Sprache und Empathie: Beiträge zur Grundlegung eines linguistischen Forschungsprogramms 9783110679618, 9783110679601

Empathy has become a guiding principle in the cognitive, social, and cultural sciences. Until now, linguistics has faile

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German Pages 638 [640] Year 2020

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Sprache und Empathie: Beiträge zur Grundlegung eines linguistischen Forschungsprogramms
 9783110679618, 9783110679601

Table of contents :
Inhalt
Allgemeine Überlegungen zu einer Linguistik der Empathie
Teil 1: Grundlegende Überlegungen zum Zusammenhang von Empathie, Kommunikation und Sprache
Parameter und Reichweite der Empathie
Selbsterleben, Bezogenheit und Resonanz
Zauberformel, Scharlatanerie, Projektion?
Kommunikation – Verständigung – Empathie
Hermeneutik und Empathie
Teil 2: Empathie in intrakultureller, interkultureller, multimodaler und Interspezies-Kommunikation
Sprachliche, interaktionale und kulturelle Aspekte von Empathie in sozialer Interaktion
Empathie und Interkulturalität
Mehrfachadressierung, multimodale Empathiemanifestation und Blockade
Selektive Empathie mit Tiere
Praktiken des Empathisierens in Reitunterricht und Pferdeausbild
Teil 3: Empathie und ihre Relevanz in exemplarischen gesellschaftlichen Kommunikationsbereichen
Empathie im Recht
Empathie und Vertrauen in der Arzt- Patienten-Kommunikation
Empathie in der Wissenschaftskommunikation
Empathie als politische Ressource
Empathie in der Unternehmens- und Veränderungskommunikation
Empathie als Kompetenz?
Sprachkritik und Empathie
Empathie beim Verstehen fiktionaler Texte
Empathie in der Wissensdomäne Kunst
Anhang
Autorenverzeichnis
Index

Citation preview

Sprache und Empathie

Sprache und Wissen

Herausgegeben von Ekkehard Felder

Wissenschaftlicher Beirat Markus Hundt, Wolf-Andreas Liebert, Thomas Spranz-Fogasy, Berbeli Wanning, Ingo H. Warnke und Martin Wengeler

Band 42

Sprache und Empathie Beiträge zur Grundlegung eines linguistischen Forschungsprogramms Herausgegeben von Katharina Jacob, Klaus-Peter Konerding und Wolf-Andreas Liebert

ISBN 978-3-11-067960-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067961-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067970-0 ISSN 1864-2284 Library of Congress Control Number: 2020932483 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Katharina Jacob, Klaus-Peter Konerding, Wolf-Andreas Liebert  Allgemeine Überlegungen zu einer Linguistik der Empathie  1

Teil 1: Grundlegende Überlegungen zum Zusammenhang von Empathie, Kommunikation und Sprache  Thiemo Breyer  Parameter und Reichweite der Empathie  13 Frank-M. Staemmler  Selbsterleben, Bezogenheit und Resonanz  35 Thomas Stodulka  Zauberformel, Scharlatanerie, Projektion?  63 Klaus-Peter Konerding  Kommunikation – Verständigung – Empathie  81 Wolf-Andreas Liebert  Hermeneutik und Empathie  107

Teil 2: Empathie in intrakultureller, interkultureller, multimodaler und Interspezies-Kommunikation  Maxi Kupetz  Sprachliche, interaktionale und kulturelle Aspekte von Empathie in sozialer Interaktion  141 Sabine Rettinger  Empathie und Interkulturalität  175 Andreas Rothenhöfer  Mehrfachadressierung, multimodale Empathiemanifestation und Blockade  217

VI  Inhalt Pamela Steen  Selektive Empathie mit Tieren  249 Heike Rettig  Praktiken des Empathisierens in Reitunterricht und Pferdeausbildung  285

Teil 3: Empathie und ihre Relevanz in exemplarischen gesellschaftlichen Kommunikationsbereichen  Ekkehard Felder, Andreas Deutsch, Friedemann Vogel, Stefan Höfler, Christina Hörth, Aza Gleichmann, Janine Luth, Ina Pick, Hans Kudlich, Lars Bülow  Empathie im Recht  333 Pavla Schäfer  Empathie und Vertrauen in der Arzt-Patienten-Kommunikation  377 Michael Bender, Nina Janich  Empathie in der Wissenschaftskommunikation  419 Josef Klein  Empathie als politische Ressource  445 Helmut Ebert, Edith Münch  Empathie in der Unternehmens- und Veränderungskommunikation  471 Jörg Kilian, Konstanze Marx  Empathie als Kompetenz?  489 Kristin Kuck, Kersten Sven Roth  Sprachkritik und Empathie  515 Berbeli Wanning, Anna Mattfeldt  Empathie beim Verstehen fiktionaler Texte  543 Paul Reszke  Empathie in der Wissensdomäne Kunst  581

Inhalt  VII

Anhang  Autorenverzeichnis  621 Index  627

Katharina Jacob, Klaus-Peter Konerding, Wolf-Andreas Liebert

Allgemeine Überlegungen zu einer Linguistik der Empathie

Empathie hat sich zu einem zeitgenössischen Leitbegriff in den Kognitions-, Sozial- und Kulturwissenschaften entwickelt. Als Sprachwissenschaftler*innen müssen wir jedoch feststellen, dass der gegenwärtig wissenschaftlich und gesellschaftlich so wichtig gewordene Begriff der Empathie in seiner Relevanz für unsere Disziplin bisher nur unzureichend thematisiert und von der Forschung erschlossen worden ist. Und dies, obwohl Sprache und sprachliche Interaktion im Bereich der menschlichen Kommunikation und Verständigung das grundlegende Mittel und Medium für Empathie sind. Mit dem vorliegenden Sammelband, der auf eine gleichlautende Tagung im Oktober 2017 zurückgeht, sollen grundlegende Impulse aus der interdisziplinären Diskussion zum Begriff der Empathie mittel- und langfristig für die sprachwissenschaftliche Diskussion fruchtbar gemacht werden. 1 Zugleich hoffen wir, dass auch die Linguistik in nächster Zeit die interdisziplinäre Forschung rückwirkend wesentlich anregen wird. Ansatzpunkt ist der Begriff der gelingenden Kommunikation: Damit Kommunikation gelingen kann, ist nicht nur die wechselseitige Berücksichtigung und Überprüfung von expliziten und impliziten Präsuppositionssystemen durch die jeweiligen Kommunikanten unerlässlich, sondern auch ein Signalisieren und Ratifizieren von Verstehen und Vertrauen auf der phatischen, somatischen und emotiven Ebene, dies in notwendiger Ergänzung zu einem rein kognitiven Erfassen der Relevanz- bzw. Referenzsysteme jeweiliger Interaktionspartner*innen (Konerding in diesem Band). Empathie ist daher eine entschei 1 Die Tagung fand im Rahmen des Netzwerkes „Sprache und Wissen“ statt – zu letzterem vgl. Felder (2008) sowie http://sprache und wissen.de/.  Katharina Jacob, Germanistisches Seminar, Universität Heidelberg, Hauptstr. 207-209, 69117 Heidelberg, katharina.jacob[at]gs.uni-heidelberg.de Klaus-Peter Konerding, Germanistisches Seminar, Universität Heidelberg, Hauptstr. 207-209, 69117 Heidelberg, konerding[at]gs.uni-heidelberg.de Wolf-Andreas Liebert, Universität Koblenz-Landau, Institut für Germanistik, Universitätsstr. 1, 56070 Koblenz, Tel.: +49 0261 287-2052, liebert[at]uni-koblenz.de

https://doi.org/10.1515/9783110679618-001

  Katharina Jacob, Klaus-Peter Konerding, Wolf-Andreas Liebert dende Größe in jedem kommunikativen Ereignis. Empathie reicht jedoch noch darüber hinaus, etwa als Hineinversetzen in ‚fremde Welten‘ des Anderen, seien diese nun realer oder fiktiver Natur, und somit auch in Figuren der Literatur, des Theaters und des Films (vgl. Eder/Jannidis 2010; Jannidis 2004; Liebert und Wanning/Mattfeldt in diesem Band). Empathie ist somit wesentlich ein verbindendes Konzept zu anderen Disziplinen. Empathie wirft die Frage nach dem wechselseitig unterstellten Common Ground auf, der fortlaufender Aushandlung und Ratifizierung bedarf, um eine Anschließbarkeit an individuelle wie kulturspezifische epistemische und deontische Präferenzsysteme sowie zugehörige Wissens- und Handlungsressourcen möglich zu machen. Dies ist uns spätestens seit Grice hinsichtlich der kognitiven Dimension der Interaktion deutlich bewusst. Empathie stellt, wie in den Beiträgen des vorliegenden Bandes sehr deutlich werden wird, jedoch eine komplexe kommunikative Praktik dar, die sowohl somatische und emotive sowie kognitive Resonanzen einschließt und so eine holistische Simulation im Sinne einer dimensional differenzierbaren komplexen ‚Einfühlung‘ in die situativ-existentiellen Befindlichkeiten, Dispositionen und Lebensvollzüge, Bedürfnisse und Reaktanzen jeweiliger Interaktionspartner*innen oder -objekte ermöglicht. Empathie schließt die emotive Ebene somit zwar ein, darf aber keinesfalls darauf reduziert werden, wie dies im populären Diskurs häufig anzutreffen ist (etwa auf ein bloßes ‚Mitfühlen‘). Die ‚Schnittstelle‘ der emotiven, somatischen und kognitiven Ebene der Empathie und die Rückbindung an den Common Ground stellt für Fritz Breithaupt (2009) die Narration dar. Narrationen sind für uns Menschen die symbolisch getragenen Grundformen der mentalen sowie interaktiven Ereignis- bzw. Erfahrungsvergegenwärtigung. Das elaborierte und enkulturierte personale Selbst ist bekanntermaßen in Form des autobiographischen Gedächtnisses wesentlich über Narrationen konstituiert. Diese sind nicht zuletzt durch die grundlegenden handlungsleitenden Narrationen einer Kultur bestimmt und an ihnen ausgerichtet. Entsprechend gilt: Erst wenn es gelingt, die Wahrnehmungen, Erwartungen, Prognosen und Simulationen in eine sinnvolle Narration vom Anderen, von mir und der Welt zu synthetisieren, kann Empathie gelingen. Damit wird nochmals die zentrale Rolle der Sprache für das Moment der Empathie sehr deutlich. Wer empathisch kommuniziert, eruiert daher nicht nur die Situierung der Kommunikation, reflektiert die eigene Lebenswelt und setzt sie in Verhältnis zu den wahrgenommenen Voraussetzungen und Erwartungen des Adressaten, sondern er verwebt sie auch mit einem passenden, gültigen Narrationsmuster seiner Kultur. Derartige Muster sind wiederum zentrale Bestandteile kulturprägender Diskurse und ihrer Dispositive, die den Habitus und

Allgemeine Überlegungen zu einer Linguistik der Empathie  

die Lebenspraktiken jedes Einzelnen prägen. Entsprechend ist empathisches Kommunizieren in actu weniger ein bewusst reflektiertes und explizit artikuliertes Prinzip als vielmehr eine strukturierende Ressource, die zwischen den Kommunikanten praktiziert wird. Sie wird jedoch vielfach Gegenstand metakommunikativer Verständigung vor und nach empathischen Kommunikationen. In der Face-to-face-Kommunikation zeigt sich die Empathie zwischen den Kommunikanten unmittelbar im Vollzug der Interaktion. In der schriftlichen und multimedialen Kommunikation wird die Akkommodations- und Antizipationsleistung der Kommunikanten aufgrund der Vermitteltheit schriftlicher bzw. multimedialer Kommunikation über verschiedene Kommunikationssituationen medial verdichtet und verkürzt vermittelt und dadurch zugleich sprachlichmedial komplexer wie reduzierter codiert. Aus Sicht der Wissenstheorie kann Empathie weniger dem deklarativen als vielmehr dem prozeduralen und dabei impliziten Wissen zugeordnet werden. Daher ist Empathie auch, gleichwohl als Fähigkeit bei allen Menschen vorhanden, für verschiedene Lebensbereiche optimierbar. Dies gilt für die Ausbildung von Sprachbewusstheit und -kultiviertheit zunächst ganz allgemein. Es zeigt sich insbesondere an der Ausbildung von professionalisierten Rollen (vgl. Goffman 1977, 2011) und ganzen Berufsbildern, die Empathiefähigkeit an zentraler Stelle einsetzen, wie Psychotherapeut*innen, Ärzt*innen, Pädagog*innen, Schauspieler*innen oder Profiler*innen. Ähnliches gilt auch für die Bereiche der praktizierten Rhetorik und der Marktwirtschaft; insbesondere im Verkauf spielt die professionalisierte bzw. instrumentalisierte Empathie eine besondere Rolle. Empathie ist für alle Kommunikationsbereiche bzw. -kulturen relevant: Empathisches Kommunizieren vollzieht sich zwischen Expert*innen innerhalb eines Kommunikationsbereiches bzw. einer Fachkultur ebenso wie bereichsübergreifend zwischen verschiedenen Fachkulturen. Besonders brisant wird empathisches Kommunizieren, wenn die Geschlossenheit der Expertenkulturen überschritten und eine Vermittlungskommunikation mit mehr oder weniger fachspezifisch enkulturierten Laien praktiziert wird: Dann wird deutlich, dass es nicht nur um die zutreffenden Prognosen über den Wissensstand der jeweiligen Adressat*innen ankommt, sondern auch darauf, wie der/die Andere insgesamt in seiner/ihrer Lebenswelt wahrgenommen und eingeschätzt wird, d. h. mit welchen spezifischen didaktischen Mitteln die Vermittlung möglicherweise gelingen kann, und ob diese dann in der jeweiligen Vermittlungssituation tatsächlich auch wirken. Der Begriff der Empathie wird bereits in vielen Wissenschaften verwendet, vor allem in der Psychologie (vgl. Staemmler 2009). Prominent wurde er unter

  Katharina Jacob, Klaus-Peter Konerding, Wolf-Andreas Liebert anderem als interaktionales Resonanzphänomen in den Neurowissenschaften unter dem Namen der so genannten „Spiegelneuronen“ (vgl. Rizzolatti/Sinigaglia 2014; ähnlich etwa Vignemont/Singer 2006 oder Preckel/Kanske/Singer 2018) diskutiert. Vernachlässigt wird bei allem jedoch bisher die fundamentale Ebene der sprachbestimmten Interaktion, der zugehörigen Struktur und Qualität des sprachlichen Ausdrucks und damit zugleich auch des funktionalen Modus des kommunikativen Handelns. Die Ebene der sprachlichen Interaktion ist für die soziale Existenzform des Menschen, für menschliche Verständigung, für das wechselseitige Verstehen, für die soziale Bindung und Affiliation und die Kooperation unverzichtbar. Dies betrifft die Verwendung von spezifischen Formen der Lexik und Grammatik, die durch sie wirksame interaktive und illokutive Kraft, die immer auch das (soziale) Face der Interaktanten und dessen Schutz umfasst. Sie bestimmt darüber hinaus auch die Modalität und Qualität sowie den Erfolg einer interaktiven Sequenz wesentlich (Image-Management und Politeness). Ferner sind hier an zentraler Stelle die para- und nonverbalen Begleitmodalitäten der sprachlichen Äußerung, im Fall von Face-to-FaceKommunikation in der Mündlichkeit, insbesondere die Suprasegmentalia, Mimik, Gestik und Körperorientierung wesentlich wirksam, im Weiteren auch die Art der Einbettung der Äußerung in den soziopragmatischen Kontext. Während sich in jüngster Zeit die linguistische Forschung zu Emotionen in der Kommunikation intensiviert hat, wurde Empathie und ihre Rolle in der sprachlichen Interaktion bislang nur sporadisch und primär sondierend erkundet (Konerding in diesem Band). Erste Zugänge im Rahmen linguistischer Überlegungen und Analysen finden sich etwa im Bereich der linguistischen Hermeneutik (Hermanns 2007) sowie im Bereich der linguistischen Gesprächsforschung (vgl. Pfänder/Gülich 2013; Kupetz 2015). Intensivere Zugangsversuche sind in letzter Zeit im Rahmen der Erforschung von Psychotherapiegesprächen und in der Forschung zu Beratungsgesprächen allgemein zu beobachten (vgl. Konerding 2015). Weiterführend wären Aspekte und Arten von Empathiemanifestationen zu erfassen, die im Bereich der Schriftlichkeit und ihrer Kommunikationsbereiche einschließlich der zugehörigen Funktionalstile möglich sein sollten. Ferner sind solche pragmatischen Parameter wie Nähe und Distanz zu berücksichtigen. Es wird deutlich, welche vielfältigen Dimensionen sprachlicher Struktur und sprachlichen Gebrauchs betroffen sind, will man sprachbezogene Parameter empathischer Interaktion angemessen erfassen. Die thematisierten Aspekte umreißen in einem ersten Zugriff nur grob das Feld der vielfältigen Forschungsagenden, die sich für linguistisch bestimmte Untersuchungen im Bereich einer interdisziplinär erforderlichen Empathieforschung ergeben.

Allgemeine Überlegungen zu einer Linguistik der Empathie  

In dem vorliegenden Sammelband wird ein komplexer Empathiebegriff verwendet, der sich folgendermaßen beschreiben lässt: Empathie ist ubiquitär. Sie ist sowohl bei höheren Tieren als auch beim Menschen das zentrale Mittel für Zusammenhalt und Verständigung (Breyer, Konerding, Rettig und Steen in diesem Band). Darüber hinaus lässt sich ein spezifischer Bereich menschlicher Empathie ausmachen, der komplexe Verfahren empathischer Immersion in den Bereichen Literatur, Kunst und Religion u. a. umfasst (Liebert und Wanning/Mattfeldt in diesem Band). Je nach Wirklichkeitsstatus zeigt sich Empathie im Fiktionalen, bei literarischen Figuren, Alltagsgegenständen oder im Religiösen verschieden. Einige Dimensionen der tentativen Empathieimplementierung finden sich derzeit auch bei bestimmten Formen hoch entwickelter Maschinen. Ausgehend von einem mehrdimensionalen Empathiebegriff heißt das aber gerade nicht unbedingt, dass Letzteres menschlichen Empathieleistungen gleichkommt (vgl. Liebert 2019). Empathie ist nämlich weder auf Kognition noch auf Emotion noch auf somatische Interaktionsfähigkeiten begrenzt; vielmehr stellt sie, wie zuvor thematisiert, ein äußerst komplexes mehrdimensionales Phänomen dar. Darauf hat bereits Fritz Hermanns (2007) hingewiesen (vgl. auch Breyer, Konerding und Liebert in diesem Band). Breyer (in diesem Band) entwickelt zu diesen vielfältigen Aspekten eine Strukturierung und hebt dabei insbesondere auf die Wechselwirkungen zwischen den Dimensionen ab. Empathie kann demnach dazu verwendet werden, um unser Verständnis von Anderen zu erweitern und unsere Bindung zu ihnen zu vertiefen. Empathie kann aber auch zur Manipulation eingesetzt werden und dokumentiert dann die „dunklen Seiten der Empathie“ (Breithaupt 2017), verbunden mit Neid, Schadenfreude, Sadismus und dehumanisierte Instrumentalisierung (vgl. Liebert 2015). Auch wenn Empathie in der Öffentlichkeit häufig positiv konnotiert wird, meint es dann doch meist Mitgefühl, was eine Folge von Empathie sein kann, aber nicht mit ihr gleichgesetzt werden sollte. Empathie stellt also eher eine neutrale Ressource dar. Daraus ergibt sich, dass wir eine Ethik der Empathie benötigen, um die Frage zu klären, wie ein ‚guter‘ Einsatz von Empathie von einem (sozial) schädlichen abgegrenzt werden kann. Eine Didaktik der Empathie (Kilian/Marx in diesem Band) muss sich somit auf eine Ethik der Empathie gründen (dazu auch Konerding in diesem Band). Dies wirft Fragen wie die folgenden auf: Wie kann der ethisch als wünschenswert begründete Einsatz von Empathie gelehrt werden; wie ist der ethisch bestimmte schädliche Einsatz von Empathie zu erkennen; wie kann er als zu vermeidender gelehrt werden? Wie kann Empathie überhaupt in ihrer Ubiquität, Variabilität und Mehrdimensionalität erfolgreich zur Weiterentwick-

  Katharina Jacob, Klaus-Peter Konerding, Wolf-Andreas Liebert lung der lokalen und globalen Interaktionskultur erfolgreich entwickelt und vermittelt werden? Dies setzt die Möglichkeit einer fortschreitenden Kultivierung von Empathie voraus: Obwohl Empathie als Potential nahezu allen Menschen gegeben ist, kann Empathie durch ihre Kultivierung entwickelt und verfeinert werden. Dies zeigen die wesentlich durch fortgeschrittene Empathieleistungen ermöglichten Professionen von Lehrer*innen, Pfarrer*innen oder Psychotherapeut*innen (Ebert/Münch und Staemmler in diesem Band). Die Kultivierung von Empathie kann andererseits auch zu instrumentell-strategischen und manipulativen Zwecken eingesetzt werden. Dies zeigt sich insbesondere im Bereich des Politischen (Kuck/Roth und Klein in diesem Band). Auf Diskursebene zeigt sich Empathie immer in einem Empathiedispositiv (Liebert in diesem Band), das zugehörigen sozial verfestigten und geteilten Erzählungen (handlungsleitende Narrative) implizit ist und ethische, normativ wirksame Direktive dazu enthält, was ‚gut‘ und ‚schlecht‘ ist, wer ‚gut‘ und wer ‚schlecht‘ ist und mit wem und warum man empathisch zu sein hat und mit wem nicht. Empathie in diskursiv-narrativ manifesten sozialen Dispositiven teilt Entitäten also immer in diejenigen Gegenstände, Lebewesen oder Personen bzw. (sozialen) Gruppen von diesen, mit denen ich empathisch sein darf und soll, und in diejenigen, bei denen ich Empathie blockieren darf oder auch soll („selektive Empathie“, vgl. Liebert und Steen in diesem Band). Wir empathisieren entsprechend immer in einem, in Bezug auf situationale Faktoren, fein abgestimmten Verhältnis von Einfühlung und Blockierung, also immer in einem bestimmten Grad von Immersion, abhängig vom Grad der Affiliation und sozialen Bindung und der zugehörigen kulturell-diskursiven Dispositive, die einen wesentlichen Teil unseres personalen Selbst ausmachen (unseres Habitus im Sinne Bourdieus). In der interkulturellen Kommunikation zeigen sich diese Dispositive deutlich und diese führen in der Regel zu Konflikten (vgl. Rettinger und Rothenhöfer in diesem Band); dies gilt umso mehr, wenn fundamentalistisch-doktrinäre Narrative dominieren. Hier sind entsprechende Herausforderungen zu meistern, die nach differenzierten Empathie- und Kommunikationspotentialen verlangen (Rettinger in diesem Band). Diskursive Kämpfe können in diesem Sinn als Kampf um verschiedene Empathiedispositive verstanden werden. Empathie sollte daher auch an der Schnittstelle von Diskurs und interpersonaler Ebene untersucht werden (Sichtbarwerden von Empathiedispositiven in Verständigungssituationen). Eine unbegrenzte All-Empathie ist nicht der empirische Normalfall: Sie findet sich außerhalb eines pathologischen Kontextes nur in (idealen) religiösen Konzepten wie der christlichen Feindesliebe, der islamischen Barmherzigkeit oder der buddhistischen Metta.

Allgemeine Überlegungen zu einer Linguistik der Empathie  

Sprachtheoretisch kann also ein umfassender Empathiebegriff entwickelt werden, Ansatzpunkt empirischer Forschung ist dabei die kommunikative Manifestation von Empathie (Konerding, Kupetz, Rettig und Steen in diesem Band). Doch das Feld der Beobachtung ist nun deutlich erweitert und umfasst nicht nur Alltagsgespräche (Kupetz in diesem Band), sondern auch multimediale Texte und Kommunikation (Rothenhöfer in diesem Band), die interkulturelle Kommunikation (Rettinger in diesem Band), fiktionale literarische Texte (Wanning/Mattfeldt in diesem Band), Kunstvermittlung (Reszke in diesem Band), die Wissenschaftskommunikation (Bender/Janich in diesem Band), die Rechtskommunikation (Felder et al. in diesem Band) oder die Interspezies-Kommunikation (Rettig und Steen in diesem Band), insbesondere aber auch politische Sprache und Kommunikation (Klein in diesem Band). Kritik muss somit an Empathiebegriffen vorgebracht werden, die Empathie mit einer einzigen Dimension gleichsetzen, etwa nur der Kognition oder nur der Emotion. Hier ist insbesondere an eine entsprechende Erweiterung verfügbarer pragmatischer Sprachtheorien hin zu einer Interaktionstheorie zu denken (Konerding in diesem Band). Auch die Nichtberücksichtigung der Sozialität und Kulturalität von Empathie führt zu einem eingeschränkten Empathiebegriff. So wird nämlich die Selektivität von Empathie übersehen. Dies hat die Konsequenz, dass bestimmten Gruppen und Personen entweder keine Empathie oder ein Verlust von Empathie zugeschrieben wird, wo es sich – entsprechend dem jeweiligen internalisierten Dispositiv – nur um die selektive Empathieausrichtung auf andere Personen/Gruppen handelt. Eine Null-Empathie wäre ebenso problematisch und auf spezifische Fälle beschränkt wie die All-Empathie. Die Ergebnisse, die in diesem Sammelband präsentiert werden, weisen aber auch Desiderata auf: Zum einen muss Empathie zu den Begriffen Verstehen, Sympathie/Antipathie oder Emotionaler Intelligenz relationiert werden. Reflexiva in der deutschen Sprache wie Selbstmitleid etc. eröffnen die Frage, ob es möglich ist, über Selbst-Empathie zu verfügen. Auch ist fraglich, ob Kollektive mit anderen Kollektiven Empathie haben können: Kann eine Partei beispielsweise empathisch gegenüber ihren Wählerinnen und Wählern sein? Zum anderen ist das Verhältnis von Universalität vs. Kulturalität von Empathie noch kaum geklärt. Lexikologisch erscheint Empathie als Hochwertwort. Ihm kommt damit eine besondere Bedeutung als kulturelle Sinnformel/Schlüsselwort zu (Geideck/Liebert 2003). Dies müsste in einer eigenen Diskursanalyse untersucht werden. Hierunter fällt auch, dass mit dem hier vorliegenden Empathiebegriff Empathie als neutrale Ressource verstanden wird, und somit gegenläufig zur alltagssprachlichen Deontik des Hochwertworts ist (‚Empathie ist gut und sollte auch ausgeübt werden‘). Breithaupt (2017) weist mit dem Ausdruck der „dunklen

  Katharina Jacob, Klaus-Peter Konerding, Wolf-Andreas Liebert Seite“ der Empathie darauf hin, dass die alltagssprachliche Semantik der ‚guten Empathie‘ kritisch zu lesen ist, wobei seine Metaphorik des Dunklen erst noch genauer bestimmt werden müsste. Schließich sollten Inferenz-/Interaktionsund Überschreibungsprozesse zwischen diskursivem Narrativ und lebensweltlicher (individueller) Erfahrung, zwischen Fiktionalität und Faktizität sowie zwischen ästhetisch gestalteter Welt und Lebenswelt stärker beachtet werden; man stelle sich beispielsweise das Panthergedicht von Rilke vor, das einem bei einem Zoobesuch am Panthergehege wieder einfällt und dann eventuell eine andere Qualität von Empathie mit dem Tier im Zoo und im Gedicht ermöglicht. Wir haben den Band so gegliedert, dass wir zunächst mit Grundlagen bereitstellenden Beiträgen aus Philosophie (Breyer), Ethnologie (Stodulka) und Psychologie/Psychotherapie (Staemmler) beginnen und anschließend grundlegende Überlegungen zum Bereich Linguistik (Konerding und Liebert) präsentieren. Der Abschnitt ist mit dem Titel „Grundlegende Überlegungen zum Zusammenhang von Empathie, Kommunikation und Sprache“ überschrieben. In einem zweiten Abschnitt mit dem Titel „Empathie in intrakultureller, interkultureller, multimodaler und Interspezies-Kommunikation“ greifen wir die Eigenheiten der (intra- und interkulturellen) Interaktion sowie der multimodalen Kommunikation auf (Kupetz, Rettinger und Rothenhöfer), da sich hier der von uns thematisierte Empathiebegriff in besonderer Weise zeigt. Angeschlossen ist der für die Linguistik innovative Bereich der InterspeziesKommunikation (Steen und Rettig), der in Sonderheit die außerordentliche Relevanz der noch allzu häufig verkannten Dimension der somatischen Empathie für die multimodale Dimension der sprachlichen Kommunikation beim Menschen deutlich werden lässt. In einem dritten Abschnitt mit dem Titel „Empathie und ihre Relevanz in exemplarischen gesellschaftlichen Kommunikationsbereichen“ folgen schließlich Beiträge aus verschiedenen Fachkulturen bzw. aus zugehörigen Kommunikationsbereichen gesellschaftlicher Wissensdomänen: 2 Hier wird in einem ersten Schritt erkundet und illustriert, inwieweit und auf welche Weise in diesen Kommunikationsbereichen die genannten Dimensionen und Momente der Empathie eine mehr oder weniger wesentliche Rolle spielen. Die zugehörigen Beobachtungen und Überlegungen bemühen sich – im Wesentlichen noch tentativ bzw. explorativ – die Relevanz empathiebezogener Untersuchungen und ihrer Dimensionen für jeweilige Felder gesellschaftlicher kommunikativer Praxen zu erkunden und sichtbar zu machen sowie erste Forschungsdesiderata zu formulieren. Behandelt werden hier exemplarisch die Bereiche Recht (Felder et al.),  2 Wie diese im Forschungsnetzwerk „Sprache und Wissen“ kontinuierlich bearbeitet werden.

Allgemeine Überlegungen zu einer Linguistik der Empathie  

Medizin (Schäfer), Wissenschaftskommunikation (Bender/Janich), Politik (Klein), Wirtschaft (Ebert/Münch), Bildung und Schule (Kilian/Marx), Sprachkritik (Kuck/Roth), Literatur (Wanning/Mattfeldt) und Kunst (Reszke). Zur weitergehenden Orientierung sei auf die Abstracts verwiesen, die den jeweiligen Beiträgen unmittelbar vorangestellt sind. Danksagung: Neben den vielen ungenannten Personen, die das Entstehen dieses Bandes ermöglicht haben, möchten wir zumindest einigen ausdrücklich unseren Dank aussprechen: Hier ist zunächst Ekkehard Felder zu nennen, Koordinator des Netzwerkes „Sprache und Wissen“ sowie Herausgeber der gleichnamigen Reihe, für seine fortlaufend wohlwollende Förderung, Unterstützung und umsichtige Begleitung des Entstehens des vorliegenden Bandes. Weiterhin danken wir Hanna Strub, die aufmerksam, geduldig und sorgfältig die Druckvorlage für uns erstellt hat. Nicht zuletzt sei dem anonymen Reviewer gedankt, der wesentlich Einfluss auf die Endkonzeption des Sammelbandes und des einleitenden Beitrages genommen hat.

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Teil 1: Grundlegende Überlegungen zum Zusammenhang von Empathie, Kommunikation und Sprache

Thiemo Breyer

Parameter und Reichweite der Empathie Theoretische Grundlagen und ethische Diskussionen Zusammenfassung: Dieser Beitrag bietet einen Einblick in den Facettenreichtum derjenigen Phänomene, die in der philosophischen und interdisziplinären Forschung unter dem Begriff der Empathie untersucht werden. Hierzu wird eine Gliederung mehrerer Grundformen eingeführt, von der ausgehend die Grenzen der menschlichen Empathiefähigkeit, die sie beeinflussenden Parameter und ihre Reichweite innerhalb der verschiedenen Dimensionen subjektiver und intersubjektiver Erfahrung skizziert werden, um sodann nach den ethischen und moralischen Konsequenzen der Wechselwirkungen zwischen diesen Dimensionen zu fragen. Im Zuge dessen kommen einige klassische Autoren der Philosophiegeschichte zu Wort, die widerstreitende Einschätzungen bezüglich des Wertes affektiv-emotionaler Empathie geben. Mit Rekurs auf das Mitleid als einem traditionell häufig in Ethik und Moralphilosophie thematisierten Phänomen, kann der Stellenwert dieses Empathiemodus beleuchtet werden. Es zeigt sich dabei, dass die Skepsis mancher Philosophen gegenüber dem Mitleid in aktuellen Diskussionen über die ‚dunklen Seiten‘ der Empathie wiederkehrt. So wird beispielsweise erörtert, ob Empathie auf einen intrinsischen Altruismus des Menschen als animal sociale hinweist oder ob Empathie ein egoistisches Mittel ist, um die eigenen Zwecke gegenüber anderen durchsetzen zu können. Im Ausblick wird eine moderat optimistische Antwort auf diese Frage gegeben. Schlüsselwörter: Affektivität, Empathieblockade, Ethik, Kognition, Mitleid, Leibkörper

 Einleitung Als Einstieg kann eine lebensweltliche Vignette helfen, die Komplexität empathischer Erlebnisse sichtbar zu machen: Stellen Sie sich vor, Sie gehen nach einem aufreibenden Arbeitstag, an dem Sie einen Streit mit ihrem Vorgesetzten hatten und entsprechend schlecht gelaunt sind, zur Geburtstagsparty eines  Thiemo Breyer, Philosophisches Seminar, Universität zu Köln, Albertus-Magnus-Platz, 50923 Köln, Tel.: 0221/470-1235, Fax: -1964, thiemo.breyer[at]uni-koeln.de https://doi.org/10.1515/9783110679618-002

  Thiemo Breyer guten Freundes. Sie betreten den festlich geschmückten Raum und bemerken sofort die Heiterkeit, die hier herrscht, wodurch sich Ihre eigene Stimmung bereits ein wenig aufhellt. Alsbald wird „Happy Birthday“ angestimmt, was dem Jubilar sichtlich gefällt: Er strahlt über das ganze Gesicht. Wie Sie Ihren Freund an seinem Wiegenfest in guter Gesellschaft so sehen, freuen Sie sich mit ihm und für ihn. Während weiter gesungen wird, schweift Ihr Blick im Raum umher und Sie bemerken, dass einer der Gäste nicht singt. Sie fragen sich, warum dies wohl der Fall ist und erwägen eine Reihe von Gründen: Er könnte Halsweh haben; er könnte frustriert sein, weil er glaubt, er sei ein schlechter Sänger; es wäre aber auch möglich, dass er das Geburtstagslied schlichtweg langweilig findet; oder er will mit seinem Schweigen sogar gegen die ständige Wiedergabe derartigen Liedguts rebellieren. Während Sie gedanklich diese Optionen abwägen, wandert Ihre Aufmerksamkeit weiter und Sie bemerken einen Gast, der offenbar beim Willkommenssekt reichlich zugegriffen hat, angetrunken ist und in schrägen Tönen lauthals mitgrölt. Eine Freundin, die direkt neben Ihnen steht, ist recht amüsiert und kichert angesichts dieser Einlage. Sie bemerken, wie unwillkürlich auch in Ihnen ein Kichern aufsteigt, Sie von Ihrer Nachbarin geradezu damit angesteckt werden. Doch es mischt sich auch ein widerstrebendes Gefühl in das Sie schüttelnde Kichern hinein: Sie schämen sich für den Betrunkenen über sein albernes Verhalten und reflektieren darauf, ob das Ganze überhaupt ein geeigneter Anlass ist, um sich zu belustigen. Plötzlich stimmt der zuvor stumme Gast mit in das Geburtstagslied ein, was bei Ihnen die Einsicht hervorruft, dass er nun wahrscheinlich keine Angst mehr hat, sich zu blamieren. Es bewahrheitet sich Ihrer Einschätzung nach also einer der erwogenen Gründe für das Schweigen, nämlich, dass der Gast von sich selbst denkt, er sei ein schlechter Sänger, es ihm jetzt aber einerlei ist, ein wenig daneben zu liegen, da der Betrunkene sich bereits blamiert hat. Der Frau des Jubilars ist die Situation sichtlich peinlich, was Sie bemerken und woraufhin Sie Mitleid mit ihr empfinden. Sie fragen sich, wie es ihr in diesem Moment wohl ergeht, stellen sich dies bildhaft vor und beschließen, nach dem Lied zu ihr hinüber zu gehen und sich zu erkundigen, sie abzulenken oder gegebenenfalls zu trösten. Noch bevor der letzte Ton erklungen ist, haben Sie eine ganze Reihe leiblicher, gefühlsmäßiger, gedanklicher und handlungsleitender Erlebnisse gemacht, die die Situation der Geburtstagsparty gliedern. Erstens erlebten Sie eine affektive Resonanz, bei der sich die Stimmung, die sich über den Tag hinweg in Ihnen aufgebaut hatte, mit der Atmosphäre, die im Raum herrschte, verband. Zweitens spielte sich eine Episode unmittelbaren Ausdrucksverstehens ab: Die Freude, die dem Geburtstagskind im Gesicht stand, wurde von Ihnen direkt wahrgenommen, was in einer Mitfreude resultierte. Drittens spürten Sie die

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leibliche Synchronisierung im gemeinsamen Singen, die durch das Aufmerken auf ein offenkundiges Stummbleiben einer Person und eine hörbare Dissonanz, versursacht durch eine andere Person, gestört wurde. Viertens setzte ein Nachdenken über die Gründe des schweigenden Gastes ein, also eine Mentalisierung, wobei sich einer der hier erwogenen Gründe später durch eine Kontextinformation plausibilisieren sollte. Fünftens vollzog sich eine Gefühlsansteckung mit entsprechender körperlicher Reaktion im unwillkürlichen Mitkichern mit Ihrer Nachbarin. Sechstens empfanden Sie eine stellvertretende Emotion, nämlich die Fremdscham über den Trunkenbold und sein unziemliches Gebaren. Siebtens versetzten Sie sich imaginär in die Gastgeberin hinein, um sich vorzustellen, wie es ihr wohl ergeht – eine phantasiemäßige Simulation, die bei Ihnen Mitleid auslöste und Sie motivierte zu helfen.

 Diversität von Empathiekonzepten und Systematisierung von Empathiedimensionen Vergegenwärtigt man sich die interdisziplinäre Literatur der vergangenen Jahrzehnte zum Thema Empathie, so findet man zahlreiche Konzeptualisierungen und Definitionsvorschläge, die mal das eine, mal das andere Erlebnis aus der Liste der eben genannten herausgreifen und besonders betonen. Dabei sehen sich die Autorinnen und Autoren häufig unter dem Druck, eine möglichst präzise und enge Definition anzubieten, wodurch benachbarte Prozesse aus dem Blick geraten. Forschungspolitisch mag es attraktiv erscheinen, auf diese Weise vorzugehen und einen kleinen Bereich der Erfahrung mit einem bestimmten Begriff zu belegen, sodass man diesen für sich reklamieren kann. Gleichzeitig impliziert eine solche Strategie aber auch, dass man in Reduktionismen hineingeraten kann und Dissense ausgetragen werden, die nicht zielführend sind, wenn es um eine deskriptiv reichhaltige, epistemologisch adäquate und möglichst unvoreingenommene Bestimmung von Phänomenen subjektiven und intersubjektiven Erlebens wie der Empathie geht. Wie das Beispiel der Geburtstagsparty verdeutlicht, werden unsere empathischen Fähigkeiten in alltäglichen Situationen ständig und auf vielfältige Weise in Anspruch genommen. In die Artikulation von Empathie gehen dabei diverse Faktoren mit spezifischen funktionalen Rollen ein. Empathie ist ein zeitlich ausgedehnter, dynamischer, episodischer Prozess, in den Erlebnisse aus unterschiedlichen Bewusstseinssphären (Wahrnehmen, Sich-Bewegen, Fühlen, Wollen, Denken) integriert werden. Sie lässt sich nicht als punktueller

  Thiemo Breyer mentaler Zustand isolieren (auch wenn sie aufgrund der methodologischen Voreinstellungen und der Operationalisierungen in der experimentellen Psychologie meist so untersucht und dargestellt wird). Vielmehr muss berücksichtigt werden, dass sich Empathie im lebensweltlichen Sinne über unterschiedliche Referenzobjekte und Akte der intentionalen Bezugnahme erstreckt und mit habituell geprägten Schwellenwerten der Rezeptivität und Aufmerksamkeit versehen ist. Will man die zuvor genannten Aspekte der übergreifenden empathischen Erfahrung systematisch ordnen, so kann man drei Dimensionen der Empathie unterscheiden: eine leiblich-körperliche, eine affektiv-emotionale und eine kognitive (Breyer 2015). 1. In der leiblich-körperlichen Dimension lassen sich die Modi der Resonanz und der Expression als Grundformen des empathischen Geschehens aufweisen. a) Der Resonanzmodus besteht in der Fähigkeit zur Synchronisierung mit den Bewegungen anderer (Ramseyer/Tschacher 2011), wie beispielsweise bei gemeinsam ausgeführten Praktiken oder bei der Gefühlsansteckung (Hatfield/Cacioppo/Rapson 1994), wenn man unwillkürlich von der Gemütsbewegung eines anderen affiziert wird und motorische Programme aktiviert werden, die sich nur bedingt bewusst steuern lassen. Zur Synchronisierung gehört eine mimetische Kapazität, durch die wahrgenommene Ausdrücke des anderen in Eigenbewegungen umgesetzt werden (Meltzoff/Moore 1989). Diese Regungen haben ihrerseits eine Ausdrucksseite, die von anderen ebenfalls wahrgenommen wird. b) Der expressive Modus der Empathie besteht im unmittelbaren Ausdrucksverstehen (Zahavi 2011), d.h. im Gewahrsein des Zustandes, in dem sich ein anderer gerade befindet, anhand der Wahrnehmung seiner leiblichkörperlichen Ausdrücke (Mienenspiel und Gestik, aber auch Haltung, Gang und Ausstrahlung). 2. Zur affektiv-emotionalen Dimension der Empathie gehören eine ganze Reihe von Erlebnissen, die sich systematisch nach ihren jeweiligen Bezugspunkten und den Modi ihrer Bezugnahme auf den anderen gliedern lassen. Häufig wird unter dem Begriff der Empathie die a) partizipierende Bezugnahme auf den anderen gefasst, also beispielsweise die Mitfreude oder das Mitleid (Schlossberger 2013). Wenn wir uns mit jemandem freuen, so erleben wir Freude dort, wo der andere ebenfalls Freude empfindet, wobei seine Freude der Auslöser unserer Freude ist und wir uns dessen auch gewahr sind. Ebenso verhält es sich mit dem Mitleid: Wir nehmen ein Leiden am anderen war und empfinden Mitleid mit ihm und für ihn. Gegenüber diesem partizipierenden Modus gibt es aber auch – und das mag in dieser Auflistung vielleicht merkwürdig erscheinen – den b) invertierenden Modus, bei dem wir mit einem Gefühl auf den anderen reagieren, das seinem eigenen Gefühl nicht entspricht bzw. diesem

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antagonistisch gegenübersteht. Beispiele hierfür sind Schadenfreude oder Neid (Smith u. a. 1996). Bei der Schadenfreude haben wir eine positive Emotion im Angesicht eines negativen emotionalen Zustands des anderen: Wir freuen uns, wenn er leidet und darüber, dass er leidet. Beim Neid empfinden wir eine negative Emotion, wo der andere eine positive empfindet: Wir gönnen ihm sein Glück nicht, es macht uns unglücklich. Warum sollte man nun diesen invertierenden Modus der emotionalen Bezugnahme auf den anderen als Möglichkeit von Empathie begreifen? Es scheint zumindest im Alltagsverständnis der Empathie bzw. der häufig mit ihr gleichgesetzten Sympathie oder dem Mitgefühl zuwiderzulaufen, Phänomene wie Schadenfreude oder Neid mit Empathie in Verbindung zu bringen. Doch strukturell zeigt sich, dass die partizipierenden und die invertierenden Formen zwei Seiten einer Medaille sind. In beiden Fällen ist vorausgesetzt, was Empathie grundlegend ausmacht, nämlich einen bewusstseinsmäßigen Zugang zu Bewusstseinsmäßigem, das anderen zugehört (der traditionelle Begriff des Fremdpsychischen ist hier durchaus treffend), zu haben, unabhängig davon, in welchen Gefühlen unsererseits – ob positiv oder negativ – dieser Zugang sich ausprägt. Als dritten Modus der affektivemotionalen Dimension der Empathie lässt sich schließlich der c) stellvertretende identifizieren, wie wir ihn in der Fremdscham kennengelernt haben (Krach u. a. 2011). Bei der Fremdscham empfinden wir Scham dort, wo der andere keine Scham empfindet (beispielsweise weil er betrunken ist und sich nicht darum schert, wie andere ihn wahrnehmen). Wir nehmen dem anderen das Gefühl, das in seiner Situation unserer Ansicht nach angemessen wäre, gleichsam ab, wir übernehmen es. Anders als beim partizipierenden Modus, wo die Ursache unserer Freude in der Freude des anderen liegt, ist es beim stellvertretenden Modus die Abwesenheit eines bestimmten Gefühls beim anderen, durch die eigentümlicherweise ein solches in uns evoziert wird. Ein anderes Beispiel für eine stellvertretende Emotion wäre die Situation, in der Wut in uns aufsteigt, wenn wir das Leiden eines anderen betrachten, dieser selbst aber augenscheinlich nicht wütend ist. Das mag aufgrund seiner stoischen Gelassenheit im Angesicht eines Übels oder aber aufgrund einer Traumatisierung der Fall sein, die sprach- und ausdruckslos macht. 3. Die kognitive Dimension der Empathie umfasst a) inferentielle, das heißt auf Schlussfolgerungen basierende Prozesse der mentalen Verarbeitung sozialer bzw. fremdpsychischer Information ebenso wie b) imaginative Prozesse des Sich-Hineinversetzens in den anderen. Im ersten Fall überlegen wir eher abstrakt, wie es einer anderen Person in einer gegebenen Situation wohl ergehen mag, was sie fühlt, sich vorstellt oder auch denkt. Diese Form der Bezugnahme auf das psychische Leben des anderen geschieht auf der Basis von allgemeinen

  Thiemo Breyer Regeln, die auf aktuell erschließbare Informationen bezogen werden. Aus der eigenen Lebenserfahrung und generalisiertem Wissen werden in Anwendung auf wahrgenommene Situationen Vorhersagen getroffen, was hinsichtlich der Erlebnisweisen und -inhalte des anderen am wahrscheinlichsten ist. Hierbei wird häufig von den Kontingenzen der gegenwärtigen Lage abstrahiert und es werden allgemeine Prinzipien aus einer drittpersonalen Perspektive in Anschlag gebracht. Dieser gedankliche Umgang mit dem Fremdpsychischen wird häufig als Theoretisierung bestimmt (Gopnik/Wellman 1994). Doch ist Wissen, das autobiographisch erworben und in gedanklichen Routinen habitualisiert ist, wirklich ein theorieförmiges Wissen? Ist es für eine Theorie hinreichend, dass Verallgemeinerungen und Vorhersagen gemacht werden? Gewiss ist ein wissenschaftlicher Theoriebegriff komplexer und anspruchsvoller. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass Menschen ständig Kausalitäten zwischen Ereignissen postulieren und ihre Erfahrung als rechtmäßige Grundlage solcher Aussagen annehmen. Alltagspsychologisches Wissen über beobachtete oder präsupponierte Mechanismen menschlichen Verhaltens können daher als quasitheoretisch bezeichnet werden, da sie mit Mustern operieren, die auch für genuine (wissenschaftliche) Theorien typisch sind, auch wenn hier angesetzte Evidenzkriterien nicht erfüllt sind. Die imaginative Form des kognitiven Fremdverstehens besteht gegenüber der Anwendung solcher Quasi-Theorien in einer mentalen Transposition an die Stelle des anderen, um von dort aus eine Simulation zu vollziehen (Goldman 2006), die anschaulich macht, wie es einem selbst in der Position des anderen gehen würde (egozentrischer Modus) oder wie es dem anderen als anderen in seiner Position ergehen mag (allozentrischer Modus). So oder so ist eine Anstrengung der Vorstellungskraft vonnöten, die aus der eigenen perspektivischen Anschauung der Welt herausführt und eine andere Erlebnisweise zu erschließen versucht. (Auf das erkenntnistheoretische Problem der Adäquatheit bzw. Fehleranfälligkeit eines solchen Perspektivenwechsels und der aus ihm resultierenden Attributionen kann hier nicht weiter eingegangen werden.)

 Grenzen der Empathie Auf Grundlage dieser dreigliedrigen Differenzierung ist es möglich, Empathie als multidimensionales Phänomen zu begreifen und die Wechselwirkungen der jeweiligen Teilprozesse zu erfassen, was bislang in der Empathieforschung ausbleibt, da durch spezialisierte Erkenntnisinteressen einzelne Aspekt fokus-

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siert werden. Legt man das skizzierte Schema zugrunde, lässt sich ebenso nach den Grenzen unserer Empathiefähigkeit fragen (Breyer 2013). 1. Auf der leiblich-körperlichen Ebene spielt die Resonanzfähigkeit sowie die Vertrautheit mit dem Sinn eines wahrgenommenen Ausdrucks eine große Rolle. Je nachdem, in welchem Maß wir in der Lage sind, mit dem anderen in einer sozialen Umgebung mitzuschwingen, das heißt wie sehr unser Leib mit den Regungen des anderen einschwingt und sich ein gemeinsamer Rhythmus in der Interaktion entwickelt, ergeben sich für die auf der zwischenleiblichen Synchronisierung basierenden Empathieleistung unterschiedliche Adressierungsmöglichkeiten. Da der leibliche Ausdruck seinerseits ein komplexes Phänomen ist und nicht nur unmittelbare Emotionsäußerungen, sondern auch kulturell konventionalisierte Artikulationen wahrgenommen werden, gehört zum Ausdrucksverstehen über das unmittelbare Gewahrsein von Basisemotionen (Ekman 1972) hinaus auch das Verstehen von Gesten, die in ein Netz von Symbolen eingeflochten sind und deren spezifische Bedeutungen sozial erlernt werden müssen (Breyer 2016). 2. Was die affektiv-emotionalen Formen der Empathie betrifft, so sind in der Interaktion der eigene Gemütszustand (beispielsweise Niedergeschlagenheit oder Heiterkeit), die ethisch-moralische Haltung zu bestimmten Verhaltensweisen, aber auch die persönliche Verbundenheit mit dem anderen relevant für die Art und Weise, wie Empathie erlebt wird. Befinden wir uns in einer Phase tiefer Trauer, ist unsere Fähigkeit, uns auf andere und gerade ihre positiven Erlebnisse mit freudigen Gefühlen einzustimmen und diese mitzuerleben, vermindert. Ebenso erschließt sich uns im Zustand akuter Euphorie über ein uns widerfahrenes Glück die Traurigkeit eines anderen weniger, als wenn wir mit ihm eine deprimierte Grundstimmung teilen. Verteidigen wir in ethisch-moralischer Hinsicht einen gewisse Vorstellung, beispielsweise dass das Töten von Tieren zum Zwecke des Verzehrs verwerflich ist, weil das Leben an sich geschützt werden soll, so werden wir weniger in der Lage sein, die Freude eines anderen empathisch mitzufühlen, der gerade genüsslich eine Fleischspeise verzehrt. Je mehr wir mit dem anderen durch gemeinsame Erfahrungen, etwa eine geteilte Jugend oder eine lange Freundschaft, persönlich tief verbunden sind, desto detaillierter ist unser Einfühlungsvermögen, wenn wir seine Handlungen oder Gesichtsausdrücke interpretieren. Zuweilen werden wir ihm eine Verhaltensweise durchgehen lassen, die wir bei unbekannten Dritten verurteilen würden. Andererseits werden wir durch unser gezieltes empathisches Wissen dem Freund persönliche Kritik zuweilen auch nicht vorenthalten, bei weitläufig Bekannten hingegen schon.

  Thiemo Breyer 3. In der kognitiven Sphäre der Empathie sind es vornehmlich das Wissen aus eigener Lebenserfahrung, die Vorstellungskraft und das allgemeine Denkvermögen, die parametrisierend wirken. Wenn man eine bestimmte Art von Erfahrung selbst noch nicht gemacht hat, dann ist es prinzipiell auch schwieriger, sich in jemanden hineinzuversetzen, der eine solche Erfahrung macht, und mit ihm mitzufühlen. Das Repertoire autobiographischer Erfahrungsmöglichkeiten ist natürlich von der historischen, sozialen und kulturellen Lage abhängig, in der man sich kontingenterweise befindet und durch die spezifische Verstehensvollzüge ermöglicht und vorgeprägt werden. Ist man beispielsweise von der Erfahrung eines Krieges verschont geblieben, so ist es nicht leicht, sich die Qualität und Intensität von traumatischen Erinnerungen einer Person vorzustellen bzw. diese nachzuempfinden, die den Schrecken des Krieges mit eigenen Augen gesehen und am eigenen Leib erlebt hat. Nichtsdestoweniger kann man natürlich ein hohes Maß an Mitleid mit einem Veteranen empfinden, aber Mitleid ist, wie die zuvor eingeführte Systematik zeigt, nur ein Aspekt dessen, was übergreifend mit Empathie bezeichnet werden kann. Was die Vorstellungskraft betrifft, so ist diese ebenfalls interindividuell verschieden ausgeprägt. Auch die Imagination, die erlaubt, sich mental an die Stelle des anderen zu versetzen, ist abhängig von Bestandteilen gemachter Erfahrung, die neu zusammengesetzt und verglichen werden. Das Imaginierte ist keine creatio ex nihilo, sondern refiguriert im Modus des Als-ob bereits gemachte Erfahrungen. Schließlich sind das allgemeine Denkvermögen und insbesondere die Fähigkeit, situationsadäquate Inferenzen zu ziehen, prägend für die Empathie. Ein intuitives Beherrschen und Anwenden bestimmter Schlussregeln, der Einbezug von statistischen Größen oder analogen Fällen und vieles mehr kann ein Sich-Hineindenken in den anderen befördern und detailreicher machen. Gerade wenn es um die Heranziehung relevanter Vergleichsgrößen und -beispiele geht, ist die Rolle des Gedächtnisses für die Empathie zusätzlich zu beachten. Häufig rufen wir uns nämlich frühere Erfahrungen ins Bewusstsein, die als Vorlagen oder Skripts dienen, um einschätzen zu können, was in einem anderen vor sich geht. Das ist die Funktion des individuellen Gedächtnisses als Wissensbasis für Empathie. Darüber hinaus sind – was im Folgenden nicht näher betrachtet werden kann – die Funktionen des narrativen, sozialen, kulturellen und historischen Gedächtnisses zu beachten, die eine Vielzahl von Identifizierungsmöglichkeiten anbieten und es ermöglichen, einen kollektiven Erfahrungsschatz als Vergleichsfolie einzusetzen, auch und gerade dann, wenn man entsprechende Erfahrungen (noch) nicht selbst gemacht hat.

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 Konsequenzen für die Ethik? Worin besteht nun die Relevanz der Empathie, wie sie soeben theoretisch beschrieben und gegliedert wurde, für eine praktische Fragestellung? Meines Erachtens wird es insbesondere dort ethisch bedeutsam, wo es zu Wechselwirkungen der verschiedenen Dimensionen von Empathie kommt und wo die Frage nach dem Umgang mit der Empathie als menschlicher Fähigkeit zur Freiheit im intersubjektiven Raum virulent wird. Mit empathischen Wechselwirkungen ist gemeint, dass sich die drei Dimensionen der Leiblichkeit, Affektivität und Kognition gegenseitig beeinflussen und informieren. So können Wissens- oder Glaubensinhalte (Elemente der kognitiven Ebene), die Mitleidsfähigkeit (Modus der affektiv-emotionalen Empathie) determinieren (Maibom 2014). Angenommen man empfindet Mitleid mit einem Freund, der von seinem finanziellen Bankrott berichtet, und hört dann über Umwege, dass dieser Freund vor kurzem einen grandiosen Lottogewinn eingefahren hat, so wird diese Zusatzinformation das Mitleid drastisch reduzieren. Sofern man darüber hinaus vermutet, der Freund habe den Lottogewinn absichtlich verschwiegen, kann das zuvor empfundene Mitleid geradezu in Entrüstung oder Zorn umkippen. Viele Beispiele lassen sich auch aus dem Bereich des Fanatismus finden, wo bestimmte Überzeugungen mit sozialen Attributionen einhergehen, die Empathie gegenüber Mitgliedern bestimmter Kollektive von vornherein ausschließen. Geht man aufgrund einer religiösen, politischen oder ideologischen Vorstellung von Ungläubigen, Klassenfeinden, Unmenschen etc. aus, die als Gegenbilder entworfen werden, dann korreliert die gesteigerte Empathie innerhalb der In-Group mit einer Abschwächung oder Enthaltung von Empathie gegenüber dieser realen oder eingebildeten Out-Group (Cikara/Bruneau/Saxe 2011). Des Weiteren kann mimische und gestische Synchronie (leiblichkörperliche Ebene) das Mitgefühl (affektiv-emotionale Ebene), aber auch die Kommunikationsbereitschaft (kognitive Ebene) beeinflussen. Wie psychologische Studien zeigen, kann die objektiv messbare Synchronie zwischen den Körperbewegungen von Gesprächspartnern eine prädiktive Funktion für die subjektiv empfundene Qualität der Interaktion haben (Ramseyer/Tschacher 2011): Je mehr Synchronie, desto positiver wird die Atmosphäre und der Dialog retrospektiv beurteilt. Zwischenleibliche Synchronisierung trägt zur Öffnung gegenüber dem anderen bei und begünstigt das Sich-Hineinversetzen in ihn, da sie als basale Form mimetischer Kompetenz betrachtet werden kann, die auch in höherstufigeren kognitiven Akten aktiviert wird.

  Thiemo Breyer Gewiss gibt es noch zahlreiche andere Formen der Wechselwirkung, die man anhand der dreigliedrigen Empathiekonzeption durchspielen könnte, so z. B. dass extreme Gefühle die Urteilsfähigkeit, aber auch die leibliche Resonanz beeinträchtigen. Eine systematische Durchdringung und Exemplifizierung muss jedoch einer breiter angelegten Analyse vorbehalten bleiben. Für den Zweck unserer Fragestellung ist es wichtig festzuhalten, dass jede der beschriebenen Dimensionen der Empathie Adressierungsmöglichkeiten für die jeweils anderen Dimensionen bieten und damit aber auch Angriffsflächen für spezifische Manipulationen öffnen. Wie sollen wir mit diesen Verstrickungen umgehen? Wie können wir dort Empathie wachhalten, wo stark ausgeprägte Voreingenommenheiten und Grundüberzeugungen herrschen, die feindliche Gefühle wie Ressentiment (Scheler 2004), Ekel oder Hass (Kolnai 2007) hervorbringen? Die moralphilosophisch seit jeher kontrovers diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Gefühl und Vernunft, die in den vergangenen Jahren wieder vermehrt in den Fokus philosophischer und politiktheoretischer Debatten gerückt ist (Slaby 2017), lässt sich auch mit Blick auf die Empathie stellen. Wie bereits deutlich geworden ist, lässt sich Empathie weder auf affektive, noch auf rationale Prozesse reduzieren, sondern ist im lebensweltlichen Zusammenhang ein komplexes Gefüge unterschiedlicher Erfahrungsdimensionen. In moralphilosophischer Hinsicht ist nun die affektiv-emotionale Dimension der Empathie, insbesondere das Mitleid, häufig Gegenstand intensiver Auseinandersetzung gewesen (Berlant 2014), wobei die Bewertungen auf drastische Weise divergieren. So wurde diese Form von Empathie als moralisches Gefühl angesehen, das es zu kultivieren gilt, oder als altruistischer Trieb des Menschen, aber auch als verkappter Egoismus oder als lähmendes Gefühl, das überwunden werden sollte, und schließlich als neutrale Ressource, die zum Guten wie zum Bösen eingesetzt werden kann. Um das Mitleid im Spektrum gefühlsmäßiger Formen von Empathie genauer verorten zu können, bietet sich ein Blick auf die phänomenologische Einteilung an, die Max Scheler in seinem wegweisenden Buch Wesen und Formen der Sympathie (1923) erarbeitet hat. Dort unterscheidet er Gefühlsansteckung, Nachfühlen, Mitfühlen und die ‚geistigen‘ Gefühle von Liebe und Hass (die im Folgenden nicht eigens besprochen werden können). Wie bereits angedeutet, vollzieht sich die Gefühlsansteckung als unwillkürliche Affektion, die den Funken des Gefühls, das der andere erlebt, überspringen lässt, so dass der eigene Körper auf eine spezifische Weise mobilisiert wird und man ein analoges Gefühl ausbildet. Prinzipiell kann diese Ansteckung vom dyadischen Modus (wie im Beispiel der Geburtstagsparty zwischen zwei nebeneinander stehenden Personen) über Gruppen unterschiedlicher Größe bis hin zu massenhaften Konstella-

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tionen reichen: Ein Lachanfall beispielsweise kann sich in freundschaftlicher Runde über eine Handvoll Personen ausdehnen, die sich wohlgesonnen sind und eine entspannte und resonanzfreundliche Atmosphäre entstehen lassen; eine Panik ebenso wie eine Euphorie kann sich aber auch in anonymen Menschenansammlungen aus Hunderten oder Tausenden von Individuen ausbreiten, wie etwa bei einer Demonstration oder im Fußballstadion. Während bei der Gefühlsansteckung der andere zwar Auslöser, aber nicht notwendig intentionaler Bezugspunkt der eigenen Gemütsregung ist, richtet sich das Nachfühlen direkt auf den anderen, und zwar so, dass man dessen Gefühlszustand dem Typ nach fühlend versteht, ohne aber die konkrete Ausprägung desselben in individueller Hinsicht als analoges Gefühl miterleben zu müssen. Das Mitfühlen geht über solches Nachfühlen schließlich in affektiver Hinsicht hinaus, da man hier das Gefühl des anderen teilt.

 Für und wider das Mitleid Eine erste positive Einschätzung der Empathie als moralisches Gefühl kann mit Blick auf die Philosophiegeschichte auf der Grundlage von Immanuel Kants Tugendlehre gegeben werden. In einer bekannten Passage schreibt er über dasjenige, was in der phänomenologischen Systematik das Mitfühlen wäre, Folgendes: Mitfreude und Mitleid (sympathia moralis) sind zwar sinnliche Gefühle einer […] Lust oder Unlust an dem Zustande des Vergnügens sowohl als Schmerzens anderer, wozu schon die Natur in den Menschen die Empfänglichkeit gelegt hat. Aber diese als Mittel zur Beförderung des tätigen und vernünftigen Wohlwollens zu gebrauchen, ist noch eine besondere […] Pflicht, unter dem Namen der Menschlichkeit (humanitas). (Kant 1907, Tugendlehre §34 – H. i. O.)

Darum gilt es, „die mitleidigen […] Gefühle in uns zu kultivieren, und sie, als so viele Mittel zur Teilnehmung aus moralischen Grundsätzen und dem ihnen gemäßen Gefühl zu benutzen.“ (Kant 1907, Tugendlehre §34) Mitleid braucht also in Kants Sicht die Anleitung durch das moralische Gesetz, um sinnvoll zum Wohle anderer eingesetzt werden zu können. Gleichzeitig habe aber die Natur das Mitgefühl als Antrieb in den Menschen gelegt, ohne den sich die rein vernunftmäßige Pflichtvorstellung nicht direkt in ein Hilfeverhalten umsetzen lasse. Daher sei die Kultivierung des Mitgefühls eine Pflicht, da sie uns zum Übergang vom bloßen Gefühl zum moralischen Handeln disponiere.

  Thiemo Breyer Eine über Kant im Anspruch hinausgehende Konzeption affektiv-emotionaler Empathie als Quelle der Moral findet sich bei Arthur Schopenhauer, der behauptet, „das alltägliche Phänomen des Mitleids, d. h. [die] ganz unmittelbare[…] Theilnahme zunächst am Leiden eines Andern und dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens, als worin zuletzt alle Befriedigung und alles Wohlseyn und Glück besteht“, sei „ganz allein […] die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Werth.“ (Schopenhauer 1985, §16 – H. i. O.) Hatte Kant eine anthropologisch fundierte Empfänglichkeit (also eine Rezeptivität) für das Leiden anderer behauptet, geht Schopenhauer einen Schritt weiter und postuliert einen Automatismus, der darin besteht, dass wann immer man Mitleid empfindet, man dem anderen auch helfen will und versucht, dies zu tun (also eine Aktivität). Was Schopenhauer hier formuliert, wird in evolutionsanthropologischer Perspektive als Empathie-Altruismus-Hypothese bezeichnet (Dovidio 1991). Diese besagt, dass Empathie stets einen Handlungsimpuls impliziert, anderen uneigennützig zu helfen. Dass dieser Impuls beim Menschen tatsächlich tief verwurzelt sein könnte, legen Experimente zum spontanen Hilfeverhalten bei Kleinkindern nahe (Warneken/Tomasello 2006). Kinder unterstützen andere Personen ohne ersichtlichen Eigenvorteil regelmäßig dabei, deren Ziele zu erreichen, auch wenn es sich um Fremde handelt. Solche scheinbar altruistischen Verhaltensweisen sind über biologische Spezies hinweg selten, weshalb einige Theoretiker vorschlagen, dass sie genuin menschlich sind. Die Studien am MaxPlanck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig zeigen, dass Menschenkinder im Alter von bereits 18 Monaten anderen bereitwillig und ohne vorhergehende Instruktion helfen, beispielsweise beim Stapeln von Gegenständen, beim Einsortieren von Ordnern in ein Regal oder beim Aufhängen von Kleidungsstücken auf eine Wäscheleine. Der Erwachsene, der im Experiment jeweils eine solche Handlung initiiert, stellt sich absichtlich umständlich an und scheitert in seinem Versuch. Ein gezieltes Helfen erfordert nun, wie Warnecken und Tomasello betonen, auf der Seite des Kindes sowohl ein Verständnis für die Ziele des Erwachsenen als auch eine altruistische Motivation. Allerdings ist die Interpretation des so getesteten Verhaltens mit Blick auf die Frage, ob hier wirklich nur um des anderen Willen gehandelt wird, ob also Altruismus in Reinform vorliegt, schwierig, da es sich um Kinder handelt, die verbal noch nicht über ihre Intentionen Auskunft geben. Eine konkurrierende wahrnehmungstheoretische Deutung des Hilfeverhaltens wäre, dass ein Kind in einer Situation, in der einem Erwachsenen etwas nicht gelingt, eine gute Gestalt des Problems erzielen möchte und die Figur, die ihm als erwarteter Zielzustand

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vorschwebt (wie z. B. ein Turm aus aufeinandergestapelten Holzplatten), vervollständigt. Vielleicht will das Kind aber auch nur soziale Anerkennung und handelt insofern egoistisch. Oder es hilft, um den eigenen empathischen Stress (Engert u. a. 2014) im Betrachten des Scheiterns des anderen zu mindern. Dann wäre die Motivation ebenfalls eine egoistische. Wie auch immer man die Lage bewerten möchte, es steht fest, dass Kinder spontan, ohne Aufforderung und ohne sichtlichen Nutzen anderen helfen und dabei auch eine gewisse Freude an den Tag legen. Eine häufig hervorgehobene Funktion von Empathie liegt vor diesem Hintergrund in der Ermöglichung von Kooperation (Rumble/Lange/Parks 2010). Das Verfolgen gemeinsamer Ziele und die Ausführung geteilter Handlungspläne kann die dyadische Beziehung nicht nur zwischen Kindern und erwachsenen Bezugspersonen, sondern auch die soziale Kohäsion in Kleingruppen stärken. Empathie kann innerhalb solcher Gruppen zum eigenen Schutz vor potentiell destruktiven Kräften jedoch auch vorgetäuscht werden. Je mehr ich über einen anderen weiß, der mir überlegen ist und mir schaden kann, und je mehr ich sein Verhalten einschätzen und voraussehen kann, desto besser bin ich in der Lage, mich vor ihm zu schützen (bspw. durch vordergründig devotes Verhalten, SichVerbünden etc.). Schon hieran zeigt sich – was weiter unten noch genauer thematisiert wird –, dass Empathie zu antisozialen Zwecken eingesetzt werden kann. Bei vielen Autoren herrscht jedoch ein einseitig positives Bild der Empathie, sodass die präsupponierte altruistische Veranlagung der menschlichen Spezies am Empathie-Konzept festgemacht wird, wie bei Frans de Waal (2009) oder Jeremy Rifkin (2010). De Waal sieht in der Empathie den sozialen Kitt, durch den allein unsere Vorfahren seit der Steinzeit überleben konnten, für Rifkin ist die Empathie sogar der Schlüssel zu einer globalen Solidarität in der vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts. Angesichts dieser Theorieangebote und des zuweilen überbordenden Optimismus bezüglich der positiven sozialen und politischen Auswirkungen von Empathie lohnt es sich, die alte Frage nach der Reichweite unseres Mitgefühls erneut zu stellen. Interessante Motive und Argumente zu dieser Diskussion finden sich schon bei Jean-Jacques Rousseau, der sich der Problematik in seiner Politischen Ökonomie mit kulturgeographischer Pointe nähert: Allem Anschein nach verdampft das Gefühl der Menschlichkeit und wird schwächer, indem es sich über die Erde ausdehnt, und es ist uns nicht gegeben, von den Unglücksfällen bei den Tataren oder in Japan ebenso berührt zu werden wie von dem, was einem europäischen Volk zustößt. (Rousseau 1755, zit. in Ritter 2004, 44)

  Thiemo Breyer Hierzu passend belegen sozialpsychologische Studien zu Voreingenommenheiten wie dem racial bias (Avenanti/Sirigu/Aglioti 2010), dass in bestimmten experimentellen Anordnungen die operationalisierbare Empathie gegenüber Mitgliedern einer anderen ethnischen Zugehörigkeit schwächer ausgeprägt ist als gegenüber Mitgliedern der eigenen. Doch ebenso wie es ein ‚überfernes‘ Leid zu geben scheint, wie in Rousseaus Imagination der Tataren oder Japaner, das zu wenig affektive Kraft besitzt, um wirklich zu rühren, ist auch die Annahme eins ‚übernahen‘ Leides nicht unplausibel – ein Leiden, das so überwältigend ist, dass es das Mitleid als intersubjektives Gefühl blockiert. Diese Möglichkeit hat bereits Aristoteles erwogen: Man bemitleidet Bekannte, wenn sie nicht allzu nahe Verwandte sind. Denn mit diesen leiden wir so, wie wenn wir selbst dieses Leid zu ertragen hätten. […] Man empfindet nämlich kein Mitleid mehr, wenn einem das Furchtbare nahe ist. (Aristoteles 2002, II, 8)

Neben den Parametern der Distanz (ob räumlich, kulturell oder bezogen auf die persönliche Bekanntheit und Verbundenheit) und Ähnlichkeit ist auch derjenige der Medialität ausschlaggebend dafür, wie wir Empathie erleben. Empathie bewegt sich in einem mittleren Bereich zwischen einer Identifikation mit dem Naheliegenden und Konkreten einerseits und dem Unberührt-Bleiben durch das Ferne und Abstrakte andererseits. Ein Beispiel mag dies illustrieren: Das Pressefoto des dreijährigen Jungen Aylan Kurdi, der nach missglückter Flucht seiner Familie aus Syrien tot am Strand der türkischen Küste liegt, ging durch die Medien und löste heftige Kontroversen aus (FAZ 2015). Ein Bild, das ein derart hohes Maß an Konkretheit und Individualität aufweist, wird bei den meisten Betrachtern vermutlich unmittelbareres und tieferes Mitgefühl hervorrufen als beispielsweise ein Textbericht über eine ungefähre Zahl von Erdbebenopfern an einem unbekannten Ort auf der anderen Seite des Globus. Streifen wir weiter durch die Ideengeschichte und vergegenwärtigen uns einige negative Bewertungen und Problematisierungen der Empathie in ethischmoralischer Hinsicht, so fällt ein Gedanke auf, den wir zuerst wiederum bei Aristoteles antreffen, nämlich die Möglichkeit, dass Empathie im Sinne von Mitleid eigentlich ein selbstbezogenes Gefühl ist, das die Bahn zum Egoismus freimacht. Mitleid (eleos) wird vom Stagiriten in seiner Rhetorik als eine „Art Schmerz über eine anscheinend verderbliche und leidbringende Not“ definiert, „die jemanden, der es nicht verdient, trifft, ein Übel, das erwartungsgemäß auch uns selbst oder einen der Unsrigen treffen könnte.“ (Aristoteles 2002, II, 8) Mitleid entsteht demnach nur, weil wir letzten Endes Angst um uns selbst haben. Das würde Mitleid aber zu einem projizierten, egoistischen Gefühl machen.

Parameter und Reichweite der Empathie  

Der Leidende, den wir real oder als Figur in einem Theater betrachten, fungiert als Spiegel oder Mahnmal dessen, was uns selbst zustoßen könnte. Ethisch problematisch wird es offensichtlich dann, wenn wir bei dieser vorauseilenden Selbstbemitleidung stehen bleiben und uns nicht motivieren lassen, etwas zugunsten des Mitmenschen zu unternehmen. Dass die Empathie einem Hilfeverhalten geradezu einen Riegel vorschieben kann, ist eine beinahe ebenso alte Idee, die in der römischen Antike und in der hellenistischen Spätantike zu finden ist. So stellt Cicero in den Tuskulanischen Gesprächen das Mitleid als unnötige und unnütze Klage dar, die einer altruistischen Einstellung und Handlungsfähigkeit diametral gegenübersteht: „Warum wirst Du eher Mitleid empfinden als Hilfe bringen, wenn Du das kannst?“ – fragt der Rhetoriker und Staatsmann und fährt fort: „Oder können wir ohne Mitleid nicht großzügig sein? Wir sollen ja nicht wegen Andern selbst Kummer empfinden, sondern Anderen, wenn wir können, ihren Kummer erleichtern.“ (Cicero 2013, 291) Wer zu sehr im Mitleiden befangen ist, so die praktische Überlegung, wird handlungsunfähig und kann einem Leidenden keinen angemessenen Dienst erweisen.

 Instrumentalisierung der Empathie In der gegenwärtigen Diskussion erheben sich gegen die Empathie ähnliche Einwände. Der Psychologe Paul Bloom spricht sich dezidiert Against Empathy (2017) aus und fordert, Empathie solle durch „rationales Mitleid“ (man erinnere sich an Kants „vernünftiges Wohlwollen“) ersetzt werden, da die spontan erlebte affektive Empathie den klaren Blick und die stichhaltige Beurteilung von Situationen trübe, ja geradezu zu unüberlegtem und vorurteilsvollem Handeln disponiere. Fritz Breithaupt, dessen Ansatz unten nochmals aufgegriffen wird, beleuchtet Die dunklen Seiten der Empathie (2017), da er überzeugt ist, in der Empathie selbst liege bereits eine gefährliche Tendenz zur Schwarzweißmalerei durch Freund-Feind-Unterscheidungen und zur Parteinahme für jeweils nur einen, gegen einen anderen, also zum sozialen Antagonismus. Martha Nussbaum (2001) warnt davor, dass Empathie für bösartige und antisoziale Zwecke instrumentalisiert werden kann: Empathie ist eine geistige Fähigkeit, die für das Mitleid sehr relevant ist, obwohl sie selbst sowohl fehlbar als auch moralisch neutral ist. Trägt Empathie für sich alleine genommen überhaupt etwas von ethischer Bedeutung bei […]? Ich habe vorgeschlagen, dass sie das nicht tut: Ein Folterer kann sie für feindliche und sadistische Zwecke einsetzen. (Nussbaum 2001, 333 – Übers. d. A.)

  Thiemo Breyer Für diese Behauptung notwendig ist zunächst die Einschätzung der Empathie als moralisch neutrale Ressource. Als Gewährsmann für diese Idee kann erneut Scheler aufgerufen werden, der den Wertbezug von Gefühlen anhand unterschiedlicher Formen der emotionalen Bezugnahme auf den Zustand des anderen betrachtet. Mit Bezug auf die moralischen Implikationen des oben eingeführten Modus der invertierenden affektiv-emotionalen Empathie stellt er fest: Es ist sicher nicht sittlich wertvoll z.B. mit der Freude, die Einer am Schlechten hat oder mit seinem Leiden am Guten, das er vor sich sieht, oder mit seinem Hasse, seiner Bosheit, seiner Schadenfreude zu sympathisieren. Oder wäre das Mitgefühl – hier Mitfreude – mit der Freude, die A an dem Schaden des B hat, ein sittlich wertvolles Verhalten? (Scheler 1923, 2)

Scheler kommt angesichts dieser rhetorischen Frage zu dem Schluss, dass das Mitgefühl „in jeder seiner möglichen Formen prinzipiell wertblind“ ist (Scheler 1923, 2). Wenn das aber zutrifft, dann geht es in ethisch-moralischer Hinsicht nicht so sehr darum, ob man Empathie empfindet oder nicht, sondern wie man mit ihr umgeht, wie man sie kanalisiert und welche Handlungskonsequenzen daraus folgen. Wie kann nun aber, hat man die moralische Neutralität eingestanden, die Empathie auf eine solche Weise manipuliert werden, dass sie keine positiven sozialen Impulse freisetzt – ihr also eine der prinzipiell möglichen handlungsleitenden Optionen verwehrt wird? Um diese Frage zu beantworten, ist es hilfreich, sich das Konzept der Empathieblockade zu vergegenwärtigen, wie es in der psychologischen und kulturwissenschaftlichen Forschung derzeit diskutiert wird. Grundsätzlich kann man – das wäre mein systematisierender Vorschlag für diese Debatte – idealtypisch zwei Typen von Empathieblockaden unterscheiden, nämlich einmal intrinsische Blockaden, die sich aus der psychischen Verfassung einer Person ergeben, und einmal extrinsische, die durch gezielte Manipulation durch andere Akteure (wie politische Regime oder religiöse Verkünder) aufgerichtet werden. Was die erste Form betrifft, so gibt der Neuropsychologe Simon BaronCohen eine Reihe von Bedingungen an, unter denen Empathieblockaden entstehen können:

Parameter und Reichweite der Empathie  

[…] korrosive Emotionen (wie bitterer Groll, Rachsucht, blinder Hass oder Schutzinstinkt); Überzeugungen, die wir vertreten (wie der Glaube, dass eine Gruppe von Personen der Menschenrechte unwürdig ist); Ziele, die wir verfolgen (wie die Verteidigung unseres Landes); Absichten (z. B. die Entlassung eines Mitarbeiters); Furcht (vor der Gefahr, sich gegen einen Tyrannen zu stellen); Obrigkeitshörigkeit (vgl. Milgram-Experiment); Anpassungswunsch (vgl. Stanford-Prison-Experiment); dauerhaftere psychologische Eigenschaften. (Baron-Cohen 2012, 5 – Übers. und H. d. A.)

Wie vor dem Hintergrund der oben eingeführten Differenzierung von Empathieformen ersichtlich ist, siedeln sich die Faktoren dieser breiten Liste auf verschiedenen Erfahrungsebenen an, von leiblich vermittelten Reaktionen, über akute und dispositionale Gefühl, kognitive Zustände, bis hin zu Charaktereigenschaften und Haltungen. Nicht nur ist die Empathie selbst also ein Vermögen, das mehrdimensional ist und in diversen Ausprägungen auftritt – sie wird auch von Prozessen beeinflusst, die unterschiedlichen Sphären psychischer Erlebnisse angehören, weshalb eine detaillierte Erforschung der komplexen Wechselwirkungen, wie zuvor angedeutet, ein wichtiges Desiderat bleibt. Mit Blick auf die zweite Form von Empathieblockaden, erörtert Breithaupt, wie diese konstruiert und vermittelt werden (Breithaupt 2017). Die Analyse beruht auf einem Modell von Empathie, das der Autor bereits früher entwickelt hat und das grundsätzlich davon ausgeht, dass Empathie einer „Entscheidung zur Parteinahme für den einen (und nicht den anderen)“ gleichkomme, die „durch narrative Strategien emotional und rational legitimiert“ werde (Breithaupt 2009, 175 – H. d. A.). Wer A also Empathie schenkt, ziehe sie automatisch von B ab, welcher als Kontrahent von A interpretiert wird. Es resultiert eine triadische Konzeption aus zwei Akteuren, die miteinander in Konflikt stehen (mindestens aber unterschiedliche Interessen verfolgen), und einer dritten Person, die die Szene beobachtet und sich aufgrund einer Evaluation auf die Seite des einen oder des anderen schlägt. Motivational kann die Parteinahme auf unterschiedliche Weise erfolgen, sei es strategisch aus Eigennutz (wenn man sich von demjenigen, dem man Empathie zukommen lässt, eine Gunst im Gegenzug erhofft), sei es judikativ aus einer Erwägung darüber, wer im Recht ist und wer im Unrecht, oder sei es selbst-reflexiv aufgrund einer erkannten Ähnlichkeit zwischen der Position des Empathisierten mit der eigenen Position. Wie aber werden solche Parteinahmen, die Empathie nicht nur in eine bestimmte Richtung lenken und auf bestimmte Figuren konzentrieren, während sie Empathie von anderen abziehen oder diesen gegenüber gar nicht erst aufkommen lassen, konkret narrativ vorbereitet und legitimiert? Unter den diversen Methoden greifen wir zur Illustration zwei heraus, die anhand historischer Beispiele diskutiert worden sind: einerseits die Rückwendung der Empathie auf einen selbst und damit

  Thiemo Breyer einhergehend die Einnahme einer Opferrolle und andererseits die Entwürdigung bis hin zur Dehumanisierung des anderen. Zur Explikation des ersten Modus greift Breithaupt auf eine bekannte Passage aus Hannah Arendts Buch Eichmann in Jerusalem zurück, in dem die Autorin schildert, wie Heinrich Himmler – dem sie ein „für die Lösung von Gewissensfragen großes Talent“ (Arendt 2013, 193) attestiert – eine Strategie entwickelte, um das Mitleid der NS-Täter gegenüber ihren Opfern zu tilgen, indem er sie selbst zu Opfern stilisierte: Der von Himmler […] angewandte Trick war sehr einfach und durchaus wirksam; er bestand darin, dies Mitleid im Entstehen umzukehren und statt auf andere auf sich selbst zu richten. So daß die Mörder, wenn immer sie die Schrecklichkeit ihrer Taten überfiel, sich nicht mehr sagten: Was tue ich bloß!, sondern: Wie muß ich nur leiden bei der Erfüllung meiner schrecklichen Pflichten, wie schwer lastet diese Aufgabe auf meinen Schultern! (Arendt 2013, 195)

Die durch diese Taktik begünstigte Selbstwahrnehmung von Tätern, sie seien im Dienste einer höheren Sache dazu verpflichtet, Unmenschliches zu tun und in dieser Zwangslage selbst die Bemitleidenswerten, geht einher mit einer Abdämpfung der Empathie gegenüber den tatsächlichen Opfern, bis hin zu ihrem völligen Verstummen. Ein zusätzlich häufig angeführtes Narrativ, mit dem insbesondere Adolf Eichmann beim Gerichtsprozess in Jerusalem das Fehlen jeglichen Schuldbewusstseins zu rechtfertigen versuchte, besteht darin, den Ausnahmezustand des Krieges zu beschwören. In einem solchen Zustand versagen – so die vorgebliche Erklärung – die natürlichen Reaktionen der Anteilnahme und des Mitleids sowie die Funktion des Gewissens. Man werde in einer derartigen Situation gegenüber dem Tod an sich indifferent. Mit dieser Strategie der Selbstentlastung kann auf simple Weise die Zuschreibung von Verantwortung an andere verknüpft werden. Dieses von Eichmann ebenso häufig verwendete Narrativ, nämlich dass er nur ein Rad im Getriebe war, ein neutraler Empfänger und Ausführer von Befehlen, und dass deshalb die Schuld bei deren Sendern zu suchen sei, soll belegen, warum keinerlei Mitleid seinerseits mit den Betroffenen aufkam. Ein Beispiel für den zweiten Modus der narrativen Konstruktion von Empathieblockaden führt der Soziologe Martin Weißmann an, der den Verfahren der „organisierten Entmenschlichung“ während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur nachgeht. Er zitiert aus einer Veröffentlichung des SS Hauptamts folgenden Passus: Der Untermensch – jene biologisch scheinbar völlig gleichgeartete Naturschöpfung mit Händen, Füßen und einer Art von Gehirn, mit Augen und Mund, ist doch eine ganz ande-

Parameter und Reichweite der Empathie  

re, eine furchtbare Kreatur, ist nur ein Wurf zum Menschen hin, mit menschenähnlichen Gesichtszügen – geistig, seelisch jedoch tiefer stehend als jedes Tier. (SS Hauptamt 1942, zit. in Weißmann 2015, 79)

Neben derartigen rassenideologisch-pseudobiologischen Rechtfertigungsversuchen für die Mitleidsunwürdigkeit der als ‚Untermenschen‘ bezeichneten Juden sind spezifische, historisch weit zurückverfolgbare Schuldzuweisungen zu nennen, die zu starken Empathieblockaden führen. Die von den Nationalsozialisten verbreiteten und medial inszenierten Imaginationen von Juden als „Parasiten“ am „Volkskörper“ (Schmitz-Berning 2010, 461), die Schuld seien an dessen Verderben, ließen in den Augen der Anhänger solcher Vorstellungen jede nur denkbare Form der Strafe als legitim und angemessen erscheinen. Erneut wird hier eine Opferrolle konstruiert, die Empathie mit den als Aggressoren vorgestellten anderen verunmöglicht. Dies ist jedoch nicht nur ein politisch vielfach instrumentalisierter Mechanismus: Wie effektiv die Konstruktion von Empathieblockaden durch Schuldzuweisung sein kann, lässt sich auch an harmlosen lebensweltlichen Beispielen wie einem Kinobesuch unmittelbar nachvollziehen. Wenn man davon ausgeht, dass eine bestimmte Figur ein unrechtmäßiges Leid erdulden muss, dann ist Mitleid die naheliegende Reaktion. Dieses Mitleid kann aber drastisch nachlassen, sobald wir der Auffassung sind, dass der Charakter doch etwas dafürkann und das ihm zugefügte Leid durchaus verdient (z. B. als Strafe für ein begangenes Verbrechen). Verfolgt man in einem Mafia-Film beispielsweise eine Folterszene, so kann man vermutlich mit weniger Abscheu zuschauen, wenn man durch die im Film erzählte Geschichte erfahren hat, dass der Gefolterte ein übler Schurke ist, der Unschuldigen ebenso Schlimmes angetan hat. Man kann sogar ein gewisses Gerechtigkeitsempfinden entwickeln, das bis zur Genugtuung über die Vergeltung oder zur Identifikation mit den Folternden reicht – alles natürlich in der sicheren Distanz der cineastischen Rezeption. Die emotionale Reaktion auf das beobachtete Leid hängt also stark vom kontextuellen Wissen über die Betroffenen und von deren moralischer Bewertung ab (Merz 2013).

 Schlussbemerkung Wie die vorangegangenen Beispiele zeigen, sind die Mechanismen und Faktoren, die bei der Entstehung und Rechtfertigung von Empathieblockaden eine Rolle spielen, mannigfaltig und in ihren komplexen Wechselwirkungen noch nicht hinreichend verstanden. Dass man Empathie missbrauchen kann, um anderen zu schaden, dürfte mittlerweile klar sein. Empathisches Wissen über

  Thiemo Breyer den anderen kann in solchen Fällen als Mittel zu einem bösen Zweck dienen. Ebenfalls kann Empathie durch Erzählungen, Ideologeme, Schuldzuweisungen, Selbst- und Fremdzuschreibungen im Hinblick auf bestimmte Situationen und Personen reduziert oder gar zum Verschwinden gebracht werden. Ist vor diesem Hintergrund Empathie selbst aber schädlich bzw. liegt in ihr eine intrinsische antisoziale Tendenz begründet, wie manche Kritiker behaupten? An diesem Punkt möchte ich auf eine Strukturanalogie zwischen dem ethischen Problem der Empathie und dem der menschlichen Freiheit allgemein hinweisen. Diese kann selbstverständlich zum Guten wie zum Bösen eingesetzt werden, ohne dass hierdurch in Frage stünde, dass sie selbst ein hohes Gut ist. Deshalb gehe ich grundsätzlich davon aus, dass es (mit Kant) sinnvoll ist, eine Kultivierung der Empathie – als Freiheit, sich auf den anderen einzustellen, sich in ihn hineinzuversetzen, ihn zu verstehen und mit ihm zu interagieren) – zu fordern, die im Sinne der humanitas eingesetzt werden soll. Konkret kann Empathie ein differenziertes Verständnis von Andersheit im interpersonalen Feld und ein breites Spektrum an Kommunikationsmöglichkeiten auf unterschiedlichen Ebenen der Erfahrung ermöglichen und befördern. Auch wenn das empathisch gewonnene Wissen zur Manipulation und zum Schaden anderer eingesetzt werden kann, wird Empathie als Bewusstseinsleistung dadurch keineswegs diskreditiert. Aus der Tatsache, dass Empathie für moralisch fragwürdige Handlungen eine funktionale Rolle haben kann, folgt nicht, dass man keine Empathie fördern sollte. Schließlich würde man sich auch nicht für Stupidität aussprechen, nur weil Intelligenz zur zielgenauen Planung und Durchführung grausamer Taten eingesetzt werden kann. Je mehr man durch Empathie fähig ist, die eigene Ego-Perspektive zu verlassen, um die Perspektive eines anderen zu übernehmen, desto mehr besteht die Möglichkeit, sich der Relativität des eigenen Standpunkts bewusst zu werden und gefährliche Stereotypisierungen zu vermeiden (Galinsky/Moskowitz 2000). Das so beförderte Eingeständnis der Fraglichkeit und Revidierungsbedürftigkeit des eigenen Standpunkts und der eigenen Hintergrundannahmen ist die Grundlage von sinnvoller kommunikativer Aushandlung und von interpersonalem wie interkulturellem Verstehen. Insofern steckt in der Empathie, trotz aller Gefahren der Instrumentalisierung, immer auch ein emanzipatorisches Potenzial.

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Frank-M. Staemmler

Selbsterleben, Bezogenheit und Resonanz Zum Verhältnis von Empathie und Sprache in der Psychotherapie Zusammenfassung: Dieser Beitrag versucht, das Verhältnis von Sprache und Empathie für den Bereich der Psychotherapie zu bestimmen. Ich greife dabei auf das Entwicklungsmodell von Daniel Stern (1985/1992) zurück, in dem vier verschiedene Bereiche des Selbsterlebens und der Bezogenheit charakterisiert werden. Ich vertrete den Standpunkt, dass die empathische Zuwendung des Therapeuten vom Klienten in der Regel nur dann als solche erlebt werden kann, wenn sie innerhalb desselben Bereichs der Bezogenheit kommuniziert wird, aus dem heraus der Klient sich an den Therapeuten gewandt hat. Da der „Bereich der verbalen Bezogenheit” (Stern) nur einen der vier Bezogenheitsbereiche darstellt, ist auch nur in diesem Zusammenhang Sprache das optimale Medium für den angemessenen Ausdruck empathischer Zuwendung, die es dem Klienten ermöglicht, diese unmittelbar zu empfinden. Mit einem Beispiel aus der Praxis illustriere ich meinen theoretischen Standpunkt. Schlüsselwörter: Bereiche der Bezogenheit, Bereiche des Selbsterlebens, Entwicklungspsychologie, Empathie, Psychotherapie, Resonanz, Sprache

Um zu überleben, müssen Menschen einander in hohem Maße verstehen. Mütter und Väter entwickeln Verständnis für ihre Babys, um herauszufinden, ob sie eine neue Windel, eine Umarmung oder etwas zu essen brauchen; Kinder haben ein Feingefühl für das Befinden ihrer Eltern, um den richtigen Moment dafür zu finden, einen Wunsch erfüllt zu bekommen; Kellner oder Kellnerinnen weisen einem Gast von sich aus den Weg zur Toilette, wenn sie sehen, dass er von seinem Stuhl aufsteht und sich suchend im Raum umsieht; und Autofahrer nutzen ihr intuitives Gespür für das Verhalten anderer, um ohne Unfälle ihren Weg durch den Verkehr zu finden: Empathie ist eine grundlegende menschliche Fähigkeit, ohne die das soziale Leben unmöglich wäre.

 Frank-M. Staemmler, Zentrum für Gestalttherapie, Max-Reger-Str. 11, 97074 Würzburg, Tel.: 0931-58000, frank.staemmler[at]me.com https://doi.org/10.1515/9783110679618-003

  Frank-M. Staemmler Die Fähigkeit zur Empathie gehört zur menschlichen Grundausstattung und bildet die Grundlage jeder zwischenmenschlichen Beziehung; sie ist eine notwendige Voraussetzung für prosoziale Einstellungen und Verhaltensweisen wie z. B. für Solidarität und Mitgefühl. Das empathische Verstehen der Erfahrungen anderer menschlicher Wesen ist eine ebenso fundamentale Begabung wie Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken. (Kohut 1981, 129)

Menschen, die in ihrer Empathiefähigkeit wesentlich beeinträchtigt sind, werden als „Soziopathen“, „Psychopathen“ oder als solche diagnostiziert, die unter einer „asozialen Persönlichkeitsstörung“ (DSM-IV-Code 301.7) leiden. Kein Wunder also, dass jede relational orientierte Form von Psychotherapie (vgl. Staemmler 2017), die sowohl auf der menschlichen Beziehung zwischen den Beteiligten aufbaut als auch auf die Förderung der Beziehungsfähigkeit ihrer Klienten zielt, nicht ohne Empathie stattfinden kann. Dementsprechend erwarten Klienten von ihren Therapeuten mit Recht ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen – manchmal sogar in idealisierender (und zugleich fast paranoider) Weise, wenn sie erhoffen (oder befürchten), dass ihre Therapeuten sie mit einer Art ‚Röntgenblick’ durchschauen. Und einige therapeutische Orientierungen – wie z. B. Carl Rogers’ (1972) Personzentrierte Psychotherapie (früher: Klient-bezogene Gesprächstherapie) oder Heinz Kohuts (1981) Revision der Psychoanalyse, die Selbstpsychologie – bauen ihr Vorgehen sogar dezidiert auf ihren jeweiligen Konzepten von Empathie auf. Dabei wird die Bedeutung der Sprache für die empathische Interaktion sehr unterschiedlich gesehen und in die Praxis umgesetzt. Hier reicht die Bandbreite von einer deutlich ablehnenden Haltung gegenüber empathischen Mitteilungen, die man bei dem Begründer der Gestalttherapie finden kann (vgl. Perls 1976, 124ff.), auf der einen Seite bis hin zu einer ausgefeilten Verbalisierungstechnik 1, die speziell in der deutschen Adaptation der Roger’schen Therapie durch Reinhard Tausch (1973) entwickelt wurde, auf der anderen Seite. Eine noch ganz andere Form nahm die empathische Praxis bekanntermaßen in der klassischen Psychoanalyse an, nämlich die von stark theoriegeleiteten sprachlichen Interpretationen, mit denen der Analytiker seinem Analysanden vermittelte, wie er dessen Erleben, Motivationen und psychische Entwicklung vor dem Hintergrund seiner tiefenpsychologischen Konzepte deutete (vgl. Bernfeld 1932).

 1 Diese wurde als „Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte“ bezeichnet.

Selbsterleben, Bezogenheit und Resonanz  

 Das traditionelle Verständnis von Empathie Um das Verhältnis von Empathie und Sprache in der Psychotherapie genauer zu verstehen, ist es nützlich und interessant, sich damit zu beschäftigen, welcher Begriff von Empathie hier lange Zeit maßgeblich war. Auch dafür lohnt es sich, einen Blick in die Schriften der beiden schon genannten, prominenten Befürworter eines entschieden empathischen Vorgehens in der Psychotherapie zu werfen. Bei Rogers findet man die folgende Charakterisierung: Empathisch zu sein bedeutet, den inneren Bezugsrahmen des anderen möglichst exakt wahrzunehmen, mit all seinen emotionalen Komponenten und Bedeutungen, gerade so, als ob man die andere Person wäre, jedoch ohne jemals die ‚als ob’-Position aufzugeben. Das bedeutet, Schmerz oder Freude des anderen zu empfinden, gerade so wie er empfindet, dessen Gründe wahrzunehmen, so wie er sie wahrnimmt, jedoch ohne jemals das Bewußtsein davon zu verlieren, daß es so ist, als ob man verletzt würde usw. Verliert man diese ‚als ob’-Position, befindet man sich im Zustand der Identifizierung. (Rogers 1989, 37 – H. i. O.)

Das von Rogers hier wiederholt genannte und hervorgehobene „Als-ob“ trifft man – in etwas versteckter Form – auch bei Kohut an, wenn er Empathie kurz und knapp als „stellvertretende Introspektion“ bzw. als „Sich-Einfühlen in die Introspektion anderer“ (Kohut 1977, 9) definiert. 2 Hier knüpfen die intersubjektiven Psychoanalytiker Stolorow/Brandchaft/Atwood an und präzisieren: Die empathisch-introspektive Untersuchungsmethode bezieht sich auf den Versuch, die Äußerungen eines Patienten von innen heraus anstatt von außen her zu verstehen, also aus seinem eigenen Bezugsrahmen. (Stolorow/Brandchaft/Atwood 1996, 31)

Die Einsicht, dass es sich dabei immer nur um einen „Versuch“ handelt, der mehr oder weniger gut gelingen kann, ist allen zitierten Therapeuten bewusst; sie wird von ihnen immer wieder betont, weil es ihnen auch darum geht, zu verhindern, dass die angestrebte Einfühlung ohne die notwendige Vorsicht praktiziert wird. Die wünschenswerte „kultivierte Unsicherheit“ (Staemmler 2003a) soll sicherstellen, dass bei allem Bemühen um Verständnis für den Anderen immer klar bleibt, dass jeder Empathie Grenzen gesetzt sind und – wie

 2 Aus entwicklungspsychologischer Sicht könnte man Introspektion als internalisierte empathische Interaktion verstehen.

  Frank-M. Staemmler Lévinas (1989) gefordert hat – auch gesetzt sein sollten, um den Gefahren von Vereinnahmung und Bemächtigung entgegenzuwirken. 3 So warnt Krause: Die Allesversteher riskieren, den Objekten ihres Verständnisses Gewalt anzutun. Sie werden feststellen müssen, dass ihre Gleichheitsannahme in weiten Bereichen vom anderen und von dritten nicht geteilt wird, also narzisstischen Ursprungs ist. (Krause 2001, 317)

Zu einem angemessenen Bemühen um empathisches Verständnis gehört daher immer auch eine Art von Bescheidenheit (Rogers’ „Als-ob“), die die Alterität des Anderen und die durch sie mitgegebenen Bereiche der prinzipiellen Uneinfühlbarkeit ebenso ernst nimmt wie das Engagement für ein einfühlsames Erfassen seiner subjektiven Wirklichkeit. Mit dieser Bescheidenheit geht eine gewisse Distanziertheit einher, die eine zu große Nähe verhindern soll, damit der von Rogers und anderen befürchtete „Zustand der Identifizierung“ nicht eintritt und die individuellen Unterschiede zwischen den beteiligten Personen erkennbar bleiben. Hier lag übrigens auch das Motiv für die grundsätzlich negative Einstellung von Frederick Perls gegenüber einer empathischen Haltung: „Auf empathischem Wege kann es keinen guten Kontakt geben. Im schlimmsten Falle wird er zur Konfluenz“ (Perls 1976, 126). Und „Konfluenz 4 ist die Situation der Kontaktlosigkeit (keine Selbstgrenze)“ (Perls et al. 2006, 314), in der die Unterschiede und damit die Identitäten der Beteiligten verschwimmen, sodass eine personale Begegnung unmöglich wird. Bei einer genaueren Analyse dieses traditionellen Empathiekonzepts zeigt sich, dass es von einer individualistischen Ideologie beeinflusst ist, in der Abgegrenztheit und Autonomie die maßgeblichen Werte darstellen, während Interdependenz mit oder gar Abhängigkeit von anderen verpönt sind bzw. zumindest als neurotisch gelten (vgl. Staemmler 2009). 5 Von Psychotherapeuten ist demnach zu verlangen, dass sie sich gegen die Gefahr der Identifizierung (Rogers) bzw. Konfluenz (Perls) wappnen, ihren Klienten gegenüber abgegrenzt bleiben, sich von deren Leiden keinesfalls ergreifen lassen und auf diese Weise als Vorbild für eine von Abgrenzung geprägten Auffassung von psychischer ‚Gesundheit’ fungieren.

 3 Dies ist auch eine der Begründungen für Rogers’ „Als-ob“. 4 Lateinisch confluere – zusammenfließen. 5 Diese Ideologie tritt auch in Breithaupts (2017, 44ff.) ausgedehnter Darstellung von Nietzsches Überlegungen in Erscheinung, in der die Angst vor dem „Selbstverlust“ eine entscheidende Rolle spielt.

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Das traditionelle Verständnis von Empathie hilft ihnen dabei insofern, als Empathie als die mentale Vorstellung des Therapeuten davon begriffen wird, wie es ist, die Welt so wahrzunehmen und zu erleben, wie es der Klient mit seinem „Bezugsrahmen“ tut. Durch die Betonung des „Als-ob“ wird die erwünschte psychische Distanz eingefordert, und mit der Vorgabe verbaler Techniken der Mitteilung des empathisch Verstandenen (die „Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte“ – vgl. Tausch 1973, 79ff. – bzw. die analytische Interpretation) wird das Medium der Sprache festgelegt, mit dem diese Distanz psychisch und auch physisch leicht aufrechtzuerhalten ist. Damit wird die praktische Nutzung von Empathie stark auf die Dimension der symbolischen Repräsentation eingeengt. Dies entspricht weitgehend dem, was in der Philosophie des Geistes (vgl. O’Hear 1998) dem ‚Cartesianischen Kognitivismus’ zugeordnet und als „Theorie-Theorie“ bezeichnet wird, d. h. als die Theorie, die besagt, dass Menschen Theorien über andere Menschen bilden, um diese zu verstehen. Diese logozentrische Betrachtungsweise macht es unwahrscheinlicher, sich direkt betroffen zu fühlen und unmittelbar Anteil an der Situation des Anderen zu nehmen; mit ihrer Hilfe kann sich der Psychotherapeut persönlich in Sicherheit bringen und in der Expertenrolle einrichten. Niemand hat das so zugespitzt und unverblümt auf den Punkt gebracht wie Freud in seiner berühmt-berüchtigten Chirurgenmetapher, die sich stark an naturwissenschaftlicher Methodik orientierte: Ich kann den Kollegen nicht dringend genug empfehlen, sich während der psychoanalytischen Behandlung den Chirurgen zum Vorbild zu nehmen, der alle seine Affekte und selbst sein menschliches Mitleid beiseite drängt und seinen geistigen Kräften ein einziges Ziel setzt: die Operation so kunstgerecht als möglich zu vollziehen. [...] Die Rechtfertigung dieser vom Analytiker zu fordernden Gefühlskälte liegt darin, daß sie für beide Teile die vorteilhaftesten Bedingungen schafft, für den Arzt die wünschenswerte Schonung seines eigenen Affektlebens, für den Kranken das größte Ausmaß von Hilfeleistung, das uns heute möglich ist. (Freud 1912/1975, 175)

Dass Patienten, wie Freud meinte, durch eine affektfreie und mitleidlose Behandlung, die auf reines Reden beschränkt bleibt, die beste Hilfestellung erfahren, ist aufgrund des aktuellen Standes der Entwicklungspsychologie und Psychotherapieforschung stark zu bezweifeln, denn es ist kaum vorstellbar, dass sie mit einem „gefühlskalten“ Gegenüber in eine „Resonanz- und Antwortbeziehung“ (Rosa 2016, passim) eintreten können, die als entscheidende Voraussetzung für persönliche Veränderung zu betrachten ist, wenn diese nicht nur auf der Verhaltensebene stattfinden soll. Deshalb hatten sich bereits Rogers und Kohut – und noch früher Freuds zeitweiliger Lieblingsschüler Sandor Ferenczi

  Frank-M. Staemmler (sein Buch von 1932/1988 trägt den Titel Ohne Sympathie keine Heilung 6) – mit ihren zugewandten, warmherzigen Einstellungen von der Freud’schen Position entfernt. Denn es geht Menschen „immer auch darum, in der Welt gemeint, gesehen, angesprochen, berührt zu werden und in Verbindung zu sein“ (Rosa 2016, 159 – H. i. O.). Wenn das nicht geschieht, fehlt einer Beziehung, die therapeutisch wirksam werden soll, die wesentliche Grundlage (vgl. Staemmler 2017).

 Unterschiedliche Perspektiven Wechseln wir einmal den Blickwinkel und schauen wir auf die typische Situation, in der ein Klient sich zu Beginn einer Psychotherapie und oft auch im weiteren Verlauf befindet. Er leidet unter bestimmten Problemen – seien es Depressionen oder Streitigkeiten in seiner Partnerschaft etc. – und hofft auf Unterstützung bei deren Bewältigung. Er sucht also einen Psychotherapeuten auf und tut zuerst das, was für ihn am nächstliegenden ist: Wie er es von seinen Gesprächen mit Freunden oder auch von Arztbesuchen her kennt, schildert er seine problematische Lebenssituation so, wie ihm der sprichwörtliche ‚Schnabel’ gewachsen ist. Er greift hier auf die sprachliche Vermittlung seiner Lage zurück, um dem Therapeuten zu vermitteln, worin sein Anliegen besteht. Seine Aufmerksamkeit ist dabei notwendiger Weise darauf gerichtet, worin seine Problematik in der Sache besteht, und zusätzlich vielleicht noch darauf, ob er den Eindruck hat, dass der Therapeut seine Geschichte begreift. Er tut das in der durchaus berechtigten Annahme, er müsse dem Therapeuten alle Informationen zugänglich machen, die dieser benötigt, um die Leidenssituation des Klienten angemessen zu erfassen, damit der Therapeut in die Lage versetzt wird, aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen (die Diagnose zu stellen) und dann die entsprechenden therapeutischen Maßnahmen zu ergreifen. Dieses Denkmodell entspricht dem in unserer Kultur bekannten medizinischen Modell, demzufolge eine erfolgreiche Therapie auf einer zutreffenden Diagnose aufbaut. Im psychotherapeutischen Kontext hat dieses Denkmodell allerdings einen ernst zu nehmenden Haken: Das Narrativ des Klienten beschreibt Sachverhalte, die in aller Regel in der Vergangenheit und damit außerhalb der aktuellen Begegnung mit dem Therapeuten liegen. Aus Sicht des Klienten ist das zwar

 6 In diesem Buch schrieb er: „Sie [die Patienten] verlangten, ich solle nicht so viel denken, ich soll nur da sein, ich soll nicht so viel reden“ (Ferenczi 1932/1988, 51).

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selbstverständlich, und er ist dafür auch keineswegs zu kritisieren. 7 Trotzdem bleibt die sprachlich gefasste Darstellung seiner Situation und damit seine Art, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, inhaltlich, wie wir als Gestalttherapeuten sagen. Wie er seine Geschichte erzählt, bleibt dabei in der Regel im Hintergrund seiner Aufmerksamkeit. In der Psychotherapie kann es aber nicht darum gehen, dem Klienten Problemlösungen allein auf Basis seiner inhaltlichen Beschreibungen zu präsentieren, sondern es kommt vielmehr darauf an, mit dem Klienten gemeinsam einen konkret gelebten Veränderungsprozess zu initiieren, aus dessen Verlauf sich schließlich eine Problemlösung ergeben kann. Hier gilt die fundamentale Erkenntnis der neueren Psychotherapieforschung, die Klaus Grawe so formuliert hat: „Gespräche über psychische Abläufe und Probleme, die bloße Inhalte bleiben und nicht in prozessuales Geschehen umgesetzt werden, bewirken keine Veränderungen“ (Grawe 1998, 128). Man könnte metaphorisch sagen: Die Inhalte, die der Klient zur Sprache bringt, sind die ‚geronnene’ Form vormals im Fluss gewesener Ereignisse, die sich so lange nicht verändern können, wie sie nicht wieder ‚verflüssigt’ werden. Und hier beginnt die eigentliche Aufgabe des Therapeuten, die er nur erfüllen kann, wenn er sich nicht vom verbalen Narrativ des Klienten gefangen nehmen lässt, sondern bewusst eine andere Perspektive einnimmt: Er muss die Frage nach dem Was (die Fokussierung auf den Inhalt, auf die sprachliche Beschreibung) in den Hintergrund stellen und die Frage nach dem Wie in den Vordergrund seiner Aufmerksamkeit rücken. 8 Indem er dem Klienten seine so gewonnenen Eindrücke zurückmeldet – ein Vorgehen, das sich in der Psychotherapieforschung unter dem Begriff „experiential confrontation“ als besonders wirksam erwiesen hat –, kann er ihn dabei unterstützen, auch das bewusst zu erleben, was zunächst für den Klienten im Hintergrund geblieben ist, nämlich seine unmittelbare Erfahrung von dem, was in ihm vorgeht, während er seine Geschichte erzählt. So kann eine ganzheitliche Bewusstheit des Klienten von seiner Situation entstehen, in der die emotionale Dimension seines aktuellen Erlebens deutlicher wird. Denn Emotionen sind enger mit dem impliziten-analogen-nonverbalen Funktionsmodus verbunden als mit dem konzeptuell-verbal-analytischen. [...] Für die herbeizuführenden Ver 7 Ich sage das auch, weil es sich in Perls’ ruppig-plakativer Art anders anhörte: „Nicht nötig, auf den Inhalt zu hören. Das Medium ist die Botschaft. Deine Worte lügen und verführen. Der Klang jedoch ist ehrlich“ (1981, 245). 8 Vordergrund und Hintergrund werden hier in einem dynamischen, komplementären Verhältnis gesehen, keinesfalls als einander ausschließende Aspekte.

  Frank-M. Staemmler änderungen ist aber der [...] implizit-nonverbal-analoge Funktionsmodus wegen seiner engen Assoziation mit den Emotionen der relevantere. Ein Therapeut muss also vor allem lernen, seine Aufmerksamkeit auf diejenigen Prozesse zu richten, die in diesem implizitnonverbal-analogen Funktionsmodus ablaufen. (Grawe 1998, 308)

Auf diese Weise kann der Therapeut den Veränderungsprozess seines Klienten wirksam fördern (vgl. Beisser 1997). Die folgende Tabelle stellt die Verknüpfung der beiden Perspektiven zusammenfassend dar: Tab. 1: Verknüpfung der Perspektiven (nach Staemmler 2015, 280f.) typische Aufmerksamkeit des Klienten richtet sich

empfohlene Aufmerksamkeit des Therapeuten richtet sich

im Vordergrund

auf den (sprachlichen) Inhalt, das ‚Was’

auf die Form, den (nonverbalen) Prozess, das ‚Wie’

im Hintergrund

auf die Form, den (nonverbalen) Prozess, das ‚Wie’

auf den (sprachlichen) Inhalt, das ‚Was’

 Embodiment, Selbstempfinden und Bereiche der Bezogenheit Auf den vorangehenden Seiten habe ich schon deutlich gemacht, dass Freuds „Chirurgenmetapher“ heute keine allgemeine Anerkennung mehr findet – im Gegenteil. Die mit ihr geforderte strikte „Abstinenz“ des Therapeuten konnte die therapeutische Situation zu einer Art „Deprivationsexperiment“ (Moser 1989, 71) werden lassen; sie mutierte im Erleben des Klienten bisweilen zu einem menschenleeren Raum, in dem der Psychoanalytiker sich auf den Status einer „sprechenden Attrappe“ (Moser 1987) reduzierte und für den Klienten nicht mehr als Mensch aus Fleisch und Blut erkennbar war – vermutlich nicht zufällig so ähnlich wie in einem Beichtstuhl. 9 Moser hat in diesem Zusammenhang eindrucksvoll gezeigt, dass „auch das rein verbale Verstehen [...] zum Trauma wer-

 9 Das klassisch-psychoanalytische Setting, bei dem der Patient so auf der Couch lag, dass er mit dem Analytiker keinen Blickkontakt aufnehmen konnte, spielte dabei eine wichtige Rolle.

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den kann, wenn in bestimmten Phasen dem Patienten konkreter körperlicher Halt verweigert wird“ (1987, 109 – H. d. A.). Ich habe dieses Zitat bewusst gewählt, denn es verweist auf die Möglichkeit leiblicher Kommunikation, von der unmittelbarer Körperkontakt nur eine von vielen Varianten ist; leibliche Kommunikation stellt eine wichtige Ergänzung zum sprachlichen Ausdruck empathischer Resonanzen dar und verweist auf das (in den letzten Jahren auch von Psychoanalytikern entdeckte so genannte) „embodiment“ der Beteiligten (vgl. Fogel 2013; Leutzinger-Bohleber et al. 2013; Storch et al. 2006). Diese Möglichkeit der leiblichen Kommunikation rückt geradezu zwangsläufig in den Blick, wenn man die traditionellen Vorstellungen von Empathie hinter sich lässt, in denen es vor allem der Geist einer Person zu sein schien, der den Geist einer anderen Person rekonstruierte. Diese mentalistische oder kognitivistische Vorstellung ließ die grundlegende Tatsache der menschlichen Leiblichkeit (vgl. Merleau-Ponty 1966) mehr oder weniger außer Acht – auch in Fällen, in denen sie die Emotionen der Person teilweise berücksichtigte. Denn selbst Emotionen wurden hier eher als irrationale Kognitionen verstanden und weniger als leiblich „gespürter Sinn“ (engl.: „felt sense“), wie Gendlin (2015) treffend formuliert. In der Geschichte der Psychotherapie hat die Säuglingsforschung, die von psychoanalytisch geprägten Wissenschaftlern in den 1980er Jahre entscheidend vorangebracht wurde (vgl. Lichtenberg 1991; Stern 1992), wesentlich dazu beigetragen, dass die Sprache ihr Alleinstellungsmerkmal als Medium empathischen Austauschs verlor und ihr andere Formen des persönlichen Kontakts an die Seite gestellt wurden. Mir ist dabei wichtig zu betonen, dass es sich aus heutiger Sicht nicht um ein Entweder-Oder von Körper und Sprache handeln kann, sondern um ein Sowohl-Als-Auch, das die falschen Alternativen von Freud und – mit umgekehrter Bewertung – von Perls überwindet und zu einer ganzheitlichen Betrachtung zu kommen versucht. Das falsche Entweder-Oder hatte natürlich auch seine Geschichte, und zwar die von psychologischen Entwicklungsmodellen, deren Paradigma in der Definition von Phasen bestand, von denen die eine auf die andere folgte und dabei die jeweils vorangehende ablöste. Eine nicht ausreichend stattfindende Ablösung einer früheren Phase durch die folgende wurde als Pathologie verstanden, die zu einer „Regression“ der Person auf frühere Entwicklungsstufen führen konnte (vgl. Staemmler 2013). Vereinfacht gesagt galten körperliche, nonverbale Ausdruckweisen als infantil und bei Erwachsenen als regressiv, sobald sie das durch die Theorie definierte Alter sprachlichen Ausdrucks erreicht hatten

  Frank-M. Staemmler und man deshalb von ihnen erwartete, sich dieser ‚erwachsenen’ Ausdrucksform zu bedienen. 10 Therapeuten, die diesem Paradigma folgten und an sich den Anspruch stellten, Vorbilder psychischer Gesundheit darzustellen, durften ihren Klienten dann logischerweise auch nur verbal-empathisch begegnen. Der bis heute wirksame Paradigmenwechsel wurde entscheidend von Daniel Stern (1985) angestoßen, der mit seinem Buch über The Interpersonal World of the Infant übrigens auch in manch anderer Hinsicht neue Maßstäbe setzte. Er schlug vor, das Denkmodell voneinander ablösenden Phasen durch die Idee von vier „Bereichen der Selbstempfindung“ sowie entsprechenden „Bereichen der Bezogenheit“ (Stern 1985, passim) zu ersetzen. 11 Selbsterleben und Bezogenheit sind insofern eng miteinander verflochten, als jede Form des Selbstempfindens auch eine zu ihr gehörige Art ermöglicht, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten. Nach Sterns Konzeption entwickeln sich diese Bereiche zwar sukzessiv, sie lösen einander jedoch nicht ab, und ihre jeweilige Entwicklung endet auch nicht, wenn ein zusätzlicher Bereich neu entsteht. Sie bauen kumulativ aufeinander auf, und alle einmal entstandenen Bereiche entwickeln sich mit der Zeit kontinuierlich weiter. So kommen nach und nach neue Bereiche der Selbstempfindung hinzu, wodurch die Komplexität des Selbsterlebens zunimmt und die Gesamtheit des Selbsterlebens immer differenzierter wird. Und wenn alle Bereiche einmal verfügbar sind, bedeutet dies mitnichten, dass einer von ihnen in einer bestimmten Altersphase zwangsläufig den Vorrang beanspruchen wird. Keiner hat permanent einen privilegierten Status inne. [...] Wenn ein Bereich einmal ausgebildet ist, bleibt er für immer als gesonderte Form sozialen Erlebens und Selbsterlebens erhalten. (Stern 1992, 54)

Bei erwachsenen Psychotherapie-Klienten ist also davon auszugehen, dass ihnen alle vier Formen des Selbstempfindens zur Verfügung stehen und es ihnen dementsprechend auch möglich ist, in alle vier Bereiche der Bezogenheit mit ihrem Therapeuten einzutreten. Abhängig von der jeweiligen subjektiven Situation des Klienten wird dabei der eine oder andere Bereich im Vordergrund

 10 Eine falsche Gleichsetzung von „nonverbal“ mit „präverbal“ trug das ihre zu vielen Missverständnissen bei. 11 Natürlich könnte man die Gesamtheit des Selbsterlebens und der Bezogenheit prinzipiell auch anders als in gerade diese vier Bereiche unterteilen. Für meine Argumentation in diesem Text ist das allerdings unerheblich. Und Stern hatte gute Gründe für seine Einteilung.

Selbsterleben, Bezogenheit und Resonanz  

seines Erlebens stehen, während die anderen mehr oder weniger im Hintergrund mitaktiviert sind. 12 Tab. 2: Formen des Selbstempfindens und Bereiche der Bezogenheit (nach Stern 1992, 55f.) Entwicklungsbeginn im Alter von … Monaten

Empfindung eines …

Bereich der …



auftauchenden Selbst

auftauchenden Bezogenheit

ca. –

Kern-Selbst

Kern-Bezogenheit

ca. –

subjektiven Selbst

intersubjektiven Bezogenheit

ca. 

verbalen Selbst

verbalen Bezogenheit

Es ist hier nicht der Platz, alle vier Formen des Selbstempfindens und alle vier Bereiche der Bezogenheit ausführlich darzustellen; die Details kann man bei Stern (1992) nachlesen. Ich möchte zur Illustration aber jeweils ein paar Aspekte erwähnen; sie werden es mir im Weiteren ermöglichen, das Verhältnis von Empathie und Sprache in der Psychotherapie noch genauer zu bestimmen.

. Das Empfinden des auftauchenden Selbst ergibt sich aus den ersten sinnlichen Erfahrungen, die ein Baby macht. Die Eindrücke, die es über die verschiedenen Sinnesorgane gewinnt, stehen noch in keinem Zusammenhang; sie erscheinen unverbunden. Die akustische Wahrnehmung von der sich öffnenden Tür, wenn die Mutter ins Zimmer kommt, muss durch basale Lernvorgänge erst noch mit ihrem Erscheinen im Blickfeld des Babys verknüpft werden. Dieses Lernen betrifft also den Prozeß und das Resultat einer sich entwickelnden Organisation. Es umfaßt das Kennenlernen der Beziehungen zwischen den sensorischen Erlebnissen des Säuglings. (Stern 1992, 73)

Zu diesen Erlebnissen gehören natürlich auch und besonders die propriozeptiven Empfindungen, die mit den Wahrnehmungen der nach außen gerichteten Sinnesorgane einhergehen. Mit der Zeit und der Wiederholung von gemeinsam

 12 Zum Verhältnis von Vordergrund zu Hintergrund vgl. Fußnote 8.

46 | Frank-M. Staemmler auftretenden Reizen ordnen und strukturieren sich die zahlreichen Eindrücke, sodass der Säugling nach und nach die invariante[n] Konstellationen des Selbst und des Anderen identifizieren kann. Und wann immer sich eine Konstellation herausbildet, erlebt der Säugling das Auftauchen von Organisation. [...] Diese globale, subjektive Welt auftauchender Organisation ist und bleibt der grundlegende Bereich menschlicher Subjektivität. (Stern 1992, 103)

Unter den propriozeptiven Empfindungen sind die so genannten „Vitalitätsaffekte“ oder „-konturen“ (Stern 1999, 70) speziell hervorzuheben, also jene Verlaufskurven in der Intensität des Erlebens, die unabhängig von den „kategorialen“ bzw. „diskreten Affekten“ wie Freude, Trauer, Wut, Angst etc. sind und lange vor diesen deutlich und differenziert spürbar werden. Vitalitätsaffekte lassen sich mit dynamischen, kinetischen Begriffen charakterisieren, Begriffen wie ‚aufwallend’, ‚verblassend’, ‚flüchtig’, ‚explosionsartig’, ‚anschwellend’, ‚abklingend’, ‚berstend’, ‚sich hinziehend’ usw. (Stern 1992, 83)

Sie werden am besten mit Kurven illustriert, deren X-Achse die Zeit (in Sekunden oder wenigen Minuten) darstellt, während die Y-Achse die Erlebnisintensität abbildet. Dazu zwei Beispiele:

Abb. 1: Beispiele für Vitalitätsaffekte (Eigene Grafik)

Die linke Kurve zeigt ein starkes Ansteigen der Erlebnisintensität, das dann sehr abrupt abbricht und in ein gleich starkes Abklingen der Intensität umschlägt; die rechte Kurve stellt ein langsameres und weicheres Ansteigen der Intensität und einen längeren Höhepunkt dar, der in ein weiches, langsames Abklingen übergeht. Wie diese Charakterisierung zeigt, sind „Vitalitätsformen [...] modalitätsunspezifisch. Sie gehören keiner bestimmten sensorischen Modalität an, sondern allen Modalitäten (Sehen, Hören, Tastsinn und so weiter)“ (Stern 2011, 40). So kann sich z. B. ein Ansteigen gleichermaßen in einem zunehmenden

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Händedruck, einer sich beschleunigenden Bewegung, einer stärker werdenden Freude oder einer lauter werdenden Stimme zeigen. Unter neurophysiologischem Blickwinkel gibt es starke Hinweise darauf, dass Vitalitätsaffekte nicht sinnesspezifisch, sondern auf eigene Weise (im Zusammenhang mit Arousal-Systemen 13) repräsentiert werden. Das macht verständlich, warum im zwischenmenschlichen Kontakt die „Affektabstimmung“, d. h. das transmodale Spiegeln – also die Wiedergabe der Affektkontur in einem anderen Modus als dem, in dem die Person zunächst kommuniziert hat –, von dieser sofort verstanden wird. Bei Erwachsenen ist es in der Regel sogar sehr viel wirksamer als die reine Imitation, denn diese bleibt ganz auf die Formen des äußerlich sichtbaren Verhaltens konzentriert. Das Abstimmungsverhalten aber gestaltet das Geschehen um und lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was ‚hinter’ dem Verhalten liegt, auf die Qualität des Gefühls, das gemeinsam empfunden wird. (Stern 1992, 204)

Die Erfahrung von Gemeinsamkeit und Verbundenheit, die auf der Beziehungsebene eine wichtige therapeutische Funktion erfüllt, speist sich zu einem erheblichen Teil aus dem gelungenen Feedback von Vitalitätsaffekten (vgl. Staemmler 2009, 90). Wenn der Therapeut die Vitalitätskontur des Klienten, die sich vielleicht in einer leiser werdenden Stimme ausdrückt, in einen anderen Modus übersetzt, z. B. indem er eine abfallende Handbewegung macht, erlebt der Klient, dass der Therapeut ihn nicht nur einfach nachahmt, sondern demonstriert, dass er sich in das Wesentliche des Vitalitätsaffekts eingefühlt hat. Bei Erwachsenen, die sich im Unterschied zu Kindern durch direkte Imitation leicht veralbert fühlen, ist das nonverbale, transmodale Spiegeln von Vitalitätsaffekten die erste Wahl, wenn es um die Kommunikation von Empathie für ihr „auftauchendes Selbstempfinden“ (vgl. Stern 1992, 61ff.) geht. Beispiel aus der Praxis Meine Klientin H. schildert, wie sie immer wieder in Situationen, in denen es ihr richtig gut geht, unvermittelt in eine schlechte Stimmung gerät. 14 Sie fühlt sich zunächst heiter, selbstbewusst, kraftvoll, erwachsen und weiblich, dann aber verfällt sie – ohne ersichtlichen Anlass – plötzlich in einen unsicheren, hilflo-

 13 Vgl. Gallese/Rochat 2018. 14 Ich danke meiner Klientin für die Erlaubnis zur Veröffentlichung. – Kurze Erläuterungen stehen in eckigen Klammern.

48 | Frank-M. Staemmler sen, weinerlichen, kindlichen Zustand 15, in dem von ihrer vorherigen Stimmung nichts mehr zu spüren ist [bei dieser Beschreibung richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf den Inhalt]. Während sie diesen Vorgang schildert, bilden sich die beiden Zustände jeweils andeutungsweise, aber für mich erkennbar in ihrem Gesicht und in ihrer Atmung ab [meine Aufmerksamkeit richtet sich auf das Wie, wobei mir klar wird, dass die Klientin ein Problem mit einer Vitalitätskontur beschreibt, die man wie folgt illustrieren könnte].

Abb. 2: Vitalitätsaffekt H. (Eigene Grafik)

Ich fordere sie auf, sich die letzte derartige Situation zu vergegenwärtigen, so als ereignete sie sich genau jetzt, und bitte sie, den Wechsel von dem einen in den anderen Zustand ganz langsam nachzuvollziehen, sozusagen in Zeitlupe. Dabei soll sie nicht nur genau darauf achten, wie sich der eine und der andere Zustand jeweils anfühlt, sondern besonders auch darauf, was sie im Übergang von dem einen zum anderen spürt [ich lade sie ein, ihre Aufmerksamkeit auf das Wie zu richten – experiential confrontation]. Sie folgt meinem Vorschlag. Dabei kommen die jeweiligen Stimmungen in ihrem Gesicht und Körper sehr viel deutlicher zum Ausdruck: In dem ersten Zustand leuchten ihre Augen auf, ihr Gesicht strahlt, die Atembewegungen in ihrer Brust sind deutlich sichtbar, und sie schaut mich direkt und offen an; im zweiten Zustand ist ihre Stirn umwölkt, ihr Kinn zittert leicht und ihr Mund verzieht sich, wie es für beginnendes Weinen typisch ist, ihr Brustkorb verspannt sich, und Tränen laufen aus ihren Augen [ihre Aufmerksamkeit für das Wie führt zu einer stärkeren prozessualen Aktivierung]. Allerdings findet der Wechsel von dem einen in den anderen Zustand wieder sehr schnell, scheinbar unvermittelt statt. Auf meine Frage danach, was sie während des Wechsels wahrgenommen hat, kann sie keine klare Antwort geben. Es mache irgendwie „klick“ in ihr, und dann sei auf einmal alles anders. Ich rege sie daher an, diesen Prozess ein weiteres Mal nachzuvollziehen und

|| 15 Ich nenne solche Zustände „Selbst-Positionen“ (Staemmler 2015, 205ff.).

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bitte sie, sehr genau 16 darauf zu achten, was zwischen den beiden Zuständen, im Moment des „Klicks“, geschieht [ich lade sie wiederum ein, ihre Aufmerksamkeit auf den Prozess zu richten, und zwar noch genauer als zuvor]. Wir fangen also wieder bei der guten Stimmung, bei ihrem Strahlen und dem freien Atem an. Sie erlebt zunächst eine schöne Lebensfreude und, wie sie es nennt, ein Gefühl von „Was kostet die Welt?“. Doch dann folgt erneut der Augenblick des „Klicks“, den sie allerdings jetzt, während sie sich ganz darauf konzentriert, in seiner zeitlichen Ausdehnung, also als einen Vorgang erlebt – „so als ob die Luft rausgeht: Pffft . . .“ Ich wiederhole diesen Laut und mache parallel eine Bewegung mit meiner rechten Hand; ich beginne mit gewölbter Handfläche und gespreizten Fingern, als würde ich einen Ball umfassen (Abbildung 3a), dann bewege ich meine Hand nach rechts und führe dabei die Fingerkuppen zusammen (Abbildung 3b) [bei dieser Handbewegung handelt es sich um eine transmodale Spiegelung ihres Vitalitätsaffekts]. Dazu sage ich: „Es ist so, als ob Dir jemand den Stöpsel rauszieht“ [ergänzende verbale Beschreibung des Vitalitätsaffekts].

Abb. 3a/3b: Handbewegung (Ohne Angabe)

H. bestätigt meine Aussage; nach einer längeren Pause fügt sie hinzu: „Ich hatte gerade die Erinnerung an ein Ereignis, als ich ca. fünf Jahre alt war: Ich habe mit meinen beiden Cousins, die bei uns zu Besuch waren, gespielt und getobt. In meinem Überschwang bin ich irgendwann auf den großen Sessel in unserem Wohnzimmer gesprungen und habe mich breitbeinig und mit ausgebreiteten Armen hingefläzt, wie in einer Art von Triumph. Als meine Mutter ins Zimmer kam und mich so sah, wurde sie stinksauer und schrie mich an, ich solle sofort von dem Sessel runtergehen und mich anständig benehmen. Ich war total erschrocken, das tolle Gefühl war mit einem Mal weg, und ich fühlte mich schul-

|| 16 Solche kurzen Momente werden oft übergangen, obwohl sie, wenn man sie ernst nimmt, zu sehr wichtigen Einsichten führen können (vgl. Hurlburt 2011; Caracciolo/Hurlburt 2016).

  Frank-M. Staemmler dig, beschämt und schlagartig völlig unverbunden, sowohl im Bezug zu meiner Mutter als auch im Bezug zu meinen Cousins.“ 17 Im Anschluss an diese Erinnerung wird ihr klar, dass sie selbst heute diejenige ist, die sich in ihrem guten Lebensgefühl unterbricht, und dass es deshalb auch in ihrer Hand liegt, anders mit sich umzugehen. Wir experimentieren danach eine Weile mit dem „Klick“-Moment, und es entsteht ein neues Bild, nämlich das von einem schmalen Grat, auf dem sie steht. Von dort aus kann sie sich sowohl nach rechts lehnen und sich ihrer Lebensfreude zuwenden als auch nach links, wo sie die hoffnungslose, niedergeschlagene Stimmung körperlichräumlich lokalisiert [eine Erfahrung von Urheberschaft, die mit dem Empfinden des Kern-Selbst in Zusammenhang steht; ich vollziehe ihre Körperbewegungen nach rechts bzw. nach links mit meiner Körperhaltung dezent mit]. In unserer abschließenden Reflexion [in der wir uns vorwiegend im Bereich der verbalen Bezogenheit begegnen] sagt H., sie habe nunmehr den Eindruck, ein Werkzeug entdeckt zu haben, das es ihr ermöglicht, bewusst zu entscheiden, in welchen emotionalen Zustand sie sich begibt [die verbale Beschreibung des Erreichten, die es erleichtert, sich später wieder darauf zu beziehen].

. Das Empfinden des Kern-Selbst Wenn die Organisation und Integration verschiedener Sinneswahrnehmungen in den ersten zwei Lebensmonaten eine gewisse Stabilität erreicht hat, entsteht – darauf aufbauend – allmählich das Empfinden des Kern-Selbst, das sich in den folgenden Monaten entwickelt und auf weiteren Integrationsprozessen beruht. Ergebnisse dieser Entwicklung sind (1) die Urheberschaft, also das Empfinden, der Urheber eigener Handlungen und NichtUrheber der Handlungen anderer Menschen zu sein: Willen zu besitzen, selbst-erzeugte Aktionen kontrollieren zu können (mein Arm bewegt sich, wenn ich will, daß er sich be-

 17 Es ist nicht ungewöhnlich, dass durch die Fokussierung auf den „implizit-nonverbalanalogen Funktionsmodus“ (Grawe, vgl. oben) wichtige Erinnerungen aus dem autobiografischen Gedächtnis zugänglich werden. Wie in diesem Fall handelt es sich dann häufig um ‚Schlüsselerlebnisse’, die ein bestimmtes Verhaltens- und Erlebensmuster verständlich werden lassen – nicht in dem Sinne, dass sich dieses Muster auf die erinnerte Situation kausal oder historisch zurückführen ließe, sondern in dem Sinne, dass das Schlüsselerlebnis das Muster in narrativer Form auf den Punkt bringt (vgl. Spence 1982; Staemmler 2015, 131ff.). Solche Schlüsselerlebnisse haben definierenden Charakter für das Selbst, „sie sind besonders lebendig, affektiv geladen . . . und beziehen sich auf ungelöste Themen . . . im Leben des Individuums“ (Singer 1995, 449).

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wegt) und bestimmte Konsequenzen der eigenen Aktionen zu erwarten (wenn ich die Augen schließe, wird es dunkel); (2) die Selbst-Kohärenz, d. h. das Empfinden, ein vollständiges körperliches Ganzes zu sein und sowohl in der Bewegung (Verhalten) als auch im Ruhezustand über Grenzen und ein körperliches Handlungszentrum zu verfügen; (3) die Selbst-Affektivität, d. h. das Erleben regelmäßiger innerer Gefühlsqualitäten (Affekte), die Teil der übrigen Selbsterfahrungen sind; und (4) die Selbst-Geschichtlichkeit, also das Gefühl der Dauer, der Einbindung in die eigene Vergangenheit, das Gefühl eines ,fortwährenden Seins’, so daß man sich durchaus verändern kann und doch dieselbe Person bleibt. (Stern 1992, 106 – H. i. O.)

Sterns Beschreibung verdeutlicht die stark mit dem körperlichen Erleben verknüpfte Erfahrung dessen, was das Empfinden des Kern-Selbst ausmacht. Er unterstreicht: Dieses Selbstempfinden „ist kein kognitives Konstrukt; es ist die Integration des Erlebens“ (Stern 1992, 107). 18

. Das Empfinden des subjektiven Selbst Das Erleben von Urheberschaft, Selbst-Kohärenz, Selbst-Affektivität und SelbstGeschichtlichkeit bildet die Voraussetzung für einen weiteren Fortschritt in der Entwicklung, der zwischen dem siebten und neunten Lebensmonat eintritt: „Der Säugling entdeckt, daß er ein Seelenleben besitzt und dies auch auf andere Personen zutrifft“ (Stern 1992, 179). Wenn dies geschieht, hat sich ein Teil interpersonalen Geschehens von den beobachtbaren Aktionen und Reaktionen auf die inneren, subjektiven Zustände ‚hinter’ diesen Verhaltensweisen verlagert. Diese Veränderung verleiht dem Säugling eine neue ‚Präsenz’ und soziale ‚Anmutung’; (Stern 1992, 179f.)

er wird zu einer kleinen Person, die mit anderen in sozialen Situationen sinnvoll interagieren kann. Ein beeindruckendes Experiment illustriert diese neue Errungenschaft so anschaulich, dass es zu einer Art ‚Klassiker’ der Entwicklungs- und Sozialpsychologie geworden ist: das Experiment mit der „visuellen Klippe“.

 18 In seinem wunderbaren Büchlein Tagebuch eines Babys hat Stern (1991) versucht, dieses Erleben anschaulich aus der kindlichen Perspektive darzustellen.

52 | Frank-M. Staemmler

Abb. 4: Visuelle Klippe (Grafik-Design Hugo Waschkowski, Bildrechte: Frank-M. Staemmler)

Bei diesem Experiment wird das Baby, das gerade zu krabbeln gelernt hat, auf das eine Ende eines Tisches platziert. Der Tisch besteht aus zwei Blöcken, die mit einem Karomuster versehen sind (auf der Abbildung ist nur einer der beiden zu sehen). Zwischen diesen Blöcken befindet sich eine stabile Glasplatte, die eine Art Brücke zwischen den Blöcken bildet. Die Mutter steht am anderen Ende des Tisches (links, in der Abbildung für den Leser unsichtbar, für das Baby im Experiment aber deutlich zu sehen). Sie schaut ihr Baby an und lockt es mit Rufen, sodass es beginnt, sich in ihre Richtung zu bewegen (vgl. Klinnert et al. 1983, 67). Nun trifft es auf die „Klippe“, den Übergang zwischen dem Karomuster und der Glasplatte, durch die hindurch es in einen ‚Abgrund’ schaut, in den es aufgrund seiner Unerfahrenheit mit einer solchen Situation hinabzufallen droht. Allerdings spürt es unter seinen Händen eine feste Fläche. In dieser ambivalenten Situation hält es inne und schaut zur Mutter. Wenn diese ermutigend mit einem positiven Gesichtsausdruck sowie entsprechenden Lauten oder Wörtern antwortet, trauen sich ungefähr drei Viertel aller Babys, ihren Weg fortzusetzen. Wirkt die Mutter aber ängstlich oder sonst irgendwie negativ, krabbelt kaum ein Baby weiter. Der subtile kommunikative Prozess, der hier stattfindet, wird „social referencing“ genannt. Es wird definiert als ein Prozess,

Selbsterleben, Bezogenheit und Resonanz  

bei dem eine Person die Situationsinterpretation einer anderen Person nutzt, um eine eigenen Situationsinterpretation zu finden [...] Beim social referencing dient eine Person als Informationsgrundlage für die andere, und sie unterstützt, indem sie das tut, die Bemühungen der anderen, ihre Wirklichkeit zu konstruieren. (Feinman 1992, 4) 19

Es ist offensichtlich, welche empathische Leistung hier von beiden Beteiligten gefordert ist. Das Baby erschließt sich nunmehr den Bereich seines subjektiven Selbstempfindens und der intersubjektiven Bezogenheit, was direkt mit der sich nun anbahnenden sprachlichen Entwicklung zusammenhängt (vgl. Vygotskij 1934/2002).

. Das Empfinden des verbalen Selbst Stern bezieht sich auf die „zukunftsweisenden Arbeiten“ anderer Forscher (z. B. Bruner/Watson 1987), die die Ansicht vertraten, „daß die Kenntnis der Welt interpersonaler Vorgänge den eigentlichen Schlüssel zu den Geheimnissen des Spracherwerbs darstelle“ (Stern 1992, 239f.). Denn „grundlegender als die Sprache ist der Dialog [...]. Die Sprache ist nur eine von mehreren semiotischen Mitteln, mit denen Menschen mit ihrer Umgebung in Dialog treten“ (Linell 2009, xxvii); „Blickdialoge“ (Petzold 1995) sind schon in den ersten Lebensmonaten zu beobachten, und rhythmische Strukturen als Voraussetzungen für später mögliche sinnvolle Gespräche werden schon beim Stillen etabliert und eingeübt (das „turn-taking“ – vgl. Kaye 1982; Kaye/Wells 1980). Der Spracherwerb erschließt einen neuen, symbolischen Kosmos, der es ermöglicht, präreflexives Erleben zu einem gewissen Teil in reflexives zu transformieren und es dabei zugleich neu zu gestalten: Sprache dient dem reflexiven Selbst nicht nur als ein zentrales Instrument der Selbstbeschreibung, sondern auch des Selbstverständnisses sowie seiner eigenen Konstitution: „Menschen sind in wichtiger Weise durch ihre sprachlich gerahmten SelbstInterpretationen konstituiert“ (Bickhard 2008, 35), denn wie man sich sprachlich zu beschreiben lernt, hat einen großen Einfluss darauf, wie man sich versteht und damit auch wer man ist (vgl. auch Taylor 1985). Dabei baut die allmählich wachsende sprachliche Kompetenz auf den zuvor entwickelten Fähigkeiten auf und bleibt zugleich eng mit ihnen verknüpft

 19 Diese Definition des social referencing trifft natürlich nicht nur auf Babys und ihre Mütter zu, sondern auch auf Situationen unter Erwachsenen.

  Frank-M. Staemmler (vgl. Staemmler 2003b; 2015, 108ff.). Zugleich schafft er neue Formen der Verbundenheit mit anderen: Der Spracherwerb kann Zusammengehörigkeit und Nähe ungemein stärken. Tatsächlich stellt jedes neu erlernte Wort ein Nebenprodukt der Vereinigung zweier Subjektivitäten in einem gemeinsamen Symbolsystem dar, eine Erschaffung gemeinsamer Bedeutungen. Mit jedem Wort stärken die Kinder ihre innere Gemeinsamkeit mit der Mutter und später mit den anderen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft, wenn sie entdecken, daß ihr persönliches Erfahrungswissen Teil eines größeren Wissenszusammenhangs ist und sie durch eine gemeinsame kulturelle Basis mit anderen Menschen verbunden sind. (Stern 1992, 244)

Dem stehen jedoch auch Probleme gegenüber, die ohne Sprache gar nicht möglich wären. Was an Verbundenheit durch die Schaffung gemeinsamer Bedeutungen entstehen kann (vgl. Tronick 2007), lässt sich mit Hilfe der Sprache auch stören. Das beginnt mit der verbalen Diffamierung von etwas als angenehm Empfundenem („Das schmeckt dir doch gar nicht.“), setzt sich mit undifferenzierten Kategorisierungen fort („Das ist alles böse.“) und endet noch lange nicht bei nichtssagenden Worthülsen, die Perls et al. als „Verbalisieren“ bezeichneten: Das verbale Selbstempfinden kann sich von seiner ursprünglichen Verbindung zu den anderen Bereichen des Selbstempfindens mehr oder weniger isolieren, und es bildet sich eine ‚verbalisierende’ Persönlichkeit, eine Sprechweise, die unsensibel, langatmig, gefühllos, monoton, inhaltlich stereotyp, unflexibel in der Ausdrucksfähigkeit, mechanisch in der Syntax und bedeutungslos ist. (Perls et al. 2006, 144)

Mit der Marginalisierung der anderen Formen des Selbstempfindens verliert der betroffene Mensch nicht nur einen großen Teil des Kontakts zu sich selbst, sondern zugleich auch große Bereiche der Bezogenheit mit seinem Gesprächspartner. Von jemandem, der überwiegend ‚verbalisiert’ und vieles ‚rationalisiert’, fühlt man sich nicht wirklich angesprochen. Und man kann sich kaum in ihn einfühlen. Es entsteht wenig Resonanz zwischen den Beteiligten, und wenn überhaupt, dann nur eine sehr begrenzte in Form einer ritualisierten, an Konventionen und Floskeln gebundenen Konversation.

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 Empathie und Sprache in der therapeutischen Interaktion „Resonanz“ ist das Stichwort, mit dem ich nun meine Erörterung der Konsequenzen einleiten möchte, die sich aus dem bisher Gesagten ergeben. Für die therapeutische Situation gilt grundsätzlich, was Michael Balint festgestellt hat: „Wir müssen uns klar darüber sein, daß es der größte Wunsch eines jeden Patienten ist, verstanden zu werden“ (Balint 1970, 113 – H. i. O.). Dieser Wunsch bezieht sich prinzipiell auf alle Formen des Selbstempfindens, weder nur auf die verbale noch auf eine der anderen drei allein. Diese Feststellung ist allerdings recht pauschal; für eine von Empathie getragene therapeutische Praxis sind noch einige zusätzliche Aspekte zu berücksichtigen, um die nötigen Differenzierungen vornehmen zu können. Schauen wir zunächst auf den (erwachsenen) Klienten. In der Regel ist davon auszugehen, dass alle Formen seines Selbstempfindens an jeder Situation beteiligt sind, in der er sich an seinen Therapeuten wendet; das entspricht dem oben beschriebenen Entwicklungsparadigma von Stern. Aber natürlich sind nie alle Bereiche in gleichem Ausmaß aktiviert. Grundsätzlich besteht hier ein Vordergrund-Hintergrund-Verhältnis, d. h. meistens steht ein Bereich aktuell im Vordergrund des Selbstempfindens des Klienten, während die anderen in unterschiedlicher Ausprägung im Hintergrund seines Erlebens bleiben. Der Wunsch des Klienten danach, von seinem Therapeuten verstanden zu werden, ist daher in einer bestimmten Situation vorrangig der Wunsch danach, mit dem für ihn im Vordergrund stehenden Selbsterleben beim Therapeuten eine Resonanz zu finden, d. h. in diesem, mit seinem vordergründigen Selbsterleben verknüpften Bereich der Bezogenheit eine Antwort zu bekommen. Nun existieren empathische Kompetenzen keineswegs nur auf der Seite des Therapeuten. 20 In vielen Lebenssituationen, auf jeden Fall in der Psychotherapie, ist Empathie nicht einseitig, sondern gegenseitig, 21 und diese Mutualität ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass eine therapeutisch wirksame Interaktion stattfinden kann: Von der empathischen Zuwendung der Therapeutin könnte der Klient nicht profitieren, wenn er sie nicht als solche erkennen würde. Und dafür benötigt er

 20 Einseitigkeit anzunehmen entspräche wieder der oben genannten Beichtstuhl-Analogie. 21 Gegenseitigkeit bedeutet permanente Beidseitigkeit; es geht nicht um eine Wechselseitigkeit, bei der erst die eine und dann der andere an die Reihe kommt. Dialoge sind nicht dasselbe wie alternierende Monologe.

  Frank-M. Staemmler selbst empathische Fähigkeiten. Jede Empathie, die die Therapeutin ihm entgegenbringt, bliebe wirkungslos, wenn sie vom Klienten nicht auch als solche erlebt würde. Die Empathie der Therapeutin muss bei ihm zumindest teilweise ‚ankommen’, sonst bringt sie ihm im unmittelbaren Kontakt gar nichts, auch wenn die Therapeutin sich einseitig von ihm vielleicht ein klareres Bild machen kann (vgl. Staemmler 2009, 65ff.). Nehmen wir einmal an, der Klient wendet sich an seinen Therapeuten mit einer schockierenden bzw. traumatisierenden Erfahrung, durch die er stark erschüttert ist. Eine solche Erfahrung betrifft meist das Empfinden des KernSelbst und zeigt sich auch nach außen hin oft in diesem Bereich, z. B. durch heftige körperliche Prozesse wie Zittern, Hyperventilieren oder starkes Schluchzen. Der Wunsch, mit diesem Erleben verstanden zu werden, richtet sich daher primär an das entsprechende Selbstempfinden des Therapeuten; er kann für den Klienten nur in Erfüllung gehen, wenn der Klient mittels seiner empathischen Zuwendung zum Therapeuten den Eindruck gewinnt, dass dieser sich in seinem Kern-Selbst berühren lässt und dann aus dieser Resonanz heraus auf den Klienten antwortet, etwa indem er ihm körperlichen Halt anbietet. 22 Wegen des oben schon beschriebenen Charakters von VordergrundHintergrund-Verhältnissen sind in einer solchen Situation selbstverständlich Antworten in anderen Bereichen als der Kern-Bezogenheit keineswegs ausgeschlossen; sie können die Antwort des Therapeuten in diesem Bereich durchaus ergänzen und komplettieren, solange die Antwort des Therapeuten im Bereich der Kern-Bezogenheit für den Klienten im Vordergrund seines Erlebens des Therapeuten bleibt. Wenn der Therapeut darauf achtet, wird der Klient sich verstanden fühlen, und ergänzende therapeutische Antworten, z. B. im Bereich der verbalen Bezogenheit, können dann zusätzlich hilfreich sein; sie haben aber zunächst einen nachgeordneten Stellenwert. Wenn die vom Therapeuten gewählte Priorität nicht dem Erleben des Klienten entspricht, wird der Klient keine bzw. nur eine eingeschränkte Resonanz erleben und sich daher unverstanden und/oder allein gelassen fühlen. So wäre es ein Kunstfehler des Therapeuten, in dem genannten Beispiel primär sprachlich zu reagieren („Ich sehe, dass Sie erschüttert sind.“) und den Bereich der Kern-Bezogenheit mehr oder weniger im Hintergrund der Interaktion zu belassen. 23

 22 Ich rede hier bewusst von einem Angebot, denn in bestimmten Fällen können z. B. sexuell traumatisierte Klientinnen die Berührung durch einen männlichen Therapeuten nicht oder nur unter gewissen Voraussetzungen ertragen bzw. als Unterstützung für sich nutzen. 23 Vgl. Moser-Zitat im ersten Absatz des Abschnitts über „Embodiment . . .“.

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Eine solche empathische Fehlabstimmung kann im Extremfall sogar zu einer deutlichen Verschlechterung im Befinden des Klienten führen, weil er sich in seinem Wunsch nach Verständnis frustriert fühlt. Mögliche Folgen sind nicht nur ein Therapieabbruch, sondern auch ein regressiver Prozess in der Form, dass der Klient sein Erleben im Bereich des Kern-Selbst (unbewusst) noch stärker in den Vordergrund rückt und seine entsprechenden Empfindungen intensiviert, um auf diese Weise den Therapeuten noch nachdrücklicher darauf aufmerksam zu machen, dass er dessen Empathie für sein Selbstempfinden in genau diesem Bereich benötigt (vgl. Staemmler 2013). Versteht der Therapeut diesen Zusammenhang nicht, besteht die Gefahr einer weiteren Eskalation, und rein sprachlich vermitteltes Einfühlen bekommt für den Klienten eine quälende Qualität. Ich möchte noch einmal betonen, dass es dabei nicht um ein EntwederOder, sondern um ein Vordergrund-Hintergrund-Verhältnis geht. Das zu einem gegebenen Augenblick im Vordergrund stehende Erleben des Klienten muss zwar vom Therapeuten im gerade beschriebenen Sinne vorrangig beantwortet werden, aber sobald sich der Klient damit verstanden fühlt, können vom Therapeuten durchaus auch andere Bereiche der Bezogenheit zusätzlich adressiert werden. Oftmals ist das im Interesse der Förderung von Ganzheitlichkeit im Erleben des Klienten sogar wünschenswert. 24 Das gilt in spezieller Weise für den Bereich der verbalen Bezogenheit, weil hier die Möglichkeit gegeben ist, Erlebnisse aus den anderen Bereichen nachträglich zu benennen und auf diese Weise über das Hier und Jetzt hinaus zugänglich zu halten. Was mein Klient und ich nun gemeinsam in die ‚geronnene’ Form passender Worte gegossen und somit in einen neuen kognitiven Rahmen gestellt haben, können wir zu einem späteren Zeitpunkt mit Hilfe dieser Worte wieder in Erinnerung rufen und nutzen, wenn das sinnvoll oder erforderlich ist. Diese Worte können dann auch als Ausgangspunkt für eine erneute ‚Verflüssigung’ durch eine wiederholte prozessuale Aktivierung ihrer Inhalte dienen. Das therapeutische Prinzip, nach dem hier vorzugehen ist, könnte man kurz so formulieren: Hole den Klienten empathisch bei der Form seines Selbsterlebens ab, das für ihn gerade im Vordergrund steht, und erweitere dann deine Resonanz auf diejenigen der anderen Bereiche, die zunächst im Hintergrund

 24 Die Verbalisierung des Vitalitätsaffekts meiner Klientin H. im obigen Beispiel aus der Praxis fand darum erst statt, nachdem ich meine Empathie für diesen Vitalitätsaffekt durch transmodale Spiegelung kommuniziert hatte.

  Frank-M. Staemmler waren, aber für den weiteren therapeutischen Fortschritt gleichfalls relevant erscheinen. 25 In einer Kultur wie der unseren, in der der verbale Bereich der Bezogenheit oft dominiert und in der daher viele Menschen (insbesondere Männer) zum „Verbalisieren“ (im oben zitierten Perls’schen Sinne) neigen, muss das genannte therapeutische Prinzip selbstverständlich häufig auf die Art angewandt werden, dass der Therapeut seinen stark auf den sprachlichen Bereich fixierten Klienten zunächst verbal ‚abholt’. Danach wird es aber ebenso notwendig, die anderen Formen des Selbstempfindens des Klienten anzusprechen und prozessual zu aktivieren, um diese zunehmend in den therapeutischen Dialog mit einzubeziehen, sodass ein ganzheitlicher Veränderungsprozess möglich wird. Die Methode des experiential confrontation, von der schon die Rede war, dient exakt diesem Zweck.

 Zusammenfassung Ich hoffe, dass auf den vorangehenden Seiten klar geworden ist, in welcher Beziehung Empathie und Sprache in der Psychotherapie aus meiner Sicht stehen: Die Empathie des Therapeuten kann sich auf verschiedene Formen des Selbsterlebens des Klienten beziehen, von denen eine die verbale ist. Auch die Art und Weise, auf die der Therapeut seine Einfühlung in das Erleben seines Klienten zum Ausdruck bringt, kann verschiedenen Formen seines Selbsterlebens entspringen. Die empathische Resonanz zwischen den Beteiligten entsteht, wenn sie sich im gleichen Bereich der Bezogenheit begegnen, gleichgültig, ob das zunächst der verbale Bereich oder irgendein anderer ist. Dabei sollte der Therapeut sich daran orientieren, welche Form des Selbstempfindens für den Klienten gerade im Vordergrund steht. Ist eine Begegnung in dem gemeinsam aktivierten Bezogenheitsbereich gelungen, können dann auch andere für den therapeutischen Prozess relevante Bereiche aktiviert und für die empathische Resonanz genutzt werden. Die sprachliche Beschreibung des im empathischen Dialog gemeinsam Erarbeiteten ermöglicht es schließlich, die Resultate des therapeutischen Prozesses – immer wieder zwischendurch sowie abschließend summarisch – auf den Begriff zu bringen und dadurch für die Zukunft verfügbar zu halten.

 25 Dieses Prinzip wird manchmal kurz „pacing and leading“ genannt.

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Das Verhältnis von Empathie und Sprache in der Psychotherapie bestimmt sich somit nach dem Maßstab einer fein abgestimmten Bezogenheit, durch die eine lebendige Resonanz zwischen den Beteiligten gefördert wird.

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Thomas Stodulka

Zauberformel, Scharlatanerie, Projektion? Empathie als Methode und Emotion als Erkenntnis ethnographischer Forschung Zusammenfassung: Dieser Artikel widmet sich dem Miterleben als epistemologischen Zugang zu ethnographischem Wissen in Feldforschungen. Dabei gehe ich von einem relationalen Verständnis des Miterlebens aus: Als verkörperte, fühlende, sensorische und wissenschaftlich Sinn stiftende Instrumentarien erleben Ethnograph*innen ihr Feld immer in Bezug zum Erforschten. Feldforschung bezieht biographische und somit leibliche Erfahrungen in das Erleben und die wissenschaftliche Interpretation des im Feld Beobachteten und Dokumentierten mit ein (Amit 2003; Atkinson 2015; Gergen/Gergen 2002; Spittler 2001). Auf dieser Basis werde ich versuchen, Empathie zu definieren und in einer erweiterten Fokussierung der Affekte und Emotionen von Feldforscher*innen als essentielle Komponente des erfahrungsbasierten Verstehens Anderer methodologisch zu operationalisieren. Ich möchte in diesem Artikel ausführen, warum sich der Begriff der „Empirischen Affektmontage“ diesbezüglich anbietet, und weshalb Empathie, Affekt oder Emotion aus kultur- und sozialwissenschaftlicher Sicht methodologisch und erkenntnistheoretisch zielführend, und daher weder unreflektierte Zauberformel oder ‚Projektionen des Forschers‘ (Geertz 1983) noch experimentell-künstlerische Scharlatanerie oder esoterischer California speak (vgl. Okely 2012) sind. Schlüsselwörter: Affekt, Emotionen, Empathie, Empirismus, Epistemologie, Ethnographie, Methodologie, Montage, Repräsentation

 Thomas Stodulka, Institute of Social and Cultural Anthropology, Freie Universität Berlin, Landoltweg 9-11, 14195 Berlin, Tel.: +49-(0)30-838-57689, thomas.stodulka[at]fu-berlin.de https://doi.org/10.1515/9783110679618-004

  Thomas Stodulka

1 Sozial- und Kulturanthropologie: Selbstverständnis und Methodologie Anthropology, for me, is philosophy with the people in.

(Tim Ingold 2014)

Die Sozial- und Kulturanthropologie pflegt Forschungsperspektiven, aufgrund derer sie sich auch in Zeiten interdisziplinärer Forschungsmaximen (oder vielleicht gerade deswegen) von Nachbardisziplinen unterscheidet. In Handbüchern zur Einführung in die Disziplin (vgl. Haller 2005; Heidemann 2011) wird betont, dass traditionell die Froschperspektive als Perspektive von unten, klassischerweise eine wesentliche Rolle spielte, etwa von Minderheiten oder Marginalisierten, da diese aufgrund ihrer Außenseiterrolle in ihren jeweiligen Gesellschaften einen analytischeren Blick entwickelten als hegemoniale Akteure. Ein weiterer wichtiger Blickwinkel ist die Perspektive von innen (die so genannte emische Perspektive, im Vergleich zur etischen Perspektive als abstrahierendem Blick von außen), also der Versuch, erlebte und erfahrene Alltagswirklichkeiten von Personen und Kollektiven zu dokumentieren, zu verstehen und zu erklären. Mit dem Beginn der so genannten „modernen“ Sozial- und Kulturanthropologie in den 1920er und 1930er Jahren entwickelte sich die Feldforschung als bedeutendes Verfahren zur Datenerhebung bzw. -konstruktion (vgl. Malinowski 1922; Mead 1928). Eine besondere Rolle spielt dabei nach wie vor die Teilnehmende Beobachtung, worunter die Integration und das Eintauchen des Feldforschers in das Alltagserleben einer Gruppe gefasst wird, mit dem Ziel, ihren Alltag auch angesichts persönlichen und kollektiven Erfahrens und Erlebens zu verstehen und ethnographisch nachvollziehbar zu beschreiben. Diese mehrmonatige Augenzeugenschaft (auch als witnessing oder being there beschrieben) vor Ort bei und mit den Menschen über die ethnographisch geschrieben wird, ist Grundlage sozial- und kulturanthropologischer Forschung. Dies unterscheidet die Disziplin methodologisch von den Cultural Studies/Kulturwissenschaften, von der qualitativen Soziologie oder den Politikund Regionalwissenschaften (Area Studies), die klassischerweise Interviews führen und, wenn überhaupt, Teilnehmende Beobachtungen innerhalb kürzerer Zeiträume und ohne den expliziten Anspruch das Alltagserleben nachvollziehen zu können, durchführen. Die Besonderheit der Teilnehmenden Beobachtung, die irrtümlicherweise außerhalb der Sozial- und Kulturanthropologie oft mit dem Begriff der ethnographischen Methode synonym verwendet wird, ist das kommunikationsgeleitete Vorgehen, um sich bei der Arbeit von den Begegnungen und Eindrücken vor Ort leiten zu lassen. Dies bedeutet nicht, dass nicht

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etwa konkrete Fragestellungen formuliert oder methodische Verfahren erlernt und im Rahmen einer ethnographischen Feldforschung zum Einsatz kommen würden. Im Vergleich zu benachbarten, empirisch arbeitenden Disziplinen begreift sich Ethnographie jedoch als offener, explorativer und prozessorientierter (vgl. Sluka/Robben 2012). Neben der physisch und psychisch anspruchsvollen und zeitaufwändigen Teilnehmenden Beobachtung (die je nach Forschungskontext gewissermaßen kontinuierlich – mal mehr, mal weniger systematisch – immer nebenher läuft) können je nach Forschungsfeld und frage verschiedene weitere qualitative oder quantitative Techniken der Datengewinnung zum Einsatz kommen (siehe Abbildung 1). Aufgrund weiterer ethischer Überlegungen und den spezifischen Gepflogenheiten des jeweiligen Feldes werden Beobachtungen oder Narrative unter dem Einsatz von Audiorecordern, Videokameras oder Feldnotizen (offline oder online, in situ oder als Gedächtnisprotokolle) dokumentiert.

Abb. 1: Eine schematisch-selektive Übersicht über Feldforschungsmethoden (Eigene Grafik)

  Thomas Stodulka Bei der Transkription, Übersetzung, Reflexion, Interpretation und Analyse der generierten Feldforschungsdaten (vgl. Cook 2015; Knoblauch 2014; Liebert 2016) ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine zunehmende Prominenz der so genannten Grounded Theory (vgl. Breuer 2010; Glaser/Strauss 1967), d. h. einer empirisch geleiteten Thesen- und Theoriegenese, oder auch der Analytischen Induktion (vgl. Katz 2001) aus der Soziologie zu beobachten. Erstgenannte wird überwiegend von Phänomenologen als „positivistisch“, „codierungsfanatisch“ und „szientistisch“ kritisiert (vgl. Davies/Stodulka 2019; Cerwonka/Malkki 2007). Durch die Codierung von Daten gehe das genuin Anthropologischinterpretative verloren, da dabei implizites und nicht artikuliertes, nicht offensichtliches, aber erfahrbares Wissen wenig bis keine Berücksichtigung finden könne. Soziale, kulturelle und affektive Wirklichkeiten und Alltagserleben seien nicht durch quantifizierte Codes erfassbar, sondern könnten nur in einem ergebnisoffenen Reflexionsprozess des Ethnographen als Text abgebildet werden (vgl. Jackson/Piette 2015). Ich möchte mich in diesem Methodenbeitrag nicht positionieren, sondern versuchen, beide Perspektiven in einem integrativen Ansatz miteinander in Verbindung zu setzen. Ob sich Feldforscher einem „Codierungswahn“ hingeben, hermeneutisch-interpretative oder experimentelle Methoden der Datengenerierung und -analyse wählen, ethnographische Forschung und deren Repräsentation bleibt jenseits epistemologischer Überzeugungen und Präferenzen ein permanentes Oszillieren zwischen der Generierung von Daten, ihrer Reflexion, Analyse, Interpretation und Verschriftlichung einerseits, und der Immersion in ‚Andere‘ Lebenswelten (vgl. Liebert in diesem Band) bei gleichzeitigem Anspruch auf analytische Distanz andererseits. Letzteres äußert sich in einem disziplinären Anspruch, gleichzeitig empathischer, involvierter und teilnehmender Feldforscher, der die Nähe zu seinen Informanten, Gastfamilien oder bestimmten Kollektiven sucht, und distanzierter Beobachter zu sein, der die miterlebten und bezeugten Situationen aus dem Feld am Schreibtisch distanziert und wissenschaftlich beschreibt.

2 Der lange Schatten des Traditionellen Empirismus Aus diesem einleitenden Überblick wird ersichtlich, dass die ethnographische Methodologie weit mehr ist als traditionell empirische Methodik. Sie umfasst nicht nur einen facettenreichen Baukasten aus unterschiedlichen Techniken und Verfahren der Datenkonstruktion bzw. -erhebung, sondern zeichnet sich

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durch den Versuch aus, die Perspektive derjenigen Menschen zu übernehmen über die, oder besser, mit denen geforscht wird. Dieser Versuch, sich auf der Basis mehrmonatigen oder mehrjährigen Zusammenlebens, durch das Teilen des Alltages (und anschließende jahrelange oftmals direkte oder mediatisierte Kommunikation) einerseits in zunächst fremde Felder, Sprachen oder Personen hineinzuversetzen, dies in wissenschaftliche Repräsentationsformen und akademisch-disziplinäre Genrekonventionen zu übersetzen, und als Text zu erklären, ist besondere Herausforderung sozial- und kulturanthropologischer Empirie (vgl. Ghodsee 2016). Das Erzeugen einer atmosphärischen Dichte, die sich aus dem Zusammenspiel induktiver Beschreibung und Thesenbildung bzw. empirischer und theoriegeleiteter Argumentation speist, ist aus epistemologischer Perspektive eine Besonderheit der Ethnographie im Vergleich zu anderen Genres wissenschaftlichen oder essayistischen Schreibens. Unter der Verwendung unterschiedlicher Methoden verfolgt diese das Ziel, verschiedene Arten von Daten (Beobachtungen, Interviews, Archivmaterial, Medien, experimentelle Verfahren, quantifizierte Statistiken, etc.) zu generieren, um die sozio-kulturelle Realität in der sich im Feld Forschende gemeinsam mit ihren Forschungssubjekten (die oft auch als Protagonisten bezeichnet werden) bewegen, so ‚dicht‘ wie möglich als Text zu repräsentieren (vgl. Geertz 1973). Ethnographien erheben den Anspruch, keine eindimensionalen Analysen untersuchter Phänomene zu sein, sondern komplexe und anspruchsvolle Versuche, die Lebenswelten ‚Anderer’ (und zunächst durchaus fremder Menschen, zunehmend auch anderer Spezies) nachvollziehbar in (wissenschaftliche) Sprache zu übersetzen. Ethnographie ist demnach weder reine qualitative Sozialforschung noch phänomenologisches Gedankenexperiment oder gar Fiktion. Sie bewegt sich seit über hundert Jahren je nach Zeitgeist und Präferenz irgendwo zwischen diesen beiden Polen (vgl. Sluka/Robben 2012). Eine besondere Herausforderung ist hierbei, dass Feldforscher als methodologische ‚Instrumente‘, welche diese Daten erheben „menscheln“. Ihre Positionalität, Präferenzen, Affekte und Emotionen beeinflussen die wissenschaftliche ratio nicht nur, sondern sie bedingen die wissenschaftliche Forschungspraxis im Feld (vgl. Dilger/Huschke/Mattes 2015; Haraway 1988). Dieser epistemische Fakt wird vor allem dann besonders offensichtlich, wenn die Grundprämisse ethnographischer Datenerhebung ernst genommen wird: Feldforschung ist zuallererst immer eine Begegnung mit Menschen, Lebewesen, Orten, Räumen, Materien, Phänomenen und Situationen (vgl. Stodulka 2014a; 2015). Die versuchte Perspektivübernahme, die Artikulation, der emphatische Ausdruck oder (die Verschleierung von) Emotionen sind dabei entscheidende Medien wissen-

  Thomas Stodulka schaftlicher Praktiken, der Kommunikation und Interaktion zwischen Forschern und Erforschten. Folgt man dem Paradigma des Traditionellen Empirismus, der die Subjektivität, Leiblichkeit und Affektivität des Forschers weitgehend negiert bzw. zu disziplinieren versucht (vgl. Davies/Stodulka 2019), so kann der empirischen Ethnographie ein offensichtliches methodologisches Dilemma, wenn nicht gar epistemologisches Problem attestiert werden. Ich möchte dieses als eine Affektivitätsspirale bezeichnen, die sich zunächst in der wissenschaftlichen Praxis des Ethnographen in Feldforschungsbegegnungen als leiblicher Mensch mit einem gewissen sozialen Hintergrund, Aussehen oder Habitus manifestiert. Diese Positionalitätsmarker beeinflussen die Handlungen und das Sprechen seiner Gegenüber nicht nur mit ihm, sondern über sich und auch andere ganz entscheidend. Seine Gegenüber mit der ihrerseits verkörperten Lebensgeschichte und Erwartungshaltung an ihn als Wissenschaftler und Person beeinflussen als Feedback die interaktive Praxis des Ethnographen, seinen emotionalen Ausdruck und wie er der jeweiligen Situation oder Interaktion Sinn zuschreibt – dies beeinflusst wiederum seine Gegenüber in ihrer Performanz, ihrem Handeln und Sprechen. Die ethnopsychoanalytische Forschungstradition spricht hierbei von Übertragung und Gegenübertragung (vgl. Bonz et al. 2017; Devereux 1967; Nadig 2004). Die Praxis der Teilnehmenden Beobachtung, aber auch komplementärer Methodiken (siehe Abbildung 1) erschafft Affektivitätsspiralen, die im Zuge traditionell empirischer Repräsentationslegitimation entweder ausgeblendet oder defensiv als „Feldforschungsschatten“ (vgl. Leibing/MacLean 2007) beschrieben werden, derer man sich durch methodologische Verfahren zwar entledigen müsse, jedoch eigentlich nicht könne. Das folgende Zitat aus einem viel zitierten Feldforschungshandbuch verdeutlicht das Dilemma des Ethnographen: People tend to record as data what makes sense to and intrigues them. Selectivity cannot be eliminated, but it is important to be aware of how it affects data collection, and hence, the usefulness and credibility of research results. To develop such awareness, people collecting data should be aware of the effects of both tacit and formative theory. These are the sources of selectivity (and bias) because they create something analogous to a filter that admits relevant data and screens out what does not seem interesting – even if, with hindsight, it could have been useful. (Le Compte 2004, 146)

Das Zitat kann stellvertretend für eine reflexive Rhetorik ethnographischer Forschung stehen. Feldforschern stellt sich jedoch die Frage, wie sich die Forschersubjektivität im konkreten Forschungsprozess eingrenzen oder gar zähmen lässt, um den epistemologischen Maximen eines traditionellen

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Empirismus, der ‚objektivierte Daten‘ einfordert, gerecht zu werden. Ich argumentiere im Folgenden in eine entgegengesetzte Richtung. Anstatt zwischen stillschweigender und formativer Theorie zu unterscheiden, oder das bias selektiv vom Datum zu trennen, erscheint es methodologisch und epistemologisch zwingend, die Subjektivität ethnographischer Entscheidungs- und Reflexionsprozesse offensiv anzugehen, offen zu reflektieren und zu denjenigen unserer Forschungssubjekte in Beziehung zu setzen (vgl. Breuer 2010; Stodulka 2014a; 2015; 2017).

3 Radikaler Empirismus, Empathie und Emotion In Erweiterung des Traditionellen Empirismus möchte ich im Folgenden die Rolle von Empathie, Affekt und Emotion des Feldforschers als zentrale zwischenmenschliche Kommunikationsmedien, empirische Kompetenz und wissenschaftliche Sinnzuschreibungen jenseits sprachlicher Äußerungen diskutieren. Um diese Frage epistemologisch nachvollziehbar zu verfolgen, möchte ich zunächst kurz eine sozial- und kulturanthropologische Perspektive auf den Radikalen Empirismus (vgl. James 1907; 1912) illustrieren und diese als komplementären Entwurf zum traditionell-empirischen Forschungsparadigma formulieren. Ethnographische Daten im radikal empirischen Sinne sind nicht nur diejenigen Phänomene, die traditionell-empirisch (zumeist visuell oder auditiv) messbar sind, sondern auch jene, die in der Begegnung mit den oder dem Erforschten hörbar, schmeckbar, riechbar, tastbar, fühlbar, kurz zwischenmenschlich erfahrbar werden (vgl. Ellis 1997; Stoller/Olkes 2012) und sich somit traditionell empirischer Dokumentation zunächst entziehen. Überraschend ist bis heute, dass diese weniger offensichtlichen und nicht hörbaren Dimensionen ethnographischer Beobachtungen und Erfahrungen in Feldforschungen bisher nur selten systematisch dokumentiert wurden bzw. empirisch nachvollziehbar in wissenschaftliche Analysen eingeflossen sind. Grundlegende Prämisse in der Formulierung einer relationalen Methodologie ist, dass erforschte Phänomene nicht für sich bestehen und demnach vom Forscher auch nicht ‚entdeckt‘ und mithilfe einer Methodenbox ‚kalt‘ erhoben werden können. Auch Beobachtbares, sprachlich Erfragbares oder die Erzählungen von Informanten als Grundlagen des ethnographischen Narrativs entstehen immer erst in der Begegnung zwischen Forschern und Erforschten bzw. in der Bezeugung dessen (im Falle der Beobachtung und Dokumentation Anderer) seitens des Ethnographen. Die Intersubjektivität ethnographischer Wissensgenerierung anzuerkennen, bedeutet,

  Thomas Stodulka die Praxis ethnographischer Feldforschung als relationale Methodologie zu begreifen, welche die Kommunikation und Beziehung zwischen Forschern und Erforschten als deren Grundlage versteht. Ausgehend von dieser methodologischen Gegebenheit stellt der Sozial- und Kulturanthropologe Michael Jackson radikal empirische Überlegungen als ethnographisches Paradigma heraus: [T]he importance of this view for anthropology is that it stresses the ethnographer’s interactions [sic.] with those he or she lives with and studies, while urging us to clarify the ways in which our knowledge is grounded in our practical, personal and participatory experience in the field as much as our detached observations. Unlike traditional empiricism, which draws a definite boundary between observer and observed, between method and object, radical empiricism denies the validity of such cuts and makes the interplay [sic.] between these domains the focus of its interest. (Jackson 1989, 3 – H. i. O.)

Ich möchte Jacksons Vorschlag aufgreifen, die interaktive Erfahrungsdimension des Feldforschers systematisch in den Fokus ethnographischer Datenkonstruktion, -dokumentation und -analyse zu rücken. Um dabei auch die offensichtlich affektive oder emotionale Dimension ethnographischer Interaktion und Kommunikation als relationale Erkenntnismedien zu berücksichtigen, werde ich Empathie zunächst als Versuch und Prozess gegenseitigen Verstehens (Forscher-Erforschte) und Nachvollziehens (und nicht deren Übereinstimmung) fokussieren. Das Phänomen des ethnographischen Sich-zu-Anderen-in-BeziehungSetzens wird in methodologischen Diskussionen überwiegend im Kontext von Ethik und Reziprozität verhandelt, die erklären sollen, wie Feldforscher Zugang, Vertrauen und Beziehungen zu den Erforschten, und somit Daten mit ihnen, zumeist jedoch über sie herstellen (vgl. von Vacano 2019). Dabei stehen soziale Beziehungen mit Informanten als reziproke Praktiken der Gabe bzw. Gegengabe im Zentrum, um für die Teilhabe am geteilten und kommunizierten Wissen, das wissenschaftlich-ethnographisch extrahiert werden kann, zu kompensieren (vgl. Glowczewski, Henry/Otto 2013). Es ist zu beobachten, dass diese methodologischen Diskurse Schwierigkeiten haben, zu erklären, wie Beziehungen und Vertrauen zwischen denkenden und fühlenden Akteuren nicht nur entstehen und aufrecht erhalten werden, sondern wie positionierte Aushandlungsprozesse gegenseitigen Verstehens, bei denen auch Affekt und Emotionen eine nicht unbedeutende Rolle spielen, während der Feldforschung als wissenschaftliche Daten begriffen werden können. Um die Intersubjektivität ethnographischer Forschung auch angesichts ihrer affektiven Dimension als Heuristik zu begreifen, möchte ich Empathie als kognitiv-affektive Kompetenz ethnographischer

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Perspektivübernahme diskutieren, die nicht per se die Übernahme (aber deren Akzeptanz) von Perspektiven der/des gemeinsam Erforschten impliziert. Im Dialog mit den Autoren dieses Sammelbandes möchte ich zunächst die Vielschichtigkeit der Empathie als Forschungsgegenstand unterstreichen. So stellt Thiemo Breyer zur Diskussion, ob Empathie weniger als moralisches Gefühl, das es zu kultivieren gelte, als vielmehr neutrale Ressource zu betrachten sei, die zum Guten wie zum Bösen eingesetzt werden könne (vgl. Breyer in diesem Band). Maxi Kupetz fokussiert sprachliche Empathiedarstellungen in sozialen Interaktionen (vgl. Kupetz in diesem Band). und Klaus-Peter Konerding diskutiert Empathie im Kontext menschlich-sprachlicher Verständigung (vgl. Levinson 2006), sozialer und emotionaler Intelligenz (vgl. Goleman 1995) (vgl. Konerding in diesem Band). In Anlehnung an Wolf-Andreas Liebert möchte ich Empathie im Folgenden als „explorative Fähigkeit“ (Liebert in diesem Band) ethnographischer Forschung ausloten. In Referenz an den Beitrag von Konerding verstehe ich Empathie nicht in erster Linie als soziale oder emotionale Intelligenz, sondern als soziale und emotionale Kompetenz ethnographischer Forschung – als wissenschaftliche Kompetenz und den Versuch, das Miterleben anderer sowohl kognitiv als auch affektiv nachvollziehbar zu dokumentieren, zu interpretieren und zu repräsentieren ohne damit übereinstimmen zu müssen. Dabei soll Empathie zunächst abgekoppelt von Mitgefühl, Sympathie oder Antipathie betrachtet werden. Versteht man Empathie in Anlehnung an die Psychologischen Anthropologen Douglas Hollan und Jason Throop als “a first-person like perspective on another that involves an emotional, embodied, or experiential aspect” (Hollan/Throop 2008, 391), so lässt sich Empathie methodologisch operationalisieren, ohne transkulturelle zwischenmenschliche Verstehens- und Empfindungsprozesse zu romantisieren (vgl. Gable 2014; siehe auch Kapitel 10 zur Kulturreflexion in diesem Buch). Im Vergleich zur Psychologie und Philosophie (vgl. Batson 2009; Breyer 2015; Stueber 2006) war der sozial- und kulturanthropologische Beitrag zu Empathie in den letzten Jahrzehnten marginal und wurde erst vor Kurzem von psychologischen Anthropologen wiederbelebt (vgl. Engelen/Röttger-Rössler 2012; Hollan/Throop 2011; Stodulka 2014b; Svašek 2010; von Poser 2013). Ich möchte auf diesen Beiträgen aufbauen und Empathie als Versuch kognitivaffektiven Verstehens definieren. Unter Bezugnahme auf den Sozialpsychologen Daniel Batson, der eine Typologie wissenschaftlicher Definitionen von Empathie erstellte, verstehe ich Empathie weiterhin als die menschliche Fähigkeit interaktionaler Perspektivübernahme, die Ethnographen den Versuch ermöglicht, sich vorzustellen, wie Andere in bestimmten Situationen denken und fühlen: “At issue is not so much what one knows about the feelings and thoug-

  Thomas Stodulka hts of the other but one’s sensitivity to the way the other is affected by his or her situation” (Batson 2009, 7). Hollan/Throop heben die affektive Dimension von Empathie hervor, welche ich an dieser Stelle noch einmal unterstreichen möchte: “The emotional aspect is one of the things that distinguish it from other ways of knowing about people” (Hollan/Throop 2008, 392). In Anbetracht des Verständnisses von Empathie als intentionale, handlungsorientierte und dialogische bzw. relationale Kompetenz soll diese nicht als dialektische Dichotomie verstanden werden, in der sich Person A mit Person B (oder umgekehrt) in Beziehung setzt, sondern als relationales, reziprokes, sowohl kognitives als auch affektives attunement zwischen einem positionierten A und einem oder mehreren positionierten B in einem bestimmten Raum, einer konkreten Forschungssituation oder -begegnung. Gerade die methodologische Fokussierung der affektiven Dimension von Empathie kann theoretisch fundiert eine übertriebene Geertzsche Skepsis hinterfragen, die als Angst und Warnung vor unreflektierter und ethnozentristischer Projektion seitens des Ethnographen seit den 1980er Jahren hartnäckig in methodologischen Diskussionen erhalten bleibt (vgl. Gable 2014; Hollan 2008). Im Hinblick auf zunehmende posthumanistische Forschungen, in welchen Sozial- und Kulturanthropologen die Begegnung mit Technologien, Epistemen (vgl. Lehmann/Stodulka/Huber 2018) und anderen Spezies (Tiere, Pflanzen, Organismen) in den Blick nehmen und ihnen ontologisch Subjektivitäten und Positionalitäten zuschreiben (vgl. Haraway 2016; Tsing 2015) wäre zu diskutieren inwieweit Empathie, Affekt und Emotionen auch in multispezifischen Begegnungen als Methodologie gegenseitigen Verstehens verstanden werden könnten (vgl. Stodulka/Selim/Mattes 2018).

4 Empirische Affektmontage: relationale und reflexive Methodologie Our task is to investigate how certain emotions evoked during fieldwork can be used to inform how we understand the situations, people, communities, and interactions comprising the lifeworlds we enter. (Davies 2010, 1)

Der Fokus auf die affektive und nicht rein kognitive Dimension des erfahrungsbasierten Verstehens anderer Positionalitäten oder Personen steht im Zentrum des Entwurfes einer relationalen und emotional-reflexiven Methodologie. Dabei möchte ich mir das Potential von Emotionen als interaktives Phänomen zwi-

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schen, und nicht nur in Menschen, erkenntnistheoretisch zunutze machen (vgl. Röttger-Rössler/Stodulka 2014; Stodulka 2017; von Scheve/Slaby 2019). Ich widme mich im Folgenden der Frage, wie Affekt und Emotionen, die in Begegnungen zwischen Forschern und Erforschten entstehen und verhandelt werden, zu einem empirisch nachvollziehbaren ‚dichten‘ Verständnis der Lebenswelten im Feld beitragen können (vgl. Hastrup 2010; Heaton Shresta 2010; Wikan 1992). Ich möchte darstellen, wie die systematische Montage der vom Ethnographen während der Feldforschung wahrgenommenen Affekte, dokumentierten und anschließend interpretierten Emotionen mit anderen (traditionell-empirischen) Daten neue Sichtweisen auf empirisches Material eröffnen kann. Ich bezeichne diese methodologische Praxis, welche das affektive Erleben und die Forscheremotionen nicht als Anekdoten, sondern als relationale ethnographische Daten begreift, im Folgenden als Empirische Affektmontage. Dadurch, dass Forscher auch im Feld nie einfach nur so vor sich hin fühlen, sondern dies in Relation zu ihrer sozialen, imaginierten und räumlichen Umgebung tun, bergen Affekt und emotionale Erfahrung eine wissenschaftliche Erkenntnis, die bisher theoretisch und methodologisch weitgehend unbeleuchtet geblieben ist (vgl. Lubrich/Stodulka/Liebal 2018). Um die Anwendbarkeit dieses empirisch generierten Gedankenexperiments – ein Resultat aus eigenen Feldforschungen in den vergangenen 15 Jahren – empirisch als Forschungspraxis zu erproben, wurden 30 Ethnographen eingeladen, ihre Emotionen während ihrer Feldforschungen in den Jahren 2014 bis 2016 anhand eines semi-strukturierten Emotionstagebuchs, welches Raum für narrative Beschreibungen, affektive Assoziationsketten und Skizzen ließ, zu beschreiben. Diese wurden je nach Feldforschungsbedingungen und Präferenz handschriftlich oder am Laptop strukturiert, semi-strukturiert oder offen über mehrere Wochen oder Monate geführt. Die Emotionstagebücher sollten Forscher in dreierlei Hinsicht unterstützen. Erstens fungierten sie als Hilfestellung, sich emotionale Herausforderungen zunächst ‚von der Seele zu schreiben‘ und sich somit selbstreflexiv zu vergegenwärtigen (psychologische Dimension). Zweitens dokumentierten die Forscher darin zunächst schwer Begreifbares oder Rätselhaftes, das sich rein rationalen oder traditionell empirischen Erklärungen zunächst entzog, jedoch aus affektiver Perspektive festhalten ließ, um es in Retrospektive (im Feld oder am Schreibtisch oder beides) wissenschaftlich analysieren zu können (epistemische Dimension). Drittens halfen sie Ethnographen dabei, sich in ihrem Alltag zu organisieren und achtsam durch anstehende Feldbegegnungen zu navigieren (strategische Dimension). Folgende Fragen sollten diese drei Dimensionen in den Emotionstagebüchern abbilden. Sie ziel-

  Thomas Stodulka ten in erster Linie auf die Relationalität emotionaler Erfahrungen ab, indem sie an Begegnungen, Personen, Räume und Situationen gekoppelt wurden. 1. Psychologische Dimension: Was muss ich jetzt unbedingt aufschreiben? 2. Epistemische Dimension: Welches Gefühl beschreibt mich heute am besten? Ist dieses Gefühl an eine bestimmte Situation oder Person geknüpft? Wer oder was hat mich heute beeindruckt oder überrascht? Das bin ich hier im Feld (als Skizze oder Beschreibung). 3. Strategische Dimension: Wonach sehne ich mich? Das nehme ich mir für morgen vor. Die Emotionstagebücher sollten traditionell-empirische Dokumentationsformate (z. B. Beobachtungsprotokolle, objektivierte Feldnotizen, Interviewaufnahmen, visuelle Dokumentationen etc.) nicht ersetzen, sondern sie ergänzen. Sie sollten eine weitere Datendimension ermöglichen, die in ethnographische Analysen systematisch mit einfließen kann. Die Emotionstagebücher sollten Ethnographen zudem dabei unterstützen, Feld-Erfahrungen nachträglich zu rekonstruieren und zu ihren komplementären Beobachtungen und Dokumentationen systematisch in Beziehung zu setzen. Die Dokumentation von Forscheremotionen, ihrer Berücksichtigung in der Datenanalyse und im ethnographischen Schreiben, so die Annahme, unterstützt Feldforscher in ihren Unternehmungen, ethnographische Wissensproduktion transparent und nachvollziehbar mit denjenigen (Lesern oder Kollegen) zu kommunizieren, die nicht im Feld anwesend waren. Neben einer methodologischen Erweiterung und praxeologisch-selbstreflexiven Hilfestellung für Feldforscher soll damit auch der interdisziplinären Kommunikation und der Wissenschaftskommunikation angesichts einer zunehmenden „Krise der Expertenkultur“ Rechnung getragen werden (vgl. Schäfer in diesem Band). Die Kommunikation wissenschaftlicher Praktiken, welche den Wissenschaftler immer im Rahmen einer epistemologischen Zielführung und nicht etwa einer Nabelschau – auch als fühlenden Menschen zeigt, birgt möglicherweise das Potenzial ein differenzierteres Verständnis von Wissenschaft in der Öffentlichkeit zu befördern. Dabei ist die Thematisierung von Forscheremotionen keineswegs Neuland im Verfassen von Ethnographien. Viele Ethnographen haben ihre Emotionen in Einleitungen und Methodenkapiteln beschrieben, seltener jedoch methodologisch diskutiert und (für nicht Feldforschende) nachvollziehbar in Bezug auf die Präsentation wissenschaftlicher Daten erläutert (vgl. Berger 2010; Crapanzano 2010; Davies/Spencer 2010; McQueeney/Lavelle 2017; Rosaldo 1989; Spencer 2010). Vor allem die Thematisierung der eigenen Positionalität ist spätestens

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seit der Writing Culture Debatte gängige Praxis ethnographischen Schreibens (vgl. Bachmann-Medick 1996; Behar/Gordon 1995; Clifford/Marcus 1986; Marcus/Fischer 1986; Poewe 1996); eine Rhetorik, in der Ethnographen ihre Forschungsethik, ihren Zugang zum Feld, und ihre Reflexivität angesichts ethnographischer Repräsentation darstellen. In Erweiterung dieser literarischen Reflexivität, die sich zumeist erst am Schreibtisch und retrospektiv manifestiert, argumentiere ich für eine systematisch dokumentierte emotionale Reflexivität, die bereits während der Feldforschung z. B. mithilfe der vorgestellten Emotionstagebücher systematisch dokumentiert und praktiziert werden kann. Theoretische Grundlage meines Argumentes ist die wissenschaftliche Übereinkunft, dass Emotionen in sozialen Beziehungen und Begegnungen mit Informanten, Gesprächspartnern, Mitarbeitern, Forschungspartnern, Orten und Situationen entstehen und diese beeinflussen. Forscheremotionen können als epistemisch begriffen werden, da sie per definitionem Erfahrungsphänomene und Kommunikationsmedien sind, die Menschen zu- und miteinander in Beziehung setzen. Die systematische Dokumentation emotionaler Erfahrung verspricht zudem, die emotional literacy sprachlich zu schulen und somit auch die Erfahrungen von Erforschten wissenschaftlich nachvollziehbarer zu formulieren. Die Möglichkeit, unterschiedliche Datendimensionen entweder bereits während der Feldforschung oder am Schreibtisch (oder beides) miteinander zu ‚montieren‘ verspricht die im Rahmen konventioneller Methoden (Feldnotizen, Interviews, Gesprächs- und Verlaufsprotokolle, Fokusgruppendiskussionen etc.) erhobenen Feldforschungsdaten über ‚Andere‘ zu verdichten und die Transparenz ihrer Entstehung zu erhöhen. Die teilnehmenden 30 Ethnographen haben diese Methodologie erprobt und im Rahmen eines Sammelbandes (vgl. Stodulka/Dinkelaker/Thajib 2019) Artikel verfasst, welche die eine Empirische Affektmontage in unterschiedlicher Art und Weise anwenden. Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie zentrale Forschungsergebnisse aus einer Position heraus analysieren und beschreiben, die auf einer systematisch praktizierten emotionalen Reflexivität basieren. Manche Autoren analysierten einzelne Passagen ihrer Emotionstagebücher hermeneutisch-interpretativ, andere unterzogen sie einer qualitativen Inhaltsanalyse. Wiederum andere ersetzen bereits nach wenigen Monaten ihrer Feldforschung ihr konventionelles Feldtagebuch durch ein Emotionstagebuch, das sie an ihre Bedürfnisse anpassten. Je nach methodologischer Überzeugung, theoretischer Ausbildung und Genrekonvention fand die Empirische Affektmontage direkt während der Teilnehmenden Beobachtung (Verschmelzen von Emotions- und Feldtagebuch), als ad hoc Analysen im Feld (Vergleichende Lektüre der Emotionstagebücher und konventioneller Daten), am Schreibtisch im Anschluss an

  Thomas Stodulka die Feldforschung (Analyse der Emotionstagebücher und Vergleich mit den konventionellen Daten) oder als Dialog zwischen Forschern (gegenseitige, Fragen generierende Lektüre der Emotionstagebücher) statt. Der Sozial- und Kulturanthropologe Rane Willerslev und der visuelle Anthropologe Christian Suhr schreiben, “montage has traditionally been regarded with a good deal of suspicion as a disruptive principle that potentially could pollute the direct correspondence between scholarly representations and the social world, thereby obstructing our possibilities for understanding human life across the boundaries of culture” (Willerslev/Suhr 2013, 1). In Anlehnung an die Autoren möchte ich festhalten, dass gerade die Technik der Montage unterschiedlicher Datendimensionen ethnographische Beschreibungen empirisch transparent gestalten und stilistisch verdichten kann und zudem den Ethnographen davor bewahren kann, in eine selbstreferentielle Nabelschau zu verfallen. Als relationale Phänomene werden Affekt und Forscheremotionen in Beziehung zu den Beschreibungen der Lebenswelten derjenigen gesetzt, welche Fokus und Subjekt der Feldforschung sind.

 Schluss Versteht man Feldforschung und Ethnographie nicht ausschließlich als ein Kaleidoskop unterschiedlicher Methoden, das sich je nach Forschungsfrage, Begebenheiten und Konventionen des Feldes ändert, sondern in erster Linie als kollaborativen, relationalen Prozess, in dem ethnographisches Wissen generiert wird, so können Affekt und Emotionen als wertvoller Zugang zur ethnographischen Erforschung des Alltagserlebens ‚Anderer‘ verstanden werden. Als affektiver, kognitiver und relationaler Prozess spielt Empathie als Basis des Versuchs ethnographischer Perspektivübernahme eine bedeutende Rolle. Entscheidend ist hierbei, dass Empathie nicht als Zauberformel verstanden wird, welche Feldforscher ermächtigt ihr eigenes Erleben auf dasjenige Anderer zu projizieren, sondern theoretisch, methodologisch und empirisch im jeweiligen Forschungskontext reflektiert wird. Empirische Affektmontagen beinhalten somit immer auch Grenzen der Empathie oder gar Irrwege im Versuch kognitiv-affektiver Perspektivübernahmen ‚Anderer‘. Die systematische Montage sowohl traditionell-empirischer, als auch affektiver Datendimensionen verfolgt den Anspruch, die Autorität des Ethnographen in Schach zu halten und sie als kommunikativen Prozess gegenseitigen Verstehens an die im Feld dokumentierten und konstruierten Lebenswelten zu binden. Schließlich könnte eine methodologisch fundierte Darstellung der Forscheremotionen, welche am Prozess der wissen-

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schaftlichen Datenkonstruktion nicht nur beteiligt sind, sondern diesen ähnlich steuern wie rationalisierte Entscheidungsmomente im Zuge gesellschaftlicher Wissensvermittlung, eine Art „Türöffner“-Funktion bekleiden, um wissenschaftliche Ergebnisse nicht nur als Experten („die da oben!“), sondern von Mensch zu Mensch systematisch, transparent und reflexiv zu kommunizieren.

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Zauberformel, Scharlatanerie, Projektion?  

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Klaus-Peter Konerding

Kommunikation – Verständigung – Empathie Anmerkungen zu einigen grundlegenden Voraussetzungen gelingender menschlicher Begegnung und Kooperation Zusammenfassung: Sucht man im Bereich der Linguistik nach Erkenntnissen zur Funktionsweise menschlicher Verständigung und Kommunikation, so wird man auf den Bereich der Forschungen zur linguistischen Pragmatik verwiesen. Im Folgenden soll zunächst entsprechend ein Blick auf die Entwicklungen der linguistischen Pragmatik und ihre Theoriebildung im 20. Jahrhundert geworfen werden. Dabei soll im Weiteren der Aspekt der Empathie, der für die menschliche Kooperation und kommunikative Verständigung aus gegenwärtiger Sicht notwendig erscheint, zentrale Berücksichtigung erfahren. Es gilt zu prüfen, inwieweit die prominenten Modelle der linguistischen Pragmatik die neueren und neuesten Ergebnisse aus dem interdisziplinären Feld der Forschungen zur Empathie berücksichtigen und die Rolle der Empathie für die sprachliche Interaktion erklären. Schlüsselwörter: Bildung, Empathie, Emotionen, Enaktion, Ethik, Fremdregulation, Interaktion, Interaktionsdispositive, Kommunikative Modi, Kompetitivität, Kooperation, Linguistische Pragmatik, Politeness-Systeme, Prosozialität, Rezipientendesign, Selbstregulation, Softskills, Theory of Mind

1 Sprache, Kognition, Interaktion: Grice und Nachfolge Wirft man einen Blick auf die Geschichte der linguistischen Pragmatik der letzten 20 Jahre, so ist festzustellen, dass etwa bis zur Jahrtausendwende die Modell- und Theoriebildung in diesem Bereich fast ausschließlich durch eine mentalistisch geprägte Sicht auf menschliche Verständigung geprägt ist. Ihre Basis

 Klaus-Peter Konerding, Germanistisches Seminar, Universität Heidelberg, Hauptstr. 207-209, 69117 Heidelberg, konerding[at]gs.uni-heidelberg.de https://doi.org/10.1515/9783110679618-005

  Klaus-Peter Konerding hat diese Tradition in den grundlegenden Überlegungen des Sprachphilosophen Herbert P. Grice, dessen Überlegungen an zentraler Stelle dadurch gekennzeichnet sind, dass (sprachliche) Verständigung zwischen Interaktionspartnern auf wechselseitigen Intentionszuschreibungen unter Bezug auf propositionale Gehalte und entsprechende Wissenshintergründe beruht (vgl. Grice 1957). Man steht hier ganz in der Tradition der Sprachanalytischen Philosophie und ihren propositionsbasierten Zugängen zur Kommunikation, zu mentalen Gehalten sowie bewusstseinsbegleiteten Vorstellungen und mentalen Inferenzbildungen. Zwar hat der zunehmende Einfluss der heranreifenden interdisziplinären Kognitionswissenschaften, insbesondere der Kognitiven Linguistik nach Jackendoff, Langacker und Lakoff, zur Folge, dass Mitte der 1980er Jahre mit der Relevanztheorie von Sperber und Wilson eine erste kognitivistisch bestimmte Modifikation des traditionellen Ansatzes von Grice vorgeschlagen wird. Einer der prominentesten Vertreter der linguistischen Pragmatik, Stephen Levinson, formuliert zur Jahrtausendwende jedoch den sogenannten Neogriceschen Ansatz, der im Prinzip den traditionellen Überlegungen des Paradigmas der Sprachanalytischen Philosophie verpflichtet ist. Dieser Ansatz kann zudem als das zurzeit elaborierteste Modell der linguistischen Pragmatik gelten. Es stellt sich jedoch die Frage, inwiefern dieser Ansatz tatsächlich noch den zeitgenössischen Herausforderungen gewachsen ist. Denn: Mit der Jahrtausendwende beginnen die revolutionären Einsichten der Neuro- und Entwicklungspsychologie, insbesondere zur Rolle der Emotionen für die menschliche Kognition, für die soziale Interaktion und generell für das menschliche Verhalten, die mit Beginn der 1990er Jahre zunehmend Bedeutung erlangen, einen nachhaltigen, transdisziplinär bestimmten Fokus- und Themenwechsel einzuleiten – man beachte hierzu speziell die grundlegenden Arbeiten von Antonio Damasio und Joseph LeDoux, daran später anschließend für die sozialen Neurowissenschaften die weltweit beachteten Beiträge von Tania Singer und ihren Teams. Dies gilt insbesondere auch für die Philosophie, wo das Paradigma der Analytischen Sprachphilosophie, das nahezu ein ganzes Jahrhundert die einschlägigen Diskussionen dominierte, durch eine kognitivistisch motivierte weitgreifende Renaissance der phänomenologischen Ansätze zur menschlichen Erfahrung, Begegnung und Erkenntnisfähigkeit abgelöst wird. Hier spielen gerade Aspekte wie das bewusstseinsentzogene Embodiment bzw. die Enaktion Schlüsselrollen für menschliches Verhalten. Entsprechendes gilt zunehmend für die Linguistik, die einen Fokusschwenk von formalen, generativen und strukturbestimmten Modellen hin zu kommunizierenden und interagierenden Menschen vollzieht. Es ist hier an erster Stelle die Interaktionale Linguistik, die sich aus der klassischen Konversationsanalyse und der linguistischen Ge-

Kommunikation – Verständigung – Empathie  

sprächsforschung entwickelt, die in den letzten Jahren die einschlägigen Ergebnisse rezipiert und – derzeit noch recht verhalten – in ihre Theoriebildung und empirischen Untersuchungen zur sprachlichen Interaktion zu integrieren beginnt. Im Folgenden sollen einige Überlegungen dazu vorgestellt werden, ob und gegebenenfalls wie diese Innovationen mit dem klassischen Modell nach Grice in Form der zeitgenössischen Modifikationen nach Levinson verbunden sind oder werden können. Zu diesem Zweck soll zunächst das Modell nach Levinson (2006) in seinen zentralen Beschaffenheiten vorgestellt werden. In einem weiteren Schritt soll sodann in den Zusammenhang zwischen Emotion und Kognition ansatzweise eingeführt sowie die Rolle der Empathie für die Kommunikation und Interaktion beleuchtet werden. Abschließend soll ein Vorschlag zur Beantwortung der Frage unterbreitet werden, wie linguistische Modelle der Kommunikation und verbalen Interaktion aussehen könnten, die den vorgestellten Faktoren und Erkenntnissen angemessen und weiterführend Rechnung tragen.

2 Sprachliche Verständigung – Linguistische Modelle bis zur Jahrtausendwende Es gehört spätestens seit der Veröffentlichung der grundlegenden Überlegungen von Herbert P. Grice in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts zu den zentralen Annahmen derjenigen Wissenschaften, die sich mit dem Phänomen menschlicher Kommunikation und Verständigung beschäftigen, dass das wechselseitige mentale Verstehen handlungsbezogener Intentionen von Interaktionspartnern den Schlüssel für das Phänomen kommunikativer menschlicher Verständigung liefert. Der gegenwärtig vorläufige State of the Art der zugehörigen „neogriceschen“ Modellierung wird kurz nach der Jahrtausendwende von einem der prominentesten Vertreter dieses Paradigmas, von dem Soziolinguisten und linguistischen Anthropologen Stephen Levinson präsentiert (Levinson 2000; man vgl. für das Folgende spez. Levinson 2006). Entsprechend soll dieses Modell kurz vorgestellt und dann zum Ausgangspunkt weitergehender Betrachtungen gemacht werden. Das von Levinson (2006) entworfene Modell weist drei zentrale Komponenten auf: Zum einen und zuerst die Interaktionsmaschinerie (Interaction Engine), die die biologische Grundausstattung des interagierenden Individuums betrifft. Die Bezeichnung „Maschinerie“ motiviert Levinson dadurch, dass er die hier zugrunde liegenden kognitiven und ethologischen Dispositionen als phyloge-

  Klaus-Peter Konerding netisches Erbe verstanden wissen will, so etwa semikooperative Instinkte, mimische Displays, allgemeine motivationale Antriebe sowie die Fähigkeit, das Verhalten von Artgenossen durch das kognitive Zusammenspiel von Beobachtung, Erinnerung und mentaler Simulation zu analysieren und zu antizipieren (Levinson 2006, 44). Eine weitere Komponente betrifft den Bereich der dispositionsbasierten Organisation der Zwischenmenschlichkeit bzw. Interpersonalität und der Modi des interpersonalen Kontaktes, den Levinson mit Interaktionsmatrix (Interaction Matrix) bezeichnet. Hierunter fallen etwa Systeme der Handlungskoordination, wie Turn-Taking-Systeme, Sequenzorganisationssysteme sowie Systeme des Face-Work, die er dem biokulturellen Feld zurechnet. Die dritte Komponente schließlich betrifft den Bereich des soziokulturellen Rahmenwerks des Interaktionsgeschehens, den Sociocultural Frame mit seinen vielfältigen Institutionen, mit den zugehörigen sozialen Praktiken und kommunikativen Gattungen, den personalen Rolleninventaren und allgemein mit seinem komplexen Regelinventar der sozialen Ordnungssysteme. Im Bereich der Interaktionsmaschinerie spielen speziell die individuellen Fähigkeiten von Interaktanten eine zentrale Rolle, wechselseitig antizipative Intentionszuschreibungen durch die Modellierung von jeweiligen kontextabhängigen Bewusstseinszuständen vornehmen zu können, etwa: „Ich denke, dass er/sie denkt, dass p“ (wobei p einen speziellen propositionalen Gehalt darstellt). Dies schließt im Rahmen der Interaktion durch Intentionszuschreibung speziell ein, zugleich die Modellierung der Antizipation einer wahrscheinlichen Zuschreibung der eigenen Intention (Interaktant A) durch den jeweils anderen Interaktionspartner (Interaktant B) zu antizipieren: „Ich denke, dass er/sie denkt, dass ich denke, dass q“ (basierend auf Grice 1957). Diese Fähigkeiten der Intentionszuschreibung und der Zuschreibung von Wissen und mentalen Zuständen werden im einschlägigen Bereich als ToM-Fähigkeiten (ToM = Theory of Mind) beschrieben (Wimmer/Perner 1983). Levinson und andere seiner Tradition nehmen fest an, dass diese Fähigkeiten wie auch die Fähigkeiten zur wechselseitigen Steuerung und Überprüfung der Aufmerksamkeit im TurnTaking-Modus, nicht zuletzt im Zusammenhang mit sprachlichen und nichtsprachlichen Zeigehandlungen (Joint Attention), letztlich die wesentlichen Fähigkeiten sind, die gelingende menschliche Kommunikation und Kooperation ermöglichen. Wesentlich aber ist, dass diese individuelle Komponente der ToMFähigkeit, die auf biologische Entwicklungsdispositionen zurückgehen soll, nicht ohne die Funktion einer Interaktionsmatrix der interpersonalen Kontaktmodi zur spezifischen (ontogenetischen) Expression bzw. Entwicklung gelangt. Darüber hinaus ist ihre individuelle Ausgestaltung immer über die Komponente

Kommunikation – Verständigung – Empathie  

eines lokalen kulturellen Rahmenwerks bestimmt. Herauszustellen bleibt dabei folgendes: The heart of the matter is intention attribution: given [an] observed behavior, the interaction engine must be able to infer likely goals that would have motivated the behavior. […] It could perhaps be done on statistical grounds, using some low-level semiautomatic simulation as in the theory of ‚mirror neurons‘. (Levinson 2006, 48)

Damit Verständigung (mentale Koordination) gelingt, muss ein Abgleich der wechselseitig unterstellten mentalen „Spiegelwelten“ (mirror worlds – hier verweist Levinson auf Schelling 1960) durch aufeinander bezogene Äußerungen im Sinne von Sequenzorganisation eines Turn-Taking erfolgen. Dabei ist zu beachten: This coordination ability presupposes the notion of mutual knowledge (or common ground) – the things that I know you know, you know I know, and I know you know I know. (ebd., 49)

Auf der Grundlage sprachlicher Accounts: Nachfragen, Hinweise, Rückversicherungen, Reparaturen und schließlich Ratifizierungen, kann so sukzessive Verständigung in Bezug auf ein lokales bzw. globaleres Handlungsziel erfolgen. At the birth of cognitive science, Miller et al. (1960) suggested that the Test-Operate-TestExit (TOTE) unit should replace stimulus-response as the basic theoretical unit of human behavior: we test to see if the intended goal was achieved, if not, operate on it and try again. In cooperative interaction, the only way to test is to see what the other person made of our actions. This is part of the motivation for taking turns, and it motivates too the priority accorded in interaction to correction and repair sequences […]. […] In sum, TOTE gives us sequence, and the […] mirror world gives us guiding expectations. (ebd., 51)

An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die von Levinson dargelegten Komponenten und Aspekte menschlicher Koordination und Kooperation im individuellen Bereich ausschließlich mental-kognitive Faktoren und Prozesse betreffen. Das Konzept der Empathie, das zweifellos ein ganzes Bündel von interpersonal bestimmten Dispositionen und Fähigkeiten zu erfassen bemüht ist, findet im vorliegenden Zusammenhang keine Berücksichtigung. Wenn überhaupt, dann könnte lediglich der Versuch einer kognitiven Perspektivenübernahme des jeweiligen Interaktionspartners im Sinne einer ausschließlich mentalen Simulation der mental-motivationalen Verfassung des Partners (mentale Spiegelwelten, ToM) als empathisches Verhalten gewertet werden. Dies schöpft jedoch keines-

  Klaus-Peter Konerding falls die Breite derjenigen zwischenmenschlichen Fähigkeiten zur wechselseitigen Bezugnahme und Resonanz aus, die wir gemeinhin im Alltag wie auch in der Fachdiskussion unter den Begriff der Empathie fassen (zur Einführung vgl. etwa Breyer 2015; Breyer in diesem Band). Legt man etwa das zuvor skizzierte Modell zugrunde, so kann ein und dasselbe Ereignis einem Interaktionspartner, für den die Nachricht als relevant angenommen werden darf, sprachlich auf sehr verschiedene Art und Weise mitgeteilt werden: Der alte Herr ist heute Morgen friedlich eingeschlafen. Endlich ist dieser exzentrische Spinner weg. Unser allseits beliebter Chef ist heute Morgen von uns gegangen. Wir trauern um unseren verehrten und geschätzten Kollegen. Der Tod hat Onkel Karl heute Morgen auf immer von uns genommen. Der Tod hat Karl heute Morgen von seinem langen Leiden erlöst. Karl hat das Zeitliche gesegnet. Karl ist heute Morgen in der Klinik verstorben. Enden aller Lebensfunktionen von Karl L. um 07:32 Uhr durch akutes Herz-Kreislaufversagen.

Der spezifische Unterschied der alternativen sprachlichen Ausdrucksformen betrifft letztlich unterschiedliche Grade der Berücksichtigung der emotiv-affektiven Betroffenheit der Interaktanten und der zugehörigen Qualität der beteiligten Emotionen. Reinhard Fiehler (2001) spricht hier von spezifischen Emotionsregeln des kulturellen Rahmenwerks, in welchen Situationen welche Emotionen auf welche Art und Weise ausgedrückt werden dürfen oder sogar müssen. Damit betreten wir den Bereich, der die rituelle Ordnung einer Kultur bzw. einer Teilkultur betrifft: Regeln, die Vertrautheit und Distanz, die Anstand, Anteilnahme und den Umgang mit dem Ansehen, dem sozialen Gesicht – dem Face (Goffman 1955), bestimmt. Bezeichnenderweise hat Levinson selbst gerade zu diesem Bereich einen grundlegenden Beitrag geleistet, insofern er Ursachen und Funktionsweisen von Politeness-Systemen im Zusammenhang mit dem Face-Management von Interaktanten umfassend erkundet hat. Sozialer Status bestimmt letztlich die individuelle Ressourcensituation, und das Face ist wesentlich über den sozialen Status definiert. Levinson ordnet diese Faktoren in seinem Modell ausschließlich dem Bereich der interpersonalen Regeln zu, die in der Komponente der Interaktionsmatrix lokalisiert sein sollen. Wir alle wissen aber aus dem Alltag, wie schnell Meinungsverschiedenheiten als Face- oder Statusbedrohungen interpretiert werden und dann in zunehmend emotionsgesteuerten verbalen Streit ausarten können (vgl. hierzu etwa Schwitalla 2001), und wie schnell dann etwa auch der Einsatz verbaler oder brachialer

Kommunikation – Verständigung – Empathie  

Gewalt zwischen den Interaktanten folgen kann. Dies zeigt aber, dass bei der Interaktion die situative emotive Disponiertheit, Betroffenheit und Haltung der Interaktionspartner, ihr wechselseitiges Vertrauen, ihre Verbundenheit und erfahrene Verlässlichkeit (Loyalität) sowie ihre Regulationsfähigkeit hinsichtlich der eigenen und der fremden Emotionen (sogenannte Softskills) in der Interaktion ein wesentliches Moment dazu beisteuern, ob und wie Kooperation möglich wird oder scheitert. Entsprechend muss bei der Erkundung und Simulation der Intentionen und der mentalen Welt des Interaktionspartners auch dessen emotive Disponiertheit, Einstellung, Haltung, Beteiligung und Verletzlichkeit Berücksichtigung finden, und zwar wesentlich über das Maß propositionaler Gehalte, die dann auch unter anderem formale Höflichkeitssysteme und -regeln betreffen müssten, hinaus. Hiermit werden aber nun gerade diejenigen erfahrbaren Modi und Qualitäten des zwischenmenschlichen Kontakts relevant, die man traditionell mit Empathie, Einfühlung und Mitgefühl im Kontakt bezeichnet. Dieser Bereich der emotiv bestimmten Verfasstheit der individuellen Beteiligung, der gerade die motivationalen Anteile der Intentionen von Interaktanten wesentlich mitbestimmt und moduliert, findet in dem obigen Modell nach Levinson bisher keine Berücksichtigung. Im Folgenden sollen auf der Grundlage der revolutionären Entwicklungen der letzten 30 Jahre im interdisziplinären Bereich der Kognitionswissenschaften, insbesondere im Bereich der Neuropsychologie und der zeitgenössischen phänomenologischen Philosophie, Überlegungen dazu vorgestellt werden, aus welchen Gründen es unumgänglich erscheint, das vorgestellte Modell um eine entsprechende Komponente an zentraler Stelle zu erweitern. In einem weiteren Schritt soll im Anschluss daran geklärt werden, wie eine mögliche Erweiterung bestimmt sein könnte.

3 Embodiment, Enaktion und Empathie – Oder das Zusammenspiel von Körper, Emotion und Kognition im zwischenmenschlichen Kontakt In den neueren Modellen der Emotionspsychologie geht man davon aus, dass Emotionen implizit Denk- und Kognitionsprozesse steuern (vgl. Schwarz 2007, 115; Salovey et al. 2004 zitierend):

  Klaus-Peter Konerding […] emotions often serve adaptive, purposeful, and helpful functions […] It is the emotional system, in this view, that focuses attention, organizes memory, helps us to interpret social situations, and motivates relevant behavior. Accordingly, it makes little sense to place emotions in opposition to reason and rationality […]. (Salovey et al. 2004, 386)

Emotionen können Denkprozesse initiieren oder durch kognitive Prozesse ausgelöst werden. Weiterhin werden kognitive Aktivitäten in der Regel immer von emotionalen Prozessen begleitet, die diese Aktivitäten evaluieren. Die Devise lautet: Keine Kognition ohne Emotion. Emotionen sind nicht nur maßgeblich für kognitive Entscheidungsprozesse, sondern auch für die soziale Intelligenz. Der sozial kultivierte, bewusste Umgang mit Emotionen organisiert kooperativen Umgang mit Mitmenschen wie auch das prosoziale und konstruktive Verhalten in Konfliktsituationen. Verknüpft damit ist der Begriff der „emotionalen Intelligenz“: Hierunter werden die Fähigkeiten verstanden, in Interaktionen das Auftreten von Emotionen auf der Grundlage von multimodalen, körperbezogenen Signalen bei sich und den Interaktionspartnern frühzeitig bewusst zu registrieren und ebenso bewusst Gefühle situationsangemessen zum Ausdruck zu bringen, sie dabei entsprechend zu regulieren bzw. bewusst zu kontrollieren. Dies ist essentiell für erfolgreiches Sozialverhalten. Damit sind Emotionen, ihre Berücksichtigung und der Umgang mit ihnen aber auch für die soziale Interaktion und die „Interaction Engine“ zentral (hier speziell für das klassische Rezipientendesign). Hier beginnt nun der Begriff der Empathie eine zentrale Rolle zu spielen, der in der einschlägigen Gebrauchstradition im deutschsprachigen Bereich auch mit „Einfühlung“ und „Mitgefühl“ bezeichnet wird. Für das weite Spektrum der erlebensbezogenen Phänomene und Prozesse, die im Weiteren mit diesem Begriff in Zusammenhang gebracht werden können, sei auf den Beitrag von Timo Breyer in diesem Band verwiesen. Im Folgenden soll zu Zwecken der Konturierung und Fokussierung der zu verhandelnden Problematik der Blick auf zwei Forschungspositionen gerichtet werden, die vorläufig eine mehr reduktive Position hinsichtlich des Verständnisses von Empathie vertreten, die dabei aber die zentralen Faktoren und Phänomene sehr detailliert erfassen und diese umfassend empirisch und theoretisch zu fundieren bemüht sind. Sie berücksichtigen zudem die ganze Breite einschlägiger Ergebnisse der neueren interdisziplinären Forschung zu diesem Bereich und stehen mehr oder weniger repräsentativ für die Forschung in den betreffenden Problemfeldern. Zum einen soll dabei die Position der phänomenologischen Philosophie, Psychologie und Psychiatrie, zum anderen die Position der sozialen Neurowissenschaften zur Sprache kommen, und zwar anhand der teilweise konträren aber eben auch

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teilweise komplementären Positionen von Thomas Fuchs (Bereich Psychiatrie und Philosophie) und Tania Singer (Bereich soziale Neurowissenschaften). Thomas Fuchs widmet sich in einem aktuellen Beitrag der Bestimmung von Empathie (Fuchs 2017). Zurückgreifend auf die Prägung des Ausdrucks „Einfühlung“ von Theodor Lipps (1906) für den Bereich der sozialen Kognition (der von Edward Titchner 1909 mit „empathy“ ins Englische übersetzt wurde) stellt Fuchs zunächst ganz allgemein fest: It is now used to designate our basic capacity to recognize and understand others as minded and expressive creatures. (Fuchs 2017, 27)

Fuchs ist im Folgenden bemüht dieses Vermögen zwischenmenschlichen Verstehens etwas präziser zu charakterisieren. Im Unterschied zur zuvor bereits vorgestellten Position der ToM, die als das entscheidende Moment der Interactional Engine bei Levinson fungiert (und in der „Einfühlung“ kaum im Sinne der Nutzung von emotionalen Daten und Prozessen im zwischenmenschlichen Kontakt bestimmt werden kann), favorisiert Fuchs einen entwicklungspsychologisch und phänomenologisch bestimmten Zugriff, den er als „interaktional“ bezeichnet. Während er die ToM als simulationstheoretischen und mentalistisch-repräsentationalistischen Zugang in der cartesischen Traditionslinie verortet, die immer ein wenig mit dem Problem der leibnizschen Monaden zu kämpfen hat, schlägt er in Übereinstimmung mit den zeitgenössischen Vertretern der philosophischen Phänomenologie, der Entwicklungspsychologie und der Spracherwerbstheorie einen direkten Zugang zum Erleben und Denken des Mitmenschen im Rahmen der sozialen Kognition vor: In most everyday situations, we do not use imaginative, introspective simulation routines, or inferences when we interact with another person. Instead, we immediately perceive the other’s intentions and emotions in his expressive behaviour and in his meaningful actions as related to the context. Accordingly, interaction theory has more recently been proposed as an alternative approach to social cognition, focussing on expressive bodily behaviour, interbodily resonance, intentions as visible in action as well as the shared situational context in order to explain social understanding […]. (Fuchs 2017, 28)

Im Rahmen der Interaktionstheorie der sozialen Kognition erhält der Mensch durch die Geschichte seiner körperlich erlebten und agentiv realisierten Faceto-Face Kontakte in alltäglichen Situationen, durch die Geschichte seiner „interkorporalen Kopplung“ unmittelbaren Zugang zu den Emotionen (bzw. Gefühlen) und Intentionen seiner Mitmenschen, ohne dass ausschließlich rationale Theorie- oder Hypothesenbildung, symbolische Inferenzierung oder Simulation

  Klaus-Peter Konerding im Raum expliziter geistiger Vorstellungen (imaginative Symbolisierung) erforderlich würden. Diese nicht-repräsentationale Konzeption firmiert derzeit auch unter der Bezeichnung des Enactment bzw. der Enaction. Entsprechende Überlegungen sind bereits bei Michael Polanyi, Humberto Maturana, Francisco Varela und Evan Thompson in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu finden, wobei letztere hier von „praktischen Kopplungen“ sprechen und etwa das Beispiel von miteinander tanzenden Paaren als Interaktanten verwenden (Polanyi 1959, 1962, 1967; Maturana/Varela 1987; Varela/Thompson/Rosch 1991). Die entsprechende Position ist später insbesondere durch Evan Thompson (2005, 2007) weiter ausgestaltet worden. Entsprechend entsteht „Sinn“ und „Bedeutung“ für einen höheren, neuronal organisierten Organismus durch seine relational bestimmten Aktivitäten in seinem (Über-)Lebensraum als primär sensomotorische „Kopplung“, d. h. durch seine erfahrungsbedingt induzierten und modifizierten Verhaltensdispositionen und -fähigkeiten. So entsteht ein rein aktivitätsbedingter praktischer „Lebenssinn“ – gerade auch im Verständnis des praktischen Sinns und des Habitus nach Pierre Bourdieu (vgl. Bourdieu 1977, 1990). Wissen ist damit embodied action. Wesentlich in diesem Zusammenhang ist nun, dass Fuchs aufgrund des Verständnisses dieser Tradition in der Lage ist, die Grundlagen der Erfahrung von Empathie enaktiv-relational und rein körperbezogen sowie entsprechend sensomotorisch zu fundieren, ohne mentale Repräsentationen (Vorstellungen und mentale Simulationen) bemühen zu müssen. Diese grundlegende Erfahrung der Empathie ist durch wechselseitige affektabgestimmte und -motivierte sensomotorische Kopplung bestimmt: Menschen erwerben im zwischenmenschlichen Kontakt der frühen Ontogenese sensomotorische Schemata der aktivitätsgetragenen Begegnung mit dem Anderen und bauen diese über komplexe Bündel von affektbegleiteten und motivierten Dispositionen des interaktiven Kontaktverhaltens stetig aus (Fuchs 2017, 36/37; vgl. auch Trevarthen 1979,1993; Stern 1998; Reddy 2008; Konerding 2014): Through the mutual coupling of their lived bodies – mediated through eye contact, facial expressions, voice, touch, and gesture – [interactors] enter into a dyadic bodily state. In every face-to-face encounter, our bodies are affected by the other’s expression, and we experience the kinetics and intensity of his emotions through our own bodily kinaesthesia and sensations. Our bodyschemas and bodily experiences expand and incorporate the perceived body of the other. (Fuchs 2017, 32)

Fuchs vergleicht diese „Inkorporation“ des Erlebens und der Interaktion mit dem „Du“ des Anderen mit dem erweiterten sensomotorischen Körperschema bei einem Musiker, bei dem der Umgang mit dem Instrument zwecks Klanger-

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zeugung nahezu bewusstseinsentzogen erfolgt: Das Instrument wird gewissermaßen Teil seines eigenen lebenden Körpers, wie es etwa die zur stimmlichen Lautgebung erforderlichen Teile seines Körpers und die zugehörigen Aktivitäten bereits sind. Für die enaktive Erfahrung von Empathie ist weiterhin eine emotionale Resonanzerfahrung unabdingbar. Fuchs demonstriert dies am Beispiel der Erfahrung von Ärger in einer Interaktionssituation: Ärger kann zunächst einmal als ein spezifischer subjektiver Körperzustand erlebt werden, der mit der Manifestation von typischen Körpersymptomen einhergeht: So ändert sich der Gesichtsausdruck, die Gestik, die Körperhaltung und -spannung, Blutdruck und Herzschlag, Stimmqualität, Körperverhalten und vieles andere mehr. Entsprechend sind proprio- und interozeptive Änderungen der Empfindungsqualitäten spürbar und potentiell attentional fokussierbar. Dieser Körperzustand korrespondiert dem emotionalen Zustand des gesamten Organismus, der eine entsprechend wahrnehmbare Ausdruckseite im Prozess der Interaktion aufweist. In Abhängigkeit von dessen eigener spezifischer Interaktions- bzw. Sozialisationsgeschichte löst dieses Gesamtdisplay ein korrespondierendes bzw. komplementäres Erleben und Verhalten bei dem betreffenden Interaktionspartner mit eigenem Display aus. Möglicherweise wird dies mit einer als unangenehm erlebten Körperanspannung einhergehen, einem speziellen Gefühl im Bauchraum, etwa vergleichbar mit dem bei einem moderaten Schreckerlebnis, gegebenenfalls mit der Tendenz zu einem abwehrenden oder beschwichtigenden Körperverhalten, alles abhängig von dem jeweils getriggerten interkorporalen Körperschema des reaktiven Interaktanten. Von der Aktivierung des betreffenden Körperschemas und der Autoregulationsfähigkeit des betreffenden Interaktanten (vermittels intervenierender und kontrollierender kognitiver Prozeduren) wird es abhängen, was weiter geschieht. Und wie das betreffende Körperschema auf dieses Display antworten wird. Die beiden Interaktanten sind in diesem systemischen Geschehen miteinander sensomotorisch unmittelbar verkoppelt durch transkorporale Reaktivität im Sinne von affektiver und motorischer Resonanz (Fuchs 2017, 34): Susan Stuart (2012) has coined a suitable term, enkinesthesia, meaning “feeling one’s own movements into the other”, or empathy through co-movement. In this sense, we can refer to the experience of the other in terms of “embodied” perception, which, through the interaction process, is also “embodied” communication. In Merleau-Ponty’s [(1945)] account: “The communication or comprehension of gestures comes about through the reciprocity of my intentions and the gestures of others, of my gestures and the intentions discernible in the conduct of other people. It is as if the other person’s intentions inhabited my body and mine his”. (Fuchs 2017, 35)

  Klaus-Peter Konerding Die entsprechend vermittelte Teilhabe am Erleben des jeweils Anderen bestimmt Fuchs als ursprüngliche, primäre und enaktive, sensomotorisch schematisierte und enkorporierte Empathieerfahrung und zugleich als komplementäre Leistungsdisposition (Agency). Die Beiträge von Steen und vor allem Rettig in diesem Band zeigen sehr deutlich, dass und wie dieses Modell einer „interkorporalen Kopplung“ auf die Mensch-Tier-Interaktion übertragen werden kann und welche herausragende Rolle es dort spielt. Und letzteres verdeutlicht zugleich, welche Rolle es im subliminalen Bereich des Bewusstseins zweifellos auch für die menschliche Interaktion spielt. Fuchs plädiert auf dieser Grundlage der zwischenmenschlichen Basiserfahrung allerdings für eine Erweiterung des Verständnisses von Empathie, im Sinne eines geschichteten Modells. Dies korrespondiert mehr oder weniger dem Erwerb von Interaktionsfähigkeiten während der Frühphasen der menschlichen Ontogenese, in der der Säugling zunächst in den Interaktionsformaten der Fürsorgehandlungen von Bezugsperson ein rein situativ-körperbefindliches Muster der Abstimmung von Affekt und Verhalten mit der Bezugsperson als Resonanzkompetenz aufbaut. Im Rahmen dieses Kompetenzaufbaus wird der affektive Ausdruck als Indikator von Befindlichkeitszuständen und zugehörigen Bedürfnissen zunehmend durch kognitive Aspekte der intentionalen Ausführung von Interaktionsroutinen moduliert und ergänzt, geleitet durch Prozesse interpersonaler Co-Regulation von der Bezugsperson (Auf- und Ausbau von Mentalisierungs- und Regulationskompetenz, vgl. hierzu Fonagy et al. 2004). Erst auf dieser Grundlage werden in der weiteren Entwicklung komplexere kognitive Leistungen, wie auch die Fähigkeit zu kognitiver Simulation (ToM) und symbolgetragener Inferenzbildung, die symbolisch explizite imaginativ-kognitive „Transpositionen“ in die Situation des Anderen und in dessen affektive und motivationale Befindlichkeit im Rahmen interaktiver Erfahrungen verfügbar. Primary embodied empathy may be augmented by cognitive means such as inference on the basis of additional information and explicit imaginary transposition into the other’s situation. Combining these additional components with primary empathy will usually enhance our potential to understand others. However, these higher-level cognitive capacities are neither necessary nor sufficient as such to constitute empathy as an interaffective relation to the other. Despite those later developments, embodied intersubjectivity remains the basis for our everyday social understanding. (Fuchs 2017, 43)

Die aktuelle Forschung des Bereichs der sozialen Neuropsychologie scheint diese entwicklungspsychologischen und phänomenologischen Überlegungen auf der physiologisch-funktionalen Ebene des Körpers nachdrücklich zu bestätigen und zugleich zu erweitern. Tania Singer, die derzeit als eine der weltweit

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profiliertesten Forscherinnen in diesem Gebiet gilt, ist seit 20 Jahren gerade um die differentielle Erforschung von ToM (cognitive empathy, mentalizing), Einfühlung (affective empathy, bzw. empathy) und Mitgefühl (compassion) auf neuropsychologischer Ebene bemüht. „Understanding others – be it through sharing their emotions or reflecting on their thoughts – is a key component of successful social interaction“ (Kanske/Böckler/Trautwein/Singer 2015, 7). Auch Singer geht aus methodischen Gründen zunächst von einem engen Verständnis von Empathie aus. [We] prefer to narrow down the concept of empathy […]. There is empathy if: (i) one is in an affective state; (ii) this state is isomorphic to another person‘s affective state; (iii) this state is elicited by the observation or imagination of another person‘s affective state; (iv) one knows that the other person is the source of one‘s own affective state. (Vignemont/Singer 2006, 435)

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Singer – hierin ähnlich Fuchs – deutlich zwischen einem affektiven und einem kognitiven Zustand der Empathie unterscheidet (affective empathy vs. cognitive empathy, vgl. Preckel/Kanske/Singer 2018, 1), wobei Singer die Bezeichnung Empathie aus methodischen Gründen für den affektiven Zustand reserviert wissen möchte. Singers Verständnis von Empathie könnte so im Prinzip mit der primären, Körperschema-bestimmten Empathie bei Fuchs korrespondieren. Die kognitive Komponente der mentalen Simulation und Inferenz wird – wiederum ähnlich wie bei Fuchs – von ihr mit ToM bezeichnet. Diese Trennung hat für Singer nicht nur phänomenologische und entwicklungspsychologische Gründe bzw. Evidenzen: Bildgebende Verfahren in komplexen Testszenarien mit einer Unzahl von Probanden haben gezeigt, dass neuronale Netzwerke, die der Erfahrung primärer, d. h. affektiver Empathie entsprechen, funktional und physiologisch unabhängig von denjenigen neuronalen Netzwerken sind, die den Aktivitäten der kognitiv-mentalen Funktionen der ToM entsprechen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass beide Netzwerke nicht zeitgleich aktiv sein können, worauf Singer auch explizit hinweist; Koaktivität der beiden Netzwerke ist sogar die Regel, wenn anspruchsvollere soziale Situationen für die Probanden vorliegen; ergänzend zur affektiven Empathie treten dann symbolisch-inferentielle Aktivitäten zur Verständnisverbesserung als Grundlage für die situative Handlungsvorbereitung hinzu (vgl. etwa Preckel/Kanske/Singer 2018, 2 u. 3). Dieses Verständnis korrespondiert funktional wiederum direkt mit dem zuvor skizzierten Stufen-Modell von Fuchs. Bildgebende Verfahren haben nach Singer und ihrem Team weiterhin gezeigt, dass bei Menschen genau die gleichen Hirnregionen aktiv sind, wenn sie (a) einen speziellen emotionalen Zustand bei anderen Menschen wahrnehmen oder

  Klaus-Peter Konerding wenn sie (b) sich selbst in diesem emotionalen Zustand befinden. Empathische Reaktionen werden darüber hinaus moduliert durch hirninterne neuronale Gewichtungsmechanismen, die sich auf Faktoren wie die Art der Stimuli, den situativen Kontext, die Persönlichkeitsmerkmale des Beobachters und vorliegende soziale Beziehungsaspekte beziehen (ebd.). Als extreme Sonderfälle wären hier der Autismus (kognitive Empathie/ToM stark eingeschränkt) oder die sog ‚Psychopathie‘ (dyssoziale Störung – affektive Empathie stark eingeschränkt) zu nennen (vgl. Preckel/Kanske/Singer 2018, 2). Im obigen Zitat zur vorläufigen Definition von Empathie nach Singer ist mit der Bedingung der Isomorphie ein nicht unproblematisches, starkes Kriterium postuliert, das auf die komplexen körperbezogenen Emotionsdisplays und die zugehörigen sprachlichen Reporte der Probanden nicht immer leicht anwendbar erscheint. Das Kriterium bezieht sich hier allerdings vornehmlich auf den Bereich der neuronalen Areale und die strukturelle Homomorphie der jeweiligen aktiven neuronalen Verschaltungen, die für Singers Bereich der Forschung im Fokus stehen (vgl. Vignemont/Singer 2006, 436: Box 1). Weiterhin ist festzuhalten: Die letztgenannte Bedingung für Empathie im Zitat der obigen Arbeitsdefinition für Empathie nach Singer, dass man „weiß“, dass die andere Person die Quelle seines eigenen affektiven Befindlichkeitszustandes ist, erscheint ebenfalls nicht ganz unproblematisch, insofern dieses Wissen auch ein kognitives, intern explizit symbolisiertes und bewusstes Wissen im Sinne der ToM sein könnte. Dieses Problem wird noch verstärkt, wenn man berücksichtigt, dass die ToM zentral in die Selbst-Andere-Unterscheidung (Self-Other-Distinction) involviert ist (Preckel/Kanske/Singer 2018, 3). Das Problem erweist sich allerdings dann als weit weniger von Relevanz, wenn man den Vergleich mit der Modellierung von Fuchs heranzieht: Das betreffende „Wissen“ kann als ein implizites Wissen, ein Moment der Erfahrung eines spezifischen Bereichs des interaktiv organisierten und immer schon sozial bestimmten sensomotorischen, dispositionsgebundenen Körperschemas verstanden werden. Dass dieses implizite praktische „Wissen“ im Habitus der jeweiligen Person auf der Grundlage der persönlichen, systemischen Entwicklungs- und Beziehungsgeschichte als sehr spezielle Interaktionskompetenz induktiv erwachsen ist und aus diesem Grund zu sehr individuellen Ausformungen (Persönlichkeitsmerkmalen/Traits) und auch zu entsprechenden dysfunktionalen Persönlichkeitsstilen in der Interaktion führen kann, kann hier nicht weiter Thema sein – vgl. dazu etwa Staemmler in diesem Band. Affektive Empathie erfüllt nach Singer zwei wesentliche Funktionen in der menschlichen Interaktion, eine epistemisch-explorative (vgl. hierzu auch Liebert und Stodulka in diesem Band), und eine zur Motivierung von Altruismus

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und Kooperation im Verhalten für die menschliche Kommunikation, für das menschliche kommunikative Verstehen und Verständnis füreinander und miteinander: We propose two major roles for empathy; its epistemological role is to provide information about the future actions of other people, and important environmental properties. Its social role is to serve as the origin of the motivation for cooperative and prosocial behavior, as well as help for effective social communication. (Vignemont/Singer 2006, 435)

Entscheidend für die hier zur Debatte stehende kommunikative Funktion ist gerade die soziale Rolle der (affektiven) Empathie. Wie sehr schön der Fall der dyssozialen Störung (Psychopathie) zeigt, führt die Einschränkung ihrer Funktion zu einem mehr oder weniger ausgeprägtem (maskiertem) antisozialen Verhalten. Dies zeigt sehr deutlich, dass eine reine Favorisierung der kognitiven Empathie bzw. der ToM, wie Levinson sie in seinem Modell postuliert, vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Entwicklungen der einschlägigen Forschung, explanativ wie funktional wesentlich zu kurz greift. Psychopathen agieren gewissermaßen nach der levinsonschen Interaction Engine par excellence. Psychopathen wären danach die idealen Interaktanten, eine Konsequenz, die sicherlich niemand ratifizieren möchte. Das Problem der levinsonschen Modellierung: Die Rolle der Affekte bzw. Emotionen wird vollkommen vernachlässigt bzw. unterschätzt, dies, obwohl Levinson, wie bereits erwähnt, in anderen Zusammenhängen gerade die Zentralität einer anderen Dimension von Emotionen, die mit (Status-)Sicherheit und (Status-)Bedrohung in sozialen Interaktionen zu tun haben, im Zusammenhang mit seiner Theorie der Politeness als Theorie der Interaktionsmodalität als unumgänglich herausstellt (vgl. Brown/Levinson 1987; vgl. auch Stephen Porges (2011) zu einer allgemeineren, sehr aktuellen, phylogenetisch und neuropsychologisch fundierten Basis-Konzeption menschlicher Begegnung, Interaktion und Kooperation, die die grundlegenden Parameter für jede speziellere Theorie menschlicher Interaktion neu bestimmt). In diesem Zusammenhang wird ein weiteres Ergebnis der Untersuchungen von Singer und ihren Teams wichtig: Affektive Empathie bei negativen Emotionen kann in Abhängigkeit von der situativen Modulation und der personalen Prädisposition (spez.: Einfluss der individuellen Ontogenese – vgl. Vignemont/Singer 2006, 437f.) entweder in einen Organismus-internen affektiven Alarmzustand (negativ erlebter Stresszustand) übergehen oder, alternativ, einen nicht stressbelasteten Fürsorgemodus als Verhaltensdisposition aktivieren. Wesentlich sind hierbei die alternativen Folgezustände mit ihren koaktivierten Verhaltensdispositionen bei starkem Stresserleben (vgl. Preckel/Kanske/Singer

  Klaus-Peter Konerding 2018, 4): Je nachdem, ob das empathisch induzierte (negative) Stresserleben mit Gefühlen des Ärgers oder der Verunsicherung und Angst oder des eigenen MitLeidens verbunden ist, zeigt sich, dass entweder antisoziale Aggression im Verhalten (fight) oder aber Abwendung vom Stress auslösenden Geschehen (flight; behavioral inhibition) die Folge sein kann (vgl. ebd. und Klimecki/Vuilleumier/Sander 2016, 17). Ergänzend ist anzufügen, dass zusätzlich und alternativ zu den bisher genannten Aspekten das gemeinhin berüchtigte Zuschauerphänomen auftreten kann, und zwar dann, wenn (affektiv) empathische Betroffenheit und hierdurch induzierter Stress kaum oder nur sehr gering erfahren werden („Sensations-Lust“ als individuelles oder kollektives Explorations- und Erkundungsverhalten ohne prosoziale Verhaltensdisposition – so etwa derzeit häufig im Fall von Verkehrsunfällen mit Verletzten und Toten). Auf der anderen Seite kann das Erleben affektiver bzw. primärer Empathie aber auch in ein starkes prosoziales Verhalten münden, und zwar dann, wenn anstatt der Stress-Areale alternativ neuronale Netzwerke der sozialen Fürsorge (Care/Affiliation) und des Mitgefühls (Compassion) aktiviert werden. Diese Netzwerke unterbinden aktiv das Stress-Erleben und die Aktivierung/Erfahrung negativer Emotionen und zugehörigen Folgeverhaltens. Stattdessen sind sie für die Aktivierung starker positiv erlebter, prosozialer Emotionszustände verantwortlich, die ein umfassendes Unterstützungs- oder Hilfeverhalten gegenüber dem/den Empathisierten auslösen. Dies wiederum hat die Erfahrung zusätzlicher positiver Emotionen durch die Aktivierung des hirninternen Belohnungszentrums zur Folge: „On a neural level, compassion was accompanied by activations in reward and positive emotion related networks“ (Preckel/Kanske/Singer 2018, 4). Und dieses Fürsorge-Netzwerk (Compassion) reagiert relativ autonom, so dass es, neben bekannten exekutiven und kognitiven Funktionen der ToM (Reappraisal), zur Emotionsregulation im Sinne der Stressreduktion (damit Reduktion der Gefühle von Ärger und Angst, hier bei der Erfahrung primärer, affektiver Empathie) genutzt werden kann. Wie die alternative Aktivierung jeweils entschieden wird, hängt von individuellen Prädispositionen (traits), von individueller Betroffenheit und Befindlichkeiten, vom (sub-)kulturellen Rahmen und seinen (internalisierten) Normen (das betrifft gerade die dort relevanten narrativen Dispositive – vgl. dazu Liebert in diesem Band) und von den speziellen situativen Umständen ab (Preckel/Kanske/Singer 2018, 4). Bemerkenswert erscheint, dass schon ein Kurzzeittraining im Ausüben von „Mitgefühl“ (Compassion) bei Probanden zu einer signifikanten Veränderung bei einschlägigem Verhalten und bei den neuronalen Aktivitäten führt. (Dies gilt erst recht für langjährige Praktiker einschlägiger Autoregulationstechniken – bewusstes/attentatives Kultivieren der Ausübung von „Mitge-

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fühl“/Compassion.) Dies hat grundlegende Konsequenzen für ethische Interaktionsdispositive einer Rahmen-Kultur und damit für den Faktor des Sociocultural Frame nach Levinson: Neuroplastizität und der Kontextfaktor legen die Bedingungen dafür, ob affektive Empathie tendenziell eher zu prosozialen oder antisozialen Verhaltensdispositionen führt, gerade besonders auch in die Hände der gesellschaftlichen Ethik, ihrer einstellungsbestimmenden sowie handlungsleitenden Grundideologie und ihrer zugehörigen Praktiken (vgl. dazu auch Breyer und Liebert in diesem Band). Die zuletzt genannten Ergebnisse sind demnach zentral für menschliches Interaktionsverhalten generell. Wie eingangs bereits ausgeführt, sind Interessendivergenzen zwischen interagierenden Menschen und menschlichen Gruppen eine ständige Quelle für Konflikte. Konfliktaustragungen bzw. -bearbeitungen werden in der Regel durch kollektiv kontrollierte Verhaltensdispositive mehr oder weniger stark normativ reguliert, um exzessive oder unkontrollierte Gewaltausübung und irreparable Zerwürfnisse sozialer Beziehungen bei möglicher Konflikteskalation gruppenintern (und bisweilen auch gruppenübergreifend) tendenziell zu vermeiden. Grundlage menschlicher Kooperation ist nicht zuletzt die Erfahrung von und das wechselseitige Vertrauen auf eine gewisse Fairness im Umgang miteinander und auf die Bereitschaft, sich konstruktiv um allseits akzeptable Lösungen von Interessen- und Zielkonflikten zu bemühen. Und dies, ohne den Kontrahenten dabei hintergehen und/oder gewaltsam unterwerfen zu wollen. Dies bestimmt wiederum die grundlegenden Interaktionsmodalitäten, vor allem in den durch Individualismus gekennzeichneten, komplex geschichteten und subkulturell montierten Gesellschaften: tendenziell vertrauensgetragene Kompetitivität mit Vertrauens- und Bindungsbereitschaft auf kooperativer Grundlage einerseits oder tendenziell temporal instrumentelle Kooperation mit allgemein latent aggressiv-antisozialer Disposition andererseits. Es gilt im Auge zu behalten: Diese Alternative kann durch entsprechende Sozialisationsparameter und eine zugehörige Kommunikationskultur biokulturelledukativ wesentlich beeinflusst werden. Entsprechend stehen hier auch die Bildungsinstitutionen einer Gesellschaft in einer Verantwortung, von der Krippe und der Kita über die Schulen bis hin zur reparativ unterstützenden Praxis der „Nachbeelterung“ sowie des Kontakts mit neuen, konstruktiven, emanzipativen Formen der Beziehungs- und Selbsterfahrung in der professionellen Beratung (vgl. hierzu etwa die Arbeiten von Ulrike Lüdtke, so Lüdtke 2012, Bansner/Lüdtke 2014; zu letzterem etwa auch Konerding 2015). Anhand der Betrachtung der exemplarisch bestimmten Forschungspositionen aus den Bereichen der zeitgenössischen Psychiatrie, der Phänomenologie, der sozialen Neurowissenschaften sowie der Entwicklungspsychologie, die die

  Klaus-Peter Konerding gegenwärtige Diskussion zum Thema „Empathie“ maßgebend bestimmen, ist nachdrücklich deutlich geworden, dass eine ausschließlich und isoliert auf der ToM aufbauende Interaktionstheorie entschieden zu kurz greift. Dies soll keineswegs bestreiten, dass die Fähigkeiten, die mit Kognitions- bzw. Mentalisierungsprozessen (im Rahmen expliziter Symbolisierungen) einhergehen, wesentlich dazu beitragen, differenzierte und konstruktive menschliche Kommunikation als solche überhaupt erst zu ermöglichen. Allerdings muss dabei an zentraler Stelle berücksichtigt werden, dass eine affektive Komponente hier die alles entscheidende Bedingung und Grundlage ausmacht, auf der aufbauend eine ToM allererst angemessen fungieren kann (alternativ lebten wir nach den vorausgehenden Evidenzen möglicherweise in einer Welt von Psychopathen mit strikt antisozialer Orientierung). Entsprechend stellt sich nun die Frage, wie eine Berücksichtigung dieser Komponente in dem eingangs vorgestellten Modell nach Levinson (2006) dem Prinzip nach bestimmt und in ihrer Interaktion mit der ToM-Komponente organisiert sein könnte.

4 Menschliche Verständigung: Interaction Engine 2.0 – ToM plus affektive Empathie („EmpaToM“) Zunächst ist festzuhalten, dass die zuvor vorgestellten Ergebnisse darin konvergieren, dass die Interaction Engine Levinsons, der individuelle Anteil der potentiellen menschlichen Fähigkeiten, zu interagieren und zu kommunizieren, um die interkorporal fundierte Ebene der emotionalen Responsivität und Resonanz, hier Primäre Empathie (Fuchs 2017) bzw. (affektive) Empathie (Preckel/Kanske/Singer 2018) genannt, erweitert werden muss. Die Fähigkeit, emotional zu interagieren, ist funktional und neuronal wesentlich unabhängig von der Fähigkeit der mental simulierten Perspektivenübernahme und Intentionszuschreibung (ToM). Die Fähigkeit zur (primären) Empathie geht zudem ontogenetisch der Mentalisierungsfähigkeit zur kognitiven Perspektivenübernahme voraus und wird durch letztere in der Entwicklung erst später ergänzt (etwa ab dem 3. Lebensjahr). Im Normalfall interagieren Empathie und ToM jedoch konstruktiv miteinander – moduliert durch individuelle Persönlichkeitsmerkmale bzw. Traits (Nature and Nurture) sowie durch kulturelle und individuelle Kontexte; insbesondere geschieht dies regelmäßig in komplex erlebten sozialen Situationen (vgl. Fuchs 2017 sowie Preckel/Kanske/Singer 2018). Mit dieser erweiterten Grundkonzeption einer EmpaToM – zur Benennung vgl. Pre-

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ckel/Kanske/Singer (2018) – an der Basis der Interaction Machine ist die überfällige Ergänzung der levinsonschen Grundlagen einer allgemeinen linguistischen Interaktions- und Kommunikationstheorie im Prinzip vollzogen. Der Anschluss selbst gestaltet sich, wie es gemäß den zuvor vorgestellten, derzeit aktuellsten Theorien skizziert wurde. Es wären nun drängende Desiderate an die empirische bzw. experimentelle Forschung, Modalitäten und Parameter der Interaktion zwischen (affektiver) Empathie und ToM weitergehend und differenzierend zu klären. Zu entsprechenden ersten Schritten für die Face-to-FaceKommunikation auf ethnomethodologischer Grundlage vergleiche man etwa die Beiträge von Kupetz (Kupetz 2016 und Kupetz in diesem Band). Wichtig für die vorliegenden Überlegungen werden hier die Konsequenzen für die Gewichtung entsprechend korrespondierender Komponenten auf der Ebene der interpersonalen Interaktionsmatrix (Interaction Matrix) und des kulturellen Interaktionsrahmens (Sociocultural Frame) im Rahmen des Modells nach Levinson. Das Zusammenspiel der entsprechenden Komponenten stellt vertrauens- und bindungsstiftende Interaktionsmodalitäten mit ihren spezifischen emotionalen Qualitäten für eine gelingende, d. h. kooperative Interaktion in ein neues Licht. Das kommunikative Display und die darüber ausgedrückte kommunikativ-emotionale Grundeinstellung hat subliminal wirksame Folgen für die interaktionale Präferenzstruktur und damit für die weitere Entwicklung der Interaktion, was auf einer ganz anderen Ebene bei der Interaktion mit (Säuge-)Tieren sehr deutlich wird. Gerade in letzterem Fall fällt die responsive Reaktion sehr deutlich aus (vgl. Rettig in diesem Band): Interaktionsinteresse und kooperatives Verhalten vs. kommunikative Dysfunktion, etwa im Reitunterricht. Bezeichnenderweise trifft dies eben auch auf menschliche Interaktion und das interpersonale subliminale Sicherheitsmanagement zu, wie die Untersuchungen und die zugehörigen Überlegungen von Porges (2017) es sehr deutlich zeigen. Traditionellerweise verbindet man, wie ausgeführt, mit diesem Sicherheitsmanagement auf der ritualisierten Interaktionsebene das sogenannte FaceWork oder Face-Management und die zugehörigen kulturellen bzw. subkulturellen Politeness-Systeme. Das Face, das nach Erving Goffman das durch soziale Wertschätzung und Respekt positiv bestimmte Selbstbild eines jeden Interaktanten umfasst, ist eng mit dem Selbstwertgefühl und dem Gefühl der sozialen Sicherheit verbunden. Dies muss in jeder Interaktion erneut bestätigt oder behauptet werden, denn es ist in jeder erneuten Interaktion potentiell gefährdet. Das Selbstbild ist in der Regel dabei eng mit dem Status möglicher Rollen der sozialen Gefüge von Bezugsgruppen verknüpft. Dieser Status eröffnet und beschränkt in wesentlichen Teilen normativ und institutionell, implizit oder explizit reglementierte

  Klaus-Peter Konerding und/oder ritualisierte Handlungs- und Interaktionsdispositive (Befugnisse, Direktiven, Garantien, Obligationen), die kollektiv verfügt und überwacht werden. Die Rollen bieten für die einzelnen Interaktanten aufgrund ihrer beschränkenden Kraft relative Verlässlichkeiten, Berechenbarkeiten und daraus resultierende Sicherheiten im Bereich sozialer Interaktionen (man denke etwa an unser bürgerliches Recht). „Fällt“ jemand aus seiner Rolle bzw. wird eine von ihm ausgehende Verhaltensweise entsprechende Obligationen und Direktiven des Handlungsdispositivs verletzen, so verliert er seine Reputation, seine soziale Wertschätzung und gegebenenfalls auch sein Handlungsdispositiv: Sein Face wird in Frage gestellt und möglicherweise wird sein Ruf und damit sein sozialer Status Schaden nehmen und an Wert verlieren, bis hin zu negativen sozialen Sanktionen (im Extremfall greift das Strafrecht und die partielle und temporale soziale Segregation oder Exklusion). Hiermit ist im Weiteren das Phänomen des selektiven (bzw. ideologiegesteuerten) Einsatzes von Empathie und das der kontextbestimmten Empathieblockade, dies im Zusammenhang mit (sub-)kulturellen Narrativen und ihren handlungsleitenden Dispositiven, sehr eng verknüpft (vgl. dazu speziell Liebert und Rothenhöfer in diesem Band). Politeness-Praxen und -Regeln steuern den respektvollen, sicheren und sichernden Umgang mit dem eigenen und dem fremden Face in einer Interaktionssituation, die zunächst bzw. in erster Linie auf Kooperation angelegt ist (klassisch Grice 1968, 1975). Brown und Levinson haben versucht, Universalien an Strategien und Formen zu bestimmen, die das Bedrohungspotential in sprachlichen Handlungen mindern können (Brown/Levinson 1987). Auch wenn immer wieder bezweifelt wurde, dass Universalien nahe der sprachlichen Ausdrucksebene existieren, wie Brown und Levinson es insbesondere vertreten, ist dennoch allgemeiner anzunehmen, dass spezifische multimodale Ausdrucksdisplays, gepaart mit entsprechenden sprachlichen Mustern, die an inkorporierte Schemata von kulturell in der Ontogenese geprägten interkorporalen Erfahrungen anschließen, komplementäre Responsivmuster beim Interaktionspartner auslösen, die reaktiv durch die erlebten Zustände von Zuneigung oder Abneigung bzw. Nähe oder Distanz, Vertrauen oder Misstrauen bzw. Freundlichkeit oder Bedrohung bestimmt sind (Präferenzmuster in der Sequenzialität – wie es die Sprichwörter schon sagen: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus, Druck erzeugt Gegendruck, Der Ton macht die Musik). PolitenessSysteme sind emergente Phänomene, sie sind stark ritualisiert und befinden sich im ständigen impliziten Wandel. Sie sind nichtsdestoweniger notwendig und funktional, um Stabilität in sozialen Begegnungen und Interaktionen zu ermöglichen und das latente Bedrohungspotential und die Gefahr der Aktivierung zugehöriger Basis-Affekt-Zustände (Flight or Fight) zu mindern. Mehr Be-

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wusstheit für Umgangs- und Begegnungsformen, für ihre Funktionalität, für die Kultivierung sowie die ethisch reflektierte edukative Pflege und Entwicklung entsprechender Ausdrucksformen und Interaktionsfähigkeiten – gerade auch in herausfordernden Kontexten – ist damit ein drängendes Desiderat an eine zivilisiertere und aufgeklärtere kulturelle Praxis, insbesondere für die sich selbst derart charakterisierenden zeitgenössischen Gesellschaftstypen. In Bezug auf die vorliegende Ausgangsfrage nach der Integration von Faktoren primärer bzw. affektiver Empathie (sowie der darauf aufbauenden Empathie-Dimensionen und -funktionen) in das Modell einer Agency-bezogenen Interaction Engine nach Levinson, sollte entsprechend komplementär eine Neubewertung und Neubetrachtung sowie prominent Stellung von Politeness-Systemen in der Interaction Matrix und im Sociocultural Frame (vgl. Enfield/Levinson 2006, Levinson 2006) erfolgen – und zwar – dies als zentrales Desiderat – erweitert auf konstruktive kooperative Modi und die zugehörige Beziehungsmodulation (Kooperationskultur). Diese gilt es als bewusst kultivierte und optimierte zunächst noch zu entwickeln. Letztere ist bisher mehr oder weniger implizit und kontingent von der individuellen bzw. kollektiven Sozialisationsgeschichte und zugehörigen kulturellen Narrativen abhängig und von diesen zu weiten Teilen implizit bestimmt (sogenannte Soft Skills – man vgl. hierzu auch die hier zentral einschlägigen Überlegungen von Norbert Elias (1939) zum direkten Zusammenhang von Sozio- und Psychogenese im Rahmen der neuzeitlichen Zivilisationsgeschichte).

 Zwischenmenschliche Begegnung: Kommunikation, Emotion, Empathie und sprachliche Modi – ein vorläufiges Fazit Ausgehend von den zeitgenössischen Modellbildungen zum Bereich der sprachlichen Verständigung, Interaktion und Kooperation im Rahmen der (traditionellen) linguistischen Pragmatik wurde das neogricesche Modell nach Stephen Levinson von 2006 als weitgehend repräsentativ für den einschlägigen Stand der linguistischen Diskussion um die Jahrtausendwende bestimmt. Vor dem Hintergrund der fundamentalen Veränderungen der interdisziplinären Untersuchungen im Bereich der kognitiven Wissenschaften seit Beginn der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts, die zur Entdeckung der prominenten Rolle der Körperlichkeit und der der Emotionen für menschliche Kognition, für menschliches Verhalten und speziell für menschliche Interaktion führte, wurde geprüft, in-

  Klaus-Peter Konerding wieweit dieses Modell entsprechenden Revisions- und Modifikationsbedarf aufweist. Zu diesem Zweck wurden zwei repräsentative aktuelle Forschungspositionen aus dem Bereich der Psychologie/Psychiatrie (Fuchs) sowie aus dem Bereich der sozialen Neurowissenschaften (Singer) herangezogen, um diesen Bedarf zu klären und zu spezifizieren. Im Zentrum stand dabei die menschliche Fähigkeit zur Empathie, zur „Einfühlung“ in die jeweils situierten Lebensvollzüge, Bedürfnisse und Intentionen, die jeweilige psychophysische Befindlichkeit des begegnenden und interagierenden Anderen, in interkorporal-affektiver sowie in kognitiver Perspektive. Beide Forschungspositionen, die ihrerseits an einen reichhaltigen Forschungsfundus anknüpfen, bestätigen nachdrücklich, dass zwischen zwei grundlegenden Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme unterschieden werden muss, die im Prinzip auch physiologisch unabhängig voneinander in Funktion treten können, und die in komplexen Situationen, abhängig von der situativen Modulierung, in der Regel miteinander interagieren und einander konstruktiv ergänzen. Auf der einen Seite steht die auf der interkorporalen Kopplungserfahrung mit der unmittelbaren Bezugsperson, vor allem des ersten Lebensjahres, beruhende Fähigkeit zur internalisierten affektiven Resonanz und emotionalen Kommunikation, die sich zur Fähigkeit der affektiven Empathie entwickelt. Auf der anderen Seite steht die auf erste Mentalisierungserfahrungen im Kontakt mit der Bezugsperson aufbauende bewusste Erinnerung und inferenzielle Simulation, die zum Aufbau der Fähigkeiten einer ToM führt. Wichtig waren in diesem Zusammenhang zwei wesentlich Aspekte: Eine ToM als regulatives Komplement einer erweiterten Empathie ist nur dann funktional, wenn sie mit der affektiven Komponente der primären Empathie auf Grundlage des Horizonts der interkorporalen Kopplung, die ontogenetisch letzterer immer vorausgeht, produktiv interagiert. Es zeigt sich zudem sehr deutlich, dass bei der Interaktion die situative emotive Disponiertheit, Betroffenheit und Haltung der Interaktionspartner, ihr wechselseitiges Vertrauen, ihre Verbundenheit und erfahrene Verlässlichkeit (Loyalität) sowie ihre Regulationsfähigkeit hinsichtlich der eigenen und der fremden Emotionen (sogenannte Softskills) ein wesentliches Moment dazu beisteuern, ob und wie Kooperation möglich wird, ob diese zufriedenstellend oder unbefriedigend verläuft, oder etwa sogar scheitert. Entsprechend muss bei der Erkundung und Simulation der Intentionen und der mentalen Welt des Interaktionspartners auch dessen emotive Disponiertheit, Beteiligung und Verletzlichkeit Berücksichtigung finden, und zwar wesentlich über das Maß formaler Höflichkeitssysteme und -regeln hinaus. Hiermit werden aber gerade diejenigen erfahrbaren Qualitäten des zwischenmenschlichen Kontakts relevant, die man traditionell mit Empathie, Einfühlung und Mitgefühl bezeichnet. Hierbei ist es wichtig festzuhalten, dass bei

Kommunikation – Verständigung – Empathie  

der Erfahrung affektiver Empathie bei dem/der Empathisierenden stressbedingt – oder auch ideologiebedingt (Identität-Alterität sowie zugehörige einstellungsinduzierende und verhaltensleitende diskursiv-narrative Dispositive, vgl. etwa Schwarz-Friesel 2007, 81ff., Breithaupt 2017, Liebert in diesem Band) – eine graduelle Empathieblockade ausgelöst werden kann, die zudem in antisoziales Verhalten umschlagen kann. Bezeichnenderweise kann aber schon durch ein Kurzzeittraining im sogenannten „Mitgefühlmodus“ (Compassion) das phylogenetisch angelegte neuronale Fürsorge-Netzwerk (Care) bei affektivem Empathieerleben aktiviert werden, welches in der Folge prosoziales Verhalten motiviert: Hier also steht auch die betreffende Kultur bzw. die kollektive Willensbildung in einer gewissen edukativen Verantwortung, will sie eine konstruktive und kooperative Konfliktbewältigung auch in prinzipiell kompetitiven Prozessen erwirken. Nicht zuletzt soll auf die erforderliche Erweiterung des pragmatischen Interaktionsmodells nach Levinson aufmerksam gemacht werden: Die Interaction Engine bedarf der genannten Erweiterung durch die entsprechende Berücksichtigung der Funktion der (affektiven) Empathie. Ein Gegenstück im Bereich der Interaction Matrix der interpersonalen Praxen und ihrer Regularitäten stellt die Systeme der Politeness in ein neues Licht: Interaktionsmodalitäten entscheiden darüber, ob Kooperation gelingt oder nicht (prosoziales bzw. antisoziales Verhalten und entsprechend emotional/motivational bestimmte Dispositionen). Hier geht es darum, zugehörige Praxen und kommunikative Modi in diesem neuen Licht zu untersuchen und Kultivierungs- und Entwicklungserfordernisse zu erkunden: Diese sind letztlich maßgebend dafür, dass pro- oder antisoziale Dispositionen auf der ontogenetischen Ebene zur Expression gelangen (phylogenetisch präspezifizierte Interaction Engine). Im Bereich des Sociocultural Frame gilt es der Herausstellung sowie der Untersuchung und Überprüfung zugehöriger Institutionen und Ordnungssysteme, der betreffenden Regularien. Hier wären gerade diejenigen Bedingungen zu erkunden, die die Praxen (Dispositive) für prinzipiell prosoziale Haltungen bei prinzipiell kompetitiven Interaktionen aufweisen sowie diese erfolgreich regulieren. Entsprechend wären hier auch die sozialpsychologischen Ergebnisse zur InterGruppen-Kooperation einzubeziehen. Das modifizierte Modell menschlicher Interaktion und Kommunikation macht recht deutlich, dass eine bewusste Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die betreffenden Zusammenhänge und für eine entsprechende Bewusstseinsbildung bzw. für Aufmerksamkeit auf die soziale Begegnungskultur, sowie für die Vermittlung zugehöriger Kompetenzen, für die weitere kulturelle Entwicklung förderlich erscheint. Ein bloßes Vertrauen auf emergente Prozesse er-

  Klaus-Peter Konerding scheint hier – zumindest für die nächsten Generationen – sicherlich weniger hilfreich. Denn: In Anlehnung an ein Bonmot von Edward Wilson, dem wohl einflussreichsten Soziobiologen unserer Zeit, ist festzuhalten: Wir Menschen verfügen derzeit über eine futuristisch gottgleiche Technik und entsprechende technische Fähigkeiten, über soziale Institutionen, die letztlich aus der Antike stammen, und noch immer über weitgehend steinzeitlich fungierende (verhaltensmotivierende und -steuernde) Emotionen. Vor dem Hintergrund der zentralen Rolle, die Emotionen für unsere (gerade auch soziale) Existenz einnehmen, sollte diese Feststellung nicht unbeachtet bleiben. Die bewusste, umsichtige Kultivierung und Entwicklung emotional bestimmter Kompetenzen im Rahmen der Ontogenese, unter Berücksichtigung der interpersonalen Modi und der soziokulturellen – ethischen – Grundorientierungen, bleibt ein drängendes Desiderat an die edukative Zukunft einer weiterhin aufzuklärenden Kultur.

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Kommunikation – Verständigung – Empathie  

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Wolf-Andreas Liebert

Hermeneutik und Empathie Zusammenfassung: Der Artikel setzt an der hermeneutischen und kulturwissenschaftlichen Tradition in der Linguistik an und entwickelt einen Empathiebegriff, der sich auch auf Fiktionales, Abwesendes oder Dingliches beziehen kann. Empathie wird mit Bezug auf Plessners exzentrische Positionalität als Immersion in die Welt des Anderen, sein Erleben und sein Sich-Selbst-Erleben verstanden. Diese Immersion wird dabei wesentlich von der Vorurteilsstruktur und vom Vorverständnis geprägt. Als ein zentrales Element dieser Vorurteilsstruktur wird die Narration ausgemacht. Dies wird in einer Reihe von „Empathieexperimenten“ vorgeführt, die zunehmend deutlich machen, wie stark Empathie und empathisierende Praktiken in kulturellen Verstehensstrukturen, Diskursen und Dispositiven verankert sind. Um diese normative Eingelassenheiten von Empathie analytisch greifen zu können, werden die Begriffe des „Empathiedispositivs“ und der „Selektivität von Empathie“ entwickelt. Demnach haben wir immer für bestimmte Entitäten Empathie, während wir sie zugleich für andere abblocken. Schließlich wird Empathie mit nicht-menschlichen Wesen, Abwesendem und Fiktionalem diskutiert. Dabei greift der hermeneutische Ansatz auf die neuere Animismus-Diskussion zurück und entwickelt einen „reflektierten Animismus“. Empathie zeigt sich damit insgesamt als kulturelles, normatives Konstrukt, das mit Bezug auf Hannah Arendt auch Perspektiven auf eine Empathie des Bösen bzw. eine totalitäre Empathie ermöglicht, bei der beispielsweise ein Adolf Eichmann für die von ihm zum KZ Verurteilten Mitleid zum Ausdruck bringt und sich für verbesserte Lagerbedingungen für diese einsetzt. Schließich werden Konsequenzen für eine kulturwissenschaftliche und hermeneutisch orientierte Linguistik gezogen. Schlüsselwörter: Animismus, Diskurs, Dispositiv, Empathiedispositiv, Empathie des Bösen, Empathie mit Abwesendem, exzentrische Positionalität, Hermeneutik, Immersion, Narration, selektive Empathie, Sich-Selbst-Erleben, totalitäre Empathie

 Wolf-Andreas Liebert, Universität Koblenz-Landau, Institut für Germanistik, Universitätsstr. 1, 56070 Koblenz, Tel.: +49 0261 287-2052, liebert[at]uni-koblenz.de https://doi.org/10.1515/9783110679618-006

  Wolf-Andreas Liebert

 Einleitung

Abb. 1 und 2: „Death is certain.“, Performance von Eva Meyer-Keller am 2. Juli 2016 in der Koblenzer Stadtbibliothek im Rahmen meines Seminars „Empathie und Performance“, (Bild: Marius Adam)

„Death is certain.“ lautet der Performancetitel der Künstlerin Eva Meyer-Keller, in der sie 20 Kirschen auf ‚grausame‘ Weise durch Wurfpfeile, Entflammen, Bügeleisen und viele andere Arten mehr ‚ermordet‘. Wer einmal bei einer dieser Aufführungen dabei war, der merkt, wie das Publikum mitgeht und sich zwangsläufig eine Parteinahme für jede einzelne malträtierte Kirsche einstellt. Offensichtlich findet hier so etwas wie Empathie statt. Doch wie soll das gehen – Empathie mit Kirschen? Schließlich haben die Früchte keine Spiegelneuronen… Ein simplifizierender neurowissenschaftlicher Empathiebegriff kommt hier offensichtlich nicht weiter, doch auch die Hermeneutik wird durch das Verstehen von Kirschen vor Probleme gestellt. Im Folgenden soll ein linguistisch verwertbarer Empathiebegriff eingeführt werden, der solche Phänomene einschließt, und der geeignet ist, an die bisherigen Traditionen der Hermeneutik und der Empathieforschung anzuschließen, um damit Sprache und kommunikative Praktiken im Alltag sowie in speziellen Domänen und Situationen zu untersuchen, die auch Fiktionales einschließen. Dazu sollen zuerst die Begriffe Hermeneutik und Empathie entwickelt werden.

 Hermeneutik In der Hermeneutik geht es um das Verstehen. Verstehen wird als ein Prozess von verfestigtem Vorverständnis und seinen Veränderungen im Kontakt mit der Umwelt betrachtet. Das Fragliche ist also immer nur partiell: Wenn sich Fragli-

Hermeneutik und Empathie  

ches aufwirft, gibt es dabei immer auch Selbstverständliches, dass unbefragt, still und wirksam verbleibt. Der hermeneutische Prozess kann also als ein Zugleich von Störung (Jäger 2007) und Routine beschrieben werden, bei dem sich der dem Verstehensprozess Unterworfene selbst verändert. Es handelt sich also nicht um die Unterscheidung von Implizitem und Explizitem, sondern von Fokussiertem und Unfokussiertem. Dabei hört das Fragliche nie auf, es stellt eine kontinuierliche Belastung dar, was zu einem andauernden Adaptions- und Veränderungsprozess führt. Dies hat deshalb viele Versuche hervorgebracht, das Fragliche ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen, etwa in Form einer absoluten Wahrheit in Religion, Philosophie oder Politik. Wer also viel oder womöglich gar alles verstanden hat, so dass nichts mehr fraglich erscheint, der ist aus hermeneutischer Sicht mit ziemlicher Sicherheit auf dem Holzweg. Nach Schleiermachers Konzept von Hermeneutik trägt das Verstehen gestaltähnliche Züge: Das Verstehen kann zuerst vage und schemenhaft sein und sich erst allmählich konturieren, bis schließlich am Ende ein klares Bild entsteht. Verstehen kann somit auch scheitern, wenn sich nämlich überhaupt keine Antwortvermutung ergibt oder es bei bloß Schemenhaftem bleibt (vgl. Schleiermacher 1977). Kritisch wurde die Hermeneutik gefragt, inwiefern es sich hier um einen Fanatismus der Klarheit handele (Hörisch 1988), der in seinem Totalitätsanspruch vielleicht sogar totalitäre Züge trage. Letzteres kommt insbesondere in der Debatte zwischen Hans Georg Gadamer und Jacques Derrida (vgl. z. B. Bernstein 2008) zum Ausdruck. Wenn man überhaupt ein Resümee dieser Debatte ziehen kann, so bestünde es sicherlich darin, dass das Verweigern des Verstehens ebenso zur Hermeneutik gehören muss wie das Verstehen selbst, und dass das Verstehen aufgrund seiner personalen und lokalen Gebundenheit per se nie völlig klar sein kann, und dass das Verstehen des Anderen letztlich unerreichbar bleibt oder genauer: Dass dem Verstehen, so tief es auch sein mag, immer etwas Unerreichbares eignet, was das Fragliche ständig erneuert. Diese Debatte hat aber auch deutlich gemacht, dass das grundlegende Verständnis von Verstehen als einer Läuterung der eigenen Vorurteile in Bezug auf ein Fragliches, ja, welches sogar das Fragliche als Fragliches selbst thematisiert, nach wie vor eine tragfähige Vorstellung bildet, das mit der Metapher des hermeneutischen Zirkels beschrieben wird (vgl. Gadamer 1990; Liebert 2016). Der Zirkel entsteht mit einem Fraglichen. Wie eben angedeutet, ist damit auch das Fragliche selbst schon fraglich: Warum wird mir im Moment gerade dieses fraglich und nicht ein anderes? Warum erscheint dieses als Fragliches im Diskurs? Und das heißt auch im Fachdiskurs. Warum entsteht überhaupt etwas

  Wolf-Andreas Liebert Fragliches? Dies wurde sowohl von Jacques Derrida als auch von Bernhard Waldenfels ausführlich thematisiert (vgl. Waldenfels 2007, 146ff.). Dadurch dass sich etwas Fragliches zeigt, werde ich darauf gestoßen, dass es vieles gibt, was bereits verstanden wird, es wurde vorhin beschrieben als stilles, unfokussiertes Verstehen. Dies stellt den Hinter- oder besser Untergrund des Fraglichen dar (Habscheid 2016), die Vorurteilsstruktur des Diskurses mit seinen jeweiligen Aprioris, aber auch die je eigene, subjektive, im Diskurs positionierte. Ich kann nun versuchen, die Vorurteilsstrukturen zu untersuchen: Was erweist sich als robust, was als nur schlecht begründetes Urteil? Ich kann die kulturellen und diskursiven Voreingenommenheiten zumindest teilweise explizieren, und ich kann sie mit den Verständnissen anderer vergleichen und mich damit an Interpretationsgemeinschaften anschließen oder mich von ihnen abgrenzen. Mit dem Auftauchen des Fraglichen beginnt die Suche nach einem Antwortenden, es erhebt sich der Anspruch, wie Waldenfels (2007) es nennt. Dabei ist das Fragliche allerdings nicht primär, vielmehr muss dem Antwortlichen oder Responsiven ein Eigenwert zuerkannt werden: „Die Antwort steht nicht höher und nicht niedriger als der Anspruch, speziell der Frageanspruch“ (ebd., 193). Das Antwortende muss keine Person sein, es kann ein Text oder irgendetwas sein, mit dem wir in Resonanz gehen können. Wie vielfältig das Antwortende sein kann, hat Hartmut Rosa (2016) kürzlich mit seiner Resonanztheorie, insbesondere mit dem Begriff der Resonanzachsen, gezeigt, die neben dem personalen Bereich auch Materialien oder die Natur einschließen. Das Antwortliche oder das durch die Frage in Anspruch Genommene kann bestenfalls eine Antwort geben, aber nicht, indem gehorsam die Frage beantwortet wird, sondern indem sich das Antwortliche oder Responsiv, wie Waldenfels sagt, in seinem Eigensein zeigt: Falls es einen genuinen Responsiv gibt, sprengt er von vornherein den Kreis, mit dem selbst der reine Interrogativ sich noch um sich selbst dreht. (Waldenfels 2007, 193)

Die Antwort ist demnach riskant, denn sie ist geeignet, nicht einfach die Frage zu beantworten, sondern die Vorurteilsstruktur des Fragenden zu verändern, so dass im besten Fall ein kathartisches Moment entsteht, das wir als Verstehen empfinden, ein Aha, das sich auf einmal einstellt und das über die Antwort hinausgeht, da sie unser gesamtes Deutungskonzept verändert. Wir sehen das Fragliche nun mit anderen Augen, d. h. mit einer veränderten Vorurteilsstruktur. Dadurch werden jetzt weitere, neue Fragen aufgeworfen – und der Zirkel beginnt aufs Neue (vgl. Liebert 2016).

Hermeneutik und Empathie  

 Empathie . Empathie in der Linguistik In der Linguistik wurde die Hermeneutik als theoretisches Konzept erst spät von Ludwig Jäger (1977, 2007), Bernd Ulrich Biere (1989) und Fritz Hermanns (2007, 2009) eingebracht, zumeist mit Bezug auf Schleiermacher, manchmal auch Humboldt. Fritz Hermanns (2007) war es auch, der den Empathiebegriff als Teil der linguistischen Hermeneutik in die Linguistik eingeführt hat. Der programmatische Titel lautet: „Empathie. Zu einem Grundbegriff der Hermeneutik“. In dieser exhaustiven Arbeit stellt er sämtliche, damals bekannten Empathiebegriffe einschließlich ihrer Geschichte vor, und führt eine Fülle von Unterscheidungen und Begriffen ein, die im Weiteren auch an verschiedenen Stellen eine Rolle spielen werden. Auch greift er die damals aktuelle Theorie der Spiegelneuronen auf und macht sie zu einem grundlegenden explikativen Konzept von Empathie. Dies hat jedoch Folgen, denn während Hermanns in einer früheren Arbeit aus dem Jahr 2003 das Thema Empathie bereits streift und dabei auf den Erlebensbegriff Diltheys zurückgreift (Hermanns 2009, 199ff.), gibt er dies nun zu Gunsten einer Vereinnahmung der Theorie der Spiegelneuronen auf, das Erleben wird dabei auf einen reflexartigen Automatismus reduziert (2009, 143). Im Folgenden soll nun dahingehend argumentiert werden, dass sich dieser Weg einer Letztbegründung von Empathie durch Spiegelneuronen als Sackgasse erwiesen hat (vgl. dazu auch Breithaupt 2017; Hickok 2015) und dass die ursprüngliche Idee, das Erleben zu thematisieren, für eine pragmatistisch oder kulturwissenschaftlich orientierte Linguistik den weiterführenden Weg darstellt.

. Zu einem erlebensorientierten Empathiebegriff Während die grundlegende Frage nach der Möglichkeit von Empathie durchaus gestellt werden kann, ob also Empathie überhaupt möglich sei (z. B. von Thomas Nagel (2007); vgl. auch Liebert 2019), konvergieren die bekannten Begriffsbestimmungen letztlich in dem Punkt, dass Empathie im Wesentlichen ein Sich-Hineinversetzen in einen Anderen sein soll, gepaart mit einem Miterleben. Die Frage, wie das denn eigentlich gehen möge, wird dann allerdings selten gestellt. Eine mögliche Antwort kann in Auseinandersetzung mit der Philosophischen Anthropologie gewonnen werden. Nach Helmuth Plessner (1975)

  Wolf-Andreas Liebert zeichnet das Menschsein im Unterschied zum Tiersein die so genannte „exzentrische Positionalität“ aus. Als Ich, das die volle Rückwendung des lebendigen Systems zu sich ermöglicht, steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern „hinter“ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts, geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann. Ortlos-zeitlos ermöglicht er das Erlebnis seiner selbst und zugleich das Erlebnis seiner Ort- und Zeitlosigkeit als des außerhalb seiner selbst Stehens, weil der Mensch ein lebendiges Ding ist, das nicht mehr nur in sich selber steht, sondern dessen „Stehen in sich“ Fundament seines Stehens bedeutet. (…) Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben. (Plessner 1975, 292)

Mit dem Begriff der „exzentrischen Positionalität“ ist also ein Selbstverhältnis als eines Sich-Selbst-Erlebens gemeint, das zugleich die spezifische Möglichkeitsbedingung für das Menschsein formuliert. Dieses Sich-Selbst-Erleben geht damit über Empathieformen des Miterlebens (Hermanns 2007, 2009; Breithaupt 2009, 2017) hinaus. Während das Miterleben die animalische und einfache humane Empathie gleichermaßen beschreibt, ist erst das menschliche Selbstverhältnis des Sich-Selbst-Erlebens die Basis für ein Hineinversetzen in ein Anderes, das über das strategische Berechnen von Verhaltenszügen hinausgeht. Durch die „exzentrische Positionalität“ des Menschen wird also überhaupt erst so etwas wie das Selbst-Erleben eines Anderen, wie es für mich ist, möglich. Für diese, über die nachahmende, animalische Empathie hinausgehende Form wurde auch der Begriff der „Einfühlung“ geprägt. 1 Es handelt sich dabei nicht um etwas Reflexhaftes wie beim Miterleben, sondern um etwas Exploratives, welches das Andere aus seinem Sich-SelbstErleben heraus erforscht. Damit kommt das Andere nicht einfach als Personenschema zum Vorschein, sondern als ganze Welt, seine Welt. Wir finden damit also auch Anschluss an das pragmatistische Identitätskonzept von William James, bei dem zu meiner Identität bekanntlich auch alles dazugehört, was zu meiner Welt gehört: In its widest possible sense (…) a man’s Self is the sum total of all that he CAN call his, not only his body and his psychic powers, but his clothes and his house, his wife and children, his ancestors and friends, his reputation and works, his lands and horses, and yacht and bank-account. (James 1890, 291 – H. i. O.)

 1 Vgl. Stein 1980, Curtis/Koch 2008; zur Begriffsgeschichte vgl. auch Hermanns 2007.

Hermeneutik und Empathie  

Diese Definition muss sicherlich durch Verallgemeinerung von der Vorurteilsstruktur des 19. Jahrhunderts gelöst werden: Zur Identität einer Person soll also alles gehören, was sie als das ihrige, als ihre Welt benennt, einschließlich ihrer Sehnsüchte, ihrem Scheitern, aber auch ihrer Freunde und Verwandten und ihrer materiellen Besitztümer. Zu solchen Identitätsbeschreibungen gehören auch Sinnformeln (Geideck/Liebert 2003) als „Artikulationen von Selbstdeutungen“ (Schneider 2017, 229). Empathie, so können wir also vorläufig festhalten, ist die Immersion in die Welt des Anderen, sein Erleben und sein Sich-Selbst-Erleben. Diese Immersion wird, so können wir es aus der Hermeneutik übernehmen, wesentlich von der Vorurteilsstruktur und dem Vorverständnis geprägt werden, das sich durch die Empathie – möglicherweise – verändern wird. Als ein zentrales Element dieser Vorurteilsstruktur kann mit Fritz Breithaupt (2009) die Narration ausgemacht werden, die im nächsten Abschnitt behandelt werden soll.

 Narration Fritz Breithaupt (2009) hat hervorgehoben, der Narration komme bei der Empathie eine bedeutende Rolle zu. Zunächst soll dies an zwei ‚Empathieexperimenten‘ plausibel gemacht werden, bevor die Narration analytisch in den Empathiebegriff eingearbeitet wird. Empathieexperiment 1: Fühlen Sie sich in die Person ein, die Sie in Abbildung 3 sehen, indem Sie sie betrachten und dabei folgende Fragen stellen: – Was ist das für ein Mensch? Wie sieht seine Welt wohl aus? – Überlegen Sie: Was denkt er wohl? In welcher Denkwelt ist er zu Hause? – Was mag er fühlen? – Welche Wünsche und Sehnsüchte mag er haben?

  Wolf-Andreas Liebert

Abb. 3: Empathieexperiment 1

Angenommen, Sie hätten erfahren, dass diesen Mann gerade ein Schicksalsschlag getroffen hätte: Wie würde seine Welt dann aussehen? Was wäre das für ein Leben? Was für ein Lebensgefühl? Was würde er denken, fühlen, wünschen und hoffen? Angenommen nun, es hätte sich ganz anders verhalten: – eine Verwechslung!, wie Ihnen mitgeteilt wird – das Bild zeigt vielmehr den Mann, als ihm gerade die geniale Idee für seinen neuen Roman gekommen war, eine so gewaltige Erneuerung des Romans, dass er später für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen werden würde. Was wäre jetzt sein Lebensgefühl? Wie sähe seine Welt aus? Was würde er denken, fühlen, wünschen und hoffen? An diesem ersten Empathieexperiment lässt sich bereits erkennen, dass die Narration offensichtlich einen entscheidenden Beitrag leistet, um die Empathie in eine bestimmte Richtung zu lenken. Die Narration muss dazu nicht überprüft werden. Es genügen die Glaubwürdigkeit des Narrators und die Vorurteilsstruktur des Rezipienten. Dies erinnert an populistische Strategien der Meinungsbeeinflussung durch virale Gerüchte in sozialen Medien (vgl. Liebert 2015). Narration spielt aber nicht nur eine wichtige Rolle bei der Ermöglichung und Richtungsweisung von Empathie, sondern auch dabei, ob Empathie überhaupt zustande kommt. Empathieexperiment 2: Um das Empathieexperiment 2 durchzuführen, betrachten Sie bitte das Bild in Abbildung 4:

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Abb. 4: Empathieexperiment 2

Wir sehen einen älteren Mann, der wie ins Leere zu blicken scheint. Die Assoziationen könnten vielfältig sein und in unterschiedliche Richtungen gehen. Die folgende Erzählung soll nun der Kontext für das Bild sein: Es handelt sich bei der Person auf diesem Bild um den Arzt und Psychiater Dr. Adolf Wahlmann, der während des Naziregimes von 1942 bis 1945 Leiter von Hadamar war. Hadamar war eine der wichtigsten Tötungsanstalten für behinderte und psychisch kranke Menschen, die aufgrund der nationalsozialistischen Rassentheorie ausgewählt und vernichtet wurden. Man nannte dies dann beschönigend ‚Euthanasie‘, also ‚guter Tod‘, manchmal auch ‚Gnadentod’. Bei den meisten Rezipienten bewirkt das so kontextualisierte Bild eine Sperrung der Einfühlung, etwas, das die beginnende Empathie in diese Person und ihre Welt relativ abrupt blockiert hat. Wir müssen gar nicht wie im ersten Experiment eine konkrete Geschichte der konkreten Situation erzählen, inklusive dessen, was die Person gerade plant oder denkt, da nun mit den Sinnformeln 2 Hadamar und Euthanasie sämtliche damit zusammenhängenden, grausamen Geschichten der Nazizeit auf einen Schlag präsent sind und sich in das Bild einschreiben. Dieses Sperren beschreibt Fritz Breithaupt (2009) als ‚Blockade‘ der Empathie. Der Ansatz von Breithaupt, wonach die Narration ein entscheidendes Steuerungsmittel für die Empathie darstelle, und zwar sowohl für eine explorative Einfühlung als auch für eine Blockade von Empathie, kann somit plausibilisiert werden.

 2 Vgl. Geideck/Liebert 2003; Liebert 2003.

  Wolf-Andreas Liebert Zugleich hat gerade das zweite Empathieexperiment gezeigt, dass der narrative Kontext auch einen Diskurskontext darstellt, denn die Blockade funktioniert nur deshalb, weil es derzeit einen common sense gibt, dass diese Form der Medizin verdammenswert ist, und Personen, die so gehandelt haben oder auch heute noch so denken, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden müssen. Hermeneutik bedeutet also nicht einfach eine subjektive Theorie oder subjektive Vorurteile, sondern ist immer historisch zu verstehen (Gadamer 1990). Verstehen in seinen Ebenen des stillen Verstandenen und des aufgewühlten Verstehensprozesses ist also durch Narrationen geprägt, die selbst wiederum Teil des Diskurses sind. Empathie ist durch diese Vorgaben also in viel stärkerem Maße bestimmt, als es in der Literatur bisher erscheint: In welches Andere wir uns einfühlen wollen oder nicht, hängt stark davon ab, in was wir uns einfühlen sollen oder sogar müssen oder eben gerade nicht dürfen. Dies soll später unter dem Stichwort der „Sozialität der Empathie“ eingehend behandelt werden. Zunächst soll allerdings ein Zwischenfazit gezogen werden, auf dessen Basis dann zunächst die Empathie mit Fiktionalem und Nicht-Menschlichem geklärt werden soll.

 Zwischenfazit . Empathie als explorative Fähigkeit Empathie oder Einfühlung sind nicht auf das Gefühl beschränkt. Diese Gleichsetzung von Empathie und Emotion oder emotionaler Intelligenz oder von Empathie und Mitgefühl oder gar Mitleid, findet sich häufig in der populären Empathieliteratur. Wie bereits Fritz Hermanns (2009) herausgestellt hat, können wir uns eben nicht nur in die Gefühle anderer einfühlen, sondern auch in ihr Denken oder ihre Wünsche und Hoffnungen, ja in ihr gesamtes Leben, ihre Welt, ihr Lebensgefühl und ihre Lebensgeschichte. Dies ist auch kein Wunder, denn zuvor hatten wir Empathie ja als eine Immersion in die Welt eines Anderen, in seine Welt betrachtet, die wir erleben und diese auch als sein Selbst, seine Geschichte erleben. Empathie in dieser Bedeutung wurde vorhin mit dem deutschen Wort „Einfühlung“ synonym gesetzt. Zwar enthält „Einfühlung“ das Kernmorphem „fühlen“, doch bezeichnet das Kompositum eben kein Gefühl wie Wut, Angst oder Freude. Es wird damit vielmehr eine explorative Fähigkeit benannt herauszufinden, mit wem oder was wir es beim anderen zu tun haben. Explorativ bedeutet, dass wir uns auch irren können. D. h. wir haben eine Vermutung darüber, was der Andere denken, fühlen und wünschen mag. Diese

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Vermutung mag sich im nächsten Zug der Interaktion mit dem Anderen als brüchig erweisen oder sich stabilisieren. Findet keine Interaktion statt, kann sich die Vermutung unhinterfragt in wilde Fantasien versteigen. Deshalb finden wir in der gegenwärtigen Situation einen hohen Anteil von Angst vor Geflüchteten in Gegenden, in denen kaum welche anwesend sind, und es damit auch zu keinen Interaktionen kommt, und dort, wo relativ viele Interaktionen sind, entsprechend weniger. Interaktion kann Empathie vor einem emotionalen und kognitiven Abdriften bewahren. Wir sind somit wieder auf den hermeneutischen Zirkel zurückgeworfen, der die Wiederbegegnung des um (zumindest einige) Vorurteile Geläuterten mit seinem fraglichen Gegenüber bedeutet. Der projektive Anteil der Empathie kann also in gewissem Umfang überprüft werden, wenn wir mit dem Anderen darüber kommunizieren, und daher sind diese kommunikativen Verfahren der Überprüfung unserer Hypothesen über den Anderen und seine Welt das wichtigste Hilfsmittel für Berufe, in denen Empathie als Profession betrieben wird, also in der Therapie, in der Schule, im Verkauf oder im Profiling. Hier kann sich auch die linguistische Gesprächsforschung auf sicherem Terrain bewegen (Pfänder/Gülich 2013, Kupetz 2015, in diesem Band).

. Vielschichtigkeit der Empathie Wie vielschichtig Empathie ist, hat Fritz Hermanns (2009) in Anlehnung an Jacobson fein nach bestimmten Aufmerksamkeitsfeldern oder Ebenen der Empathie herausgearbeitet – eine kognitive, wenn wir uns darauf konzentrieren, was der andere wohl denken mag, eine emotive, wenn wir die Gefühle des anderen erforschen wollen und eine volitive, wenn es um die Ebene der Wünsche, des Wollens und der Abwehr geht. Außerdem benennt er – wiederum nach Jacobson –, die konative Ebene, in der Empathie dazu dient, Kontakt aufzunehmen, zu halten und Bindung zu entwickeln. Diese Aspekte von Empathie gaben auch die Struktur der Fragen in den Empathieexperimenten vor (vgl. dazu auch Breyer in diesem Band).

. Neurosomatische Koppelung und Präsenz Auch wenn vorhin die Theorie der Spiegelneuronen für die linguistische Theoriebildung verworfen wurde, zeigen doch die neurowissenschaftlichen Forschungen, dass es reichhaltige somatische Koppelungsformen und Synchronisierungen auf der Ebene der Präsenz gibt, die in der Hermeneutik erst nach und

  Wolf-Andreas Liebert nach erschlossen werden (z. B. von Gumbrecht 2004, 2012; vgl. Breyer in diesem Band) und in der Linguistik unter dem Stichwort „Multimodalität“ untersucht wird (z. B. von Schmitt 2007).

. Narrationen Empathie wird schließlich durch Narrationen geprägt: Je nachdem, welche Geschichte über jemanden glaubhaft erzählt wird, wird die Empathie in eine bestimmte Richtung gehen oder sogar ganz blockiert werden. Für die Glaubwürdigkeit dieser Narrationen wurde die Glaubwürdigkeit des Narrators und die Vorurteilsstruktur des Rezipienten vorausgesetzt, nicht jedoch der Wahrheitsgehalt der Narration. Die Nachhaltigkeit des versprochenen Wahrheitsgehalts spielt für die Glaubwürdigkeit des Narrators allerdings eine wichtige Rolle, wie wir von Grice (1979) wissen.

 Empathie mit abwesenden Unbekannten, fiktionalen Entitäten und Alltagsdingen . Empathie mit Fiktionalem Aus der Perspektive einer linguistischen Hermeneutik und der Philosophischen Anthropologie wurde ein komplexer Empathiebegriff entwickelt, der Empathie zu einem zentralen Begriff der Verständigung macht. Daher spricht Fritz Hermanns (2007) zu Recht von Empathie als einem „Grundbegriff der Hermeneutik“. Wo er aber undeutlich bleibt, und das bleiben viele der Autoren, die über Empathie schreiben, ist der Bereich des Fiktionalen und der Bereich der Alltagsdinge. Die zu Beginn genannte Kirschentortur von Eva Meyer-Keller fällt hierunter, aber auch das Lesen von Romanen oder das Betrachten von Filmen, bei denen man fragen könnte, ob wir mit Pixeln empathisch sein können. Dazu sollen nun zwei weitere Empathieexperimente durchgeführt werden. Empathieexperiment 3: Um das Empathieexperiment 3 durchzuführen, betrachten Sie bitte die Biene in Abbildung 5 und stellen Sie sich dabei die folgenden Fragen: – Welches Lebensgefühl hat diese Biene? – Was denkt sie wohl?

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– – –

Was sind ihre Wünsche und Sehnsüchte? Was hat diese Biene für ein Leben? Was könnte diese Biene zu der Blume sagen?

Abb. 5: Empathieexperiment 3

Wir werden schnell auf der somatischen Ebene die Körperformen, insbesondere den Gesichtsausdruck, imitieren können und vielleicht so etwas wie Freude nachempfinden können. 3 Auch auf der projektiven Ebene werden vielleicht Vermutungen auftauchen wie: Diese Biene freut sich ihres Lebens. Sie mag diese Blume und ihr größter Wunsch ist es, immer wieder solche Blumen zu finden usw. Was wir aber im Gegensatz zur eben besprochenen menschlichen Kommunikation nun allerdings nicht machen können: Wir können unsere Vermutungen nicht durch sprachliche Praktiken in einer Interaktion mit der Biene überprüfen und ggf. modifizieren. Der Bereich der Einfühlung in Fiktives scheint also zum Teil genauso zu funktionieren wie in personalen Konstellationen, aber mit dem Unterschied, dass eine Überprüfung nicht möglich ist, da kein menschliches Antwortendes unsere Vermutung ratifizieren kann. Nun könnte man sagen, dass es die vor allem in den Gesichtszügen anthropomorphisierte Biene einfach macht, uns in sie einzufühlen, doch selbst wenn keine menschlichen Züge in Dingen erkennbar sind, gelingt Empathie. Dies soll im Folgenden erläutert werden. || 3 Auch wenn wir diese Freude in einem zweiten Schritt vielleicht als kitschig bewerten mögen, muss das Gefühl der Freude im ersten Schritt zunächst als solches erkannt werden.

  Wolf-Andreas Liebert

. Empathie mit Alltagsdingen und abwesenden Unbekannten .. Reflektierter Animismus Ein weiterer Punkt, der in der Empathieliteratur kaum behandelt wird, ist die Empathie mit Nichtmenschlichem. Zunächst geht es dabei um anderes, nichtmenschliches Leben, wie die Empathie mit Tieren. Hier kann es zumindest mit bestimmten Tierarten und unter bestimmten Bedingungen durchaus zu einer wechselseitigen Empathie und auch Verständigung in der Mensch-TierInteraktion kommen. Da dies in den Beiträgen von Steen und Rettig (in diesem Band) ausführlich dargelegt wird, soll hier nicht weiter darauf eingegangen werden. Neben nichtmenschlichen Wesen gelingt die Empathie jedoch auch mit Alltagsdingen, eine Kategorie, die sich sowohl von nichtmenschlichen Wesen als auch von der Kategorie des Fiktionalen unterscheidet. Um die Spezifik dieser Form der Empathie anschaulich zu machen, soll auch hierzu ein Empathieexperiment vorgeschlagen werden. Empathieexperiment 4: Um Empathieexperiment 4 durchzuführen, betrachten Sie bitte den Sandkasten in Abbildung 6 und stellen Sie sich dabei die folgenden Fragen:

Abb. 6: Empathieexperiment 4

– –

Was hat dieser alte Sandkasten nicht alles erlebt? Wie war es für ihn, als er gebaut, für eine Familie gekauft und aufgebaut wurde?

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Dann die Zeit mit spielenden Kindern, die in seinem Inneren eine Phantasiewelt nach der anderen entstehen ließen; dann dass die Kinder immer weniger in ihm spielten, sein langsamer Verfall, wie er immer mehr zugewuchert wurde und schließlich ganz vergessen – wie war das für ihn?

Natürlich kann man sagen, dass man diese Fragen nicht stellen würde. Würde man Wittgenstein totalitär auslegen, könnte man sagen, es ist nicht Teil eines anerkannten Sprachspiels. Der Witz an diesen Fragen ist nun aber nicht, ob sie im Rahmen eines bestimmten normativen Erwartungshorizonts liegen, sondern dass sie überhaupt sinnvoll gestellt werden können, und das heißt, dass es auch ein Responsiv gibt, eine agency, zu der wir in Resonanz treten können. Sind wir demnach in der Lage, jedem Ding eine Innenperspektive zuzuerkennen und uns dann auch in diese hineinzufühlen? Um zu verstehen, dass diese Frage berechtigt ist, kann auf ein Konzept zurückgriffen werden, das lange Zeit als vormodern galt und als Abgrenzungsbegriff der Moderne zur Identitätsfindung verhalf und immer noch einen Hof kolonialistischer Assoziationen mit sich herumträgt, so dass es für die gegenwärtige Diskussion erst ‚zurückgewonnen’ werden muss (Stengers 2016). In jüngster Zeit wurde dieser Begriff von verschiedenen Disziplinen wie der Ethnologie, der Soziologie oder der Medientheorie als relevanter Theoriebegriff artikuliert. Es handelt sich um den Begriff des Animismus (vgl. Albers/Franke 2016a). Es ist hier nicht der Ort, die Diskussion in ihrer Breite wiederzugeben, sondern lediglich den Ausgangspunkt zu formulieren: Es geht nicht um eine Diskussion, inwiefern Dinge ‚wirklich‘ beseelt sind oder nicht, sondern um „Animismus als Praxis“ (Albers/Franke 2016b, 8). Animismus soll hier zweifach als Fähigkeit und Praktik verstanden werden. Mit Nurit Bird-David (2016) kann die animistische Fähigkeit nicht nur als Übergangsphänomen im Kindesalter, sondern als grundsätzliche menschliche Fähigkeit betrachtet werden, die erst im Verlauf von Enkulturierung „stigmatisiert[…]“ wird (ebd., 46), was die Frage aufwirft, warum und wie es der Moderne gelang, „den Animismus als legitimes Erkenntnismittel zu entwerten, ständig den Impuls dazu zu unterdrücken […]“ (ebd., 46) und ihn insgesamt zu pathologisieren. „Dieser Glaube ans Unbelebte stellt das eigentliche Rätsel dar.“ (Latour/Franke 2016, 105) Nimmt man mit Bird-David (2016) die Universalität des Animismus an, dann lassen sich vorab keine Grenzen bestimmen, innerhalb derer er Legitimität haben könnte. Diese wird lediglich durch den kulturnormativen Anspruch beschränkt, was lebendig sei und was nicht, sowie, ob es eine Seele gebe oder nicht, und wenn ja, was eine Seele haben könne.

  Wolf-Andreas Liebert Offensichtlich ist die moderne epistemische Einstellung die eine Sache, die Nutzung der animistischen Fähigkeit und die Ausübung als Praktik eine andere. Gerade bei der Empathie mit fiktiven Figuren in Romanen und Filmen oder nicht sprachfähigen Tieren und stummen Alltagsdingen wird deutlich, dass sich Dinge ohne großen kognitiven Aufwand beseelen lassen, obwohl man weiß, dass sie nicht wirklich leben oder eine Seele haben. Das heißt, es handelt sich hier nicht um einen kindlichen Animismus (den es zweifellos auch gibt), da die Geltungsbereiche klar unterschieden werden. Man könnte also von einem reflektierten Animismus sprechen. Diese Unterscheidungsfähigkeit von Geltungsbereichen spielt auch in der neueren Animismusdiskussion eine zentrale Rolle, die Eduardo Viveiros de Castro am Beispiel entwickelter schamanischer Fähigkeiten darlegt: Unter Schamanismus verstehe ich die von manchen Individuen an den Tag gelegte Fähigkeit, ontologische Grenzen bewusst zu überschreiten und sich in die Perspektive nichtmenschlicher Subjektivitäten zu versetzen, um die Beziehungen zwischen Menschen und Nichtmenschen zu regeln. Da Schamanen imstande sind, Nichtmenschen so zu sehen wie sich selbst (nämlich als Menschen), können sie die Rolle aktiver Teilnehmer in speziesüberschreitenden Dialogen einnehmen, sie jedoch (anders als Laien) auch wieder verlassen, um davon zu berichten. Sieht jemand, der kein Schamane ist, einen Nichtmenschen (ein Tier, eine tote Menschenseele, einen Geist) in Menschengestalt, läuft er oder sie Gefahr, von der nichtmenschlichen Subjektivität überwältigt zu werden, zu ihr überzulaufen und selbst zum Tier, zum Toten, zum Geist zu werden. (Viveiros de Castro 2016, 77)

Ein reflektierter Animismus dieser Art würde es also ermöglichen, dass wir prinzipiell mit allen Dingen, ja sogar Ideen, Begriffen, Gefühlen oder Fantasien empathisch sein können, wenn wir in irgendeiner Form mit ihnen in Resonanz gehen können und damit ein Responsiv wahrnehmen. Diesem Responsiv können wir als Menschen wiederum behilflich sein, sich in menschlicher Sprache und anderen menschlichen Ausdrucksformen zu artikulieren. Damit wäre auch die Basis zur Lösung eines offenen Problems der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) geschaffen, nämlich wie sich die heterogenen Netzwerkteilnehmer – beispielsweise Menschen und Mikroben oder Menschen und das Klima – überhaupt verständigen können (vgl. Latour 2001). Dieser Animismus stellt eine alltägliche Praxis in jeder Traum- oder Gestalttherapie dar, bei der man lernt, sich mit angstbesetzten Phantasien oder Träumen unter professioneller Begleitung zu konfrontieren und diese aktiv zu erkunden statt sich vor ihnen zu verstecken und mit einem so erweiterten Verständnis in einen Dialog mit der ganzen Persönlichkeit zu kommen (vgl. Staemmler in diesem Band). In Zusammenarbeit mit einem reflektierten Animismus kann also auch Empathie

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mit Fiktionalem oder Alltagsdingen gelingen. Der reflektierte Animismus hat jedoch auch Geltung darüber hinaus. Dies betrifft die Empathie mit Abwesendem. Zunächst mag man verführt sein zu sagen, dass sich die menschliche Kommunikation dadurch auszeichne, dass durch Präsenz und Interaktion Empathie gelinge. Auch wurde vorhin die Bedeutung der Vorurteilsstruktur über den je Anderen betont, mit dem wir in die Interaktion gehen und dieses in deren Verlauf mehr oder weniger stark modifizieren. Doch sowohl in der Face-to-faceKommunikation als auch in einfachen Zeitungsberichten und in einer Vielzahl von Kommunikationsarten geht es häufig gar nicht um die Anwesenden, sondern um Abwesende, ja sogar abwesende Unbekannte, die keine Ratifizierungen geben können. Ob ich mich in eine mir unbekannte Person und ihre Welt einfühle, über die in einem Gespräch, in der Zeitung, in den Fernsehnachrichten oder in den sozialen Medien berichtet wird oder eine Person in einem Roman oder einem Spielfilm, spielt lediglich im Unterscheiden des Geltungsbereichs eine Rolle, die Art der Empathie ist dieselbe (der Inhalt ist natürlich je verschieden). In all diesen Fällen muss ich Fantasien aufbauen, die sich interaktiv nicht oder nur sehr schwer durch Interaktion und Präsenz mit dem/der Abwesenden bestätigen lassen. Die Glaubwürdigkeit der Quelle und meine Kompetenz, diese Glaubwürdigkeit mit Gründen anzuzweifeln und ggf. meine Quellen vervielfachen zu können, ist in diesem Fall das Entscheidende (vgl. dazu auch Holland 1967). Interaktion dient einer Validierung also nur teilweise und in bestimmten Fällen, sonst muss die Validierung auch externe Informationen und Wissen über das fremde Andere – gewonnen aus Bildungs-, Forschungs- und Rechercheprozessen – hinzuziehen.

.. Anwesenheits- und Abwesenheitsempathien Betrachtet man die Abwesenheit genauer, muss man zwischen notwendig und kontingent Abwesendem unterscheiden. Die phänomenale Welt erschöpft sich in Abwesenheit und Anwesenheit, deren Erscheinen, Aufblenden und Abblenden, ihren Stadien der Transparenz. Abwesenheit entsteht durch Entzug, Nichtung oder Vergessen und kann in der und in die Anwesenheit vermittelt werden, so dass eine Vielzahl von Vermittlungsformen existiert. Eine Überlegung mit einigen Beispielen soll das Problem zumindest anreißen: Die Situation, das Hier-und-Jetzt, ist der Ausgangspunkt der Überlegung. Was hier erscheint, ist präsent, als unmittelbar Anwesendes oder vermittelt als Erinnerung, Erzählung, Nachricht oder Ähnliches.

  Wolf-Andreas Liebert Wenn über den gegenwärtigen Präsidenten von Venezuela in den Medien berichtet wird, dann ist dieser für mich ein Abwesender und nur in seiner medialen Vermittlung präsent. Es ist auch fraglich, ob er jemals ein Anwesender sein wird oder ob ich in meinem Leben jemanden kennen lernen werde, für den er ein Anwesender war. Dennoch lassen sich Situationen erdenken, in denen er ein unvermittelt Anwesender sein könnte, wie dies auch für viele Andere der Fall ist. Daher ist seine Anwesenheit in meiner Situation derzeit vermittelt, für andere unvermittelt. Es handelt sich also um eine kontingente Abwesenheit. Eine Figur wie „Fiete“ im Roman von Heinz Strunk (2017) ist dagegen notwendig abwesend. Dennoch kann die Figur durch das Lesen und die Imagination vermittelt präsent sein, d. h. auch eine notwendige Abwesenheit kann so vermittelt werden, dass sie als Anwesenheit erscheint. Dann ist auch Empathie möglich. Was ist aber mit der Vorlage für den Roman, der historischen Figur Fritz Honka, ist diese ebenfalls notwendig abwesend? Eine Anwesenheit im Bereich historischer Figuren ist immer dann möglich, wenn sie mit Figuren der potenziellen empathischen Gemeinschaft ein Zeitfenster teilen. Der Begriff der empathischen Gemeinschaft ist in der Zukunft sicher noch weiter auszuarbeiten, für den Moment soll er als vorläufiger Begriff für eine grundlegende Konstellation von Empathie beibehalten werden. Das Spezifische historischer Figuren scheint zu sein, dass sie nur in historischen Zeitfenstern Anwesenheitsempathie ermöglichen. Daher spielen Zeitzeugenberichte auch eine wesentliche Rolle in der Erinnerungskultur. So kommt in den Blick, dass für den Fall historischer Figuren auch Übergangsbereiche existieren, Vermittler, die durch zwei Zeitfenster schauen können. Historische Figuren sind also in ihrer Abwesenheit ambivalent, sie sind innerhalb bestimmter Gegebenheiten, wenn potenzielle empathische Gemeinschaften ein Zeitfenster teilen, kontingent, sonst notwendig abwesend. Ein historischer Abstand schafft aus hermeneutischer Sicht kulturelle Unterschiede, die sich stark auf das Verstehen auswirken (Schleiermacher 1977, Gadamer 1990). Hermeneutik ist ja im Wesentlichen mit Vorurteilen und deren Modifikationen befasst, die Subjekte und Kollektive in der Welt verkörpernd organisieren. Daher betrifft das hermeneutische Anliegen nicht nur die diachrone Dimension, sondern auch die synchrone. Neben einer diachronen soll daher auch eine synchrone Abwesenheit eingeführt werden. Synchrone Abwesenheiten stehen in keinem Kontakt oder sind nur vage als Erzählungen oder Legenden wie das Dürer’sche Rhinoceros in die Verstehensstrukturen eingelassen. Synchrone Abwesenheiten können mehr oder weniger schnell in Anwesenheiten umschlagen, diese Kommunikationssituationen werden interkulturelle bzw. inter-

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segregale Kommunikation genannt. Synchrone Abwesenheit hat zur Folge, dass sich Vorurteilsstrukturen stark unterscheiden, und dass keine Anwesenheitsempathie existiert, und wenn doch, dann als in Anwesenheit vermittelte Abwesenheit. Individuelle wie kollektive Subjekte sind dadurch vor besondere Herausforderungen gestellt. Wenn hinzukommt, dass kein Bewusstsein für die grundsätzliche kulturelle Prägung von Vorurteilsstrukturen aller Akteure der potenziellen empathischen Gemeinschaft vorliegt, also keine reflektierte, hermeneutische Offenheit vorhanden ist, dann kann es schnell zum Kampf um Wahrheit kommen, was in der Hermeneutik als Kampf zweier Vorurteilsstrukturen erscheint. Für eine politisch manipulative Strategie spielen daher narrativ vermittelte Empathieblockaden eine zentrale Rolle, sie stellen Steuerungsmechanismen dar, mit welchen Akteuren eine common sense orientierte Kommunikation überhaupt eingegangen werden und mit wem dies von vornherein verhindert werden soll. Hat nun jemand diese Empathieblockade verinnerlicht, dann wird im Falle eines Kontakterlebnisses mit dem zu blockierenden Anderen das manipulativ geladene Narrativ in Anschlag gebracht, so dass es zu keiner echten Anwesenheitsempathie kommen kann, da versucht wird, die Anwesenheit selbst aus dem Hier-und-Jetzt zu tilgen. Dasselbe Prinzip ist auch bei Abwesenheitsempathien wirksam, wenn allein die mediale Repräsentation eines inkriminierten Anderen zur Empathieblockade führt. Empathie, insbesondere auch das Auflösen von Empathieblockaden, spielt also eine zentrale Rolle, denn mit einem (erneuten) Einsatz von Empathie geht auch eine grundsätzliche Bereitschaft einher, die eigenen Vorurteilsstrukturen sichtbar und affizierbar werden zu lassen. Sie scheint daher auch als möglicher Weg, sogar aus der Gefangenheit in einer totalen Ideologie (Mannheim 1929) zu entkommen. Schließlich ist festzuhalten, dass die Unterscheidung notwendig/kontingent kulturell geprägt ist und damit als Ganzes selbst wieder kontingent: Durch die Globalisierung und Mediatisierung und die so entstandenen Kommunikations- und Transportmöglichkeiten ist die ganze Welt eine potenzielle empathische Gemeinschaft geworden. In diesem Sinne ist das globale Dorf McLuhans 4 Realität geworden – abzüglich der Romantik. Was in der Zeit vor der Globalisierung und Mediatisierung als notwendig abwesend erschien, zum Beispiel Menschen in unerreichbaren Ländern fern von Europa, aber auch Fantasien von Clonarmeen und empathische Maschinen (Liebert 2019), kann nun jederzeit in Anwesenheit umschlagen.  4 Vgl. McLuhan/Powers 1995.

  Wolf-Andreas Liebert Aus der neuen weltweiten, potenziell empathischen Gemeinschaft gibt es kein Entkommen, keinen Ausweg, daher ist nun der Kampf um Abwesenheit und Anwesenheit entbrannt. Dies führt neben der lebensweltlichen Verunsicherung über plötzliche Anwesenheiten vermeintlicher Abwesenheiten auch zu einer zunehmenden kulturellen Heterogenität, die – insbesondere wenn sie nicht initiiert wurde – eine enorme hermeneutische Zumutung und Überforderung darstellt. Daher könnte eine Kulturhermeneutik auch Unterstützung zur Bewältigung dieser neuen Situation leisten Empathie zeigt sich damit als kulturelles, normatives Konstrukt: In was man sich einfühlen können darf und was nicht, und wie die entsprechende epistemische und narrative Rahmung aussehen muss, wenn man Empathie mit Fiktionalem oder Alltagsdingen oder abwesenden Unbekannten zeigt, ist normativ festgelegt. Dies soll nun im folgenden Abschnitt zur Sozialität der Empathie erläutert werden.

 Zur Sozialität der Empathie Die Sozialität der Empathie soll in zwei Abschnitten entwickelt werden, zunächst mit einer Verortung des Empathiebegriffs im Diskurs und dann mit der Konzeption der selektiven Empathie und des Empathiedispositivs.

. Diskurs und Narrativ Empathie wurde in den vorangegangenen Ausführungen als von Narrationen geprägt dargestellt. Mehrfach wurde bereits darauf hingewiesen, dass diese Narrationen nicht aus dem Nichts kommen, sondern Erzählinhalt und -form als Teil eines normativen Konstrukts im Diskurs verstanden werden müssen. Narrationen, die ein solches Konstrukt mitbilden und damit eine soziale Repräsentation, werden als Narrativ bezeichnet 5. Narrative werden in der Diskursforschung als wesentliches Element von Diskursen betrachtet (vgl. Keller 2010). Narrative erscheinen in dieser Sichtweise nicht zufällig, sondern als Medium des Diskurses. Während also Empathie von Narrationen und Narrativen geprägt werden,  5 Der Begriff des Narrativs ist derzeit zwar insbesondere in der Öffentlichkeit stark übernutzt und dadurch in der Gefahr, zur Leerformel zu werden. Dennoch behält er in der oben dargestellten Fassung m. E. seine Berechtigung und soll daher beibehalten werden (vgl. Hyvärinen 2006).

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werden diese wiederum vom Diskurs geprägt. Dabei handelt es sich nicht um eine deterministische Relation, da die Narrative nicht nur Produkt des Diskurses, sondern auch Faktor für den Diskurs sind. Mit einer Diskursanalyse können somit Einblicke in kollektive Vorurteilsstrukturen deutlich gemacht werden, die sich aus Narrativen speisen oder an diese anknüpfen. Durch solch ein diskursives Verständnis von Empathie kann auch die Untersuchung von Machstrukturen und Dispositiven einbezogen werden (Gnosa 2018), die es erlaubt, Einblick in die kollektiven Empathieströme und -blockaden zu nehmen.

. Selektive Empathie Der von Breithaupt eingeführte Begriff der blockierten Empathie hat einige Konsequenzen für die Überlegungen zur Sozialität der Empathie. Es sieht zunächst so aus, als sei Empathie einem Entweder-Oder unterworfen: Entweder man ist ein empathischer Mensch oder nicht. Empathie erscheint gerade in der öffentlichen Diskussion als Wert oder Tugend, die es zu erwerben bzw. zu erhalten und entwickeln gilt. Was aber bisher kaum beachtet wurde, ist das Sowohl-Als-Auch von Empathie und Empathieblockade einer Person gegenüber Anderen. Dies ist weniger ungewöhnlich, als es sich im ersten Moment anhört. Einige Beispiele: – Jemand liebt seine Familie und ist in hohem Maße empathisch, ist zugleich aber an der Vernichtung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland beteiligt. – Jemand ist empathisch in Bezug auf seine Freunde, weigert sich aber, sich in die Lage von Flüchtlingen hineinzuversetzen. Diese Liste könnte ins Unendliche fortgeführt werden, denn – einmal darauf gestoßen – ist damit der grundlegende selektive Charakter von Empathie freigelegt, d. h. jeder von uns ist gegenüber bestimmten Menschen und Dingen empathisch und blockiert die Empathie gegenüber anderen – manchmal sogar im selben Moment. Das System der aufeinander abgestimmten Grade von Empathie in Bezug auf unterschiedlichste Gruppen und Personen soll im Folgenden „selektive Empathie“ genannt werden (vgl. Liebert 2015, Steen in diesem Band). Selektive Empathie vereinigt nicht nur die Parteinahme und die Empathieblockade, sondern eröffnet den Blick auf Empathie als differenziert zu erfragenden Begriff. Nicht, ob jemand empathisch ist oder nicht, ist die Frage, sondern mit wem jemand bis zu welchem Grad empathisch oder nicht empathisch ist.

  Wolf-Andreas Liebert Dies hat zur Konsequenz, dass es empathielose Menschen nicht gibt, und wenn, dann nur als pathologischen Ausnahmefall, etwa bei bestimmten Formen des Autismus. Das Konzept der selektiven Empathie macht Empathie als neutrale Ressource deutlich (vgl. Breyer in diesem Band), das offen ist für die Einbindung in Zwecke, auch manipulative. Dies lässt uns zunächst etwas unbefriedigt zurück, da sich Empathie zu einem Hochwertwort entwickelt hat und dem Bösen daher ungern Empathie bescheinigt wird. Durch seinen Charakter als Hochwertwort droht der Begriff der Empathie aber, seinen analytischen Wert einzubüßen. So könnte man mit Empathie als normativ-positivem Wert beispielsweise bei politischen Hetzreden lediglich die Empathielosigkeit des Redners feststellen. Betrachtet man dagegen Empathie als neutrale Ressource, dann können mit dem Begriff der selektiven Empathie sehr präzise die kommunikativen Ausschluss- und Einschlusspraktiken analysiert werden, d. h. es kommt Empathie als kommunikative Praktik in differenzierter Weise in den Blick, etwa wie die Anhänger zunächst über eine Kontaktempathie erreicht werden, dann wie sie über Parolen synchronisiert und emotionalisiert werden und zugleich eine Empathieblockade gegenüber bestimmten Menschengruppen etabliert wird, bevor schließlich der Impuls zum gemeinsamen Handeln gegeben wird. Aus diesem Grund wurde der US-amerikanische Präsident Donald Trump, der für seine abwertende Sprache bekannt ist, als „master of empathy“ (Friedman 2017, o. S.) bezeichnet. Wenn beispielsweise der an Arthrogryposis leidende Journalist Serge F. Kovaleski von Donald Trump in einer Wahlkampfrede verspottet wird, indem er dessen Beeinträchtigung nachäffend imitiert, dann stellt dies zweifellos eine Empathieblockade dar, da Empathie in diesem Fall mit Scham einhergegangen wäre. Scham durch die Verletzung der Norm, wonach man sich nicht über die Behinderung seiner Mitmenschen lustig machen darf. Diese Norm wird durch diese Verspottungshandlung nun aufgehoben, und zwar differenziert für den Fall, dass es sich um Journalisten von kritischen Zeitungen wie hier der New York Times handelt. Zugleich stellt es ein äußerst empathisches Verhalten gegenüber den eigenen Anhängern dar, was diese durch ihre Zustimmung auch ratifiziert haben. Interessant sind auch die auf diese Begebenheit folgenden Diskurse, in denen es darum ging, ob Trump Kovaleskis Behinderung kannte und damit eine Verhöhnung überhaupt vorgelegen habe (Habermann 2015). Die Grenzverletzung selbst wurde jedoch nicht thematisiert, es erfolgte keine Entschuldigung für die tatsächlich erfolgte Verhöhnung. So blieb die Grenzverletzung nicht nur bestehen, sondern wurde zu einer neuen Empathienorm: Für kritische Journalisten galten in der Trump-Szene von da an selbst grundlegende

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Empathiegebote, die normalerweise für behinderte Menschen gelten, nicht mehr. Durch die feinere Analyse, wo genau selektive Empathie ansetzt, kann deutlich gemacht werden, dass selbst feste Empathiedispositive (Empathiegebot gegenüber behinderten Menschen) punktuell außer Kraft gesetzt werden können. Damit wird hochgradig selektiv in Bezug auf den politischen Gegner ein zivilisatorischer common sense aufgebrochen, um den politischen Gegner zu vernichten und dadurch die eigene Machtbasis zu vergrößern. Dieser Politikstil ist grundlegend für populistische, aber auch extremistische politische Bewegungen.

. Empathie des Bösen – totalitäre Empathie Selbst Attentäter wie Anders Breivik oder Mohammed Atta sind in dieser Sicht nicht ‚empathielos‘, sondern haben ihre Empathie in Bezug auf bestimmte Gruppen soweit blockiert, dass sie ihnen gegenüber zu grausamen und menschenverachtenden Taten fähig wurden – während sie für ihre Ingroup durchaus tiefe Empathie entwickeln können. Hannah Arendt hat sich mit der Empathie des Bösen in Zusammenhang mit dem Prozess um Adolf Eichmann auseinandergesetzt und dafür die Formel von der „Banalität des Bösen“ gefunden (Arendt 2017). Diese Formel drückt die Verstörtheit und Hilflosigkeit aus, die Hannah Arendt immer wieder artikuliert, wenn sich bei Eichmann ‚menschliche‘ Seiten zeigen, die stets gebrochen sind von Grauen, da das ‚Menschliche‘ ausschließlich im Rahmen der Judenvernichtung stattfindet. So zitiert sie aus den Verhörprotokollen den Fall des Wiener Kommerzialrats Storfer, der nach der Darstellung Eichmanns als Repräsentant der jüdischen Gemeinde eigentlich nicht für die Deportation vorgesehen war, durch einen gescheiterten Fluchtversuch dieses Recht aber ‚verwirkt‘ hatte, sodass er schließlich doch in Auschwitz arrestiert wurde. Von dort bat Storfer Eichmann um Hilfe. Und da hab ich mir gesagt: Gut, der Mann war immer ordentlich gewesen, man hat die ganzen Jahre schließlich und endlich, er für sich und ich in meiner Zentralstelle, jeder am Strang gezogen. Das lohnt sich mir, da fahre ich hin, da wollen wir mal sehen, was da los ist. […] Ich fuhr nach Auschwitz und sage – besuchte, suchte Höß auf – und sagte: Hier sitzt Storfer ein – ‚Ja, er wurde einem Arbeitsblock zugeteilt.‘ Dann ist er geholt worden. Storfer, ja, dann war es ein normales menschliches Treffen gewesen. Er hat mir sein Leid geklagt. Ich habe gesagt: ‚Ja, mein lieber guter Storfer, was haben wir denn da für ein Pech gehabt?‘ und habe ihm auch gesagt: ‚Schauen Sie, ich kann Ihnen wirklich gar nicht helfen, denn auf Befehl des Reichsführers kann keiner Sie herausnehmen. […] Ich hörte, daß Sie hier eine Dummheit gemacht haben, daß Sie sich versteckt hielten oder türmen wollten, was Sie doch gar nicht notwendig gehabt haben. […] Und dann sagte mir Storfer

  Wolf-Andreas Liebert – sagte ich ihm, wie es ihm geht sagte er: Ja, er möchte doch bitten, ob er nicht arbeiten brauchte, es wäre Schwerarbeit, und dann hab ich dann Höß gesagt: Arbeiten braucht Storfer nicht. Sagte Höß: Hier muß aber jeder arbeiten. Da sag ich: Gut, sage ich, ich werde eine Aktennotiz anlegen, sagte ich, daß Storfer hier mit dem Besen (vor der Kommandantur war ein Garten, eine Gartenanlage), mit dem Besen die Kieswege in Ordnung hält. So kleine Kieswege in Ordnung hält. So kleine Kieswege waren dort, und daß er das Recht hat, sich jederzeit mit dem Besen auf eine der Bänke zu setzen. Sage ich: Ist das recht Herr Storfer? Paßt Ihnen das? Da war er sehr erfreut, und wir gaben uns die Hand, und dann hat er den Besen bekommen und hat sich auf die Bank gesetzt. Das war für mich eine große innere Freude gewesen, daß ich den Mann, mit dem ich so lange Jahre, den ich so lange Jahre zumindest sah – und man sprach. (zit. nach Arendt 2017, 127–128 – Anführungszeichen i. O.)

Hannah Arendt kommentiert diese von ihr als authentisch angenommene Passage folgendermaßen: Sechs Wochen nach diesem ‚normalen, menschlichen Treffen‘ war Storfer tot – offenbar wurde er nicht vergast, sondern erschossen. Was ist das nun – der klassische Fall pathologischer Verlogenheit, gepaart mit abgründiger Dummheit? Oder einfach der gewöhnliche Fall verbrecherischer Verstocktheit […], die es sich nicht leisten kann, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen, weil das eigene Verbrechen aus ihr nicht mehr wegzudenken ist? (Arendt 2017, 129)

In dem Protokoll erscheint Eichmann als jemand, der dem nach Auschwitz deportierten Storfer Empathie entgegen bringt, die sich sogar im Gespräch entfaltet, dort ratifiziert wird. Dennoch kann ihm Hannah Arendt keine Empathiefähigkeit zugestehen und konstatiert Eichmanns nahezu totale Unfähigkeit, jemals eine Sache vom Gesichtspunkt des anderen her zu sehen. Er und seine Leute und die Juden ‚zogen an einem Strang‘; wenn Schwierigkeiten auftauchten, kamen die jüdischen Funktionäre zu ihm gerannt, und ‚… ich habe die Klagen und die ewigen Bitten um Unterstützung seitens der jüdischen Funktionäre gehört … und war bemüht … zu helfen.‘ Die Juden waren ‚bestrebt‘ auszuwandern, und er, Eichmann, versprach ihnen seine ‚freudige Mitarbeit‘, zumal die Naziführung gerade damals den Wunsch äußerte, ihr Reich ‚judenrein‘ zu machen. Zwei Bestrebungen trafen sich also – und er, Eichmann, verstand es, ‚beiden Teilen gerecht‘ zu werden. (ebd., 124)

Betrachtet man diese Form von Empathie in einem totalitären Staat, dann ist die Empathie selbst totalitär geworden, vergleichbar mit dem von Fritz Breithaupt skizzierten Stockholm-Syndrom (Breithaupt 2009, 89–95). D. h. Empathie spielt sich bereits in einem Rahmen ab, in dem Empathie strikt und menschenverachtend geregelt ist. In diesem Fall könnte man Treitschkes Sinnformel „die Juden

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sind unser Unglück!“ (von Treitschke 1879, 575) als Kern eines Narrativs betrachten, eine Inzeption, die im Naziregime zum totalitären common sense und schließlich zum common ground wurde, zur unhinterfragbaren, weil durchsichtigen, d. h. für die ‚Volksgenossen‘ ‚klaren‘ Wirklichkeit. Insofern ist der Begriff des Gesichtspunkts, den Arendt einführt, gut geeignet, dies zu reflektieren, denn Empathie ereignet sich im Naziregime ausschließlich innerhalb der grundlegenden Empathieblockade gegenüber Juden in ihrem schlichten Dasein, Empathie findet nur statt, um dieses Dasein zu beenden. Totalitäre Empathie findet sich auch in Berichten von Krankenschwestern, Pflegern und Ärzten in Krankenhäusern und Pflegeheimen, die Teil des Euthanasieprogramms von Nazideutschland waren. So gibt eine Krankenschwester der Euthansieanstalt Obrawalde in den Nachkriegsprozessen zu Protokoll: Bei dem Eingeben des Mittels ging ich mit großem Mitgefühl vor. Ich hatte den Patienten vorher erzählt, dass sie nur eine kleine Kur mitzumachen hätten. (...) Beim Eingeben nahm ich sie liebevoll in den Arm und streichelte sie dabei. (...) (Krankenschwester Anna G. zit. nach Herzing 2018, 21 – Auslassungen i. O.)

Totalitäre Empathie, wie sie sich in diesem Zitat zeigt, setzt bereits an einem Narrativ an, dass die Patientin eine im Namen des Guten zu Tötende ist. Nur innerhalb dieses Narrativs findet Einfühlung statt, nämlich um herauszufinden, wie der Tod so angenehm wie möglich beigebracht werden kann. Dies wird von der mordenden Krankenschwester als Mitgefühl erlebt, so dass kein Spalt für Zweifel am eigenen Handeln entstehen kann. Solche Formen der Empathie lösen wie zuvor bei Hannah Arendt Fassungslosigkeit aus, dennoch scheint es geboten, gerade auch dies zu untersuchen. Bislang liegen dazu allerdings noch kaum Forschungen vor, so dass dieser skizzenhafte Abschnitt mit der Feststellung eines Desiderats enden muss.

. Empathiedispositive Empathie ist selektiv: Menschen sind immer zugleich empathisch und nichtempathisch, je in Bezug auf andere Personen und Gruppen in unterschiedlicher Tiefe. Sie zeigen somit ein spezifisches Empathieprofil, das durch gesellschaftliche Normen geprägt ist, und das ich auf kollektiver Ebene Empathiedispositiv nennen will. Empathiedispositive als je verschiedene Mischung von Einfühlungsforderung, Einfühlungsverbot und Einfühlungsartikulation müssen sich nach dem oben Gesagten daher auch als Sinnformeln, als Narrative und in In-

  Wolf-Andreas Liebert teraktionen manifestieren. Die Selektivität der Empathie stellt also ein Diskursphänomen dar. Insofern geht die gegenwärtige Diskussion um Empathie oder Empathieverlust auch nicht darum, ob wir unsere Empathie verloren haben oder nicht, sondern welches normative Konstrukt von Empathiegebot und Empathieverbot, also welches Empathiedispositiv, wir etablieren wollen, bzw. um welches wir kämpfen.

 Resümee Ziel der Untersuchung war es, einen Empathiebegriff aus der linguistischen Hermeneutik zu gewinnen. Dies wurde vor allem mit Bezug auf die Arbeit von Fritz Hermanns getan, wobei die eigentliche Fähigkeit zur Immersion in die Welt eines Anderen erst durch ein weiteres Konzept gewonnen werden konnte, die exzentrische Positionalität mit dem menschlichen Sich-Selbst-Erleben als Ausgangspunkt. Mit dem Konzept der Narration von Fritz Breithaupt konnte ein wesentlicher Faktor gewonnen werden, durch den deutlich wurde, wie Empathie durch Narrationen bis hin zur Blockade gesteuert werden kann. Narrationen wurden auf das Narrativ erweitert, das auch Sinnformeln enthielt. Damit war ein vorläufiger linguistischer Empathiebegriff gewonnen, mit dem zumindest humane Interaktionen untersucht werden können. Um nicht nur rein humane Interaktionen untersuchen zu können, musste der Empathiebegriff um das Konzept des reflektierten Animismus erweitert werden. So können nun Interaktionen in den Bereichen des Religiösen, der Tiere, des Fiktionalen, mit anwesenden oder abwesenden Akteuren u. v. a. m. eingeschlossen werden. Narrationen wurden schließlich in Abhängigkeit vom Diskurs betrachtet, der kollektiv sowohl die hermeneutisch relevanten Vorurteilsstrukturen als auch die Narrative prägt. Empathie wurde sodann als selektive Empathie betrachtet, die zu einer Empathie des Bösen und dem Begriff der totalitären Empathie führte. Schließlich wurde Empathie in das diskursorientierte Konzept des Empathiedispositivs eingebettet, einer normativen, kulturell-kontingenten Mischung aus Empathiegebot, Empathieverbot und (un-)zulässigen Ausdrucksformen. Empathiedispositive kommen dann zum Vorschein, wenn die Empathienormen verletzt werden und in die semantische Kampfzone geraten und damit akute gesellschaftliche Konfliktlagen anzeigen.

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 Konsequenzen 1. Empathie stellt für die zukünftige Linguistik einen zentralen Begriff dar, sofern sie den Bereich des Sozialen und Kulturellen untersucht. 2. Empathie ist ein facettenreiches Phänomen, sie darf nicht auf einen Aspekt reduziert werden, beispielsweise auf die emotive Empathie (s. Breyer in diesem Band). 3. Empathie ist ubiquitär. Sie ist sowohl bei höheren Tieren als auch beim Menschen das zentrale Mittel für Zusammenhalt und Verständigung. Darüber hinaus lässt sich ein spezifischer Bereich menschlicher Empathie ausmachen, der mit der philosophischen Anthropologie begründet werden kann und der komplexe Verfahren empathischer Immersion in den Bereichen Literatur, Kunst und Religion u. a. umfasst. 4. Empathie tangiert nicht nur die Bereiche der humanen, verbalen Interaktion, sondern auch die Interaktion mit Fiktionalem und Nicht-Menschlichem. Dies ist zentral in den Bereichen der Mensch-Tier- und der MenschMaschine-Kommunikation, aber auch im Religiösen und Fiktionalen. Daher müssen gerade Forschungen in diesen Bereichen den Empathiebegriff einbeziehen. 5. Empathie ist in hohem Maß beeinflusst von Narrationen, Narrativen, Sinnformeln und Diskursen. Auch wenn Empathie im Gespräch untersucht wird, stellt sich sogleich die Frage, welche diskursiv gespeisten Narrative und Narrationen sich Zugang zu dem konkreten Gesprächsereignis gesucht haben, welche Empathiedispositive in welchen Narrativen präsent sind. Dadurch ermöglicht der Empathiebegriff auch die Untersuchung der Schnittstellen der kommunikativen Meso- und Mikrowelt. 6. Eine Linguistik animistischer, kommunikativer Praktiken ist ebenso noch zu entwickeln wie die hier nur angedeuteten Diskurszusammenhänge von Narrativ und Empathiedispositiv. 7. Empathie kann und sollte kultiviert werden. Obwohl Empathie allen Menschen gegeben ist, kann Empathie durch ihre Kultivierung entwickelt und verfeinert werden. Dies führt bis zu empathischen Professionen wie LehrerInnen, PfarrerInnen oder PsychotherapeutInnen. Die Kultivierung von Empathie kann aber auch zu strategischen und manipulativen Zwecken ‚kultiviert‘ werden. Zu einer Kultivierung der Empathie gehört auch das Lernen, einen anderen „Gesichtspunkt“ (Arendt, ebd.) einzunehmen. Diese Kultivierung könnte auch totalitärer Empathie vorbeugen. An diesen Stellen müsste eine Ethik der Empathie einsetzen.

  Wolf-Andreas Liebert 8. Wir brauchen eine Kulturhermeneutik. Die Ausführungen zu Empathie mit Abwesenheiten hat gezeigt, dass die gegenwärtigen Herausforderungen zu einem großen Teil in hermeneutischen Zumutungen bestehen und einer zwangsweisen Versetzung in eine weltweite empathische Gemeinschaft. Daher sollte eine Kulturhermeneutik entwickelt werden, die insbesondere die Situation des plötzlichen Umschlagens von Abwesenheit in Anwesenheit in den Blick nimmt – kultureller Art im Bereich der Globalisierung, technischer Art im Übergangsbereich von Science Fiction und Digitalisierung und religiös-spiritueller Art im Bereich plötzlicher Transzendenzerfahrung in der säkularen Gesellschaft.

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Abbildungsverzeichnis Abb.  und : Abb. :

Abb. :

Abb. :

Abb. :

„Death is certain“, Performance von Eva Meyer-Keller am . Juli  in der Koblenzer Stadtbibliothek. Fotos: Marius Adam. Empathieexperiment . „Der Schriftsteller“ von René Schickele (-). Online verfügbar unter https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ren% C%A_Schickele (–).jpg. Autor: Unbekannt [Licence Ouverte]; zuletzt abgerufen am: ... Empathieexperiment . “Hadamar . April ”. Online verfügbar unter https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hadamar_April__.jpg. Autor: Troy A. Peters, US Army [Public domain]. (Bearbeitung W.-A.L.); zuletzt abgerufen am: ... Empathieexperiment . „Biene“. Online verfügbar unter https://pixabay.com/de/vectors/biene-gelb-halten-blume-rose-/ Autor: Clker-Free-Vector-Images (Pixabay License: https://pixabay.com/de/service/license/); zuletzt abgerufen am: ... Empathieexperiment 4. „Sandkasten“. (Eigenes Foto).



Teil 2: Empathie in intrakultureller, interkultureller, multimodaler und Interspezies-Kommunikation

Maxi Kupetz

Sprachliche, interaktionale und kulturelle Aspekte von Empathie in sozialer Interaktion Zusammenfassung: Im vorliegenden Beitrag werden empirische Ergebnisse zu Empathie in sozialer Interaktion, die im Rahmen von qualitativen konversationsanalytisch-interaktionallinguistischen Untersuchungen entstanden sind, zusammengefasst und drei Dimensionen von Empathie in sozialer Interaktion besonders herausgearbeitet: i) die interaktive Hergestelltheit bzw. Situiertheit von Empathie(darstellungen), ii) die multimodalen Ressourcen, die Gesprächsteilnehmer*innen zur Darstellung von Empathie verwenden, iii) Empathie(darstellungen) als soziale bzw. kulturelle Praktik. Zuerst wird kurz auf die theoretisch-methodischen Prämissen einer konversatiosanalytischinteraktionallinguistischen Arbeit eingegangen und entsprechend eine Konzeptualisierung von Empathie abgeleitet. Anschließend werden exemplarisch einige empirische Ergebnisse im Hinblick auf die o. g. drei Dimensionen vorgestellt. Abschließend werden diese Beobachtungen in Bezug zu einigen ausgewählten, methodisch anders verorteten Forschungsergebnissen gesetzt. Auf diese Weise soll ein Beitrag zu einer vielschichtigen und multiperspektivischen Erkundung von Empathie und Sprache geleistet werden. Schlüsselwörter: conversation analysis, empathy displays, everyday interaction, institutional interaction, interactional linguistics, multimodality, social interaction, social practices

 Einführung Das Ziel des vorliegenden Beitrags besteht darin, empirische Ergebnisse zu Empathie in sozialer Interaktion, die im Rahmen von qualitativen konversationsanalytisch-interaktionallinguistischen Untersuchungen entstanden sind (vgl. u. a. Kupetz 2013; 2014a; 2014b; 2015; 2019), zusammenzufassen und für

 Maxi Kupetz, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Germanistisches Institut, Luisenstraße 2, 06108 Halle (Saale), Tel.: 0345-5523620, maxi.kupetz[at]germanistik.unihalle.de https://doi.org/10.1515/9783110679618-007

  Maxi Kupetz diesen Sammelband drei Dimensionen von Empathie in sozialer Interaktion besonders herauszuarbeiten: i) die interaktive Hergestelltheit bzw. Situiertheit von Empathie(darstellungen), ii) die multimodalen Ressourcen, die Gesprächsteilnehmer*innen zur Darstellung von Empathie verwenden, iii) Empathie(darstellungen) als soziale bzw. kulturelle Praktik. Zuerst werde ich kurz auf die theoretisch-methodischen Prämissen einer konversatiosanalytisch-interaktionallinguistischen Arbeit eingehen und entsprechend eine Konzeptualisierung von Empathie ableiten. Anschließend stelle ich einige empirische Ergebnisse im Hinblick auf die o. g. drei Dimensionen vor. Abschließend setze ich diese Beobachtungen in Bezug zu einigen ausgewählten, methodisch anders verorteten Forschungsergebnissen, die u. a. in diesem Band erscheinen. Auf diese Weise möchte ich zu einer vielschichtigen und multiperspektivischen Erkundung von Empathie und Sprache beitragen.

 Theoretisch-methodische Prämissen Die empirische Arbeit des vorliegenden Beitrags ist in der Konversationsanalyse, Interaktionalen Linguistik und Multimodalitäts- bzw. Koordinationsforschung zu verorten. Zu den Grundannahmen der ethnomethodologischen Konversationsanalyse gehört, dass sich soziale Wirklichkeit fortlaufend in kommunikativen Akten aufbaut, dass Handelnde ständig damit beschäftigt sind, die Situation und den Kontext ihres Handelns zu analysieren, die Äusserungen [sic!] ihrer Handlungspartner zu interpretieren, die situative Angemessenheit, Verständlichkeit und Wirksamkeit ihrer eigenen Äusserungen [sic!] herzustellen und das eigene Tun mit dem Tun der Anderen zu koordinieren. (Bergmann 2001, 919)

Das Ziel konversationsanalytischer Arbeit besteht also darin, „die Mittel der interaktiven Herstellung konversationeller Ordnung aus der Perspektive der Beteiligten und in der Prozessualität des Entstehens zu beschreiben“ (Stukenbrock 2013, 224 – H. i. O.; ggf. auch Bergmann 2001). Dafür wird mit Video- oder Audioaufzeichnungen von natürlichen, i. S. v. nicht-experimentellen, Interaktionssituationen gearbeitet. Diese werden detailliert verschriftet, in der vorliegenden Arbeit anhand des formbasierten Transkriptionssystems GAT 2 (Selting/Auer/Barth-Weingarten et al. 2009), um die flüchtigen Interaktionssituationen für eine sequentielle Analyse handhabbar zu machen. Dabei wird davon ausgegangen, dass kein Phänomen ‚zufällig‘ (i. S. v. unsystematisch) ist,

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sondern dass alles, was in sozialer Interaktion passiert, potentiell für die Teilnehmer*innen relevant ist. Diese emische Perspektive, die Teilnehmer*innenperspektive, wird aus konversationsanalytischer Sicht eingenommen. Die sogenannte next turn proof procedure (Stukenbrock 2013, 231) wird eingesetzt, um die Orientierungen der Teilnehmenden an vorherigen Äußerungen oder an vorherigem Verhalten ernst zu nehmen und sequenzanalytische Rekonstruktionen mit diesen Orientierungen abzugleichen (vgl. u. a. Deppermann 2001; Gülich/Mondada 2008; Stukenbrock 2013). In Deutschland hat sich die Interaktionale Linguistik aus der ethnomethodologischen Konversationsanalyse entwickelt (Selting/Couper-Kuhlen 2000; Selting/Couper-Kuhlen 2001). Das Ziel interaktionallinguistischer Arbeiten ist die „Beschreibung linguistischer Strukturen als Ressourcen der Organisation natürlicher Interaktion“ (Selting/Couper-Kuhlen 2000, 76). Im Rahmen der Multimodalitäts- bzw. Koordinationsforschung wird nun hervorgehoben, dass neben den sprachlichen Ressourcen vokale und kinetische Ressourcen gleichermaßen zu betrachten sind. Ebenso wird eingeräumt, dass Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Mehrpersonenorientierung ebenso Teil der Beobachtungen sein müssen, wenn der Anspruch darin besteht, ein holistisches Bild des Interaktionsgeschehens zu erfassen (Deppermann/Schmitt 2007; Mondada 2013). Diese Ansätze gehen von fünf Gesprächseigenschaften (Deppermann 2001, 8f.) aus, die ich im Folgenden anhand eines kurzen Gesprächsausschnitts (Beispiel 1) erläutern möchte. Der Ausschnitt stammt aus der Anfangsphase des Gesprächs zwischen dem Moderator (Mod) einer nächtlichen Radiosendung mit Anrufer*innenbeteiligung und der Anruferin Petula (Pet), die von ihrer schwierigen Arbeit auf der Palliativstation erzählt. Sie macht explizit, dass sie, als sie damit angefangen hat, „PSYchisch auch totAl (.) !DOWN! immer“ war, und bringt auf den Punkt, dass es trotz der langjährigen Erfahrung als Krankenschwester schwierig ist, den Patienten immer bis in den Tod beistehen zu müssen: Beispiel (1): Radiosendung_Petula Hinweis: Thema der Sendung: Dieser Job hat mich kaputt gemacht. 025 026

027

028

029

Pet: Mod:

Pet:

aber hAlt (.) immer diese



hm_hm,

beGLEIten,

das is is sEhr sEhr

[(X)

ʔ

masSIV; ne,

  Maxi Kupetz 030 → Mod: 031

032

033 034

Pet:

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Sehen wir uns die Segmente 28, 29 und 30 an. Die Bewertung „das is is sEhr sEhr ʔ masSIV; ne,“ (Seg. 28) macht durch das Nachlaufelement ne eine Aufnahme relevant. Darauf folgt die Äußerung „“ durch den Moderator (Seg. 30). Segment 28 und 30 sind also Äußerungen, die aktiv unter der Prämisse gegenseitiger Aufmerksamkeit hergestellt (konstituiert) werden, was mit dem Merkmal der Konstitutivität beschrieben wird. Prozessualität beschreibt die Tatsache, dass Äußerungen nicht beliebig, an irgendeiner Stelle, sondern im zeitlichen Nacheinander produziert werden. Segment 30 wird in zeitlicher Nachfolge in Reaktion auf die Bewertung des eigenen emotionalen Zustands der Anruferin produziert. Segment 30 steht aber nicht nur in der Nachfolge einer Äußerung, sondern schließt durch die prosodische und syntaktische Form mit einer turnübergaberelevanten Stelle (Stukenbrock 2013, 238) ab, an der erneut eine Aushandlung des Rederechts notwendig wird. In diesem Fall wird das Rederecht durch das folgende Einatmen gehalten. Gesprächsbeiträge stehen aber nicht nur im zeitlichen Nacheinander, sie sind vielmehr wechselseitig aufeinander bezogen, was durch die Eigenschaft Interaktivität beschrieben wird. Das anaphorische Korrelat „das“ (Imo 2007) in Segment 30 verweist auf die Vorgängeräußerung bzw. auf vorherige Gesprächsbeiträge, konkret den zuvor beschriebenen emotionalen Zustand. Die Äußerung ist schnell und mit Tonhöhensprung nach oben am Einheitenbeginn realisiert, sodass sie rederechtsbeanspruchend wirkt. Die Rederechtsübernahme gelingt problemlos, da Petula ihre in Überlappung (Seg. 29) begonnene, zögernde Äußerung nicht weiterführt. Die in Überlappung realisierte Äußerung des Moderators wird hier also nicht als Unterbrechung interpretiert. Das vierte Merkmal ist das der Methodizität: Gesprächsteilnehmer benutzen typische, kulturell (mehr oder weniger) verbreitete, d. h. für andere erkennbare und verständliche Methoden, mit denen sie Beiträge konstruieren und interpretieren sowie ihren Austausch miteinander organisieren. (Deppermann 2001, 8)

Sprachliche, interaktionale und kulturelle Aspekte von Empathie  

Durch diesen systematischen Zuschnitt von Beiträgen und ihre ‚Lesbarkeit‘ wird beispielsweise Sprecherwechsel geordnet möglich. Nicht zuletzt bearbeiten Teilnehmende kommunikative Aufgaben; sie handeln im und durch das Gespräch (Pragmatizität). In Segment 30 handelt es sich also um die Reaktion des Moderators auf eine starke Bewertung der eigenen emotionalen Situation der Anruferin, durch die einerseits Verstehen/Verständnis für die Situation nahegelegt wird und andererseits maßgeblich zur gemeinsamen Herstellung der Erzählung persönlichen Erlebens beigetragen wird. In Beispiel (1) handelt es sich um ein Telefongespräch in einem institutionalisierten Interaktionskontext. Hier sind die für die Teilnehmenden relevanten Ressourcen auf auditiv wahrnehmbare Ressourcen beschränkt. Konstitutiv für Face-to-face-Interaktion ist die Vielfalt semiotischer Ressourcen (verbal, vokal, körperlich, räumlich, materiell), die die Teilnehmenden verwenden, um ihre Handlungen wechselseitig interpretierbar zu machen. Multimodale Ressourcen sind also bei der Analyse von Face-to-face-Interaktion der Interaktionslogik entsprechend mit zu berücksichtigen (Deppermann/Schmitt 2007; Mondada 2013). Ebenso zu berücksichtigen ist die Tatsache, dass Interaktionskontexte durch die spezifischen Handlungen und Praktiken von Teilnehmer*innen konstituiert und fortwährend erneuert werden. Das gilt insofern auch für institutionale Interaktionskontexte, als dass Teilnehmer*innen nicht kontextabhängig wie Urteilstrottel agieren (ein Begriff, der von Garfinkel geprägt wurde) (vgl. Bergmann 2001, 920), sondern fortwährend in und durch kommunikatives Handeln ihre Orientierung an Strukturen und Normen zeigen und diese dadurch immer wieder erneuern (vgl. u. a. Heritage 1984; Ayaß 2004; Heritage/Clayman 2010). Zentral ist in diesem Zusammenhang das Konzept der Kontextualisierung: Im Rahmen des sogenannten Kontextualisierungsverfahrens werden Kontextualisierungshinweise, für die auf ganz unterschiedliche semiotische Ressourcen zurückgegriffen werden kann, auf Schemata bezogen, also Hintergrundwissen, das es den Interaktionsteilnehmer*innen ermöglicht, diese Kontextualisierungshinweise zu interpretieren. Auf diese Weise ist es den Teilnehmer*innen andauernd möglich, sich wechselseitig darüber zu verständigen, was sie gerade tun, worüber sie gerade sprechen, wie sie zueinander stehen usw. (Auer 1986, 26f.). Vor dem Hintergrund des hier beschriebenen, oberflächenorientierten und auf die emische Perspektive fokussierten Forschungsansatzes wird Empathie folgendermaßen konzeptualisiert: als Darstellung des Verstehens und/oder Mitfühlens der emotionalen Situation des Anderen (Sorjonen/Peräkylä 2012). ‚Darstellung‘ wird hier nicht in einem theatralen Sinn verstanden, sondern es

  Maxi Kupetz geht darum, unabhängig vom tatsächlichen oder vermeintlichen ‚inneren‘ Erleben der Gesprächsteilnehmer*innen Empathie als Produkt sozialer bzw. interaktionaler Aushandlungsprozesse zu betrachten und genau das zu analysieren, was auch für die Teilnehmenden in der Interaktionssituation erkennbar und somit interpretierbar ist. Aus konversationsanalytischer Perspektive kann man sich also dem Phänomen Empathie nähern, indem man fragt: 1. Wann werden Empathiedarstellungen in der Interaktion relevant gesetzt? 2. Welche kommunikativen Verfahren bzw. Praktiken verwenden Gesprächsteilnehmer*innen, um Empathie in sozialer Interaktion darzustellen? Die konversationsanalytische Arbeit an Video- und Audiodaten ist induktiv und führt zu einer stetigen (Re-)Formulierung, Präzisierung, Überarbeitung, Einund Abgrenzung des Forschungsgegenstands. Die bisherige Konzeptualisierung und die folgende Herstellung der Anschlussfähigkeit einiger konversationsanalytisch-interkationallinguistischer Beobachtungen an Forschungsergebnisse zu Empathie aus anderen Disziplinen soll also den Blick nicht dafür verstellen, dass die Beobachtungen und Schlussfolgerungen Ergebnisse eines induktiven, mehrjährigen Arbeitsprozesses an aufgezeichneten Gesprächen aus verschiedensten Interaktionskontexten (Alltagsgespräche zwischen Erwachsenen sowie Erwachsenen und Kindern, Radiogespräche, Unterrichtsinteraktion, Bürgerdialog, simulierte Mediationsgespräche) sind.

 Zur Situiertheit von Empathiedarstellungen Es besteht eine Wechselwirkung zwischen sozialer Interaktion und der Darstellung von Empathie, d. h. Empathiedarstellungen sind an die Erfordernisse sozialer Interaktion angepasst und wirken sich auf den Verlauf sozialer Interaktion aus. Grundsätzlich ist zu beobachten, dass Empathiedarstellungen in Reaktion auf die Kontextualisierung einer Person als consequential figure (Maynard 1997) erfolgen, also in Interaktionsmomenten, in denen eine anwesende (oder auch abwesende) Person als von einem Ereignis oder Zustand emotional oder physisch betroffen kontextualisiert wird. 1 Damit nähern wir uns der ersten oben genannten Frage nach dem ‚Wann‘ von Empathiedarstellungen in sozialer In-

 1 Diese ‚Betroffenheit‘ kann positiver oder negativer Valenz sein. Hier im Beitrag werden ausschließlich Beispiele mit negativer Valenz diskutiert.

Sprachliche, interaktionale und kulturelle Aspekte von Empathie  

teraktion. Zwei Formen der Situiertheit von Empathie können dabei auf Grund unterschiedlicher sequentieller Verläufe unterschieden werden: A) Empathiedarstellungen, die in situ interaktional relevant gemacht werden, d. h. eine übergeordnete soziale Aktivität wird durch die lokale Kontextualisierung einer consequential figure suspendiert. Hier wird eine unmittelbare Empathiedarstellung notwendig, bevor die übergeordnete Aktivität weitergeführt werden kann (Beispiel (2)). B) Andere sequentielle Verläufe legen nahe, dass Empathiedarstellungen auch Handlungen sein können, die sich systematisch im Interaktionsverlauf entfalten bzw. entwickeln und konstitutiv für den Verlauf einer sozialen Aktivität sind, z. B. einer Erzählung persönlichen Erlebens (Beispiel (3)). Das folgende Beispiel (2) illustriert, wie Sequenzen, die aus Kontextualisierung einer Betroffenen und Empathiedarstellung bestehen, eine übergeordnete Aktivität suspendieren können. Der Ausschnitt beginnt, nachdem Reem, ein Teenager aus dem Libanon, seine Geschichte erzählt hat: Sie ist in ihrer Schule gut integriert und spricht sehr gut Deutsch, aber die Unsicherheit über ihren Aufenthaltsstatus macht ihr schwer zu schaffen. Angela Merkel erkennt das Problem an und erklärt, dass Politik und Verwaltung alles tun, um den Prozess der Prüfung des Aufenthaltsstatus zu verbessern. Einer der Moderatoren hat die Kanzlerin aufgefordert, hinsichtlich des geplanten Zeitraums dafür etwas präziser zu sein: Beispiel (2): Bürgerdialog I 2 021

Mer:

022 023

Mer:

na; ich denke dass wir in:_innerhalb Eines jahres jetzt ALL die hh° (1.81)((beobachtet Reem, beugt sich etwas nach vorn))

 2 Transkript und Standbilder werden mit der freundlichen Genehmigung des Bundespresseamts gedruckt (www.bundesregierung.de).

148 | Maxi Kupetz

Standbild 01: Ende Segment 23 024 025 ((...)) 042 Mer: 043 ((...))

| KOMM;>

| ((läuft zu Reem)) ((lächelndes Ausatmen))