à la nature aveugle, la conscience …« Bovet, Réflexion, S. 298f. 12 »Une force mystérieuse nous unit depuis six cents ans, nous a donné nos institutions démocratiques; … c’est l’esprit qui souffle des hauteurs; c’est le génie de l’alpe et des glaciers; … la montagne a toujours dominé notre vie morale; tous les autres facteurs sont des variantes …« Bovet, Nationalité, S. 441. 13 Kury, Über Fremde reden, S. 55. 14 Vgl. dazu: J. Tanner, Diskurse der Diskriminierung, S. 329f.

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In diese Richtung wiesen auch die Überlegungen des Zürcher Pfarrers Eduard Blocher, dem Präsidenten des 1905 gegründeten Deutschschweizerischen Sprachenvereins. Der germanophile Eduard Blocher wehrte sich vehement gegen den Versuch, »Wesen und Eigenart der Schweiz«15 durch deren Sprachenvielfalt zu definieren. Die »schweizerische Eigenart« erkannte Blocher gerade nicht in einer »nationalen Kultur«, sondern im »vaterländischen Gefühl«, das seine »starken Wurzeln« in der »Liebe zum heimatlichen Boden« habe, sowie im »eidgenössische[n] Staatsgedanke[n]«.16 Mit dieser Anschauung verband jedoch auch Eduard Blocher kein Bekenntnis zur »Willensnation« Schweiz. Vielmehr konzentrierte er sich in seinen Überlegungen zur »schweizerischen Eigenart« auf den Zwiespalt, den gerade die Deutschschweizer auszuhalten hätten, den Zwiespalt zwischen einer kulturellen Zugehörigkeit zu den Deutschen und einer politischen Zugehörigkeit zur Schweiz.17 Schon der Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller habe diesen Zwiespalt aufs Bitterste empfunden und seinen Gefühlen im Gedicht »Gegenüber« mit folgenden Worten Ausdruck verliehen: »Wohl mir, dass ich dich endlich fand, / Du stiller Ort am alten Rhein, / Wo ungestört und ungekannt / Ich Schweizer darf und Deutscher sein!«18 Ob Eduard Blocher in erster Linie einen eigenen innern Zwiespalt auszuhalten hatte, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden (Eduard Blochers Großvater, Johann Georg Blocher, hatte sich im Jahr 1861 in der Gemeinde Schattenhalb im Berner Oberland ins Schweizer Bürgerrecht eingekauft).19 Auf jeden Fall aber war ihm, Eduard Blocher, an der kulturellen Zugehörigkeit der Deutschschweizer zu »den Deutschen« so sehr gelegen, dass er auf die vermeintliche Prägekraft der »Natur« zurückgriff, um seine Identitätsvorstellung zu untermauern. Die »Stimme der Natur« sei so stark, dass sie auch durch den Willen, einen gemeinsamen Staat zu bilden, nicht zu unterdrücken sei: »Wir wollen eigentlich nur Schweizer sein. Wenn dennoch das Bewusstsein, dass wir auch zum deutschen Volke gehören, in uns bisher nicht ganz zu ersticken gewesen ist, so gibt es hier nur eine Erklärung: mit solcher Stärke spricht nur die Stimme der Natur.«20 Kulturelle Sprachgemeinschaft und natürlich gedachte Volksgemeinschaft gingen hier Hand in Hand. Dagegen unterwanderte in den Augen Eduard Blochers die »politische Gemeinschaft« der Schweiz die deutsche »Kultur« und »Natur« der Deutschschweizer. In dieser Konzeption der schweizerischen »politischen Gemeinschaft«, die in Opposition zur deutschen »Kultur« und »Natur« der Deutschschweizer stehe, war die Delegitimierung der »Staatsbürgernation Schweiz« implizit angelegt. 15 16 17 18 19 20

Blocher, Die schweizerische Kulturfrage, S. 313. Alle Zitate: ebd., S. 326f. Ders., Sind wir Deutsche?, S. 18. Zitiert nach: ebd., S. 8. Vgl. dazu: Vanoni. Blocher, Sind wir Deutsche?, S. 19 (Hervorhebungen im Original).

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Die grundlegenden Zweifel an den Vorstellungen einer voluntaristischen Staatsbürgernation kamen vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur in den Debatten über Kunst, Wissenschaft und Literatur oder der Neugründung rechtsbürgerlicher Vereinigungen zur Geltung. Auch in militärischen Kreisen stieß nun die Vorstellung von der schweizerischen Nation als Gesamtheit der politisch berechtigten Staatsbürger auf Ablehnung. Im Zuge der schleichenden »Verpreußung« der schweizerischen Armee seit den 1890er Jahren verdrängte die Vorstellung vom »gehorsamen Soldaten« die Vorstellung des Soldaten als Staatsbürger.21 Die Armeereform des freisinnigen Aargauer Bundesrats Emil Welti war mit der Verfassung von 1874 halb gelungen und halb gescheitert. Weltis Ziel war es damals gewesen, die aus kantonalen Truppen bestehende Bundesstreitkraft zu einer »nation armée«22 umzugestalten, die, wie Rudolf Jaun formuliert, »rein republikanisch-national« motiviert sein und »das gesamte Männerpotenzial der Nation« umfassen sollte. Gegenüber der damaligen föderalistischen Opposition hatte Welti jedoch zahlreiche Abstriche machen müssen. Eine Dauerkrise des besagten Armeekonzepts hatte in den darauf folgenden Jahren die militärische Organisation bestimmt.23 Die Krise der »nation armée« kam der so genannten »neuen Richtung« entgegen, einer Bewegung im schweizerischen Offizierskorps, die sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert durchzusetzen begann.24 Die Offiziere, die sich der »neuen Richtung« verpflichtet fühlten – der wichtigste Exponent war der spätere General Ulrich Wille –, bezweifelten die »Kriegstauglichkeit« republikanisch-staatsbürgerlicher Soldaten. Sie orientierten sich an der Hierarchie und Disziplin, die innerhalb der preußischen Streitkräfte herrschte.25 Die schweizerische Armee sollte daher verkleinert und straff geführt werden. Doch schon bald stand die »neue Richtung« in der Kritik. Im Jahr 1893 beklagten sich beispielsweise Soldaten und Unteroffiziere in einer anonymen Flugschrift mit dem Titel »Freie Bürger oder Militär-Sklaven« gegen die »brutale Behandlung im Militärdienst«.26 Das Pamphlet sei damals – so eine handschriftliche Randnotiz – im Berner Jura an die Soldaten verteilt worden. Die Verfasser prangerten hauptsächlich die rohe Behandlung durch höhere Offiziere an: »Etwas schreckhaft Häufiges und Empörendes sind die Fusstritte, oder, wie der Berner sagt, ›Stüpfe‹ in den Hindern, die beim Liegendschiessen etwas ganz Gewöhnliches auf dem Waffenplatz Berns sind; dies erlauben sich sogar Instruktoren, die man sonst bei der Mannschaft recht gern hat, wie z.B. 21 22 23 24 25 26

Jaun, Armee, Nation, Staat, S. 123. Ders., Armee und Nation, S. 149. Ebd., S. 151. Vgl. im Folgenden: ebd., S. 159–161. Ebd., S. 149. Freie Bürger, S. 1.

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Herr Hauptmann Schneider, Instruktor, dann aber besonders die Instruktoren v. Rodt, Schlagbach, Gaudard, Burkhalter und viele Andere.«27 Dem Status des »freien Bürgers«, den die Soldaten im zivilen Leben innehatten, standen die »›Stüpfe‹ in den Hindern«, also die körperlich erfahrenen Erniedrigungen, unvereinbar gegenüber. Die Empörung über die demütigende Behandlung war so groß, dass die Schreiber selbst vor der namentlichen Nennung einzelner Offiziere nicht zurückschreckten. Die Verfasser bezeichneten sich in dem Flugblatt als »unbescholtene Leute, alles active Militärs der dritten Division, Unteroffiziere und Soldaten, Angestellte und Arbeiter von der Stadt und auch vom Lande …« Politisch seien sie zwar nicht von derselben »Couleur«, doch eines sei ihnen gemeinsam: der Wunsch nämlich, »dass in unserm lieben, freien Vaterlande die brutale Behandlung und Willkür im Militärdienst wieder aufhöre, und der Schweizer, der als Bürger ein Republikaner und ein freier Mann ist und sein soll, nicht während der ganzen Zeit, wo er beim Militär sein muss, zu einem ganz unfreien und rechtlosen Geschöpf, zu einem einfachen Sklaven gemacht werde, sondern auch im Dienst noch etwas von der republikanischen Eigenschaft seines Heimathlandes spüren könne.«28 Die Kritik fruchtete wenig. Seit 1907 begann in der schweizerischen Armee die »neue Richtung« unter den Offizieren zu dominieren, bis sie sich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der Wahl von Ulrich Wille zum General ganz durchsetzte. Damit veränderte sich auch das traditionelle Bild vom schweizerischen Soldaten. Die Anhänger der »neuen Richtung« sahen in ihm nicht mehr länger den »patriotisch motivierten Staatsbürger, der die Staatsbürgernation repräsentierte«,29 sondern den gehorsamen, durch Unterordnung und Drill disziplinierten Krieger. Mit dieser für die Schweiz neuen Vorstellung des Soldaten, verlor die voluntaristische Staatsbürgernation eine ihrer Säulen. Bisher hatte die schweizerische Armee im Dienst der republikanisch gedachten Staatsbürgernation gestanden. Diese Verbindung war nun gekappt.

2. »Überfremdung«: Vom Begriff zum Diskurs In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg etablierten sich im Sprechen über Ausländer und Schweizer zwei hegemoniale diskursive Ereignisse: zum einen die mehrheitlich staatsbürgerlich-integrative »Ausländerfrage« seit 1910, die vor allem von Juristen und Politikern geführt wurde, zum andern die in kulturellen Kreisen der »neuen Rechten« debattierte »nationale Identität« seit 1900. Die beiden Dis27 Ebd., S. 2. 28 Beide Zitate: ebd., S. 1f. (Hervorhebung im Original). 29 Jaun, Armee und Nation, S. 163.

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kurse besaßen nur wenige Berührungspunkte, so etwa die spärlich zu findenden Anleihen an eine nicht-voluntaristisch definierte »nationale Identität«, wie sie in Walther Burckhardts Aufsatz »Die Einbürgerung der Ausländer« aus dem Jahr 1913 zum Ausdruck kamen.30 Das änderte sich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Zunehmend vermischten sich die »Ausländerfrage« und der nationale Identitätsdiskurs der »neuen Rechten«. Daraus entstand schon bald nach Kriegsbeginn ein neuer Diskurs, der insbesondere die staatsbürgerlich-integrative »Ausländerfrage« zum Verschwinden brachte und zu einem der wirkungsmächtigsten Diskurse der Schweiz des 20. Jahrhunderts aufstieg: der Überfremdungsdiskurs. Die Geschichte des Überfremdungsdiskurses in der Schweiz während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist gut erforscht.31 Dennoch ist es für das Verständnis der Entwicklung des Schweizer Bürgerrechts nach 1914 unerlässlich, die Herausbildung des frühen Überfremdungsdiskurses an ausgesuchten Beispielen bis ins Jahr 1916 nachzuzeichnen. Im Gegensatz zu den Exponenten der »Ausländerfrage« hatten nämlich schon die Träger des frühen Überfremdungsdiskurses nicht die republikanisch motivierte, staatsbürgerliche Integration der ausländischen Wohnbevölkerung zum Ziel, sondern hauptsächlich deren Abwehr aufgrund ethnisch-kultureller Paradigmen. Zur Darstellung des frühen Überfremdungsdiskurses bis ins Jahr 1916 sollen nachfolgend zentrale Diskurselemente aus den Schriften des bereits vorgestellten Carl Alfred Schmid sowie des Winterthurer Ingenieurs Max Koller aufgezeigt werden. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg fand der Begriff der »Überfremdung« noch kaum Verwendung. Nachdem Carl Alfred Schmid den Begriff im Jahr 1900 in der Schrift »Unsere Fremdenfrage« erstmals verwendet hatte, lässt sich der Terminus – und synonym dazu der Begriff der »Verfremdung« – im Jahr 1912 wieder in einem seiner Texte finden, und zwar im Aufsatz »Die Schweiz im Jahre 2000«.32 Darin prognostizierte Schmid aufgrund der »Verfremdung« den Untergang der

30 W. Burckhardt, Die Einbürgerung der Ausländer. Vgl. dazu das Kapitel »Das diskursive Ereignis der ›Ausländerfrage‹ 1910/1911«. 31 Vgl. dazu: Kury, Über Fremde reden, Mächler, G. Arlettaz, Les effets, sowie Arlettaz/Burkart. Vgl. zur »Überfremdungsbekämpfung« auch: Gast. 32 Vgl. dazu: C.A. Schmid, Unsere Fremdenfrage (1900), S. IV, sowie ders., Die Schweiz im Jahre 2000, S. 3. Ein weiteres Beispiel für die Verwendung des Begriffs »Überfremdung« war die Petition der »Neunerkommission« im Jahr 1912, die den Begriff im Titel trug. Daneben fand sich der Terminus in der »Schweizerischen Juristen-Zeitung« (Eggenschwyler) oder im »Politischen Jahrbuch der Schweizerischen Eidgenossenschaft«. Dort formulierte W. Burckhardt, Die Einbürgerung der Ausländer, S. 3: »Die Überfremdung der Schweiz ist für unsere politische Selbständigkeit und unsere nationale Individualität (sic), …, so gefährlich, dass es dringend notwendig ist, sie zum Gegenstand allgemeiner Diskussion zu machen, und alles aufzubieten, diese friedliche, aber unheimliche Gefahr von unserm Vaterlande abzuwenden.« Vgl. zum Begriff des »Unheimlichen« in der psychoanalytischen und soziologischen Auseinandersetzung mit dem Thema des »Fremden«: Kristeva sowie Bielefeld, S. 104.

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nationalen Existenz der Schweiz für das Jahr 1970.33 Er formulierte: »Wenn unser Titel lautet: die Schweiz im Jahre 2000, so ist dies keineswegs etwa buchstäblich zu nehmen. Schon 1970 wird’s auch tun. Gemeint ist, dass alsdann es mit der Schweiz als nationalem Staatswesen aus und vorbei sein wird. Die rettungslos und unaufhaltsam fortgeschrittene Verfremdung hat es dazu gebracht.« 34 In diesem Zusammenhang mahnte Carl Alfred Schmid besonders vor den Gefahren, die von der »Überfremdung« durch die deutschen Niedergelassenen ausgehen würden. Die Einwanderung von Deutschen und ihr kultureller sowie wirtschaftlicher Einfluss auf die Schweiz besäßen den »Charakter einer vollständigen Aufsaugung«. Es sei zu befürchten, dass der Einfluss der Deutschen bald stärker sei als die schweizerische »Assimilierungsfähigkeit« der sich zunehmenden »abschleifenden sogen. Eigenart«. 35 Um den nationalen Niedergang der Schweiz, das heißt die Angliederung der Schweiz an das Deutsche Reich, abzuwenden, postulierte Schmid nicht nur die Neuordnung des schweizerischen Einbürgerungswesens, sondern auch die Umstrukturierung des Armenwesens.36 Eine weitere Lösung der damaligen Probleme glaubte Schmid im Ausbruch eines Weltkriegs zu erkennen. Einem solchen maß er 1912 völlig verklärend eine kathartische Funktion bei: »Das Wunderbarste, mit dem gerechnet werden muss, ist der Weltkrieg!« Erst ein solches »Hauptereignis« würde an der beobachteten Entwicklung etwas ändern.37 Schmids Untergangszenario mischte sich mit antimodernistischen und kulturpessimistischen Degenerationsvorstellungen, die seit dem »Fin de siècle« in der schweizerischen Gesellschaft kursierten. Dass etwa kaum mehr Schweizer einem Handwerk nachgehen würden, sei ein untrügliches Zeichen für den kulturellen Niedergang der Schweiz. Ausgerechnet Schmid, der unermüdlich publizistisch tätig war, konstatierte: »Es hängt dies damit zusammen, dass wir unsere Nachkommen ohne Ausnahme Schreiber werden lassen und die Handwerke samt und sonders vernachlässigen. Wir tendieren auf Fabrikarbeit und Bureauarbeit. Handarbeit ist verpönt. Darin ist das untrügliche Symptom der Dekadenz zu erblicken.«38 Auch wenn Carl Alfred Schmid in der »Fremdinvasion« die Folge eines nicht näher definierten wirtschaftsgeschichtlichen Prozesses sah, so glaubte er gleichzeitig in der kulturellen »Dekadenz« der Schweiz und der Schweizer einen Faktor für die »Überfremdung« auszumachen: Das Land wäre nicht auf eine so große Zahl an ausländischen Arbeitskräften angewiesen, wenn mehr Schweizer einem Handwerk nachgehen würden.39 33 34 35 36 37 38 39

C.A. Schmid, Die Schweiz im Jahre 2000, S. 20. Ebd., S. 14f. Alle Zitate: ebd., S. 10. Ebd., S. 14. Ebd., S. 11. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10.

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Parallel zur Vermischung kultureller Degenerationsängste mit staatspolitischen Gefahrenszenarios gewannen in den Schriften von Carl Alfred Schmid zunehmend ethnisch-kulturelle Identitätsvorstellungen an Boden. Dabei griff Schmid auf den sozialdarwinistischen Begriff der »Auslese« zurück und unterteilte die bisher sprachlich kaum ausdifferenzierte Gruppe der Ausländer in »assimilierbare« und »nicht-assimilierbare« Personen.40 Das war beispielsweise in einem Aufsatz aus dem Jahr 1915 der Fall, der in der Zürcher Reihe »Schriften für Schweizer Art u. Kunst« erschien und denselben Titel wie Carl Alfred Schmids Wettbewerbsbeitrag aus dem Jahr 1900 trug: »Unsere Fremdenfrage«.41 Gedacht als eine Art Vademekum für Vorträge und Zeitungsartikel zur Überfremdungsthematik, drangen die darin konstruierten Narrative in das Sprechen zahlreicher anderer Exponenten zunächst aus der Neuen Helvetischen Gesellschaft, später auch aus der Bundesverwaltung ein.42 Auf bau und Sprachduktus der Schrift erinnern stark an die früheren Texte Schmids. So schilderte der Autor mit zahlreichen statistischen Angaben und grundsätzlich gleich bleibenden Topoi auch hier das Ausmaß, die Ursachen und die Gefahren der »Überfremdung«. Wie schon in den Jahren 1900 und 1912 lag seinen Ausführungen eine ausgesprochen antimodernistische Haltung zugrunde.43 Für die »Überfremdung« machte er außer dem »Freihändlertum«44 auch die »Vogel Strauss-Politik«45 des Bundes verantwortlich. Es sei doch offensichtlich gewesen, »wie der ausländische Bevölkerungseinschlag rasend« 46 angeschwollen sei. Anstatt in den 1870er Jahren das »Niederlassungsarmenwesen« einzuführen, um die Bürgergemeinden in Einbürgerungsfragen zu entmachten und die Einbürgerung von Ausländern zu erleichtern, habe der Bund »in lächerlich blöder Weise an der Einbürgerungsbewilligungserteilungsbefugnis (sic) geklebt und also sich in das Einbürgerungsgeschäft bloss rein störend 40 Nur wenige Veröffentlichungen beschäftigten sich im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg mit einzelnen ausländischen Bevölkerungsgruppen in der Schweiz, so beispielsweise mit den Italienern oder den Polen. Vgl. dazu: Lorenz, Zur Italienerfrage, ders., Polnische Arbeiter, sowie C.A. Schmid, Die Italienerfrage. 41 C.A. Schmid, Unsere Fremdenfrage (1915). 42 Vgl. dazu: ebd., S. 6. Selbst der sozialdemokratische Basler Regierungsrat Eugen Wullschleger, S. 12, übernahm 1916 die Argumentationsketten von Carl Alfred Schmid. Zwar distanzierte sich Wullschleger vom Begriff der »Überfremdung«. Dies sei ein »geschmackloses Wort« und er habe »es nicht erfunden«. Dennoch sprach er von der Gefahr für die nationale Existenz der Schweiz aufgrund des »Missverhältnis[ses] zwischen der Zahl der einheimischen, der schweizerischen und der Zahl der fremden, der ausländischen Bevölkerung«, erwähnte den Transvaal-Topos, übte Kritik am untauglichen Instrument des Schweizer Bürgerrechts, stellte verschiedene Berechnungen zur Zahl der Ausländer an und referierte schließlich wie Schmid die Lösungsvorschläge der »Neunerkommission«. 43 Vgl. dazu: C.A. Schmid, Unsere Fremdenfrage (1915), S. 15. 44 Ebd., S. 26. 45 Ebd., S. 25. 46 Ebd.

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eingemischt.«47 Eine Nation, der ihre eigene Zukunft »am Herzen« liege, so Schmids Kritik am »Laisser faire« des Bundesrats, werde doch »niemals einer Bürgergemeinde die Alleinvertretung ihrer Interessen anvertraut lassen.«48 Um die »Überfremdung« abzuwenden, schwebte Carl Alfred Schmid jetzt, im Jahr 1915, eine »nationale Wiedergeburt in Volks- und Staatsleben und Wirtschaft« vor, worunter er die »Pflege des Patriotismus als Staatspflicht« verstand.49 Zwar appellierte der Autor zu diesem Zweck an die Leserschaft, die moralischen Waffen zu schmieden, doch sein Mahnruf hatte weniger mit dem Patriotismus des 18. Jahrhunderts zu tun denn mit dem Identitätsdiskurs der »neuen Rechten«.50 So sah Carl Alfred Schmid die »Lösung der Fremdenfrage« im Rahmen der erhofften »nationalen Wiedergeburt« nicht mehr grundsätzlich nur in der erleichterten Einbürgerung gegeben. Vielmehr stellte er – und dies war im Gegensatz zu seinen früheren Texten neu – die kulturelle »Assimilation« als Bedingung für die Einbürgerung von Ausländern auf. Schmid formulierte: »Auch wir wollen keine sogenannten ›Papierschweizer‹. Es handelt sich nicht darum, das Schweizerbürgerrecht den Ausländern anzuwerfen, zu verschenken. … Die Ausländer, die wir uns angliedern, müssen zu Inländern geworden sein, wir müssen sie zu solchen gemacht und erzogen und gebildet haben. Nur die assimilierten, akklimatisierten Ausländer können für die Einbürgerung in Frage kommen.«51 Insofern sei die »Fremdenfrage« nicht nur eine Frage der Quantität, sondern auch eine Frage der Qualität: »Ohne Assimilation keine Naturalisation«,52 lautete nun seine Überzeugung. Ähnlich der »Neunerkommission« argumentierte der Wortführer des frühen Überfremdungsdiskurses Schmid schließlich auch mit dem sozialdarwinistischen Begriff der »Auslese«. Auch er verwendete den Terminus im Zusammenhang mit den finanziellen Verhältnissen und dem Leumund einer Person. Der Ton des Zürcher Armenpflegers war aber ein anderer als derjenige der »Neunerkommission«. Schmid versicherte den Lesern: »Es werden nur ›Inländer‹ eingebürgert, von denen wir uns nicht unterscheiden, keine Verbrecher, keine Hilfs47 Beide Zitate: ebd., S. 27f. 48 Ebd., S. 33. Im Gegensatz zum Text »Unsere Fremdenfrage« aus dem Jahr 1900 plädierte Carl Alfred Schmid nun nicht mehr dafür, dass die Kantone und Gemeinden angesichts des Bürgerprinzips bei der Armenunterstützung die alleinige Befugnis in Einbürgerungsfragen besäßen, sondern dass der Bund sich für die erleichterte Einbürgerung einsetze und zu diesem Zweck die Gemeinden von der obligatorischen Armenunterstützung entbinde. 49 Beide Zitate: ebd., S. 41 und S. 40. 50 Ebd., S. 41f. 51 Ebd., S. 39 (Hervorhebungen im Original). 52 Ebd., S. 56f. Dieses frühe Beispiel für die in den folgenden Jahren auch in der Bundesverwaltung sich durchsetzenden Interpretation wurde von der bisherigen Forschung übersehen. Schmids Beispiel aus dem Jahr 1915 macht aber deutlich, dass es für das Eindringen kulturalistischer und sozialdarwinistischer Topoi in den Bürgerrechtsdiskurs nicht erst die Auflösung der Niederlassungsverträge und die neue Institution der Zentralstelle für Fremdenpolizei brauchte.

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bedürftigen und keine Lumpen. … Niemand wird behaupten können, dass wir so unserer nationalen Pflicht der Hebung unserer Bürgerschaft durch Auslese aus dem guten Fonds der Bevölkerung fremden Ursprungs nicht in würdiger Weise genügen.«53 Die despektierlichen Formulierungen, die implizite Gleichsetzung von »Verbrechern«, »Hilfsbedürftigen« und »Lumpen« sowie die Formulierung »Hebung unserer Bürgerschaft durch Auslese aus dem guten Fonds der Bevölkerung fremden Ursprungs« lassen erahnen, dass hier die herkömmlichen, bis ins Ancien Régime zurückreichenden finanziellen und strafrechtlichen Kriterien des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses eine neue Qualität erhielten. Durch die diskursive Verknüpfung mit dem hierarchisierenden Begriff der »Auslese« konnten nun diese Kriterien im Sinne eines sozialen Determinismus zu Indizien dafür werden, dass die betreffenden Personen aus dem »schlechten« oder aus dem »guten Fonds der Bevölkerung fremden Ursprungs« stammten. Zwar wurde bei Schmid der »gute Fonds der Bevölkerung fremden Ursprungs« weder nach ethnisch-kulturellen noch evolutionstheoretischen noch rassischen Kriterien näher bestimmt. Deutlich wird aber, dass Schmid für die Lösung der »Fremdenfrage« dazu überging, ein hierarchisierendes Menschenbild zu entwickeln, an dessen Spitze der »ideale Schweizer« stand. Ein anderer Träger des frühen Überfremdungsdiskurses und ebenfalls Mitglied der Neuen Helvetischen Gesellschaft war der Winterthurer Ingenieur Max Koller. Koller verfasste in den Jahren zwischen 1915 und 1919 zahlreiche Referate, Aufsätze und Schriften zum Thema des »Heimatschutzes«, der »schweizerischen Kultur«, der »Überfremdung« und der Einbürgerung von Ausländern.54 Seine qualitativen Äußerungen über die Ausländer und die Schweizer baute Koller, im Gegensatz zu Schmid, auf rassischen Theoremen auf. Zu Beginn des Jahres 1915 publizierte Koller in der bereits erwähnten Zeitschrift »Wissen und Leben« einen Aufsatz mit dem Titel »Das Kulturproblem der Schweiz und die Einbürgerungsfrage«. Darin ging Koller davon aus, dass die Schweiz, die »in Wirklichkeit ein kleines Deutschland, ein kleines Frankreich und ein kleines Italien« sei, eine »hohe Kulturaufgabe« besitze.55 So sei es die Aufgabe der aus unterschiedlichen »Stämmen« bestehenden, aber dennoch friedlichen Schweiz, ein Vorbild für das damals im Krieg stehende Europa abzugeben.56 Um dieser »Kulturaufgabe« gerecht zu werden, müsse die Schweiz allerdings die »Vermischung von fremden Stämmen«57 verhindern. Diese Forderung baute Max Koller auf der Rassenlehre von Houston Stewart Chamberlain auf. Koller formulierte: »H.St. Chamberlain hat das grosse Verdienst in seinem Werke 53 Ebd., S. 53. 54 Vgl. dazu: Koller, Das Kulturproblem, ders., Die Fremdenfrage, ders., Das Schweizervolk, ders., Die kulturelle Überfremdung, sowie ders., Zwei Vorträge. 55 Beide Zitate: ders., Das Kulturproblem, S. 276f. 56 Ebd., S. 276. 57 Ebd., S. 278.

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Die Grundlage des Neunzehnten Jahrhunderts mit ausserordentlicher Klarheit die Weltgeschichte inbezug auf die Rassenfrage beleuchtet zu haben. Auch wenn man ihm nicht überall beipflichtet, so geht doch aus seinen Ausführungen hervor, dass eine Vermischung von fremden Stämmen eine Beeinträchtigung ihres Charakters bedeutet, dass die spezifischen Stammeseigenschaften vermischt und besonders die edlen geschwächt werden. Jede Vermischung unserer Völkerschaften bedeutet deshalb eine Schwächung unserer nationalen Kraft.«58 Der Gedanke, dass die kulturelle und insbesondere die biologische Vermischung der drei in der Schweiz lebenden »Stämme« zur Schwächung oder gar zum Niedergang der Nation führen müsse, bildete das Credo von Max Koller. Daraus folgerte er, dass die »Einbürgerungsfrage« in der Schweiz nicht im Sinne der »Neunerkommission« gelöst werden könne. Zwar sprach sich auch der Winterthurer Ingenieur für die Einführung eines bundesstaatlichen »ius soli« ohne Optionsrecht aus, allerdings müsse dabei die »Reinhaltung« der in der Schweiz lebenden »Stämme« berücksichtig werden. Die »Zwangseinbürgerung, welche die drei Völker unseres Landes nicht getrennt behandelt«, war daher in Kollers Augen »ein schwerer Fehler.« Es müsse eine Regelung gefunden werden, damit »die Rasseneigenart der Landesteile geschont bleibt, in der Weise, dass die deutsche Schweiz zwangsweise nur deutsche Elemente einbürgert, die welsche Schweiz nur französische, die italienische Schweiz nur Italiener.«59 Eine solche auf »Stämmen« auf bauende Einbürgerungsregelung habe zudem den Vorteil, dass »ganz fremde Elemente« ferngehalten würden. Darunter verstand Koller Menschen anderer »Rasse«. So führte er aus: »Es sollte das Möglichste vorgesehen werden, um solche [Menschen] so vollständig wie möglich von einer Einverleibung in unser Bürgertum fernzuhalten. Man täusche sich nicht, das Blut ist bei diesen zu verschieden, als dass sie je bei uns in absehbarer Zeit bodenständig werden könnten.« 60 Um den Zusammenhang zwischen den Vorstellungen von »Stämmen«, »Blut« und »Rasseneigenart« mit der schweizerischen Kultur und dem Schweizer Bürgerrecht herzuleiten, publizierte Koller noch im selben Jahr 1915 im Zürcher Verlag »Stimmen im Sturm« den umfangreicheren Text »Die Fremdenfrage in der Schweiz«.61 Dieser Aufsatz wies zahlreiche Gemeinsamkeiten mit den Texten von Carl Alfred Schmid auf. Dabei stand der Kulturpessimismus und Antimodernismus des Winterthurer Ingenieurs demjenigen seines Zürcher Mitstreiters in nichts nach. So erkannte Koller die Ursachen für die »Überfremdung« im »ungeheuern Aufschwung des Verkehrs der Neuzeit«,62 in der Bewunderung des »Fremdländische[n]« und dem »Einfluss des modernen 58 59 60 61 62

Ebd. (Hervorhebung im Original). Alle Zitate: ebd. Beide Zitate: ebd., S. 279. Ders., Die Fremdenfrage. Ebd., S. 21.

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Lebens, das den Menschen wie in einen Strudel hineinreisst und ihn seiner Freiheit und Unabhängigkeit beraubt.« 63 Im Gegensatz zu Schmid sah Koller den Niedergang der schweizerischen Kultur aber nicht nur durch die kulturellen Einflüsse der »Fremden« begründet. Vielmehr war es das »fremde Blut«, dem der Autor eine zersetzende Kraft beimaß. Insofern habe man es beim Niedergang der schweizerischen Kultur einerseits »mit einem Rassenproblem, andererseits mit einem Kulturproblem zu tun.« So sei es »das allmähliche Eindringen fremden Blutes«, das die »einheitliche, nach der Individualität des Menschen begründete Kultur und jedes innere Gefühl der Zusammengehörigkeit« verhindere. Deshalb sei die »Fremdenfrage« immer auch unter dem »Einfluss der Blutsvermischung« zu betrachten.64 Zum Verhältnis von »Rasse und Kultur« legte Koller an Beispielen aus dem Pflanzenund Tierreich schließlich dar, dass eine »einheitliche Kultur durch einheitliche Rasse gefördert« 65 werde. Zu welch fragwürdigem Vorschlag diese Überzeugung führen sollte, zeigte Max Koller in seinem Referat »Das Schweizervolk und die Fremden vom Standpunkt des Heimatschutzes« vor der Gruppe Rorschach der Neuen Helvetischen Gesellschaft im Jahr 1916. Darin führte er aus: »Mein Vorschlag, der denjenigen der Neunerkommission ergänzen soll, wird etwa folgendermassen lauten: 1. Einführung der Zwangseinbürgerung für die in der Schweiz geborenen Ausländer. In einer Gemeinde der deutschen Schweiz erhält das in der Schweiz geborene, eheliche Kind das Heimatrecht der Niederlassungsgemeinde seines Vaters, wenn ein Elternteil in der Schweiz von deutscher Abstammung geboren ist, oder wenn die Mutter bei der Geburt Deutschschweizerin war und wenn in diesen beiden Fällen der andere teil deutscher Abkunft ist, oder aber wenn beide Teile deutscher Abkunft sind und sie während folgender Zeit am gleichen Ort ununterbrochen wohnhaft blieben. Wenn beide Teile aus Süddeutschland und Tirol stammen, beispielsweise nach 3 Jahren. Ein Teil aus Süddeutschland, der andere aus Mitteldeutschland nach 7 Jahren. Ein Teil aus Süddeutschland, der andere aus Norddeutschland nach 10 Jahren. Beide Teile aus Mitteldeutschland nach 7 Jahren. Ein Teil aus Mitteldeutschland, der andere aus Norddeutschland nach 15 Jahren. Beide Teile aus Norddeutschland nach 20 Jahren.«66 63 64 65 66

Beide Zitate: ebd., S. 24. Alle Zitate: ebd., S. 13. Ebd., S. 19. Ders., Das Schweizervolk, S. 24.

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Die nicht nur in ihrer Akribie irritierenden Bestimmungen wollte Koller ebenso für den französischen und italienischen Landesteil aufstellen. Mehr noch: Auch »Schweizer andern Stammes sollen erst nach einer längeren Periode der Assimilationszeit ihr Kantonsbürgerrecht ändern können.« 67 Als oberstes Kriterium für die Einbürgerung galt dem Autor also die »Assimilierbarkeit« von »Stämmen« und »Rassen«. Max Koller, der während mehreren Jahren im Orient gelebt hatte, war aus eigener Anschauung der Meinung, dass man vielleicht »schon einen europäisierten Neger, Chinesen oder Araber gesehen« habe. Sie alle seien jedoch »Kunstprodukte«, »Karikaturen« die wieder in ihre »eigene Art zurückfallen« würden, sobald der künstliche Einfluss auf höre.68 Insofern gab es für Koller Völker, die »nicht-assimilierbar« seien und entsprechend nicht eingebürgert werden sollten. Dazu gehörten »alle nicht-europäischen Völker. Unter den Europäern Slawen, Türken, Orientalen, Juden inbegriffen.« Sie stünden dem »angeborenen Wesen« der Schweizer »so fremd gegenüber, dass eine wirkliche Assimilation nie zu erwarten« sei. Deshalb seien sie »von jeder Einbürgerung auszuschliessen.«69 Im Mai 1917 wiederholte Koller seine Grundsätze in einem Vortrag vor der Gruppe Winterthur der Neuen Helvetischen Gesellschaft mit dem Titel »Die kulturelle Überfremdung der Schweiz«. Neben der Wiederholung seines auf Rassentheoremen gründenden Differenzkonzepts fokussierte Koller stärker als bisher auf die Juden. Er war von ihrer vermeintlichen »Nicht-Assimilierbarkeit« überzeugt. Darüber hinaus setzte der Vortragende die Juden pauschal mit Kriegsprofiteuren und Kriminellen gleich. Das Schweizer »Volkstum« hingegen galt ihm als »Tempel«: »Es ist die Gesellschaft von reinen Spekulanten und Schiebern, die heute ihr internationales unheimliches Wesen bei uns treiben. Es ist die gleiche Art Leute, die die Sanftmut Jesu im Tempel Jerusalem zur hellen Empörung brachte. Hat man den guten Willen, dann muss es möglich sein, den Tempel unseres Volkstums wenigstens einigermassen von dieser ganz schlimmen Art der Ueberfremdung rein zu halten.«70 Die Anschauungen Kollers basierend auf sozialdarwinistischen, rassistischen und antisemitischen Überlegungen gingen weit über Carl Alfred Schmids Texte hinaus. Doch auch wenn Kollers rassistischen Pamphlete und abstrusen Vorschläge für eine nach »Stämmen« organisierte Einbürgerungspolitik im frühen Überfremdungsdiskurs die Ausnahme bildeten, so fand Koller doch seine Zuhörer- und Leserschaft. Sowohl vor verschiedenen lokalen Gruppen der Neuen Helvetischen Gesellschaft als auch vor der »freisinnig-demokratischen Vereinigung schweizerischer Studierender« konnte er seine Ansichten darlegen. Zudem 67 68 69 70

Beide Zitate: ebd., S. 25. Alle Zitate: ebd., S. 21. Alle Zitate: ebd., S. 25. Ders., Die kulturelle Überfremdung, S. 26.

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wurden Kollers Texte in bekannten Zeitschriften abgedruckt oder als eigenständige Publikationen veröffentlicht.71 Das lässt vermuten, dass sich nicht nur die Träger des Überfremdungsdiskurses, sondern auch Verleger, Redaktoren und Rezipienten mehr und mehr von den Vorstellungen einer politisch definierten Staatsbürgernation distanzierten, um ethnisch-kulturellen Identitätsvorstellungen den Vortritt zu geben. Schließlich begannen der frühe Überfremdungsdiskurs und die damit verbundenen Vorstellungen einer »nationalen Identität« oder »schweizerischen Eigenart« ihre Wirkung noch während des Ersten Weltkriegs auf die Einbürgerungspolitik des Bundes zu entfalten, um diese bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein zu bestimmen.

3. Nationalismus, Rassismus und schweizerische Heterogenität Die Ausführungen zum frühen Überfremdungsdiskurs in der Schweiz am Beispiel der Schriften von Carl Alfred Schmid und Max Koller werfen die Fragen nach dem Verhältnis von Nationalismus und Rassismus in der Schweiz und deren Bedeutung für das Schweizer Bürgerrecht auf. Während die erste Frage – nach ein paar grundsätzlichen Bemerkungen zum Verhältnis von Nationalismus und Rassismus – in diesem Kapitel diskutiert wird, widmen sich die folgenden Kapitel an unterschiedlichen Beispielen der Bedeutung von Nationalismus und Rassismus für das Schweizer Bürgerrecht. Die Jahrzehnte des integralen Nationalismus vor und während des Ersten Weltkriegs gelten gemeinhin als zentrale Phase des Nationalismus.72 Hingegen ist die Frage umstritten, ob diese Phase als Übergang von einem »linken« und integrativen zu einem »rechten« und militanten Nationalismus zu deuten sei oder als Bruch mit den bisherigen Formen nationaler Gemeinschaftsvorstellungen. So lehnt der Historiker Christian Geulen die gängige Position ab, dass der Nationalismus um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durch das Eindringen rassenbiologischer Theoreme eine Radikalisierung erfahren habe.73 Vielmehr, so die These von Christian Geulen, habe das Eindringen des Rassendiskurses in den Nationalismus zu einer fundamentalen Umdeutung von Nation und Nationalismus, zu einer »biopolitischen Konzeptualisierung von Kultur, Geschichte und Gesellschaft«74 71 Vgl. dazu: ders., Die kulturelle Überfremdung, ders., Zwei Vorträge, sowie ders., Das Kulturproblem. 72 Vgl. dazu: Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, sowie Geulen, Wahlverwandte. 73 »Radikalisierung aber ist ein Typus von Kontinuität und heißt letztlich nichts anderes als Übersteigerung oder Intervenierung.« Geulen, Wahlverwandte, S. 30. 74 Ebd., S. 34.

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geführt. Die Nation sei gegen Ende des 19. Jahrhunderts als biopolitische Nation neu erfunden worden.75 Die Ursachen für die biopolitische »Neuerfindung« der Nation sieht Geulen in politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Tendenzen um 1900 gegeben, die den extremen Nationalismus des 19. Jahrhunderts in Frage stellten: im Internationalismus der Arbeiterbewegung, im Sozialdarwinismus, in der Theorie des Fortschritts und der schrankenlosen Konkurrenz, in den Expansionsansprüchen der Großmächte oder den bürgerlichen Reformbewegungen. Im Gegensatz zu diesen übernationalen Konzepten und Bewegungen sei es dem Rassendiskurs gelungen, Identität zu stiften und stabilisierend zu wirken.76 Der damalige Rassendiskurs beruhte auf der Rassenlehre von Joseph Arthur de Gobineau, der Evolutionslehre von Charles Darwin und im Anschluss daran auf dem Grundsatz des »survival of the fittest« (Herbert Spencer).77 Seit dem späten 19. Jahrhundert wurden diese älteren biologischen Lehren durch Autoren wie Ernst Haeckel, Ludwig Gumplowicz, Ludwig Büchner, Paul de Lagarde oder Julius Langbehn populär. Die Darwinsche Evolutionstheorie und insbesondere die darin aufgestellten Entwicklungsgesetze der »Auslese« und »Anpassung« im pflanzlichen und tierischen Leben wurden von Verfechtern des Sozialdarwinismus auf das soziale Leben übertragen: Die Menschen würden sich ebenso wie die Pflanzen und Tiere von Natur aus unterscheiden. Diese natürliche Ungleichheit führe zu einer permanenten Wettbewerbs- und Konkurrenzsituation und somit zu einer fortschreitenden Differenzierung zwischen den Menschen, bei der die »sozial Tüchtigsten« zur Dominanz über die anderen gelangen würden.78 Von herausragender Bedeutung für die Popularisierung des Rassismus als einer hierarchisierenden, biologischen und anthropologischen Differenzierungsstrategie war dagegen Houston Stewart Chamberlain. Mit seinem Hauptwerk »Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts«79 legte er eine »umfassende Rassenphilosophie«80 vor, in der er die kontinuierliche »Entfaltung« und herausragende Stellung der »germanischen Rasse« darzulegen versuchte.81 Ob das Eindringen des Rassismus in nationale Gemeinschaftsvorstellungen zu einem Bruch im Nationalismus des 19. Jahrhunderts oder zu einer Radikalisierung desselben führte, kann hier nicht eingehend diskutiert werden. Hin75 Ebd. Bielefeld, S. 110, sprach in diesem Zusammenhang von einer »Renaturalisierung des Sozialen«. 76 Alle Angaben: Geulen, Wahlverwandte, S. 28f. 77 Vgl. dazu: ebd., S. 59–71 und S. 72–94, sowie Geiss, S. 167–181. Vgl. dazu auch: Gobineau sowie Darwin. 78 Vgl. dazu: Geulen, Wahlverwandte. 79 Chamberlain. 80 Geulen, Wahlverwandte, S. 173. 81 Ebd., S. 176.

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gegen kann die scheinbare Unvereinbarkeit der beiden Forschungspositionen relativiert werden, indem zwischen nationalen Vorstellungsmodi und nationalistischem Programm unterschieden wird. So scheint es unter dem Gesichtspunkt der Art und Weise, wie Nationen vorgestellt werden, durchaus sinnvoll zu sein, von einem Bruch zu sprechen, wenn kulturalistische Konzeptionen von der Nation durch biopolitische Konzeptionen abgelöst wurden. Dagegen kann beim Programm des biopolitischen Nationalismus von einer Radikalisierung des bisherigen Nationalismus ausgegangen werden. Denn auch der biopolitisch fundierte Nationalismus verfolgte das bisherige doppelte Programm des ethnischen Nationalismus, das mit Erna Appelt, wie an anderer Stelle bereits gezeigt wurde, als Programm einer Vereinheitlichung nach innen und einer Abgrenzung nach außen bezeichnet werden kann.82 Doch ob Radikalisierung oder Bruch: Für die Schweiz ist Christian Geulens These, dass der Rassismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts die bisherigen Vorstellungen von der Nation zur biopolitischen Nation umdeutete, zu relativieren. Denn in der Schweiz hat sich »die Frage nach dem ›Wesen‹ der nationalen Einheit« anders gestellt als in Deutschland, Frankreich oder Italien. Angesichts »der ungewöhnlichen kulturellen Heterogenität der Eidgenossenschaft hätte jede monothetische kulturalistische – oder später biologistische – Beantwortung [der Frage nach dem ›Wesen‹ der nationalen Einheit] unweigerlich zur Zerreissprobe geführt.«83 Mehr noch: In der Schweiz fehlte es nicht nur an einer ethnischen Homogenität – eine solche gibt es in keinem Staat –, sondern es fehlte mehrheitlich auch am Vorstellungsvermögen, wie die gemeinsame Ethnie oder schließlich auch eine gemeinsame »Rasse« hätte definiert werden können. Schon im Jahr 1875 hatte sich Carl Hilty gegen die Einteilung der »Menschheit« in »Rassen« gewehrt und dabei explizit auf die »verschiedenen Sprachen und Stämme[…]« in der Schweiz hingewiesen. Er hatte formuliert: »Am allerwenigsten sollten sprachliche oder gar sog. Raçenanhänglichkeiten auf uns wirken. Oder sollte die denkende Menschheit sich wirklich im 19. Jahrhundert dauernd soweit von ihren Idealen entfernen, dass sie sich wie Thiere in Raçen theilen lässt, die einander mit instinctmässigem erblichem Hasse verfolgen und aufzureiben trachten! Niemand mehr als wir, die wir ein aus verschiedenen Sprachen und Stämmen in Freiheit geeinigtes Volk sind, haben Ursache, eine solche verwerfliche, die Menschenwürde und das edle Gefühl einer allgemeinen Brüderlichkeit beleidigende Theorie zurückzuweisen, wo immer sie sich zeigen will.« 84 Trotz der deutlichen Absage Carl Hiltys an »Rasse« und »Ethnie« als Grundlage einer schweizerischen Nation begannen sich in der Schweiz im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, wie dargelegt, ethnisch-kulturelle Vorstellun82 Appelt, S. 176f. 83 Beide Zitate: Kury, Über Fremde reden, S. 44. 84 Hilty, S. 270.

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gen von der Nation abzuzeichnen, welche die bisherigen voluntaristischen Vorstellungen verdrängten. Indem die schweizerische Nation und die so genannte »schweizerische Eigenart« tautologisch über die ethnische Andersartigkeit »der Anderen« definiert wurde, oder mit Patrick Kury gesprochen, über eine ethnische »Selbstbestimmung ex negativo«, war die Ethnisierung der schweizerischen Nation möglich geworden. Was die »schweizerische Eigenart« ausmachen sollte, blieb dabei offen. Das Ziel dieser »helvetische[n] Ethnisierung« lag darin, »ausländische Minderheiten und Fremde stärker auszugrenzen, um eine vermeintlich homogenere Gesellschaft zu erlangen.«85 Schließlich mischten sich, wie einzelne Beispiele gezeigt haben, im Zuge des Aufstiegs der »neuen Rechten« auch rassistische Diskurselemente mit den Vorstellungen von der schweizerischen Nation. Unter anderem hatten namhafte, in der Schweiz tätige Psychiater, Anthropologen, Anstaltsdirektoren und Universitätsprofessoren wie August Forel oder Eugen Bleuler mit der Konzeption rassenhygienischer Theorien und deren medizinischen Anwendung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert die entsprechenden biologischen Wissensbestände bereitgestellt.86 Nachdem bereits einzelne Exponenten des frühen Überfremdungsdiskurses wie Max Koller auf rassistische Argumente zurückgegriffen hatten, sollten die biologischen Wissensbestände und entsprechende diskursive Elemente schließlich auch in Bereiche der bundesstaatlichen Verwaltungspraxis einfließen, nicht zuletzt in die Bürgerrechtsabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements.87 Zu einer konsequenten biopolitischen Umdeutung der nunmehr hauptsächlich ethnisch-kulturellen Nationsvorstellungen kam es, wie die folgenden Kapitel zeigen werden, in der Schweiz jedoch nicht. Dies war aber auch nicht notwendig. Die Ethnisierung der schweizerischen Nation über den Umweg der Ethnisierung »der Anderen« und die Versatzstücke aus rassenbiologischen Diskursen machten die Nation zu einem beliebig kombinierbaren Argument der mit dem Ersten Weltkrieg einsetzenden eidgenössischen Fremdenabwehr.

4. 1917 – Jahr des Umbruchs Im Jahr 1917 erreichte der Weltkrieg mit dem Kriegseintritt der USA im April und der Großoffensive der »Provisorischen Regierung« Russlands im Sommer seinen Höhepunkt. Die Zahl der Militärflüchtlinge in der neutralen Schweiz 85 Alle Zitate: Kury, Über Fremde reden, S. 44. 86 Vgl. dazu: Aeschbacher, sowie J. Tanner, Diskurse der Diskriminierung, S. 323–340. 87 Seit 1926 wurden etwa russische und galizische Juden aufgrund ihrer vermeintlichen »Rasse« nicht mehr eingebürgert. Vgl. dazu: Kury, Über Fremde reden, S. 186–191.

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stieg an.88 Zwar hatte der Bundesrat mit einem Kreisschreiben vom 25. September 1915 die Kantone zur Schriftenkontrolle von allen Ausländern aufgefordert, um die Einreise von schriften- und mittellosen Personen zu verhindern. Von der Zurückweisung an der Grenze waren die politischen und militärischen Flüchtlinge jedoch ausgenommen.89 Gleichzeitig nahmen die sozialen Spannungen, Klagen über »Kriegsgewinnler« und – nach der bolschewistischen Revolution im Oktober 1917 – die Angst vor sozialistisch motivierten Unruhen zu. Damit einher ging eine zunehmend fremdenfeindliche Stimmung in Presse und Bevölkerung. Unter dem Eindruck dieser Entwicklungen griff der Bundesrat im November 1917 für schweizerische Verhältnisse massiv in die Ausländerpolitik ein. Diese hatte bisher grundsätzlich in der Kompetenz der Kantone gelegen. Jetzt, im November 1917, unterstellte der Bundesrat die Grenzpolizei und die Kontrolle der Ausländer der Oberaufsicht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements und richtete zu diesem Zweck die Zentralstelle für Fremdenpolizei ein. Zur selben Zeit begann der Bundesrat das Schweizer Bürgerrecht zur Abwehr von Fremden einzusetzen, worauf auch die Neue Helvetische Gesellschaft als wichtigste Pressuregroup im Bereich des Bürgerrechts drängte.90 Die Neue Helvetische Gesellschaft war noch vor Ausbruch des Kriegs, am 1. Februar 1914, gegründet worden. Unter den Gründungsmitgliedern befanden sich Exponenten aus dem Kreis der »Hélvetistes«, insbesondere Gonzague de Reynold.91 Hauptzweck der Neuen Helvetischen Gesellschaft war die Interessenvertretung der Auslandschweizerinnen und -schweizer. Gleichzeitig stieg die Gesellschaft in den ersten drei Kriegsjahren mit zahlreichen politischen Aktivitäten, Publikationen, öffentlichen Vorträgen sowie dem eigenen Organ – den »Mitteilungen« – zur wichtigsten Plattform des frühen Überfremdungsdiskurses auf. Experten aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft wie Carl Alfred Schmid und Max Koller schlossen sich der Neuen Helvetischen Gesellschaft an. Nach 1917 bildete die Neue Helvetische Gesellschaft eine der wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen, die mit der Zentralstelle für Fremdenpolizei zusammenarbeitete.92 88 Die Niederlassungsverträge mit Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien besaßen zu diesem Zeitpunkt noch immer Gültigkeit. Während Frankreich den Niederlassungsvertrag mit der Schweiz im Jahr 1918 kündigte, wurden die Verträge mit Italien und Deutschland am 10. April 1919 von der Schweiz aufgekündigt. Gast, S. 185. Vgl. dazu: ebd., S. 23 und S. 367, Anmerkung 125. 89 Ebd., S. 24f. Zu einer Verschärfung der Aufenthalts- und Niederlassungsbedingungen kam es Ende 1917, ein vorübergehender Aufnahmestopp wurde im Mai 1918 angeordnet. Ebd., S. 26. 90 Nach dem Ersten Weltkrieg kamen radikalere Rechtsgruppen hinzu wie der bereits erwähnte Schweizerische Vaterländische Verband, der »Volksbund für die Unabhängigkeit der Schweiz« oder die »Republikaner«. Gast, S. 363, Anmerkung 47. 91 Wegelin, S. 9f. 92 BAR E 4800 1, -/3 Bd. 4, Vorträge, Referate, Heinrich Rothmund, Die Schweiz durch die Brille der Fremdenpolizei, S. 12.

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Schon am 16. Februar 1917 richtete die Geschäftsleitung der Neuen Helvetischen Gesellschaft ein Schreiben an den freisinnigen St. Galler Bundesrat Arthur Hoffmann, den damaligen Vorsteher des Politischen Departements. Darin forderte sie, dass der Bundesrat den Kantonen die Einbürgerungen während des Kriegs verbiete, bis ein neues Bürgerrechtsgesetz in Kraft getreten sei. Von dieser Regelung sollten die in der Schweiz geborenen oder aufgewachsenen Ausländer ausgenommen sein. Falls das Aussetzen der Einbürgerungen während des Kriegs nicht möglich sei, müssten die Gesuche derjenigen Personen bis zum Ende des Kriegs zurückgestellt werden, die erst nach Kriegsbeginn in die Schweiz gekommen waren.93 Der Antrag, ein entsprechendes Schreiben an den Bundesrat zu richten, war von einer Kommission der Ortsgruppe Baden ausgegangen. In der Delegiertenversammlung der Neuen Helvetischen Gesellschaft vom 16. und 17. Dezember 1916 in Basel hatte der Sprecher der Badener Kommission, Ingenieur Carrard, den Antrag begründet.94 In den Augen der Kommission sei es ein »folgenschwerer Fehler«, während des Kriegs Einbürgerungen vorzunehmen. Darin liege eine »grosse Gefahr des Missbrauchs unseres neutralen Namens und nach aussen eine Schädigung unserer moralischen und unserer Handelsinteressen. Dazu kommt, dass die Aufnahme von Refraktären oder gar Deserteuren einen unfreundlichen Akt gegen unsere Nachbarn bedeutet.« 95 Mit seiner Begründung brachte Carrard neue Argumente in die Diskussion um das Schweizer Bürgerrecht ein. So stünden die Einbürgerungen während des Kriegs im Widerspruch zur Neutralität der Schweiz und den schweizerischen Handelsinteressen. Worin dieser Widerspruch bestand und was mit den »moralischen Interessen« gemeint war, führte der Kommissionssprecher jedoch nicht aus. Hingegen machte Carrard deutlich, dass mit den vorgeschlagenen Maßnahmen vor allem die Einbürgerung von Refraktären und Deserteuren verhindert werden sollte, um sich gegenüber den benachbarten Ländern nicht als »unfreundlich« zu erweisen. Mit dem vorauseilenden Gehorsam machte sich 93 BAR E 21 20594, Einschränkung der Einbürgerung während des Krieges und in der Nachkriegszeit, Neue Helvetische Gesellschaft, Geschäftsleitung an Bundesrat Hoffmann, Chef des politischen Departements, Bern 16. Feb. 1917. 94 BAR E 21 20594, Einschränkung der Einbürgerung während des Krieges und in der Nachkriegszeit, Neue Helvetische Gesellschaft, Monatliche Mitteilungen, Januar-Februar 1917, Protokoll der Delegiertenversammlung vom 16. und 17. Dezember 1916 im Schützenhaus in Basel, S. 4. Möglicherweise handelte es sich bei Carrard um den damals noch jungen Ingenieur und späteren ETH-Professor Alfred Carrard (1889–1948). Außer dem Vorsitzenden Lichtenhahn der Gruppe Schaff hausen, der an der Delegiertenversammlung zusammen mit den Delegierten Barth, Baudat und Gautier das Sekretariat der Neuen Helvetischen Gesellschaft vertrat, sowie den beiden Protokollführern Fäh und Ludwig der Gruppe Basel nahmen insgesamt 21 Delegierte an der Versammlung teil. Die Namen von Carl Alfred Schmid, Max Koller oder von Mitgliedern der »Neunerkommission« finden sich nicht im Protokoll. 95 Ebd., S. 10.

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die Badener Kommission gegenüber den Krieg führenden Staaten in unnötiger Weise dienstbar; das Recht souveräner Staaten, Einbürgerungen vorzunehmen, wurde auch während des Kriegs nicht hinterfragt. So hatte beispielsweise der Zürcher Stadtrat noch im Jahr 1915 festgehalten: »Der Satz, es seien nur solche Angehörige der kriegführenden Staaten aufzunehmen, die vollständig aus der Wehrpflicht entlassen sind, entspricht keiner völkerrechtlichen Pflicht – weder einer Rechts-, noch einer Anstands- oder Höflichkeitspflicht.«96 Weiter argumentierte Carrard ebenso wie Max Koller und Carl Alfred Schmid mit der Unterscheidung in »assimilierbare« und »nicht-assimilierbare« Ausländer. Der Bundesrat habe mit der Förderung der Einbürgerung von »assimilierbaren« Ausländern der »rasch zunehmenden Ueberfremdung« vorbeugen wollen. Diese Maßnahme erachtete auch die Badener Kommission als notwendig, weil die »Aufnahme einer Menge unanpassungsfähiger Elemente … das grössere Uebel« sei. Gerade die Einbürgerung solcher »Elemente« wollte die Kommission »bekämpfen«.97 Im Namen der Badener Kommission stellte Carrard in der Delegiertenversammlung schließlich folgenden Antrag: »Die N.H.G. soll eine Delegation an den Bundesrat senden, der diesem unsern Standpunkt dartun und motivieren soll. Sie soll den Bundesrat ersuchen, von seinen Vollmachten Gebrauch zu machen, und das Nötige anzuordnen. Sollte der Bundesrat seine Mitarbeit verweigern, dann bliebe noch das Mittel einer Pressecampagne.«98 Die Delegierten der Neuen Helvetischen Gesellschaft stimmten mit 10 gegen 4 Stimmen dem Antrag zu und beschlossen, dass »die Geschäftsleitung mit einer Démarche beim Bundesrat beauftragt«99 werde. Die Geschäftsleitung der Neuen Helvetischen Gesellschaft hatte im Vorfeld der Delegiertenversammlung allerdings ihre Bedenken darüber geäußert, mit solchen Forderungen an den Bundesrat zu gelangen. Sie hätte es vorgezogen, »Material zu sammeln und zu publizieren«, um auf diese Weise »moralische[n] Druck« auf diejenigen Gemeinden auszuüben, die ihr Bürgerrecht gegen hohe Gebühren verkauften.100 Im Zuge des Kriegs war es öfter als bisher dazu gekommen, dass Gemeinden aus finanziellen Interessen das Bürgerrecht an begüterte Personen verkauften, obwohl diese nicht in der betreffenden Gemeinde lebten.101 96 Stadtarchiv Zürich V.B.a.13, Protokoll der bürgerlichen Abteilung des Stadtrates Zürich vom Jahre 1915, 10. März 1915, S. 54. 97 Alle Zitate: BAR E 21 20594, Einschränkung der Einbürgerung während des Krieges und in der Nachkriegszeit, Neue Helvetische Gesellschaft, Monatliche Mitteilungen, Januar-Februar 1917, Protokoll der Delegiertenversammlung vom 16. und 17. Dezember 1916 im Schützenhaus in Basel, S. 10. 98 Ebd. 99 Ebd., S. 11. 100 Beide Zitate: ebd., S. 10. 101 Gast, S. 46f., hat nachgewiesen, »dass die Zunahme der Einbürgerungen während der Kriegszeit hauptsächlich auf solche in ›teuren‹ Gemeinden entfielen«.

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Bundesrat Arthur Hoffmann, der Vorsteher des Eidgenössischen Politischen Departements, war nicht bereit, auf die Forderungen der Neuen Helvetischen Gesellschaft einzugehen. Zwar war die Zuständigkeit für die Regelung des Aufenthalts von Refraktären und Deserteuren in der Schweiz bereits im Jahr 1916 von den Kantonen an den Bund übergegangen. Mit dem Bundesratsbeschluss vom 30. Juni 1916 »betreffend die fremden Deserteure und Refraktäre« hatte der Bundesrat diese Personengruppe aber gegenüber den übrigen Ausländern besser gestellt: Die Militärflüchtlinge konnten nach dem Wortlaut des Bundesratsbeschlusses nur ausgewiesen werden, wenn sie sich »schwerer Verbrechen schuldig gemacht hatten.«102 Vor diesem Hintergrund leitete Bundesrat Hoffmann das Schreiben der Neuen Helvetischen Gesellschaft vom Februar 1917 mit folgendem Vermerk an seine Verwaltung weiter: »Das Begehren als solches ist abzuweisen, dagegen an Hand einer genauen Statistik u. der grundsätzlichen Entscheidungen die Unhaltbarkeit der Befürchtungen der N.H.G. darzutun.«103 Am 10. Mai 1917 erstattete das Politische Departement Bericht und unterbreitete dem Bundesrat die in Auftrag gegebene Statistik. Daraus ging Folgendes hervor: Im Zeitraum zwischen dem 1. August 1916 und dem 30. April 1917 hatten 3 352 Personen um eine Einbürgerungsbewilligung beim Bund nachgesucht. Von diesen Gesuchstellern waren lediglich 3 % nach Kriegsbeginn in die Schweiz gekommen. Dagegen waren 35,8 % der genannten 3 352 Personen in der Schweiz geboren und 39,3 % hatten schon vor Ausbruch des Kriegs während mindestens zehn Jahren ununterbrochen in der Schweiz gelebt.104 Auf der Grundlage dieser Zahlen kam das Politische Departement zum Schluss, dass es keinen Grund gebe, die Vermehrung der schweizerischen Staatsangehörigen auf dem bisherigen Weg der Einbürgerung zu erschweren.105 Die Statistik und der Bericht des Politischen Departements bestätigten Bundesrat Hoffmann in seiner ersten Reaktion. Und auch der Gesamtbundesrat kam in seiner Sitzung vom 18. Mai 1917 bei der Behandlung des Berichts des Politischen Departements zum Schluss, dass die Befürchtungen der Neuen

102 Ebd., S. 34. 103 BAR E 21 20594, Einschränkung der Einbürgerung während des Krieges und in der Nachkriegszeit, Neue Helvetische Gesellschaft, Geschäftsleitung an Bundesrat Hoffmann, Chef des politischen Departements, Bern 16. Feb. 1917. 104 Alle Angaben: BAR E 21 20594, Einschränkung der Einbürgerung während des Krieges und in der Nachkriegszeit, Extrait du Procès-Verbal de la séance du Conseil fédéral suisse, 18. Mai 1917, S. 4. 105 »Il n’existe donc aucune raison pour entraver l’augmentation des ressortissants suisses par le jeu normal des dispositions légales en vigueur sur la naturalisation.« BAR E 21 20594, Einschränkung der Einbürgerung während des Krieges und in der Nachkriegszeit, Schweizerisches Politisches Departement, Der Chef der Innerpolitischen Abteilung, Question des naturalisations, Rapport (10. Mai 1917), S. 4.

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Helvetischen Gesellschaft nicht begründet, ja geradezu »eingebildet«106 seien und der bisherigen Einbürgerungspolitik des Bundes zur Senkung des Ausländeranteils entgegenstünden. Deshalb teilte der Bundesrat der Geschäftsleitung der Neuen Helvetischen Gesellschaft mit, dass er nicht auf ihre Forderungen eingehen werde. Der Präsident der Neuen Helvetischen Gesellschaft, Gonzague de Reynold, dankte dem Bundesrat persönlich für die Antwort. Der Ton seines Schreibens war allerdings ein anderer als derjenige, den die Gruppe Baden in ihrem Antrag an der Delegiertenversammlung vom Dezember 1916 angeschlagen hatte. So betonte de Reynold, dass es der Neuen Helvetischen Gesellschaft mit ihrem Schreiben vor allem darum gegangen sei, den Gerüchten in der in- und ausländischen Öffentlichkeit über die Einbürgerung von Refraktären und Deserteuren ein Ende zu setzen.107 Von der angedrohten Pressekampagne war keine Rede mehr. Die vergeblichen Forderungen der Neuen Helvetische Gesellschaft im Mai 1917 und die Antwort des Bundesrats machen zwei Dinge deutlich: Zum einen besaßen die Vorschläge der »Neunerkommission« zur erleichterten Einbürgerung von Ausländern aus dem Jahr 1912 im Eidgenössischen Politischen Departement noch im Frühjahr 1917 uneingeschränkt Geltung. Für die bundesstaatliche Bürgerrechtspolitik bedeutet das, dass nicht der Ausbruch des Kriegs dazu geführt hatte, die Liberalisierungsbestrebungen im Bereich des Einbürgerungswesens mit der Erhöhung der Wohnsitzfrist oder der Aussetzung von Einbürgerungen während des Kriegs zu unterwandern. Zum anderen schien es zu jenem Zeitpunkt weder dem Gesamtbundesrat noch dem Politischen Departement angebracht zu sein, über die bisherigen Kriterien für die Bundesbewilligung hinaus zwischen verschiedenen Gruppen von Ausländern zu unterscheiden, etwa nach dem Zeitpunkt ihrer Einreise oder dem Kriterium der »Assimilierbarkeit«. Weder der frühe Überfremdungsdiskurs, zu dessen Verbreitung die Neue Helvetische Gesellschaft maßgeblich beitrug, noch Vorstellungen von einer kulturell definierten »schweizerischen Eigenart« prägten bis im Mai 1917 die Argumente und Entscheidungen der Landesregierung und ihrer Verwaltung. Dies sollte sich noch im selben Jahr ändern. Im Verlauf des Sommers 1917 führten die angespannte Versorgungslage, die enorme Teuerung, die reduzierten Löhne, die fehlende soziale Sicherheit sowie 106 »purement imaginaires«, BAR E 21 20594, Einschränkung der Einbürgerung während des Krieges und in der Nachkriegszeit, Extrait du Procès-Verbal de la séance du Conseil fédéral suisse, 18. Mai 1917, S. 5. 107 BAR E 21 20594, Einschränkung der Einbürgerung während des Krieges und in der Nachkriegszeit, Nouvelle Société Helvétique à Monsieur le Chancelier de la Conféderation Suisse, 22. Mai 1917. Gonzague de Reynold war zwischen 1914 und 1918 Chef des Vortragsbüros des schweizerischen Generalstabs. Später wurde er zum engen Vertrauten der Bundesräte Giuseppe Motta, Jean-Marie Musy und Philipp Etter. Gast, S. 363, Anmerkung 56.

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die spät einsetzende und schlecht organisierte Rationierung der Lebensmittel in weiten Teilen der Bevölkerung zu großen sozialen Problemen. In dieser Krisensituation begünstigten die so genannten »Lebensmittelwucherprozesse« und eine Zeitungskampagne gegen »Spekulantentum, Spionage und Schieberei«108 die ausländerfeindliche Stimmung in der Bevölkerung und leisteten dem Ruf nach Abwehr und Verschärfung der Grenzkontrolle Vorschub.109 An der Jahrestagung der Neuen Helvetischen Gesellschaft vom 29. und 30. September plädierte der renommierte Professor für Staatsrecht Fritz Fleiner dafür, dass der Bund nach Kriegsende die »Überfremdungsbekämpfung« in seine Kompetenz überführen solle.110 Zudem forderten die versammelten Gesellschaftsmitglieder vom Bundesrat, dass er Maßnahmen gegen eine zu starke Zuwanderung ergreife, das »Schiebertum« verhindere und »lästige« Ausländer ausweise.111 Nur fünf Tage nach der Oktoberrevolution in Russland erließ die Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements am 14. November 1917 einen Beschluss über die Behandlung von Deserteuren und Refraktären. Danach konnten Militärflüchtlinge ausgewiesen werden, wenn sie sich an »anarchistischen oder antimilitaristischen Umtrieben«112 beteiligten. Uriel Gast wertete diesen Beschluss der Polizeiabteilung als »symptomatisch« für die damals »akute Angst vor der ›sozialistischen Gefahr‹«.113 Angesichts der »als chaotisch empfundenen allgemeinen Lage«114 sah sich nun auch der Gesamtbundesrat zum Handeln veranlasst. Gestützt auf seine Vollmachten »betreffend Massnahmen zum Schutze des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität«115 erließ er am 17. November 1917 die »Verordnung betreffend Grenzpolizei und die Kontrolle der Ausländer«.116 Eine umfassende Kontrolle der einreisewilligen Ausländer und die Abwehr »unerwünschter« Personen an der Grenze sowie die statistische und polizeiliche Erfassung der ein- und ausreisenden Ausländer wurde angeordnet und der Oberaufsicht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements unterstellt. Dieses errichtete für seine neuen Aufgaben die Zentralstelle für Fremdenpolizei, um die Kontrolle der Grenze und der Ausländer während des Kriegs wirksam durchzuführen.117 Die Anregung zur Schaffung einer solchen Zentralstelle war 108 Gast, S. 28, vorhergehende Angaben: ebd. 109 Vgl. zum zunehmenden Einsatz von Identifikations- und Kontrolltechniken seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts: Noiriel, Die Tyrannei des Nationalen, Fahrmeir sowie Schwager. 110 Gast, S. 31. 111 Mitteilungen der Neuen Helvetischen Gesellschaft, Nr. 26, Okt./Nov. 1917, S. 4. Zitiert nach: Gast, S. 30. 112 Zitiert nach: Gast, S. 33. 113 Ebd. 114 Ebd. 115 Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1914, 4. Bd., S. 8f. 116 Frey. 117 Gast, S. 37.

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ursprünglich von Bundesrat Arthur Hoffmann ausgegangen, der schon im Jahr 1915 eine funktionierende Grenzkontrolle als »staatspolitische Notwendigkeit« erachtet hatte.118 Die »Verordnung betreffend Grenzpolizei und die Kontrolle der Ausländer« vom November 1917 stellt einen bedeutenden Wendepunkt in der schweizerischen Ausländerpolitik dar.119 Die Zentralstelle war zunächst nur als Provisorium gedacht, um die schwierige Lage während des Kriegs zu überbrücken. Dennoch bestand sie auch nach 1918 fort.120 Nach anfänglichen Legitimationsschwierigkeiten wurde ihr mit bundesrätlicher Verordnung vom 1. Dezember 1921 die Aufgabe der »Überfremdungsbekämpfung« überantwortet.121 Die Institution der schweizerischen Fremdenpolizei und der Überfremdungsdiskurs waren somit aufs Engste miteinander verknüpft. Chef der Polizeiabteilung im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement war seit 1919 der Strafrechtler Ernst Delaquis, zugleich Honorarprofessor an der Universität Bern. Ihm unterstand die Zentralstelle für Fremdenpolizei mit deren Leiter Heinrich Rothmund sowie durchschnittlich rund 25 bis 30 Beamten.122 Ernst Delaquis kann als eigentlicher »Doyen«123 der behördlichen »Überfremdungsbekämpfung« bezeichnet werden. Auch Heinrich Rothmund stellte seine Arbeit ganz in den Dienst der »Überfremdungsbekämpfung«. Im Jahr 1929 rückte er auf die Stabsstelle von Ernst Delaquis als Chef der Polizeiabteilung nach und blieb zugleich Chef der Fremdenpolizei. Den beiden obersten Schweizer Polizisten Delaquis und Rothmund stand der erste Adjunkt der Fremdenpolizei, der Anwalt Max Ruth, zur Seite; auch er ein eifriger Streiter gegen die »Überfremdung«. Schon am 23. November 1917, eine Woche nach dem Erlass der »Verordnung betreffend Grenzpolizei und die Kontrolle der Ausländer«, ermächtigte der Bundesrat das Politische Departement dazu, »die Bewilligung zur Einbürgerung in der Schweiz grundsätzlich denjenigen Refraktären zu verweigern, welche nach dem Beginn des Krieges in die Schweiz gekommen sind und hier vorher niemals ihren Wohnsitz hatten.«124 Eine Woche darauf, am 30. November 1917, beschloss das Politische Departement unter Bundesrat Gustave Ador, 118 Gast, S. 23 und S. 34. Nachdem Bundesrat Arthur Hoffmann am 18. Juni 1917 sein Amt nach einer politischen Affäre niedergelegt hatte, führte der Genfer Liberale, Gustave Ador, das Politische Departement bis Ende des Jahres 1917 weiter. Vgl. dazu: Ehinger sowie Walter. 119 Gast, S. 33f. 120 Ebd., S. 34. 121 Ebd., S. 16. 122 Im Jahr 1922 wurden die 140 Beamten, die bisher in der Zentralstelle beschäftigt gewesen waren, auf rund 50 und in den darauf folgenden Jahren auf 25 bis 30 Beamte reduziert. Ebd., S. 181. 123 Ebd., S. 70. 124 Aus den Verhandlungen des Bundesrates (1917), S. 675.

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die Wohnsitzfrist auf vier Jahre zu erhöhen. Dabei stützte sich der Bundesrat nicht auf seine Kriegsvollmachten, sondern auf eine eigenwillige Auslegung des Bundesgesetzes »betreffend die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe« vom 25. Juni 1903, was ihm nach Kriegsende mehrfach Kritik aus dem Parlament eintragen sollte.125 Noch zu Beginn des Jahres 1917 hatte der Bundesrat, insbesondere der damalige Chef des Politischen Departements, Arthur Hoffmann, Verschärfungen im Einbürgerungswesen strikte abgelehnt. Nun sah der Bundesrat im Umstand, dass die betreffenden Personen keinen Kriegsdienst in ihrem Heimatstaat leisten wollten, einen Grund für die Verweigerung der Bundesbewilligung für Einbürgerungen. In seinem Geschäftsbericht des Jahres 1917 hielt der Bundesrat fest: »Refraktären, welche vor dem Kriege nie in unserm Lande gewohnt haben, wird die Bewilligung zur Einbürgerung grundsätzlich verweigert. Indem dieselben nach Ausbruch der Feindseligkeiten ihren Heimatstaat verliessen, um den Folgen eines schon erhaltenen oder binnen kurzem erwarteten Marschbefehls zu entgehen, begingen sie eine Handlung, welche es gerechtfertigt erscheinen lässt, ihnen, wie den Deserteuren, während des Krieges unser Staatsbürgerrecht zu verschliessen.«126 Darüber hinaus begründete der Bundesrat die Erhöhung der Wohnsitzfrist mit quantitativen Argumenten: Seit dem Frühjahr 1917 habe die Bundesverwaltung wiederholt die Statistiken nachgeführt, »um über die vorauszusehende Vermehrung derjenigen Einbürgerungskandidaten, welche erst nach Kriegsausbruch in die Schweiz gekommen sind, fortwährend auf dem laufenden zu bleiben.«127 Die Zahl der Refraktäre unter den Einbürgerungskandidaten hatte laut Statistik im Geschäftsbericht des Bundesrats für das Jahr 1917 durchschnittlich 4,3 % ausgemacht. Zum Vergleich: Im Zeitraum zwischen dem 1. August 1916 und dem 30. April 1917 waren 3 % der Gesuchsteller nach Kriegsbeginn in die Schweiz gekommen.128 Um »einer weitern Vermehrung derjenigen Bewerber, welche erst seit Kriegsausbruch in der Schweiz wohnhaft sind«,129 vorzubeugen, habe sich der Bundesrat schließlich dazu entschlossen, die Wohnsitzfrist für Refraktäre auf vier Jahre heraufzusetzen. 125 Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1917, S. 22. Der Bundesrat argumentierte, dass die zweijährige Wohnsitzfrist »bloss eine Minimalbedingung festsetzt, und dass wir kraft der uns vom Gesetze verliehenen diskretionären Entscheidungsbefugnis berechtigt sind, von solchen Personen einen längern Aufenthalt zu fordern, bei denen auf Grund der tatsächlichen Verhältnisse die Absicht, sich dauernd in unserm Lande niederzulassen, nicht ohne weiteres vorausgesetzt werden kann.« Ebd. 126 Ebd., S. 22f. 127 Ebd., S. 21, folgende Angabe: ebd., S. 22. 128 BAR E 21 20594, Einschränkung der Einbürgerung während des Krieges und in der Nachkriegszeit, Extrait du Procès-Verbal de la séance du Conseil fédéral suisse, 18. Mai 1917, S. 4. 129 Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1917, S. 22.

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Die Ausführungen des Bundesrats über die Erhöhung der Wohnsitzfrist im Jahr 1917 geben kaum Aufschluss über die Motive für den plötzlichen Stimmungswandel. Gründe wie die angespannte gesellschaftliche und politische Lage im In- und Ausland während des Kriegsjahrs 1917 erwähnte er nicht. Anzunehmen ist aber, dass der personelle Wechsel im Politischen Departement nach dem Rücktritt von Bundesrat Arthur Hoffmann im Juni 1917 den Meinungsumschwung erleichtert hat. Neu leitete der liberale Genfer Bundesrat Gustav Ador bis Ende 1917 das Politische Departement.130 Möglicherweise hatten aber auch die Klagen über Refraktäre und Deserteure in der Presse sowie der Einbürgerungsstopp für Refraktäre und Deserteure in der Stadt Zürich und im Kanton Basel-Stadt Einfluss auf den Bundesrat ausgeübt.131 Oder teilte der Bundesrat schließlich doch die Haltung der Neuen Helvetischen Gesellschaft, dass es sich bei Refraktären und Deserteuren grundsätzlich um »unanpassungsfähige Elemente«132 handelte? Letzteres scheint eher nicht zuzutreffen. Im Geschäftsbericht des Bundesrates zum Jahr 1917 lassen sich weder nationalistische Äußerungen finden, noch war darin von der Vorstellung einer ethnisch-kulturell definierten »schweizerischen Eigenart« die Rede, an die sich die Bürgerrechtsbewerber zu »assimilieren« hatten. Den Anfang damit sollte innerhalb der Bundesverwaltung erst die Zentralstelle für Fremdenpolizei machen. Dennoch markierte die neue bundesrätliche Haltung gegenüber Refraktären und Deserteuren im Jahr 1917 einen Wendepunkt in der Einbürgerungspolitik des Bundes. Seither verschärften die Bundesbehörden bis ins Jahr 1952 zunehmend die Bedingungen für die Einbürgerung von Ausländern.

130 Vgl. zu Bundesrat Gustav Ador: Walter, S. 333–338. Vgl. zu Bundesrat Arthur Hoffmann: Ehinger, S. 300–305, sowie G. Arlettaz, Les effets, S. 174. 131 Im Kanton Basel-Stadt hatten der Regierungs- und Bürgerrat die Einbürgerungsgesuche von Refraktären und Deserteuren schon kurz nach Kriegsbeginn abgelehnt und die nach Kriegsausbruch eingegangenen Gesuche von diensttauglichen, aber noch nicht einberufenen Ausländern zurückbehalten. Vgl. dazu: StA BS Bürgergemeinde Basel Nr. 269, Bericht betreffend die Einbürgerung ausländischer Wehrpflichtiger während des europäischen Krieges vom 27. April 1915, sowie Kocher, S. 64–90. In Zürich hatte der Stadtrat am 5. Oktober 1917 entgegen seiner früheren Haltung beschlossen, Ausländer, die nach Kriegsausbruch nach Zürich gekommen waren, nicht in das Zürcher Bürgerrecht aufzunehmen. Vgl. dazu: Stadtarchiv Zürich V.A.a.20, Grosser Stadtrat Zürich (bürgerliche Sektion), Protokoll der Kommission für Prüfung der Bürgerrechtsgesuche, Amtsdauer 1916–19, 52. Sitzung, Freitag, den 5. Oktober 1917, Geschäft Nr. 649. 132 BAR E 21 20594, Einschränkung der Einbürgerung während des Krieges und in der Nachkriegszeit, Neue Helvetische Gesellschaft, Monatliche Mitteilungen, Januar-Februar 1917, Protokoll der Delegiertenversammlung vom 16. und 17. Dezember 1916 im Schützenhaus in Basel, S. 10.

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5. Das Bürgerrecht im Dienst der »Überfremdungsbekämpfung« »Kein Recht auf Einbürgerung« und »keine Einbürgerung ohne Assimilierung«.133 So lautete nach dem Ersten Weltkrieg die oberste Maxime der Bürgerrechtspolitik des Bundes. Im Dienst der »Überfremdungsbekämpfung« flankierte das Schweizer Bürgerrecht die neue restriktive Aufenthalts- und Niederlassungspolitik der 1917 geschaffenen Zentralstelle für die Fremdenpolizei. Das Bürgerrecht wurde nun hauptsächlich als Instrument genutzt, um die »schweizerische Eigenart« vor »unerwünschten Ausländern«, so genannten »Indésirables«,134 und fremden kulturellen Einflüssen zu schützen. Verschärfte Einbürgerungsbestimmungen, die Forderung nach kultureller »Assimilation«, die Ausrichtung der Einbürgerungspraxis an ethnischen, antisemitischen und teilweise rassischen Kriterien sowie der Wechsel der Bürgerrechtsabteilung vom Politischen Departement ins Justiz- und Polizeidepartement im Jahr 1926 waren Ausdruck davon. Dabei richtete sich die Abwehr in erster Linie gegen die jüdischen Einwanderer aus dem Osten. Gleichzeitig – und dies scheint angesichts der genannten Restriktionen paradox – galt im Bundesrat noch immer der Grundsatz der »Neunerkommission« aus dem Jahr 1912, dass die Zahl der Ausländer in der Schweiz durch die Zwangseinbürgerung der zweiten Einwanderergeneration zu reduzieren sei. Obwohl die Zahl der Ausländerinnen und Ausländer während des Kriegs um mehr als ein Fünftel zurückgegangen war (im Jahr 1910 lebten 552 000 ausländische Personen in der Schweiz, im Jahr 1920 waren es noch 402 000 Ausländerinnen und Ausländer),135 galt die Schweiz als »überfremdet«. Die Zahl der Ausländerinnen und Ausländer war hauptsächlich aufgrund der Rückkehr in die Heimatländer und der Verdoppelung der Einbürgerungsziffer während des Kriegs gesunken.136 Zwar lagen um 1920 noch keine genauen Zahlen vor, doch den Behörden war bewusst, dass die ausländische Wohnbevölkerung stark zurückgegangen war. Schließlich setzten die bundesstaatlichen Behörden mit der Unterstützung von Vertretern aus Kantonen und privaten Organisationen die Bemühungen der »Neunerkommission« fort, das »ius soli« einzuführen. Nach langen Debatten fand dieses im Jahr 1928 Eingang in die Verfassung – allerdings nur in verwässerter Form. Die nur scheinbar gegenläufigen Entwicklungen sind Gegenstand der nachfolgenden Kapitel. 133 Beide Zitate: Rothmund, S. 333. Vgl. dazu: Gast, S. 200–203. 134 Delaquis, Im Kampf, S. 55. 135 Ritzmann-Blickenstorfer, S. 146. 136 Die Einbürgerungsziffer betrug während der Kriegsjahre durchschnittlich 1,68 % (9 275 Personen pro Jahr), zwischen 1911 und 1913 durchschnittlich 0,87 % und zwischen 1901 und 1910 jährlich 0,62 %. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Abänderung von Art. 2, Absatz 1, des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1903 über die Erwerbung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, vom 28. Juni 1919, S. 227.

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6. Die Erhöhung der Wohnsitzfrist im Jahr 1920 Zwei Jahre nach Kriegsende, am 26. Juni 1920 erließ der schweizerische Gesetzgeber das Bundesgesetz »betreffend Abänderung von Art. 2 des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1903«.137 Die bisherige Wohnsitzfrist für Einbürgerungen von Ausländerinnen und Ausländern wurde von zwei beziehungsweise von vier auf sechs Jahre erhöht. Der revidierte Artikel 2 hielt fest, dass die Bundesbewilligung an Bewerberinnen und Bewerber erteilt werden kann, die während der vergangenen zwölf Jahre insgesamt sechs Jahre tatsächlich in der Schweiz gewohnt hatten. Zudem mussten die Bürgerrechtsbewerber in den beiden Jahren vor der Gesuchseinreichung ihren tatsächlichen Wohnsitz in der Schweiz gehabt haben. Für ausländische Personen, die während ihrer Kindheit und Jugend, das heißt bis zur Vollendung des 20. Lebensjahrs, während insgesamt 10 Jahren in der Schweiz gelebt hatten, galt eine verkürzte Wohnsitzfrist von drei Jahren innerhalb der letzten fünf Jahre vor Gesuchseinreichung.138 Die Gesetzesrevision kam einer Verschärfung der bisherigen Einbürgerungsbedingungen für die erste Einwanderergeneration gleich. Der Bundesrat und die parlamentarischen Räte erachteten diesen Schritt als notwendig, obwohl für sie wie vor Kriegsbeginn der Grundsatz galt, dass die Einbürgerung von Ausländern zu erleichtern sei, um der »Überfremdung« entgegenzuwirken. In seiner Botschaft »an die Bundesversammlung betreffend Abänderung von Art. 2, Absatz 1, des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1903« von 1919 erläuterte der Bundesrat die Erhöhung der Wohnsitzfrist. Die Landesregierung erkenne das Ziel der schweizerischen Einbürgerungspolitik grundsätzlich darin, »die Anpassung der 552 000 in der Schweiz niedergelassenen Ausländer an unsere nationale Eigenart anzubahnen und einer stetigen Überfremdung des Landes vorzubeugen.«139 Mit der Formulierung »Anpassung an unsere nationale Eigenart« wird deutlich, dass nicht allein präventive Maßnahmen gegen eine quantitative »Überfremdung« gemeint waren. Vielmehr sollte der »Überfremdung« auch in einem qualitativen Sinn entgegengewirkt werden. Zu diesem Zweck setzte der Bundesrat auf eine dreifache Strategie. Die Ausländerinnen und Ausländer sollten erstens durch eine verschärfte Einbürgerungsnorm, vor allem durch die Erhöhung der Wohnsitzfrist, davor ab137 Bundesgesetz betreffend Abänderung von Art. 2 des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1903 über die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 26. Juni 1920. 138 Ebd., Art. 2. 139 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Abänderung von Art. 2, Absatz 1, des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1903 über die Erwerbung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, vom 28. Juni 1919, S. 226. Die Zahl von 522 000 Personen beruhte auf der Volkszählung von 1910.

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geschreckt werden, in die Schweiz einzureisen. Zudem sollte eine erhöhte Wohnsitzfrist die Einbürgerung von Personen verhindern, »die nur daran denken, im Schutze unserer Staatsangehörigkeit Geschäfte zu machen.«140 Zweitens sollten es die verschärften Bedingungen ermöglichen, die Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern zu erschweren, die während des Kriegs in die Schweiz eingereist waren »und hierzu meist durch Erwägungen wirtschaftlicher und finanzieller Art veranlasst worden sind.« Es sei nämlich nicht davon auszugehen, dass bei solchen Personen eine »wahre Zuneigung« zur Schweiz bestehe. Das gleiche gelte für Gesuche von »Kaufleuten«, die »ausschliesslich durch Erwägungen wirtschaftlicher Natur« gestellt würden. Der Bundesrat wiederholte denn auch mehrfach, dass es die Einbürgerungen »rein opportunistischen Charakters« zu verhindern gelte.141 Eine dritte Maßnahme bestand für den Bundesrat schließlich darin, die in der Schweiz geborenen und lange hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer durch die Einführung der Zwangseinbürgerung in die nationale Gemeinschaft zu integrieren. Diese Gruppe von Ausländern könne als »assimiliert« bezeichnet werden. Sie hätten sich, so der Bundesrat, »die Grundgedanken unseres staatlichen Lebens zu eigen gemacht und mit ihrer Arbeit an dem wirtschaftlichen Leben der Schweizer teilgenommen …« Die Einbürgerung stellte nun also nicht mehr einen Schritt auf dem Weg zur Assimilation dar. Vielmehr war die Assimilation zur nicht hinterfragbaren Voraussetzung für eine Einbürgerung in der Schweiz geworden. »Assimilation« bedeutete für den Bundesrat eine »ernstliche und aufrichtige Anpassung an die schweizerische Eigenart«.142 Was der Bundesrat unter der »schweizerischen Eigenart« verstand, blieb allerdings im Verborgenen. Die Einführung der Zwangseinbürgerung, das heißt eines »ius soli« ohne Optionsrecht, machte in den Augen des Bundesrats eine Verfassungsrevision und die Totalrevision des Bundesgesetzes aus dem Jahr 1903 notwendig. Zu diesem Zweck hatte der Bundesrat bereits eine Expertenkommission eingesetzt. Da eine Verfassungsänderung nach der Meinung des Bundesrats jedoch mehrere Jahre dauern würde, entschloss er sich dazu, zuerst nur die Wohnsitzbedingung in einer Partialrevision des Gesetzes aus dem Jahr 1903 neu zu regeln. Angesichts der »stets wachsenden Zahl der Ausländer in der Schweiz« (der Bundesrat bezog sich noch immer auf die Zahlen der Volkszählung aus dem Jahr 1910) sei eine »Neuregelung dieser Materie gegenwärtig von besonderer Dringlichkeit«.143 Die Erhöhung der Wohnsitzfrist für Ausländerinnen und Ausländer der ersten Einwanderergeneration entsprach den beiden ersten vom Bundesrat ins Auge gefassten Strategien: der Abschreckung von »uner140 141 142 143

Ebd., S. 230f. Alle Zitate: ebd. Alle Zitate: ebd., S. 226. Ebd., S. 225f.

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wünschten« Ausländerinnen und Ausländern und der Ablehnung ihrer Einbürgerungsgesuche. Dass der Bundesrat die Wohnsitzfrist ausgerechnet auf sechs Jahre erhöhen wollte, war kein Zufall. Damit sollte die erstmals mit dem Bundesratsbeschluss vom 30. November 1917 vorgenommene Unterscheidung zwischen Ausländern, die schon vor dem Krieg in der Schweiz gewohnt hatten, und Ausländern, die erst nach Kriegsausbruch in die Schweiz gekommen waren, gesetzlich verankert werden. Die pauschalen Werturteile über die nach dem Einreisedatum unterteilten Gruppen von Ausländern, die der Bundesrat in seiner Botschaft zur Durchsetzung seines Vorhabens vorbrachte, verweisen auf eine neue, in Teilen xenophobe Haltung der Landesregierung gegenüber der ausländischen Wohnbevölkerung. Diejenigen Ausländer, die schon vor dem Ersten Weltkrieg in der Schweiz gelebt hatten, zeichneten sich in den Augen des Bundesrats allesamt dadurch aus, dass »sie sich die Grundgedanken unseres staatlichen Lebens zu eigen gemacht und mit ihrer Arbeit an dem wirtschaftlichen Leben der Schweiz teilgenommen haben.«144 Der Direktor der Zürcher Fremdenpolizei, Hans Frey, hatte diese Gruppe von Ausländern gar als die »guten fremden Elemente«145 bezeichnet. Doch gerade zahlreiche dieser in der Schweiz geborenen und aufgewachsenen Ausländer, so der Bundesrat, hätten die Schweiz bei Kriegsbeginn verlassen müssen, »um ihre militärischen Pflichten gegenüber ihren Heimatstaaten zu erfüllen.« An ihrer Stelle seien »fremde Elemente von weniger sesshafter Art ins Land [gekommen], die gewöhnlich keine nähern Beziehungen zur schweizerischen Bevölkerung und Eigenart eingehen.« Deshalb habe der Bundesrat schon während des Kriegs folgenden Personengruppen die Einbürgerungsbewilligung verweigert: »den Deserteuren, denjenigen Refraktären, welche vor Kriegsausbruch nie in der Schweiz gewohnt hatten, den Ketten- und Schleichhändlern und Kriegsspekulanten jeder Art, sowie denjenigen, welche … in einen Spionagehandel verwickelt waren.«146 Die »guten Ausländer« erfüllten also ihre staatsbürgerlichen Pflichten im Heimatstaat und hatten sich den schweizerischen Verhältnissen angepasst. Die »schlechten Ausländer« dagegen vernachlässigten ihre staatsbürgerlichen Pflichten, waren weniger sesshaft, besaßen »keine nähern Beziehungen zur schweizerischen Bevölkerung und Eigenart«, trieben unlautere Geschäfte oder waren sogar Spione. Ob der Bundesrat mit seinem Hinweis auf die »Ketten- und Schleichhändler und Kriegsspekulanten« bewusst eine assoziative Brücke zwischen

144 Ebd., S. 226. 145 Frey, S. 5. Vgl. zur Deutung der während des Kriegs ausgewanderten »guten Ausländer« und der eingewanderten »schlechten Ausländer«: G. Arlettaz, Les effets, S. 167. 146 Alle Zitate: Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Abänderung von Art. 2, Absatz 1, des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1903 über die Erwerbung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, vom 28. Juni 1919, S. 228.

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Kriminellen und jüdischen Immigranten aus Osteuropa schlagen wollte, die oft im Kleinhandel tätig waren, muss dabei offen bleiben. Im Parlament stieß der Entwurf des Bundesrats zur Revision von Artikel 2 des Bundesgesetzes von 1903 auf Opposition. Nachdem der Ständerat in der Dezembersession des Jahrs 1919 zwar einstimmig auf die Vorlage eingetreten war, wurde kritisiert, dass damit die bevorstehende Totalrevision der gesetzlichen Bestimmungen zum Bürgerrecht in eine bestimmte Richtung gelenkt würde. So war der Zürcher freisinnige Ständerat Oskar Wettstein der Meinung: »Diese Novelle präjudiziert eben doch die ganze Bürgerrechtsfrage.« In der Frage der Einbürgerung von Ausländern fänden »ausserordentliche starke Schwankungen« statt, gab Wettstein zu bedenken. Bis vor dem Krieg seien weite Kreise davon überzeugt gewesen, dass man die Einbürgerung möglichst erleichtern müsse. Doch jetzt sei »die Reaktion da; man möchte die Einbürgerung möglichst erschweren.« Daher sei es in »einer so heiklen Frage wie der Bürgerrechtserteilung … überaus gefährlich …, in solchen Zeiten schwankender Gefühle dauernd gesetzliche Bestimmungen aufzustellen.« Zudem sei die Vorlage zu »wenig abgeklärt«, es könne doch nicht der Fall sein, dass auch bei Ehreneinbürgerungen und Bürgerrechtsschenkungen eine sechsjährige Wohnsitzfrist gelten soll. Es sei keine »Gefahr in Verzug«, der Bundesrat müsse nochmals über die Vorlage beraten.147 Bundesrat Felix Ludwig Calonder (1866–1952) beantwortete Ständerat Wettsteins Einwände mit dem Topos der »Assimilation«. Calonder betonte: Es sei ein Nachteil, Ausländer in den schweizerischen Staatsverband aufzunehmen, die erst vor kurzer Zeit eingereist sind und »sich in keiner Weise unserm Volkstum assimiliert« haben. Der Bundesrat sei davon überzeugt, dass man das schweizerische Bürgerrecht nicht durch die Einbürgerung solcher Personen »wegwerfen« darf. Dies gelte auch für den Fall von Bürgerrechtsschenkungen. Auch diese Ausländer müssten »das Schweizervolk, seine Sitten, seine Denkart, und namentlich auch seine politischen Anschauungen kennen lernen«, bevor sie eingebürgert werden.148 Auf die Replik von Felix Ludwig Calonder meldete sich der freisinnige Schwyzer Ständerat Beat Heinrich Bolli zu Wort. Er kritisierte den Bundesrat und warnte vor den »reaktionären Strömungen«, die seiner Ansicht nach im Politischen Departement auszumachen seien: Man dürfe sich »bei den heute etwas stark reaktionären Strömungen und Stimmungen, die wie es scheint, namentlich im Politischen Departement sich geltend machen …, nicht überrumpeln lassen … Wir wollen uns nicht mit einer chinesischen Mauer umgeben, 147 Alle Zitate: Ständerat Oskar Wettstein, Amtliches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, Januar 1919, Novelle zum Bürgerrechtsgesetz, 2. Dezember 1919, Ständerat, S. 639f. 148 Alle Zitate: Bundesrat Felix Ludwig Calonder, ebd., S. 641f.

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sondern wir haben allen Anlass, unser Land offen zu halten, und gerade hier ist ein Gebiet, das Gelegenheit dazu gibt. Ich würde es bedauern, wenn man bei der heutigen deprimierten Stimmung, die man, wie gesagt, fast als reaktionär bezeichnen kann, Gelegenheit nähme, allzu ausschliesslich zu sein.«149 Bundesrat Calonder, Vorsteher des Politischen Departements, ließ diese Anschuldigung nicht auf sich sitzen. Er fragte: »Ist derjenige ein Reaktionär, der die Forderung vertritt, die Schweiz solle nach so vielen bitteren Erfahrungen mit der bisherigen faulen Einbürgerungspolitik entschlossen aufräumen? In diesem Sinne stelle ich die Frage, ob reaktionär oder fortschrittlich. – Ich halte die Vorlage für einen grossen Fortschritt.«150 Möglicherweise überzeugten Bundesrat Calonders Argumente und die verwendeten Topoi wie »Assimilation« an das »Volkstum«, das »Wegwerfen« des Bürgerrechts und die Notwendigkeit, mit der »faulen Einbürgerungspolitik entschlossen aufzuräumen«. Auf jeden Fall wurde der Antrag von Ständerat Wettstein, bei Bürgerrechtsschenkungen eine Wohnsitzfrist von drei statt sechs Jahren festzusetzen, mit einer Zweidrittelmehrheit abgelehnt.151 In der nationalrätlichen Aprilsession 1920 wurden ähnliche Bedenken laut wie im Ständerat. Auch der neue Vorsteher des Politischen Departements, der katholisch-konservative Tessiner Bundesrat Giuseppe Motta (1852–1940), musste sich den Vorwurf gefallen lassen, dass ein »Gelegenheitsgesetzlein«152 verabschiedet werden sollte und im Politischen Departement eine reaktionäre Stimmung vorherrsche. So ging der sozialdemokratische Thurgauer Nationalrat Otto Höppli grundsätzlich davon aus, dass die Revisionsvorlage nichts anderes sei »als ein reaktionärer Anschlag« des Politischen Departements, der »unter der Herrschaft des Herrn Calonder erfolgt« sei.153 Die Kommissionsminderheit, deren Berichterstatter Höppli war, lehne das Eintreten auf die Vorlage ab. Der Grund dafür sei, dass Artikel 2 des Bundesgesetzes von 1903 schon im Jahr 1917 auf vier Jahre heraufgesetzt wurde. Zwar sei dies nicht durch eine Gesetzesrevision aufgrund der außerordentlichen Vollmachten des Bundesrates geschehen, sondern »auf eine andere ganz merkwürdige Art von staatsrechtlicher Interpretation«. Alt Bundesrat Calonder habe im Ständerat »diese neueste Staatsrechtslehre« entwickelt, vor der einem »bange« werde.154 Das stritt selbst Bundesrat Motta nicht ab. Er reagierte souverän auf die Kritik und gab zu, dass der Bundesrat im Jahr 1917 nicht absolut sicher gewe-

149 Ständerat Beat Heinrich Bolli, ebd., S. 644. 150 Bundesrat Felix Ludwig Calonder, ebd. 151 Ebd., S. 646. 152 Nationalrat Otto Höppli, Amtliches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, April 1920, Novelle zum Bürgerrechtsgesetz, 23. April 1920, Nationalrat, S. 327. 153 Beide Zitate: Nationalrat Otto Höppli, ebd., S. 328. 154 Alle Zitate: Nationalrat Otto Höppli, ebd., S. 326.

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sen sei, ob seine Sichtweise gesetzes- oder verfassungskonform wäre.155 Doch gerade deshalb habe der Bundesrat damals seine Interpretation den parlamentarischen Räten im Bericht über die Geschäftsführung des Bundesrats unterbreitet, worauf allerdings kein Einwand laut geworden sei.156 Trotz der Kritik Höpplis trat der Nationalrat mit 85 gegen 36 Stimmen auf die Vorlage ein.157 Während der Debatten im Stände- und Nationalrat brachten Bundesrat Felix Ludwig Calonder und Bundesrat Giuseppe Motta mehrfach die Topoi der »Überfremdung«, der »Assimilation« und der »schweizerischen Gesinnung« sowie der »grossen Gefahr«, die von den Ausländern ausgehe, in die Diskussion ein. Bundesrat Motta hielt beispielsweise fest, dass eine »große Gefahr« bestehe. Deshalb hätten die Schweizer die Pflicht, so viele Ausländer wie möglich zu »assimilieren«, während diejenigen ferngehalten werden sollten, die »gar nicht assimilierbar« seien, all jene also, die dem »Einfluss der schweizerischen Institutionen« und des »schweizerischen Geistes« nicht erlegen seien.158 »Überfremdungsbekämpfung« war für Bundesrat Motta allerdings kein Selbstzweck, sondern vielmehr ein Mittel, um die Einheit der Schweiz nicht noch mehr zu gefährden – erinnert sei etwa an die Zerreißprobe des Landesgeneralstreiks im November 1918 oder an den Gegensatz zwischen den verschiedenen Sprachgebieten der Schweiz. Die zentrale Frage lautete für Giuseppe Motta daher nicht, wie die Ausländer zu integrieren oder auszuschließen seien. Seine Aufmerksamkeit galt vielmehr der Frage, wie die Zerrissenheit des Landes nach dem Krieg überwunden werden könne, damit die Bevölkerung und das Land regierbar blieben. So war er der Überzeugung, es sei notwendiger denn je, sich gegenseitig zu verstehen und nicht die »Rasserivalitäten« und die »Rivalitäten der Sprachen« zu verstärken. Nicht nur die auseinander strebenden Kräfte müssten in der Schweiz entwickelt werden, sondern auch die »moralischen Kräfte«, die »ins Zentrum streben«.159 Bundesrat Motta versicherte den Nationalräten und wohl besonders den Zentralisierungsgegnern unter ihnen, dass seine Forderung nichts mit der Frage nach der politischen Organi155 Die Äußerungen des Bundesrats im Jahr 1917 hinterlassen einen anderen Eindruck. Vgl. dazu: Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1917, S. 22, sowie die Ausführungen im Kapitel »1917 – Jahr des Umbruchs«. 156 »Ceux-ci [les Conseils législatifs] examinèrent l’interprétation du Conseil fédéral et ils ne soulevèrent aucune opposition au moins explicite.« Bundesrat Giuseppe Motta, Amtliches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, April 1920, Novelle zum Bürgerrechtsgesetz, 23. April 1920, Nationalrat, S. 330. 157 Ebd., S. 333. 158 »Il y a un grand danger. Voilà pourquoi nous avons le devoir d’assimiler le plus grand nombre possible d’étrangers en écartant de la Suisse tous ceux qui ne sont point assimilables, tous ceux qui n’ont pas subi l’emprise de nos institutions et de notre esprit.« Ebd., S. 331. 159 »… en Suisse nous avons besoin plus que jamais de nous comprendre les uns et les autres et de ne pas aiguiser les rivalités de race et de langues. Nous devons développer dans notre pays non pas les forces centrifuges, mais les forces morales qui tendent au centre …« Ebd.

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sation des Landes zu tun habe. Er spreche nur von dem, was er als die »moralische Organisation des Landes« bezeichnen möchte. Und gerade die Anwesenheit der so unterschiedlichen »ausländischen Elemente« vermehre die Ursachen für die »Unstimmigkeit und Rivalität sogar unter den Kindern des Landes«.160 Der Zerrissenheit des Landes stellte Bundesrat Motta den gemeinsamen Kampf gegen die »Überfremdung« entgegen, damit die Schweiz als »moralische« Einheit zusammenfinde. So diente die »Überfremdungsbekämpfung« für Bundesrat Motta nicht allein der schweizerischen Fremdenabwehr, sondern auch als ein Instrument zur Kohäsion des Landes, in einer Zeit notabene, in der das Vertrauen der Bevölkerung in das Regierungshandeln des Bundesrats und seiner neuerdings protektionistischen Politik erst noch geschaffen werden musste. Entgegen der Behauptung von Bundesrat Motta, der Kampf gegen die »Überfremdung« sei notwendig, weil die Ausländer den Zusammenhalt der Schweiz zusätzlich schwächen würden, ist daher festzuhalten: Gerade der Kampf gegen die »Überfremdung« war dazu da, um die Bevölkerung in ihrer Zerrissenheit zwischen den Landesteilen, den politischen Lagern, den sozialen Schichten und den Geschlechtern zu einen und auf diese Weise regierbar zu machen. Bundesrat Giuseppe Motta war mit seinem Plädoyer erfolgreich. Während der parlamentarischen Debatten von 1919 und 1920 verflüchtigte sich der Widerstand gegen die Erhöhung der Wohnsitzfrist und gegen das Politische Departement zunehmend. So wurde die Revisionsvorlage zur Erhöhung der Wohnsitzfrist auf sechs Jahre für die Einbürgerung von Ausländern der ersten Generation am 27. April 1920 vom Nationalrat mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen.161 Im Ständerat herrschte in der Schlussabstimmung vom 26. Juni 1920 sogar Einstimmigkeit.162 Fast scheint es, als habe sich die von Bundesrat Motta beschworene »moralische Organisation des Landes« bereits auf die Vertreter der Kantone übertragen.

160 »… cela, bien entendu, n’a rien à faire avec la question de l’organisation politique. Je ne parle que de ce que je voudrais définir l’organisation morale du pays. Or, la présence d’éléments étrangers groupés et organisés sur des points différents et opposeés est une des causes qui stimulent, qui multiplient, qui enflamment les causes de désaccord et de rivalité même entre les enfants du pays.« Ebd. 161 Amtliches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, April 1920, Novelle zum Bürgerrechtsgesetz, 27. April 1920, Nationalrat, S. 338. 162 Ebd., Ständerat, S. 307.

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7. »Überfremdungsbekämpfung« von unten: Die erste »Ausländerinitiative« Während das Bundesparlament zu Beginn des Jahres 1920 über die Erhöhung der Wohnsitzfrist bei der Einbürgerung von Ausländern debattierte, blieben auch die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen, die sich die schweizerische Fremdenabwehr auf die Fahnen geschrieben hatten, nicht untätig. Noch im Frühjahr 1920 überreichte ein bürgerlich-konservatives Initiativkomitee aus dem Kanton Aargau dem Bundesrat die erste so genannte »Ausländerinitiative« mit rund 60 000 Unterschriften.163 Das Initiativkomitee wurde von verschiedenen Vereinen und Verbänden unterstützt, so etwa von der Neuen Helvetischen Gesellschaft, dem Schweizerischen Vaterländischen Verband, der »Aargauischen Vaterländischen Vereinigung« sowie den Vereinen »Pilori« und »Schweizerbanner«. Auch die einflussreiche »Neue Zürcher Zeitung« sprach sich für die Initiative aus.164 Das Initiativbegehren enthielt zwei Artikel, von denen der erste Maßnahmen im Bereich des Bürgerrechts und der zweite Maßnahmen im Bereich des Ausschaffungsrechts vorsah. Mit dem ersten Artikel sollte die Wohnsitzfrist der Einzubürgernden auf zwölf Jahre erhöht werden – eine doppelt so hohe Wohnsitzfrist wie diejenige, die im selben Jahr 1920 gesetzlich verankert wurde – bei gleichzeitiger Einführung des »ius soli« für in der Schweiz geborene und aufgewachsene Ausländer. Weiter forderte die Initiative, dass die Neubürger nur dann das passive Wahlrecht erlangen sollten, wenn sie zwischen ihrem fünften Lebensjahr und dem Jahr ihrer Volljährigkeit ununterbrochen zwölf Jahre lang in der Schweiz gelebt hatten.165 Mit dem zweiten Artikel beabsichtigte das Initiativkomitee, dem Bund die Pflicht aufzuerlegen, »Ausländer, welche die innere oder äußere Sicherheit der Eidgenossenschaft oder die Wohlfahrt des Schweizervolkes gefährden, aus dem Gebiete der Schweiz wegzuweisen.« Als »Gefährdung« galten nach dem Wortlaut der Initiative »insbesondere die Teilnahme an verfassungswidrigen 163 BAR E 22 512, Bundesbeschluss vom 21.10.1921 betr. die Ausländerinitiative (Aenderung der Artikel 44, Einbürgerung und Art. 70, Ausweisung, der Bundesverfassung), Verschiedenes betr. die Ausländerinitiative, besonders Frage betr. die Gültigkeit der Doppelinitiative; 20. August 1920: Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des schweizerischen Bundesrates, Ausländerinitiative, S. 1. Vgl. dazu: Garrido sowie G. Arlettaz/S. Arlettaz. 164 Neue Zürcher Zeitung, 8. Juni 1922. 165 Alle Angaben: BAR E 22 512, Bundesbeschluss vom 21.10.1921 betr. die Ausländerinitiative (Aenderung der Artikel 44, Einbürgerung und Art. 70, Ausweisung, der Bundesverfassung), Verschiedenes betr. die Ausländerinitiative, besonders Frage betr. die Gültigkeit der Doppelinitiative; 20. August 1920: Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des schweizerischen Bundesrates, Ausländerinitiative, S. 1.

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Umtrieben oder an politischen Unternehmungen, welche die guten Beziehungen der Schweiz zu auswärtigen Staaten zu stören geeignet sind sowie auch eine wirtschaftliche Betätigung, die gegen Treu und Glauben im Verkehr verstösst und die allgemeinen Interessen der schweizerischen Volkswirtschaft verletzt.«166 Obwohl die Initianten genügend gültige Unterschriften für ihr Begehren gesammelt hatten, war die Initiative nicht gesetzeskonform; gemäß der schweizerischen Bundesverfassung durften verschiedenen »Materien« nicht in ein- und derselben Initiative zur Abstimmung gelangen. So entspann sich in der Sitzung des Bundesrats vom 20. August 1920 eine längere Diskussion über die Gültigkeit der Aargauer »Ausländerinitiative«. Obwohl selbst der Bundesrat davon überzeugt war, dass die Initiative von einem rechtsstaatlichen Standpunkt aus betrachtet gegenstandslos war, erklärte er sie nicht für ungültig.167 Hingegen stellte der Bundesrat im Parlament den Antrag, das Zustandekommen der »Ausländerinitiative« als gegeben zu erachten und sie dem Stimmvolk in zwei voneinander gesonderten Initiativen zu unterbreiten.168 Sowohl der Nationalrat als auch der Ständerat stimmten dem bundesrätlichen Antrag zu; das grundsätzlich rechtswidrige Handeln des Bundesrats wurde dieses Mal nicht wie im Jahr 1917 stillschweigend, sondern per Mehrheitsbeschluss des Parlaments gutgeheißen.169 Trotz der Unterstützung namhafter Vereine wurde die Doppelinitiative in der Volksabstimmung vom 11. Juni 1922 deutlich verworfen. Mit 347 988 Nein-Stimmen zu 65 828 Ja-Stimmen brachten die Gegner die Initiative zu Fall. Zudem hieß kein Kanton die Vorlage gut.170 Das Parlament und der Bundesrat hatten die Initiative schließlich doch als zu radikal eingestuft. Die Haltung des Bundesrats war allerdings ambivalent gewesen. Während er die Vorschläge der Initiative im Bereich des Bürgerrechts als »zu unbestimmt«, »zu weitgehend« und als »völlig unannehmbar« bezeichnet hatte, war er der Ausweitung seiner Befugnisse im Bereich der Ausschaffung von Ausländern nicht

166 Beide Zitate: ebd., S. 1f. 167 Ebd., S. 6f. 168 Ebd., S. 10f. 169 BAR E 22 512, Bundesbeschluss vom 21.10.1921 betr. die Ausländerinitiative (Aenderung der Artikel 44, Einbürgerung und Art. 70, Ausweisung, der Bundesverfassung), Verschiedenes betr. die Ausländerinitiative, besonders Frage betr. die Gültigkeit der Doppelinitiative; Der schweizerische Ständerat an den schweizerischen Bundesrat in Bern: Bundesbeschluss nach der Behandlung im Ständerat (16. Dezember 1920) und der Behandlung im Nationalrat (28. Januar 1921), Ausländerinitiative, Erwahrung. 170 Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Ergebnis der eidgenössischen Volksabstimmung vom 11. Juni 1922 betreffend die Volksbegehren um Revision der Art. 44, 70 und 77 der Bundesverfassung, vom 14. Juni 1922, S. 871.

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abgeneigt gewesen.171 In seinem Bericht über die »Ausländerinitiative« vom 6. Juni 1921 hatte er dazu festgehalten: »Der Bundesrat ist mit den Neuerungen des Volksbegehrens durchaus einverstanden. Er kann es nur begrüssen, wenn ihm eine starke Handhabe zur Ausweisung gefährlicher Ausländer gegeben wird.« Gleichzeitig wehrte er sich gegen die »Pflicht zur Ausweisung«. Eine solche sei »unnötig und unzweckmässig«. Der Bundesrat verfüge die Ausweisung, sobald die Voraussetzungen dafür vorliegen, eines »besondern Ansporns durch Auferlegung einer Pflicht zur Ausweisung« bedürfe es nicht.172 Schließlich sprachen sich auch die Stimmbevölkerung und alle Kantone gegen die Erhöhung der Wohnsitzfrist bei Einbürgerungen, die Beschneidung der bürgerlichen Rechte von Neubürgern und die geforderten behördlichen Ausschaffungsbefugnisse aus. Der in der Zwischenzeit erlassene Passus vom 26. Juni 1920 zur Erhöhung der Wohnsitzfrist auf sechs Jahre scheint den Stimmbürgern genügend Garantien gegen die Einbürgerung »unerwünschter Ausländer« gegeben zu haben. Überdies fürchtete man in der Frage der rigorosen Ausschaffungsbestimmungen die Reaktionen aus dem Ausland.

8. Die Ethnisierung des Schweizer Bürgerrechts Der Bundesrat und die parlamentarischen Räte hatten in den Verhandlungen zur Erhöhung der Wohnsitzfrist bei der Einbürgerung von Ausländern zu Beginn des Jahres 1920 keine explizit ethnisierenden oder gar rassistischen Äußerungen verwendet. Zwar lag den Begriffen der »nationalen Eigenart« oder der »Assimilation«, auf die sich insbesondere der Bundesrat mehrfach berufen hatte, implizit ein ethnisches Differenzkonzept zugrunde. Dennoch unterschied der Gesetzgeber im Jahr 1920 bei der Erhöhung der Wohnsitzfrist für Ausländer nicht nach deren Herkunft, Religion oder vermeintlichen »Rasse«. Ganz anders verhielt es sich zu jener Zeit im Justiz- und Polizeidepartement. Die höchsten Beamten in der Polizeiabteilung, Ernst Delaquis, Heinrich Rothmund und Max Ruth, gaben sich in ihren Äußerungen über das neu zu ordnende schweizerische Niederlassungswesen mehrfach sozialdarwinistischen, antisemitischen und rassistischen Aussagen hin. Kein Geringerer als der Chef der Polizeiabteilung Ernst Delaquis formulierte beispielsweise im Jahr 1921 über die einreisenden Ausländer: »Wir müssen den Ankömmling auf 171 Alle Zitate: Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Volksbegehren »Ausländerinitiative«: Begehren I betreffend Abänderung von Art. 44 der Bundesverfassung (Einbürgerungswesen), Begehren II betreffend Abänderung von Art. 70 der Bundesverfassung (Ausweisung wegen Gefährdung der Landessicherheit), vom 6. Juni 1921, S. 342f. 172 Alle Zitate: ebd., S. 344.

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Herz und Nieren prüfen können. Reiht er sich ein in unser politisches, wirtschaftliches, soziales Staatsgefüge? Ist er hygienisch akzeptabel? Überschreitet seine ethnische Struktur das Mass zulässiger Inadäquanz? Die Antwort wird von Fall zu Fall verschieden lauten; doch wird sie wieder generell den Angehörigen gewisser uns stärker homogener Rassen, uns geistig und nachbarlich naher Bevölkerungskreise günstiger sein als jenen anderer Milieus, die uns in Rasse, Religion und Sitte ferner stehen. Es wird notwendig sein zu unterscheiden.«173 Es ist offenbar, dass der Terminus »Unterscheidung« in diesem Zusammenhang eine auf ethnischen Kriterien und rassischen Theoremen basierende »Auslese« meinte.174 Angesichts der fremdenfeindlichen Entwicklungen sowohl in Teilen der Bevölkerung als auch im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement können die unter der Ägide des Politischen Departements beschlossene Wohnsitzfristerhöhung im Jahr 1920 und die damaligen Äußerungen des Bundesrats über die ausländische Wohnbevölkerung als gemäßigt bezeichnet werden. Zieht man jedoch ein Kreisschreiben des Bundesrats an die Kantonsregierungen vom 2. Dezember 1921 zur Einbürgerung von Ausländern hinzu, ergibt sich ein anderes Bild.175 Darin forderte der Bundesrat die Kantonsregierungen explizit auf, die Bürgerrechtsbewerber einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, bei der auch ethnische Kriterien berücksichtigt werden müssten. Gestützt auf Artikel 5 des Bundesgesetzes aus dem Jahr 1903 erinnerte das Schreiben die Kantonsregierungen daran, dass der Bundesrat nicht nur die Verhältnisse eines Bewerbers zu seinem Heimatstaat zu prüfen habe, sondern auch seine persönlichen Verhältnisse und diejenigen seiner Familie. Wie anpassungsfähig diese Bestimmung an die intensivierte Einflussnahme durch den Bundesrat und die Bundesverwaltung in Einbürgerungsfragen im Jahr 1920 war, zeigte sich in den folgenden Abschnitten des Kreisschreibens. Dort führte der Bundesrat aus, dass sich die Prüfung der Bürgerrechtsbewerberinnen und -bewerber nicht auf Nachforschungen zu Vorstrafen beschränken dürfe, sondern dass »die gesamte Lebensführung« der betreffenden Person ins Auge gefasst werden müsse. Insbesondere sei zu prüfen, »ob der Bewerber den schweizerischen Verhältnissen und Anschauungen assimiliert ist oder sich zur Assimilation eignet, wobei ebensowohl auf die persönlichen als auf die ethnischen Faktoren Gewicht zu legen ist.«176 Außer einer umfassenden Prüfung der »Lebensführung«, der »Assimilation« an die »schweizerischen Verhältnisse und Anschauungen« 173 Delaquis, Der neueste Stand, S. 18. 174 Vgl. dazu: ders., Im Kampf, S. 53. 175 Kreisschreiben des Bundesrates an die Regierungen der Kantone betreffend die Prüfung der Eignung von Personen, die sich um das Schweizerbürgerrecht bewerben, vom 2. Dezember 1921, S. 178f. 176 Alle Zitate: ebd., S. 178.

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sowie der charakterlichen Eigenschaften der Bewerberinnen und Bewerber sollte gemäß dem bundesrätlichen Kreisschreiben nun also auch die Kategorie »Ethnie« bei den Einbürgerungsentscheiden der Kantone und Gemeinden berücksichtig werden. Gleichzeitig beklagte sich der Bundesrat über das wenig kooperative Verhalten und die Nachlässigkeit einzelner Kantone. Der Bundesrat bemängelte, dass die Berichte aus den Kantonen über die Bürgerrechtsbewerberinnen und -bewerber oft keine näheren Angaben über die betreffenden Personen enthielten und sich der Bundesrat daher kein »sicheres Urteil« bilden könne. Insbesondere, so das bundesrätliche Schreiben weiter, bleibe die Frage, »ob der Bewerber seiner Herkunft nach sich zur Anpassung an unsere schweizerische Eigenart eigne«, oft unbeantwortet. Daher sehe sich der Bundesrat veranlasst, den Kantonen »den dringenden Wunsch« auszusprechen, dass die kantonalen Polizeibehörden den Nachforschungen über die einbürgerungswilligen Personen mehr Aufmerksamkeit schenken. Es sei für die Schweiz, die Kantone und die Gemeinden »von höchster Wichtigkeit, dass keine Elemente zum Bürgerrecht zugelassen werden, deren Vorleben nicht intakt ist oder die vermöge ihres Kulturstandes und ihrer ethnischen Eigenschaften in unserm Volkstum als Fremdkörper erscheinen müssten.«177 Die einschneidende Bedeutung des bundesrätlichen Kreisschreibens von 1921 in der Geschichte des Schweizer Bürgerrechts kann nicht genug betont werden: Seit der Bundesstaatsgründung von 1848 waren weder in der Bundesverfassung noch in Gesetzen oder offiziellen Stellungnahmen des Bundes ethnische Kriterien mit dem Schweizer Bürgerrecht in Verbindung gebracht worden. Mit dem Kreisschreiben von 1921 wurde hingegen eine nachträgliche und von oben verordnete Ethnisierung des Schweizer Bürgerrechts vorgenommen. Sie entsprach der gleichzeitigen Entwicklung im Niederlassungswesen. Darüber hinaus war sie Teil der neuen, protektionistischen Maßnahmen des Bundes, die einerseits die Lebensführung, die Charaktereigenschaften und die innere Gesinnung der Individuen in den Blick nahmen, andererseits eine größtmögliche kulturelle Homogenität innerhalb der schweizerischen Bevölkerung anstrebten – wohl nicht zuletzt um die zahlreichen trennenden Momente innerhalb der schweizerischen Gesellschaft in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu neutralisieren. Auch wenn der Bundesrat in seinem Schreiben an die Kantone keine bestimmten Gruppen von Ausländern nannte, die als »assimilierbar« oder »nicht-assimilierbar« galten, so konnte er auf ein diesbezügliches implizites Wissen setzen. In den Vorträgen der Neuen Helvetischen Gesellschaft und der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, in der »Schweizerischen Juristenzeitung«, in der Zeitschrift »Wissen und Leben« und nicht zuletzt im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement hatten Ak177 Alle Zitate: ebd., S. 178f.

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teure wie Carl Alfred Schmid, Max Koller, Walther Burckhardt, Hans Frey, Ernst Delaquis, Heinrich Rothmund und Max Ruth immer wieder darauf hingewiesen, wen es bei der »Auslese« auszuschließen gelte: Menschen aus außereuropäischen Ländern, Slawen und Juden.

9. »Der Jude« als »Supernumerarius« Der Soziologe Georg Simmel hat den Fremden in einer auch heute noch häufig verwendeten Definition als den Wandernden bezeichnet, »der heute kommt und morgen bleibt.«178 Weniger geläufig ist hingegen Simmels Beschreibung des Fremden als »Supernumerarius«. Ausgehend von der Prämisse, dass in »der ganzen Geschichte der Wirtschaft … der Fremde allenthalben als Händler bzw. der Händler als Fremder« erscheint, formulierte Georg Simmel: »Der Handel kann immer noch mehr Menschen aufnehmen als die primäre Produktion, und er ist darum das indizierte Gebiet für den Fremden, der gewissermaßen als Supernumerarius in einen Kreis dringt, in dem eigentlich die wirtschaftlichen Positionen schon besetzt sind. Das klassische Beispiel gibt die Geschichte der Juden.«179 Die Bezeichnung »des Juden« als »Supernumerarius« trifft in besonderem Maß auf die Wahrnehmung der in der Schweiz lebenden Juden während und nach dem Ersten Weltkrieg zu, speziell auf die Wahrnehmung der Ostjuden.180 Der seit dem Ersten Weltkrieg wirkungsmächtige Überfremdungsdiskurs nahm hauptsächlich die jüdischen Immigrantinnen und Immigranten aus Osteuropa in den Blick. »Der Jude« als »Supernumerarius«, als derjenige, der »über der Zahl«, der »zu viel« ist, wurde zum Inbegriff der »Überfremdung« schlechthin. Die Tatsache, dass die Fixierung des Überfremdungsdiskurses auf Juden möglich geworden war, gründet im Aufstieg des Antisemitismus helvetischer Prägung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert.181 Mit der Integration der Katholisch-Konservativen in die Landesregierung im Jahr 1891 hatte sich, wie Jakob Tanner ausführt, »die gegen den Freisinn gerichtete Spitze«182 des bis178 Simmel, Der Fremde, S. 63. 179 Beide Zitate: ebd., S. 64. 180 Vgl. dazu: Kury, »Man akzeptierte uns nicht …«, ders., Über Fremde reden, S. 132–139, sowie Huser. 181 Für die damalige Schweiz ist die Existenz eines rassenbiologischen Antisemitismus zu relativieren. Ein solcher scheint, mit Mattioli gesprochen, »hierzulande nicht die vorherrschende Spielart gewesen zu sein. Der schweizerische Antisemitismus … war in der Regel weit eher xenophob denn rassistisch motiviert.« Ebd. Dennoch zeigt die Geschichte des Schweizer Bürgerrechts, dass der diskriminierende Umgang mit Jüdinnen und Juden auch mit rassischen Theoremen begründet werden konnte. 182 J. Tanner, Diskurse der Diskriminierung, S. 328.

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herigen katholischen Antisemitismus abgenutzt. Eine partielle Verständigung zwischen Freisinn, politischem Katholizismus sowie der »neuen Rechten« sei möglich geworden, wobei der nationalistisch geprägte Antisemitismus als Bindemittel dienen konnte.183 So hatte sich der Antisemitismus in der Schweiz um die Jahrhundertwende zu wandeln begonnen, und zwar zur selben Zeit, als sich das bisher »vorwiegend ländliche Schweizer Judentum zu einem vorwiegend städtischen«184 Judentum entwickelte. Im »Fin de siècle« waren die Juden zur »Projektionsfläche einer als krisenhaft erfahrenen Moderne«185 geworden. Der nationalistisch aufgeladene und antimodernistisch ausgerichtete Antisemitismus verband sich seither zunehmend mit der schweizerischen Fremdenabwehr und, seit dem Ersten Weltkrieg, mit dem noch jungen Überfremdungsdiskurs. Schließlich drangen die beiden voneinander verschiedenen, aber oft wechselseitig aufeinander bezogenen »Diskurse der Diskriminierung«186 – der Antisemitismus und der Überfremdungsdiskurs – in die Bürgerrechtspolitik, die Einbürgerungsentscheide und die Aktenführung der bundesstaatlichen, kantonalen und kommunalen Behörden ein. Schon im Jahr 1910 kennzeichnete die Bundesverwaltung Einbürgerungsakten von Jüdinnen und Juden mit einem J-Stempel.187 Zwei Jahre später verschärfte die Kommission zur Prüfung der Bürgerrechtsgesuche des Grossen Stadtrats in Zürich die Einbürgerungsbedingungen für Ostjuden. Auf diesen Schritt folgten bis ins Jahr 1936 verschiedene Verschärfungen im Zürcher Bürgerrecht, die einseitig gegen Juden und hauptsächlich gegen Ostjuden gerichtet waren. Während die Stadt Zürich im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Schrittmacherfunktion für die bundesstaatlichen Bemühungen zur erleichterten Einbürgerung von Ausländern eingenommen hatte, sollte die diskriminierende Stadtzürcher Praxis gegenüber Juden nach dem Ersten Weltkrieg auch auf Bundesebene Schule machen.188 In den Jahren unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg nahmen verschiedene Träger des antisemitisch aufgeladenen Überfremdungsdiskurses Einfluss auf die Verhandlungen zur Revision des Schweizer Bürgerrechts. So war beispielsweise der Zürcher Stadtschreiber Bollinger – vor Kriegsausbruch Verfechter der administrativ geführten »Ausländerfrage«, nun aber an der antisemitisch motivierten Ethnisierung des Zürcher Bürgerrechts beteiligt –189 Mitglied der 183 Ebd. 184 Kamis-Müller, S. 25. 185 J. Tanner, Diskurse der Diskriminierung, S. 330. 186 Ders., Diskurse der Diskriminierung. 187 Kamis-Müller, S. 99–101. Eine eingehende Untersuchung der Bewilligungspraxis des Bundes gegenüber Jüdinnen und Juden steht noch aus. 188 Gast, S. 48. 189 Vgl. dazu: Stadtarchiv Zürich, V.A.a.20, Grosser Stadtrat Zürich (bürgerliche Sektion), Protokoll der Kommission zur Vorberatung der Anträge des Stadtrates betreffend die Bürgerrechtsgesuche, 30. Sitzung, Freitag, den 21. Juni 1912, S. 180–184.

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»Grossen Expertenkommission« des Bundes, die im Oktober 1919 über die Einführung des »ius soli« in das schweizerische Staatsangehörigkeitsrecht zu beraten hatte. Ein weiteres Mitglied der Kommission war der angesehene Professor Walther Burckhardt, der im Jahr 1921 in einem viel beachteten Aufsatz zur Revision der Niederlassungsverträge seine Haltung gegenüber Juden deutlich machen sollte. Darin hielt er fest, dass die Niederlassung nicht nur für »die persönlich Defekten, die politisch gefährlichen und die wirtschaftlich Nutzlosen oder Schädlichen« zu verweigern sei. Vielmehr wollte Walther Burckhardt auch diejenigen ausgeschlossen wissen, »welche die ethnische Zusammensetzung unseres Volksstammes oder besser gesagt: unserer Volksstämme wesentlich alterieren.« Bei den »Staaten fremder Volksstämme« dachte Burckhardt »namentlich an die aussereuropäischen und osteuropäischen Staaten slawischer Bevölkerung mit starkem jüdischen Einschlag«.190 Antisemitisch motivierte Bemerkungen drangen auch in die parlamentarischen Debatten zur Einführung des »ius soli« in den Jahren 1920 bis 1928 ein. So klagte beispielsweise der Tessiner Ständerat Antonio Luigi Riva in der Sommersession des Jahres 1923 darüber, dass sich die zahlreichen ausländischen Familien aus einfachen Arbeiterverhältnissen die hohen Einkaufsgebühren in das Kantons- und Gemeindebürgerrecht nicht leisten könnten, während es den galizischen Juden umso leichter gemacht werde.191 Die Zürcher Praxis strafte Rivas Votum Lügen. Im Jahr 1926 ordnete schließlich Heinrich Rothmund, Chef der Zentralstelle für Fremdenpolizei, einen Einbürgerungsstopp für ostjüdische Immigrantinnen und Immigranten der ersten Generation an.192 Am 5. Februar desselben Jahres hatte die Bürgerrechtsabteilung des Bundes im Zuge der Auflösung der Innerpolitischen Abteilung des Eidgenössischen Politischen Departements ins Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement gewechselt.193 Damit waren die Bürgerrechtsangelegenheiten des Bundes Sache der Fremdenpolizei geworden und somit in die Hände der wichtigsten Träger des behördlichen Überfremdungsdiskurses gelangt, die sich in der Vergangenheit mehrfach antisemitisch geäußert hatten: Ernst Delaquis, Heinrich Rothmund und Max Ruth.194

190 Alle Zitate: W. Burckhardt, Zur Revision, S. 244. 191 Ständerat Antonio Luigi Riva, Amtliches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, Jg. 1923, Massnahmen gegen die Ueberfremdung, 22. Juni 1923, Ständerat, S. 172. 192 BAR, E 21 20729, Brief von Rothmund an die Direktion der Polizei des Kantons Zürich vom 2. November 1926. 193 Vgl. dazu: Mächler. 194 Vgl. dazu: Kury, Über Fremde reden, S. 119–128. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Wohnsitzfrist für Jüdinnen und Juden aus dem Osten gar auf zwanzig Jahre erhöht und festgelegt, dass pro Jahr höchstens zwölf »assimilierte« Juden die Einbürgerungsbewilligung erhalten sollten.

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10. »Massnahmen gegen die Überfremdung«: Das verwässerte »ius soli« von 1928 Am 20. Mai 1928 stimmten Volk und Stände unter dem Titel »Massnahmen gegen die Überfremdung« der Revision des Artikels 44 der Bundesverfassung und damit einem völlig verwässerten »ius soli« zu.195 Gemäß dem neuen Artikel 44 konnte nun auf dem Weg der Bundesgesetzgebung bestimmt werden, »dass das Kind ausländischer Eltern von Geburt an Schweizer Bürger ist, wenn seine Mutter von Abstammung Schweizer Bürgerin war und die Eltern zur Zeit der Geburt in der Schweiz ihren Wohnsitz haben.«196 Zu einem entsprechenden Gesetz kam es jedoch nie.197 Blickt man auf die dreißig Jahre zurück, die seit der ersten Forderung nach dem »ius soli« im Jahr 1898 vergangen waren, so erscheint das Ergebnis von 1928 als überaus bescheiden. Nicht nur, dass das kantonale »ius soli« im Zuge der Gesetzesrevision von 1903 wirkungslos geblieben war und die Arbeit der »Neunerkommission« zwischen 1910 und 1912 vergeblich hohe Bundes- und Kantonspolitiker sowie namhafte Experten zusammengeführt hatte; auch die neuerlichen Bemühungen zwischen 1919 und 1928 brachten keine eigentliche Reform hervor. Vom 6. bis 10. Oktober 1919 tagte in Montreux die bereits erwähnte »Grosse Expertenkommission« zur Vorberatung eines Entwurfs zur Revision von Artikel 44 der Bundesverfassung. Die Expertenkommission war vom Eidgenössischen Politischen Departement eingesetzt und sollte dem Bundesrat Vorschläge unterbreiten, wie die alte Forderung der »Neunerkommission«, das »ius soli« in der Bundesverfassung zu verankern, durchgesetzt werden könne. Trotz der Restriktionen im Bereich der Einreise, des Aufenthalts und der Niederlassung sowie bei der Einbürgerung der ersten Einwanderergeneration seit dem Kriegsjahr 1917 sollte die erleichterte Einbürgerung von Ausländern unter den Bedingungen, wie sie sich nach dem Krieg präsentierten, weiterverfolgt werden.198

195 Volksabstimmung vom 20. Mai 1928 über den Bundesbeschluss vom 30. September 1927 betreffend Revision des Art. 44 der Bundesverfassung (Massnahmen gegen die Überfremdung), S. 81. 196 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Volksabstimmung vom 20. Mai 1928 über den Bundesbeschluss vom 30. September 1927 betreffend Revision des Artikels 44 der Bundesverfassung (Massnahmen gegen die Überfremdung), vom 15. Juni 1928, S. 155. 197 Bis zum Gleichstellungsartikel vom 1. Juli 1985 in der schweizerischen Bundesverfassung erhielten Kinder einer Schweizer Mutter und eines ausländischen Vaters bei Geburt nur das Bürgerrecht des Vaters. Auch die Einführung der automatischen Zuschreibung des Schweizer Bürgerrechts bei Geburt für die zweite und dritte Einwanderergeneration scheiterte letztmals im Jahr 2004 am Volks- und Ständemehr. 198 Bericht des Bundesrates über seine Geschäftsführung im Jahre 1919, S. 597.

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Die »Grosse Expertenkommission« tagte unter der Leitung des freisinnigen Vorstehers des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements Bundesrat Heinrich Häberlin (1868–1947), der soeben erst in die Landesregierung gewählt worden war. Zur Kommission gehörten die wichtigsten Bundes- und Kantonspolitiker im Bereich des Schweizer Bürgerrechts, juristische Experten sowie Vertreter der Departemente und privater Organisationen, die sich teilweise schon vor dem Ersten Weltkrieg zur »Ausländerfrage« geäußert hatten. Unter den 24 Mitgliedern fanden sich beispielsweise die ehemaligen Mitglieder der »Neunerkommission« Emil Göttisheim, Rudolf Bollinger und Albert Picot, die Staatsrechtler Walther Burckhardt und Fritz Fleiner, die Chef beamten der Innerpolitischen Abteilung des Politischen Departements, Eduard Leupold und Georges Sauser-Hall, die Chef beamten der Polizeiabteilung, Ernst Delaquis, Heinrich Rothmund und Max Ruth, sowie Vertreter der Neuen Helvetischen Gesellschaft und der Armenpflegen, beispielsweise Carl Alfred Schmid. Die Aufzählung macht es deutlich: Die »Grosse Expertenkommission« vereinte zahlreiche Träger des mittlerweile auch in der Bundesverwaltung hegemonialen Überfremdungsdiskurses.199 Den 24 Bürgerrechtsexperten, die während fünf Tagen das einzuführende »ius soli« berieten, lag ein Bericht des Neuenburger Rechtsprofessors und Adjunkten der Innerpolitischen Abteilung des Politischen Departements, Georges Sauser-Hall, vor. Wie schon Bundesrat Hoffmann im Jahr 1914 hatte Georges Sauser-Hall seine Ausführungen in Anlehnung an die Vorschläge der »Neunerkommission« formuliert. Entsprechend plädierte er für ein »ius soli« für Kinder, deren Eltern während langer Zeit ihren Wohnsitz in der Schweiz hatten, sowie für Kinder, von denen ein Elternteil in der Schweiz geboren oder deren Mutter vor der Heirat gebürtige Schweizerin gewesen war. Eine Abweichung von den Vorschlägen der »Neunerkommission« bildete das Optionsrecht, das der Bürgerrechtsexperte Sauser-Hall den »iure soli« eingebürgerten Personen gewähren wollte. Der Neuenburger Professor hatte sich in einer früheren Abhandlung eingehend mit der Frage der Option beschäftigt und sah darin eine Möglichkeit, Doppelbürgerrechte zu verhindern.200 Doch die Vorschläge von Sauser-Hall waren den meisten Kommissionsmitgliedern zu radikal. Während der Beratungen der »Grossen Expertenkommission« fielen das Optionsrecht und das »ius soli« für die zweite Einwanderergeneration weg. Das »ius soli« sollte dagegen nur für diejenigen in der Schweiz geborenen Kinder gelten, deren Vater oder Mutter in der Schweiz geboren oder deren Mutter von Geburt an Schweizerin gewesen war.201 199 Vgl. dazu: BAR E 22 557, Bericht der Expertenkommission Montreux vom 6.–10. Oktober 1919. 200 Sauser-Hall, Rapport, S. 107f. Vgl. dazu: ders., Le droit d’option. 201 Alle Angaben: BAR E 22 557, Bericht der Expertenkommission Montreux vom 6.–10. Oktober 1919, 156f.

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Auf der Grundlage dieser Vorschläge erarbeitete das Politische Departement eine umfangreiche Botschaft zur Revision des Artikels 44 der Bundesverfassung, die am 9. November 1920 dem Parlament vorgelegt wurde. Der Revisionsentwurf des Bundesrats, so scheint es, ließ sich dabei hauptsächlich vom Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit leiten. Wie der Entwurf der »Grossen Expertenkommission« sah die Vorlage des Bundesrats das »ius soli« nur für die dritte Einwanderergeneration ohne Optionsrecht vor (in der Botschaft wurde diese Generation als die »zweite Generation« bezeichnet), das heißt, wenn der Vater oder die Mutter des Kindes in der Schweiz geboren oder die Mutter ursprünglich Schweizerin gewesen war. Das Recht auf Einkauf in ein Gemeindebürgerrecht für lange in der Schweiz niedergelassene Ausländerinnen und Ausländer sah der Entwurf im Gegensatz zur Petition der »Neunerkommission« und des Vorschlags von Bundesrat Arthur Hoffmann aus dem Jahr 1914 nicht vor. Der Bundesrat erläuterte seinen Standpunkt mit der Rücksichtnahme auf die Kantone: »Wir halten dafür, dass wir nicht so weit gehen dürfen, einem Ausländer, selbst wenn er in der Schweiz geboren oder seit Jahren hier niedergelassen ist, ein vorbehaltloses Recht auf Einbürgerung zuzugestehen und dadurch die Kantone einer wertvollen Kontrollbefugnis zu berauben.«202 Ein weiterer Punkt des bundesrätlichen Entwurfs bildete die Frage nach den politischen Rechten derjenigen Neubürger, die auf ordentlichem Weg eingebürgert wurden. Sie sollten gemäß der Revisionsvorlage während der ersten fünf Jahre nach der Einbürgerung nicht in die Legislative und Exekutive der Kantone und des Bundes gewählt werden können.203 Eine ähnlich lautende Forderung hatten die Initianten der »Ausländerinitiative« im Frühjahr desselben Jahres gestellt. Damals hatte der Bundesrat die rechtliche Ungleichstellung der Neubürger mit den übrigen Schweizern als »völlig unannehmbar«204 bezeichnet. Jetzt war der Bundesrat anderer Meinung und erklärte: Es scheinen »bezüglich jener Neubürger, die als Ausländer geboren wurden und unsere Staatsangehörigkeit durch freiwillige Naturalisation erworben haben, etwelche Vorsichtsmassregeln geboten zu sein. Es gilt zu verhindern, dass Naturalisierte neuern Datums zur politischen Leitung des Landes oder einzelner Kantone gelangen.«205 Erstmals seit der konsequenten Durchsetzung der Inländergleichstellung für Schweizer Männer im Jahr 1874 sollten die auf ordentlichem Weg eingebürger202 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Revision des Art. 44 der Bundesverfassung (Massnahmen gegen die Überfremdung), vom 9. November 1920, S. 51. 203 Ebd., S. 66–68. 204 Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Volksbegehren »Ausländerinitiative«: Begehren I betreffend Abänderung von Art. 44 der Bundesverfassung (Einbürgerungswesen), Begehren II betreffend Abänderung von Art. 70 der Bundesverfassung (Ausweisung wegen Gefährdung der Landessicherheit), vom 6. Juni 1921, S. 342. 205 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Revision des Art. 44 der Bundesverfassung (Massnahmen gegen die Überfremdung), vom 9. November 1920, S. 66.

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ten Schweizer den übrigen Schweizern nicht mehr gleichgestellt sein. Zwischen 1848 und 1874 hatten Neubürger während der ersten fünf Jahre nach der Einbürgerung kein Recht besessen, sich frei niederlassen. Nun, im Jahr 1920, war der Bundesrat bereit, beim liberalen Gleichheitsgrundsatz im Bereich der politischen Staatsbürgerschaft für die neu eingebürgerten männlichen Schweizer Abstriche zu machen und hinter die Errungenschaften von 1874 zurück zu gehen. Obwohl nur noch »assimilierte« Ausländer eingebürgert werden sollten, musste garantiert sein, dass diese nicht die »politische Leitung« übernahmen. Vor dem Hintergrund der russischen Revolution 1917 und dem Landesgeneralstreik im Jahr 1918 ist anzunehmen, dass damit links politisierende Personen gemeint waren. Das Sicherheitsbedürfnis des schweizerischen Bundesrats rangierte im Jahr 1920 jedenfalls über dem Gleichheitsgrundsatz der schweizerischen Demokratie. Die vorgeschlagene Verfassungsrevision stieß im Ständerat auf Widerstand. Mittlerweile lagen die Zahlen der Volkszählung aus dem Jahr 1920 vor. Der Ausländeranteil war zwischen 1910 und 1920 gesamtschweizerisch von 14,7 % auf 10,4 % gesunken. Daher sollte in den Augen des Ständerats die Frage nach dem Vorgehen im Kampf gegen die »Überfremdung« nochmals grundsätzlich diskutiert werden. Zudem konnte sich die vorberatende Kommission des Ständerats nicht mit dem Gedanken an die Einführung eines »ius soli« anfreunden, das den in der Schweiz geborenen Kindern das Heimatrecht der elterlichen Wohnsitzgemeinde übertrug. Den Grund für die Skepsis bildeten armenrechtliche Bedenken. So kritisierte die Kommission des Ständerats, dass die Einbürgerung »iure soli« innerhalb einer Familie zu verschiedenen Gemeinde- und Kantonsbürgerrechten führe, wenn die Eltern zwischen der Geburt ihrer Kinder den Wohnsitz wechselten. Dadurch entstehe ein »Riss in der Familie«, der insbesondere in dem Fall hervortrete, »wenn die Familie hilfsbedürftig werde« und jedes Kind von seiner eigenen Gemeinde unterstützt werden müsse.206 Die Kommission des Ständerats lehnte auch die Einschränkung der politischen Rechte für Neubürger ab. Infolgedessen forderte sie in der Oktobersession des Jahres 1921 eine Nachtragsbotschaft.207 Trotz der Opposition der Kommission des Ständerats hielt der Bundesrat an der »Bewältigung der Überfremdung« auf dem Weg der Einführung des »ius soli« fest. In der geforderten Nachtragsbotschaft im Jahr 1922 betonte er, dass dies noch immer »eine dringliche und unausweichliche Aufgabe unserer Staatspolitik«208 sei. Vor allem wehrte sich der Bundesrat dagegen, dass die »Überfremdungsbe206 Beide Zitate: Nachtrag zu der Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung vom 9. Dezember 1920 betreffend Revision des Art. 44 der Bundesverfassung (Massnahmen gegen die Überfremdung), vom 14. November 1922, S. 664. 207 Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, XXXI. Jg., 1902, 11. Oktober 1921, Ständerat, S. 386. 208 Nachtrag zu der Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung vom 9. Dezember 1920 betreffend Revision des Art. 44 der Bundesverfassung (Massnahmen gegen die Überfremdung), vom 14. November 1922, S. 671.

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kämpfung« weniger dringlich sein sollte als noch vor dem Krieg. Der Ausländeranteil von 10,4 % bedeutete seiner Ansicht nach »stets noch eine abnormale Zusammensetzung«209 der Wohnbevölkerung, wenn man bedenke, dass diese in den Nachbarstaaten nicht über 2,7 % liege. Man dürfe sich keineswegs beruhigen, es gebe allen Grund, die Bekämpfung der »Überfremdung« fortzusetzen. Der Bundesrat wurde in seiner Meinung von politischen Parteien und privaten Organisationen bestärkt, so etwa von der freisinnig-demokratischen und der jung-freisinnigen Partei sowie von der demokratischen und Arbeiterpartei des Kantons St. Gallen, von den Gruppen Zürich und Winterthur der Neuen Helvetischen Gesellschaft, vom »Volksbund für Unabhängigkeit der Schweiz«, vom »Komitee zur Förderung der gesetzgeberischen Lösung der Fremdenfrage« oder von der »Vereinigung schweizerischer Republikaner«. Letztere ließ den Bundesrat wissen, dass der Rückgang des Ausländeranteils »nie ein Grund sein darf, der Fremdenfrage in Zukunft weniger Beachtung zu schenken.« Und selbst die Schweizergruppe der Neuen Helvetischen Gesellschaft in Marokko äußerte sich in einer Eingabe an den Bundesrat in diesem Sinne.210 Dennoch hatte der Bundesrat in seiner Nachtragsbotschaft erneut Abstriche gemacht. Kurzerhand hatte er den Passus zur Einführung des »ius soli« für ausländische Kinder, von denen ein Elternteil in der Schweiz geboren war, gestrichen. Eine einfache Rechnung ließ diese Änderung nach Ansicht des Bundesrats gerechtfertigt erscheinen. Jährlich erwartete er eine Zahl von 5 200 ausländischen Kindern, die aufgrund der schweizerischen Abstammung der Mutter automatisch zu Schweizern würden. Dagegen rechnete der Bundesrat nur mit 300 bis 500 ausländischen Kindern, von denen ein Elternteil in der Schweiz geboren und deren Mutter von Geburt an Ausländerin war. Ausgehend von quantitativen Schätzungen und der Problematik der Armenunterstützung verzichtete der Bundesrat darauf, dieser Kategorie von Kindern das »ius soli« gewähren zu wollen.211 Was der Bundesrat allerdings verschwieg, war, dass mit dem »ius soli« für die zweite Einwanderergeneration, das schon in den Verhandlungen der »Grossen Expertenkommission« abgelehnt worden war, wesentlich mehr ausländische Kinder automatisch eingebürgert worden wären. An der Einschränkung der politischen Rechte für Neubürger hielt die Landesregierung zunächst noch fest. Sie rechtfertigte die rechtliche Ungleichstellung ausgerechnet mit der fremdenfeindlichen Stimmung innerhalb der Bevölkerung. Der Bundesrat glaubte, »dass in weiten Teilen unserer Bevölkerung eine derartige Beschränkung des passiven Wahlrechts für Neueingebürgerte begrüsst würde; dass eine solche Stimmung besteht, davon gab jüngst die Ausländerinitiative Zeugnis.«212 209 210 211 212

Ebd., S. 663. Alle Angaben und Zitat: ebd., S. 669f. Alle Angaben: ebd., S. 667. Ebd., S. 664.

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Nach zähen und langwierigen Verhandlungen in den beiden parlamentarischen Kammern kam im Jahr 1928 schließlich folgendes Ergebnis zustande: Mit Ausnahme für die Kinder ehemaliger Schweizerinnen war das »ius soli« für die ursprünglich in Betracht gezogenen Kategorien ausländischer Kinder weggefallen (für Kinder also, deren ausländische Eltern seit langer Zeit in der Schweiz wohnten, und für Kinder, von denen ein Elternteil in der Schweiz geboren war). Schließlich war auch der diskriminierende Passus zur Ungleichstellung der Neubürger gegenüber den übrigen Bürgern in der Frage des passiven Wahlrechts wieder gestrichen worden. In der Volksabstimmung vom 20. Mai 1928 wurde die Vorlage mit 316 250 gegen 131 215 Stimmen angenommen, insgesamt sagten 17 Ganzkantone und 5 Halbkantone Ja zur Revision des Artikels 44 der Bundesverfassung.213 Auf den ersten Blick erinnert die Entwicklung der schweizerischen Bürgerrechtspolitik nach dem Ersten Weltkrieg an das mehrfach erwähnte Modell des Historikers Patrick Weil zum Wandel des Staatsangehörigkeitsrechts: Wenn ein Land beginnt, sich als Einwanderungsland wahrzunehmen, und feste Grenzen vorhanden sind, werde die Einbürgerung der ersten Einwanderergeneration durch höhere Wohnsitzfristen erschwert und diejenige der zweiten und dritten Generation durch die Einführung von Elementen des »ius soli« gefördert. Selbst der damalige Bundesrat hätte dieser These möglicherweise beigepflichtet, hielt er doch im Jahr 1920 fest: Das »ius soli« ist außer einer restriktiven Einwanderungspolitik »die politische Waffe solcher Nationen, welche eine starke Einwanderung aufweisen und befürchten müssen, dass die Ausländer eines Tages das numerische Übergewicht erlangen.«214 Während nun, nach dem Ersten Weltkrieg, die Landesgrenzen durch restriktive Einreise- und Niederlassungsbestimmungen weniger durchlässig geworden waren, hatte der schweizerische Gesetzgeber die Einbürgerungsbestimmungen für die erste Einwanderergeneration verschärft und war bestrebt, die staatsbürgerliche Integration der zweiten und dritten Generation zu fördern. Auf den zweiten Blick präsentiert sich die Situation jedoch weniger klar. Denn in der Schweiz war kein »ius soli« zustande gekommen, das wirksam dazu beigetragen hätte, die Zahl der Ausländer zu verringern. Für diesen Misserfolg gab es verschiedene Gründe. Zunächst war die Dreistufigkeit des Schweizer Bürgerrechts mit der mancherorts noch immer heimatrechtlich organisierten Armenunterstützung dafür verantwortlich. Das machen auch der Widerstand und die armenrechtlich motivierten Argumente der ständerätlichen Kommission im Jahr 1922 deutlich. 213 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betr. die Volksabstimmung vom 20. Mai 1928 über den Bundesbeschluss vom 30. September betr. Revision des Art. 44 der Bundesverfassung (Massnahmen gegen die Ueberfremdung), vom 15. Juni 1928, S. 155. 214 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Revision des Art. 44 der Bundesverfassung (Massnahmen gegen die Überfremdung), vom 9. November 1920, S. 41.

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Weiter verweisen die nachträgliche Ethnisierung des Schweizer Bürgerrechts, das Dogma einer auf ethnisch-kulturellen Nationsvorstellungen basierenden »schweizerischen Eigenart« und der Überfremdungsdiskurs darauf, dass sich die Schweiz nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs als Einwanderungsland verstand. Auch wenn es in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg einer Tatsache entsprach, dass in den vergangenen Jahrzehnten mehr Menschen in die Schweiz ein- als ausgewandert waren, so hatte das nicht notwendigerweise zu bedeuten, dass sich das schweizerische Selbstverständnis zu einer Existenz als Einwanderungsland bekannte. Vielmehr war es die Abwehr gegen die »unerwünschten Fremden«, die sich im kollektiven Bewusstsein zu formieren begann. In diesem Zusammenhang gilt es auch, einen Blick auf die direktdemokratischen Mitsprachemöglichkeiten der männlichen Schweizer zu werfen. So mahnten die Parlamentarier mehrfach an die fremdenfeindliche Stimmung in der Bevölkerung und an einen womöglich negativen Ausgang des obligatorischen Verfassungsreferendums. Bereits in der »Grossen Expertenkommission« hatten diese Bedenken zur Ablehnung mehrerer Vorschläge von Professor Sauser-Hall geführt. Und während der ständerätlichen Beratung der Nachtragsbotschaft im Jahr 1923 hatte der katholisch-konservative Ständerat Joseph Räber bemerkt: Wie »die jetzige Volksstimmung ist, können wir doch mit absoluter Sicherheit darauf rechnen, dass diese Vorlage, mag sie noch etwas geändert werden oder nicht, mit erdrückender Mehrheit verworfen wird.«215 Angesichts der fremdenfeindlichen Reflexe in der Bevölkerung nach dem Ersten Weltkrieg – erinnert sei an die »Ausländerinitiative« aus dem Jahr 1920 – ist daher anzunehmen, dass sich der Überfremdungsdiskurs im Verlauf der parlamentarischen Verhandlungen zur Einführung des »ius soli« immer mehr gegen die Strategien der Diskursträger selbst richtete: Die xenophoben, ethnisierenden Muster im Sprechen über Ausländer mochten vielleicht in Experten- und Beamtenkreisen mit der Forderung nach Zwangseinbürgerungen von »assimilierten« Ausländern vereinbar sein. Für die Bevölkerung aber war der Konnex zwischen »Überfremdung«, »Assimilation« und »ius soli« wohl nicht gleichermaßen einsichtig. Weshalb auch sollten die Stimmbürger ausgerechnet Ausländer zu Schweizer machen wollen, wenn diese doch seit Jahren mit ethnischen und teilweise auch rassistischen Stigmata behaftet worden waren? Insofern waren die Bundesbehörden in der halbdirekten Demokratie mit der Strategie der Zwangseinbürgerung zur Bekämpfung der »Überfremdung« schlecht beraten. Die xenophoben Muster, die der Überfremdungsdiskurs in die Bevölkerung hatte diffundieren lassen, waren stärker als die Einsicht, dass sich damit die Strategie der Zwangseinbürgerung verbinden müsse.

215 Ständerat Joseph Räber, Amtliches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, Jg. 1923, 22. Juni 1923, S. 176.

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Ein Ausblick in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg macht schließlich deutlich, dass sich der Kampf gegen die »Überfremdung« auch auf behördlicher Ebene gegen sein eigenes Instrument – die staatsbürgerliche Integration der ausländischen Bevölkerung durch die Einführung des »ius soli« – richtete. In seiner Botschaft zum Entwurf eines revidierten Bundesgesetzes über den Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts äußerte sich der Bundesrat am 9. August 1951 zur 1928 verankerten Gesetzgebungskompetenz des Bundes zur Einführung des »ius soli« für ausländische Kinder ehemaliger Schweizerinnen: »Von dieser Ermächtigung hat der Gesetzgeber bisher nicht Gebrauch gemacht. Trotzdem aber ist die Überfremdung des Landes ganz erheblich zurückgegangen. Während im Jahre 1920 die Ausländer noch 10,4 % der Bevölkerung ausmachten, waren es 1941 nur noch 5,2 %. … Das beweist, dass das ius soli zur Abwendung der Überfremdungsgefahr nicht unerlässlich ist.«216 Und in der Tat: Der Kampf gegen die »Überfremdung« wurde in den ersten Jahrzehnten nach 1952 nicht mehr mit integrativen, sondern nur noch mit ausschließenden Maßnahmen geführt; mit einer einseitig auf die schweizerische Wirtschaft ausgerichteten Kontingentierungs- und Bewilligungspolitik für ausländische Arbeitskräfte, die insbesondere das diskriminierende Saisonierstatut enthielt, dem Verbot für ausländische Arbeitskräfte, ohne fremdenpolizeiliche Bewilligung den Arbeitsplatz über Kantonsgrenzen hinweg zu wechseln, dem Verbot des Familiennachzugs von Saisoniers und Jahresaufenthaltern und schließlich – im Bereich des Bürgerrechts – mit der Einführung der weit über das europäische Mittel hinausgehenden, zwölfjährigen Wohnsitzfrist im Jahr 1952.

11. Das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer von 1931 Am 26. März 1931 erließ der schweizerische Gesetzgeber das »Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer« (ANAG).217 Rund sechs Jahre zuvor, am 25. Oktober 1925, hatte das schweizerische Stimmvolk mit der Annahme von Bundesverfassungsartikel 69ter dem Bund die Gesetzgebungskompetenz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer übertragen.218 Das Gesetz von 1931 markierte den Abschluss einer langjährigen Arbeit, an der zahlreiche juristische Experten, Parlamentarier und Verwaltungsbeamte beteiligt gewesen wa216 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf zu einem Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizerbürgerrechts, vom 9. August 1951, S. 672f. 217 Vgl. dazu: Gast, S. 283–310, Kury, Über Fremde reden, S. 172–175, sowie Ludwig, S. 25–27. 218 Gast, S. 197–203 und 277f., sowie Kury, S. 173.

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ren, allen voran die Chef beamten der für die Ausarbeitung des Gesetzes zuständigen Polizeiabteilung im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement Ernst Delaquis, Heinrich Rothmund und Max Ruth.219 Das neue Regelwerk überführte das Notverordnungsrecht des Ersten Weltkriegs im Bereich des Aufenthalts und der Niederlassung der Ausländer in ordentliches Recht und löste die Ausländerverordnung vom 21. November 1921 ab.220 Die Besonderheit des Gesetzes lag also darin, dass es die Kompetenzen im Bereich des Aufenthalts und der Niederlassung von Ausländern, die dem Bund erstmals im Krieg gewährt worden waren, auch in Friedenszeiten nicht mehr allein den Kantonen überließ. Der Bund sollte in Zukunft das Ausländerrecht der Schweiz bestimmen. Besonders intensiv wurde nach 1928 an der Vorlage gearbeitet, als sich die Auf hebung des Visumszwangs im Jahr 1929 abzuzeichnen begann.221 Selbst der freisinnige Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements Heinrich Häberlin machte es sich zur Aufgabe, die Arbeit seiner Untergebenen Heinrich Rothmund und Max Ruth am Gesetzesentwurf zu begleiten. Dabei war es Bundesrat Häberlin bewusst, dass das zu erarbeitende Gesetz moderat formuliert sein musste, denn die Schweiz konnte sich angesichts des exportorientierten schweizerischen Außenhandels und der im Ausland tätigen Schweizer keine Provokation leisten.222 Außerdem war der Markt der einheimischen Arbeitskräfte ausgetrocknet, die Schweiz auf die Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte angewiesen.223 Entsprechend hielt Heinrich Häberlin zu den Revisionsvorschlägen aus der Polizeiabteilung in einem Tagebucheintrag vom 5. Mai 1929 fest: »Jetzt müssen wir uns alle zwingen, einmal Farbe zu bekennen beim Niederlassungsgesetz. Ruth hat zwar die Sache von aussen angepackt, aber mit eher xenophobem Einschlag. Rothmund will sich über diesen Geist erheben, steckt aber stark in den jetzigen Formeln drin.«224 Ebenfalls abzuwehren waren die fremdenfeindlichen Vorstöße der »Vereinigung Schweizerischer Republikaner« im Vorfeld der parlamentarischen Debatte. Sie drängten unter anderem darauf, den niedergelassenen Ausländern besondere berufliche Tätigkeiten wie die Arbeit im öffentlichen Dienst, die Tätigkeit als Anwalt, Arzt oder Apotheker sowie das Hausieren zu verbieten.225 Trotz Bundesrat Häberlins Bemühungen erhielt die behördliche »Überfremdungsbekämpfung« mit dem »Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung 219 Gast, S. 278f. 220 Ebd., S. 277f. 221 Vgl. dazu: ebd., S. 275–278 und S. 294. 222 Ebd., S. 278f. 223 Die Konjunktur der Schweizer Wirtschaft hatte seit 1926 angezogen. In den Jahren 1928/29, am Vorabend der Weltwirtschaftskrise, herrschte in der Schweiz Hochkonjunktur. Ebd., S. 286 und 294. 224 Zitiert nach ebd., S. 286. 225 Ebd., S. 298.

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der Ausländer« ihr »wichtigstes Instrument«.226 Das Gesetz setzte hauptsächlich auf die zurückhaltende Gewährung von Toleranz-, Aufenthalts- und Niederlassungsbewilligungen nach Maßgabe der weit dehnbaren Begriffe der »geistigen und wirtschaftlichen Interessen« des Landes und der »Überfremdung« durch die Fremdenpolizei des Bundes und der Kantone sowie auf die Möglichkeit zur Ausweisung, Ausschaffung und Internierung von »unerwünschten Ausländern«. Der erste Abschnitt des Gesetzes regelte die unterschiedlichen Formen von Bewilligungen (Aufenthalts-, Niederlassungs- oder Toleranzbewilligung), die einen Ausländer zum Aufenthalt in der Schweiz berechtigten. Während die Aufenthaltsbewilligung befristet war, berechtigte die Niederlassungsbewilligung zu einem Aufenthalt von unbestimmter Dauer. Ohne anerkannte und gültige Ausweispapiere wurde – gegen Kaution – höchstens eine befristete Toleranzbewilligung gewährt.227 Erst nachdem einem Ausländer der »Aufenthalt zum Stellenantritt« bewilligt wurde, durfte er eine Stelle antreten.228 Weiter hielt der erste Abschnitt die zentralen Bestimmungen zur Ausweisung, Ausschaffung und Internierung von Ausländern sowie die Einreisebeschränkungen und -sperren fest. Die Ausweisungsgründe waren zahlreich und reichten von einem gerichtlichen Strafurteil über den »Missbrauch des Gastrechts« durch »schwere oder wiederholte Missachtung von Ordnungsvorschriften« über die »Gefährdung« der öffentlichen Ordnung »infolge Geisteskrankheit« bis hin zur Unterstützungsbedürftigkeit durch die »öffentliche oder private Wohltätigkeit«.229 Außerdem konnten Ausländer, die keine Bewilligung besaßen, »jederzeit zur Ausreise aus der Schweiz«230 gezwungen werden. Darüber hinaus lag es in der Befugnis der eidgenössischen Fremdenpolizei, mit »der Pflicht zur Ausreise aus der Schweiz« eine Einreisebeschränkung bis zu zwei Jahren zu verbinden. Die eidgenössische Fremdenpolizei war ebenfalls befugt, »über persönlich unerwünschte Ausländer und solche, die sich grobe oder mehrfache Zuwiderhandlungen gegen die fremdenpolizeilichen Vorschriften haben zu226 Kury, Über Fremde reden, S. 175. 227 Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer, vom 26. März 1931, Art. 5–7. 228 Ebd., Art. 3. Ebenso war das Ende der jeweiligen Bewilligung geregelt, beispielsweise infolge Nichtverlängerung, fehlender Ausweispapiere, Widerruf, Ausweisung oder Entzug. Ebd., Art. 9. Überdies herrschte eine strikte Meldepflicht. Ausländer hatten sich innerhalb drei Monaten bei der lokalen Fremdenpolizeibehörde anzumelden. Wenn sie in der Schweiz Wohnsitz nehmen oder arbeiten wollten, betrug die Frist vierzehn Tage. Ebenso wurden Besitzer und Vermieter von Wohnungen und Zimmern verpflichtet, ausländische Gäste oder Mieter bei der Ortspolizei zu melden. Ebd., Art. 2. 229 Alle Zitate: ebd., Art. 10. Kinder unter 18 Jahren und Ehegatten wurden in die Ausweisung einbezogen. Ausnahmen konnten gemacht werden, wenn die Ehefrau von Geburt an Schweizerin gewesen war. Ebd., Art. 11. 230 Ebd., Art. 12.

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schulden kommen lassen, die Einreisesperre [zu] verhängen.«231 Ausländer, die der Pflicht zur Ausreise nicht nachkamen, konnten ausgeschafft oder, falls eine Ausschaffung nicht durchführbar war, bis zu zwei Jahren interniert werden.232 Die Artikel des zweiten Abschnitts legten die Zuständigkeit der Behörden und die Verfahrensabläufe fest. So war in jedem Kanton eine »kantonale Fremdenpolizeibehörde« für den »Entscheid über die Ausweisung eines Ausländers sowie über die Erteilung oder den Fortbestand« einer Bewilligung verantwortlich.233 Aufenthaltsbewilligungen für bestimmte Personengruppen wie nicht erwerbstätige Ausländer, Schüler, Studenten, Kranke, Dienstmädchen, Bauernknechte sowie Saisonarbeiter erteilten die Kantone nach alleinigem Ermessen. Alle andern Bewilligungen benötigten die Zustimmung der eidgenössischen Fremdenpolizei.234 Grundsätzlich wurde den Ausländern zunächst nur eine Aufenthaltsbewilligung gewährt. Über die Bewilligung der Niederlassung entschied die eidgenössische Fremdenpolizei in jedem einzelnen Fall. 235 Dabei hatten nach Artikel 16 die »Bewilligungsbehörden … bei ihren Entscheidungen die geistigen und wirtschaftlichen Interessen sowie den Grad der Überfremdung des Landes zu berücksichtigen.«236 Zwar konnte gegen die Entscheide der Behörden Rekurs eingelegt werden. Letzte Rekursinstanz war allerdings keine unabhängige Behörde, sondern das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement.237 Der dritte Abschnitt regelte »die Straf bestimmungen«, beispielsweise im Falle der Fälschung von Ausweispapieren oder einer widerrechtlichen Einreise.238 Im vierten und letzten Abschnitt wurden die Übergangs- und Schlussbestimmungen festgehalten. Darunter fielen insbesondere die Befugnisse, die dem Bundesrat zukamen.239

231 Beide Zitate: ebd., Art. 13. 232 Ebd., Art. 14. 233 Beide Zitate: ebd., Art. 15. 234 Ebd., Art. 18. 235 Ebd., Art. 17. 236 Zu prüfen waren auch der »Arbeitsnachweis« sowie ein »Strafregisterauszug«. Ebd., Art. 16. 237 Ebd., Art. 19 und 20. 238 Das Strafmaß umfasste bis zu sechs Monaten Gefängnis und bis zu 10 000 Franken Buße. Ebd., Art. 23. 239 Beispielsweise regelte der Bundesrat »die Ein- und Ausreise der Ausländer, die Grenzkontrolle und den kleinen Grenzverkehr; die Einführung eines fremdenpolizeilichen Ausweisbuches, die Festsetzung der von den Bundesbehörden, sowie des Höchstbetrages der in den Kantonen zu erhebenden Gebühren, das Zusammenarbeiten der fremdenpolizeilichen mit anderen Behörden, insbesondere mit denen des Arbeitsnachweises, und die Befugnisse des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit gegenüber den kantonalen Arbeitsnachweisen in Fragen des Arbeitsmarktes; …, die besondere fremdenpolizeiliche Behandlung von Vertretern fremder Staaten oder von Angehörigen internationaler Organisationen.« Ebd., Art. 25.

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Das »Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer« trat am 1. Januar 1934 in Kraft. Bis zu diesem Zeitpunkt verdeutlichten mehrere interne Weisungen des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, wie die Gesetzesbestimmungen angesichts des konjunkturellen Einbruchs von 1931 und der steigenden Arbeitslosigkeit von Schweizern in der ersten Hälfte der 1930er Jahre in Zukunft zum Schutz des schweizerischen Arbeitsmarktes ausgelegt werden sollten.240 So mahnte das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement die Kantone etwa im Jahr 1933 daran, dass »die Schweiz übervölkert und überfremdet«241 sei. Daher stehe »jedem nicht zweifellos nur vorübergehenden Aufenthalt eines Ausländers der allgemeine Gegengrund der Überfremdung im Wege; nur wenn dieser durch stichhaltige und genügend starke Fürgründe überwogen wird, kann eine Bewilligung in Frage kommen. Das Gleiche gilt, wenn die Lage des Arbeitsmarktes dem Ausländer ungünstig ist und ebenso, wenn die Erwerbstätigkeit (auch ohne Stellenantritt) des Ausländers volkswirtschaftlich nicht notwendig oder zum mindesten nicht ausgesprochen nützlich ist.«242 Das »Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer« von 1931/34 allein im Rahmen des Arbeitsmarktschutzes zu deuten, greift allerdings zu kurz. Auch wenn in der Schweiz der Zwischenkriegszeit der Konjunkturverlauf mit der staatlichen Steuerung der Immigration verknüpft wurde, so war es doch der zentrale ethnisch-kulturell aufgeladene Begriff der »Überfremdung«, der die restriktive Aufenthalts- und Niederlassungspolitik bestimmte. Zusammen mit den verschärften Bedingungen für die Einbürgerung der ersten Einwanderergeneration seit 1917 und dem verwässerten »ius soli« in der Bundesverfassung von 1928 sollten nicht allein der schweizerische Arbeitsmarkt geschützt, sondern auch ethnisch-kulturelle Grenzen gezogen werden. Seit die schweizerischen Bundesbehörden damit begonnen hatten, sich in das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben einzumischen, war es – mit Gérard Noiriel gesprochen – zu einem »gewaltige[n] Prozess nationaler Integration«243 gekommen, in dem das schweizerische Ausländerrecht und das Schweizer Bürgerrecht eine zentrale Rolle spielten.

240 Vgl. dazu: Gast, S. 286, S. 307–310 und S. 319. 241 Beide Zitate: BAR E 21 16054, Weisung des eidg. Justiz- und Polizeidepartements zum Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931, S. 15. 242 Ebd. (Hervorhebungen im Original). Vgl. dazu auch das Kreisschreiben vom 27. Januar 1931 der eidgenössische Fremdenpolizei, wonach »die eidgenössische Fremdenpolizei keinen Zweifel mehr offen [ließ], dass der Schutz des einheimischen Arbeitsmarktes an erster Stelle stand und bisherige Rücksichten bei Wegweisungen fallenzulassen seien.« Gast, S. 303. Eine weitere Weisung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 10. März 1931 »verpflichtete die Arbeitgeber, auf dem Arbeitsmarkt in erster Linie Schweizer und niedergelassene Ausländer zu berücksichtigen.« Kury, Über Fremde reden, S. 174. 243 Noiriel, Die Tyrannei des Nationalen, S. 67.

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12. Der Erste Weltkrieg als große Zäsur? Die bisherige Forschung zur Geschichte der schweizerischen Ausländerpolitik und des schweizerischen Ausländerrechts hat deutlich gemacht, dass der Erste Weltkrieg zu einem grundsätzlichen Wandel im Umgang der offiziellen Schweiz mit der ausländischen Bevölkerung geführt hat. 244 Fest steht, dass erst mit dem Ersten Weltkrieg und dem damit einhergehenden Ende des liberalen Zeitalters, insbesondere der Personenfreizügigkeit im internationalen Verkehr, die politischen Bedingungen dafür gegeben waren, die Niederlassungs- und Bürgerrechtspolitik der Schweiz zur Abwehr von Ausländerinnen und Ausländern einzusetzen. Inwiefern der Erste Weltkrieg dabei die Ursache bildete oder ob er lediglich schon vorhandene Ansätze dynamisierte, indem er die Möglichkeiten für das nationalstaatliche Handeln erweiterte, soll abschließend diskutiert werden. Die Ausführungen zum Schweizer Bürgerrecht zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Revision von Artikel 44 der Bundesverfassung im Jahr 1928 haben gezeigt, dass das Schweizer Bürgerrecht während dieser Zeit zwei grundlegende Änderungen erfahren hat. Zum einen war das die Erschwerung der Einbürgerung für die erste Einwanderergeneration durch die Erhöhung der Wohnsitzfrist. Die Restriktionen wurden zunächst an der Gruppe der Refraktäre und Deserteure erprobt, um schließlich im Jahr 1920 auf Ausländerinnen und Ausländer Anwendung zu finden, die nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs in die Schweiz gelangt waren und aufgrund charakterlicher, habitueller, ethnischer und rassistischer Kriterien als »unerwünschte« Ausländer bezeichnet wurden. In diesem Zusammenhang richteten sich die Abwehrmaßnahmen in zunehmender Radikalität gegen einzelne Personengruppen, insbesondere gegen die als »nicht-assimilierbar« geltenden jüdischen und nicht-jüdischen Immigrantinnen und Immigranten aus dem Osten sowie gegen Personen aus außereuropäischen Ländern. Mit dem verstärkten Einfluss privater und parastaatlicher Organisationen in die bundesstaatliche Bürgerrechtspolitik und dem Wechsel der Bürgerrechtsabteilung vom Politischen Departement unter die Ägide der eidgenössischen Fremdenpolizei, zu deren genuinen Aufgabe der Kampf gegen die »Überfremdung« geworden war, wurde dieser Wandel institutionell verfestigt. Zum andern scheiterten die seit dem Jahr 1898 bestehenden, staatsbürgerlich-integrativen Bemühungen, das »ius soli« auf Bundesebene einzuführen, weitgehend. Mit der automatischen Einbürgerung der ausländischen Kinder der zweiten und dritten Einwanderergeneration bei Geburt auf Schweizer Boden hätten die Ausländerzahlen gesenkt werden sollen. Die 244 Vgl. dazu beispielsweise: G. Arlettaz, Les effets, Kury, Über Fremde reden, Gast sowie Mächler.

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Verfassungsrevision im Jahr 1928 setzte diesen Bemühungen jedoch bis ins Jahr 1984 ein Ende. Während bei der Ausgestaltung des bundesstaatlichen Schweizer Bürgerrechts infolge des Ersten Weltkriegs zwei Brüche auszumachen sind, setzte sich die Rechtstradition des schweizerischen Gemeinde- und Kantonsbürgerrechts trotz des Kriegs fort. Zum einen blieb das Gemeindebürgerrecht für die Armenunterstützung von Bedeutung, zum andern beförderte gerade der Bund mit der Erhöhung der Wohnsitzfrist in den Jahren 1917 und 1920 die mehrheitlich restriktive Einbürgerungspolitik der schweizerischen Kantone und Gemeinden. Die offizielle Ethnisierung des Schweizer Bürgerrechts durch das Kreisschreiben des Bundesrats im Jahr 1921 enthielt schließlich traditionelle und neue Elemente: Einerseits war diese erst mit der Durchsetzung ethnisch-kultureller Identitätskonzepte wie der »schweizerischen Eigenart« und dem xenophoben Überfremdungsdiskurs während und nach dem Ersten Weltkrieg möglich geworden und stellte somit einen deutlichen Bruch mit der bis vor dem Ersten Weltkrieg geltenden Bürgerrechtspolitik des Bundes dar. Andererseits fällt aber auf, dass auch nach dem Ersten Weltkrieg das um 1900 etablierte Grundmuster des Sprechens über Ausländer – die Kombination von Elementen der beiden Interdiskurse des »Normalismus« und der »Sicherheit der Gesellschaft« – die Grundlage für die Ethnisierung des Schweizer Bürgerrechts bildete. Noch immer prägte das »abnormale Verhältnis« zwischen der einheimischen und ausländischen Bevölkerung und die daraus resultierende »Gefahr« das Sprechen über die Ausländer. Als Beispiel sei nochmals auf eine Stelle in der Botschaft des Bundesrats »Massnahmen gegen die Überfremdung« aus dem Jahr 1920 verwiesen. Der Bundesrat schrieb dort: »Unser Volk gibt sich instinktiv Rechenschaft von den ethischen und materiellen Gefahren, welche die abnormale Vermehrung der Ausländer mit sich bringt.«245 Daraus lässt sich schließen, dass es auf diskursiver Ebene, beim offiziellen Sprechen über »die Ausländer«, mit dem Ersten Weltkrieg nicht zu einem Bruch, sondern zu einer Radikalisierung gekommen ist. Die konstatierte »Gefahr« und das konstatierte »abnormale Verhältnis« waren im Zuge des Kriegs mit ethnisch-kulturellen und teilweise auch rassischen Theoremen angereichert worden. Das diskursive Muster aber war dasselbe geblieben. Insofern ist davon auszugehen, dass im Sprechen über Ausländer seit 1900 die ausschließenden Strategien grundsätzlich angelegt waren und sich nun – im Zuge der neuen Möglichkeiten, die der Erste Weltkrieg für die eidgenössische Fremdenabwehr geschaffen hatte – nicht mehr nur mit staatsbürgerlich-integrativen Semantiken und Strategien 245 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Revision des Art. 44 der Bundesverfassung (Massnahmen gegen die Überfremdung), vom 9. November 1920, S. 18f. Vgl. dazu: ebd., S. 12 und S. 32.

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verbanden, sondern sich zunehmend von diesen lösten. Der Krieg entfesselte das ausschließende Potenzial, das im Sprechen über Ausländer angelegt war. Der Erste Weltkrieg brachte daher dreierlei: Die Bestätigung der Rechtstradition des dreistufigen Schweizer Bürgerrechts und der restriktiven Einbürgerungspolitik der meisten schweizerischen Kantone und Gemeinden, die Radikalisierung des Ausschlusses der ausländischen Bevölkerung, der im Sprechen über Ausländer seit 1900 angelegt war, und schließlich den Bruch mit den bisher angestrebten integrativen Lösungen des Bundes zur Reduktion des Ausländeranteils.

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Schluss Mit den Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts traten die europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften in eine Zeit ein, in der das auf klärerische Projekt der Freiheit und Gleichheit zum Fluchtpunkt menschlichen Handelns wurde. Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts – vornehmlich dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus – wurde dieses Projekt unter dem Signum der »Dialektik der Auf klärung« (Horkheimer/Adorno) radikal in Frage gestellt. Doch auch jenseits der Frage, ob sich die Auf klärung nicht notgedrungen gegen sich selbst wendet und in autoritäre Herrschaft umschlägt, beschäftigen sich seither die Sozial- und Kulturwissenschaften mit den Verwirklichungsdefiziten des auf klärerischen Projekts. Das Ziel dieser kritischen Auseinandersetzung ist nicht, wie bei Max Horkheimer und Theodor Adorno, die Utopie der Auf klärung in ihrer grundsätzlich zerstörerischen Kraft anzuklagen und sie somit zu dekonstruieren. Vielmehr werden – wie die Ausführungen zu Jürgen Habermas eingangs zu zeigen versucht haben – die bürgerlichen Gesellschaften an den Versprechungen der Auf klärung gemessen, um in der Folge das zurückzugewinnen, was verloren scheint: den Glauben an das mögliche Fortschreiten bürgerlicher Gleichheit im Rahmen bürgerlicher Freiheit. Die historische Auseinandersetzung mit der modernen Staatsbürgerschaft stellt dabei einen Weg dar, die Frage nach dem Emanzipationspotential und den Verwirklichungsdefiziten der Auf klärung zu stellen. Denn im Übergang von ständisch geprägten zu bürgerlich-liberalen Gesellschaften seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wurde die Staatsbürgerschaft zum Inbegriff und Garanten bürgerlicher Freiheit und Gleichheit. Die vorliegende Arbeit stellt dieser Lesart von Staatsbürgerschaft am Beispiel des Schweizer Bürgerrechts eine weitere Perspektive zur Seite. Ihr Anliegen war nicht, die Staatsbürgerschaft an ihren Versprechungen zu messen, um sie schließlich – in Antwort auf die Herausforderungen heutiger Gesellschaften – als normatives politisches Programm neu zu entwerfen. Vielmehr ließ sich die Arbeit vom Ziel leiten, die ganz unterschiedlichen historischen Bedingungen dafür zu rekonstruieren, wie das Schweizer Bürgerrecht zum Faktor und Produkt staatlichen Regierungshandelns wurde, das immer auch Ausschließungs- und Integrationsdynamiken in Gang setzte. Insofern ging die Untersuchung von der Prämisse aus, dass sich die Staatsbürgerschaft weder nur auf Vorstellungen von einer wie auch immer definierten »nationalen Identität« noch auf republikanische oder liberale Ideen reduzieren lässt, die ihr von der 323 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

politischen Theorie zugeschrieben werden. Vielmehr, so lautete die Hypothese, wird die Staatsbürgerschaft auch von herrschaftlichem Handeln bestimmt, das in der modernen Schweiz durch den Liberalismus, föderalistische Koordinationsprozesse zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden, direktdemokratische Mitsprachemöglichkeiten des Stimmvolkes sowie den Einfluss von Vereinen und Verbänden begrenzt wird. Die Untersuchung des Schweizer Bürgerrechts als Regierungstechnik des jungen schweizerischen Bundesstaats in Anlehnung an das Machtmodell der liberalen Gouvernementalität von Michel Foucault bildete daher einen Schwerpunkt der Studie. Als Instrument der neu entstandenen bürgerlichliberalen Regierungen eröffnete sie den einzelnen Subjekten durch die Gewährung, Zuschreibung und Verweigerung staatsbürgerlicher Rechte und Pflichten Handlungsspielräume von verschiedener Reichweite und setzte somit unterschiedliche Formen der Ausschließung und Integration in Gang. Oder anders formuliert: Mit der Umsetzung des Projekts der Auf klärung in Form bürgerlich-liberaler Regierungen wandelte sich die Staatsbürgerschaft vom utopischen Gegenprojekt einer überkommenen souveränen Herrschaft zu einem integralen Bestandteil gouvernementaler Regierung. Gerade die schweizerischen Verhältnisse boten sich angesichts des ausgeprägten politischen und wirtschaftlichen Liberalismus des »langen 19. Jahrhunderts« für eine solche Lesart an. Die Analyse musste jedoch einen Schritt über Foucaults Genealogie des modernen Staats hinausführen. Denn angesichts der geteilten Machtverhältnisse in der föderalistischen Schweiz und dem dreistufigen Auf bau des Schweizer Bürgerrechts ist der Blick nicht allein auf das bundesstaatliche Bürgerrecht zu richten, sondern notwendigerweise auch auf das Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht. In Anlehnung an Foucaults Unterscheidung zwischen souveränen und gouvernementalen Herrschaftsformen wurde den schweizerischen Gemeinden denn auch eine eher rückwärtsgewandte, teilweise souveräne (kommunalistische) oder frühgouvernementale (republikanische) Herrschaftsform zugeschrieben. Gleich einem frühmodernen Familienvater richteten sie ihr Handeln auch nach der Bundesstaatsgründung von 1848 mehrheitlich an der Lenkung einer kleinen Gesamtheit aus und setzten dabei auf das republikanische Prinzip der »Identität von Regierenden und Regierten«, während die Kantone seit den 1830er Jahren und der schweizerische Bundesstaat zunehmend auf die maßvolle Regierung der Bevölkerung im Rahmen der neuen bürgerlichen Freiheiten setzten. Die daraus hervorgehende doppelte Deutung des dreistufigen Schweizer Bürgerrechts einerseits als juristisches Instrument souveräner Herrschaft (sowohl der schweizerischen Gemeinden als auch der politisch berechtigten Stimmbürger) und andererseits als gouvernementale Regierungstechnik machte die Besonderheit des Schweizer Bürgerrechts im Rahmen des schweizerischen Föderalismus analytisch fassbar. Gemeinden, Kantone und 324 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

Bund standen sich in der Schweiz aber nicht nur widerstreitend gegenüber. Zumeist wurde um ein Gleichgewicht zwischen Zentralgewalt, Gliedstaaten und Kommunen sowie um entsprechende Lasten- und Interessensausgleiche gerungen. Das Verhältnis zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden war hier entsprechend stärker von Koordination, Ausgleich und der Beschränkung staatlicher Macht geprägt als von Hierarchisierung und Zentralisierung, wie dies etwa in Deutschland der Fall war. Die Arbeit hat im Hinblick auf die doppelte Deutung des Schweizer Bürgerrechts als juristisches Instrument souveräner Herrschaft und gouvernementale Regierungstechnik gezeigt, dass das dreistufige Schweizer Bürgerrecht von Beginn an zum Faktor und Produkt eines permanenten politischen Aushandlungs- und Koordinationsprozesses zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden wurde, bei dem nicht selten die Partikulargewalten ihre Rechtstradition durchzusetzen vermochten. Daher werden in einem ersten Schritt die Ergebnisse zum schweizerischen Kantons- und Gemeindebürgerrecht sowie zum bundesstaatlichen Schweizer Bürgerrecht referiert. In einem zweiten Schritt soll dann gesondert auf die ebenso schwerpunktmäßig behandelte Frage eingegangen werden, welche Bedeutung nationale Identitätsvorstellungen für die Entwicklung und Ausgestaltung des Schweizer Bürgerrechts besaßen. Das Kantons- und Gemeindebürgerrecht besitzt eine jahrhundertealte Tradition, ohne die die Entstehung und Entwicklung des dreistufigen Schweizer Bürgerrechts seit 1848 nicht zu erklären sind. Im Jahr 1848 verzichteten die Bundespolitiker bewusst darauf, ein unitarisches Staatsangehörigkeitsrecht zu etablieren. In Anbetracht dessen, dass das schweizerische Gemeindebürgerrecht aufs Engste mit dem Armenrecht verknüpft war, überließ der Bund die Kompetenzen für die Aufnahme neuer Bürgerinnen und Bürger den Kantonen und Gemeinden. Mehrfach äußerten sich die Mitglieder der Kommission zur Revision des Bundesvertrags im Jahr 1848 dazu, dass nur die Beschränkung staatlicher Macht den einerseits liberalen, andererseits finanziell und politisch schwachen Bundesstaat funktionstüchtig werden lasse. Diese Sichtweise entsprang weniger der damals geltenden staatsrechtlichen Lehre von der geteilten Souveränität in Bundesstaaten, sondern schuldete sich nicht zuletzt der Einsicht in die Notwendigkeit einer pragmatischen Aufgabenteilung. Aufgrund der zentralen Bedeutung der kommunalen und kantonalen Rechtstradition wurde zu Beginn der Studie ein Blick auf die »longue durée« des Gemeinde- und Kantonsbürgerrechts geworfen. Dabei zeigte sich, dass sich das schweizerische Gemeindebürgerrecht während des Ancien Régimes aufgrund der Verknüpfung mit dem Armenrecht zunehmend als persönliches und vom Besitz unabhängiges Angehörigkeitsverhältnis herausgebildet hat. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert führten drei Transformationsprozesse zu einem allmählichen, aber tief greifenden Bedeutungsverlust des Gemeindebürgerrechts. Dazu gehörten die Durchsetzung der Niederlassungsfreiheit 325 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

mit der Bundesverfassung von 1848 für männliche und christliche Schweizer Bürger im ganzen Gebiet der Schweiz, der Übergang von der Bürgergemeinde zur Einwohnergemeinde als der politischen Gemeinde mit der Bundesverfassung von 1874 sowie der Übergang vom Heimatprinzip zum Wohnortsprinzip bei der Armenunterstützung im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Durch die beiden ersten Transformationen wurde das Gemeindebürgerrecht für Schweizer Bürger politisch und wirtschaftlich (nicht aber armenrechtlich) bedeutungslos. Dagegen setzte sich das Wohnortsprinzip bei der Armenunterstützung in den meisten Kantonen erst nach dem Ersten Weltkrieg durch, für alle Kantone verbindlich sogar noch später, nämlich im Jahr 1977 aufgrund eines Bundesgesetzes. Die bis dahin fehlende bundesweite Regelung des Wohnortsprinzips und die damit fortbestehende armenrechtliche Bedeutung des Bürgerrechts einzelner Gemeinden sind ein zentraler Grund dafür, weshalb die Kompetenzen der Gemeinden in Einbürgerungsfragen und ihre oft von Abwehr geprägten Einbürgerungsentscheide bis weit ins 20. Jahrhundert Bestand hatten. Das Beispiel des Kantons- und Gemeindebürgerrechts von Basel zeigte, welchen Regeln die bürgerrechtlichen Ausschließungs- und Integrationsdynamiken auf kantonaler und kommunaler Ebene folgten und wie weit der Kanton Basel-Stadt – vor dem Ersten Weltkrieg in Einbürgerungsfragen der liberalste Kanton – die integrativen Möglichkeiten des dreistufigen Schweizer Bürgerrechts ausschöpfte. Mit der zunehmenden Liberalisierung des Basler Bürgerrechts zwischen 1833 und dem Ersten Weltkrieg setzten sich die Kantonsbehörden gegen die restriktive Einbürgerungspolitik der exklusiven Basler Bürgergemeinde wirksam zur Wehr. Der Kanton Basel-Stadt erreichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein Ziel, die Zahl der Basler Bürger mittels erleichterter Einbürgerungsbestimmungen zu vermehren. Zu diesem Zweck hatte er schon im Jahr 1879 das Recht auf unentgeltliche Einbürgerung sowohl für lange in Basel niedergelassene Schweizerinnen und Schweizer als auch für Ausländerinnen und Ausländer eingeführt. Damit hatte der Kanton die baselstädtischen Gemeinden in Fragen der Einbürgerung teilweise entmachtet. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte der Kanton zudem der diskriminierenden Gesetzgebung und Praxis gegen religiöse Minderheiten ein Ende. Doch der Kanton Basel-Stadt betrieb seine Liberalisierungspolitik nicht mit letzter Konsequenz. Einerseits stellte er die Frauen bei den staatsbürgerlichen Rechten und der Einbürgerung nicht mit den Männern gleich. Während er zwar die Wiedereinbürgerung ehemaliger Baslerinnen gegen den Willen der Bürgergemeinde förderte, schloss er mit dem Bürgerrechtsgesetz von 1902 explizit die Frauen von der Regelung aus, bei einem langjährigen Wohnsitz in Basel vom Regierungsrat persönlich zur unentgeltlichen Einbürgerung aufgefordert zu werden. Ebenso ließ die Basler Kantonsregierung die von ihr subventionierte »Allgemeine Armenpflege« mit der restriktiven Heimschaffungs326 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

praxis von bedürftigen Niedergelassenen seit dem Jahr 1904 gewähren. Damit förderte der Kanton indirekt die Aufrechterhaltung der armenrechtlichen Bedeutung des Basler Bürgerrechts sowie die weiterhin restriktive, armenrechtlich motivierte Einbürgerungspraxis der Bürgergemeinde. Vorstellungen von der Nation wurden in Basel bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg von den Vertretern des Kantons oder der Bürgergemeinde kaum geäußert. Die Basler Räte hatten während dieser Zeit ein lebensgeschichtlichkulturelles und in der lokalen Gemeinschaft der Gemeindebürger verankertes Konzept von »Heimat« vor Augen, das den bürgerrechtlichen Einschluss von in Basel geborenen, aufgewachsenen oder seit langer Zeit niedergelassenen Personen unterstützte. Dieses Konzept ergänzte den Topos zur Vermehrung der Basler Bürgerschaft, der seit der Kantonstrennung die Bürgerrechtspolitik des Kantons Basel-Stadt prägte. Im Gegensatz zum »Laisser faire« in Fragen des föderalistischen Staatsangehörigkeitsrechts setzte sich der junge Bundesstaat im Jahr 1848 bei der rechtlichen Gleichstellung der männlichen und christlichen Schweizer sowie bei den Zwangseinbürgerungen der heimatlosen und nicht-sesshaften Bevölkerung gegen die Kantone und Gemeinden durch. Mit diesen staatsbürgerlich integrativen Maßnahmen erfüllten die Verfassungsväter eine zentrale, für die staatliche Kohäsion unentbehrliche Aufgabe junger Bundesstaaten: die Definition des Staatsvolks und die Inländergleichstellung. Zudem schuf der Bund mit der Gewährung der Niederlassungsfreiheit und den darüber vermittelten politischen Rechten für männliche und christliche Schweizer im ganzen Gebiet der Schweiz eine Grundlage zur Durchsetzung der liberalen Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung. Die geografische und soziale Mobilität verlangte die rechtliche Gleichstellung der Bürger. Mit diesen Integrationsmaßnahmen gingen in den ersten Jahrzehnten nach der Bundesstaatsgründung zahlreiche Formen des bürgerrechtlichen Ausschlusses einher. Die staatsbürgerliche Integration machte vor allem an den gesellschaftlichen Trennlinien Halt, die schon vor 1848 die rechtliche Stellung einzelner Personengruppen innerhalb der schweizerischen Gesellschaft bestimmt hatten. Während verschiedene schweizerische Bevölkerungsgruppen wie zunächst die Heimatlosen und Nicht-Sesshaften sowie die Katholiken und später auch die Schweizer Juden und Unterschichten den sesshaften und protestantischen beziehungsweise christlichen und mittelständischen Schweizer Männern gleichgestellt wurden, blieben Frauen von der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit ausgeschlossen. Für sie galten weder die Niederlassungsfreiheit noch die politischen Partizipationsrechte. Hinzu kam, dass auch die staatsbürgerlichen Integrationsdynamiken ihr ausschließendes Potential zur Entfaltung bringen konnten. Dies betraf insbesondere die zwangseingebürgerten Heimatlosen und Nicht-Sesshaften, wie die Schilderungen zu den so genannten »Neubürgern« im Schwyzer Bezirk Einsiedeln deutlich machten. 327 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

Insofern fällt die Bewertung der Bundesstaatsgründung von 1848 für den Prozess der bürgerlichen Gleichstellung unterschiedlich aus. Einerseits dynamisierte die Bundesstaatsgründung die seit den 1830er Jahren bestehenden Bestrebungen einzelner Kantone, den liberalen Gleichheitsgrundsatz in die Praxis umzusetzen. Anderseits standen der Umsetzung zahlreiche Widerstände entgegen: die Furcht der Gemeinden um ihre politische Bedeutung und ihre teilweise noch zünftisch abgeschlossene Wirtschaft, die patriarchale Geschlechterordnung, judenfeindliche Abwehrreflexe und mittelständische Konkurrenzängste. Hinzu kamen die Sicherheitsüberlegungen des Bundes, die ebenso zum staatsbürgerlichen Ein- und Ausschluss einzelner Personengruppen von der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit führten. Insbesondere sollte 1848 die staatliche Kohäsion nicht unnötig gefährdet und entsprechend das Konfliktpotenzial des Konfessionalismus so weit als möglich entschärft werden. Mit der rechtlichen Gleichstellung der Heimatlosen und Nicht-Sesshaften strebten die bundesstaatlichen Politiker danach, die eigene Existenz inmitten der europäischen Monarchien durch ein klar definierbares Staatsvolk zu legitimieren. Als Nagelprobe für die Funktionstüchtigkeit des Bundes stellte die Integration der Heimatlosen und Nicht-Sesshaften für den Bund deshalb wohl eher die Lösung eines Transformationsproblems denn eines sozialen Problems dar. Zwischen den 1860er und 1870er Jahren führten die Sorge um den schweizerischen Außenhandel und um die diplomatischen Beziehungen sowie der Druck des Auslandes zur Integration der Juden in die politische Staatsbürgerschaft. Der Ausschluss der Frauen von den staatsbürgerlichen Rechten und ihre Ungleichstellung in zivilrechtlichen Belangen gefährdeten hingegen weder die staatliche Kohäsion noch die äußere Sicherheit noch die Wirtschaftsbeziehungen des jungen Bundesstaats. Nachdem der Bund zwischen 1848 und 1874 für das »Inländerproblem« und das »Heimatlosenproblem« eine mehrheitlich integrative Lösung gefunden und eine (männliche) »korporative Bürgergesellschaft« (Weinmann) etabliert hatte, stellte sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg vermehrt die Frage, wie die ausländische Wohnbevölkerung in die schweizerische Gesellschaft zu integrieren sei. Mit der Bundesverfassung von 1874 erweiterte der Bund seine Zuständigkeit im Bereich der Staatsangehörigkeitsregelungen. Zunächst stellte das erste Bundesgesetz zum Erwerb und Verzicht des Schweizer Bürgerrechts aus dem Jahr 1876 noch in erster Linie ein Kontrollinstrument bei der Einbürgerung militärpflichtiger Ausländer dar. Doch schon bald wurden Stimmen gegen die zunehmende Zahl der in der Schweiz ansässigen Ausländer laut. So strebten die eidgenössischen Räte mit der Revision des Gesetzes im Jahr 1903 danach, die Einbürgerung der Ausländerinnen und Ausländer zu erleichtern. Der Anstieg der ausländischen Wohnbevölkerung in den Städten und Grenzkantonen, die Orientierungskrise im »Fin de siècle« und fremdenfeindliche Ausschreitungen wie der Zürcher »Italienerkrawall« von 1896 hatten 328 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

dazu geführt, dass die Ausländerinnen und Ausländer als zentraler Gegenstand bundesstaatlicher Bürgerrechts- und Bevölkerungspolitik »entdeckt« worden waren. Die Zunahme des Ausländeranteils deuteten Bundes- und Kantonspolitiker in der Tradition des Republikanismus als Gefahr für die schweizerische Demokratie. Ebenso galt die Konkurrenzfähigkeit der wehrpflichtigen Schweizer gegenüber den von der Wehrpflicht befreiten Ausländern auf dem einheimischen Arbeitsmarkt als gefährdet. Angesichts der herrschenden Personenfreizügigkeit bildete die erleichterte Einbürgerung das einzige Mittel, um die Ausländerziffer zu reduzieren. Mit einem Seitenblick auf das Territorialprinzip im französischen Staatsangehörigkeitsrecht erteilte der Bund den Kantonen daher die Befugnis, in ihrem Gebiet das »ius soli« einzuführen. Mit diesem kantonalen »ius soli« anerkannte der schweizerische Gesetzgeber die Rechtstradition des kantonalen und kommunalen Bürgerrechts – nicht zuletzt aufgrund des noch immer geltenden Heimatprinzips bei der Armenunterstützung. Während dieser finanziell bedeutsame Aspekt in den bundesrätlichen Verlautbarungen zur Revisionsvorlage von 1903 kaum erwähnt wurde, nahm der Bundesrat zur Erklärung der wenig mutigen Gesetzesänderung explizit Bezug auf die Lehre von der geteilten Souveränität in Bundesstaaten. Dies, obwohl sich mittlerweile auch schweizerische Staatsrechtler in Anlehnung an die klassische Staatslehre in Deutschland für die Vorstellung von der unteilbaren Souveränität in Bundesstaaten und somit für eine stärkere Zentralisierung des schweizerischen Staatsangehörigkeitsrechts ausgesprochen hatten. Doch die Kantone machten von der Befugnis, auf ihrem Gebiet das »ius soli« einzuführen, keinen Gebrauch. Insofern scheiterte die gouvernementale Strategie des Bundes, auf dem Weg der erleichterten Einbürgerung den Ausländeranteil zu senken. Mit der ausgeprägten liberalen Haltung in Einbürgerungsfragen gegenüber den Kantonen und Gemeinden im Jahr 1903 hatte der Bund seine Möglichkeiten aus der Hand gegeben, regulierend in das quantitative Verhältnis zwischen Ausländern und Schweizern einzugreifen; die Selbstbeschränkung staatlicher Macht hatte hier – gemessen am Ziel der staatsbürgerlichen Integration der ausländischen Wohnbevölkerung – zu weit geführt. Dagegen erlaubten es die weniger auffälligen Änderungen des Gesetzes von 1903, feinmaschigere Sicherheitsnetze zum »Schutz« der schweizerischen Gesellschaft auszulegen, insbesondere mit der moralischen und charakterlichen Prüfung der Bürgerrechtsbewerberinnen und -bewerber sowie der Wiedereinbürgerung von Frauen und Kindern auf Geheiß des Bundesrats. So schuf der schweizerische Gesetzgeber angesichts fehlender sozialstaatlicher Einrichtungen die Möglichkeit für ehemalige Schweizerinnen, ihr altes Bürgerrecht wiederzuerlangen und von ihrer früheren Heimatgemeinde im Bedarfsfall unterstützt zu werden. Gleichzeitig erhielt der Bundesrat die Befugnis, nun auch den Leumund, die charakterlichen Eigenschaften, die finanzielle Lage und die »Familienverhältnisse« der Bürgerrechtsbewerberinnen und -bewerber zu prü329 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

fen. Damit war ein Anfang für die zunehmende Kontrolle der Kandidatinnen und Kandidaten bezüglich ihres Charakters und Lebenswandels durch den Bundesrat gemacht. Im Jahr 1909 setzte ein nationalrätliches Postulat die Auseinandersetzung um die erleichterte Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern von Neuem in Gang. Doch der Bundesrat begegnete dem zunehmenden Ruf nach einer Lösung der nun so genannten »Ausländerfrage« bis ins Jahr 1912 mit ausgesprochener Passivität. Seine untätige Haltung leistete der Einflussnahme überparteilicher sowie überkantonaler Interessengruppen Vorschub. Gesellschaftliche Pressuregroups machten sich für die Zwangseinbürgerung von in der Schweiz geborenen Ausländerinnen und Ausländern, das heißt für das »ius soli« ohne Optionsrecht, und ein Recht auf Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern stark, allen voran die überkantonale »Neunerkommission«. Doch die noch vor dem Krieg in Gang gekommenen Bestrebungen in der Bundesverwaltung, das Gesetz aus dem Jahr 1903 zu revidieren, wurden mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs abrupt beendet. Während des Ersten Weltkriegs änderte sich die liberale Haltung der Bundesbehörden. Der Bundesrat gab seine Politik des »Laisser faire« im Bereich des schweizerischen Staatsangehörigkeitsrechts auf. Zwar blieb das Schweizer Bürgerrecht weiterhin föderalistisch organisiert. Doch die Wohnsitzfrist für Refraktäre und Deserteure wurde im Kriegsjahr 1917 auf vier Jahre erhöht, im Jahr 1920 folgte eine Wohnsitzfristerhöhung für Ausländerinnen und Ausländer der ersten Einwanderergeneration auf sechs Jahre. Gleichzeitig drang der Bundesrat mit der Prüfung der Einbürgerungsgesuche in immer intimere Lebensbereiche der Bürgerrechtsbewerberinnen und -bewerber vor. Hinzu kommt, dass im Jahr 1928 trotz langjähriger Bemühungen, das »ius soli« und das Recht auf Einbürgerung einzuführen, nur ein verwässertes Territorialprinzip in der Bundesverfassung verankert wurde, das überdies nie Eingang in die Bundesgesetzgebung fand. Obwohl während des Kriegs die Zahl der ansässigen Ausländerinnen und Ausländer merklich gesunkenen war, hatten sich die integrativen Lösungsansätze aus der Zeit vor 1914 in ihr Gegenteil verkehrt. Das Schweizer Bürgerrecht war zusammen mit dem »Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer« von 1931/34 zum Instrument im Kampf gegen die so genannte »Überfremdung« geworden. Die Frage nach dem Verhältnis der Nation als »imagined community« (Anderson) und dem Schweizer Bürgerrecht hat den Gang der Untersuchung ebenso geleitet wie die Frage nach der Bedeutung des Schweizer Bürgerrechts im Rahmen herrschaftlichen Handelns. Während nachfolgend der Fokus auf die Bedeutung nationaler Gemeinschaftsvorstellungen für die Entwicklung und Ausgestaltung des Schweizer Bürgerrechts gelegt wird, ist gleichzeitig zu betonen, dass beide Faktoren – die Nation und das herrschaftliche Handeln – in historisch unterschiedlichen Variationen interagierten. 330 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bildeten die jeweils herrschenden nationalen Identitätsvorstellungen ein prägendes Strukturelement europäischer Gesellschaften, die kaum einen Bereich des politischen und gesellschaftlichen Lebens unberührt ließen. Die Untersuchung ließ erkennen, dass die Vorstellungen von der schweizerischen Nation eine bedeutendere Rolle bei der Herausbildung und Entwicklung des Schweizer Bürgerrechts spielten, als zunächst in Analogie zu den Forschungsergebnissen von Patrick Weil und Dieter Gosewinkel zur französischen und deutschen Staatsangehörigkeit angenommen wurde. Und dies, obwohl sich in der Schweiz aufgrund der großen kulturellen Heterogenität keine ethnisch-kulturelle Vorstellung von der nationalen Gemeinschaft aufdrängte. Im Zuge der liberalen Bewegung der 1830er Jahre etablierte sich in der Schweiz die Vorstellung einer über den Demos definierten Staatsbürgernation, die mit der Gründung des Bundesstaats ihre doppelte politische Entsprechung fand: mit der repräsentativen Demokratie in Form des parlamentarischen Zweikammernsystems und der rechtlichen Gleichstellung der männlichen und christlichen Schweizer Bürger im ganzen Gebiet der Schweiz. Die oben geschilderten staatsbürgerlichen Ausschließungs- und Integrationsdynamiken nach 1848 stellten – unter dem Aspekt nationaler Gemeinschaftsvorstellungen betrachtet – das Ergebnis eines Aufeinandertreffens von Tradition und Innovation dar. Traditionelle Vorstellungen vom männlichen, christlichen beziehungsweise protestantischen, sesshaften und mittelständischen Bürger mischten sich hier mit modernen Vorstellungen einer dem bürgerlich-liberalen Zeitalter verpflichteten Staatsbürgernation. Dass die Schweizerinnen und zunächst noch die Schweizer Juden vom rechtlichen Gleichheitsgrundsatz ausgeschlossen werden konnten, widersprach dabei in den Augen der liberalen Bundespolitiker nicht der Vorstellung einer schweizerischen Nation von Staatsbürgern. Zum einen legitimierte die Mischung eines tradierten christlichen Antijudaismus mit Elementen eines modernen Antisemitismus den Ausschluss der Juden von der schweizerischen Staatsbürgernation bis in die 1860er Jahre. Zum andern wurden Frauen aufgrund der Ideologie des Geschlechterdualismus als »Ungleiche« (Wecker) betrachtet und waren daher nicht in die politische Staatsbürgerschaft zu integrieren. Die rechtliche Ungleichstellung von Frauen ist dabei aber nicht allein als »Inkonsequenz des Liberalismus« (Mesmer) oder als integraler Bestandteil der jungen gouvernementalen Herrschaft des Bundes zu deuten. Vielmehr war die Ungleichheit auch in der republikanischen Tradition der »Identität von Regierenden und Regierten« begründet. Die ständische Abhängigkeit von Frauen setzte sich auf diese Weise auch im liberalen Zeitalter fort. Der Ausschluss der Frauen von der Staatsbürgernation war somit tief greifend und mit keiner andern Gruppe innerhalb der schweizerischen Staatsangehörigen vergleichbar. Das liberale Konzept der Staatsbürgernation, das während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die traditionellen Kriterien des bürger331 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

rechtlichen Ein- und Ausschlusses wie soziale Schichtzugehörigkeit, Konfession oder Religion für Schweizer Männer ablöste, galt im Fall der Frauen nicht. Insofern erwies sich im Verlauf der Untersuchung auch das Metanarrativ der liberalen Gouvernementalität für die Geschichte des Schweizer Bürgerrechts von Frauen als nur bedingt angemessen. Auf das Prinzip der Weitergabe des Schweizer Bürgerrechts an die eigenen Kinder (»ius sanguinis« oder »ius soli«) besaßen die Nationsvorstellungen um die Mitte des 19. Jahrhunderts keinen Einfluss. Weiterhin galt das in der Rechtstradition der Gemeinden begründete »ius sanguinis«. Dieses war vor allem Ausdruck der eigenen Machtbeschränkung des Bundes gegenüber den schweizerischen Gemeinden. Angesichts des gemeinschaftlichen Bürgerguts und des Heimatprinzips bei der Armenunterstützung sollten die Gemeinden weiterhin die Kontrolle darüber besitzen, wer als Bürgerin oder Bürger in das Bürgerrecht aufgenommen wurde; das Territorialprinzip hätte diese Kompetenz der Gemeinden beschnitten. Zudem bedeuteten die Einbürgerungsgebühren für viele Gemeinden eine lukrative Einnahmequelle. Gleichzeitig stellte die konsequente Durchsetzung des Abstammungsprinzips für den Verlust des Schweizer Bürgerrechts ein bevölkerungspolitisches Integrationsinstrument der jungen bundesstaatlichen Herrschaft dar. Die auswärtigen Schweizerinnen und Schweizer sollten nicht mehr aufgrund einer längern Orts- oder Landesabwesenheit ihr Bürgerrecht verlieren. Auf diese Weise sollte hauptsächlich die Zunahme der Armutswanderung verhindert werden. Für Frauen, die einen Ausländer heirateten, galt das Unverlierbarkeitsprinzip des Bürgerrechts jedoch bis ins Jahr 1952 nicht. In den 1870er Jahren erhielt die Vorstellung von der schweizerischen Staatsbürgernation deutlichere Konturen. Insbesondere nahm Carl Hilty im Jahr 1875 die Vorstellungen Ernest Renans von der Nation als »Willensnation« vorweg. Gleichwohl flossen Äußerungen zur schweizerischen Nation nicht in die Debatten zum ersten bundesstaatlichen Bürgerrechtsgesetz von 1876 ein. Dagegen spielte die Nation erstmals in den parlamentarischen Debatten zur Revision des Bundesgesetzes über Erwerb und Verlust des Schweizer Bürgerrechts in den Jahren 1901 und 1902 eine Rolle, allerdings nicht im Sinne eines ethnisch-kulturellen Konzepts »nationaler Identität«. Obwohl sich zur selben Zeit in den Kreisen der heterogenen, kulturprotektionistischen »neuen Rechten« ein Identitätsdiskurs im Sinne einer ethnisch-kulturellen »schweizerischen Eigenart« zu etablieren begann, wurden in den Parlamentsdebatten keine derartigen Vorstellungen von der schweizerischen Nation geäußert. Was sich jedoch mehr und mehr abzeichnete, war das Herauf beschwören einer »nationalen Gefahr«, die von den in zunehmender Zahl ansässigen Ausländerinnen und Ausländern und dem »abnormalen Verhältnis« zwischen ihnen und der schweizerischen Bevölkerung ausgehe. Damit etablierte sich auf Bundesebene um 1900 ein Muster des Sprechens über Ausländer, in dem sich diskursive 332 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

Elemente aus den Interdiskursen des »Normalismus« und der »Sicherheit der Gesellschaft« verketteten und die »Nation« den zentralen Bezugspunkt bildete. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch nach integrativen Lösungen für die Reduktion des Ausländeranteils gesucht wurde, so waren in diesem Muster die ausschließenden Semantiken und Strategien grundsätzlich angelegt. Der Erste Weltkrieg bildete die wichtigste Zäsur in der Geschichte des dreistufigen Schweizer Bürgerrechts. Kulturprotektionistische Organisationen wie die Neue Helvetische Gesellschaft wurden zu Plattformen des jungen, xenophoben und ethnisch-kulturell aufgeladenen Überfremdungsdiskurses. Seit der Schaffung der Zentralstelle für Fremdenpolizei im Jahr 1917 wurde dieser Diskurs auch auf behördlicher Ebene institutionalisiert. Im Zuge dieser Entwicklung fand rund siebzig Jahre nach der Bundesstaatsgründung die nachträgliche Ethnisierung des Schweizer Bürgerrechts statt. Diese manifestierte sich in einem Kreisschreiben aus dem Jahr 1921. Darin forderte der Bundesrat die Kantonsregierungen auf, Bürgerrechtsgesuche auf die »Assimilierbarkeit« der Bewerberinnen und Bewerber an die »schweizerische Eigenart« zu prüfen und die Kandidatinnen und Kandidaten gegebenenfalls aufgrund ethnischer Kriterien abzuweisen. Bestätigt wurde die Ethnisierung des Schweizer Bürgerrechts, als im Jahr 1926 die Zuständigkeit für Einbürgerungen auf Bundesebene vom Eidgenössischen Politischen Departement in das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement wechselte. Die bundesrätliche Bewilligungspraxis lag nun in der Hand der wichtigsten Träger des Überfremdungsdiskurses und der obersten Polizeibeamten in Fragen des zunehmend restriktiv gehandhabten schweizerischen Aufenthalts- und Niederlassungswesens. Unter ihrer Ägide wurde auch die diskriminierende und antisemitische Einbürgerungspolitik der Stadt Zürich vom Bund übernommen. Im Rahmen der ethnisch-kulturell motivierten »Überfremdungsbekämpfung« nach dem Ersten Weltkrieg ist auch die (folgenlose) Einführung des »ius soli« im Jahr 1928 zu erklären. Zwar trug die noch immer armenrechtliche Bedeutung des Gemeindebürgerrechts zu diesem Misserfolg bei. So bemängelte die Kommission des Ständerats, dass das »ius soli« zu mehreren Gemeindebürgerrechten innerhalb der Familie und somit zu komplizierten Unterstützungsverhältnissen führen würde, falls die Familie zwischen der Geburt zweier Kinder den Wohnort wechsle. Als zentrale Ursache für das verwässerte »ius soli« ist jedoch in Anlehnung an die mehrfach erwähnte These von Patrick Weil zum Verhältnis der Selbstwahrnehmung eines Landes als Einwanderungsland und der Einführung von Elementen des »ius soli« der Sachverhalt zu nennen, dass sich die offizielle Schweiz nach dem Ersten Weltkrieg keineswegs als Einwanderungsland verstand. Vielmehr zeigt die damalige behördliche »Überfremdungsbekämpfung« und die Ethnisierung des Schweizer Bürgerrechts, dass nicht mehr die staatsbürgerliche Integration von Einwanderern, sondern prinzipiell die Abwehr »unerwünschter Fremder« im Zentrum der bundesstaat333 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

lichen Politik stand. Während das »ius soli«, das vor 1914 den Politikern der »Neunerkommission« vorgeschwebt hatte, republikanisch motiviert gewesen war und auf die Durchsetzung gleicher Rechte bei gleichen Pflichten gesetzt hatte, stellte das »ius soli« von 1928 auf ethnisch-kulturelle Differenz ab: Die Kinder von »nicht-assimilierten« oder »nicht-assimilierbaren« Ausländern sollten nicht vom »ius soli« profitieren können. Unterstützt wurde diese Haltung von der fremdenfeindlichen Stimmung in der Bevölkerung (erinnert sei an die erste »Ausländerinitiative« im Jahr 1920). So hatte während der Kommissionsund Parlamentsdebatten auch das bevorstehende obligatorische Verfassungsreferendum zur Rücknahme weiter gehender Forderungen geführt. Auf diese Weise scheint sich der Überfremdungsdiskurs gegen die Strategie der behördlichen Diskursträger selbst gewendet zu haben: Die damit transportierten, xenophoben Muster waren in den Augen mancher Stimmbürger wohl nicht mit der Einführung des »ius soli« vereinbar. Die Wirkungen des Ersten Weltkriegs auf die schweizerischen Staatsangehörigkeitsregelung zeigten sich also in dreifacher Weise: Zunächst wurde die Rechtstradition des dreistufigen Schweizer Bürgerrechts und die zumeist restriktive Einbürgerungspolitik der schweizerischen Kantone und Gemeinden bestätigt. Weiter radikalisierte sich das Sprechen über Ausländer, indem das darin angelegte ausschließende Potenzial während des Kriegs entfesselt und ethnisch angereichert wurde. Und schließlich brachen Bundesrat und Parlament mit den bisher angestrebten integrativen Lösungen des Bundes zur Reduktion des Ausländeranteils. Vor dem Hintergrund der historischen Analyse des Schweizer Bürgerrechts im Rahmen herrschaftlichen Handelns und nationaler Gemeinschaftsvorstellungen lässt sich abschließend auch die Frage beantworten, weshalb im Gegensatz zu zahlreichen anderen europäischen Ländern bis in die Gegenwart jegliche Versuche scheiterten, Elemente des »ius soli« für die zweite und dritte Einwanderergeneration einzuführen und die in der Schweiz seit 1952 geltende, überaus hohe zwölfjährige Wohnsitzfrist für die Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern zu verringern. Die Antwort darauf ist zunächst im schweizerischen Gemeindebürgerrecht zu suchen. Die mehrheitlich restriktive Einbürgerungspolitik schweizerischer Gemeinden lag seit der Zeit der Reformation in der Verknüpfung des Armenrechts mit dem Bürgerrecht begründet und bildete eine wirksame »pièce de résistance« gegen die abnehmende politische und wirtschaftliche Bedeutung der schweizerischen Bürgergemeinden. Bis ins Jahr 1977 bildete daher das Armenrecht einen wichtigen Grund dafür, weshalb der schweizerische Bundesstaat kein unitarisches Schweizer Bürgerrecht einführte. Zwar war vor dem Ersten Weltkrieg der politische Wille vorhanden, das »ius soli« ohne Optionsrecht sowie ein Recht auf Einkauf in ein Gemeindebürgerrecht einzuführen – bei gleichzeitiger Beteiligung des Bundes an den Armenlasten zwangsein334 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

gebürgerter Personen. Doch der Ausbruch des Ersten Weltkriegs stoppte diese Bestrebungen. Ob angesichts der Referendumsdemokratie die weitgehenden Forderungen der »Neunerkommission« durchzusetzen gewesen wären, ist allerdings zu bezweifeln. Auf jeden Fall blieb das kommunale, armenrechtlich bedeutsame Bürgerrecht das Nadelöhr für Einbürgerungen. Mit der Einführung des Wohnortsprinzips in der Sozialhilfe im Jahr 1977 wäre es allerdings möglich geworden, das Schweizer Bürgerrecht von seiner Bindung an die Gemeinden zu lösen oder zumindest einzelne Elemente des »ius soli« einzuführen. Doch dies geschah nicht. Die Ethnisierung des Schweizer Bürgerrechts hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg in einer unheiligen Allianz mit den restriktiven Gemeinden und ihrer korporatistischen Tradition der Abwehr verbunden. Dabei erwies sich die von oben verordnete und während Jahrzehnten praktizierte Ethnisierung des Schweizer Bürgerrechts als äußerst resistent, so dass bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts jeder Versuch, die staatsbürgerliche Integration der zweiten und dritten Einwanderergeneration durch die Einführung von Elementen des »ius soli« zu fördern, am obligatorischen Referendum scheiterte.

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Abkürzungen

Abs. Art. BAR BG BV O.A. O.J. O.O. StA BS SVP

Absatz Artikel Schweizerisches Bundesarchiv Bundesgesetz Schweizerische Bundesverfassung Ohne Autor Ohne Jahr Ohne Ort Staatsarchiv Basel-Stadt Schweizerische Volkspartei

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Quellen- und Literaturverzeichnis A. Ungedruckte Quellen Schweizerisches Bundesarchiv, Bern (BAR) Bestand E 21: Polizeiwesen E 21 16054. Weisung des eidg. Justiz- und Polizeidepartements zum Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931. E 21 20587. BG v. 3. Juli 1876 betr. Erwerb des Schweizerbürgerrechts und Verzicht auf dasselbe. E 21 20589. BG v. 25. Juni 1903 betr. die Erwerbung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, 1. Band, 1899–1901. E 21 20591. Briefwechsel mit der Genfer Reg. betr. das Genfer Naturalisationsgesetz v. 21. Oktober 1905, Burckhardt I, No 321/V, 1905–1909. E 21 20594. Einschränkung der Einbürgerung während des Krieges und in der Nachkriegszeit. E 21 20595. BG vom 26. Juni 1920 betr. Abänderung von Art. 2 des BG vom 25. Juni 1903 über die Erwerbung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe. E 21 20729. Brief von Rothmund an die Direktion der Polizei des Kantons Zürich vom 2. November 1926. Bestand E 22: Justizwesen E 22 505. Bericht des Politischen Departements betr. Massnahmen gegen die Überfremdung, vom 30. Mai 1914. E 22 512. Bundesbeschluss vom 21.10.1921 betr. die Ausländerinitiative (Aenderung der Artikel 44, Einbürgerung und Art. 70, Ausweisung, der Bundesverfassung), Verschiedenes betr. die Ausländerinitiative, besonders Frage betr. die Gültigkeit der Doppelinitiative. E 22 545. Materialien zur Petition der »Neunerkommission« betr. Massnahmen gegen die Überfremdung der Schweiz, vom 17. Dezember 1912. E 22 557. Bericht der Expertenkommission Montreux vom 6.–10. Oktober 1919. Sonstige E 4800 1, -/3 Bd. 4. Vorträge, Referate, Heinrich Rothmund, Die Schweiz durch die Brille der Fremdenpolizei.

Staatsarchiv Basel-Stadt, Basel (StA BS) Bürgerrecht B4. Bürgerrechtsgesetz vom 27. Januar 1879 1872–1879–95.

337 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

Bürgerrecht B5. Bürgerrechtsgesetze überhaupt Revisionen 1895–1923–36. Gemeindearchive Bürgergemeinde Basel C3. Bürgerrechtsbegehren 1800–1966. Gemeindearchive Bürgergemeinde Basel C7. Bürgerrechtsbegehren: Wiederaufnahme von Frauen 1860–1966. Stadtarchiv Zürich Akten zum Protokoll des Stadtrats Zürich bürgerliche Abteilung II B 348 1897. Gemeindearchiv Einsiedeln M I 4.1, Burger (Neuburger). Vagabunden-Verzeichnis gem. Einbürgerungsverordnung, vom 26./27 November 1851. Aus dem Buch »Vagabunden« (gelesen und übersetzt von Paul Henseler, Zivilstandsbeamter).

B. Gedruckte Quellen Amtliche Publikationen Helvetik (1798–1803) Amtliche Sammlung der Acten aus der Zeit der Helvetischen Republik (1798–1803) im Anschluss an die ältern eidg. Abschiede, hg. auf Anordnung der Bundesbehörden, bearbeitet von Johannes Strickler, Bd. 3, Bern 1889, Bd. 4, Bern 1892. Ingressus des Gesetzes über die Bürgerrechte, vom 13. Februar 1799, in: Tageblatt der Gesetze und Dekrete der gesetzgebenden Räthe der helvetischen Republik (1798–1803), Bern 1800–1803, 7 Bände, Bd. 2, S. 318. Eidgenossenschaft (bis 1848) Abschied der ordentlichen eidgenössischen Tagsatzung des Jahres 1847, IV. Theil, enthaltend die Verhandlungen vom 11. Mai bis 27. Brachmonat [ Juni] 1848. Bericht über den Entwurf einer Bundesurkunde, erstattet an die Eidgenössischen Stände von der Commission der Tagsatzung. Berathen und beschlossen in Luzern, den 15. Christmonath 1832. Amtliche Übersetzung, Zürich 1833. Bericht über den Entwurf einer Bundesverfassung, vom 8. April 1848, erstattet von der am 16. August 1847 von der Tagsatzung ernannten Revisionskommission, o.O. 1848. Beschluss der Tagsatzung, betreffend das schweizerische Kantonsbürgerrecht, vom 23. Juni 1806, in: Leuthy, Johann Jakob, Handbuch der Schweizerischen Handels-, Gewerbs- und Niederlassungs-Verhältnisse für Beamte, Rechtsanwälte, Notare, Kaufleute, Geschäftsmänner, u.A., Bd. 1, Zürich 1847, S. 375. Konkordat wegen des Heimathrechtes der in einen andern Kanton einheiratenden Schweizerinnen, vom 8. Juli 1808, bestätigt den 9. Juli 1818, in: Leuthy, Johann Jakob, Handbuch der Schweizerischen Handels-, Gewerbs- und Niederlassungs-Verhältnisse für Beamte, Rechtsanwälte, Notare, Kaufleute, Geschäftsmänner, u.A., Bd. 1, Zürich 1847, S. 376.

338 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

Protokoll über die Verhandlungen der am 16. August 1847 durch die hohe eidgenössische Tagsatzung mit der Revision des Bundesvertrags vom 7. August 1815 beauftragten Kommission, verfasst durch den Sekretär der Kommission, Herrn eidg. Kanzler Schiess, und gedruckt in Folge Beschlusses der Kommission, o.O. o.J. Tagsatzungsbeschluss über freien Verkehr im Innern der Eidgenossenschaft, vom 26. Heumonat [ Juli] 1831, in: Leuthy, Johann Jakob, Handbuch der Schweizerischen Handels-, Gewerbs- und Niederlassungs-Verhältnisse für Beamte, Rechtsanwälte, Notare, Kaufleute, Geschäftsmänner, u.A., Bd. 1, Zürich 1847, S. 368f.

Bund Bundesverfassungen Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 12. Herbstmonat [September] 1848, in: Offizielle Sammlung der das schweizerische Staatsrecht betreffenden Aktenstücke, Bundesgesetze, Verträge und Verordnungen, seit der Einführung der neuen Bundesverfassung vom 12. September 1848 bis 8. Mai 1850, Bern 21850, S. 3–35. Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, vom 29. Mai 1874, in: Amtliche Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen, Neue Folge, Jg. 1875, Bd. 1, S. 1–37. Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse Bundesgesetz, die Heimathlosigkeit betreffend, vom 3. Dezember 1850, in: Amtliche Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen der schweizerischen Eidgenossenschaft. Bd. 2, Jg. 1851, S. 138–145. Bundesgesez (sic) betreffend die Ertheilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 3. Heumonat [ Juli] 1876, in: Amtliche Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen der schweizerischen Eidgenossenschaft, Neue Folge, Bd. 2, S. 510–514. Bundesgesetz betreffend die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 25. Juni 1903, in: Amtliche Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen der schweizerischen Eidgenossenschaft, Neue Folge, Bd. 19, S. 690–696. Bundesgesetz betreffend Abänderung von Art. 2 des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1903 über die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 26. Juni 1920, in: Amtliche Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen der schweizerischen Eidgenossenschaft, Neue Folge, Bd. 21, S. 639–640. Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer, vom 26. März 1931, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, 83. Jg. (1931), Bd. 1, S. 425–434. Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizerbürgerrechts, vom 29. September 1952, in: Sammlung der eidgenössischen Gesetze: Amtliche Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen, 1952, S. 1087–1101. Bürgerrechtsgesetz, Änderung vom 23.3.1990, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, 1990, Bd. 1, S. 1598–1607. Bundesbeschluss betr. die Erwahrung der Volksabstimmung vom 20. Mai 1928 über den Bundesbeschluss vom 30. September 1927 betr. Revision des Art. 44 der Bundesverfassung (Massnahmen gegen die Überfremdung), vom 29. September 1928, in: Amtliche Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen der schweizerischen Eidgenossenschaft, Neue Folge, Bd. 44, S. 724f. Bundesratsbeschluss über Änderung der Vorschriften über Erwerb und Verlust des Schweizerbürgerrechts vom 11. November 1941, in: Amtliche Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen der schweizerischen Eidgenossenschaft, Neue Folge, Bd. 57, S. 1257–1260.

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Botschaften und Berichte des Bundesrats Botschaft des Bundesrathes an die h. Bundesversammlung, betreffend die Revision der Bundesverfassung, vom 17. Juni 1870, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, XXII. Jg., Bd. 2, S. 665–710. Botschaft des Bundesrathes an die hohe Bundesversammlung zum Gesezentwurf, betreffend den Erwerb des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, vom 2. Juni 1876, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1876, Bd. 2, S. 897–908. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die Organisation des Politischen Departements, vom 22. Mai 1896, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1896, Bd. 3, S. 178–181. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Revision des Bundesgesetzes betreffend die Erteilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe, vom 20. März 1901, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1901, Bd. 2, S. 458–496. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Abänderung von Art. 2, Absatz 1, des Bundesgesetzes vom 25. Juni 1903 über die Erwerbung des Schweizerbürgerrechts und den Verzicht auf dasselbe, vom 28. Juni 1919, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1919, Bd. 4, S. 225–238. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend Revision des Art. 44 der Bundesverfassung (Massnahmen gegen die Überfremdung), vom 9. November 1920, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1920, Bd. 5, S. 1–78. Nachtrag zu der Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung vom 9. Dezember 1920 betreffend Revision des Art. 44 der Bundesverfassung (Massnahmen gegen die Überfremdung), vom 14. November 1922, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1922, Bd. 3, S. 661–674. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die Volksabstimmung vom 20. Mai 1928 über den Bundesbeschluss vom 30. September 1927 betreffend Revision des Artikels 44 der Bundesverfassung (Massnahmen gegen die Überfremdung), vom 15. Juni 1928, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1928, Bd. 2, S. 153–156. Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Entwurf zu einem Bundesgesetz über Erwerb und Verlust des Schweizerbürgerrechts, vom 9. August 1951, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1951, Bd. 2, S. 669–720. Bericht des Bundesrathes an die Bundesversammlung über das Gesetz, betreffend die Heimathlosigkeit, vom 30. September 1850, in: Schweizerisches Bundesblatt, II. Jg., Bd. III, Nr. 46, S. 123–139. Bericht der Kommission des Ständerathes über die Geschäftsführung des Bundesrathes und des Bundesgerichtes im Jahre 1890, vom 23. Mai 1891, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1891, Bd. II, S. 1049–1083. Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend die finanzielle Beteiligung des Bundes an den Armenlasten, die den Gemeinden aus den unentgeltlichen Wiedereinbürgerungen erwachsen, vom 7. Dezember 1907, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1907, Bd. VI, S. 372–379. Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend den Rekurs der Burgergemeinde Bern gegen die Wiedereinbürgerung der Witwe Elisabeth Bernard geb. Meyer, vom 17. Dezember 1908, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1908, Bd. VI, S. 409–412. Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung betreffend den Rekurs des Gemeinderates Waldhäusern gegen die Wiedereinbürgerung der Witwe Karolina Birsner geb.

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Schmid, vom 2. November 1909, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1909, Bd. VI, S. 526–529. Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über seine Geschäftsführung im Jahre 1917, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1918, Bd. 2, S. 1–292. Bericht des Bundesrates über seine Geschäftsführung im Jahre 1919, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1920, Bd. 1, Heft 13, S. 557–615. Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Volksbegehren »Ausländerinitiative«: Begehren I betreffend Abänderung von Art. 44 der Bundesverfassung (Einbürgerungswesen), Begehren II betreffend Abänderung von Art. 70 der Bundesverfassung (Ausweisung wegen Gefährdung der Landessicherheit), vom 6. Juni 1921, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1921, Bd. 3, S. 335–346. Bericht des Bundesrates an die Bundesversammlung über das Ergebnis der eidgenössischen Volksabstimmung vom 11. Juni 1922 betreffend die Volksbegehren um Revision der Art. 44, 70 und 77 der Bundesverfassung, vom 14. Juni 1922, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1922, Bd. 2, S. 871–872. Kreisschreiben des Bundesrats Kreisschreiben des Bundesrates an sämmtliche Kantonsregierungen betreffend statistische Erhebungen über Einbürgerung von Landesfremden, vom 7. August 1890, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1890, Bd. 3, S. 1185–1186. Kreisschreiben des Bundesrates an die Regierungen der Kantone betreffend die Prüfung der Eignung von Personen, die sich um das Schweizerbürgerrecht bewerben, vom 2. Dezember 1921, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1921, Bd. 5, S. 178f. Protokolle des National- und Ständerats Protokoll über die Verhandlungen der im Juli 1870 mit Vorberathung der Revision der Bundesverfassung vom 12. September 1848 beauftragten Kommission des schweizerischen Nationalrats, Bern 1871. Protokoll über die Verhandlungen der eidgenössischen Räthe betreffend Revision der Bundesverfassung, 1873/1874, Bern 1877. Parlamentsdebatten Amtliches stenographisches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung, Bern 1891ff. (ab 1907: Amtliches Bulletin der schweizerischen Bundesversammlung). Statistiken Eidgenössisches statistisches Bureau (Hg.), Die Einbürgerungen in den Kantonen der Schweiz 1889–1908, Bern 1911. Übrige Antrag auf Wiedereinbürgerung der Karolina Birsner geb. Schmid an den Bundesrat, Bundesratsbeschluss betreffend die Wiederaufnahme der Frau Karolina Birsner geb. Schmid (22. Juli 1909), Beschwerde für die Ortsbürgergemeinde Waldhäusern, Kanton Aargau, vertreten durch den Gemeinderat Waldhäusern (3. August 1909), in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1909, Bd. VI, S. 528–540. Aus den Verhandlungen des Bundesrates, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, Jg. 1917, Bd. 4, S. 674–676. Eingaben zur Bundesrevision, Eingabstermin vom 6. August bis 1. Oktober 1870, in: Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft, XXII. Jahrgang, 2.10.1870, Band III, S. 435–461.

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Register Personenregister Ador, Gustave 288, 290 Adorno, Theodor 323 Affolter, Albert 116, 133 Anderson, Benedict 26, 79, 330 Appelt, Erna 83–85, 280 Arlettaz, Gérald 27 Bauman, Zygmunt 64, 148 Baumgartner, Gallus Jakob 119 Bernoulli, Carl 241, 251f. Bissegger, Walter 218, 223 Bitzius, Albert 145 Blaschke, Olaf 90 Bleuler, Eugen 281 Blocher, Eduard 267 Blocher, Johann Georg 267 Bluntschli, Johann Caspar 98, 132 Boissier, Edmond 210, 218 Bolli, Beat Heinrich 295 Bollinger, Rudolf 210f., 218–222, 305, 308 Bovet, Ernest 265f. Brenner, Ernst 189–191, 196f., 199, 204, 217 Brubaker, Rogers 33, 35, 92f., 123 Büchner, Ludwig 279 Burckhardt, Walther 185, 218, 224f., 270, 304, 306, 308

Druey, Henri 98, 104 Dubs, Jakob 160f., 163 Durheim, Carl 122 Egloff, Johann Konrad 190 Escher, Konrad 94, 96, 223 Etter, Philipp 286 Favre, Camille 210 Fleiner, Fritz 116, 185, 287, 308 Forel, August 281 Forrer, Ludwig 214 Foucault, Michel 16, 20, 25, 46–54, 57, 60, 324 Frevert, Ute 88 Frey, Hans 294, 304 Furrer, Jonas 54, 104

Calonder, Felix Ludwig 295–297 Carteret, Antoine 159 Chamberlain, Houston Stewart 89f., 274, 279 Craig, Gordon Alexander 54 Curti, Theodor 174–178, 180, 204

Gast, Uriel 106, 287 Geertz, Clifford 26 Gellner, Ernest 80, 108 Geulen, Christian 278–280 Giacometti, Zaccaria 31f. Gobineau, Joseph Arthur de 279 Gosewinkel, Dieter 29f., 33, 35–37, 42f., 124f., 331 Gotthelf, Jeremias 145 Göttisheim, Emil 191, 211, 218–222, 308 Graber, Rolf 58 Greulich, Herman 173, 208, 211, 216 Gruner, Erich 91 Guggenbühl, Christoph 95 Gumplowicz, Ludwig 279

Darwin, Charles 279 David, Heinrich 177, 203f., 217 Delaquis, Ernst 288, 301, 304, 306, 308, 315

Habermas, Jürgen 43f., 323 Häberlin, Heinrich 308, 315 Haeckel, Ernst 279 Häfelin, Ulrich 31

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Haller, Walter 31 Hausen, Karin 19, 74 Herwegh, Emma 83 Herwegh, Georg 83 Herzl, Theodor 249 Hilty, Carl 45, 100f., 115f., 223, 280, 332 Hitler, Adolf 21 Hobsbawm, Eric 20, 79, 83f. Hoffmann, Arthur 215, 283, 285, 288– 290, 308f. Höppli, Otto 296f. Horkheimer, Max 323 Hunt, Lynn 19 Iselin, Isaak 232–234 Jaun, Rudolf 268 Jellinek, Georg 115–117 Jolissaint, Pierre 159 Jost, Hans Ulrich 264 Keller, Gottfried 267 Kern, Johann Conrad 98 Kinkelin, Hermann 235 Koller, Max 270, 274–278, 281f., 284, 304 Kunz, Hans 132 Kury, Patrick 281 Lachenal, Adrien 203, 209, 217, 221 Laclau, Ernesto 81 Lagarde, Paul de 89f., 279 Langbehn, Julius 279 Lemke, Thomas 52 Leupold, Eduard 308 Leuthy, Johann Jakob 130 Link, Jürgen 25 Marshall, Thomas Humphrey 40–43 Mattioli, Aram 75, 138 Mazzini, Giuseppe 83 Mesmer, Beatrix 73, 87, 331 Mill, John Stuart 51 Mooser, Josef 91, 138, 145, 151 Motta, Giuseppe 286, 296f. Mouffe, Chantal 81 Musy, Jean-Marie 286 Napoleon Bonaparte 126 Nipperdey, Thomas 89 Noiriel, Gérard 33, 39f., 193, 318

Ochsenbein, Ulrich 104 Opitz-Belakhal, Claudia 19 Philippi, Rudolf 236 Picot, Albert 210, 308 Pictet, Paul 210, 218 Pomata, Gianna 19 Quetelet, Lambert Adolphe Jacques

53

Räber, Joseph 313 Ranger, Terence 79 Renan, Ernest 80, 100f., 223, 332 Reynold, Gonzague de 264, 282, 286 Rieser, Walther 31, 97 Riva, Antonio Luigi 306 Rossi, Pellegrino 96f. Roten-Meyer, Iris von 132 Rothmund, Heinrich 288, 301, 304, 306, 308, 315 Rothpletz, Emil 98 Rousseau, Jean-Jacques 51, 85f. Rürup, Reinhard 89 Ruth, Max 288, 301, 304, 306, 308, 315 Sarasin, Philipp 143f. Sauser-Hall, Georges 308, 313 Schmid, Carl Alfred 182–185, 201, 214, 218, 220, 270–278, 282, 284, 304, 308 Schönberger, Christoph 115, 117 Segesser, Philipp Anton von 141 Senger, Alexander von 265f. Simmel, Georg 304 Smith, Adam 50 Snell, Ludwig 96–98 Spencer, Herbert 279 Speiser, Paul 208–211, 256 Spinoza, Baruch de 85f. Stahel, Arnold 32, 132 Studer, Brigitte 43 Tanner, Jakob 82, 90, 304 Tocqueville, Alexis de 114 Torrenté, Henri de 198 Troxler, Ignaz Paul Vital 99 Usteri, Paul

211

Vogelsanger, Jakob

201f., 217

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Waitz, Georg 114 Weber, Max 17, 44, 46, 80 Wecker, Regina 43, 74, 130f., 134, 331 Weil, Patrick 33, 35–39, 43, 176, 192f., 312, 331, 333 Weinmann, Barbara 45, 57, 59, 151, 328 Welti, Emil 110, 156, 160, 268

Wettstein, Oskar 295 Wille, Ulrich 268f. Winkler, Hermann 218 Wullschleger, Eugen 211, 216 Zimmer, Oliver 98 Zschokke, Heinrich 95, 122

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Sachregister

Aarau 122 Aargau 76, 105, 137, 139f., 152, 251, 299 Aargauische Vaterländische Vereinigung 299 Abnormalität, abnormal 200, 202, 205, 217–219, 311, 320, 332 Abschiebung, s. Heimschaffung u. Ausweisung Abstammungsgemeinschaft 82 Abstammungsprinzip, s. ius sanguinis Agency 18 Akkulturation 84 Aktivbürgerrecht 72, 131, 145, 255 Alpen, Alpenwelt 95f., 223, 265f. Anthropologie, anthropologisch 74, 86, 151, 202, 266, 279 antibolschewistisch, antisozialistisch 263, 265 antiitalienisch 230, 260 Antijudaismus, antijüdisch 75, 89f., 138, 140, 246, 248, 331 Antimodernismus, antimodernistisch 89, 271f., 275, 305 Antisemitismus, antisemitisch 27, 82, 88–90, 138, 151, 265, 277, 291, 301, 304–306, 331, 333 Arbeiter 90, 138, 144f., 165, 240 Arbeiterbewegung 52, 91, 101, 173, 220, 279 Arbeiterbund, Schweizerischer 92 Arbeiterinnen 165, 229, 240, 251 Arbeiterschaft 91f., 220, 230f. Arbeitskräfte, ausländische 167, 174, 177, 180, 202, 271, 314 Arbeitslose, Arbeitslosigkeit 144, 318 Arbeitsmarkt 40, 174, 176, 193f., 200f., 318, 329 Armee 87, 128, 137, 156, 268f. Armengut, bürgerliches 65, 250–253 Armenkasse, s. Armenunterstützung Armenlast, s. Armenunterstützung Armenpflege, s. Armenunterstützung Armenrecht, armenrechtliche Bedeutung des Bürgerrechts 16, 28, 68, 92, 103, 151, 179, 193, 200, 207, 242, 250, 261f., 310, 312, 320, 325–327, 333–335

Armenunterstützung 56f., 62, 66, 72, 149, 163, 172, 184, 189, 206, 212, 230f., 241f., 246, 248, 251, 262, 272, 311f., 316, 329, 334 – Allgemeine Armenpflege der Stadt Basel 200, 230, 232, 261, 326 – bürgerliche, s. kommunale – Bürgerprinzip, Heimatprinzip in der 72, 188, 191, 261, 326, 329, 332 – kommunale, 23, 113, 118, 128, 193, 206, 231, 248 – Wohnortsprinzip in der 67, 193, 326, 335 Armut 75, 91, 118, 146, 148, 195 Armutswanderung 118, 123, 129, 332 Assimilation, assimilieren 84, 119, 122, 174–176, 204f., 210, 215, 221–224, 243, 266, 271, 273, 277, 290f., 293, 295–297, 301f., 310, 313 Assimilierbarkeit, assimilierbar, nicht-assimilierbar 213, 272, 277, 284, 286, 297, 303, 319, 333f. Association internationale des femmes 154 Asyl 14 Asylrecht 39 Aufenthalt 105f., 194, 285, 307, 314–318 Auf klärung 88, 95, 266, 323f. Aufnahmequote, s. Einbürgerungsziffer Ausgleich, föderalistischer 113f., 160 Ausländer, Ausländerinnen 12f., 15, 18f., 57, 81, 87, 92f., 105, 113, 155–225, 227, 239, 243, 258, 261, 263–321, 328–330, 332, 334 – als Mehrheit 191, 220, 312 – militärpflichtige 155, 328 – niedergelassene 174, 181, 183, 224f., 232, 243, 258, 309, 315, 326 – rechtlicher Status der 22, 79, 93, 105 – unerwünschte 263, 287, 291, 294, 301, 313, 316, 319, 333 – Zahl der 201, 205, 236, 264, 286, 291, 293, 312, 319, 328, 330, 332 Ausländeranteil 38, 103, 128, 167, 178, 181f., 186, 192–194, 209, 211, 216, 286, 310f., 314, 321, 329, 334

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Ausländerfeindlichkeit, ausländerfeindlich, s. Fremdenfeindlichkeit Ausländerfrage 211f., 217–225, 269f., 305, 308, 330 Ausländerinitiative 299–301, 309, 311, 313, 334 Ausländerpolitik 38, 282, 288, 319 Ausländerquote, s. Ausländeranteil Ausländerrecht 21, 315, 318f. Auslandschweizer 39, 203, 282 Auslandschweizerorganisation 38 Auslese 214, 272–274, 279, 302, 304 Ausschaffung, s. Ausweisung Ausschließung, ausschließend 16–18, 22f., 28, 42, 44, 60, 70–77, 82, 90, 122, 129– 131, 138, 150–152, 180, 202, 205, 214, 225, 227, 238, 246–250, 262, 274, 297, 304, 314, 321, 323f., 326–328, 331–334 Ausschluss, s. Ausschließung Außenhandel 315, 328 Auswanderung 39, 146, 158, 162 Auswanderungsland 14, 38f., 113 Ausweisschrift, Ausweis, s. auch Heimatschein 153, 316f. Ausweisung 157, 300f., 316f. Avantgarde, reaktionäre 56, 264 Baden (Schweiz) 75f., 249, 258 Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei 216 Basel-Landschaft, Kanton 228, 230 Basel, Stadt 23, 68, 72, 141–145, 164, 166, 183, 210f., 216, 219f., 227–262, 326f. Basel-Stadt, Kanton 23, 106f., 135, 143, 145, 178, 180f., 191, 216, 227–262, 290, 326f. – Kantonstrennung 229f., 232, 237, 241, 253, 261, 327 Basler Bürger, Bürgerschaft 233, 251–253, 255, 257, 259, 326 – Zunahme der 232, 234–237, 243f., 250, 261, 327 Basler Bürgergemeinde 326f., 231, 235 Basler Bürgerrecht – Bürgerrechtsbewerber 237, 245–248, 252, 254–257 – Bürgerrechtsgesetz des Kantons BaselStadt 261 o 1838 237f., 254 o 1848 237f., 246, 254 o 1866 142, 234, 237–239, 247

o 1879 235, 237, 239–241, 251, 255, 261, 326 o 1902 173, 192, 232, 236f., 241– 243, 253, 256, 258, 261f., 326 – Einbürgerung in Basel 231, 233f., 237–245, 247, 250f., 254–259, 305 o Aufforderung zur 241–243, 326 o erleichterte, Liberalisierung der 232f., 235–244, 258, 261f., 326 o Recht auf 237, 245, 250, 261 o Recht auf unentgeltliche 235, 239, 241f., 248, 251, 255, 260–262, 326 o unentgeltliche 238, 259 o von Ausländern 236, 258–262 o von Frauen 236 o von Juden 246–250 o von Männern 235f. o von Schweizern 236, 243, 258 – Einbürgerungsgebühr 72, 233, 237– 241, 247, 251, 258f. – Einbürgerungsgesuch 235, 240, 243– 245, 248, 250, 252, 257f., 294 – Einbürgerungspolitik 227f., 250 – Einbürgerungspraxis 239, 262, 327 – Einbürgerungsverfahren 244–246 – Einbürgerungsziffer 243, 259 – Gemeindebürgerrecht 142, 227–262, 306, 326 – Kantonsbürgerrecht 227–262, 277, 306, 326 – Rekursrecht 241 – Stadtbürgerrecht, s. Basler Bürgerrecht, Gemeindebürgerrecht – Wiedereinbürgerung ehemaliger Bürgerinnen und ihrer Kinder 238–242, 250, 253f., 262 – Verlust des 237–239, 253 – von Frauen 235f., 238–240, 262 – von Männern 236 Bern, Kanton 223 Bern, Stadt 63, 122, 126, 138, 166, 230, 268 Bettingen 228, 255 Bettler, betteln 62, 122, 148f. Bevölkerung 16, 49f., 113, 164f., 204, 228, 263, 266, 282, 287, 302f., 306, 313, 334 – Verhältnis zwischen der ausländischen und schweizerischen 170, 174, 182, 200, 202, 205, 217–219, 221, 311, 320, 329, 332

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Bevölkerungspolitik, bevölkerungspolitisch 129, 332 Bewegung – demokratische 110, 131, 145, 155 – liberale 99f., 109, 331 – nationale, s. Nationalbewegung – sozialistische 85 – zionistische, s. Zionismus Blut 275f. bolschewistische Revolution, s. Oktoberrevolution Brüderlichkeit 96, 280 Bundesanwaltschaft 177 Bundesgesetz – die Heimatlosigkeit betreffend vom 3. Dezember 1850, s. Heimatlosengesetz – betreffend die Ertheilung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe vom 3. Juli 1876 23, 158, 160–164, 179, 183, 194, 198, 328, 332 – betreffend die Erwerbung des Schweizerbürgerrechtes und den Verzicht auf dasselbe vom 25. Juni 1903 155, 177, 185–200, 205f., 209, 214, 216–218, 227, 242, 264, 289, 295f., 302, 307, 320, 328–330 – über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer vom 26. März 1931 (ANAG) 21, 263, 314–318, 330 – über Erwerb und Verlust des Schweizerbürgerrechts vom 29. September 1952 21, 135, 314, 332, 334 – über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger vom 24. Juni 1977 67 Bundesrat 139, 145, 155, 157f., 161–163, 178, 180, 183f., 188, 190, 192f., 206, 208f., 195–198, 200, 209, 211f., 216, 282–284, 287–289, 292–297, 299–301, 303, 307, 309–312, 317, 329f., 333 Bundesstaat 95f., 101, 103, 112, 114–117, 120, 150, 325, 327f. – Gründung des schweizerischen 20, 31, 37, 54, 58, 72, 99, 103, 118, 128, 150, 152, 213, 303, 324, 327f., 331, 333 – schweizerischer 46, 48, 55, 57f., 97, 100, 104, 108f., 117f., 127–129, 136, 144, 152, 193, 220, 324, 334 Bundesstaatsrecht 113, 114–117, 188f., 296, 325, 329 Bundesverfassung 206, 210, 300

– 1848 22, 24, 45, 59, 61, 65, 72, 74, 104, 109, 112, 114, 119, 129–131, 133f., 138, 141, 144f., 150, 238, 240, 254, 326–328 – 1866 (Partialrevision) 141, 238, 247 – 1872 (gescheiterte Revision) 116, 156, 158f. – 1874 (Totalrevision) 22, 59, 65f., 108, 110, 136, 141, 143, 145, 153, 155–157, 159f., 188, 212, 230, 235, 268, 326, 328 – 1928 (Partialrevision) 38, 163, 307– 314, 318–320, 333f. – 1975 (Partialrevision) 67 Bundesvertrag von 1815 95, 109, 233 Bürgergemeinde, s. auch Basler Bürgergemeinde 56, 63, 65f., 71, 140, 159, 326, 334f. Bürgergesellschaft 58, 109, 150–155, 186, 261, 328 Bürgergut 57, 66, 106, 154, 231, 332 Bürgerrecht 147 – Basler Bürgerrecht, s. Basler Bürgerrecht – Gemeindebürgerrecht 14, 22, 61–70, 72, 92, 103, 113, 117–120, 122, 126, 128, 146, 159, 188, 193, 199, 208f., 211, 310, 320, 324–326, 329, 333f. – Kantonsbürgerrecht 14, 22, 61, 67– 70, 72, 103, 111, 118–120, 122, 126, 134, 159, 184, 188, 198f., 208f., 211, 310, 320, 324–326, 329 – Verlust des Bürgerrechts o vor 1848 126f. o des Gemeindebürgerrechts 68f., 75 o des Kantonsbürgerrechts 68f., 75, 134 – von Frauen 132, 134, 199, 326–328, 332 – von Juden 75f., 246–250 – von Katholiken 246 – Schweizer Bürgerrecht, s. Schweizer Bürgerrecht Bürgerrechtsbewerber 141–143, 161, 169– 171, 174, 195–197, 212, 222, 235, 242f., 239, 244, 285, 289f., 292, 302f., 329, 333 Bürgerrechtsgesetz, bundesstaatliches, s. Bundesgesetz Bürgerrechtsgesetz des Kantons Basel-Stadt, s. Basler Bürgerrecht, Bürgerrechtsgesetz

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Bürgerrechtsgesetz des Kantons Zürich – 1833 76, 112, 254 – 1842 112 – 1910 192 Bürgerrechtsgesetz des Kantons Genf von 1905 173, 191f. Bürgerrechtspolitik 155, 225 – bundesstaatliche 164, 173, 177f., 216, 263, 286, 291, 305, 312, 319f., 329 Bürgerrechtsschacher 157 Citizenship 29, 31 Citoyenneté 29, 31 Code Civil, Code Napoleon

126

Degenerationsvorstellungen, Degenerationsängste 271f. Demokratie, demokratisch 13, 37f., 43, 180f., 200, 266, 310, 329 – halbdirekte 58, 313 – repräsentative 54, 58, 95, 99, 108, 156, 331 Demokratisierung 84, 91, 125, 138, 231 Demos 82, 99f., 203, 331 Departement, eidgenössisches – Politisches 158, 162, 186–188, 192, 196, 215f., 283, 285f., 288–291, 295f., 298, 302, 306–308, 319, 333 – Justiz- und Polizei- 21, 187f., 217, 263, 281f., 287f., 291, 301–303, 306, 308, 315, 318, 333 Deserteure 263, 283, 285–287, 289f., 294, 319, 330 Detektive 167f., 170, 245 Deutsche 165, 169, 199, 255, 258f., 271 Deutschland 12, 21, 29f., 33, 36, 42, 66, 90f., 104, 114–116, 124–127, 157, 162, 165, 176, 228, 249, 258, 274, 276, 280, 325, 329 Deutschschweiz 264f., 267, 275f. Deutschschweizerischer Sprachenverein 264, 267 Dienstboten 144f., 165, 242, 317 Diskurs, diskursiv 25, 28, 81, 114, 122, 200–205, 219, 224f., 270, 274, 281, 305, 320, 333 – diskursives Ereignis 217–225, 269 – diskursives Muster 200–205, 218, 225, 313, 320f., 332 – Normalitäts- 202

– Sicherheits- 202 Domizilsprinzip 124–128 Doppelbürger, Doppelbürgerrecht 162, 308 Dreistufigkeit des Schweizer Bürgerrechts, s. Schweizer Bürgerrecht, dreistufiges Ehe 134, 148, 199 eidgenössisches Departement, s. Departement, eidgenössisches Eigenart schweizerische bzw. nationale 203f., 213, 223f., 267, 271, 278, 281, 286, 290–294, 301, 303, 313, 320, 332f. Einbürgerung, Naturalisation, s. auch Basler Bürgerrecht, Einbürgerung 11f., 32, 37, 66, 72, 111, 113, 121, 161, 163, 177, 182, 184, 192, 202, 204f., 215, 224, 227, 273, 275, 277, 283f., 309, 325f., 335 – Ablehnungsquote 169, 173, 244 – automatische 180, 183f., 187, 215, 311, 319 – Bundesbewilligung zur 160–162, 164, 184, 186, 189, 190–192, 195–197, 200, 222, 272, 285f., 288f., 292, 294, 333 – erleichterte, Liberalisierung der 11, 23, 155, 164, 167, 170, 172–175, 177, 178–182, 184f., 189–191, 205, 207, 208–216, 217, 219, 224, 227f., 263, 272f., 286, 292, 295, 305, 307, 328– 330 – erschwerte, Restriktion der 21, 246, 264, 285, 290–293, 295, 307, 312, 318f. o von Ausländern 157, 170f., 181, 183, 190, 192, 208, 213f., 218, 221f., 227, 273f., 286, 295, 334 o von Frauen 72, 326 o von Heimatlosen 118f., 129, 147, 149, 155 o von Nicht-Sesshaften 129 o von Schweizern 159, 173 – Recht auf 181, 221, 291, 330 – Recht auf Einkauf in ein Gemeindebürgerrecht 212f., 215, 309, 334 – unentgeltliche 167, 170, 181 Einbürgerungsbedingungen 38, 179, 188, 224, 273, 277, 290, 292, 312 Einbürgerungsbewilligung, s. Einbürgerung, Bundesbewilligung zur

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Einbürgerungsgebühr 68, 113, 128, 171, 181, 190, 196, 212f., 306, 332 Einbürgerungsgesetz, s. Bürgerrechtsgesetz Einbürgerungsgesuch 124, 142, 167, 169, 173, 175, 177–179, 283, 292, 330 Einbürgerungspolitik 141, 177f., 277, 286, 290, 292, 296, 321, 334 Einbürgerungspraxis 167, 169f., 175, 291 Einbürgerungsstopp 264, 306 Einbürgerungsziffer 12, 175, 179, 183, 291 Eingemeindung 166 Einheit der Familie 162 Einkaufsgebühr, s. Einbürgerungsgebühr Einreise, einreisen 200, 282, 293, 301, 307, 312, 316f. Einschluss, s. Integration Einsiedeln 24, 123, 146–150, 327 Einwanderer 14, 17, 144, 166, 172, 201, 249, 291, 295, 304, 319, 333 Einwanderergeneration – erste 38, 292f., 298, 306f., 312, 318f., 330 – zweite 11, 37,176, 180, 185, 187, 190, 212, 291, 308, 311f., 319, 334f. – dritte 11, 36f., 126, 176, 180, 187, 210, 212f., 309, 312, 319, 334f. Einwanderung 46, 167, 184, 192f., 312 – ausländischer Arbeitskräfte 202 – Beschränkung der 167, 174, 203, 225, 263 – von Ausländern 183, 264 – von Deutschen 258, 271 – von Italienern 165, 229, 258 – von Juden 249 Einwanderungsland 14, 37f., 176, 312f., 333 Einwohnergemeinde 64–66, 140, 209, 231, 234–236, 241, 326 Eisenbahnbau 172 Elsass, elsässisch 246–249 Emanzipation der Juden 88, 136–141, 152 Emigration, s. Auswanderung Emmen 11 Erinnerungspolitik 94 Ethnie, ethnisch 28, 42, 280, 290f., 301– 303, 306, 319f., 333f. Ethnisierung, ethnisierend 281, 301–304, 305, 313, 320, 333, 335 Ethnos 82, 203 Europa, europäisch 13, 84, 108, 116, 118, 129, 138, 152, 195, 214, 225, 274, 328

Existenz, nationale 183, 223, 271 Exklusion, s. Ausschließung Fabrikgesetz, eidgenössisches 56, 154 Familie 38, 49, 99, 162, 168–170, 229, 239, 243, 251–255, 259, 302, 306, 310, 314, 333 Feind, Feinbilder 94, 97, 139, 148, 195 Flüchtlinge – militärische 263, 281f., 287 – politische 282 Föderalismus, Föderalisten, föderalistisch 55, 59, 100, 113, 116, 156, 160, 179, 188, 193, 203, 268, 324 Frankreich 12, 30, 33, 36, 42, 87f., 92, 99f., 124, 126, 137, 139, 162, 176, 180, 228, 265f., 274, 280 Franzosen 176, 199, 248, 259, 265 französisch Lothringen 253f. Französische Revolution 29, 40, 89, 92f., 125f., 131 französische Schweiz, s. Westschweiz Frauen 27, 58, 44f., 64, 74, 81, 85f., 88, 93, 105, 108, 121, 126, 130–135, 138f., 149, 151, 153f., 160–163, 189, 198–200, 205–207, 229, 235f., 238–242, 262, 326– 328, 331f. Freiburg, Kanton 178–180 Freiheit 40, 51f., 69, 95, 129, 179, 192, 280 – bürgerliche 16, 54, 59, 153, 323f., 327f. – wirtschaftliche 16, 54 Freisinn, freisinnig 138f., 141, 143, 153, 156, 190, 215f., 220, 223, 231f., 237, 261, 265, 283, 295, 304f., 308, 315 Freisinnig-demokratische Partei 311 Freisinnig-demokratische Vereinigung schweizerischer Studierender 277 Fremde, Fremdheit, fremd 18, 124, 147f., 167, 179, 183–186, 220, 222, 229, 233f., 258f., 275–277, 281, 291, 304, 306 Fremdenabwehr 15, 23f., 39, 57, 194, 205, 225, 230, 246, 259, 263, 270, 281f., 287, 298f., 305, 313, 319f., 330, 333, 335 Fremdenfeindlichkeit, fremdenfeindlich 39, 82, 89, 164, 166, 230, 259, 263–265, 282, 287, 294, 302, 311, 313, 315, 320, 328, 333f. Fremdenfrage 182–185, 201, 211, 217, 272f., 275f., 311

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Fremdenpolizei, eidgenössische 28, 263, 288, 316f., 319 Fürsorge, s. Armenunterstützung ganzes Haus 49, 73f., 86 Gefahr 52, 164, 177, 202, 212f., 217, 220, 241, 246, 271f., 283, 295, 314 – Ausländer als 203, 205, 209f., 218, 220f., 297, 301, 320 – für die Demokratie 164, 200, 219, 329 – für die Nation 210, 332 – für die nationale Existenz 219 – politische 174, 204, 225 – sozialistische 287 – wirtschaftliche 164, 174, 219f. Gemeindeautonomie 57, 59, 62, 68, 128 Gemeindebürgerrecht, s. Bürgerrecht Gemeindegüter, Gemeindegut 121, 128, 191 Gemeinden 11f., 69, 111, 113, 117, 120f., 126, 128f., 151f., 157, 160f., 163, 170f., 175, 179, 184, 194, 196, 198, 203, 205– 207, 210, 212f., 227, 284, 303, 320, 324f., 327–329, 332, 334f. Gemeinschaftsvorstellungen, nationale, s. Nation Gender, Kategorie, s. Geschlecht Genf, Kanton 105, 107, 137, 178, 180f., 191f., 216, 223 Genf, Stadt 138, 166, 183, 210f., 216 Geschlecht – Kategorie 18, 22, 27f., 200 – als Kriterium des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses 17, 42, 60, 70f., 79, 131, 235, 237, 244 Geschlechterdualismus 74, 85–87, 130f., 151, 133, 331 Geschlechterordnung 134, 151, 328 Geschlechtsvormundschaft 133f., 151, 240 Gesellschaft – bürgerliche 50, 230, 323 – multikulturelle 13 Gesinnung 197, 204, 222, 224, 297 Gesundheitspolitik 232 Gewerbefreiheit 64, 108, 144, 153, 247 Gewissensfreiheit 153 Giovine Italia 83 Glarus, Kanton 75, 219f. Glaubensfreiheit 153

Gleichberechtigung 44 Gleichheit 176 – bürgerliche 29, 153, 323, 327f. – Prinzip der 120, 129, 130, 150f., 310, 328 – rechtliche 99, 106, 129, 144–146, 334 – staatsbürgerliche 131 – vor dem Gesetz 93, 132 Gleichstellung – bürgerliche 328 – bürgerrechtliche 76 – rechtliche 22, 64, 66, 70, 75, 89, 99, 103, 105f., 108, 119f., 129, 134, 136– 139, 141–144, 152, 154, 223, 230, 238, 247, 327f., 331 Gouvernementalität, Gouvernementalisierung, gouvernemental 16, 20, 22, 46–54, 57, 59f., 128, 150, 160, 193f., 324, 329, 331f. Grenze 15, 37f., 93, 228, 282, 312 Grenzen, ethnisch-kulturelle 318 Grenzkantone 178f., 264, 328 Grenzpolizei 282, 287f. Grenzstädte 174, 179, 243 Großbritannien 201 Grosse Expertenkommission 306–309, 311, 313 Grundrechtskatalog 131 Grütliverein 92, 159, 216 Güterrecht, eheliches 133 Handelsfreiheit 64, 108, 153 Handelsverträge 139–141 Hausväterliteratur 74 Heimat 162f., 171, 205, 327 Heimatgemeinde 62, 70, 72, 113, 241f., 329 Heimatkanton 134 Heimatlose, heimatlos 22, 55, 69f., 76, 118–121, 123, 127, 130, 146–150, 152, 327f. Heimatlosengesetz 117–123, 140, 146 Heimatlosenkonkordate 118 Heimatlosigkeit 27, 103, 111, 118–120, 123, 127f. Heimatrecht 111, 276, 310 Heimatschein 70, 105, 149, 153, 245 Heimatschutzvereine 265 Heimatstaat, Heimatland 162, 188, 195, 269, 289, 291, 294, 302

371 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

Heimschaffung – bedürftiger Niedergelassener 66f., 145, 232, 239, 261, 326f. – ehemaliger Baslerinnen 241, 254 – ehemaliger Schweizerinnen 135, 200, 206, 239 Heirat, heiraten 19, 72, 112, 134f., 148f., 163, 189, 195, 198f., 236, 238–240, 242, 253, 308, 332 Heiratsregel 135 Helvetik 24, 58f., 63f., 65, 68, 75, 94, 127, 129, 152, 223, 233, 246, 266 Helvetische Gesellschaft 94 helvetischer Einheitsstaat, s. Helvetik Hélvetistes 264, 282 Herrschaft 126, 152, 323 – bundesstaatliche 123, 332 – gouvernementale 59f., 194, 324, 331 – souveräne 53, 57, 59f., 324 Heterogenität – kulturelle 278–281, 331 – sprachliche 100, 266f., 280 Hintersassen 63–65, 68f., 76, 121, 127 Homo Alpinus 266 Homogenität, Homogenisierung 36f., 123, 303 Hygiene 123 Identifikationstechniken 123 Identität, nationale 37, 82, 223f., 264– 269, 270, 278, 323, 325, 332 Identitätsdiskurs 224f., 273 Identitätsvorstellung, nationale, s. Nation Immigration, s. Einwanderung Indigenat 159, 207–211, 216 Industrialisierung 14 Industriegesellschaft 58 Initiative, Initiativrecht 154, 156, 210 Inklusion, s. Integration Inländergleichstellung 22, 99, 103f., 131, 309, 327 Integration, integrativ 12, 16f., 22f., 28, 37, 40f., 44, 60, 70–77, 84f., 120, 141, 146, 172, 198, 213, 225, 227f., 246–250, 263, 270, 293, 297, 314, 320f., 323f., 329–332 – bundesstaatliche Integrationsmaßnahmen 122, 129, 149, 155, 205, 334 – bürgerrechtliche, staatsbürgerliche 14, 18, 82, 119, 129f., 150, 152, 175, 178, 181, 194, 202f., 214, 222,

244, 247, 262, 264, 269, 274, 312f., 319, 327f., 333, 335 – nationale, s. Nationalisierung Integrationsprogramm 171 Integrationsvermutung 213, 238 Interdiskurs 25f., 202, 225, 320, 333 Interessensausgleich 59, 325 Internationalismus 91, 279 Internierung 316f. Israelitische Gemeinde Basel 248 Italien 83, 165, 258, 274, 280 Italiener 165f., 169, 172, 199, 229f., 252, 258–260, 275 Italienerfrage 166, 172 Italienerkrawall 164, 166, 172, 230, 328 italienische Schweiz 275, 277 Ius sanguinis 12, 22, 35–38, 123–129, 332 Ius soli 13, 124, 175f., 181 – französisches 23, 35f., 126, 128, 176, 329 – kantonales 185–194, 203f., 242, 307, 329 – schweizerisches 23f., 127f., 175, 180, 185–194, 210, 212f., 215, 221, 275, 291, 293, 299, 306, 307–314, 318f., 330, 332–335 Jahresaufenthalter 314 Jesuiten 97–99 J-Stempel 305 Juden 14, 58, 64, 75f., 81, 88, 90, 104f., 108, 120, 126, 130f., 136–141, 142–144, 151–153, 200, 225, 238, 246–250, 277, 327f., 246–250, 304–306, 328, 331 – Ostjuden 249, 264, 291, 295, 304– 306, 319 Judenfeindschaft, judenfeindlich 88–90, 105, 138, 151, 328 Jugoslawien, ehemaliges 11 Junges Deutschland 83 Junges Europa 83 Jung-freisinnige Partei 311 Justiz- und Polizeidepartement, s. Departement, eidgenössisches Kantone 11f., 53, 57, 65f., 69, 97f., 104f., 109, 111–113, 118, 120–123, 128f., 134, 141, 146, 150, 152, 157, 161, 163, 175, 177–182, 184–186, 190f., 193f., 196–198, 203, 206f., 209f., 213, 216, 227, 236, 261,

372 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

263, 282f., 285, 291, 300–303, 309, 315f., 320, 324–327, 329, 333f. Kantönligeist 203, 221 Kantonsbürgerrecht, s. Bürgerrecht Kantonsverfassung – Basel-Stadt 143, 230f., 235, 261 – Zürich 58, 132, 155 Kantonsvertretung, parlamentarische, s. Ständerat Katholiken, katholisch 74, 89, 130, 136, 139, 141–144, 150–152, 156, 252, 327 Katholisch-Konservative, katholisch-konservativ 55, 138, 143, 156, 216, 220, 296, 304, 313 Katholizismus 90, 139, 144, 305 Klasse, soziale, s. Schicht, soziale Komitee zur Förderung der gesetzgeberischen Lösung der Fremdenfrage 311 Kommunalismus, kommunalistisch 45, 58, 151, 324 Kommunisten 57 Konfession 105, 136 – als Kriterium des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses 70f., 74, 117, 141–144, 150–152, 170, 237, 246, 332 Konfessionalismus 152, 328 Konfessionsvorbehalt, katholischer 238, 246 Konflikte mit dem Ausland 155, 157f., 160–164, 186 Kongresspolen 14 Konkordat 66f., 69f., 127, 134 Konkubinat 146, 149 Konkurrenz, wirtschaftliche 138, 174, 176f., 180, 230 Konservative, konservativ 96, 232, 265 Konskriptionspflicht, s. Wehrpflicht, allgemeine Kontrolle 124, 246, 309 – der Ausländer 23, 155, 200, 282, 287, 330 – der Einwanderer, Einwanderung 15f., 23, 124 – der Grenze 287f. – staatlicher Macht 40 Koordination, Koordinationsprozesse 60, 114 – föderalistische 45, 117, 227, 324f. Kranken- und Unfallversicherung, s. Versicherung

Kreisschreiben 177f., 180, 182, 186, 217, 236, 282, 302f., 320, 333 Kriegsvollmachten 289 Kriminologie 202 Krise 99, 164, 268, 287, 305 – des Freisinns 265 – des Liberalismus 101 – Orientierungskrise 166, 328 Kultur 276 – deutsche 267 – französische 266 – ländliche 144 – nationale 267 – politische 204, 224 – schweizerische 264, 274f. Kulturkampf 141–144 Kulturpessimismus, kulturpessimistisch 265, 271, 275 Kultusfreiheit 76, 136, 141, 153 Laisser faire 50, 193f., 262, 273, 327, 330 Landesgeneralstreik 92, 297, 310 Landrecht, s. Bürgerrecht, Kantonsbürgerrecht Landsassen 63–65, 68f., 76, 119f., 127 Lastenausgleich 59, 114, 325 Lebensführung 168–170, 255, 260, 302f. Lebensmittelwucherprozess 249, 287 Lebenswandel 237, 242, 254–258, 260, 330 Lengnau 75f., 140 Leumund als Kriterium des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses 70–72, 76f., 124, 170, 237, 239, 254–258, 273, 329 Liberalismus, liberal 16, 42–46, 48, 50f., 53–55, 58f., 87, 91, 95–97, 109f., 123, 138, 150, 153, 186, 225, 230f., 237, 256, 263, 265, 310, 319, 323f., 327f., 330f. – politischer 20, 56 – wirtschaftlicher 41, 108, 152 – Krise des, s. Krise Liberal-Konservative 231 Luxemburg, Großherzogtum 138 Luzern, Kanton 75, 121, 179 Macht 46, 69, 324 – (Selbst-)Begrenzung staatlicher 16, 40, 51, 57, 59, 193, 325, 329, 332 Majorz 231

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Männer 59, 107f., 121, 144f., 151, 155, 162, 170, 186, 223, 230, 235f., 238, 241, 309, 313, 327, 332 Männerwahlrecht, gleiches und allgemeines 107f. Markt, freier 50f., 57, 129 Medien, Presse 219, 230, 263, 282, 290 Migration 37, 101, 165, 181 Militärdienst 268f. Militärpflicht, s. Wehrpflicht, allgemeine Minderheit 85, 153, 261 – ausländische 281 – jüdische 249 – katholische 142 – religiöse 261, 326 Mitbestimmung, s. Partizipation, politische Mitspracherecht, s. Partizipation, politische Mittelklasse, s. Mittelstand Mittelstand, mittelständisch 91, 137, 151, 156, 231, 327f., 331 Mobilität 14, 16, 108, 141, 164f., 229, 327 Monarchie, monarchisch 32f., 69, 95, 108, 112, 118, 126, 128, 328 Moralphilosophie 95, 266 Motion, nationalrätliche 206 Munizipalität, Munizipalgemeinde, s. Einwohnergemeinde Mutterschaft 148 Nachforschungen 168, 256, 302 Nation, national 35, 46, 79–101, 110, 141, 195, 221, 236f., 243, 266f., 273, 275, 293, 312, 327, 334 – als imagined community 22, 26, 34, 79–82, 330 – als politische Gemeinschaft 79, 83– 85 – biopolitische 278–281 – ethnisch-kulturelle, ethnisch-nationale 36, 38f., 80, 84, 100, 123–125, 128, 203, 224, 263, 265, 272, 280f., 313, 320, 331f. – politische 15, 17, 100, 123, 203, 205, 223, 268 – schweizerische 23, 37, 39, 94–101, 131, 140, 150, 185, 203, 220, 223f., 265, 280f., 331–333 – sprachliche 80, 84 – voluntaristische, s. Willensnation Nationalbewegung 83, 91, 125

Nationalbewusstsein 125 Nationalgefühl 96f., 112 Nationalgeist 98 Nationalgeschichtsschreibung 100 Nationalisierung, nationalisieren 15, 39f., 46, 100, 213, 222, 318 Nationalismus, nationalistisch 79f., 83– 85, 91, 125, 278–281, 290, 305 – ethnischer 82, 280 – integraler 15, 263, 278 Nationalität 29, 33f., 115, 180 Nationalitätenprinzip 83–85 Nationalité 33 Nationality 33 Nationalrat 159, 161, 177, 189, 198, 200, 208–210, 296–298, 300, 332 Nationalrepräsentation 110 Nationalsozialismus, nationalsozialistisch 37, 125, 200, 323 Nationalstaat, nationalstaatlich 16, 33, 35, 39, 71, 79, 83–85, 99, 118, 125, 163, 185, 319 Nationalvertretung, s. Nationalrat Nationsvorstellung, s. Nation Naturalisation, s. Einbürgerung Neubürger 123, 147–150, 158, 215, 299, 301, 309–312, 327 Neue Helvetische Gesellschaft 21, 24, 38, 264, 272, 274, 276f., 282–287, 290, 299, 303, 308, 311, 333 Neuenburg, Kanton 105, 137, 178, 180 neue Rechte 55, 100, 224, 264–269, 270, 273, 281, 305, 332 Neue Zürcher Zeitung 218, 223, 299 Neunerkommission 24, 210–216, 218, 273, 275f., 286, 291, 307f., 330, 334f. Neutralität, neutral 109, 281, 283, 287 Niedergelassene 63, 66, 105, 107f., 145, 154, 184f., 234–236, 244, 253, 261, 271 Niederlande 12, 139 Niederlassung, niederlassen 54, 66, 91, 105–108, 144, 153f., 167, 183–185, 217, 238, 246f., 259, 306, 314–318 – Beschränkung der 194, 203, 307, 312 Niederlassung, freie, s. Niederlassungsfreiheit Niederlassungsfreiheit 55, 64, 66, 76, 104f., 107f., 120, 123, 133, 144, 153, 221, 228, 254, 325, 327 – von Juden 136f., 139–141 – von Schweizerinnen 133, 327

374 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

Niederlassungspolitik 225, 291, 318f. Niederlassungsverträge 20, 105, 167, 184, 282 Niederlassungswesen, schweizerisches 301, 303, 333 Nichtigerklärung der Einbürgerung 190, 197, 200 Nicht-Sesshaftigkeit, Nicht-Sesshafte, nichtsesshaft 28, 55, 103, 108, 118, 121–123, 127f., 130, 146–150, 151, 155, 327f. Normalismus 202, 225, 320, 333 Notverordnungsrecht 315 Nutzungsrecht an den Gemeindegütern 191

Polizeiabteilung 287f., 301, 308, 315 Postulat Curti 174–177, 178, 206 Postulat der nationalrätlichen Geschäftsprüfungskommission 207–211, 330 Pressuregroups 263, 282, 330 Preußen, preußisch 32, 100, 124f., 129, 158, 167, 268 Proporz 231 Prostitution 149 Protektionismus, protektionistisch 21, 57, 263, 298, 303 Protestanten, protestantisch 74, 136, 141– 144, 152, 156, 251, 327, 331 protestantische Ethik 169

Oberendingen 75f., 140 Obwalden 107 Offizierkorps, schweizerisches 268f. Ökonomie 48–50, 202 – politische 49, 57 Oktoberrevolution 263, 282, 287, 310 Organisationen, private, zivilgesellschaftliche u. parastaatliche 263, 282, 291, 299, 308, 311, 319, 333 Ortsbürgerrecht 76, 120, 140 Österreich 12 Österreich-Ungarn 165, 249

Radikale 96, 159, 232 Radikalismus, radikal 51, 57, 177, 209 Rasse, rassisch, rassenbiologisch 89, 125, 138, 223–225, 265f., 274–281, 291, 297, 301f., 320 Rassenhygiene, rassenhygienisch 281 Rassismus, rassistisch 82, 84, 90, 224f., 265f., 277, 278–281, 301, 313, 319 Ratsherrenregiment 107, 230, 234 Recht 44, 51 – auf Ehe 153 – geschriebenes 130 – Gewohnheitsrecht 130, 132, 135 Rechtsgleichheit, s. Gleichheit, rechtliche Rechtstradition 15f., 38, 46, 61, 103, 181, 192f., 320f., 325, 329, 332, 334 Rechtswissenschaft 202, 218f. Referendum 109, 153, 156, 161, 173, 189, 193, 232, 313, 334f. Reformation 22, 48, 61f., 334 Refraktäre 263, 283, 285–290, 294, 319, 330 Regenerationskantone 95, 99, 150, 230 Regenerationsverfassung 53f., 230 Regierung 50 – der Armut 53 – der Bevölkerung 47, 324 – maßvolle 324 Regierungshandeln 46, 52, 57, 298, 323f., 330, 334 Regierungskunst 48 Regierungstechnik 47, 164, 194, 324 Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz, deutsches (vom 22. Juli 1913) 35, 125, 127

Papierschweizer 222, 273 Parlament, parlamentarische Räte 189, 192, 217f., 289, 292, 297–301, 306, 309, 311, 313, 334 Parteien, politische 311 Partizipation, politische 13, 29, 31, 34, 40, 42f., 59, 63, 72f., 88, 93, 107, 175, 313, 324 – in Gemeindeangelegenheiten 235 Passivbürgerrecht 132 Patriotismus, patriotisch 203, 205, 223, 269, 273 Pauperismus 57 Personenfreizügigkeit 14, 55, 105, 167, 225, 228, 263, 319, 329 Petition der Neunerkommission betreffend Massnahmen gegen die Überfremdung der Schweiz 212–215, 309 Pilori (Verein) 299 Polen (polnische Staatsangehörige) 225 Politisches Departement, s. Departement, eidgenössisches

375 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1

Religion, Religionszugehörigkeit 93, 137, 140f., 301f., 332 – als Kriterium des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses 17, 22, 70f., 74, 76, 237f., 247 – jüdische, s. Juden Republikanismus, republikanisch 36, 43– 46, 57–59, 87, 91, 109, 126, 151, 153, 170, 176, 180, 186, 201, 205, 220, 223, 235, 268–270, 323f., 329, 331, 334 Revisionskommission der Tagsatzung, s. Tagsatzungskommission zur Revision des Bundesvertrags Riehen 228, 255 Risiken, soziale 53, 232, 252 Romandie, s. Westschweiz Ruf, s. Leumund Russen 225 Russland, russisch 14, 249, 281, 287 Saisonarbeiter, Saisonier 38, 314, 317 Schaff hausen, Kanton 223 Schicht, soziale 22, 39, 41f., 90–92, 237, 332 – als Kriterium des bürgerrechtlichen Ein- und Ausschlusses 28, 42, 60, 70–72, 79 Schule 143, 156, 166, 213 Schutz, diplomatischer 158, 162 Schweizer Banner (Verein) 299 Schweizer Bürgerrecht 12f., 16, 19f., 22, 37f., 40, 46, 103, 111, 145, 160f., 183f., 188f., 191, 198, 203f., 208–211, 219, 222, 227, 270, 272, 275, 283, 295, 303, 308, 318–320, 323, 331f., 334f. – als Abwehrinstrument 263, 319 – als gouvernementale Regierungstechnik 20, 22, 48, 194, 324f. – als Instrument der Überfremdungsbekämpfung 291 – als juristisches Instrument souveräner Herrschaft 59, 324f. – als Kontrollinstrument militärpflichtiger Ausländer 155, 328 – Begriff 13, 29, 31–34, 159 – dreistufiges 12–14, 20, 22, 45, 61, 112, 193, 209, 228, 312, 321, 324–326, 333f. – Entlassung aus dem 161–163, 195, 198, 242, 253

– einheitliches, s. Indigenat – Erwerb 111, 157–159, 161, 184f., 188, 197 – föderalistisches 12f., 22f., 112, 163f., 330 – und Ausländer 155–225, 263–321 – und Schweizer 103–154 – Verlust des (s. auch Basler Bürgerrecht, Verlust des) 17, 71–73, 111, 135, 162f., 332 – Verzicht auf das 159–161 – von Frauen 130–136, 199 – zweistufiges 16, 103 Schweizerinnen, ehemalige 112, 200, 206, 212, 215, 314, 329 Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft 183, 210, 214, 216, 218f., 223, 303 Schweizerische Volkspartei 11 Schweizerische Juristenzeitung 303 Schweizerischer Juristenverband 214, 218 Schweizerischer Juristenverein 191 Schweizerischer Städteverband 215, 218 Schweizerischer Vaterländischer Verband 20, 264, 299 Schweizerischer Volksverein 97 schweizerisches Zivilgesetzbuch 133, 216 Schwyz, Kanton 107, 147, 149, 179, 327 Segregation, gesellschaftliche 150 Selbstbild – bürgerliches 18, 170, 246 – schweizerisches 204 Sicherheit 54, 87, 160, 192, 195, 200, 309f., 329, 333 – äußere 153, 299, 328 – der Bevölkerung 52 – der Gesellschaft 53, 194, 202, 225, 320 – ökonomische 152 – soziale 13, 39, 56, 286 Slawen 225, 277, 304 Solothurn, Kanton 157 Sonderbund 98, 109 Sonderbundskrieg 97f. Souveränität 115, 117, 188 Sozialdarwinismus, sozialdarwinistisch 89f., 214, 273, 277, 279, 301 Sozialdemokratie, sozialdemokratisch 92, 216, 231f., 265, 296 soziale Frage 14 soziale Sicherheit, s. Sicherheit, soziale

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Sozialgesetzgebung 39 Sozialhilfe, s. Armenunterstützung Sozialismus 41 Sozialisten 57 sozialpolitisch 166 Sozialstaat, sozialstaatlich 28, 42f., 52, 195, 263, 329 Sozialversicherung, s. Versicherung Soziologie 53, 202 Sprache 82, 101, 171, 223, 265, 297 Sprachenfrage 223 Sprachenvereine 265 Sprachenvielfalt, s. Heterogenität, sprachliche Sprachgemeinschaft 267 Staat 33, 46, 51, 57, 83, 85, 136, 142, 214, 222–225 – demokratischer 186 – Genealogie des 47f., 60, 324 – liberaler 131 Staatenbund 55, 69, 98, 115, 117, 134 Staatenlosigkeit, staatenlos 200 Staatsangehörige 37, 104, 108, 132, 285, 331 – ausländische, s. Ausländer – Begriff 104 Staatsangehörigkeit 37, 40, 123, 125, 309 – Begriff 30–32, 34f. – deutsche 36, 124f., 331 – doppelte 112 – föderalistische 110–114 – französische 17, 126, 176, 331 – unitarische 114, 334 Staatsangehörigkeitspolitik – deutsche 125 – schweizerische 155, 184, 210 Staatsangehörigkeitsrecht 39f., 116, 134, 192f., 312 – deutsches 36 – föderalistisches 22, 103, 115f., 163, 327 – französisches 187 – schweizerisches 22, 103, 114, 155, 160, 164, 182, 193, 306, 328–330, 334 – unitarisches, zentralistisches 116, 187, 325 Staatsbürger, Bürger 30, 32, 34, 40, 76, 82, 104, 117, 132, 151f., 180, 183, 187, 231, 269 – Basler, s. Basler Bürger

– – – – –

Begriff 85, 157 französische 93, 125f. helvetische 68, 127 männlicher 133, 151 Schweizer 69f., 106, 110, 112, 128, 154, 190, 203f., 209, 213, 219, 224, 236 – Soldat als 268 – Zürcher 169, 185 – zweiter Klasse 129f. staatsbürgerliche Rechte und Pflichten 16, 18, 34, 40f., 44f., 60, 69, 103f., 120, 129, 132, 137, 140, 150, 153–155, 158, 175, 186, 205, 257, 294, 324, 326, 328 – demokratische 58f., 109, 153, 156, 313, 324 – freiheitliche 13, 32, 40f., 43, 65, 76, 126, 129, 138, 144, 151 – gleiche 40, 110, 141 – Militärpflicht, s. Wehrpflicht, allgemeine – politische 13, 18, 32f., 40f., 43, 59, 64–66, 76, 88, 106–108, 120, 126, 129, 131, 138–140, 144f., 151, 154, 223, 241, 301, 309–311, 327 – Schulpflicht 122 – soziale 13, 41, 43 Staatsbürgernation 82, 90, 99, 108–110, 137, 139, 150–152, 175, 205, 265, 267– 269, 331f. Staatsbürgerschaft 13, 15–17, 40, 44, 85f., 88, 92f., 126, 129, 194, 323f. – Begriff 29–34 – politische 44, 85, 88, 108, 130f., 139, 145, 153, 310, 328, 331 – unitarische 103–110 – von Frauen 27, 44f., 64, 85, 88, 131– 133, 139 – von Juden 76, 104f., 138, 140 Staatsnation 95 Staatsrechtliche Lehre vom Bundesstaat, s. Bundesstaatsrecht Staatsvertrag 69, 137, 167, 221 Staatsvolk 93, 128, 152, 163, 208, 327f. Städtetag, schweizerischer 219f. Stalinismus 323 Stamm, Stämme, Volksstämme 223f., 274f., 277, 280, 306 Stände, s. Kantone Ständerat 158f., 161, 177, 198, 295–298, 300, 310, 312, 333

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Statistik, statistisch 49, 52, 177, 202, 206, 272, 285, 287, 289 Steuern 212f., 256, 259 St. Gallen, Kanton 111, 180 Stimm- und Wahlrecht 44, 130–132, 144, 171, 180, 183 – allgemeines und gleiches 39, 108 – Dreiklassenwahlrecht, preußisches 91 – kantonales 66, 154 – kommunales 66, 154 – passives Wahlrecht 107, 145, 299, 311f. strafrechtliche Kriterien des bürgerrechtlichen Ausschlusses 213f. Tagsatzung 24, 54, 62, 69, 111f., 118, 127, 131, 137, 152, 230 Tagsatzungskommission zur Revision des Bundesvertrags 96, 98f., 104, 111f., 114, 131, 137f., 325 Territorialprinzip, s. ius soli Territorium 14f., 47, 81, 93, 125, 128, 228 Tessin 123, 180, 223 Thurgau 180 Transvaal 201, 272 Überfremdung, überfremdet 39, 57, 183, 214, 263, 269–278, 284, 288, 291f., 297f., 304, 310, 307–314, 316–318 Überfremdungsbekämpfung 263, 287f., 291, 297f., 299–301, 310f., 313–315, 319, 330, 333 Überfremdungsdiskurs 23, 32, 264, 270, 273, 277, 281f., 286, 288, 304–306, 308, 313, 320, 333f. Ungleichstellung, rechtliche 93, 123, 129– 131, 133, 138, 153, 162, 200, 239, 242, 309, 311f., 326, 328, 331 Unterschicht, soziale 130, 144f., 149, 151, 172, 230, 327 Unterstützungswohnsitz, s. Wohnsitzprinzip Untertan 69, 85, 93, 112, 124f., 204 Untertanengesetz, preußisches (vom 31. Dezember 1842) 124f. Unverlierbarkeit des Schweizer Bürgerrechts 19, 111f., 134, 159, 204, 332 Uri 97, 107, 179 USA 99, 104, 139, 281 Vaterland

87, 97, 145, 203f., 269

Vereine, Verbände und Gesellschaften 55, 59, 95, 97, 182, 264, 299f., 324 Vereinigung schweizerischer Republikaner 311, 315 Vereinigungen, s. Organisationen Verhältnisse, finanzielle 213f., 237, 239, 245f., 250, 273f., 329 Verkauf des Bürgerrechts 157, 284 Verkehrswege 55, 108 Versicherung 53, 56, 229, 251f., 256 – Alters- und Hinterbliebenenversicherung 56 – Alters- 232, 251 – gegen Arbeitslosigkeit 229, 232 – gegen Armut 232 – gegen Feuer 246, 251, 255 – gegen Krankheit 170, 207, 216, 229, 232, 246, 251, 256, 259 – gegen Unfall 170, 207, 216, 229, 232 – Hausratversicherung 259 – Lebensversicherung 170, 246, 251 – Mobiliarversicherung 246, 251 – obligatorische 232, 253 Vertrag, völkerrechtlicher 115 Volk 220, 232, 267, 295, 299 Völkerschaften 275 Volksbildung 54, 145, 151 Volksbund für Unabhängigkeit der Schweiz 311 Volksgeist 95, 97 Volksgemeinschaft 267 Volkssouveränität 99 Volkstum 33, 223, 277, 295f., 303 Volkswirtschaft, volkswirtschaftlich 172, 174, 221, 300, 318 Volkszählung, schweizerische – 1888 174, 186 – 1900 186, 211, 236 – 1910 177, 211, 236, 293 – 1920 310 Vormundschaft, Vormund 133, 77 Waadt 105, 123, 137 Wahlrecht, s. Stimm- und Wahlrecht Wahlverfahren 91f., 230 Wahrscheinlichkeitsrechnung 52, 202 Wallis 123 Wandel, sozialer 143, 164, 228 Wanderung, s. Migration Wanderungsgewinn 103, 128, 164, 229

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Wanderungsüberschuss, s. Wanderungsgewinn Warenverkehr, freier 55 Wegweisung, s. Heimschaffung u. Ausweisung Wehrpflicht, allgemeine 18, 84f., 87f., 100, 109f., 126, 174, 177, 180, 183f., 186, 236, 241, 262, 329 – im Herkunftsstaat 157, 161f., 171, 175, 247 – und ius soli in Frankreich 36, 176 – von Juden 137 Welsche Schweiz, s. Westschweiz Weltkrieg – Erster 14, 16, 21, 24, 27, 36, 39, 84f., 90, 125, 131, 174, 178, 194, 205, 216, 225, 232, 249, 263, 271, 278, 281–283, 285–288, 291, 293–295, 303–305, 312f., 315, 319–321, 326, 330, 333–335 – Zweiter 37f., 314 Westschweiz 33, 156, 264, 275, 277 Westschweizer 223f. Wiedereinbürgerung, s. auch Basler Bürgerrecht, Wiedereinbürgerung – von Frauen 135, 160f., 163, 189, 192, 198–200, 205–207, 326, 329 – von Kindern 160f., 163, 189, 198f., 205–207, 329 – Recht auf 163, 181, 200 – unentgeltliche 206 – unterstützungsbedürftiger Personen 205f. Willensnation 80, 82, 100f., 180, 265– 269, 281, 332 Wirtschaft 105, 164f., 167, 181, 263, 314, 328 Wissen und Leben (Zeitschrift) 265, 274, 303 Wohlfahrt 167, 206, 220, 232, 299 Wohlfahrtsartikel, Basler 231f., 252, 261 Wohlfahrtsstaat 41f., 52 Wohltätigkeit 232, 316

Wohnbevölkerung 12, 164, 235 – ausländische 11, 23, 39, 128, 164, 175, 214, 217, 219, 228, 236, 270, 291, 294, 302, 328 – Reduktion der ausländischen 21, 23, 194, 321, 329, 333f. Wohnsitz 12, 154, 158, 198, 209, 242f., 247, 256, 259, 288, 307f., 310, 326 Wohnsitzpflicht, Wohnsitzfrist 13, 161, 169, 237, 286, 290, 293, 301, 312, 319f. – zweijährige 23, 158, 162, 164, 195 – vierjährige 23, 263, 289f., 296, 330 – sechsjährige 292–298, 301f., 330 – zwölfjährige 11, 38, 299, 314, 334 Xenophobie, xenophob, s. Fremdenfeindlichkeit Zentralisierung, zentralistisch 22, 36, 64, 156, 160, 297, 325, 329 Zentralstelle für Fremdenpolizei, eidgenössische 24, 263, 282, 287f., 290f., 306, 333 Zionismus, zionistische Bewegung 249 Zivilrecht 134, 200 Zugehörigkeit 267 Zunft, Zunftstadt 64, 106f., 145, 230f., 233 Zunftzwang 54 Zürcher Post 174 Zürich, Kanton 23, 45, 54, 57f., 63, 68, 75f., 110–112, 155, 164–173, 178, 180f., 183, 191, 216, 230 Zürich, Stadt 23, 54, 63, 68, 122, 155, 164–173, 174, 178, 183, 210f., 216, 230, 247, 249, 264, 284, 290, 305, 328, 333 Zuwanderung, Zuwanderer 144, 165, 229, 249, 258, 287, 297 Zwangseinbürgerung, zwangseingebürgert 24, 120f., 130, 180, 182, 184, 187, 208, 210, 221f., 275f., 291, 293, 313, 327, 330, 334f. Zweikammernsystem 99, 331

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Wenn Sie weiterlesen möchten ... Manfred Hettling Politische Bürgerlichkeit Der Bürger zwischen Individualität und Vergesellschaftung in Deutschland und in der Schweiz von 1860 bis 1918 In der bürgerlichen Gesellschaft kann der einzelne selbst bestimmen, welche soziale Position er anstreben will, er muß sich aber im Wechselspiel mit anderen arrangieren. »Bürgertum« wird also bestimmt durch das Wechselverhältnis von Individualität und Vergesellschaftung. Nicht nur soziale Lage und Schätzung zeichneten das Bürgertum aus, sondern auch Vorstellung, Selbstentwurf und Zielutopie. Wie politisch war das Bürgertum in Deutschland und der Schweiz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Manfred Hettling untersucht zunächst die sozialen Voraussetzungen für eine individuelle Bürgerexistenz und analysiert dann den Liberalismus als politische Manifestation des Bürgertums. Abschließend wird nach symbolischen Darstellungsmöglichkeiten für den politischen Bürger gefragt. Es zeigt sich, daß Bürgerlichkeit in der Schweiz immer auch politisch geprägt war; dementsprechend kann von einer Verbürgerlichung und bürgerlichen Prägung des Staates gesprochen werden. Dagegen verlor der politische Aspekt im Bürgertum des deutschen Kaiserreichs an Bedeutung; einer sich verbürgerlichenden Gesellschaft stand eine hierarchische staatliche Ordnung gegenüber: Der Anspruch auf politische Bürgerlichkeit scheiterte.

Barbara Weinmann Eine andere Bürgergesellschaft Klassischer Republikanismus und Kommunalismus im Kanton Zürich im späten 18. und 19. Jahrhundert Die Identität von Regierenden und Regierten: dieses Leitbild von Bürgergesellschaft als politisch-sozialer Einheit prägte den Übergang des schweizerischen Kantons Zürich zur modernen Erwerbsgesellschaft. Wie verlief dieser Zürcher Weg in die »andere« Bürgergesellschaft? Welche Rolle spielten dabei frühneuzeitliche Modelle gemeindlich-genossenschaftlicher Ordnung? Wie dynamisierte sich die städtische Bürgergesellschaft und wie strahlte sie auf die ländlichen Untertanen aus? Barbara Weinmann zeigt am Beispiel Zürichs, wie und unter welchen Bedingungen traditionelle Ordnungsvorstellungen über den Beginn der Moderne hinweg sich als entwicklungsfähig erwiesen. So entstand im Kanton Zürich eine andere Form moderner Bürgergesellschaft: mit weniger Trennung von Gesellschaft und Staat, weniger Konflikt, mehr Gemeinnutz-orientiertem Konsens, mehr Kompromiss zwischen Gemeinde und Staat als im mittel- und westeuropäischen Normalfall.

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 180: Kathrin Kollmeier Ordnung und Ausgrenzung

173: Thomas Kühne Kameradschaft

Die Disziplinarpolitik der Hitler-Jugend 2007. 368 Seiten mit 1 Abb. und 20 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-35158-1

Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert 2006. 327 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35154-3

178: Christine Schreiber Natürlich künstliche Befruchtung? Eine Geschichte der In-vitro-Fertilisation von 1878 bis 1950 2007. 288 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35159-8

177: Susanne Michl Im Dienste des »Volkskörpers«

172: Ulrike von Hirschhausen Die Grenzen der Gemeinsamkeit Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914 2006. 430 Seiten mit 12 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35153-6

171: Christopher Dowe Auch Bildungsbürger

Deutsche und französische Ärzte im Ersten Weltkrieg 2007. 307 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-37000-1

Katholische Studierende und Akademiker im Kaiserreich 2006. 384 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35152-9

176: Peter Walkenhorst Nation – Volk – Rasse

170: Sonja Levsen Elite, Männlichkeit und Krieg

Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914 2007. 400 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35157-4

Tübinger und Cambridger Studenten 1900–1929 2006. 411 Seiten mit 10 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35151-2

175: Benjamin Ziemann Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975

169: Wolfgang Hardtwig Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters

2007. 396 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35156-7

2005. 387 Seiten mit 23 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35146-8

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 168: Cornelius Torp Die Herausforderung der Globalisierung Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860–1914 2005. 430 Seiten mit 11 Grafiken und 21 Tab., kartoniert. ISBN 978-3-525-35150-5

167: Uffa Jensen Gebildete Doppelgänger Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert 2005. 383 Seiten mit 3 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35148-2

166: Alexander Nützenadel Stunde der Ökonomen Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949–1974 2005. 427 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35149-9

163: Philipp Heldmann Herrschaft, Wirtschaft, Anoraks Konsumpolitik in der DDR der Sechzigerjahre 2004. 336 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35144-4

162: Gunilla-Friederike Budde Frauen der Intelligenz Akademikerinnen in der DDR 1945 bis 1975 2003. 446 Seiten mit 17 Tab., kartoniert ISBN 978-3-525-35143-7

161: Nikolaus Buschmann Einkreisung und Waffenbruderschaft Die öffentliche Deutung von Krieg und Nation in Deutschland 1850–1871 2003. 378 Seiten mit 11 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35142-0

165: Jürgen Schmidt Begrenzte Spielräume

160: Christian Müller Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat

Eine Beziehungsgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum am Beispiel Erfurts 1870–1914 2005. 432 Seiten mit 23 Tab. und 1 Karte, kartoniert. ISBN 978-3-525-35147-5

Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsform in Deutschland 2004. 337 Seiten mit 2 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35141-3

164: Florian Cebulla Rundfunk und ländliche Gesellschaft 1924–1945

159: Anne Lipp Meinungslenkung im Krieg

2004. 358 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-35145-1

Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914–1918 2003. 354 Seiten mit 18 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-35140-6

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35155-1