Spätzeit: Studien zu den Problemen eines historischen Epochenbegriffs [1 ed.] 9783428469055, 9783428069057

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Spätzeit: Studien zu den Problemen eines historischen Epochenbegriffs [1 ed.]
 9783428469055, 9783428069057

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Johannes Kunisch (Hrsg.) · Spätzeit

Historische Forschungen Band 42

Spätzeit Studien zu den Problemen eines historischen EpochenbegritTs

Herausgegeben von Johannes Konisch

Duncker & Humblot · Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Spätzeit: Studien zu den Problemen eines historischen Epochenbegriffs I hrsg. von Johannes Kunisch. - Berlin: Duncker und Humblot, 1990 (Historische Forschungen; Bd. 42) ISBN 3-428-06905-6 NE: Kunisch, Johannes [Hrsg.]; GT

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 3-428-06905-6

Vorwort Die sechs Abhandlungen, die in diesem Band im Druck vorgelegt werden, sind aus einer insgesamt zehn Vorträge umfassenden Ringvorlesung hervorgegangen, die im Wintersemester 1988/89 aus Anlaß der 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln stattgefunden hat. Die hier getroffene Auswahl umfaßt die für die Geschichtswissenschaft im engeren Sinne maßgeblichen Arbeiten. Alle Texte sind für den Druck überarbeitet und zum Teil erheblich erweitert worden. Dennoch ist schon am Umfang der Fußnoten ablesbar, daß jede dieser Einzelstudien von durchaus unterschiedlichem Charakter ist. So finden sich neben Arbeiten, die das entsprechende Epochenphänomen gewissermaßen erschöpfend darzustellen bestrebt sind, auch Studien, die eher als Essay in bewuß pointierender Absicht aufzufassen sind. Das erklärt sich einerseits aus dem weitgefächerten Spektrum der Themen und Fragestellungen, andererseits aber auch aus dem Umstand, daß die Referate nicht als Beiträge zu einem Diskussionsforum aller Beteiligten konzipiert, sondern als öffentliche Vorträge vor einem größeren Auditorium gehalten worden sind. Allen gemeinsam war jedoch die Frage, wie und mit welchem Erkenntnisgewinn mit Kategorien wie Spätzeit, Niedergang und Dekadenz umgegangen werden kann. Sie war grundsätzlich zu stellen (Ernst Nolte) und zugleich auch an jene Epochen zu richten, für die sich im allgemeinen Sprachgebrauch der Geschichtswissenschaften der Spätzeitbegriff eingebürgert hat (Alfred Heuß, Erich Meuthen, Helmut G. Koenigsberger und Johannes Kunisch). Und schließlich war zu erörtern, ob mit der Vorstellung der Spätzeitlichkeit ein Beitrag zur Analyse und Standortbestimmung der Gegenwart geleistet werden kann (Hermann Lübbe). Zu danken habe ich an erster Stelle den Referenten der Vortragsreihe und den Mitautoren dieses Bandes. Sie alle haben die Voraussetzung für die große Resonanz der Ringvorlesung und das Zustandekommen dieses Sammelbandes geschaffen. Dank zu sagen ist darüber hinaus der Fritz-Thyssen-Stiftung für die großzügige Finanzierung der Vorträge und die mehrfach schon bewährte Zusammenarbeit. Einen Zuschuß zur Durchführung der Ringvorlesung hat überdies der Kanzler der Universität zu Köln gewährt. Auch ihm sei an dieser Stelle gedankt. Die Veröffentlichung der in diesem Band vereinigten Abhandlungen hat in langjähriger Verbundenheit der Verlag Duncker & Humblot übernommen. Besonders Herrn Norbert Simon, dem Geschäftsführer des Verlages, gebührt der Dank des Herausgebers. Die redaktionelle Betreuung der Manuskripte und die Anfertigung des Registers lag auch bei diesem Sam-

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Vorwort

melband wieder in den Händen meiner Assistentin, Frau Dr. Barbara Stollberg-Rilinger. Ich habe ihr herzlich Dank zu sagen. Köln, am Dreikönigstag 1990

Johannes Kunisch

Inhaltsverzeichnis ErnstNo/te "Spätzeit": Notwendigkeit, Nutzen und Nachteil eines frag-würdigen Begriffs . .. . . . .. . . . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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AlfredHeuß Antike und Spätantike

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Erich Meuthen Gab es ein spätes Mittelalter?

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Helmut G. Koenigsberger Sinn und Unsinn des Dekadenzproblems in der europäischen Kulturgeschichte der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Johannes Kunisch L'ancien regime-das E nde Alteuropas

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

Hermann Lübbe Fortschritt und Spätzeit. Über die veränderte Gegenwart von Zukunft und Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Sach- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

"Spätzeit": Notwendigkeit, Nutzen und Nachteil eines frag-würdigen Begriffs Von Ernst Nolte, Berlin Der Begriff "Spätzeit" zählt nicht zu denjenigen , die während aller Perioden im Mittelpunkt des Nachdenkens der geschichtlichen Menschheit standen wie etwa "Natur", "Vernunft" oder "Seele". Zwar treten sofort Namen wie Spengler und Toynbee, Termini wie "finde siede" oder "Dekadenz" vor das geistige Auge, aber im Bereich der klassischen deutschen Philosophie und Geschichtsschreibung, bei Kant, Hege!, Ranke und Droysen, taucht der Begriff bloß am Rande und beiläufig auf. Anders nehmen sich die Dinge aus, wenn verwandte Begriffe wie "Niedergang", "Korruption" , "Alter" in die Betrachtung einbezogen werden und wenn der Blick in die Antike zurückgeht oder auf die nähere Vergangenheit der zweiten Hälfte des 19. und 20. Jahrhunderts bzw. auf unsere Gegenwart gerichtet wird. Um die Notwendigkeit des Begriffs, seinen "Nutzen" und seinen "Nachteil" aufzuzeigen, will ich folgendermaßen vorgehen. Einleitend stelle ich einige Erwägungen darüber an, welche Bedeutung der Begriff "Spätzeit" in den Hauptbereichen des Seins haben kann, was also sein weitester und sein engster Umfang sein mag. Danach werfe ich in einem ersten Schritt die Frage auf, inwiefern es zutreffend ist, daß "Spätzeit" in der klassischen Philosophie und Geschichtsschreibung nur eine marginale Rolle spielt und worin die Ursache zu suchen ist. Ich tue das in flüchtiger Abhebung von den Vorstellungen älterer Zeiten bis zurück zu Hesiod und Horaz. Dann stelle ich mit mehr Detail eine Denkschule, einen Denker und eine These in den Mittelpunkt, an denen sich die wachsende Bedeutung des Begriffs der "Spätzeit" aufweisen läßt: die Denkschule des Marxismus, welche zugleich eine Quelle von H andlungsanweisungen darstellt, den D enker Nietzsche, der den umfänglichsten aller Komplexe verschiedenartiger und teilweise widersprüchlicher Interpretationstendenzen in sich schließt; die These vom Niedergang der lateinischen Nationen, die in prononciertem Maße sowohl der Selbstverständigung als auch dem Kampfe diente und zugleich einen Blick auf andere zeitgenössische Vorstellungen von Niedergang, Dekadenz und biologischer oder kultureller Greisenhaftigkeit erlaubt.

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Abschließend gehe ich auf unsere Gegenwart und eine weitverbreitete Erscheinungsform ihres Selbstverständnisses ein, welche - ausdrücklich oder nicht-ausdrücklich - den Begriff der "Spätzeit der Menschheit" zum Inhalt hat. "Spätzeit" kann als eine ontologische Zentralkategorie verstanden werden und damit primär eine kosmologische Bedeutung haben. "Alles Reale ist in der Zeit", so lautet von Anaximander bis zu Nicolai Hartmann ein Fundamentalsatz der Ontologie. Der "Genesis", dem Entstehen, aber folgt notwendigerweise eine Frühzeit, und der "Phthora", dem Vergehen, geht eine Spätzeit voran; dieser Urtatbestand trifft auf Fixsterne und Menschen, auf "Rote Riesen" und "Weiße Zwerge", auf Kinder und Greise gleichermaßen zu. Wenn die modernen Hypothesen vom "Urknall" und vom Wärmetod des Weltalls richtig sind, muß sogar irgendwann die Zeit selbst einen Anfang gehabt haben und ein Ende finden, so daß man paradoxerweise von einer "Spätzeit der Zeit" sprechen müßte. Und man mag eine merkwürdige Entsprechung zu den kosmologischen Hypothesen darin sehen, daß eine der allgemeinsten Erfahrungen aller menschlichen Generationen die Erfahrung des Alters ist, jenes "Vorlaufen in den Tod", das nach Heidegger ein Existenzial, aber auf dem Felde der Empirie ein Kennzeichen jener Menschen ist, die spüren, daß sie in den Herbst des Lebens eingetreten sind. Der Kausalzusammenhang zwischen Zeugung und Geburt ist manchen primitiven Stämmen unbekannt, doch der Unterschied von Jugend und Alter wird in jeder menschlichen Gesellschaft erfahren und irgendwie dargestellt. Doch Kant nennt die Menschen eine "Klasse vernünftiger Wesen, die insgesamt sterben, deren Gattung aber unsterblich ist" 1. Eine solche Unsterblichkeit kommt jeder Gattung des Organischen als einer solchen zu, und möglicherweise ist gerade die Menschheit davon ausgenommen. Zwar sind unzählige Gattungen und Arten von Pflanzen und Tieren zugrunde gegangen oder durch Mutationen tief verändert worden, aber aller Vermutung nach existiert die Familie der Saurier nur deshalb nicht mehr, weil sie sich veränderten Lebensbedingungen nicht anzupassen vermochte; ein inneres Todesprinzip wie bei Individuen ist nicht zu erkennen; Farne und Skorpione existieren auf der Erde seit vielen Millionen von Jahren. Für Gattungen und Arten des Organischen, so könnte man sagen, gibt es keine Spätzeiten gemäß einem einwohnenden Gesetz. Anders wäre es, wenn etwa Biber imstande wären, so feste und dauerhafte Bauten zu errichten, daß eine jüngere Generation die elementaren Gattungsfähigkeiten verlöre, oder wenn Bienen so viel Honig aufzuhäufen vermöchten, daß die Arbeitstiere zu einer Art Drohnen würden. Eben dies aber ist in Wahrheit nur ein Kennzeichen menschlicher Kultur; bloß unter Menschen I Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in der Ausgabe Hartenstein, Bd. 4, 297.

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kann dasjenige, was ein Volk oder ein Kulturkreis selbst hervorgebracht hat, zur Ursache der Untüchtigkeit, des Überdrusses und vielleicht sogar des Untergangs nachgeborener Generationen werden: nur menschliche Kultur kann, um eine Formulierung Nietzsches zu verwenden, an den Mitteln der Kultur zugrundegehen. In einem engeren Sinne wäre Spätzeit also ein charakteristisches Merkmal menschlicher Kultur und möglicherweise nicht einmal aller menschlichen Kultur. Ein schrofferer Gegensatz gegen jenen ontologischen Begriff ist kaum denkbar. I.

Mit dieser Gegensätzlichkeit dürfte es zusammenhängen, daß der Begriff "Spätzeit" bei Kant und Droysen, bei Ranke und Hegel nur eine marginale Rolle spielt. Von der Kantschen Zeit als reiner Form der Sinnlichkeit braucht erst gar nicht gesprochen zu werden: Diese Form kennt so wenig ein Entstehen und Vergehen wie die reinen Verstandesbegriffe, obwohl das eine so gut wie das andere "menschlich" ist, denn es handelt sich in der "Kritik der reinen Vernunft" um die Begründung der Gültigkeit mathematischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnis, nicht um Fragen ihrer Entstehung oder ihres Hinschwindens. Aber in der "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" spricht Kant vom Gang der Menschheitsgeschichte insgesamt und von der Absicht der Natur, daß der Mensch sich allmählich zu seiner vernünftigen Selbsteinschätzung hervorarbeite. Dabei ist für Kant jedoch "befremdend", daß nur "die spätesten" das Glück haben sollen, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren ... gearbeitet hatten2. Es gibt für Kant also eine Spätzeit der Menschheit, aber bei ihm fehlt gerade die Konnotation von Verfall und Niedergang; die Spätzeit der Menschheit ist vielmehr eine Endzeit im Sinne der Vollendung, die Kant durch Revolutionslosigkeit oder Unveränderlichkeit bestimmt und einem Automaten vergleicht, der sich selbst erhalten kann. Wie dieses Glück der dauerhaften Spätzeit "vernünftiger Weltbürger" sich zu dem Tatbestand verhält, daß der Mensch "aus so krummem Holze" gemacht ist, daß daraus nichts ganz Gerades gezimmert werden kann3, bleibt in einer Unklarheit, die durch das Postulat der "Annäherung zu dieser Idee" schwerlich behoben wird. So viel aber ist unverkennbar: Es ist die Idee vom Fortschritt der Menschheit, die den Begriff der "Spätzeit" an den Rand drängt, indem sie die spätesten Zeiten gerade zu den glücklichsten und dauerhaftesten macht. Spätzeiten in der Konnotation mit Niedergang können also nur partikulare Phänomene sein, die einzelne Völker oder Kulturen betreffen. Ebenso deutlich wie bei Kant ist dieser Sachverhalt bei Condorcet, wo Aufklärung, Fortschritt und 2 3

Ebd. Ebd., 300.

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Licht mit Tugend gleichgesetzt werden und Verderbnis nichts anderes sein kann als ein Niedergang der Aufklärung in einzelnen Regionen und Phasen der Menschheitsgeschichte. Es scheint zwar eine radikale Umkehrung dieser Auffassung zu sein, wenn Johann Gustav Droysen in seinem Frühwerk die griechische Kultur der nachperikleischen Zeit "vom Scheidewasser der Aufklärung zerfressen" sieht\ aber im ganzen wendet sich das Werk über den Hellenismus doch gegen eine der bekanntesten Niedergangs- und Entartungsthesen, und Droysens christlich-protestantische Zuversicht bleibt während seines ganzen Lebens stark genug, daß auch ihm, wie nach seiner These dem menschlichen Auge überhaupt, "das Menschliche in stets fortschreitender Steigerung" erscheints. Leopold von Ranke hat sich zwar mit großer Entschiedenheit gegen die "Mediatisierung" der einzelnen Geschichtsepochen durch die Hegeische Philosophie ausgesprochen, und es ist unübersehbar, wie große Besorgnisse ihm die "destruktiven Tendenzen" des "Zeitalters der Revolution" einflößten, aber auch für ihn steht die im Kern positive Macht des Geistes der abendländischen Christenheit und namentlich der germanischen Ideen, d. h. Tendenzen, ganz außer Frage. Nicht nur für Ranke war Hege! der klassische Philosoph des Fortschritts schlechthin. Die Weltgeschichte als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, als Gang des Weltgeistes von Ost nach West, als schließliehe Versittlichung auch des materiellen Lebens in der protestantischen Neuzeit, als Versöhnung von Sinnlichkeit und Geist nach dem unerläßlichen Asketismus des Mittelalters alle diese Konzepte führen zum Begriff des absoluten Wissens, das die Blüte der vollendeten Staatlichkeil ist, wie sie in der vernünftigen Gliederung der Monarchie ihren Ausdruck findet. So ist die späteste Zeit der Menschheit für Hege! ebensowenig wie für Kant eine Spätzeit im gewöhnlichen Verständnis; Spätzeiten dieser Art können nur die Perioden der erstarrten Fortexistenz solcher Völker und Kulturen sein, welche die Fackel des Weltgeistes bereits an andere Völker und Kulturen abgegeben haben: Indien, Ägypten, die Juden, in gewisser Weise sogar die Kunst. Mehr als welthistorische Phasen, die als Relikte fortvegetieren, sind allerdings die in der "Philosophie des Rechts" beschriebenen Realitäten: Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat- nämlich Wesensstufen, die in einem begriffsdialektischen Gang zu ihrer richtigen Zusammenordnung kommen, die aber gleichwohl auch als Phasen verstanden werden können. Und in der "Philosophie der Weltgeschichte" taucht eine noch unbekannte Zukunft an drei Stellen auf: in Gestalt der "großen slawischen Nation" , die ihr geschichtliches Wort noch nicht gesprochen hat, als die Vereinigten Staaten von Amerika, das "Land der Zukunft", und schließlich 4 Johann Gustav Droysen, Geschichte Alexanders des Großen, Gotha 2 1877, 1. Halbbd., 28. s Ders., Historik, München-Berlin 1937,326.

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als Liberalismus, das Prinzip der Atome, dessen weitere Entfaltung nicht überschaubar ist. So mag sich die Vollendungszeit der christlich-germanischprotestantischen Neuzeit nur als die bisher letzte Spätzeit darstellen, aber Regel geht auf diese Frage an keiner Stelle ein. Kommt darin eine Schwäche der Fortschrittsphilosophie zum Vorschein? Jedenfalls ist Anlaß genug vorhanden, über ihre zeitlichen Schranken einige Feststellungen zu treffen. Kant nennt zu Anfang seiner Schrift über die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft die Meinung neu und "heroisch", daß die Welt unaufhörlich vom Schlechten zum Besseren fortrücke, während die Klage, daß die Welt im argen liege, so alt sei wie die Geschichte, zumal in den Lehren vom goldenen Zeitalter und vom Paradiese6. Zwar läßt sich eine systematische Verfallstheorie der Geschichte aus Resiods "Werken und Tagen" nicht herauslesen, aber es kann doch kein Zweifel sein, daß eine unumkehrbare Zeitfolge zwischen jenem "goldenen Geschlecht der sprechenden Menschen" in der Zeit des Kronos, da "der nahrungsspendende Acker unbestellt in neidloser Fülle Frucht trug", und dem "eisernen Geschlecht" der Gegenwart liegt, wo Faustrecht gilt und selbst der leibliche Bruder nicht mehr, wie früher, geliebt wird. So zeichnet sich die Vernichtung dieser Spätzeit schon ab, da in Bälde die Kinder bereits bei ihrer Geburt graue Schläfen aufweisen werden. Noch unerbittlicher und konsequenter erscheint bei Roraz in der sechsten Römerode der Sturz ins Verderben, obwohl am Schluß ein Appell vernehmbar ist, der in die Nähe der vierten Ekloge Vergils gehört: "Damnosa quid non imminuit dies? Aetas parentum, peior avis, tulit Nos nequiores, mox daturos progeniem vitiosiorem" "0 Fluch der Zeit, wie sinken wir Tag um Tag! Von Vätern, selbst schon schlechter als einst der Ahn, Sind wir entstammt, um, wieder schlimmer, Ein noch verderbter Geschlecht zu erzeugen7."

Ebenso hinderlich wie die Vorstellung vom goldenen Zeitalter war für die Ausbildung einer Fortschrittsphilosophie die Lehre vom Kreislauf der Verfassungen, von der Anakyklosis, wie Polybius sie nennt, und nicht minder die weitverbreitete Analogie der Lebensalter, welche die Menschen des römischen Imperiums weithin glauben ließ, im "Greisenalter der Welt" zu leben, d. h. im Greisenalter der Menschheit, dem gleichwohl im Vertrauen auf Roms Größe nicht selten unabsehbare Dauer zugeschrieben wurde. Ob man bei Orosius und Joachim von Fiore genuine Anfänge der Fortschrittsidee wahrnehmen darf, mag offen bleiben; sicher ist, daß die weit einflußreichere Lehre des Augustinus von der civitas dei und der civitas terrena die Konzeption einer Kant (Anm. 1), Bd. 6, 177 f. Übersetzung nach der Heimeran-Ausgabe, München 1964.

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allmählichen Verchristlichung der Welt noch weniger zuläßt, als man aus Jeremias die Vorstellung eines definitiven Sieges Israels über die Mächte des Heidentums herauslesen darf. Von vielen Ideen und Vorstellungen solcher Art wird in dieser Vorlesungsreihe ausführlich die Rede sein; ich erwähne lediglich noch den ersten Discours Rousseaus, "Si le retablissement des sciences et des arts a contribue a epurer !es moeurs". Hier nimmt in der fiktiven Rede des Fabricius die Vorstellung der Spätzeit als Korruption und Niedergang eine Gestalt an, die man praktisch oder kämpferisch nennen mag: "Römer, beeilt euch, diese Amphitheater zu zerstören, zerschlagt diese Marmorbilder, verbrennt diese Gemälde, jagt diese Sklaven fort, die euch unterjochen, deren verhängnisvolle Künste euch verderbenB!" Im gleichen Jahr, 1750, entstand Turgots "Tableau philosophique des progres successifs le l'esprit humain". Der wahrhaft paradoxe Tatbestand ist darin zu sehen, daß die Menschheit, deren Fortschritte Turgot aufzuweisen unternahm, sich bis auf einige Ansätze während vieler Jahrhunderte, mindestens im antiken und abendländischen Kulturkreis, in Spätzeiten und Niedergangsperioden hatte leben sehen. Um so mehr sticht die Formulierung ins Auge, mit der Saint-Sirnon ein halbes Jahrhundert später keineswegs nur eine Erkenntnis, sondern zugleich eine Forderung zu Wort bringen wollte, als er sagte, bisher hätten die Dichter das goldene Zeitalter immer in der Vergangenheit gesucht; in Wahrheit aber liege es "vor uns", in der Zukunft. II.

Um so überraschender muß es sein, daß ich jetzt im Hauptteil des Vortrags Marx bzw. den Marxismus mit Nietzsche und der Lehre von der Dekadenz der romanischen Völker zusammenstellen will. Marx, so scheint es, steht doch in den Fußstapfen Hegels, und er knüpft unmittelbar an Saint-Sirnon an; mithin ist er ganz und gar der Fortschrittsphilosophie zuzurechnen, ja er hat sie vollendet, indem er, hegelisch gesprochen, einen übernationalen Träger des "Weltgeistes" entdeckte, nämlich das industrielle Proletariat, und jene Zukunft einbezog, die Hege! aus dem Spiel gelassen hatte, nämlich vor allem den Liberalismus, aber auch Amerika und Rußland. Wenn Heget die "societas civilis", die "bürgerliche Gesellschaft" der frühneuzeitlichen Staatsphilosophie, die nichts anderes als "Zivilisation" im Gegensatz zum Naturzustand bedeutet hatte, bereits zu einem bloßen, wenn auch überzeitlichen Moment des "Staates" partikularisiert hatte, so setzte Marx sie als "kapitalistische Produktionsweise" zu einer bloßen Phase herab, welche in dialektischer Entfaltung selbst die Vorbedingungen für die klassenlose Weltgesellschaft schuf, die ihrerseits den Charakter der Vollendung und damit Endgültigkeit aufwies. Auch diese kapitalistische Produktionsweise mußte mithin eine "Spätzeit" s Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat social, Paris 1954, 10 f.

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haben, ganz wie die feudale und die antike und eigentlich auch die "asiatische" Produktionsweise in Spätzeiten auf ihr Ende zugegangen waren bzw. hätten zugehen müssen, etwa auf die "bürgerliche Revolution", die nach Marx und Engels in Gestalt der Französischen Revolution den Durchbruch zur modernen Zeit bedeutet hatte. Dieser "bürgerlichen Spätzeit" gelten die Analysen von Marx und Engels während der vierziger Jahre, und diese Analysen haben die auffallendste Ähnlichkeit mit den Beschreibungen einer Periode des Verfalls und der Auflösung, wie sie toryistische oder andere "konservative" Denker und Schriftsteller gegeben hatten: Sie stellen die tiefe Unsittlichkeit der industriellen und überhaupt modernen Verhältnisse heraus, die Hast und Anonymität des großstädtischen Lebens, die atomistische Auflösung der gesellschaftlichen Bindungen, die Verkrüppelung der einzelnen Menschen durch die Arbeitsteilung. Aber alles, was Carlyle, Disraeli, Oastler und viele andere feststellten und beklagten, wird von Marx und Engels zugleich im Anschluß an die Nationalökonomen und weitgehend in deren Sprache als Fortschritt gesehen, als unerläßliche Vorbedingung auf dem Wege zur "proletarischen Revolution", wie sie von Babeuf und Blanqui aufgefaßt worden war. Doch wenn sie mit diesen ihren unmittelbaren Vorgängern an der Gewaltsamkeil des Umbruchs festhalten, so bleiben sie den Nationalökonomen im antivoluntaristischen Konzept der Überwindung eng gewordener Produktionsverhältnisse durch die anwachsenden Produktivkräfte nahe. Jene Beschreibungen, die einer Spätzeit und ihren Verfallsymptomen gelten, treten daher immer stärker zurück und werden durch die Entwicklung einer Wirtschaftstheorie fast vollständig verdrängt, deren Gegenstand die Entfaltung und tendenzielle Selbstaufhebung eines idealtypisch aufgefaßten "Kapitalismus" ist, wenngleich der Terminus als solcher keine Verwendung findet. Schon im "Kommunistischen Manifest" ist das Hauptthema die Sprengung von Schranken, nämlich der feudalen Schranken durch das revolutionäre Bürgertum im 18. Jahrhundert und der bürgerlichen Schranken durch das revolutionäre Proletariat, welche für die nächste Zukunft erwartet wird, da die Bourgeoisie nicht mehr imstande sei, ihren Sklaven die Existenz selbst innerhalb der Sklaverei zu sichern. Die Beschreibung von Symptomen der Dekadenz und Korruption tritt bloß noch in Bemerkungen wie derjenigen hervor, die Kapitalisten machten sich ein Vergnügen daraus, wechselseitig ihre Ehefrauen zu verführen. Das Todesurteil über diese Klasse, die weit mehr als ratloser Zauberlehrling denn als erschöpfter Greis gesehen wird, ist freilich so apodiktisch wie nur möglich, und es ist kein Zweifel, daß Marx und Engels die Exekution bereits in der Revolution von 1848 erwarteten. Wie sehr aber Marx und Engels trotz des momentanen Scheiteros ihrer Konzeption das Gefühl bewahrten, in einer Spätzeit zu leben, die freilich vor dem Übergang in eine Epoche stehe, welche nicht mehr nach Frühzeit und Spätzeit zu gliedern sein würde, läßt etwa die Rede von Marx auf der Jahresfeier des "People's Paper" im April 1856 erkennen: "Auf der einen Seite sind industrielle und wissen-

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schaftliehe Kräfte zum Leben erwacht, von der keine Epoche der früheren menschlichen Geschichte je eine Ahnung hatte. Auf der anderen Seite gibt es Verfallssymptome, welche die aus der letzten Zeit des Römischen Reiches berichteten Schrecken bei weitem in den Schatten stellen ... Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen seltsamen Zauberbann zu Quellen der Not ... Im Mittelalter gab es in Deutschland ein geheimes Gericht, Femgericht genannt. Es existierte, um die Untaten der herrschenden Klasse zu rächen. Wenn man ein Haus mit einem roten Kreuz gezeichnet fand, so wußte man, daß der Besitzer von der Feme verurteilt war. Alle Häuser Europas sind jetzt mit dem geheimnisvollen roten Kreuz gezeichnet. Die Geschichte ist der Richter- ihr Urteilsvollstrecker der Proletarier"9. Eigenartig ist aber, daß Marx und Engels eben erst eine für sie rätselhafte Verschiebung der Urteilsvollstreckung erlebt hatten, nämlich durch die Errichtung des Zweiten Kaiserreichs in Frankreich. Diesen Bonapartismus interpretierte Marx daher als "letzte Karte" im Spiel der Bourgeoisie. Aber als Louis-Napoleon nicht durch eine Revolution, sondern durch Bismarcks Krieg gestürzt worden war, entwickelte Marx in Ansätzen das Konzept eines "Revolutionszeitalters", in dem drei Typen von Revolution auf schwer durchschaubare Weise nebeneinander standen: der englische, der deutsche und der russische Typ. Als er seiner Tochter Jenny Longuet kurz vor seinem Tode 1883 zur Geburt eines Knaben gratulierte, da sprach er von der bevorstehenden "revolutionärsten Periode in der Menschheitsgeschichte", die von Männern geprägt sein werde!O, in einer Weise, welche die Vorstellung kurios erscheinen ließ, eine hinfällige Spätzeit werde durch einen von den Produktivkräften erzwungenen Stoß in die Unterwelt der Vergangenheit befördert werden. Und als Friedrich Engels 1895 seine letzte wichtige Schrift verfaßte, da ließ sich seine Aussage mit den Worten zusammenfassen, Marx und er hätten in den vierziger Jahren die Frühzeit des Kapitalismus für eine Spätzeit gehalten. Engels wurde dadurch in seiner Siegeszuversicht bekanntlich nicht im geringsten erschüttert, aber es lassen sich wesentliche Gründe für die gravierende Verwechslung anführen. Es gab nämlich zwischen Hege! und SaintSirnon auf der einen und Marx und Engels auf der anderen Seite von Anfang an einen fundamentalen Unterschied. Hege! und Saint-Sirnon kannten kein "goldenes Zeitalter" am Anfang der Geschichte, Marx und Engels aber waren in ihrem Denken von der Vorstellung bestimmt, daß es eine Urgesellschaft ohne Tausch, Apparate, Undurchsichtigkeit der Beziehungen, Arbeitsteilung und Entfremdung gegeben habe und daß die Grundcharaktere dieser Gesellschaft am Ende der Geschichte oder, wie sie sich ausdrückten, der "Vorgeschichte" wieder auftauchen würden, wenngleich natürlich "auf höherer 9

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Marx/Engels-Werke, Bd. 12, 3 f. Ebd., Bd. 35, 186.

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Stufe". Jeder Fortschritt in der Geschichte mußte daher zugleich als Verfall erscheinen, jede Frühzeit zugleich als Spätzeit, und deshalb war die Kennzeichnung der Frühphase der aufkommenden Weltmarktwirtschaft als Spätzeit in der Marxschen Dialektik zwangsläufig. Die kritische Analyse der Gegenwart konnte gleichwohl in hohem Maße ihre Gültigkeit behalten, auch wenn der Begriff des Sozialismus als Grenzbegriff erkannt wurde, der einer eigentümlichen Art von Verdinglichung unterlag, wenn man eine "Realisierung" für bevorstehend oder auch nur für möglich hielt. Aber wenn diese Realisierung nach wie vor erwartet wurde, obwohl sie sich durch rätselhafte Rückschläge immer weiter verzögerte, dann konnte es im Marxismus zu einer heftigen und nervösen Unterstreichung des angeblich Spätzeitlichen kommen, die es in dieser Form bei Marx und Engels noch nicht gegeben hatte. In Georg Lukacs' "Geschichte und Klassenbewußtsein" und in Ernst Blochs "Erbschaft dieser Zeit" sind immer wieder Wendungen wie die folgenden zu lesen: der Untergang des Kapitalismus, der Todeskampf der Bourgeoisie, der spätbürgerliche Zeitinhalt, das stäubende Zerfallsbürgertum, die bürgerliche Endfahrt, das Spätkapital, die bleichglühende Spätwelt, das Grabgeläute der bürgerlichen Kultur, die bürgerlichen Spätmenschen. Es ist, als ob ein Terminus wie Spätkapitalismus, der bei Marx und Engels noch nicht vorkommt, sowie dessen Ableitungen bloß eine Waffenrüstung wären, durch deren Klirren man den Feind in Schrecken setzt. "Spätzeit" ist hier ganz und gar zum polemischen Kampfbegriff geworden. Aber seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff der Spätzeit nicht nur zum Kampfinstrument in der Auseinandersetzung zwischen Klassen bzw. zwischen Parteien, die deren Vorkämpfer waren oder sein wollten, sondern auch zur Waffe im Konflikt von Nationen. Ein besonders anschauliches Beispiel ist das Konzept der Dekadenz der lateinischen Völker. Es sollte jedoch gleich von vornherein unterstrichen werden, daß keine unüberschreitbaren Grenzmauern zu konstatieren sind. Der Begriff der Spätzeit hatte auch als bloßer Hintergrund bei der unumgänglichen ersten Selbstverständigung einer aufkommenden Klasse über sich selbst gedient, und auf der anderen Seite konnte der dritte, erst posthum erschienene Band von Marx' "Kapital" zur Vorstellung eines künftigen Staatenkampfes führen, im Gegensatz zu dem ersten und zunächst allein wirksamen Band. Auf ähnliche Weise entstand das Konzept der lateinischen Dekadenz als selbstkritisches im Munde von Angehörigen der romanischen Kultur, und erst später diente es Gegnern als Waffe. Gleichwohl war es schon in seinen Anfängen ein Resultat innenpolitischer Konflikte. Während nach der Aufhebung des Edikts von Nantes im Jahre 1685 Männer wie Pierre Bayle und Pierre Jurieu den Kampf gegen Ludwig XIV. mit Begriffen führten, die eine frühe Erscheinungsform des Totalitarismuskonzeptes bedeuten, schrieb ein anderer Flüchtling ein Pamphlet mit dem Titel "Histoire 2 Spätzeit

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de Ia decadence de Ia France", in dem er den Substanzverlust herausstellte, den Frankreich ja tatsächlich durch die Vertreibung und Auswanderung der Hugenotten erlitten hatte. Daß die absolutistische Zentralisierung in Frankreich allzu teuer erkauft sei, ist als Überzeugung der Hintergrund nicht bloß von Montesquieus "Lettres persanes" und des "Esprit des lois", sondern auch der "Considerations sur !es causes de Ia grandeur des Romains et leur decadence." Was bei Montesquieu nur angedeutet ist, hatte schon vorher bei Boulainvilliers eine ausgesprochen "rassische" Färbung erhalten, weil der Grund der französischen Dekadenz im Kampf des Königtums gegen den von den Franken abstammenden Adel gesehen wurde. Für Voltaire war die französische Kultur zwar die höchste und am meisten von der Vernunft bestimmte, doch den französischen Staat zählte er nicht zu den "aufgeklärten Staaten" wie England, Preußen und Venedig. Aber der eigentliche Anfang dieser Dekadenzthese ist in der Reaktion der Republikaner auf den Staatsstreich Louis-Bonapartes zu sehen. Einige der Emigranten klagten nur die "decadence imperiale" mit ihrer Korruption und ihrem Börsenspiel an, andere jedoch, wie Edgar Quinet, glaubten die Wurzel des Mangels an Modernität in der katholischen Tradition des Landes zu erkennen, welche in dem neuen Kaiserreich bloß eine andere Gestalt gefunden habe. So beschränkte Quinet seine Kritik nicht, wie die meisten Sozialisten, auf die Bourgeoisie, sondern er stellte einen wesentlichen Teil der nationalen Tradition in Frage. Eine gewaltige Verstärkung und zugleich Veränderung erfuhr diese Tendenz infolge der Niederlage Frankreichs im Kriege gegen Preußen-Deutschland. Wenn Ernest Renan und Hippolyte Taine schon immer den germanischen Protestantismus bewundert und in Gegensatz gegen den ertötenden Zentralismus des allzu katholischen Frankreich gestellt hatten, so machten sie nun gerade die Revolution für das historische Unheil verantwortlich und waren mindestens zeitweise nicht weit davon entfernt, Frankreich in der gleichen Art von unaufhaltsamer Spätzeit zu sehen, die einst den Abschied der Römer und im vorhergehenden Jahrhundert der Spanier aus der Weltgeschichte markiert hatte. Ängste vor einer "amerikanischen Zukunft" bestimmten Baudelaire und blieben im "Decadentisme" lebendig, der schließlich zum Symbolismus wurde. Der erstaunlichste Ausdruck dieses Dekadenz- und Spätzeitbewußtseins war der 15-bändige Romanzyklus über die "Decadence de Ia race latine", von Josephin Peladan, der 1890 sagte: "Ich glaube an das schicksalhafte und bevorstehende Verfaulen einer Latinität ohne Gott und Symbol .. . Ich meine, daß das Ende Frankreichs nur noch eine Frage von Jahren ist"ll. Hier ist der Ton der Hoffnung und des Appells kaum noch vernehmbar, der sonst selbst in den luzidesten Analysen von "Spätzeit" nicht zu überhören ist, sofern der Autor sich selbst dieser Spätzeit zurechnet. Aber wie sollte II Zitiert nach Koenrad Wolter Swart, The Sense of Decadence in XIXth Century France, Den Haag 1964, 139.

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nicht eine Gegenbewegung aufkommen müssen, welche die Meinung vertrat, daß erst eine solche Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit einer Spätzeit das Siegel der Endgültigkeit aufdrückt? Und warum so11ten diejenigen Nationen, die von einem Autor wie Gustave Le Bon zu den "progressiven Völkern" gezählt wurden, nämlich die Angelsachsen und die Deutschen, sich diese Auffassung nicht zu eigen machen, um sich als "junge Völker" oder als "Herrenvölker" zu verstehen? Freilich sahen auch sie sich ihrerseits mit dem Brandmal der Dekadenz und Spätzeitlichkeit gezeichnet, wenn sie sich der Literatur der russischen Slawophilen zuwandten oder Alexander Herzens "Vom anderen Ufer" lasen. Des Kampfes ist offensichtlich kein Ende, wenn Völker, Klassen und Kulturen einander mit Begriffen wie "Spätzeit" und "Frühzeit", "Alter" und "Jugend", "Aufgang" und "Niedergang" charakterisieren, obwohl sie das gleiche Durchschnittsalter der Individuen aufweisen. Das verwirrendste Beispiel von allen war wohl das zweibändige Werk von Max Nordau über Dekadenz, das aus einer durchaus progressiven Geisteshaltung heraus nahezu die ganze moderne Kunst als "entartet" verwarf. Und doch sind diese Begriffe auch wieder unverzichtbar, da sie keineswegs nur von Gegnern den Gegnern angeheftet wurden, sondern immer wieder zur Selbstverständigung und zum Betreten neuer Wege dienten. Man müßte eine vielbändige Geschichte der politischen Ideen oder auch der schönen Literatur schreiben, wenn man in der Perspektive dieser Begriffe die Werke der Philosophen, der Dichter und der Schriftsteller zu mustern unternähme. Kein Autor ist jemals so sehr Philosoph, Schriftsteller und Dichter in einem gewesen wie Friedrich Nietzsche; bei keinem hat das Thema der Spätzeit und des VerlaBs so sehr und auf so vielfältige, oftmals sogar widersprüchliche Weise das ganze Werk bestimmt. Man kann mithin die Aufzählung vieler Namen und literarischer Tendenzen vermeiden, wenn man sich seinem Lebenswerk zuwendet. Auch Nietzsche hat früh und mit besonderem Nachdruck die Spätzeit der Antike zu seinem Thema gemacht, aber anders als bei Montesquieu und Gibbon geht es in der "Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" um die griechische Antike, und Korruption sowie Sittenlosigkeit spielen für ihn keine Rolle. Der Niedergang der griechischen Tragödie und damit der griechischen Kultur setzt vielmehr mit Euripides ein, und hinter dem Dichter, der als erster den Zuschauer und die bürgerliche Mittelmäßigkeit auf die Bühne gebracht hat, steht ein "ganz neugeborener Dämon", nämlich Sokrates, der Mann, welcher das Bewußtsein und das Wissen zum Schöpfer des Glücks und der Tugend machte. Eben in dieser Verkehrung des Grundverhältnisses von Leben und Denken, von Instinkt und Bewußtsein, von Leidenschaft und Ratio, in dieser "Monstrosität per defectum" kommt ein "greises He11enentum" zu Wort, das den Mythus als die "gesunde schöpferische Naturkraft" jeder Kultur verloren hat und an seine Stelle den flachen Optimismus der Wis2*

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senschaft setzt, welcher in der Spur des Sokrates glaubt, daß das Denken "das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande" sei'2. Die sokratische und wissenschaftliche Kultur ist also eine degenerierte, eine späte Kultur, und die Anwendung auf die Gegenwart ist von einer verblüffenden Direktheit: nichts als "Verödung und Ermattung", als "Staub, Sand, Erstarrung, Verschmachten"13 nimmt der junge Nietzsche in seiner Epoche wahr, und um so überraschender ist seine an das Werk Richard Wagners geknüpfte und ganz zuversichtliche Hoffnung, daß eine aus dem dionysischen Geist der Wagnersehen Musik erneuerte deutsche Kultur das hellenische Vorbild wieder erreichen könne, indem sie aus dem jetzigen "alexandrinischen" Zeitalter den Weg zum Zeitalter der Tragödie zurückgewinne und sich dadurch zugleich vom "Gängelband einer romanischen Zivilisation"' 4 befreie. Nietzsches Ausgangspunkt ist also noch ausgeprägter die Blickweise des am Vorbild der klassischen Antike orientierten "Bildungsbürgers" oder "Kulturmenschen" als derjenige von Marx, doch Marx macht den unverlierbaren mythischen Ursprung erst spät und nur am Rande zum Thema, während Nietzsche ein Grundmerkmal des "Dionysischen", das Hinschwinden der Entfremdung und die Aufhebung der Kasten- und Klassenunterschiede, zwar erwähnt, aber nicht vertieft. Und vor allem nimmt Nietzsche schon früh die Möglichkeit ganz ernst, daß das Erkennen, die Wissenschaft, über das Leben, d. h. die Kultur, siegen könne, während es für Marx mit allen frühen Sozialisten immer eine unbefragte Selbstverständlichkeit blieb, daß die "vernünftige Gesellschaft" die höchste Blüte der Kultur in sich schließen werde. In der wichtigsten der "Unzeitgemäßen Betrachtungen", der zweiten, über "Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben", wird der Übersättigung in Historie, dem "jederzeit schädlichen Glauben an das Alter der Menschheit" , dem Glauben, "Spätling und Epigone zu sein"'S, im Namen der Jugend der Kampf angesagt, aber dieser zuversichtliche Tätigkeitsdrang läßt sich mit dem Schopenhauerschen Ansatz nur schwer vereinbaren, und in der Abhandlung über "Schopenhauer als Erzieher" ist zu lesen, mit dem Auftauchen der Nicht-mehr-Tiere, der Philosophen, Künstler und Heiligen, tue die Natur einen Freudensprung, und eine "milde Abendmüdigkeit" verkläre fortan ihr Gesicht'6. "Spät" ist hier also nicht ein Zeitalter, sondern zu allen Zeiten ein Sektor des Lebens, derjenige, in dem das Leben zur Selbsterkenntnis und damit zur Erlösung von der Gier des Willens gelangt. So erhält der Begriff der "Erkenntnis" je nach dem Kontext einen verschiedenartigen Akzent, aber sowohl als "liberal-optimistische Weltbetrachtung" wie als Einsicht des philosophischen Pessimismus steht er in 12 Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin 1980, Bd. 1, 90, 99. 13 Ebd., 131. 14 Ebd., 129. 1s Ebd., 279. 16 Ebd., 380.

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einem Spannungsverhältnis zum "Leben", das einmal primär als "Kultur" und zum anderen vor allem als "Welt-Leben" gefaßt wird. Die erste große Wandlung Nietzsches bestand bekanntlich darin, daß er selbst zur wissenschaftlich-nüchternen Weltbetrachtung überging und die Götter seiner Jugend - das Genie, das Paradigma des alten Griechentums, den Mythus, aber auch Schopenhauer und Wagner- in den Abgrund des Überlebten verstieß. Jetzt, in "Menschliches, Allzumenschliches" stellt er mit Zustimmung fest, daß "unsere Künste immer intellectualer, unsere Sinne geistiger werden"1 7 , aber man würde den Gehalt seiner "positivistischen" Periode mißverstehen, wenn man nicht die Existenz einer "Gegenstimme" wahrnähme, die ganz andere und für ihn ältere Empfindungen zu Wort bringt. So verliert der Begriff der "Spätzeit" zwar in der Regel die Konnotationen des Negativen, doch mitten in der aufgeklärten Zuversicht kann dann ein Satz wie der folgende auftauchen: "Je gedankenfähiger Auge und Ohr werden, um so mehr kommen sie an die Grenze, wo sie unsinnlich werden ... - und so gelangen wir auf diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf irgendeinem anderen" 18. Die Spätzeit erscheint also als Wissenschaftsbarbarei oder, um den Terminus Vicos zu verwenden, als Barbarei der Reflexion. Und mitten in Nietzsches Aufklärungsperiode findet sich mehrere Male der Satz wiederholt, eine solche hochkultivierte und daher notwendig matte Menschheit wie die der jetzigen Europäer sei in Gefahr, "an den Mitteln der Kultur zugrundezugehen"; daher bedürfe sie der größten und furchtbarsten Kriege, um nicht ihre Kultur und ihr Dasein einzubüßen. Aber noch ist Nietzsche von einer Rühmung des biologisch gesunden Lebens oder gar der "blonden Bestie" weit entfernt. Er stellt vielmehr fest , daß die degenerierenden Naturen überall für den Fortschritt von höchster und positiver Wichtigkeit sind, da sie so etwas wie eine Inokulierung des Neuen bedeuten. Damit wird der schroffe Gegensatz zwischen Frühzeit und Spätzeit relativiert: eine Spätzeit kann in sich ein Übergangszustand zu etwas Neuem, ja zu einer abermaligen Frühzeit sein. Und die Wertung ist ganz eindeutig, wenn Nietzsche in einem der nachgelassenen Fragmente dieser Periode schreibt: "Wer etwas vollbringt, das über den Gesichts- und Gefühlskreis der Bekannten hinausliegt: - Neid und Haß als Mitleid - Partei betrachtet das Werk als Entartung, Erkrankung, Verführung"19. Der Entartungsvorwurf wird hier also als Waffe einer Partei, und zwar der Partei des Bestehenden aufgefaßt. Widersprüche verschiedenster Art sind auch in der dritten und letzten Periode Nietzsches nicht zu übersehen, denn der "Lebensphilosoph" bestimmt manchmal das Organische als Entartung des Unorganischen, und der Schöpfer des "Übermenschen" kennzeichnet den Menschen als Auswirkung einer Tier17

1s 19

Ebd., Bd. 2, 26. Ebd. , Bd. 7, 177 f. Ebd., Bd. 8, 528.

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krankheit, aber er spricht auch von der "Hybris unserer Naturvergewaltigung"20. Man wird daher gut daran tun, einen exoterischen und einen esoterischen Aspekt zu unterscheiden, innerhalb deren etwa der "Übermensch" einerseits als biologische Spezies und andererseits als der summierende und rechtfertigende Mensch erscheint, welcher dasjenige in sich zu vereinigen vermag, was in der Zivilisation einer Spätzeit unwiderruflich auseinanderfällt. Aber was den Begriff der Dekadenz angeht, so nimmt doch ein immer schrillerer Anklageton überhand bis hin zu jenem Vorwurf der "Gesamt-Entartung der Menschheit" und zu jener Verwerfung des Christenturns im "Antichrist", neben der sich Voltaires "Ecrasez l'infärne" wie eine Verbeugung ausnimmt: "Ich heiße das Christenturn den Einen großen Fluch, die Eine große innerlichste Verdorbenheit, den Einen großen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist, - ich heiße es den einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit21". Nietzsche hatte jedoch keine pietistische Vergangenheit in sich zu überwinden, und psychologisch-biographische Erklärungen sind nicht angebracht. Man muß seinen Fluch gegen das Christenturn mit seinem Angriff gegen die Juden als "das priesterliche Volk der Ressentiments par excellence" zusarnrnensehen; mit seiner Verachtung der "letzten Menschen", die "das Glück" gefunden haben und blinzeln; mit der Furcht vor dem "Reich der tiefsten Verrnittelrnäßigung und Chineserei", dem Ausdruck der "Ermüdung, des Alters, der absinkenden Kraft"; mit dem Zorn gegen die Taranteln, die "Prediger der Gleichheit", aus deren Gesichtern "der Henker und der Spürhund" blickt; mit der Kennzeichnung der wissenschaftlichen Menschen als einer Art "Lebensüberdruß des Lebens selbst"22; mit der Feststellung "das Begreifen ist ein Ende", das die frühe Frage, ob das Leben über das Erkennen oder ob das Erkennen über das Leben herrschen solle, zu einer abschließenden Antwort führt. Zwar finden sich auch in dieser dritten Periode Nietzsches noch überaus merkwürdige und erhellende Aussagen zu den Fragen von Spätzeit und Dekadenz, aber im ganzen tritt die Grundemotion allbeherrschend hervor, die zugleich eine Vorstellung ist und eine Einsicht sein will: die Vorstellung, daß die jüdisch-christliche Kultur des Abendlandes mit ihrem Rationalismus den Untergang der Menschheit herbeiführt. Unter dem Vorzeichen des beginnenden Wahnsinns scheint ihm nur jene "Partei des Lebens" noch helfen zu können, die "unerbittlich mit allem Entarteten und Parasitischen ein Ende rnacht"23. Und es bedeutet schwerlich eine Einschränkung, wenn er sich im gleichen Atemzug gegen die "fluchwürdige Aufreizung zur Völker- und Rassenselbstsucht" wendet. So gelangt Nietzsche arn Ende seines Lebens vorn Ebd., Bd. 5, 357. Ebd., Bd. 6, 253. 22 Ebd., Bd. 11, 649. 23 Ebd., Bd. 13, 638. 2o 21

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gleichen Ausgangspunkt des an der klassischen Antike orientierten, dem Zeitalter der Gegenwart überaus kritisch gegenüberstehenden "Bildungsbürgers" zu der Marx genau entgegengesetzten Position, die aber trotzdem in der Verdammung des "Parasitischen" eine auffällige Übereinstimmung aufweist. In eins damit erweitert und vertieft er, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, das Konzept der Dekadenz der lateinischen Kultur, und auch damit legt er den geistigen Grund zu jenen "Bürgerkriegen" des 20. Jahrhunderts, die "im Namen philosophischer Grundlehren" geführt werden sollen24 . III.

Nach den Regeln der Chronologie müßte nun wohl abschließend von Oswald Spengler und Arnold Toynbee die Rede sein, welche die Lehre von der Spätzeit der Kulturen am eingehendsten dargelegt haben. Aber mir scheint, daß diese Doktrinen von den Phasen einzelner Kulturen durch Nietzsche schon im Ansatz überholt worden sind und daß bei dem späten Engels und seinen Schülern mit der Alternative "Sozialismus oder Barbarei" eine Analogie zu der übergreifenden Fragestellung Nietzsches zu finden ist. Es ist ja gewiß nicht zufällig, daß polemische Kennzeichnungen wie "alte" und "junge" Völker oder auch "dekadente Kulturen" aus der gegenwärtigen Diskussion so gut wie verschwunden sind und allenfalls in der Steigerung der Kritik am "Imperialismus" zur Anklage gegen die "westliche" , im Ursprung jüdischchristliche Zivilisation wieder zum Vorschein kommen, einer Anklage, die sich auf Ludwig Klages berufen könnte, wenn dieser eigenartige Autor den Nachfahren noch bekannt oder genehm wäre. Daß die Gegenwart zur Spätzeit der Menschheit, zum Vorspiel ihres Untergangs werden könnte, ist seit 1945 eine Ahnung und Furcht, die sich wie ein schwerer Schatten über alle Menschen gelegt hat. Der erste und stärkste Grund dafür hatte freilich mit Nietzsches Befürchtungen nichts zu tun, ja er war diesen entgegengesetzt. Gerade der Durchbruch einer friedlichen, allumfassenden "Weltzivilisation", für Nietzsche das eigentliche Schreckbild, galt als das Wünschenswerte, das aber durch den Konflikt der Supermächte und mithin die Möglichkeit des Nuklearkrieges auf das schwerste gefährdet sei. Die Annahme der Möglichkeit einer physischen Selbstvernichtung der Menschheit war in der Tat das Neue, das sowohl Marx wie Nietzsche noch Fremde, das allenfalls von einigen Kulturkritikern der Zwischenkriegszeit angedeutet worden war. Die zu ziehende Konsequenz stand außer Frage, denn es ließ sich keine Alternative ersinnen: nukleare Abrüstung, Entspannung, Vermeidung auch eines konventionellen Großkrieges, der mit allen technisch möglichen Mitteln geführt würde. 24

Ebd. , Bd. 9, 546.

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Aber es zeigte sich bald, daß es des großen Krieges nicht bedurfte, um das Leben der Menschheit zu gefährden. Die "Umweltzerstörung" wurde zu einem zentralen Thema, und viele Menschen erkannten mit Schrecken, daß die philosophische Gegenüberstellung von "Mensch" und "Natur" sehr reale Auswirkungen hatte und daß erstmals in der Geschichte die Vermutung Grund gewann, auf diesem Planeten könne der Mensch sich zu seinem eigenen Unheil als der Stärkere erweisen. Fichte und Fourier hatten von der Verwandlung der Erde in einen Garten geträumt, würde sie am Ende zum erstikkenden Gefängnis purer Artifizialität werden? Und diese Artifizialität mußte nicht notwendigerweise in vergifteten Meeren, abgestorbenen Wäldern und erschöpften Ressourcen ihre wichtigste Auswirkung haben. Könnten nicht gerade der Zwang zu äußerster Arbeitsteilung, die Unpersönlichkeit der menschlichen Beziehungen, die Geistlosigkeit der Vergnügungen, die Undurchsichtigkeit der Verhältnisse, kurz die Abstraktheit des Daseins so übermächtig werden, daß unter den langlebenden Menschen ein tiefer Lebensüberdruß sich breit machte und auch Nietzsche wieder mit anderen Augen gelesen würde? Könnte nicht schließlich, nach dem immerhin vorstellbaren Aufhören der "Bevölkerungsexplosion", der hedonistische Individualismus so sehr die Vorherrschaft erlangen, daß sogar die Fortpflanzung "zu beschwerlich" und ein Anstoß für den Gleichheitswillen würde? Wer immer diese Befürchtungen und Ängste so unterschiedlicher Art ernst nimmt und nicht darauf zu vertrauen vermag, daß das Vermögen eines endlosen Fortschritts im Menschen allen vorfindbaren Personen ein immer angenehmeres und gleichwohl in der Gattung unsterbliches Leben sichert, dem muß der Begriff der Spätzeit vertraut sein, wie auch immer er hoffen mag, einem unerbittlichen Fortschreiten zum Ende zu entkommen. Der Begriff wäre also von Nutzen, selbst wenn seine vielfältige Verwendung bei den Deutungen der bisherigen Geschichte und bei der Selbstverständigung der Menschen über ihre jeweilige Situation ihn nicht als notwendigen erwiesen hätten. Aber ebensowenig sind die Nachteile des jedenfalls fragwürdigen Begriffs zu übersehen. Sie bestehen vor allem in seiner Verwendbarkeit zum politischen Kampf, und sie können verhängnisvoll werden, wenn dieser Kampf als Vernichtungskampf aufgefaßt wird. Die letzte große Instrumentalisierung liegt jetzt weit zurück: der Glaube, der "Kapitalismus" als Inbegriff alles dessen, was mit Recht als gefahrdrohend erkannt wird, werde einem gewalttätigen Angriff durch die Vorkämpfer des Sozialismus erliegen und einem reineren Zustand der Identität von Individual- und Kollektivinteresse den Platz räumen. Heute sieht es ja vielmehr so aus, als werde der Teil der Welt, der sich "sozialistisch" nennt, unaufhaltsam in das Getriebe der Weltmarktwirtschaft einbezogen. Es läge für die westliche Welt nahe, den Spieß umzudrehen und von der Spätzeit der Kriegswirtschaft zu sprechen, die sich in großen Teilen der Erde seit 1917 perpetuiert habe. Als Denkschema kann dieses Konzept

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nützlich sein, denn Selbstverständnis darf nicht auf einer künstlichen Isolierung des Eigenen beruhen. Aber sobald die Parallele bis ZU dem praktischen Appell an die Bevölkerung jener Länder fortgeführt würde, sich der Einparteiherrschaft als des eigentlichen Sperriegels gegen jede positive Entwicklung gewaltsam zu entledigen, wären panikartige und damit äußerst gefährliche Reaktionen von seiten der herrschenden Parteien und ihrer gewiß nicht ganz wenigen Anhänger zu erwarten. Und ebensowenig wie "die Bourgeoisie" des 19. Jahrhunderts sind die herrschenden Parteien etwa Osteuropas bloß verkrustet, dekadent und hinderlich. Wir dürfen die ideologischen Bürgerkriege der Vergangenheit deuten, aber wir müssen heute darauf hinwirken, daß nicht nur die großen Staatenkriege der Vergangenheit angehören, sondern auch Bürgerkriege, mit denen versucht wird, diesen schwierigen und komplexen Weltzustand durch Aktionen zu heilen, statt ihn durch Nachdenken zu verbessern. Und im Rahmen dieses Nachdenkens wird die Fragwürdigkeit, die Notwendigkeit, der Nutzen und der Nachteil des Begriffs der "Spätzeit" noch lange ein zentrales Thema bleiben müssen.

Antike und Spätantike Von Alfred Heuß, Göttingen

Inhalt I. "Antike": 1. Einleitung: Allgemeiner Zeitaspekt von "Antike" und "antik" . - 2.

Rückgriff auf die humanistische Tradition. - 3. Die Einheit von Griechen und Römern als Voraussetzung einer historischen Bezugsgröße.- 4. Aporien des Antikebegriffs.

li. "Antike" und "Spätantike": 1. Äußere und innere Umrisse der "Antike". - 2. Begriffliches zu "Antike" und "Spätantike". - 3. Evidenz der sachlichen Unterscheidung.

III. Zweierlei "Spätantike": 1. Vorbemerkung.- 2. Die östliche Reichshälfte.- 3. Die westliche Reichshälfte. IV. Epilog

I. "Antike"

1. Einleitung: Allgemeiner Zeitaspekt von ,,Antike" und "antik" "Spätantike" setzt logisch "Antike" voraus 1• Man kann deshalb von "Spätantike" nur sprechen, wenn der Begriff "Antike" klar ist und damit als I Dieser Beitrag ist nur dem Grundgedanken nach mit dem Vortrag in Köln identisch. Die schriftliche Fixierung ließ ihn sich zu einer Abhandlung auswachsen. Das liegt vor allem daran, daß der Begriff "Antike", den ich in seiner Vieldeutigkeit während des Vortrags ignoriert hatte, nun gebieterisch in den Weg trat und sein Recht forderte. So mußte ich auf seine Besprechung nicht nur mehr Mühe verwenden, als es damals geschah, sondern das Thema erhielt obendrein dadurch einen zweiten Schwerpunkt, der ihm ursprünglich nicht zugedacht war, aber nun bei näherer Überlegung einfach nicht übersprungen werden kann, eine Unvermeidlichkeit, deren zusammenfassender Erläuterung nicht zuletzt das Schlußkapitel dient. Außerdem gewinnt so der Begriff "Spätantike" zur "Antike" noch ein ganz neues Verhältnis, welches der Konzeption der Vortragsreihe wahrscheinlich ferngelegen hat. Das bedeutet nun zwar ganz und gar nicht, daß die "Spätantike" im Sinne des Rahmenthemas unter den Tisch gefallen wäre, aber vielleicht wird doch mancher die erwartete Ausführlichkeit vermissen (vgl. auch Anm. 34). Den Betreffenden möchte ich deshalb hier in aller Form um Nachsicht gebeten haben, zumal eine ähnliche Mißhelligkeit sich noch dazu gesellt in der Gespaltenheil der Spätantike. Da zwangsläufig die Thematik ausgesprochen formale Verhältnisse betrifft, gehe ich nur sporadisch auf inhaltliche Fragen ein, ließ mir allerdings, wie es der Sache entspricht, mehr durch den Kopf gehen, als so zum Vorschein kommt. Ich möchte deshalb nicht versäumen, wenigstens an dieser Stelle für den Nutzen zu danken, den ich hierbei

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Bezugsgröße dienen kann. Leider trifft dies nun gar nicht zu. Das Wort "Antike" teilt das Schicksal mancher Wörter, vieldeutig zu sein. Sein Sinn ist in hohem Grad komplex und erlaubt, Verschiedenes und sogar Widersprüchliches unter demselben Wortlaut vorzustellen. Einmal, um mit dem Allgemeinsten zu beginnen, dürfen wir es als adäquate Übersetzung von "Altertum" auffassen2. Damit sind wir auf diesen Begriff verwiesen. "Altertum", ein Begriff, dem noch eine Geschichte in Gestalt der "Weltgeschichte" zugrunde liegt, ist ein rein temporaler Rahmen für alles menschliche Geschehen auf der Erde von seinem Eintritt in die hochkulturelle Phase bis zum Ende des fünften nachchristlichen Jahrhunderts. Zuerst reichte es räumlich von der atlantischen Küste bis zu den Grenzen der biblischen Weltvorstellung im Osten, umfaßte also Eurasien bis Indien einschließlich Nordafrika. Später trat der Ferne Osten in Gestalt von China hinzu. Dieser kühnen Erweiterung wurde das Glück einer ungefähren empirischen Bestätigung zuteil, denn in der Tat fällt die Entstehung der ersten Hochkulturen auf unserem Globus (vom präkolumbischen Amerika ist abzusehen) ungefähr in dasselbe Zeitspatium, wenn es einem auf Differenzen von ein- bis zweitausend Jahre nicht ankommt. Im Verhältnis hierzu läßt sich die neolithische ,,Vorgeschichte" bestimmen. In Zeit-"Räumen" hat im Gegensatz zu den echten Räumen eine unbegrenzte Anzahl von historischen Individuen (Staaten, Völkerstämme usw.) Platz, denn die Gleichzeitigkeit kennt keine quantitative Begrenzung. Jedes historische Individuum ist prinzipiell (de facto ist es schwieriger) darin chroaus zwei mir wirklich profund vorkommenden Büchern zog: Hans-Georg Beck, Das byzantinische Jahrtausend, München 1978; sodann der erste Band des Handbuchs der europäischen Geschichte, Stuttgart 1976, mit welchem dem Herausgeber Theodor Schieffer nach meinem Eindruck eine für ein Sammelwerk erstaunliche Leistung im Durchdenken des Stoffes gelungen ist. Zur leichteren Orientierung über die teilweise verschlungenen Gedankengänge der vorliegenden Arbeit schicke ich eine Disposition des Inhalts voraus, welche ihn nicht nur gliedert, sondern auch eine vorläufige Skizze seiner inneren Verschränkung enthält. Eingegangen bin ich absichtlich nicht auf das viel gequälte Problern der Grenze zwischen Alterturn und Mittelalter, obgleich es sich anbietet und manche hier angestellte Überlegung über das Ende der Antike auch dort untergebracht werden könnte. Immerhin wird darüber kein Zweifel gelassen, daß Erörterungen dieser Art nicht nur hier, sondern auch sonst aus praktischen Gründen besser unterblieben. 2 "Antike" in der Bedeutung von schlechthin "Altertum" ist nach meiner Erinnerung bei Max Weber ganz geläufig. Bei einem anderen hervorragenden Autor wie Alois Riegl hat dieser Sprachgebrauch sogar sichtbare Konsequenzen. Sein berühmtes Werk über die "Spätrörnische Kunstindustrie", Wien 21927, ND Darmstadt 1973, trägt diesen für uns befremdlichen Namen, weil es ihm zu einem erheblichen Teil um Phänomene jenseits des konventionellen Alterturns zu tun ist. Ihm hätte die Bezeichnung "antik" viellieber sein müssen, da sie eine größere Breite in der gegenständlichen Streuweite hat, aber nur mit den Römern glaubt er in die ihn betreffenden Zeiten zu gelangen, wobei er vor allem an die Oströmer denken muß. Es ist klar, daß ihm der Begriff "Spätantike" und erst recht die sich aus ihm ergebenden Folgerungen unbekannt sind.

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nologisch "unterzubringen". Wenn wir "antik" mit "altertumszugehörig" gleichsetzen, besteht immer die Möglichkeit, ihm innerhalb des besagten Zeitraumes eine Stelle zuzuweisen und sie nach den Kategorien der Vor-, Gleichund Nachzeitigkeit in ein Verhältnis zueinander zu bringen. Mit Hilfe eines durchsichtigen chronologischen Systems, wie es uns heute zur Verfügung steht, läßt sich das bekanntlich mit einem Blick bewerkstelligen. "Antik" heißt zum ersten nichts anderes, als daß irgendeine Menge historischer Subjekte einen Platz in der Zeitskala des Altertums finden kann und (grundsätzlich) finden muß. Diese Allerweltsbestimmung kann per se für jedes hierher gehörige historische Individuum vorgenommen werden. Es teilt damit die zeitliche Bestimmbarkeil mit der praktisch indefiniten Menge der übrigen historischen Individuen, insofern, als es die Möglichkeit besitzt, dieselbe Zeitstelle mit einer unbegrenzten Anzahl (anderer historischer Individuen) zu teilen. Weil nun diese Bestimmung ohne jede Rücksicht auf das konkrete Befinden des einzelnen historischen Individuums getroffen wird und alle historischen Individuen in diesem Zeitraum (mit der vorgegebenen räumlichen Begrenzung) in gleicher Weise angeht, kann es sich hier nur um eine ganz allgemeine Bestimmung handeln. Diese Bestimmung ist notwendig abstrakt, denn ich erfahre durch sie von keinem einzelnen Individuum, ob es überhaupt zu dem Kreis von "allen" gehört. Die Allgemeinheit ermöglicht ja gerade, daß ich die einzelnen Individuen nicht zu kennen brauche. Diese Abstraktheit verliert sich in Bezug auf die Geschichte nur in einem höchst geringen Umfang, wenn ich ein einziges historisches Subjekt innerhalb der allgemeinen Zeitbestimmung festmache, wozu nicht nur die Zeitangabe, sondern auch der Ort und insbesondere der Name gehört. Wir täuschen uns sehr gerne über das Minimum an konkretem Inhalt, der damit gegeben ist, weil wir stillschweigend all' das, was wir sonst- a posteriori- von dem betreffenden historischen Subjekt wissen, hinzurechnen. Sofern wir aber konsequent von diesem "Überschuß" über das rein chronologische Datum hinaus absehen, bleibt die individuelle Existenz des historischen Subjekts selbstverständlich anzuerkennen, aber alle übrigen Bestimmungen bleiben weiterhin in das Meer der Allgemeinheit eingetaucht, d. h. sie sind unbekannt, nicht anders als bei der Konstatierung der Allgemeinheit, und das wenige, das tatsächlich ausgesagt wird (nämlich die Zeitangabe), wird mit den unzähligen gleichzeitigen historischen Subjekten geteilt (nicht das Was, sondern Momente der gemeinsamen Dauer). Nimmt man hinzu, daß obendrein der historische Moment in seiner Isolierung zu gar keiner Auskunft über den Zustand des Subjekts fähig ist, weil ihm sowohl die "Vorzeit" wie die "Nachzeit" abgeht und damit das wenige, das sich allenfalls mitteilen ließe, weitgehend unverständlich bleibt, so hat man kaum ein Recht, diese Art von Konkretheit, die allein auf Grund einer einzelnen Zeitangabe möglich ist, von dem Schatten der Abstraktheit zu befreien. "Gleichzeitig" sagt bei Unbekanntheit

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des übrigen Gleichzeitigen so gut wie nichts aus, so daß sie im Grunde eingeklammert werden kann. Was dann bleibt, ist weiter nichts, als daß das eine und einzige Konkretum eines von all' denen ist, die nur als Allgemeines aufzufassen möglich ist. Mit anderen Worten: wir bekommen die Zugehörigkeit zu ihm in ziemlich leerer Begrifflichkeit zu fassen (in der Bedeutung, einer derjenigen Fälle zu sein, die von dem Begriff "Altertum" erfaßt werden, d. h. nicht mehr als ein beliebiges "Exempel" darzustellen) . Entgegen der logischen Exaktheit darf man also die primäre Abstraktheit unbesorgt auf die Beurteilung des nur mit dem Minimalbestand der Einmaligkeit ausgestatteten Konkretums ausdehnen (vielleicht mit Hilfe der Formel "sekundäre Abstraktheit"), um den Zeitbezug von "Antike" und "antik" schlechthin als "abstrakt" zu charakterisieren. "Minimalbestand der Einmaligkeit" ist gleichsam der Nullpunkt der Konkretheit und besagt nichts anderes, als daß es das Konkretum gibt, selbiges aber vorerst nur unter Abzug seiner konkreten Inhaltsfülle gedacht werden kann. Die Konkretheit ist dann rein formal (was logisch vielleicht anstößig ist) und tut sich nur in dem bloßen Existieren kund. Sie bleibt noch abstrakt, weil sie trotz des Existierens über die Allgemeinheit, dieses als beliebigen Fall zu illustrieren, nicht hinauskommt. Diese Leerheit des bloßen Existierens erlaubt ihm auch nicht, schon als "existenzhaltig" zu gelten. Hierzu bedarf es des Existierens in seinem vollen Umfang, denn nur so entspricht es seinem Begriff, während es hier noch in der Reduktion des bloßen Seins figuriert. Für den Umgang mit der Geschichte ergibt sich hieraus die Auflage, den rein formalen Grundriß erst einmal empirisch aufzufüllen. Die vereinzelte Zeitangabe gewährt hierzu noch keine Handhabe. Auf der anderen Seite tut sich allerdings hier schon kund, daß der Aufbau eines historischen Subjekts in der historischen Vorstellung immerhin gezwungen ist, von dessen bloßem Existieren auszugehen (und nicht etwa von einer Fiktion), und seine einzelnen Bestimmungen erst von dieser Voraussetzung aus erfolgen können. Zu ihnen gehören auch die verschiedenen zeitlichen Bestimmungen. Sie sind durchaus a posteriori, auch das erste zeitliche Datum, sobald es in einen historischen Zusammenhang eintritt, in dem es als vereinzeltes sich noch keineswegs befand. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn wie überall in der Welt muß, was von einem Gegenstand ausgesagt wird, seinem bloßen Sein folgen, auch wenn es hierbei eine "Vorgeschichte" erhalten sollte. Sobald von einem wirklichen geschichtlichen Subjekt in seinem Kontext berichtet wird, ist deshalb selbstverständlich das elementare Existieren dieses Subjekts mitberichtet. Solche Aussagen sind deshalb in einem prägnanten Sinn "existenzhaltig". Zugleich wird hier noch ein anderer Umstand berührt: Bevor ich eine zeitliche Bestimmung treffe, muß mir das hierbei Gemeinte, also das betreffende geschichtliche Subjekt, geläufig sein. "Geläufig sein" heißt aber schlicht:

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"gedacht werden" ohne Rücksicht auf zeitliche Einordnung, also sozusagen in "Ruhelage". Wir benötigen diese Zurückhaltung im allgemeinen, um das Existieren (der Ausdruck "Existenz" ist aus naheliegenden Gründen zu vermeiden) des geschichtlichen Subjekts zu begreifen, auch wenn wir wissen, daß es, wie alles Existierende in der Welt, zeitlich ist, d. h. sich in der Zeit befindet. Nun fordert der aktuelle Begriff "Antike" einen sehr gewaltsamen Schritt. Griechen und Römer gehören, woran selbstverständlich nicht der geringste Zweifel bestehen kann, in das Altertum oder in die Antike und sind deshalb "antik". Das ist evident und damit so zwangsläufig, wie nur etwas zwangsläufig sein kann . Trotzdem stellt sich der Satz daneben: Die beiden gehören in das Altertum wie vieles andere auch, aber die Bezeichnung "antik" kommt nur ihnen zu. Was ist da nun passiert? Ein Gedankenexperiment ist hier nicht zu umgehen. Die erste Vermutung dürfte dahingehen, daß ein Wort, das dieselbe Sache meint, innerhalb seines Bedeutungsbereiches einen speziellen, diesem unter- bzw. eingeordneten Inhalt bezeichnen will. Altertum und Antike würden dann in der Weise auseinandertreten, daß das Altertum als Oberbegriff die Gesamtheit der von ihm erfaßten dreieinhalb Jahrtausende meint, während "Antike" aus irgendeinem Grund lediglich auf einen Ausschnitt von ihm geht. Es hindert uns niemand, den ganzen Zeitraum irgendwie zu gliedern, wenn es dafür vernünftige Gründe gibt. Freilich ist dann fürs erste die Notwendigkeit nicht zu umgehen, daß die Besonderheit, welche das in Frage stehende nomenklatorische Verfahren betrifft, wirklich die Gesamtheit des Zeitraums angeht, und das wiederum ist nicht einfach durch die Teilhaftigkeif eines bestimmten Zeitabschnitts und seiner Stellung innerhalb des ganzen Zeitraums, also durch eine Relation innerhalb der bloßen Dauer, an die Hand gegeben, sondern macht auch einen Bezug auf die Gesamtheit des Geschehens innerhalb des für die Zeitmessung zugrunde liegenden Raumes notwendig. Bei den hier ins Auge gefaßten Dimensionen ist leicht zu sehen, daß derartige ubique Einschnitte de facto sehr unwahrscheinlich, um nicht zu sagen "unmöglich" sind, es sei denn, der welthistorische Ereignisbereich erfährt eine ungebührliche Reduktion. Aber selbst dann käme man nicht zum Ziel. Zum Exempel: Im Altertum spielt die Idee der Weltherrschaft eine nicht unerhebliche Rolle, aber selbst der größte Potentat in dieser Hinsicht, Alexander der Große, ist nicht dahin gelangt, mit den Auswirkungen seines Imperialismus den gesamten Erdkreis zu erreichen, und es wäre ihm auch nicht gelungen, wenn der Tod ihn nicht an der Ausführung seiner Pläne gehindert hätte. In dem hier in Rede stehenden Zusammenhang könnten nur physische Katastrophen einen adäquaten Effekt herbeigeführt haben, so wie die mythische Vorstellung der Sintflut Auskunft geben würde, wenn sie keine Fiktion wäre.

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Will man mit "antik" auf diesem Wege zum Ziel kommen, dann müßten jeweils Griechen und Römer eine rein äußerlich, also eine politisch zu bezeichnende Universalität gewonnen haben, welche sich nur auf Grund ihrer Ausdehnung als Besonderheit gegenüber allen anderen vergleichbaren bemerkbar macht. Es wäre dann jedem für sich das gelungen, was Alexander nicht glückte. Aber so war es eben nicht. Raum und Zeit, lediglich in ihrer äußeren Ausdehnung als Index ihrer Universalität genommen, reichen auch für Römer und Griechen nicht aus, um die beiden begrifflich so zusammenzuführen, daß jedem dieselbe spezifische universale Prädikation zugeschrieben werden könnte. Danach bleibt nur die Feststellung: Von der universalen Zeit aus, also vom Altertum, in diesem Sinn verstanden, und danach von einer ihm synonymen Antike her, läßt sich "Antike" und "antik" nicht prägnant verstehen. Es kommt also darauf an, wie außerdem in ihr ein Begriff gesehen werden könnte. Demzufolge wäre davon auszugehen, daß sowohl die griechische wie die römische Geschichte, d. h. ihre Inhalte, nun einmal diese Bezeichnung in Anspruch nehmen können (nicht müssen), denn zweifellos wird man beide Subjekte schon als ausreichend bestimmt betrachten, wenn man sie bei ihrem Namen nennt und von der Geschichte der Griechen und der Geschichte der Römer spricht. Damit sind beide in ihrer konkreten Individualität bezeichnet, und zwar ausreichend (daß keine Verwechslungsgefahr mit den modernen Griechen und den Einwohnern der Stadt Rom in Mittelalter und Neuzeit besteht, darf man getrost unterstellen). Wenn nun noch eine andere Bezeichnung hinzutritt, kann diese nur als akzessorische gelten. Das heißt nicht nur, daß sie wegfallen kann, sondern bedeutet auch, daß die Bezeichnung zusätzlich ist, also nur nominell gilt. In der Tat wird man vergebens danach suchen, daß Griechen und Römer sich selbst jemals dieses Ausdrucks bedienten. Er ist ohne Zweifel eine moderne Zutat. Der Frage läßt sich deshalb nicht ausweichen, was diese Prädikation nach der semantischen Logik alles besagen könnte. Zunächst hat man selbstverständlich damit zu rechnen, daß beide Male die Bedeutung dieselbe bleibt und deshalb, was dem einen Subjekt zukommt, auch für das andere zu gelten hat. Beginnt man mit der zeitlichen Lokalisierung der jeweiligen Geschichte, dann ist gewiß nicht zu bestreiten, daß sie gewisse Jahre gemeinsam haben , aber ein durchgehender Parallelismus nicht besteht, denn die griechische Geschichte ist zweifellos "älter" als die römische. Für den späteren Fortgang trifft dann der Begriff "Parallelismus" erst recht nicht richtig zu. In der Kaiserzeit waren sie keine selbständig nebeneinander her laufenden Einheiten. Ein anderer Typus von Zusammengehörigkeit könnte sich - wenn man hypothetisch konstruiert- auf besondere qualitative Gemeinsamkeiten stützen, die anderen nicht zukommen. Etwa so, wie man gegebenenfalls auf den Feudalismus (den es im Altertum nicht gab) als gemeinsames Spezifikum rekurrieren

Antike und Spätantike

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würde, etwa beim mittelalterlichen Europa und Japan. In analoger Weise würde sich für Griechen und Römer vielleicht d~r autokephale Stadtstaat anbieten; aber es gibt doch ein Hindernis, der es ausschließt: Phöniker und Etrusker kennen ihn auch. Daß Ähnlichkeiten zwischen Staaten und zwischen kulturellen Gemeinschaften auftreten, ist an sich nichts Besonderes. Aber man wird darin für gewöhnlich keine Veranlassung sehen, diese Ähnlichkeit, abgesehen davon, daß man sie bemerkt und ihren Erscheinungen nachgeht, zu einem eigenen gemeinsamen Stempel für die beiden historischen Subjekte zu machen. Die "abstrakte" Bedeutung von "Antike", um die es hier geht, subsumiert also geschichtliche Subjekte unter den Begriff der Zugehörigkeit zu einem in absoluter Chronologie festgelegten Zeitraum; mit anderen Worten: die jeweilige Existenzdauer des geschichtlichen Subjekts und damit dieses selbst wird lediglich daraufhin festgelegt, daß jene überhaupt in ihn fällt und somit diese Eigenschaft mit einer indefiniten Anzahl anderer Subjekte "teilt" , danach sozusagen eine "Gattung" bildet. Die Individualität des geschichtlichen Subjekts ist hierbei wie bei jeder bloß quantitativen Klassifizierung zugedeckt und allenfalls einer rein statistischen Einordnung zugänglich. Die "nominelle" Bedeutung von "antik" geht dagegen vom einzelnen geschichtlichen Subjekt aus und betrachtet es als vorgegeben. Das klarste Indiz: es hat bereits seinen Namen und kann damit auf ein Minimum von Angaben fixiert werden. Der Name ist schon behilflich für das Erscheinen eines individuellen Gegenstands, er trägt erst recht Wesentliches zur Begründung eines geschichtlichen Subjekts bei und zielt von Anfang auf das Festhalten seiner Einmaligkeit. Wenn also zu dem Namen noch eine sekundäre Bezeichnung hinzutritt, so ist diese zum ersten einmal eine Bestätigung der durch den ersten Namen zuerkannten Singularität. Erst danach ist zu fragen, ob, von der im ersten Namen steckenden Existenzaussage abgesehen, mit der zweiten Bezeichnung noch etwas anderes zur Kenntnis gebracht werden soll. Nun ist gewiß nicht auszuschließen, daß in zusätzlichen Bezeichnungen ein sachlicher Bezug festgehalten werden kann. Wenn sich das eindeutig zu erkennen gibt, handelt es sich um Prädikationen, die im Verhältnis zur bloßen Existenzangabe mit speziellen Mitteilungen aufwarten. Beides ist miteinander nicht nur verträglich, sondern bedeutet eine Selbstverständlichkeit jedes Denkens und Vorstellens. Formal tritt dann zu dem Einzelnen, das bereits durch den Namen kundgetan ist, ganz nach den Bedürfnissen des apperzipierenden Subjekts, ein (prädikatives) Attribut. Auf der anderen Seite ist allerdings ganz geläufig, daß Prädikationen auch als Namen Verwendung finden, am deutlichsten, wenn sie als "Beinamen" an die Seite des eigentlichen Namens treten, wobei sich je nach dem die Gewichte 3 Spätzeit

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auch verschieben können und der Beiname die Führung übernimmt (so etwa im Lateinischen). Der Hergang im einzelnen ist hierbei sehr verschieden, nur in einem Punkt gehorchen sie zumeist einem bestimmten Trend: Prädikative Namen werden - man ist versucht zu sagen durchgängig - unabhängig von ihrem Wortsinn angewandt und sind im täglichen Leben in bezugauf ihn geradezu unverständlich, d. h., sie verlieren ihn in ihrem praktischen Gebrauch. Sie sind dann reiner Wortlaut und enthalten nur die Funktion, als Namen zu dienen, was zu der Bestimmung zurückführt, daß damit lediglich die individuelle Existenz getroffen wird und diese über ihre Kontingenz nicht hinausreicht, d. h., nur auf das Vorhandensein geht und, hierauf beschränkt, notwendigerweise eine Benennung als "zufällig" oder "beliebig" erscheint. Eine solche geradezu extrem nominalistische Form von Benennung bietet sich nun am bequemsten einem unverfänglichsten Verständnis von "Antike" und "antik" an, und zwar eben deshalb, weil sie zum Einstieg noch keine Erklärung zu liefern beansprucht, sondern im Gegenteil die Möglichkeit zu einem "sinnfreien", um nicht zu sagen "sinnlosen" Umgang mit der Terminologie offenläßt. "Antik" ist dann eben eine schlichte "fa