Sprache im Exil: Mehrsprachigkeit und Übersetzung als literarische Verfahren bei Hilde Domin, Mascha Kaléko und Werner Lansburgh [1. Aufl. 2019] 978-3-476-04942-1, 978-3-476-04943-8

Die Monographie untersucht Sprachkonstellationen in der Literatur des Exils aus NS-Deutschland seit 1933. Im Fokus stehe

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German Pages XI, 370 [376] Year 2019

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Sprache im Exil: Mehrsprachigkeit und Übersetzung als literarische Verfahren bei Hilde Domin, Mascha Kaléko und Werner Lansburgh [1. Aufl. 2019]
 978-3-476-04942-1, 978-3-476-04943-8

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Vom „Sprach-Problem“ im Exil zu mehrsprachigen Textphänomenen: Einführung in die Thematik und Vorgehen der Arbeit (Anne Benteler)....Pages 1-11
„Lost and found in translation“: Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933 (Anne Benteler)....Pages 13-64
Sprachphilosophische und kulturwissenschaftliche Übersetzungstheorien im Kontext von Exil (Anne Benteler)....Pages 65-139
Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien für mehrsprachige Literatur (Anne Benteler)....Pages 141-176
Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen: Einflüsse durch Mehrsprachigkeit und Übersetzung bei Hilde Domin (Anne Benteler)....Pages 177-236
Mehrsprachige Sprachsatire: Nachahmung gesprochener Fremdsprache und dynamische Kulturenkonstellationen bei Mascha Kaléko (Anne Benteler)....Pages 237-286
Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen bei Werner Lansburgh (Anne Benteler)....Pages 287-335
Resümee und Ausblick: Exilliteratur als translingualer und translationaler Reflexionsraum (Anne Benteler)....Pages 337-343
Back Matter ....Pages 345-370

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E X I L - K U LT U R E N

Anne Benteler

Sprache im Exil Mehrsprachigkeit und Übersetzung als literarische Verfahren bei Hilde Domin, Mascha Kaléko und Werner Lansburgh

BAN D 2

Exil-Kulturen Band 2 Reihe herausgegeben von Doerte Bischoff, Hamburg, Deutschland Wissenschaftlicher Beirat Bettina Bannasch, Augsburg, Deutschland Johannes Evelein, Hartford, USA Alfrun Kliems, Berlin, Deutschland Mona Körte, Bielefeld, Deutschland Primus-Heinz Kucher, Klagenfurt, Österreich Paul Michael Lützeler, Saint Louis, USA

In dieser Reihe erscheinen Monographien und Sammelbände zur aktuellen Exil-­ Forschung. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16327

Anne Benteler

Sprache im Exil Mehrsprachigkeit und Übersetzung als literarische Verfahren bei Hilde Domin, Mascha Kaléko und Werner Lansburgh

Anne Benteler Universität Hamburg Hamburg, Deutschland Veröffentlicht mit Unterstützung der Herbert und Elsbeth Weichmann-Stiftung Hamburg

ISSN 2662-1851 ISSN 2662-186X  (electronic) Exil-Kulturen ISBN 978-3-476-04942-1 ISBN 978-3-476-04943-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04943-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J.B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Foto: akg-images/De Agostini Picture Lib./ M. Carrieri) J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Danksagung

Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um meine Dissertation, die ich im Dezember 2017 an der Universität Hamburg eingereicht habe. Das Promotionsprojekt wurde durch Promotionsstipendien der Landesgraduiertenförderung Hamburg und des Doktorandenkolleg Geisteswissenschaften der Universität Hamburg ermöglicht. Für die Beihilfe zur Drucklegung danke ich der Herbert und Elsbeth WeichmannStiftung Hamburg. Darüber hinaus gilt mein Dank allen Personen, die mich in der Zeit der Bearbeitung unterstützt haben. Allen voran möchte ich Prof. Dr. Doerte Bischoff für die Betreuung meines Promotionsprojektes danken. Ihre inspirierende Lehr- und Forschungstätigkeit haben mich zur Promotion motiviert und zur Wahl meines Themas im Bereich der Exilforschung geführt. Mit ihrer wissenschaftlichen Expertise hat sie mein Projekt inhaltlich weitergebracht, sich bei Bewerbungen für Stipendien für mich eingesetzt, zu Tagungsbesuchen angeregt und Publikationen ermöglicht. Prof. Dr. Claudia Benthien danke ich für die mehrjährige Betreuung, viele hilfreiche Anregungen und die Erstellung des Zweitgutachtens. Doerte Bischoff und Claudia Benthien haben mit ihrem persönlichen Engagement maßgeblich zum Gelingen meines Forschungsvorhabens beigetragen. Meinen Kolleg*innen an der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle in Hamburg danke ich für die gute Zusammenarbeit und den bereichernden fachlichen Austausch. Den Mitgliedern des Forschungskolloquiums „Literaturwissenschaft und Kulturtheorie“ bin ich für das Lesen zahlreicher Kapitel und konstruktives Feedback dankbar. Für die wichtige moralische Unterstützung, das großartige professionelle Lektorat und die bleibende Freundschaft danke ich ganz besonders meinen Doktorschwestern Sandra Narloch, Sonja Dickow und Carla Swiderski. Meinen Eltern Ulrich und Ursula Benteler sowie meinem Bruder Jan Benteler danke ich für den familiären Rückhalt. Meinem Partner Jan-Niklas Luckow und meinen Freund*innen danke ich für ihr Verständnis, ihre liebevolle Ermutigung in schwierigen Phasen und für ihre ergreifende Mitfreude über meinen Abschluss. Hamburg April 2019

Anne Benteler

V

Inhaltsverzeichnis

1 Vom „Sprach-Problem“ im Exil zu mehrsprachigen Textphänomenen: Einführung in die Thematik und Vorgehen der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 „Lost and found in translation“: Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.1 Walter A. Berendsohns Exilliteraturforschung über Landes- und Sprachgrenzen hinaus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2.1.1 Die humanistische Front: „Was der Index translationum verrät!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1.2 Nelly Sachs als Übersetzerin schwedischer Lyrik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.1.3 Heinrich Heine: „über die Grenzen der Muttersprache hinaus in die Weltliteratur“ . . . . . . . . . . . . . 30 2.1.4 Übersetzung, Weltliteratur und die Aktualität von Berendsohns Forschungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . 34 2.2 Essays Exilierter zu Übersetzung zwischen „Verlust“ und „Bereicherung“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.3 Vom Schriftsteller zum Übersetzer im Exil am Beispiel von Rudolf Frank. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.4 Exil und Selbstübersetzung am Beispiel von Georges-Arthur Goldschmidt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.5 Übersetzungen schreiben – Sprachliche und kulturelle Übersetzungen als ästhetisches Mittel in Exiltexten. . . . . . . . . . . . 62 3 Sprachphilosophische und kulturwissenschaftliche Übersetzungstheorien im Kontext von Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3.1 „Einbürgern“, „Verdeutschen“ oder „Verfremden“? Das ethische Potenzial von Übersetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.1.1 Vorgeschichte: Die Entstehung von Übersetzungstheorie aus der Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3.1.2 Zwischen Nationalbewusstsein und Internationalität im Übersetzungsdiskurs um 1800. . . . . . . 75

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3.1.2.1 Konzepte von Sprache und Übersetzung in der deutschen Frühromantik: Verändernde Übersetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3.1.2.2 Verfremdendes Übersetzen und vom „Verpflanzen ganzer Litteraturen“ bei Friedrich Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.1.2.3 Weltliteratur und Übersetzung seit Johann Wolfgang von Goethe. . . . . . . . . . . . . . . . 82 3.2 Übersetzung und Exil 1: Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 3.2.1 Das Verhältnis der Sprachen zueinander. . . . . . . . . . . . . . . 91 3.2.2 Übersetzung als Exil?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3.2.3 Übersetzungen als dynamische Wandlungen des Originals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.2.4 Exiltexte lesen vor dem Hintergrund von Benjamins Übersetzungstheorie?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 3.3 Übersetzung und Exil 2: Vilém Flussers mehrsprachige „Bodenlosigkeit“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3.3.1 Mehrsprachiges und (selbst)übersetzendes Schreiben als kritischer Reflexionsprozess . . . . . . . . . . . . . 104 3.3.2 Bodenlosigkeit im Exil. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 3.3.3 Übersetzung als sprachliche Bodenlosigkeit. . . . . . . . . . . . 115 3.3.4 Flussers Übersetzungsdenken als Zugang zu Exilliteratur?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.4 Übersetzungstheorie in den Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . . 121 3.4.1 Entwicklung der Übersetzungswissenschaft als ­eigenständige Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3.4.2 Translational turn: Übersetzung als ­kulturwissenschaftliches Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3.4.3 Postkoloniale Theorie und kulturelle Übersetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 3.4.4 Transkulturalität als Resultat kultureller ­Übersetzungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 3.4.5 Möglichkeiten und Grenzen von „Übersetzung“ als kultur- und literaturwissenschaftliche Analysekategorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 4 Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien für mehrsprachige Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . 141 4.1 Muttersprache oder Erstsprache?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 4.2 Mehrsprachigkeit: Praktiken und Konzepte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 4.2.1 Funktionen von Code-Switching. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4.2.2 Sprachmischungen und Transferprozesse im Sprachkontakt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

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4.2.3 Language crossing: Kann man eine Sprache besitzen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4.2.4 Translanguaging: Warum eignet sich ein Konzept von Translingualität besonders für die ­Literaturwissenschaft?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 5 Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen: Einflüsse durch Mehrsprachigkeit und Übersetzung bei Hilde Domin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 5.1 Stand der Domin-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 5.1.1 Die (deutsche) Sprache als Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 5.1.2 Zur Bedeutung von Mehrsprachigkeit und Übersetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 5.2 Leben als Sprachodyssee – Darstellungen von Sprache und Übersetzung im Exil in den autobiografischen Texten. . . . . . . 189 5.2.1 „von Sprache zu Sprache gewandert“ – Mehrsprachigkeit und Spracherwerb im Exil . . . . . . . . . . . 192 5.2.2 „ich jonglierte Texte aus vielen Sprachen in viele ­Sprachen“ – Übersetzungs-Akrobatik. . . . . . . . . . . . . . . . . 200 5.2.3 „Um Abstand zu bekommen“ – Mehrsprachigkeit und (Selbst-)Übersetzung als Vorbereitung für die „Geburt“ als Schriftstellerin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 5.3 Hilde Domin als Literaturübersetzerin und Kulturvermittlerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 5.4 „Meine Worte sind Vögel / mit Wurzeln“ – Lyrische Sprachbilder zwischen Verwurzelung und Translingualität. . . . . . . 220 5.5 Brüchige Konstellationen von Heimat und Sprache im Roman Das zweite Paradies. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 5.6 Fazit: Gegen Einengung des Sprachzuhauses – Paradoxale Spannung zwischen Muttersprache und Mehrsprachigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 6 Mehrsprachige Sprachsatire: Nachahmung gesprochener ­Fremdsprache und dynamische Kulturenkonstellationen bei Mascha Kaléko. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 6.1 Stand der Kaléko-Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 6.1.1 Zentrale Forschungsthemen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 6.1.2 Bisherige Forschungsansätze und -positionen zum Thema Mehrsprachigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 6.2 Lyrische Experimente zwischen Sprachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 6.2.1 „lengvitsch“ mit Akzent – Nachahmung gesprochener Fremdsprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 6.2.2 Verloren zwischen den Sprachen? – Textinterne ­Übersetzungen als semantische Differenzmarker . . . . . . . . 255 6.3 „Hier werden alle Sprachen gesprochen und gebrochen“ – ­Mehrsprachige New Yorker Gesellschaftsminiaturen . . . . . . . . . . . 258

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6.3.1 Lyrische Amerika-Porträts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 6.3.2 „You’ve got a charming accent“ – Hundertzwanzig Minuten „Minute-Man“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 6.3.3 „ein melting pot im ‚melting pot‘“ – Beschreibung von Gentrifizierung und Dekonstruktion kultureller ‚Originale‘ im Künstlerviertel „Greenwich Village“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 6.3.4 Jüdisches Leben und „Delancey-Vernacular“ in der „Lower Eastside“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 6.4 „Dazu noch ein bißchen Englisch, das Ganze gut schütteln“ – Translinguales Schreiben in Wendriner in Manhattan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 6.4.1 Die Wendriner-Geschichten von Kurt Tucholsky . . . . . . . . 279 6.4.2 Kalékos Wendriner in „Njujork“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 6.5 Fazit: Konsequentes Durchkreuzen einer monolingualen Norm von Literatursprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 7 Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen bei Werner Lansburgh. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 7.1 Werner Lansburgh: Texte und Projekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 7.1.1 (Sprach-)biografisches sowie literarische und nicht ­literarische Buchprojekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 7.1.2 Textkorpus für die Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 7.1.2.1 Prosa-Miniaturen aus dem Exil in den ­Erzählbänden J und Strandgut Europa. . . . . . . . . 297 7.1.2.2 Der Roman Schloß Buchenwald. . . . . . . . . . . . . . 299 7.1.2.3 Der Liebesbrief- und Sprachlernroman Dear Doosie und seine Folgeromane. . . . . . . . . . 301 7.1.2.4 Die Autobiografie Feuer kann man nicht ­verbrennen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 7.2 Konzeptionen von (Mutter-)Sprache und Exil zwischen ­Sprachverlust, Sprachlosigkeit und Wiedergewinn. . . . . . . . . . . . . 304 7.2.1 Vertreibung aus dem Sprachraum als Sprachenteignung und Potenzverlust. . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 7.2.2 Im Exil, aber kein Exilautor: Das „Vakuum“ der ­Sprachlosigkeit in „Land X“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 7.2.3 „Seit dreißigtausend Jahren …“: Wiederbegegnung mit der deutschen Sprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 7.3 Translinguale und übersetzende Schreibverfahren . . . . . . . . . . . . . 317 7.3.1 Autobiografische Darstellung von Sprachenerwerb im Exil und Reflexionen über die Schreibsprache in Feuer kann man nicht verbrennen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

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7.3.2 Rückkehr nach Deutschland und Rückübersetzung ins Exil in Schloß Buchenwald. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 7.3.3 Inszenierung von Mehrsprachigkeit und Übersetzung im Erzählband Strandgut Europa. . . . . . . . . . 328 7.3.4 Zweisprachiges Schreiben als translingualer Sprachkurs aus dem Exil in „Dear Doosie“. . . . . . . . . . . . 331 7.4 Fazit: Der mehrsprachige Erzähler als Sprachlehrer und Übersetzer im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 8 Resümee und Ausblick: Exilliteratur als translingualer und translationaler Reflexionsraum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Siglenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Abbildungsverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Archivalienverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

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Vom „Sprach-Problem“ im Exil zu mehrsprachigen Textphänomenen: Einführung in die Thematik und Vorgehen der Arbeit

Menschen, die sich aus existenziell bedrohlichen Gründen wie beispielsweise politischer Verfolgung gezwungen sehen, ein Land oder eine Weltregion zu verlassen, um sich andernorts für einen ungewissen Zeitraum in Sicherheit zu bringen, sind auf Kommunikation wesentlich angewiesen. Von administrativ-organisatorischen Abläufen über das Zurechtfinden in einer eventuell unbekannten Gesellschaft und die vorübergehende oder dauerhafte Einfindung ins Berufsleben bis hin zur gesellschaftlichen Teilhabe: Auf der Flucht und im Exil funktioniert nichts ohne die entsprechenden sprachlichen Ressourcen. Häufig bedarf es zur Verständigung auch Übersetzer*innen1 und Dolmetscher*innen, die Geflüchtete und Exilant*innen vorübergehend unterstützen. Nicht selten sind diejenigen, die Sprachhilfe leisten, aus eigener Erfahrung heraus mit der herausfordernden Situation vertraut, sich in einer neuen Sprachumgebung zurechtfinden zu müssen. Aus dem einstigen Lebens- und Sprachraum vertrieben zu sein, stellt für alle diejenigen, deren Arbeitsgrundlage und -material aus Sprache besteht, eine besonders große Herausforderung dar. Das betrifft beispielsweise Wissenschaftler*innen, ­Journalist*innen oder Jurist*innen. Was passiert aber, wenn die Sprache darüber hinaus Gegenstand und Instrument für künstlerisches Arbeiten, für eine schriftstellerische Tätigkeit ist? Wiegt eine Exilierung dann umso schwerer? Geflüchtete Schriftsteller*innen, so die verbreitete und in vielen Fällen auch berechtigte Annahme, sind in doppelter Weise ‚betroffen‘: Zwar können sie in künstlerischer Hinsicht, falls gewollt, weiterhin in ihrer Muttersprache schreiben, doch fehle ihnen der Kontakt zu derselben. Über einen längeren Zeitraum, so die Befürchtung, führe dies dazu, dass die Sprache als künstlerisches Medium den Aktualitätsbezug ­verliert, erstarrt und antiquiert zurückbleibt.

1Das Gender-Sternchen (hier „Schriftsteller*innen“) wird im Folgenden anstatt eines männlichen Generikums verwendet, um eine ausschließende, dichotome Frau-Mann-Struktur aufzubrechen.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Benteler, Sprache im Exil, Exil-Kulturen 2, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04943-8_1

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1  Vom „Sprach-Problem“ im Exil zu mehrsprachigen Textphänomenen

Gleichzeitig ist eine Publikation in der Muttersprache, zumeist aufgrund von Zensur im Herkunftsland, erschwert und eine muttersprachliche Leserschaft daher kaum zugänglich. Das Veröffentlichen literarischer Texte im Exil ist deshalb, wenn überhaupt, häufig nur in Übersetzung möglich. Nicht zuletzt in ökonomischer Hinsicht besteht die Gefahr, dass die schriftstellerische Tätigkeit im Exil nicht (mehr) als Lebensgrundlage dienen kann. Eine im Exil begonnene oder fortgesetzte Tätigkeit als Übersetzer*in eigener oder anderer Texte ist aus diesem Grund keine Seltenheit. Übersetzung kann aber nicht nur dazu dienen, das materielle ‚Überleben‘ zu sichern. In ihrer Eigenschaft, Sprachgrenzen und Nationalliteraturen zu überschreiten, haben verschiedene Formen von Übersetzung wiederum auch direkten und maßgeblichen Einfluss auf die künstlerische Literaturproduktion. Ausgangspunkt des Forschungsvorhabens ist die für exilierte Schriftsteller*innen doppelt essenzielle Bedeutung von Sprache: Sprachverlust und Spracherwerb, ebenso wie Sprachwechsel, Mehrsprachigkeit und Übersetzung sind Herausforderungen sowohl im Exil-Alltag als auch für die Produktion literarischer Texte. Nimmt man das Exil aus NS-Deutschland und Österreich seit 1933 in den Blick, so ist über die Sprachkonstellationen von Exilschriftsteller*innen bereits vieles geschrieben worden. Die Auseinandersetzung mit der Thematik beginnt bereits im zeitgenössischen literarischen Diskurs selbst. So finden sich zahllose Stellungnahmen zum sogenannten „Sprach-Problem“2 wie auch Reflexionen über das eigene Verhältnis zur Muttersprache und dem schriftstellerischen Dasein im Exil. „Es gibt indessen eine Berufsgruppe, für die das Sprachproblem zur Lebensfrage wird – die Schriftsteller“3, schreibt Klaus Mann. Und weiter: „Im Übrigen hängt man von Übersetzern ab. Übersetzt werden aber nur die Berühmten, und selbst von diesen bleibt außerhalb des deutschen Sprachgebietes oft das Wichtigste und Schönste unbekannt.“4 Auch Lion Feuchtwangers berühmt gewordene Formulierung über die „bittere Erfahrung, abgespalten zu sein vom lebendigen Strom der Muttersprache“5 ist hier anzuführen. Zudem stellt er fest: „Die Sprache ändert sich von Jahr zu Jahr. In den zehn oder elf Jahren unseres Exils ist das Leben sehr schnell weitergegangen, es hat für tausend neue Erscheinungen tausend neue Worte und Klänge verlangt.“6 Auf die sprachlichen Herausforderungen des Schreibens im Exil verweist auch Leonhard Frank, wenn er es mit dem Spiel auf einer „Geige aus Stein“, auf einem „Klavier ohne Saiten“7 vergleicht. Es ließen sich viele weitere solcher Zitate aus literarischen und essayistischen Exiltexten seit 1933 anführen. Überwiegend lässt sich ein deutlich aufgeladenes

2Klaus

Mann: Das Sprach-Problem [1947]. In: Ders.: Heute und Morgen. Schriften zur Zeit. Hg. von Martin Gregor-Dellin. München 1969. S. 287–292. 3Mann, K.: Das Sprach-Problem (s. Anm. 2). S. 288. 4Mann, K.: Das Sprach-Problem (s. Anm. 2). S. 288. 5Lion Feuchtwanger: Der Schriftsteller im Exil [1943]. In: Ders.: Ein Buch nur für meine Freunde. Frankfurt a. M. 1984. S. 533–538, hier: S. 535. 6Feuchtwanger, L.: Der Schriftsteller im Exil (s. Anm. 5). S. 535. 7Leonhard Frank: Links, wo das Herz ist. München 1952. S. 191.

1  Vom „Sprach-Problem“ im Exil zu mehrsprachigen Textphänomenen

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Konzept von Muttersprache und eine Vorstellung von Sprache als Heimat bei den vertriebenen Schriftsteller*innen erkennen.8 Welche Konsequenzen sich daraus aber für die Wahl der Schreibsprache und die sprachliche Beschaffenheit der literarischen Texte ergeben, ist jedoch ebenso individuell verschieden und zum Teil auch widersprüchlich wie die häufig äußerst bildhaften Stellungnahmen und Sprachdarstellungen selbst. Eine schubladenartige Typisierung und Einordnung zeitgenössischer Spracheinstellungen ist daher wenig sinnvoll. Auch sollte man die diesbezüglichen Äußerungen der Schriftsteller*innen nicht unhinterfragt für die Deutung ihrer literarischen Texte übernehmen. Möchte man dennoch grobe Tendenzen nachzeichnen, so führten die Vertreibung und der kategorische Ausschluss aus der Nation bei nicht wenigen Autor*innen zu einem programmatischen Festhalten an der deutschen Schreibsprache. Dies wurde nicht zuletzt mit dem Bemühen darum begründet, die deutsche Sprache im Exil als Kulturgut zu bewahren und dem NS-Jargon im faschistischen Deutschland entgegenzusetzen. Dafür plädiert etwa Ernst Bloch in seinem 1939 verfassten Vortrag Zerstörte Sprache – Zerstörte Kultur9. Für andere Autor*innen war die deutsche Sprache so eng mit den nationalsozialistischen Verbrechen verknüpft, dass es ihnen unmöglich wurde, in ihr zu schreiben. Dies führte nicht selten zu einem vorübergehenden oder auch dauerhaften Verstummen. Viele Sprachreflexionen von Exilschriftsteller*innen behandeln neben der Muttersprache auch das Erfahrungsfeld vom Schreiben in anderen Sprachen und thematisieren die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten und Potenziale. Hilde Spiel etwa spricht in einem Essay vom „vertauschte[n] Werkzeug“10, wenn sie das Schreiben in der Exilsprache in den Blick nimmt. Sie beschreibt darin den mühsamen und langwierigen Prozess, sich neben Grammatik und Wortschatz auch den „Bilderreichtum“, das „Metaphernreservoir“11 sowie stilistische Elemente einer anderen Sprache anzueignen, um literarisch tätig werden zu können. „Kurz, man kann sich nicht ein-schreiben, man muß sich ein-leben in die fremde, gastliche Welt. Und man muß sich ein-lesen“12. Je mehr dies mit der Zeit gelänge, desto bereichernder sei die neue Sprachperspektive in der Konsequenz auch für die Muttersprache: „Aber wie fruchtbar kann es sein, über mehr als eine Ausdrucksform, eine Lebenssicht zu verfügen! Ich etwa habe, nach jahrzehntelangem Aufenthalt und Wohnrecht im englischen

8Vgl. dazu Susanne Utsch: „In einer fremden Sprache gestalten kann man nicht“. Der prägende Einfluss von Muttersprachideologien der 1920er und 1930er Jahre auf die Sprachbewahrungstendenz der Exilintellektuellen. In: Doerte Bischoff, Christoph Gabriel und Esther Kilchmann (Hg.): Exilforschung 32 (2014): Sprache(n) im Exil. S. 29–50. 9Ernst Bloch: Zerstörte Sprache – zerstörte Kultur. Vortrag im Schutzverband Deutscher Schriftsteller, New York [1939]. In: Ders.: Politische Messungen. Pestzeit. Vormärz. Frankfurt a. M. 1970. S. 277–299. 10Hilde Spiel: Das vertauschte Werkzeug. Schriftsteller in zwei Sprachen [1973]. In: Literatur und Kritik 79 (1973). S. 549–552. 11Spiel, H.: Das vertauschte Werkzeug (s. Anm. 10). S. 551. 12Spiel, H.: Das vertauschte Werkzeug (s. Anm. 10). S. 551.

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Bereich, das Deutsche erst richtig zu handhaben gelernt.“13 Klaus Mann sagt von sich selbst, er gehöre zu denjenigen, „die den Sprung gewagt“ und sich auf den „quälend[en]“ und „riskant[en]“14 sprachlichen Umstellungsprozess eingelassen haben. An diese Aussage anschließend stellt er die berühmt gewordene Frage, ob man im Exil nicht auch zwei Muttersprachen haben könne: Das Vaterland kann man verlieren, aber die Muttersprache ist der unverlierbare Besitz, die Heimat der Heimatlosen. Sogar, wenn uns der Vater verstößt, die Mutter wird uns stets die Treue halten. […] Wenn man Glück hat, findet man ein zweites Vaterland. Aber findet man auch eine zweite Sprache? Lässt die Muttersprache sich je vergessen? Oder können wir zwei Sprachen haben – zwei Mütter?15

Einem Großteil der literarischen Selbstreflexion im Exil seit 1933 unterliegt eine grundsätzlich dichotome Sprachkonzeption, in der die Muttersprache auf der einen Seite und die Exilsprache(n) auf der anderen Seite stehen. Sieht man sich die bis heute vorliegende literaturwissenschaftliche Exilforschung an, so fällt Folgendes auf: Ähnlich wie in den meisten Stellungnahmen und Beschreibungen der Exilschriftsteller*innen ist auch hier überwiegend die Rede von einer Sprach-„Problematik“. Susanne Utsch kritisiert dementsprechend, dass „Etiketten wie ‚Sprachdilemma‘ oder ‚Sprachproblem‘“16 den Forschungsdiskurs für eine lange Zeit prägten und den exilbedingten Sprachkontakt nur eindimensional abbildeten. „Holzschnittartig und einseitig wurden die Selbstaussagen der Sprachbewahrer zum Normalfall und affirmativ-biografistisch zur Folie für wissenschaftliche Arbeiten.“17 Immer noch liegen vergleichsweise wenige Forschungsergebnisse zu mehrsprachigen Exilschriftsteller*innen vor, obschon das Desiderat seit längerem im Raum steht.18 Bezeichnet Dieter Lamping diesen Bereich der Exilliteratur 1995 noch als „unerforscht“19, stellt Wulf Köpke 2004 fest: „Insgesamt ist die Forschung zum Sprachproblem des Exils steckengeblieben“ und nur „eine geduldige Registrierung von Merkmalen und umsichtige Vergleichung kann schrittweise diesen Mangel ausgleichen. Erst dann wird es möglich sein, über Selbstaussagen und allgemeine

13Spiel,

H.: Das vertauschte Werkzeug (s. Anm. 10). S. 552. K.: Das Sprach-Problem (s. Anm. 2). S. 289. 15Mann, K.: Das Sprach-Problem (s. Anm. 2). S. 287. 16Utsch, S.: Der prägende Einfluss von Muttersprachideologien (s. Anm. 8). S. 29. 17Utsch, S.: Der prägende Einfluss von Muttersprachideologien (s. Anm. 8). S. 29. 18Einer der Ersten, der auf diesen Aspekt ausdrücklich hingewiesen hat, ist Wulf Köpke: Die Wirkung des Exils auf Sprache und Stil. In: Thomas Koebner, Wulf Köpke und Joachim Radkau (Hg.): Exilforschung 3 (1985): Gedanken an Deutschland im Exil und andere. S. 225–237. 19Dieter Lamping: „Linguistische Metamorphosen“. Aspekte des Sprachwechsels in der Exilliteratur. In: Hendrik Birus (Hg.): Germanistik und Komparatistik. Stuttgart 1995. S. 528–540, hier: S. 539. 14Mann,

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Eindrücke hinauszukommen.“20 Die neuere Exilliteraturforschung betrachtet das auch von Köpke noch sogenannte „Sprachproblem“ mittlerweile differenzierter, indem sie sich vermehrt auf ‚produktive Dimensionen‘ der Sprache im Exil richtet. Anstelle der in der Exilforschung lange vorherrschenden, von den auf ihre Muttersprache fixierten Schriftstellern bestimmten, nicht selten larmoyanten Sicht auf die prekären lebensgeschichtlichen Zäsuren, auf berufliche, soziale und emotionale Entwurzelungen individueller Schicksale könnte der Horizont erweitert werden. Damit würden auch optimistische Wahrnehmungen von positiven Seiten des Exils möglich werden. Als Lebensform steht es zwar weiterhin für erzwungene Entfremdungen und Entwurzelungen, aber durch seine permanenten Mobilitätsanforderungen und Lernprozesse kann es auch als Chance zur Überwindung ausgetretener Lebenspfade oder steril gewordener intellektueller Verkrustung angesehen werden.21

Es existieren neben einigen überblicksartigen Darstellungen zu Sprache und Exil22 vorwiegend Aufsätze und wenige Monografien zu einzelnen Schriftsteller*innen. Besonders gut und recht breit erforscht sind inzwischen beispielsweise Sprachwechselkonstellationen bei Peter Weiss23, Klaus Mann24 und Georges-Arthur Goldschmidt25. Dass besonders interdisziplinäres Arbeiten zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft die Erforschung von sprachübergreifenden Zusammenhängen

20Wulf

Köpke: Das Sprachproblem der Exilliteratur. In: Werner Besch u. a. (Hg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Bd. 4.2. Vollständig neu bearb. und erw. Aufl. Berlin/New York 2004. S. 3110–3116, hier: S. 3115. 21Claus-Dieter Krohn und Lutz Winckler: Vorwort. In: Dies. u. a. (Hg.): Exilforschung 27 (2009): Exil, Entwurzelung, Hybridität. S. VII–X, hier: IX. 22Vgl. neben den bereits erwähnten Beiträgen von Lamping und Köpke z. B. auch den Artikel von Ernst Stefan Troller: Sprache und Emigration. Vom Überleben der deutschen Künstler in erzwungener Fremde. In: Lettre International 87 (2009). S. 94–99. Für einen Überblick über speziell aus Österreich geflohene Schriftsteller*innen vgl. Primus-Heinz Kucher: Sprachreflexion – Sprachwechsel im Exil [2002]. Unter: http://www.literaturepochen.at/exil/lecture_5011.pdf (12.04.2019). 23Vgl. z. B. Angelika Redder: Fremdheit des Deutschen. Zum Sprachbegriff bei Elias Canetti und Peter Weiss. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 17 (1991). S. 34–54; Sture Packalén: „…als läge unter jedem Wort ein schwer fassbarer Schatten“. Zur Verortung von Peter Weissʼ Schreiben. In: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.): Exilforschung 25 (2007): Übersetzung als transkultureller Prozess. S. 112–133; Jenny Willner: Wortgewalt. Peter Weiss und die deutsche Sprache. Konstanz 2013. 24Die Erforschung der exilbedingten Sprach(wechsel)konstellationen bei Klaus Mann ist insbesondere auf Utsch zurückzuführen: Vgl. Susanne Utsch: Sprachwechsel im Exil. Die ­ „linguistische Metamorphose“ von Klaus Mann. Köln 2007; Dies.: Übersetzungsmodi. Zur Komplementarität von Sprachverhalten und transantlantischem Kulturtransfer bei Klaus Mann. In: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.): Exilforschung 25 (2007): Übersetzung als transkultureller Prozess. S. 134–152; Dies.: Der exilbedingte Sprachwechsel von Klaus Mann. Im Fokus von Sprach- und Literaturwissenschaft? In: Dieter Heimböckel (Hg.): Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften. München 2010. S. 275–305. 25Siehe zu Goldschmidt und der dazugehörigen Forschung Abschn. 2.4.

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ertragreich vorantreibt, zeigt der 2014 erschienene Sammelband Sprache(n) im Exil. Die darin versammelten Beiträge sind richtungsweisend, weil sie sich mit Texten und Sprachdokumenten befassen, „die von translingualen Dynamiken bestimmt sind, die quer zur dominanten Vorstellung einer monolingualen Norm laufen und deshalb von dieser nicht adäquat erfasst werden können.“26 An diese Ausrichtung möchte die vorliegende Arbeit anschließen. Zur Frage von Sprache und Exil sollen hier vor allem zwei Themenkomplexe in den Blick genommen werden, bei denen es nach wie vor großen Forschungsbedarf gibt: erstens Exil und Übersetzung,27 zweitens mehrsprachige Exiltexte.28 Ziel ist es, eine Untersuchung der jeweiligen Formen vorzulegen, in denen Mehrsprachigkeit und Übersetzung in Exiltexten von Hilde Domin, Mascha Kaléko und Werner Lansburgh auftreten, und damit einen Beitrag zur Forschung zu leisten. Die literaturwissenschaftliche Analyse soll Textphänomene betrachten, die thematisch und ästhetisch Mehrsprachigkeit und Übersetzung im Exil verhandeln. Es geht also nicht wie in vielen anderen Untersuchungen primär darum, das Verhältnis der Autor*innen zu Mutter- und Exilsprache(n) zu ergründen, wenngleich es auch nicht sinnvoll wäre, die jeweiligen (sprach-)biografischen Zusammenhänge als Kontext gänzlich zu ignorieren.29 Entgegen der oben kritisierten Konzentration vieler wissenschaftlicher Arbeiten auf Selbstaussagen, soll die Forschungsperspektive hier auf die sprachliche Beschaffenheit der untersuchten Exiltexte gerichtet werden. Der Fokus der Analysen liegt daher ausdrücklich auf der Art und Weise, wie literarische Texte des Exils Mehrsprachigkeit und Übersetzung zu ihrem Gegenstand machen, indem sie sie reflektieren und ästhetisch umsetzen. Die Auswahl des Textkorpus begründet sich folgendermaßen. Einige von Domins autobiografischen Texten thematisieren die Notwendigkeit und Bedeutung von Sprachkenntnissen und Übersetzungen auf der Flucht und im Exil. „Ich glaube, nicht übertrieben zu haben, wenn ich von mir sage, daß ich Texte gewendet habe, wie andere Kleider wenden.“30 So heißt es beispielsweise in Leben als Sprachodyssee. Das ist einer der Texte, die es hinsichtlich ihrer

26Doerte

Bischoff, Christoph Gabriel und Esther Kilchmann: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Exilforschung 32 (2014): Sprache(n) im Exil. S. 9–25, hier: S. 23. 27Siehe für einen genauen Forschungsbericht zu Übersetzung und Exil den einführenden Teil in Kap. 2. 28Eine Art Bestandsaufnahme von vielen für diesen Bereich relevanten Autor*innen und Texten findet man bereits bei Andreas Wittbrodt: Mehrsprachige jüdische Exilliteratur. Problemaufriß und Auswahlbibliographie. Aachen 2001. 29Vgl. zur Frage nach dem Umgang mit biografischen Hintergründen von Autor*innen in der Exilforschung z. B. die neuere Publikation von Julia Schöll: Die Rückkehr des Autors. Exilforschung als antiautoritäre Denkbewegung. In: Michael Grisko und Henrike Walter (Hg.): Verfolgt und umstritten! Remigrierte Künstler um Nachkriegsdeutschland. Frankfurt a. M. 2011. S. 231–242. Grundlegend ist in dieser Hinsicht auch der Text von Elisabeth Bronfen: Exil in der Literatur: Zwischen Metapher und Realität. In: arcadia 28 (1993). S. 167–183. 30Hilde Domin: Leben als Sprachodyssee [1979]. In: Dies.: Gesammelte autobiographische Schriften. Frankfurt a. M. 1998. S. 32–40.

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Gestaltung von Spracherwerbs- und Übersetzungsprozessen im Exil zu untersuchen gilt. Domins Lyrik fällt durch eine Metaphorik auf, die Sprache als einerseits frei und offen sowie andererseits an einem sprachlichen Ursprung verwurzelt erscheinen lässt, wie etwa im Gedicht Vögel mit Wurzeln: „Meine Worte sind Vögel / mit Wurzeln / immer tiefer / immer höher / Nabelschnur.“31 Kalékos Texte integrieren auf verschiedene Weise Elemente wie berlinerischen Lokalkolorit und Englisch (mit oder ohne Akzent). Im Gedicht Momentaufnahmen eines Zeitgenossen geht es beispielsweise um einen Emigranten, der sich als „geborene[r] Inglisch-Spieker“ gibt und das „ti-ehtsch“ „in seinem Oxford(second hand) Akzent“32 scheinbar perfekt beherrscht. Zusätzlich werfen ihre Texte, wie etwa das Gedicht Der kleine Unterschied, die Frage nach der Übersetzbarkeit zwischen Sprachen auf: „‚Gewiß, es bleibt dasselbe, / sag ich nun land statt Land, / sag ich für Heimat homeland / und poem für Gedicht. / Gewiß, ich bin sehr happy: / Doch glücklich bin ich nicht.‘“33 Über Kalékos lyrische Texte hinaus sind mehrere Prosatexte von Interesse, die sich in auffällig mehrsprachiger Weise mit der kulturellen und sprachlichen Zusammensetzung der New Yorker Gesellschaft auseinandersetzen. Eine besonders humorvolle Verhandlung von kulturellen Zugehörigkeiten in der Emigration findet man in Kalékos Text Wendriner in Manhattan…, wenn sich die Figur des Herrn Wendriner etwa folgendermaßen äußert: „Wosmer gut geht, da bin ich zehause. Basta. Wo ich meine Steuern zahle, da is mein Vaterland. Ich fühle mich Amerikaner, voll und ganz. Ich hab schon meine först pehpers.“34 In der Forschungsliteratur zu Domin und Kaléko wird überwiegend die Verbindung zur deutschen Sprache betont. Dabei unterscheiden sich Domin und Kaléko zunächst einmal grundlegend darin, dass Kaléko bereits vor ihrem Exil in den USA eine etablierte Schriftstellerin war, während Domin erst in der Dominikanischen Republik begonnen hat, literarische Texte zu schreiben. Beide Autorinnen haben überwiegend auf Deutsch geschrieben und werden auch meist nur dahin gehend rezipiert. Viele ihrer Texte reflektieren aber, und zwar auf äußerst unterschiedliche Weise, Mehrsprachigkeit und Übersetzung im Exil. Diese in den wenigen Beispielen angedeuteten Aspekte gilt es angesichts der Forschungslage weiterführend zu untersuchen. Lansburgh ist im Vergleich zu Domin und Kaléko nahezu unbekannt. Bereits kurz nach seinen schriftstellerischen Anfängen musste er fliehen, was ihn zu mehreren Stationen in Europa führte. Darauf folgte ein über 40-jähriges Exil

31Hilde

Domin: Vögel mit Wurzeln. In: Dies.: Sämtliche Gedichte. Hg. von Nikola Herweg und Melanie Reinold. Frankfurt a. M. 2009. S. 132. 32Mascha Kaléko: Momentaufnahme eines Zeitgenossen. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 179. 33Mascha Kaléko: Der kleine Unterschied. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. München 2012. Bd. 1: Werke. S. 665. 34Mascha Kaléko: Wendriner in Manhattan… Ein Mann auf dem Abwege. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. München 2012. Bd. 1: Werke. S. 802–806, hier: S. 804.

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in Schweden. In dieser Zeit schrieb er ununterbrochen literarische Texte, die er jedoch kaum veröffentlichen konnte. Erst mit seinem zweisprachigen Sprachlern- und Liebesbriefroman „Dear Doosie“35 hatte er einigen Erfolg. Damit einhergehend erhielt er die Möglichkeit zur Rückkehr nach Deutschland und zur Publikation weiterer Texte. In „Dear Doosie“ wird sehr häufig, teilweise sogar mehrmals im Satz, zwischen Deutsch und Englisch gewechselt sowie hin und her übersetzt: „Worauf ich eigentlich hinauswollte, what I was driving at, war dies: ‚love letter‘, nicht bindegestricheltes ‚love-letter‘, und um Gottes willen, for God’s sake, keinen deutsch-englisch zusammengepanschten ‚loveletter‘-Eintopf.“36 Aber es zeigen auch alle anderen Texte Lansburghs deutlich mehrsprachige Schreibverfahren. Auffällig ist, dass in den Texten zugleich eine enge Verbindung zwischen Schreiben und deutscher Sprache reflektiert und betont wird. Beispiele dafür sind die Bezeichnung der Vertreibung aus Deutschland als Sprachraub und die Verknüpfung des schwedischen Exils mit einer Sprachlosigkeit. Neben den Doosie-Romanen sind für die Untersuchung weiterhin sein Roman Schloss Buchenwald (1971), sein Erzählband Strandgut Europa. Erzählungen aus dem Exil 1933 bis heute (1984) und seine zuletzt erschienene Autobiografie Feuer kann man nicht verbrennen (1990) von Interesse. Alle diese Texte reflektieren verschiedene Dimensionen von Sprachverlust und Sprachenerwerb im Exil und setzen sie auch ästhetisch durch zahlreiche mehrsprachige Elemente um, z. B. in der Erzählung Lied ohne Worte, wenn ein exilierter Schriftsteller zu einer Botschaftsbeamtin sagt: „Sprache […] is not words alone! / Sprache ohne pays, language ohne Land, / Ist wie ein Strang, a string, without die Geige, comprenez?“37 Die leitenden Forschungsfragen, die den literaturwissenschaftlichen Analysen zu Domin, Kaléko und Lansburgh zugrunde liegen, lauten wie folgt: Welche Einflüsse und Formen von Mehrsprachigkeit kennzeichnen die Schreibverfahren in den untersuchten Texten? In welchem Zusammenhang stehen diese mit den gleichzeitig prominenten Vorstellungen von Muttersprache? Welches Verhältnis zur deutschen Sprache zeichnet sich in den Texten ab? Für alle im Kontext des Exils seit 1933 mehr oder weniger programmatisch gewählten oder experimentierenden Schreibverfahren zwischen Sprachbewahrung und Sprachwechsel oder Mehrsprachigkeit spielt die Konzeption von Nationalsprache eine entscheidende Rolle, weil ihr eine grundlegende Einheitsfunktion immanent ist. Bereits vor der Machtergreifung der NSDAP wurde die Frage, wer Teil der ‚deutschen‘ Nation und der deutschsprachigen Kulturlandschaft sein dürfe, in einem politisch gespaltenen Deutschland zum Streitpunkt. Sie bedingte damit die Ausgangssituation des Exils. Nicht nur in dieser Hinsicht sind die Bücherverbrennungen 1933 als symbolisch inszenierter Akt zu sehen. Unter

35Werner

Lansburgh: „Dear Doosie“. Eine Liebesgeschichte in Briefen. Auch eine Möglichkeit, sein Englisch aufzufrischen [1977]. Frankfurt a. M. 1979. 36Lansburgh: Dear Doosie (s. Anm. 35). S. 25. 37Werner Lansburgh: Strandgut Europa. Erzählungen aus dem Exil 1933 bis heute. Köln 1982. S. 86.

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den Schlagworten „[w]ider den undeutschen Geist“ sollte die Literatur jüdischer, marxistischer und pazifistischer Schriftsteller*innen aus der ‚deutschen‘ Nationalphilologie bzw. Nationalliteratur ausgeschlossen werden. Besonders hervorzuheben sind hinsichtlich des Themas der vorliegenden Forschungsarbeit folgende Auszüge aus der ersten, fünften und siebten These der insgesamt zwölf Thesen, die von der Deutschen Studentenschaft plakatiert wurden und die die nationalsozialistische Auffassung von Nation und Sprache ad absurdum führen: Sprache und Schrifttum wurzeln im Volke. […] Der Jude kann nur jüdisch denken. Schreibt er deutsch, dann lügt er. […] Wir fordern deshalb von der Zensur: Jüdische Werke erscheinen in hebräischer Sprache. Erscheinen sie in Deutsch, sind sie als Uebersetzung zu kennzeichnen. […] Deutsche Schrift steht nur Deutschen zur Verfügung.38

Das Verhältnis von Sprache und Nation im Exil sei „paradox“39, sagt Domin. Denn die deutschsprachigen Exilschriftsteller*innen, deren Bücher verbrannt, die verfolgt, die aus der Nation und dem nationalen Literaturkanon ausgeschlossen wurden, die aus dem staatlichen Territorium und aus dem deutschen Sprachraum vertrieben wurden und die durch ihre Flucht meist staatenlos geworden sind, haben weiterhin einen maßgeblichen Einfluss auf die ‚deutsche‘ Literatur – bis in die Gegenwart hinein. Dazu sind auch diejenigen Autor*innen zu zählen, die erst im Exil zu schreiben begannen. Die literarischen Texte von Hilde Domin, Mascha Kaléko und Werner Lansburgh erweitern, so lautet die zentrale These der vorliegenden Untersuchung, die deutschsprachige Literatur über sprachliche und nationale Grenzen hinaus, indem durch Einflüsse anderer Sprachen und Kulturen translinguale und translationale Schreibverfahren entstehen. Mit welchen Verfahren schreiben mehrsprachige Texte eine deutschsprachige Literatur im Exil fort und inwiefern transformieren sie sie damit auch? Im Zuge der aufgestellten Hypothese gilt es, in der Analyse also auch zu prüfen, ob und inwiefern die literarischen Texte Vorstellungen von einheitlichen Nationalsprachen und -literaturen hinterfragen und in Richtung eines transnationalen Literaturverständnisses verschieben. Es dürfte bereits anhand der wenigen Beispiele aus dem Textkorpus auffallen, dass die Arbeit mit einem ausgeweiteten Exilbegriff operiert, der sich bewusst von einem epochenartig verwendeten und auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 festgelegten Exilbegriff verabschiedet. Entscheidendes Kriterium ist nicht die Entstehungszeit der Texte, sondern ihre deutlich zu erkennende Verhandlung des Exils aus NS-Deutschland seit 1933 oder auch dessen Nachleben. Dass das Exil zweifelsohne nicht für alle im Jahre 1945 endete, bezeugt beispielsweise Lansburgh, der Schweden bis in die 1980er Jahre als Exil beschrieb und unermüdlich versuchte, nach Deutschland zurückzukehren. Aber auch in den Texten Domins,

38Zitiert

nach Abbildung in: Wilfried Weinke: „Wo man Bücher verbrennt…“: verbrannte Bücher, verbrannte und ermordete Autoren Hamburgs. Hamburg 2013. S. 13. 39Hilde Domin: „Wortwechsel“ – Interview mit Christa Schulze-Rohr (Südwestfunk Baden-­ Baden 1991). In: Bettina von Wangenheim (Hg.): Vokabular der Erinnerungen. Zum Werk von Hilde Domin. Aktual. von Ilseluise Metz. Frankfurt a. M. 1998. S. 200–218, hier: S. 202–203.

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die als die Autorin der Rückkehr schlechthin gilt, bleiben Flucht und Exil präsent, obwohl sie nach Deutschland zurückkehrte und auf Deutsch schrieb. Das dieser Arbeit zugrunde liegende Exilverständnis ist im Z ­ usammenhang mit verschiedenen Entwicklungen der letzten Jahre zu sehen, die sich als Neujustierung der Exilforschung betrachten lassen.40 Im Zuge dieser Neuerungen ist die Tendenz zu erkennen, die Erforschung des ‚klassischen‘ bzw. historischen Exils durch Verbindungen zu anderen Exilen zu öffnen sowie durch aktuelle Forschungsansätze, etwa aus dem Bereich der Kulturwissenschaften, sinnvoll neu ins Licht zu rücken. Die vorliegende Arbeit, die durch ebendiese Impulse einer aktuellen Exilforschung deutlich inspiriert ist, orientiert sich in ihrer literaturwissenschaftlichen Herangehensweise in mehrfacher Hinsicht an neuen Forschungskonzepten. Vor dem Hintergrund der Globalisierung und der weltweiten Vernetzung sowie den anhaltenden Migrationsbewegungen lässt sich etwa seit Beginn dieses Jahrtausends ein zunehmendes Interesse im Bereich der Mehrsprachigkeitsforschung und (auch kulturwissenschaftlich geprägten) Übersetzungsforschung beobachten. In Bezug auf Gegenwartstexte, die sich unter dem zu Recht umstrittenen Schlagwort „Migrationsliteratur“41 mehr oder weniger zusammenfassen lassen, haben sich diese aktuellen Ansätze bereits relativ breit etabliert. Mithilfe dieser aktuellen Perspektiven, Positionen und Erkenntnisse aus Kulturwissenschaft, Linguistik und Übersetzungsforschung ist es heute aber auch möglich, in einer neuen Art und Weise den Blick auf die zum Teil deutlich älteren Texte des Exils seit 1933 zu richten und zu schärfen.

40Vgl.

zu neuen Impulsen in der Exilforschung: Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein (Hg.): Literatur und Exil. Neue Perspektiven. Berlin 2013. 41Vgl. z.  B.: Myriam-Naomi Walburg: „Ich schlage vor, unsere Literatur als Literatur zu bezeichnen“: Über die Kategorie der Migrationsliteratur. In: Metin Toprak (Hg.): Literaturund Übersetzungswissenschaft. Frankfurt a. M. 2015. S. 73–85; Julia Schöll: Unterwegs im Text. Kritische Rückfragen zum Begriff Migrationsliteratur. In: Das Argument 54/4 (2012). S. 539–547. Es ist im Zusammenhang dieser Debatte auch bemerkenswert, dass der Adalbert-von-Chamisso-Preis, mit welchem die Robert Bosch Stiftung seit 1985 bis 2017 auf Deutsch schreibende Autor*innen ehrte, „deren Werk von einem Kulturwechsel geprägt ist“ (Robert Bosch Stiftung: https://www.bosch-stiftung.de/de/projekt/adelbert-von-chamissopreis-der-robert-bosch-stiftung [12.04.2019]), nunmehr eingestellt wurde. Die dahinter stehende Begründung sei, dass „das Fremdsprechen [längst] ein zentraler Lebensnerv der deutschen Literatur geworden“ ist und die ursprüngliche Zielsetzung nun erreicht sei, weil viele Chamisso-Preisträger*innen „mittlerweile zu den arrivierten und reich prämierten Autoren der Gegenwart“ (Stefan Kister: Klassenziel erreicht – ohne Auszeichnung. Chamisso-Preis wird eingestellt. In: Stuttgarter Nachrichten Online (20.09.2016). Unter: http://www. stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.chamisso-preis-wird-eingestellt-klassenziel-erreicht-ohne-auszeichnung.964383b1-3b2c-44e0-98d3-85b7ac2e0388.html [12.04.2019]) zählen. Insbesondere einige frühere Preisträger*innen sehen das anders und kritisieren die Einstellung des Preises, nicht zuletzt angesichts aktuell Geflüchteter in Deutschland (vgl. Ilja Trojanow und José F. A. Oliver: Ade, Chamisso-Preis? In: Frankfurter Allgemeine Online (21.09.2016). Unter: http:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kritik-an-bosch-stiftung-ade-chamisso-preis-14443175. html [12.04.2019]).

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Um die aktuellen Verschiebungen einer kulturwissenschaftlich orientierten Übersetzungsforschung sinnvoll einzubringen, braucht es eine historische Situierung von Exil(forschung) und Übersetzung. Das ist erforderlich, da das Forschungsfeld zu Übersetzung im Exil seit 1933 im Vergleich zur allgemeinen Sprachthematik noch viel deutlicher unbearbeitet ist. Somit erfolgt in dem überblicksartig angelegten Kap. 2 zunächst eine Einordnung wichtiger historischer Kontexte und Diskurse, die die Ausgangssituation um 1933 und das Exil aus NS-Deutschland im Hinblick auf Übersetzung und Übersetzen im literarischen Bereich prägen. Dafür werden neben historischen sowie sprach- und literaturwissenschaftlichen Forschungsbeiträgen zeitgenössische, überwiegend essayistische Texte und Briefe von (Exil-)Schriftsteller*innen herangezogen. Ziel dieses Kapitels ist es, das Spektrum von Übersetzung und Exil(literatur) nachzuzeichnen und die aktuelle Forschungslage darzustellen, an die die vorliegende Arbeit anschließen kann und die sie zu ergänzen hofft. Schwerpunkt des darauffolgenden Kap. 3 ist die Betrachtung und Einordnung von sprach- und kulturphilosophischen Übersetzungstheorien, die im Kontext des Exils selbst verortet werden können oder entstanden sind. Den Hintergrund bildet die Übersetzungstheorien grundsätzlich immanente Eigenschaft, dass über konkrete sprachliche Übersetzungsvorgänge hinaus immer auch eine Positionierung zum Verhältnis von Kulturen, von Fremdheit und Eigenheit, von Verfremdung oder Vereinnahmung stattfindet. Walter Benjamins und Vilém Flussers kultur- und wissenschaftshistorisch äußerst relevanten und einflussreichen Überlegungen zu Übersetzung und Exil stehen im Zentrum dieses Abschnitts. Sie sind aber auch in ihrer sprachlich-literarischen Beschaffenheit Gegenstand der Analyse. Von ihnen ausgehend soll die Entwicklung hin zu einer kulturwissenschaftlich orientierten Übersetzungsperspektive nachgezeichnet werden, die in der Folge als Bezugspunkt für die Untersuchung der literarischen Texte von Domin, Kaléko und Lansburgh dient. Um den mehrsprachigen Phänomenen innerhalb der literarischen Texte von Domin, Kaléko und Lansburgh adäquat begegnen zu können, ist eine Auseinandersetzung mit der aktuellen linguistischen Mehrsprachigkeitsforschung erforderlich. In Kap. 4 gilt es daher, Begriffe und Konzepte wie Erstsprache, Code-Switching, Sprachkontakt, language crossing und translanguaging zu definieren und hinsichtlich ihrer Anschlussfähigkeit für die Untersuchung mehrsprachiger literarischer Texte zu diskutieren. Die Auswahl und Zusammenstellung eben dieser in der Forschungsdiskussion aktuellen Konzepte folgt daraus, dass sie – ähnlich wie die im vorangehenden Kapitel betrachteten sprachphilosophischen und kulturwissenschaftlichen Übersetzungstheorien – eine besondere Perspektive auf sprachliche Kulturbegegnungen erlauben. In den Analysen zu Domin, Kaléko und Lansburgh in den Kap. 5, 6 und 7 werden die zuvor vorgestellten und kritisch beleuchteten übersetzungstheoretischen und linguistischen Ansätze für die detaillierte Auseinandersetzung mit literarischen Textphänomenen herangezogen und miteinander kombiniert.

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„Lost and found in translation“: Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

Der thematische Komplex von Übersetzung und Exil gehört zu den bislang noch unzureichend bearbeiteten Bereichen einer Exilliteraturforschung, die sich mit dem Exil aus NS-Deutschland und Österreich seit 1933 beschäftigt. Ein Grund ist die in der Einleitung bereits angesprochene lange Zeit dominierende zeitliche Einschränkung, die nur literarische Phänomene einbezog, die bis 1945, dem Kriegsende, bzw. 1948, der Gründung der BRD, stattgefunden haben, und sich damit für spätere Entwicklungen verschließt. In Bezug auf das Übersetzungsthema kommt ein weiteres Forschungs-‚Hindernis‘ hinzu, welches in der Thematik liegt: die allen Übersetzungsprozessen inhärente Eigenschaft, Sprachgrenzen in verschiedener Art und Weise zu überschreiten. Die deutschsprachige Exilliteraturforschung jedoch richtete sich lange Zeit ausschließlich oder zumindest deutlich fokussiert auf deutschsprachige Texte, die im Exil von deutschsprachigen Exilschriftsteller*innen produziert wurden. Mit Sicherheit ist dies einer der Gründe dafür, dass Übersetzungsphänomene erst allmählich und im Zuge von neueren, interdisziplinären Tendenzen und ausdrücklichen Öffnungsprozessen im Exilforschungsfeld in den Blick geraten sind. Was Übersetzung betrifft, ist die Forschungslage insgesamt sogar noch deutlicher unerforscht als es bei der Sprachthematik der Fall ist. Während im Verlaufe dieses Kapitels einzelne Forschungsbeiträge zu Exil und Übersetzung herangezogen werden, sollen vorab die wenigen Sammelpublikationen genannt werden, die sich explizit und schwerpunktmäßig dem Thema widmen. Sie werden als grundlegend betrachtet, um den aktuellen Forschungsstand abzubilden und auszuweisen, woran diese Arbeit teilweise anknüpft und mit welchen Positionen sie darüber hinausgeht. Einen Grundstein der Forschung zu Exil und Übersetzung bildet das von der Gesellschaft für Exilforschung herausgegebene Jahrbuch 2007, das sich als thematischer Sammelband mit Übersetzung als transkultureller Prozess1

1Claus-Dieter

Krohn u. a. (Hg.): Exilforschung 25 (2007): Übersetzung als transkultureller Prozess.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Benteler, Sprache im Exil, Exil-Kulturen 2, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04943-8_2

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

befasst. Das Innovative an diesem Band ist, dass die Beschäftigung mit Übersetzungsprozessen im Exil explizit für kulturwissenschaftliche Ansätze und Theorien geöffnet wird, indem auch transkulturelle Verflechtungen, die mit Übersetzungen einhergehen können, in den Blick genommen werden.2 Es finden sich Beiträge u. a. zu kultureller Übersetzung bei Heinrich Mann3, zu gegensätzlichem Sprachverhalten und transatlantischem Kulturtransfer bei Klaus Mann4, zur sprachlichen Verortung von Peter Weiss’ Schreiben5, zu Übersetzungen und Rezensionen von Hermann Brochs Exilromanen6, zu Hans Sahl als Übersetzer7 und zu unterschiedlichen Übersetzungen von Anna Seghers Ausflug der toten Mädchen aus translationswissenschaftlicher Perspektive8. Zwei aktuellere deutsch-französischsprachige Sammelbände, die in der von Germanisten gegründeten Sammlung „Traductions dans l’histoire“ erschienen sind, beschäftigen sich interdisziplinär mit Fragestellungen aus Übersetzungstheorie und -praxis, d. h. aus übersetzungs-, geschichts-, sprach- und literaturwissenschaftlichen Perspektiven. Der erste der beiden hier relevanten Bände ist unter dem Titel Migration, exil et traduction9 (2011) erschienen und nimmt den deutsch- und französischsprachigen Raum vom 18. bis 20. Jahrhundert in den Blick. Rund um das Exil aus NS-Deutschland und die Besetzung Frankreichs sind Aufsätze enthalten u. a. zur lebensweltlichen Rolle von Übersetzungen in Walter Benjamins Leben im Pariser Exil10, zu Heinrich Manns Übersetzungen französischer Autoren vor 1933 und deren Einfluss auf sein eigenes Werk sowie zu seinen ‚versuchten‘ Selbstübersetzungen, die als partiell zweisprachiges Schreiben und als Ausdruck

2Vgl. dazu insbesondere den Beitrag von Alfrun Kliems: Transkulturalität des Exils und Translation im Exil. Versuch einer Zusammenbindung. In: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.): Exilforschung 25 (2007): Übersetzung als transkultureller Prozess. S. 30–49. Siehe zur kulturwissenschaftlichen Dimension von Übersetzungstheorie Abschn. 3.4 in dieser Arbeit. 3Michaela Enderle-Ristori: Kulturelle Übersetzung bei Heinrich Mann. Der ‚Dritte Raum‘ als permanente Herausforderung. In: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.): Exilforschung 25 (2007): Übersetzung als transkultureller Prozess. S. 71–89. 4Utsch, S.: Übersetzungsmodi (s. Kap. 1, Anm. 8). 5Packalén, S.: Zur Verortung von Peter Weiss’ Schreiben (s. Kap. 1, Anm. 23). 6Michael Winkler: Hermann Brochs Exilromane. Übersetzungen und Rezeptionen in Amerika. In: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.): Exilforschung 25 (2007): Übersetzung als transkultureller Prozess. S. 189–207. 7Wulf Köpke: Hans Sahl als Übersetzer. In: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.): Exilforschung 25 (2007): Übersetzung als transkultureller Prozess. S. 208–226. 8Hélène Roussel und Klaus Schulte: Exil, Textverfahren und Übersetzungsstrategie. Der Ausflug der toten Mädchen von Anna Seghers im Prisma verschiedener Übertragungen, vornehmlich ins Französische. In: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.): Exilforschung 25 (2007): Übersetzung als transkultureller Prozess. S. 90–111. 9Bernard Banoun, Michaela Enderle-Ristori und Sylvie Le Moël (Hg.): Migration, exil et traduction. Espace francophone et germanophone XVIIIe–XXe siècles. Paris 2011. 10Christine Schmider: L’exil parisien de Walter Benjamin: traduire pour exister. In: Bernard Banoun, Michaela Enderle-Ristori und Sylvie Le Moël (Hg.): Migration, exil et traduction. Espace francophone et germanophone XVIIIe–XXe siècles. Paris 2011. S. 165–182.

2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

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kultureller Hybridität gelesen werden.11 Ein weiterer Beitrag argumentiert, das Exil deutscher Schriftsteller*innen von 1933 bis 1945 in Frankreich und deren Übersetzungen habe den deutsch-französischen Kulturtransfer auch nach 1945 wesentlich beeinflusst.12 Während in diesem Sammelband darüber hinaus Konstellationen seit der Aufklärung bis hin zu Gegenwartstexten untersucht werden, grenzt der im darauffolgenden Jahr erschienene Band seinen Forschungsgegenstand sowohl thematisch als auch zeitlich und räumlich stark ein. Denn Traduire l’exil. Das Exil übersetzen13 konzentriert sich ausschließlich auf den Zeitraum 1933 bis 1945 im deutsch-französischen Raum. Vorwiegend werden die linguistische, textliche und politische Dimension von Übersetzung und Exil erforscht. Es gibt Untersuchungen u. a. zu Fragen kultureller Identität im Zusammenhang mit Übersetzungen bei Alfred Kerr und Carl Einstein14, zu Feuchtwangers Verhältnis zu Frankreich und zur französischen Sprache15 und zu Übersetzertätigkeiten von französischen ­Germanist*innen, mit der Frage, inwiefern Textauswahl und Vermittlung deutscher Exilliteratur politisch motiviert war.16 Eine von mir redaktionell betreute Ausgabe des exilograph17 mit dem Titel Überleben in der Übersetzung oder ‚lost in translation‘?18 ist im Sommer 2014

11Michaela

Enderle-Ristori: Traduction et interculturalité: convergences chez Heinrich Mann de 1900 à l’exil. In: Bernard Banoun, Michaela Enderle-Ristori und Sylvie Le Moël (Hg.): Migration, exil et traduction. Espace francophone et germanophone XVIIIe–XXe siècles. Paris 2011. S. 143–164. Im Gegensatz zu ihrem Beitrag im Jahrbuch für Exilforschung 25 (s. Anm. 3) untersucht Enderle-Ristori hier den Kulturtransfer bei Heinrich Mann in einem früheren Zeitraum, d. h. statt des deutsch-amerikanischen den deutsch-französischen. 12Danielle Risterucci-Roudnicky: Exil et traduction: du transit au transfert. In: Bernard Banoun, Michaela Enderle-Ristori und Sylvie Le Moël (Hg.): Migration, exil et traduction. Espace francophone et germanophone XVIIIe–XXe siècles. Paris 2011. S. 221–238. 13Michaela Enderle-Ristori (Hg.): Traduire l’exil. Das Exil übersetzen. Textes, identités et histoire dans l’espace franco-allemand (1933–1945). Paris 2012. 14Deborah Viëtor-Engländer: Vier Personen suchen eine Sprache. Der sprachlich-kulturelle Umbruch von Frankreich nach England für Alfred Kerr und seine Familie. In: Michaela Enderle-Ristori (Hg.): Traduire l’exil. Das Exil übersetzen. Textes, identités et histoire dans l’espace franco-allemand (1933–1945). Paris 2012. S. 23–44; Marianne Kröger: Carl Einstein und Frankreich. Über-Setzung als Schlüsselbegriff eines künstlerischen Selbstverständnisses. In: Michaela Enderle-Ristori (Hg.): Traduire l’exil. Das Exil übersetzen. Textes, identités et histoire dans l’espace franco-allemand (1933–1945). Paris 2012. S. 45–65. 15Frédéric Teinturier: Lion Feuchtwanger et le français / les Français: une relation ambiguë, révélatrice d’une conception contradictoire de la langue et de la traduction. In: Michaela Enderle-Ristori (Hg.): Traduire l’exil. Das Exil übersetzen. Textes, identités et histoire dans l’espace franco-allemand (1933–1945). Paris 2012. S. 123–148. 16Sylvie Aprile: Traduit-on pour des idées? Les traducteurs germanistes français des années 1930. In: Michaela Enderle-Ristori (Hg.): Traduire l’exil. Das Exil übersetzen. Textes, identités et histoire dans l’espace franco-allemand (1933–1945). Paris 2012. S. 169–188. 17Die Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur in Hamburg gibt den halbjährlich erscheinenden Newsletter exilograph heraus, der wissenschaftliche Kurztexte vorwiegend von Nachwuchswissenschaftler*innen zu je einem spezifischen Thema veröffentlicht. 18Exilograph 22 (2014): Überleben in der Übersetzung oder lost in translation?

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

erschienen. Kürzere Beiträge beleuchten unterschiedliche Aspekte des Übersetzungsthemas im Exil, präsentieren erste Ergebnisse und regen zu weiteren ausführlicheren Untersuchungen an. In der Ausgabe finden sich Texte u. a. zu Stefan Zweig als Übersetzer, zu Georges-Arthur Goldschmidts selbstübersetzter Autobiografie, zu Bertolt Brechts in Amerika inszenierter englischer Fassung seines Leben des Galilei sowie zu Übersetzungskonstellationen in gegenwärtiger Exilliteratur von Emine Sevgi Özdamar oder Irena Brežná. Darüber hinaus hat 2015 eine internationale Tagung zum Thema „Translation in Exile“19 stattgefunden, die verschiedene weltweite und zeitübergreifende Aspekte von Exil und Übersetzung auf den Plan gerufen hat. Die Beiträger*innen kamen überwiegend aus literaturwissenschaftlichen und translationswissenschaftlichen Disziplinen. Einige davon haben sich auch explizit mit der Rolle von exilierten Übersetzer*innen, ihrem Leben, Schaffen und Wirken auseinandergesetzt. Die Situation von aus NS-Deutschland und Österreich vertriebenen Übersetzer*innen, d. h. von denjenigen, die bereits zuvor professionell übersetzt haben, hat bisher nur sehr wenig Beachtung gefunden.20 Exilierte Übersetzer*innen können jedoch durch ihre Arbeit beispielsweise einen weltliterarischen Dialog initiieren oder den bereits vorhandenen erweitern, indem sie durch ihre Übersetzungen auch Konzeptualisierungen alternativer Welten zugänglich machen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund von rassistischen Nationalisierungsbestrebungen und dem Weltkrieg ist das von großer Bedeutung. Die Rolle von Übersetzer*innen im Exil ist die der Vermittler*innen oder Katalysatoren. Es gilt, ihre Spezifik hinsichtlich der Lebens- und Arbeitsbedingungen, der Kontakte zu Autor*innen, der Auswahl von Texten und eventuell damit verbundenen politischen Positionierungen zu erkunden und zu untersuchen. Aber auch die Übersetzungen selbst verdienen Aufmerksamkeit bezüglich ihrer Verfahrensweisen und sprachlichen wie inhaltlichen Transformationen. Die Publikation einiger Tagungsbeiträge erfolgte 2018.21 Betrachtet man diese in den letzten Jahren entstandenen Forschungsarbeiten, entsteht der Eindruck, dass der Fokus auf Übersetzung innerhalb der Exilforschung ein Kind dieses Jahrtausends bzw. der letzten zehn Jahre ist. Diese Beobachtung ist insofern richtig, als dass seitdem ein umfangreicheres Interesse an dieser Thematik zunehmend sichtbar wird – eine Entwicklung, die vermutlich auch vor dem Hintergrund zu sehen ist, dass wir in einer immer stärker globalisierten und ­vernetzten

19Die

Veranstaltung fand vom 9.–11.12.2015 in Brüssel statt und wurde von Philippe Humblé, Guillermo Sanz Gallego, Desriree Schyns und Arvi Sepp als Kooperation der Vrije Universiteit Brussel, Ghent University und University of Antwerp organisiert. 20Vgl. für eine erste Bestandsaufnahme Andreas F. Kelletat: Übersetzer im Exil (1933–1945). Erkundungen auf einem unbestellten Forschungsfeld. In: Moderne Sprachen 59/2 (2015). S. 25–147. 21Phillipe Humblé, Guillermo Sanz Gallego, Désirée Schyns und Arvi Sepp: Translation in Exile. Special Issue: Cadernos de Tradução 38 (2018).

2.1  Berendsohns Exilliteraturforschung über Landes- und Sprachgrenzen hinaus

17

Welt leben und uns mit den damit verbundenen sprachlichen und kulturellen Übersetzungsschwierigkeiten und -möglichkeiten permanent a­ useinandersetzen müssen. Die ausschließliche Betonung dieser aktuellen Forschung würde aber vergessen bzw. weiterhin ausblenden, dass einer der Ersten, der sich überhaupt mit dem literarischen Exil seit 1933 aus NS-­Deutschland forschend beschäftigt hat, die Kategorie der Übersetzung von Anfang an mitgedacht und untersucht hat: Walter A. Berendsohn. Um den Forschungsüberblick zu Exil und Übersetzung auch in seinen Ursprüngen nachzuvollziehen, wird fast ein Jahrhundert zurückgegangen. Eine genaue Betrachtung von Berendsohns Forschung lohnt nicht zuletzt deshalb, weil er durch seine Arbeit einen großen Teil des ­möglichen Spektrums aufzeigt, innerhalb dessen der Komplex von Exil und Übersetzung Analyseansätze bietet.

2.1 Walter A. Berendsohns Exilliteraturforschung über Landes- und Sprachgrenzen hinaus Walter A. Berendsohn (1884–1984) kann als Begründer deutschsprachiger Exilliteraturforschung betrachtet werden und wird sogar wiederholt als ihr „­Nestor“22 oder ihre „Vaterfigur“23 bezeichnet. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, und so ist dies bislang noch nicht angemessen herausgearbeitet worden, dass er zusätzlich einer der Ersten und bis heute einer der Wenigen ist, die den Aspekt der Übersetzung für die Bedeutung und Reichweite der Literatur des Exils aus NS-Deutschland betonen. Die Tatsache, dass Berendsohn selbst Exilant war, ist für den Entstehungshintergrund seiner Forschungstätigkeit und die Bedingungen, unter denen er arbeitete, relevant und bemerkenswert, weil seine Pionierarbeit der Exilforschung im Exil auch als programmatische Gegenbewegung zum Nationalsozialismus gesehen werden kann. Damit ist sie selbst ein Gegenstand für weitere Exilforschung und liefert wichtige Dokumente ihrer wissenschaftshistorischen Anfänge. Über Berendsohns Biografie und seine lebenslang äußerst produktive und umfangreiche (Exil-)Forschungstätigkeit24 gibt es insgesamt noch wenige

22Hermann

Zabel, Jakob Hessing und Helmut Müssener (Hg.): Zweifache Vertreibung. Erinnerungen an Walter A. Berendsohn. Nestor der Exilforschung. Förderer von Nelly Sachs. Essen 2000; Vgl. auch Rainer Nicolaysen: Berendsohn, Walter A. In: Franklin Kopitzsch und Dirk Brietzke (Hg.): Hamburgische Biografie. Personenlexikon. Bd. 3. Göttingen 2006. S. 37–38. 23Gustav Korlén in einem kurzen Dank an Berendsohn, zitiert nach: Helmut Müssener und Gisela Sandqvist (Hg.): Protokoll des 2. Internationalen Symposiums zur Erforschung des deutschsprachigen Exils nach 1933 in Kopenhagen 1972. Stockholm 1972. S. 250. 24Vgl. Walter A. Berendsohn: Verzeichnis seiner 1908–1978 erschienenen Veröffentlichungen anlässlich seines 94. Geburtstages am 10. September 1978. Zusammengestellt von Brita von Garaguly. Stockholm 1978.

18

2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

wissenschaftliche ­Beiträge,25 die hier um eine umfassende Betrachtung seiner Übersetzungsforschung erweitert werden sollen. Berendsohn, außerplanmäßiger Professor für Germanistik und Skandinavistik der Universität Hamburg, wurde 1933 entlassen. Wegen seiner jüdischen Herkunft und seines politischen, d. h. anti-nationalsozialistischen Engagements, etwa als Freimaurer, SPD-Mitglied und Mitglied der Deutschen Liga für Menschenrechte, war er den neuen Machthabern schon länger ein Dorn im Auge. Auf Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ konnten sie ihn schließlich offiziell suspendieren. Berendsohn floh kurz darauf mit seiner Familie zunächst nach Dänemark. Dort begann er „unter den schwierigen Bedingungen des eigenen Exils den ersten Versuch“, Literatur von aus NS-Deutschland geflüchteten Autor*innen „zu sammeln, zu kategorisieren und in Ansätzen auch literaturwissenschaftlich zu beschreiben“26. In Schweden, wo Berendsohn nach erneuter Flucht aus Dänemark ab 1943 lebte,27 setzte er sich zeitlebens weiter für die Sammlung und Erforschung von

25Vgl.

zu seiner Biografie und seinen Beiträgen auf dem Weg zu einer systematischen und institutionalisierten deutschsprachigen Exilforschung die aus einer Magisterarbeit entstandene und 2010 erschienene Biografie von Claudia von Mickwitz: Walter Arthur Berendsohn – Vom Emigranten zum Exilforscher. Germanistisches Wirken unter den spezifischen Bedingungen des schwedischen Exils. Frankfurt a. M. 2010. Sowie den neueren Beitrag von Doerte Bischoff: Die jüdische Emigration und der Beginn einer (trans-)nationalen Exilforschung: Walter A. Berendsohn. In: Rainer Nicolaysen (Hg.): Auch an der Universität – Über den Beginn von Entrechtung und Vertreibung vor 80 Jahren. Reden der Zentralen Gedenkveranstaltung der Universität Hamburg im Rahmen der Reihe „Hamburg erinnert sich 2013“ am 8. April 2013. S. 53–79. Bischoff zeigt unter anderem Verbindungen zwischen Berendsohns Forschungsarbeiten und aktuellen Forschungsperspektiven und -themen der Exilforschung auf. Darüber hinaus liegen zwei Dokumentsammlungen vor: Walter A. Berendsohn 1884. Chronik und Dokumentation. Zusammenstellung von Arie Goral. Hamburg 1984. Privatdruck mit einer Auflage von 500; Zabel, H. u. a. (Hg.): Zweifache Vertreibung (s. Anm. 22). 26Bischoff, D.: Beginn einer (trans-)nationalen Exilforschung (s. Anm. 25). S. 54. 27Nach Schweden gelangt Berendsohn 1943 in letzter Minute durch eine gefährliche Flucht aus Dänemark, eine Überfahrt mit einem Ruderboot über den Öresund (vgl. Walter A. Berendsohn: Flucht von Dänemark nach Schweden [1963]. In: Egon Schwarz und Matthias Wegner (Hg.): Verbannung. Aufzeichnungen deutscher Schriftsteller im Exil. Hamburg 1964. S. 100–105). Berendsohn beschreibt in diesem kurzen Text die lebensgefährliche Überfahrt über das Wasser von der dänischen Küste zur schwedischen Insel Ven in einem kleinen leckenden Ruderboot: neun Stunden mit vier Personen, von denen nur einer rudern kann, bei hohem Wellengang und starker Strömung, in ständiger Angst von deutschen Patrouillenbooten entdeckt zu werden. Außer den Dingen, die er am Körper tragen und in Jackentaschen stecken kann, hat er nur „in einer Aktenmappe meine wissenschaftliche Arbeit und einige Toilettenartikel und dgl. mit.“ (S. 100) „Ich saß auf meiner Aktenmappe, etwas erhöht, so daß ich als ‚Steuermann‘ den Kurs nach des ‚Kapitäns‘ Anweisung mit Hilfe der Lichter an der schwedischen Küste ausrichten konnte.“ (S. 101) Dieser kurze Text Berendsohns über seine Flucht von Dänemark nach Schweden liest sich vor dem Hintergrund gegenwärtiger Fluchtbewegungen und der Not unzähliger fliehender und vertriebener Menschen nahezu zeitlos. Eindrücklich ist auch seine Beschreibung der Hilfsbereitschaft der Menschen, die sich um die entkräfteten Flüchtlinge gekümmert haben. „Es war tief beglückend, mitten in dieser bösen Zeit des Zweiten Weltkrieges so viel uneigennützige Hilfsbereitschaft und gütige Menschen bei meiner Flucht von Dänemark nach Schweden zu erleben.“ (S. 105).

2.1  Berendsohns Exilliteraturforschung über Landes- und Sprachgrenzen hinaus

19

Exilliteratur ein. Eine von ihm nach 1945 gewünschte Rückkehr wurde durch die Universität Hamburg konsequent abgelehnt.28 Erst 1983, ein Jahr vor seinem Tod, erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Hamburg, nachdem ihm der Doktortitel 1933 entzogen worden war. In Schweden arbeitete Berendsohn als Archivarbeiter und später als Lehrbeauftragter am Germanistischen Institut der Universität Stockholm. Dort engagierte er sich auch als Mitbegründer und Ehrenvorsitzender der 1969 entstehenden „Koordinationsstelle zur Erforschung der deutschsprachigen Exilliteratur“. Ein sehr wichtiger und grundlegender Bestandteil von Berendsohns Forschungsarbeiten im Exil und über Literatur im Exil sind das Auffinden und Zusammentragen von Übersetzungen sowie in der Folge die systematisierende Erstellung von Übersetzungslisten. Unter anderem darauf basiert, wie im Folgenden gezeigt werden soll, eine für ihn typische Argumentationsweise, um den Stellenwert von Exilliteratur für nationen- und sprachenübergreifende Zusammenhänge zu begründen.

2.1.1  Die humanistische Front: „Was der Index translationum verrät!“ Für die Forschung zu Übersetzung und Literatur des Exils seit 1933 ist insbesondere der erste Teil von Berendsohns programmatischer Schrift Die humanistische Front29, den er bis 1939 fertigstellte, maßgeblich. Die Publikation dieser Arbeit sollte sich durch die Besetzung Dänemarks und das Kriegsgeschehen bis 1946 verzögern. Den zweiten Teil der Humanistischen Front30 erarbeitete Berendsohn bis 1949, er blieb jedoch bis 1976 unveröffentlicht. In ihrer Monografie schreibt von Mickwitz: „Die humanistische Front ist in erster Linie eine Sammelleistung; sie will Grundlage weiterer Forschung sein, keine präzise Analyse.“31 Gerade dieser Aspekt des umfangreichen Sammelns und Kategorisierens ist aus heutiger Perspektive besonders erstaunlich, zumal Berendsohn vom Exil aus agieren musste. Dass dieser Arbeit von Kritikern, „durchaus in diskreditierender Absicht“, Ungenauigkeiten nachgewiesen werden konnten, sei nach von Mickwitz angesichts der „Beschränkungen, die das Exil Berendsohn

28Vgl.

Bischoff, D.: Beginn einer (trans-)nationalen Exilforschung (s. Anm. 25). Bischoff, seit 2011 Leiterin der 2001 posthum nach ihm benannten Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutschsprachige Exilliteratur in Hamburg, bezeichnet in ihrem Beitrag das unrühmliche Verhalten der Universität Hamburg Berendsohn gegenüber als „Geschichte der Infamie und Diffamierung, des Schweigens und Vergessens, der unterlassenen Gesten der Reue und der nicht wahrgenommenen Chancen der Wiederbegegnung“ (S. 53). 29Walter A. Berendsohn: Die humanistische Front. Einführung in die deutsche Emigranten-­ Literatur. Erster Teil: Von 1933 bis zum Kriegsausbruch 1939. Zürich 1946. 30Walter A. Berendsohn: Die humanistische Front. Einführung in die deutsche Emigranten-­ Literatur. Zweiter Teil: Vom Kriegsausbruch 1939 bis Ende 1946. Worms 1976. 31Mickwitz, v.C.: Walter Arthur Berendsohn (s. Anm. 25). S. 71.

20

2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

auferlegte“32, unumgänglich gewesen. Sie sei daher nicht mit modernen wissenschaftlichen Standards zu Friedenszeiten zu messen. Außerdem hat Berendsohn um diesen Umstand gewusst, wie sich zeigt, wenn er in einem nachträglichen Vorwort den zweiten Teil der Humanistischen Front als „in manchen Teilen überholt“33 beschreibt und um Ergänzung, Korrektur und Vervollständigung bittet. Dennoch, so kann man mit von Mickwitz festhalten, „besitzt das Werk mehr als nur Versuchscharakter und ist nicht nur als übersichtlich verfaßte Basisschrift, sondern auch als zeitgenössische Quelle für die weitere Exilforschung nach wie vor bedeutsam.“34 Berendsohn, der sich wie nicht wenige andere Exilant*innen auch im Exil selbst als Übersetzer betätigt,35 veranschaulicht den Zusammenhang von Übersetzung und Exilliteratur bereits im ersten Teil der Humanistischen Front. In einem Kapitel, das die Überschrift „Die Emigranten-Literatur repräsentiert Deutschland in der Weltliteratur“36 trägt, bezieht er sich dazu unter anderem auf den „Index Translationum“. Dabei handelt es sich um eine 1932 auf Initiative des

32Mickwitz,

v.C.: Walter Arthur Berendsohn (s. Anm. 25). S. 71. A. Berendsohn: Neues Vorwort des Verfassers (September 1973). In: Ders.: Die humanistische Front. Einführung in die deutsche Emigranten-Literatur. Erster Teil: Von 1933 bis zum Kriegsausbruch 1939. Zürich 1946. S. XI. 34Mickwitz, v.C.: Walter Arthur Berendsohn (s. Anm. 25). S. 71. 35Helmut Müssener zufolge hat Berendsohn als eine*r der wenigen Exilant*innen in Schweden aus dem Schwedischen übersetzt, in erster Linie Lyrik von August Strindberg, zu dem Berendsohn ohnehin viel gearbeitet hat (vgl. Helmut Müssener: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933. München 1974. S. 354, 360.) Siehe zum Thema Exilant*innen als Übersetzer*innen u. a. Abschn. 2.3 dieser Arbeit. 36Berendsohn, W.A.: Die humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 153–182. Berendsohn verwendet statt des Begriffs „Exilliteratur“ konsequent die Formulierung „Emigranten-Literatur“ – allerdings, so von Mickwitz, nur bis 1945: „Infolge der terminologischen Ideologiekritik nach Kriegsende definierte er sie als die ‚Deutsche Literatur der Flüchtlinge aus dem Dritten Reich‘ um.“ (Mickwitz, v.C.: Walter Arthur Berendsohn (s. Anm. 25). S. 22). Bischoff erachtet diese begriffliche Positionierung Berendsohns in zweierlei Hinsicht als aufschlussreich: Einerseits lasse das lebenslange Hadern mit dem Begriff „Exilliteratur“ erkennen, dass „[d]ie Grenzen zwischen Exil und Emigration […] für ihn vor allem mit Blick auf die Tatsache, dass der weitaus größte Teil der Flüchtlinge nicht nach Deutschland zurückkehrte, nicht klar zu ziehen“ sind. Andererseits stelle er sich damit auch gegen die zeitliche Begrenzung 1933 bis 1945, wie sie teilweise noch heute zur Definition von Exilliteratur herangezogen wird, zugunsten der „Vorstellung, dass die exilierten, in verschiedenen Ländern zerstreut lebenden Autoren auch nach 1945 weiterhin zu einer deutschen Kultur beitragen können (z. B. indem sie deutsch schreiben)“. (Bischoff, D.: Beginn einer (trans-)nationalen Exilforschung (s. Anm. 25). S. 71–72). Vor dem Hintergrund, dass diese Kriterien einer zeitlich genau begrenzten Epochenabsteckung sowie der Frage, ob die ins Exil Geflohenen zurückkehren oder dort bleiben, ob das Exil eine neue Heimat werden kann oder nicht, in der heutigen Debatte zwar immer noch diskutiert werden, sich aber eine weiter gefasste Definition zugunsten einer Öffnung des Forschungsfeldes in verschiedene Richtungen im Zuge ist, sich durchzusetzen, wird in diesem Kapitel zu Berendsohn weiterhin von Exilliteratur gesprochen. Vgl. dazu auch die Erläuterungen zu dem in dieser Arbeit zugrunde liegenden Exilliteratur-Begriff in Kap. 1. 33Walter

2.1  Berendsohns Exilliteraturforschung über Landes- und Sprachgrenzen hinaus

21

Internationalen Instituts für geistige Zusammenarbeit des Völkerbundes in Paris gegründete bibliografische Sammlung, die übersetzte Bücher in der ganzen Welt verzeichnet. Bis 1979 erschien der Index Translationum, der heute der UNESCO untersteht, als Print-Ausgabe; seitdem ist er als elektronische Übersetzungsdatenbank zugänglich.37 Mithilfe dieses Übersetzungs-Indexes weist Berendsohn nach, dass die Literatur der aus Deutschland exilierten Schriftsteller*innen bereits vor 1939 in erstaunlichem Umfang übersetzt wurde. Genauer gesagt, erstellt er aus den Daten des Index Translationum drei Tabellen. Die erste Tabelle (Abb. 2.1) verzeichnet in den USA und einigen europäischen Ländern insgesamt 688 Übersetzungen „der deutschen Emigranten-Literatur“, welche in den Jahren zwischen 1933 und 1938 erschienen sind. Da sich der Überblick des Index Translationum am Anfang auf nur einige europäische Länder und die USA beschränkte und erst nach und nach erweitert wurde, betont Berendsohn ausdrücklich, keine „absoluten Zahlen“ anführen zu wollen bzw. zu können.38 Im Übrigen soll nicht unerwähnt bleiben, dass eine Benutzung des Index Translationum aus heutiger translationswissenschaftlicher Perspektive kritisch gesehen wird, unter anderem weil er als unvollständig gilt.39 Aufgeschlüsselt nach Autor*innen und Erscheinungsländern bzw. Erscheinungsjahren zeigen die zweite (Abb. 2.2) und dritte Tabelle (Abb. 2.3) die Verteilung der Übersetzungen. Wie man sieht, befinden sich darunter auch einige Autor*innen, die schon vor ihrer Exilierung einen hohen Bekanntheitsgrad erreicht hatten und aus dem Deutschen weltweit und zahlreich in andere Sprachen übersetzt worden waren, so z. B. Stefan Zweig, Thomas Mann und Franz Werfel. Insofern dürfen diese Datenaufstellungen nicht dahin gehend missinterpretiert werden, dass die Übersetzungen erst oder nur durch die Vertreibung der Autor*innen entstanden seien. Inwiefern dieser Hintergrund in einzelnen Fällen oder einzelnen Ländern aber dazu beigetragen hat bzw. ob das historische Weltgeschehen die Gesamtzahl der Übersetzungen von exilierten Autor*innen potenziert haben mag, lässt sich bislang meist nur spekulieren. Einige wenige Untersuchungen widmen sich dieser Thematik, doch viele länder-, sprachen- oder autor*innenspezifische Zusammenhänge könnten noch deutlich besser erforscht werden. Zumal es heutzutage auch wesentlich bessere Recherchemöglichkeiten gibt, indem z. B. weltweit auf digitale Datenbanken zugegriffen werden kann, liegt ein recht großer Forschungsbereich in vielerlei Hinsicht noch überwiegend brach.

37Index

translationum. International bibliography of translations. UNESCO. Unter: http://www. unesco.org/xtrans/ (12.04.2019). 38Vgl. Berendsohn, W. A.: Die humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 155. 39Vgl. Werner Heidermann: Retten, was der Rettung hoffentlich gar nicht bedarf! Der Index Translationum der UNESCO. In: Gert Wotjak (Hg.): Quo vadis Translatologie? Ein halbes Jahrhundert universitäre Ausbildung von Dolmetschern und Übersetzern in Leipzig. Berlin 2013. S. 133–142, hier: S. 138–140.

22

2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

Abb. 2.1  Berendsohn, W. A.: Humanistische Front (s. Anm. 29). Erster Teil. S. 156

Eine Analyse oder Interpretation der tabellarisch aufgeführten Daten dahin gehend, was die einzelnen Anhäufungen von Übersetzungen der Autor*innen, in den jeweiligen Ländern oder Jahren aussagen könnten, findet man allerdings auch bei Berendsohn nicht. Ihm geht es zunächst einmal primär darum, anhand der ihm zugänglichen Übersetzungsdaten in der Tendenz einen quantitativen Vergleich zu ziehen, um „das Verhältnis zwischen den Übersetzungen der deutschen Emigranten-Literatur und denen des Dritten Reichs anschaulich zu machen.“40 Er weist anhand der zusammengestellten Übersetzungsdaten nach, dass Texte von in Deutschland verbliebenen Autor*innen im Verhältnis deutlich weniger übersetzt wurden und kein*e im engeren Sinne nationalsozialistische*r Schriftsteller*in im besagten Zeitraum einen Erfolg im Ausland erreichen konnte. Ja, man kann es getrost aussprechen: die nationalsozialistische Literatur ist eine innerdeutsche Angelegenheit geblieben […]. Sie ist vom Standpunkt der Weltliteratur eine provinzielle Erscheinung, mit deren ‚Ideen‘, dem nazistischen Denkdialekt, man nichts anzufangen weiß, und deren deutsche aufgebauschte, verquollene Sprache schlechthin unübersetzbar ist.41

40Berendsohn,

W. A.: Die humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 155.

41Berendsohn,

W. A.: Die humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 159.

2.1  Berendsohns Exilliteraturforschung über Landes- und Sprachgrenzen hinaus

23

Abb. 2.2  Berendsohn, W.A.: Humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 157

Hingegen sei es gerade die deutschsprachige „Emigranten-Literatur“, so Berendsohns zentrale These, die Deutschland in der „Weltliteratur“42 repräsentiere. „Um diese fundamentale These Berendsohns, die Überlegenheit des freien ­ Wortes gegenüber der gleichgeschalteten, nationalsozialistischen Literatur, rankt sich der ganz Band.“43 Für seine diese These stützende Argumentation spielt die Auseinandersetzung mit der Übersetzungsthematik eine tragende Rolle. In der Humanistischen Front werden zahlreiche weitere Informationen über die Übersetzungslage deutschsprachiger Literatur im Ausland angeführt, die überwiegend eben jenen Kontrast zwischen der Literatur exilierter Schriftsteller*innen gegenüber den in Deutschland verbliebenen stützen. Berendsohn beruft sich dafür u. a. auf die innerhalb NS-Deutschlands von Regierungsseite sowie von kulturellen Institutionen und in den Medien geführten Debatten um Übersetzung und die Verbreitung ‚deutscher‘ Literatur im Ausland. So habe beispielsweise die Deutsche Akademie in München 1938 eine „Bilanz

42Berendsohn,

W. A.: Die humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 153. Zum Begriff „Weltliteratur“ bei Berendsohn siehe Abschn. 2.1.4 und 3.1.2.3. 43Mickwitz, v.C.: Walter Arthur Berendsohn (s. Anm. 25). S. 72.

24

2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

Abb. 2.3  Berendsohn, W.A.: Humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 158

der Übersetzungen deutscher Bücher“ veröffentlicht, auf deren Grundlage in der Presse Folgendes geschlussfolgert worden sei: In England und Skandinavien ist das deutsche Buch fast nur durch Emigranten vertreten, das nationalsozialistische Schrifttum fast garnicht, für Amerika gilt das gleiche. In Holland wird das Schaffen des neuen Deutschlands kaum berücksichtigt, aber die politischen Gegner kommen zu Worte. Frankreich zeigt ein ebenso unerfreuliches Bild. In Polen und den baltischen Staaten haben die Emigranten-Bücher kaum Boden verloren. Prag ist eine der „übelsten“ Emigranten-Zentralen. Meine Tabellen liefern ein Bild zu diesen Klagen.44

Daran anschließend zitiert Berendsohn eine Stellungnahme des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels anlässlich der Tagung des Internationalen VerlegerKongresses 1938, in welcher dieser beklagte: Allzulange galt im Ausland ein Schrifttum als das eigentlich deutsche, das mit dem wirklichen Deutschland, wie Sie, meine Herren, es um sich sehen, wahrhaftig nichts zu tun hatte. Wir haben es immer wieder erlebt, daß Menschen, die unser Vaterland besuchten, […] ein ganz anderes Deutschland vorfanden, als sie es, durch eine uns abträgliche Literatur beeinflußt, erwartet hatten.45

44Berendsohn, 45Zitiert

W.A.: Die humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 160–161. nach Berendsohn, W. A.: Die humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 161.

2.1  Berendsohns Exilliteraturforschung über Landes- und Sprachgrenzen hinaus

25

Berendsohn zufolge spüre man in dieser Aussage nach fünf Jahren NS-Diktatur eine Ohnmacht aufseiten des NS-Propagandaministers „gegenüber dem Einfluß der Emigranten-Presse und -Literatur, die unermüdlich die Wahrheit über die ­Verhältnisse unter der Gewaltherrschaft im Dritten Reich verkündet, trotz seiner Versuche, sie niederzukämpfen.“46 In symptomatischer Weise sei festzustellen, so vermittelt Berendsohn auch seinen persönlichen alltäglichen Eindruck im skandinavischen Exil, dass im Ausland häufig unreflektiert oder unbekannterweise gerade diejenige Literatur als die ‚deutsche‘ gelte, deren Autor*innen aus dem Staat und Sprachraum vertrieben worden waren. „‚Aber die deutsche Literatur liefert doch immer noch sehr gute Bücher‘, konnte man in den letzten Jahren vor dem Kriegsausbruch überall in Europa von ahnungslosen Menschen hören, und dann nannten sie lauter Namen der Emigration.“47 Ein großer Verlag in Skandinavien, so führt er darüber hinaus beispielhaft an, werbe in einer Anzeige für „je ein repräsentatives übersetztes Werk aus sieben Ländern, für Deutschland das Erich Maria Remarques ‚Drei Kameraden‘, eines im Dritten Reich bekämpften Emigranten.“48 Des Weiteren hat Berendsohn in der Humanistischen Front eine umfangreiche Liste über „Deutsche Emigrantenbücher nur in fremden Sprachen“49 angelegt – ein nicht untypisches Phänomen des Exils: Aufgrund von Publikationsschwierigkeiten deutschsprachiger Exilschriftsteller*innen, die ihre Texte in der Regel nicht mehr im deutschsprachigen Sprachraum veröffentlichen konnten und zugleich kaum einen Absatzmarkt für deutschsprachige Texte im Ausland vorfanden, wurden sehr viele Exiltexte aus dem Manuskript übersetzt und sind zuerst in einer anderen Sprache erschienen. Die meisten konnten erst deutlich später oder zum Teil auch gar nicht auf Deutsch publiziert werden. Nicht selten ergaben sich daraus Schwierigkeiten, wenn ein Text zu späterer Zeit doch noch auf Deutsch auf den Markt kommen sollte. Ein Beispiel für einen solchen Fall, der nicht in Berendsohns Liste auftaucht, weil er sich später ereignete, ist Arnold Zweigs Das Beil von Wandsbek. Der auf Deutsch verfasste Text wurde 1943 aus dem Manuskript direkt ins Hebräische übersetzt und publiziert.50 Wie man einer Danksagung Zweigs in der erst vier Jahre später erschienenen deutschsprachigen Ausgabe entnehmen kann, verlief deren Erstellung keineswegs reibungslos. Aufgrund von Hindernissen der Kriegszeit und Gesundheitsproblemen war Zweig nicht mehr in der Lage, eine lesbare Abschrift des deutschen Textes anzufertigen. Es gelang daraufhin nur mithilfe der befreundeten Schriftsteller Robert Neumann, Lion Feuchtwanger und Bertolt

46Berendsohn,

W. A.: Die humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 161. W. A.: Die humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 161. 48Berendsohn, W. A.: Die humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 161. 49Berendsohn, W. A.: Die humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 162–165. 47Berendsohn,

50Vgl.

Na’ama Sheffi: Vom Deutschen ins Hebräische. Übersetzungen aus dem Deutschen im jüdischen Palästina 1882–1948. Göttingen 2011. S. 157.

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

Brecht „ein gutes, zur Übersetzung taugendes Manuskript“51 für die vier Jahre später publizierte deutschsprachige Fassung zu erstellen. Auch die Umstände von Anna Seghers Roman Transit, der aus demselben Grund bei Berendsohn noch nicht auftauchen kann, waren durchaus nicht einzigartig: Der Text erschien erstmalig 1944 in englischsprachiger Übersetzung, anschließend auf Spanisch und Französisch. Das deutschsprachige Original-Typoskript ging in der Zwischenzeit verloren, sodass für die Edition einer kritischen Werkausgabe die vorausgegangen Übersetzungen zu Rate gezogen und stellenweise ins Deutsche rückübersetzt werden mussten.52 Die Liste „Deutscher Emigrantenbücher nur in fremden Sprachen“, die Berendsohn zusammengestellt hat, ist nicht nur unvollständig, weil sie lediglich Publikationen bis 1939 beinhaltet. Er schreibt dazu: „Ich habe bisher keine Methode gefunden, um diese Erscheinungen in den übrigen Ländern sämtlich zu erfassen und stelle hier nur einige zusammen, überzeugt, daß es bei weitem mehr sind.“53 Aber die Tatsache, dass er eine solche Liste mit immerhin über 80 Eintragungen beginnt, ist unbedingt bemerkenswert. Dieses Erscheinen exilliterarischer Texte in ausschließlich fremdsprachigen Versionen sei eine „Folge der Emigration“, heißt es an späterer Stelle, „die dazu führte, daß sich die Ausgewanderten an ihre neue Umwelt assimilierten, so wie dies immer wieder geschehen ist.“54 Dass Berendsohn gerade an dieser Stelle den Bogen zu der Frage schlägt, ob Exilschriftsteller*innen weiterhin als Bewahrer*innen und Repräsentant*innen deutscher Sprache und Kultur auf Deutsch schreiben oder die Sprache wechseln sollten, verkennt gewissermaßen die Umstände, da es sich in vielen Fällen der (zunächst) nur in Übersetzungen erschienenen Exiltexte zumindest auch um publikationsbedingte und ökonomische Ursachen gehandelt haben dürfte und keineswegs nur um ausdrückliche Entscheidungen von mehr oder weniger im Ausland assimilierten Schriftsteller*innen. Nimmt man zum Beispiel Robert Neumanns By the Waters of Babylon (1939), das auch in Berendsohns Liste auftaucht, so zeigt sich, dass Neumann zwar zu den Exilautor*innen gehört, die sowohl auf Deutsch als auch auf Englisch schrieben, der Text für diese Publikation allerdings von Anthony Dent aus dem Deutschen übersetzt wurde, nicht von Neumann selbst. Die erste deutschsprachige Ausgabe An den Wassern von Babylon erschien 1945 in England, erst 1954 in Deutschland, also nach Kriegsende bzw. nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland.

51Arnold

Zweig: Danksagung. Datiert im April 1947 in Haifa. In: Ders.: Das Beil von Wandsbek. Stockholm 1947. (Ohne Seitenzahl). 52Vgl. Sylvia Schlenstedt: Kommentar zur kritischen Werksausgabe des Aufbau-Verlags. In: Anna Seghers: Transit. Berlin 2001. S. 311–364, hier: S. 341. 53Berendsohn, W. A.: Die humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 162. 54Berendsohn, W. A.: Die humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 165.

2.1  Berendsohns Exilliteraturforschung über Landes- und Sprachgrenzen hinaus

27

Berendsohn zitiert in diesem Zusammenhang eine lange Passage aus Oskar Maria Grafs Rede, die dieser 1939 beim Schutzverband deutscher Schriftsteller in New York gehalten hat und in welcher er ein beherztes Plädoyer für den Erhalt der deutschen Sprache im Sinne eines ‚anderen‘, besseren Deutschlands hält und sich gegen einen Sprachwechsel ausspricht. Berendsohn, der seine eigene Position in dieser Frage nirgends eindeutig expliziert, fügt Grafs Worten lediglich hinzu: „Vom Standpunkt der deutschen Kultur möchte man wünschen, daß die besten dieser Werke, die in fremden Sprachen gedruckt sind, auch noch eine deutsche Ausgabe finden.“55 Die Argumentation in der Humanistischen Front, die „Emigranten-Literatur“ repräsentiere Deutschland in der Weltliteratur, nicht zuletzt weil sie international so zahlreich übersetzt wurde, verweist einerseits auf eine zeitgenössische Tendenz der aus Deutschland exilierten Schriftsteller*innen, sich als einem ‚wahren‘, ‚besseren‘ und vor allem „Anderen Deutschland“ zugehörig zu positionieren.56 Die ‚Bewahrung‘ und ‚Erhaltung‘ der deutschen Muttersprache als Schreibsprache auch im fremdsprachigen Exil ist eine der wesentlichen Forderungen dieser kulturpolitischen Haltung. Die Vorstellung einer nationalen Kultur und Literatur wird aufrecht erhalten, jedoch in absoluter Opposition zu dem unter nationalsozialistischer Macht proklamierten Verständnis von ‚deutscher‘ Kultur sowie der sogenannten „Sprache der Täter“, also dem NS-geprägten Sprachgebrauch.57

55Berendsohn,

W.A.: Die humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 167. dazu vor allem das ausführliche Kapitel „Das ‚Andere Deutschland‘ – Illusion oder Wirklichkeit“ im zweiten Teil von Berendsohns: Die humanistische Front. Zweiter Teil (s. Anm. 30). S. 6–32. „Eine künftige Geschichte der deutschen Emigrantenliteratur – für die diese Einführung Vorarbeit ist – hat nur Sinn und sie kann nur dann Bedeutung gewinnen, wenn es ein Anderes Deutschland gibt, das während des Dritten Reichs unterdrückt und fast verstummt war, das aber weiterlebt, allmählich wiederersteht, und sich das, was die deutschen Emigranten an dauerhaftem Literaturgut geschaffen haben, als wertvollen Bestandteil seiner Kulturüberlieferung einfügt.“ (S. 6). Berendsohn kommt zu dem Schluss: „Der Glaube an die Existenz eines, wenn auch politisch noch machtlosen Anderen Deutschland ist die wesentliche Voraussetzung der gesamten deutschen Emigranten-Literatur gewesen. Der literarische Kampf für die ganze Idee der Humanität (einschließlich der politischen Freiheit), die das Herzstück des Anderen Deutschland ist, war von 1933–1945 hauptsächlich den landesflüchtigen deutschen Schriftstellern anvertraut. Sie haben ihn bewußt geführt. Das rechtfertigt den Titel meiner Einführung ‚Die humanistische Front‘“ (S. 32). 56Vgl.

57Vgl.

Thomas Koebner: Unbehauste. Zur deutschen Literatur in der Weimarer Republik, im Exil und in der Nachkriegszeit. München 1992. Darin insbesondere das Kapitel „Das ‚andere Deutschland‘. Zur Nationalcharakteristik im Exil“. S. 197–219; Carsten Jakobi: Das „andere Deutschland“ – alternativer Patriotismus in der deutschen Exilliteratur und im Nationaldiskurs des 18. Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Exterritorialität. Landlosigkeit in der deutschsprachigen Literatur. München 2006. S. 155–178.

28

2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

Andererseits, oder besser gesagt: zugleich, verlässt Berendsohns Blick, gerade indem er sich mit dem Phänomen Übersetzung beschäftigt, immer wieder auch deutlich eine solche auf nationale Besonderheiten und Trennung gerichtete Sichtweise und fokussiert somit übernationale, sprachübergreifende Zusammenhänge, Berührungspunkte und Überschneidungen zwischen Nationalkulturen und -literaturen. Dafür spielt, wie sich im Weiteren zeigen wird, der wiederholt von ihm verwendete Begriff Weltliteratur und seine Vorstellung davon eine entscheidende Rolle.

2.1.2 Nelly Sachs als Übersetzerin schwedischer Lyrik Berendsohn gilt als wichtiger Förderer und Vermittler der Dichterin Nelly Sachs, die seit 1940 ebenfalls im schwedischen Exil lebte und deren großes Potenzial er erkannte. Einmal schrieb er, sie sei die „größte Dichterin jüdischen Schicksals in deutscher Sprache“58. Berendsohn stand mit Sachs in ständigem Austausch und begleitete zum Teil sogar ihren lyrischen Schaffensprozess. Seit Ende der 1940er Jahre verfasste er zahlreiche Aufsätze und Artikel, auch um ihr Bekanntwerden voranzutreiben. So machte er im Falle von Sachs zum ersten und einzigen Mal von seinem Vorschlagsrecht bei der Schwedischen Akademie Gebrauch und empfahl sie wiederholt und vehement für den Literaturnobelpreis. 1966 sollte sie ihn schließlich auch erhalten.59 „Schwedische Lyriker sind die ersten gewesen, die einzelne Gedichte in ihre Sprache übertragen haben, heute sind ihre Dichtungen in 19 Sprachen übersetzt“60, schreibt Berendsohn in seiner Monografie Nelly Sachs. Einführung in das Werk der Dichterin jüdischen Schicksals. Während er sich in der Humanistischen Front vorwiegend mit der Übersetzung von Exilliteratur beschäftigt, nimmt er in seinem Buch über Sachs vorwiegend deren eigene Übersetzertätigkeit in den Blick. Im Kapitel „Dank an das gastliche Schweden“61 führt er an, wie umfangreich die exilierte Schriftstellerin schwedische Lyrik ins Deutsche übertragen hat: „Als Nelly Sachs sich mit der schwedischen Sprache vertraut gemacht hatte, begann sie schwedische Lyrik in ihre Muttersprache zu übersetzen, mit Unterstützung durch Stipendien der Schwedischen Akademie.“62 1947 erscheint im Berliner Aufbau-Verlag eine Anthologie63 mit 117 Gedichten, die Sachs

58Walter A. Berendsohn: Brief an Hans Bie. In: Zabel, H. u. a. (Hg.): Zweifache Vertreibung (s. Anm. 22). S. 154. 59Vgl. Mickwitz, v.C.: Walter Arthur Berendsohn (s. Anm. 25). S. 101–105. 60Walter A. Berendsohn: Nelly Sachs. Einführung in das Werk der Dichterin jüdischen Schicksals. Mit unveröffentlichten Briefen aus den Jahren 1946–1958. Darmstadt 1974. S. 112. 61Berendsohn, W.A.: Nelly Sachs (s. Anm. 60). S. 106–113. 62Berendsohn, 63Von

W. A.: Nelly Sachs (s. Anm. 60). S. 106.

Welle und Granit, ein Querschnitt durch die schwedische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Aus dem Schwed. übertr. und zusammengest. v. Nelly Sachs. Berlin 1947.

2.1  Berendsohns Exilliteraturforschung über Landes- und Sprachgrenzen hinaus

29

zusammengestellt und aus dem Schwedischen übersetzt hat. 1957 erscheint eine weitere64 im Georg Büchner Verlag mit 47 Gedichten von 16 schwedischen Dichter*innen. Es folgen im Laufe der Zeit Sonderausgaben von vier schwedischen Lyrikern in der Bundesrepublik Deutschland.65 In seinem Kapitel über Sachs’ Übersetzungen schwedischer Lyrik zitiert Berendsohn ganze Passagen aus Peritexten dieser Anthologien und Sonderausgaben, in denen die Übersetzerin zum einen ihre Arbeit und das Arrangement der Gedichte reflektiert. Zum anderen verweist sie bei dieser Gelegenheit auf übergreifende Tendenzen, Strömungen und Merkmale zeitgenössischer schwedischer Lyrik, die nicht selten mit Entwicklungen in anderen Ländern, Sprachen oder Weltregionen kontrastiert werden: Die schwedische Dichtung erscheint mehr als Gedanken- und weniger als Gefühlslyrik […]. Wenn man sagen könnte, daß die Metapher bei den südlichen Völkern, insbesondere bei den Orientalen, blüht, so kann man sie hier im Norden als leuchtend bezeichnen. Transparent wie der Raum, der sie umgibt, steigt der Gedanke in sein Gleichnis gehüllt empor. Nur wer die weißen Sommernächte oder die Dunkelheiten eines schwedischen Winters erlebt hat, wo die Gestirne gleich riesigen Früchten herabstrahlen, versteht in dieser Dichtung jenes Geheimnisvolle, das alle Grenzen unsichtbar macht.66

Zwar lässt Berendsohn die längeren Direktzitate Sachs’ relativ unkommentiert stehen und gibt an, er habe vor allem „diese ihre Prosastücke meiner Darstellung eingefügt, um zu zeigen, wie ihre bildschaffende und assoziative Sprachphantasie auch in diesen sachlichen Darstellungen bereichernd durchbricht und die schöpferische Dichterin verrät.“67 Jedoch wird in den von Berendsohn arrangierten Ausschnitten aus Vor- und Nachworten von Sachs eine besondere Perspektive ersichtlich, die sie als Dichterin und als Übersetzerin auf ihr Exilland Schweden sowie dessen Sprache und Literatur hat. „Die Übertragungen, welche mich während meiner Landesflucht beschäftigten, wuchsen mir aus einer Dankesschuld gegenüber dem rettenden Eiland Schweden zu einer Herzensangelegenheit“68. Berendsohn zitiert mehrere Textstellen, an denen sich Sachs mit Landes- und Sprachgrenzen auseinandersetzt. „Das schwedische Gedicht blüht in einer Sprache, deren Bezirk die Grenzen seines Landes sind“69, schreibt Sachs. Mit ihren

64Aber

auch die Sonne ist heimatlos. Schwedische Lyrik der Gegenwart. Übers. u. ausgew. v. Nelly Sachs. Darmstadt 1956. 65Vgl. Berendsohn, W. A.: Nelly Sachs (s. Anm. 60). S. 110–111. 66Nelly Sachs: Vorwort. In: Von Welle und Granit, ein Querschnitt durch die schwedische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Aus dem Schwed. übertr. und zusammengest. v. Nelly Sachs. Berlin 1947. S. 7–8, hier: S. 8. 67Berendsohn, W. A.: Nelly Sachs (s. Anm. 60). S. 112. 68Sachs, N.: Vorwort (s. Anm. 66). S. 7. 69Nelly

Sachs: Nachwort. In: Aber auch die Sonne ist heimatlos. Schwedische Lyrik der Gegenwart. Übers. u. ausgew. v. Nelly Sachs. Darmstadt 1956. S. 62–63, hier: S. 62.

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

Übersetzungen wolle sie dazu beitragen, „die fast gänzliche Abwesenheit der schwedischen Lyrik in der Weltliteratur“70 durch Sichtbarkeit zu ersetzen und damit neben den Landesgrenzen auch die Grenzen der Sprache zu überwinden. Im Nachwort einer von ihr übersetzten Sonderausgabe mit Gedichten von Johannes Eldfeldt lobt sie Berendsohn zufolge nicht nur dessen „kongenialen Übersetzungen deutscher Dichtung“71, sondern beschreibt seine Dichtung als Träger „nordischer Ursubstanz“ und gleichzeitiger „Weite und Wahrhaftigkeit […], verbunden mit einer blitzartigen Durchleuchtung der Metapher, einer auf letzter Landzunge des Lebens ausgekosteten Erfahrung, daß alle ausmessenden Landesgrenzen darin verschwunden sind.“72 Im Falle von Sachs liefert Berendsohn ansatzweise Erkenntnisse zu der Frage, inwiefern Exilant*innen auch als Übersetzer*innen in Erscheinung getreten sind bzw. inwiefern sie, wie in vielen Fällen, inklusive ihrer Leistung völlig unerkannt geblieben sind. Sein Ansatz, dass das Übersetzen im Exil nicht selten auch einem kulturvermittelnden Akt gleichkommt und der*die Übersetzer*in durch die Arbeit sprachliche, literarische, kulturelle Tendenzen überblicken sowie Übertragungsmöglichkeiten reflektieren kann, ist vielversprechend. Insbesondere für die Auseinandersetzung mit Domin soll er auch in dieser Arbeit eine tragende Rolle spielen.73

2.1.3 Heinrich Heine: „über die Grenzen der Muttersprache hinaus in die Weltliteratur“ Das Exilforschungsfeld Berendsohns bleibt nicht auf das Exil seit 1933 aus NS-Deutschland beschränkt. Er beschäftigt sich unter anderem intensiv mit Heinrich Heine. 1935, nur zwei Jahre nach seiner eigenen Flucht ins dänische Exil, publiziert er im dänischen Schønbergske-Verlag die deutschsprachige Monografie Der lebendige Heine im germanischen Norden74 über die Heine-Rezeption in den skandinavischen Ländern. Die Beobachtung reger Heine-Übersetzung in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg habe ihn primär zu der Studie bewegt: „Überraschend war mir vor allem die Lebendigkeit seines Werks in der Nachkriegszeit, wie sie

70Sachs,

N.: Vorwort (s. Anm. 66). S. 8. W. A.: Nelly Sachs (s. Anm. 60). S. 110. 72Nelly Sachs: Nachwort. In: Johannes Eldfeldt: Der Schattenfischer. Aus d. Schwed. übertr. und hg. v. Nelly Sachs. Düsseldorf 1958. S. 33–35, hier: S. 34. 73Vgl. zu diesem Aspekt auch Abschn. 2.3, in dem es um Rudolf Frank geht. 74Walter A. Berendsohn: Der lebendige Heine im germanischen Norden. Kopenhagen 1935. 71Berendsohn,

2.1  Berendsohns Exilliteraturforschung über Landes- und Sprachgrenzen hinaus

31

sich in zahlreichen Übersetzungen offenbart; sie haben mich vor Jahren zu meinen Sammlungen und Studien veranlasst.“75 Diese Rezeptionsstudie zu Heine funktioniert wesentlich über die Auflistung und Beschreibung von Heine-­Übersetzungen. Berendsohn verfolgt, wer wann welche Gedichte von Heine übersetzt hat und zieht daraus Rückschlüsse über ihre Verbreitung und Wirkung. Im Anhang der Studie befindet sich eine „Liste von verstreuten Heine-Übertragungen“76, die Berendsohn von einem Bibliothekar aus Aarhus erhalten hat sowie von ihm selbst erstellte Listen über „Dänische Heine-Kompositionen“ und „Norwegische HeineKompositionen“77. Ähnlich wie in der späteren Humanistischen Front (siehe Abschn. 2.1.1) ist bereits hier zu erkennen, dass Übersetzungsforschung für Berendsohn mehr als nur ein Randthema oder ein einzelner Anhaltspunkt innerhalb seiner Argumentation ist. Vielmehr versteht er sie als eine systematische Herangehensweise, um die internationale Rezeption und Wertschätzung deutschsprachiger Literatur nachzuverfolgen und zu messen. Allerdings, so hält er fest, müsse man bei der Interpretation der Ergebnisse seiner Übersetzungsforschung Folgendes beachten: Die zahlreichen Übersetzungen, die ich als hauptsächlichen Maasstab [sic!] genommen habe, sind ja nur die allergreifbarsten Zeugnisse. Wo man ihn liebt, liest man ihn ja fast immer deutsch und hält die meisten Nachdichtungen für unzulänglich. Sie sind vor allem als Zeichen der starken Verwandtschaft und Zuneigung ihrer Verfasser zu Heine aufzufassen.78

Berendsohn weist in diesem Zusammenhang speziell auf die hohe Verbreitung der deutschen Sprache in den skandinavischen Ländern hin, u. a. durch Schulunterricht, und folgert, „dass sich der allergrößte Teil der hier erörterten Beziehungen [zu Heine] in jener Oberschicht abspielt, die deutsche Literatur ohne Schwierigkeit lesen kann.“79 Jedoch, so Berendsohn weiter, habe Heine „selbstverständlich […] nicht so allgemein volkstümlich werden können wie die einheimischen Lyriker. Auch die Übersetzungen ändern daran nicht sehr viel.“80 Darüber hinaus benennt Berendsohn ein Forschungsdesiderat, das darin bestünde, die einzelnen Übersetzungen zu analysieren:

75Berendsohn, W. A.: Heine im germanischen Norden (s. Anm. 74). S. 22. Seit 1928 hat Berendsohn Material zum Thema „Heine in Skandinavien“ gesammelt (vgl. S. 122). 76Berendsohn, W. A.: Heine im germanischen Norden (s. Anm. 74). S. 149–151. 77Berendsohn, W. A.: Heine im germanischen Norden (s. Anm. 74). S. 152–153. 78Berendsohn, W. A.: Heine im germanischen Norden (s. Anm. 74). S. 125–126. 79Berendsohn, W. A.: Heine im germanischen Norden (s. Anm. 74). S. 124. 80Berendsohn, W. A.: Heine im germanischen Norden (s. Anm. 74). S. 124.

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933 Ferner gilt es, die Übersetzungen genauer zu prüfen und zu vergleichen. Welche Werke von Heine meist ausgewählt werden, das ist leicht zu übersehen: es sind die lyrischen Gedichte, die Reisebilder und die Dichtungen mit politischem Einschlag. Aber eine Untersuchung w i e sie übersetzt werden, verspricht Ergebnisse, die ebenso aufschlussreich sind über die Kunst Heinrich Heines wie über die Eigenart des Übersetzers und der literarischen Kultur, in der sie stehen.81

Wie in diesem Zitat gefordert gibt es über die bereits genannten Arbeiten Berendsohns hinaus einige wenige, die zeigen, dass sich sein wissenschaftliches Interesse über diese, vielleicht kann man sie so bezeichnen, „Makroebene“ von Übersetzung, d. h. in erster Linie Zahlen, Tabellen etc., hinaus auch auf die genaue Beschaffenheit, Entstehung und Wirkung einzelner Übersetzungen richtet. Zwei davon seien hier exemplarisch angeführt: Zum einen liegt ein wissenschaftlicher Aufsatz über Friedrich Hebbels Maria Magdalena und die Übersetzung dieses Dramentextes von Karl Larsen ins Dänische vor.82 Darin weist Berendsohn nach, wie Larsen Hebbels Stück „durch hunderte und aber hunderte winziger Änderungen“ „etwas verdänischt und die dänische Aufführung ermöglicht“83 habe. Über die genaue Betrachtung der Übersetzung nähert er sich schließlich wieder dem deutschsprachigen Ausgangstext, d. h. durch den Vergleich beider Fassungen versucht er, die sprachliche Gestaltung des Originals noch besser zu erfassen: „Beim Vergleich der dänischen mit der deutschen Gestalt des Werkes fällt viel neues Licht auf seinen [Hebbels, Anmerkung: A.B.] Sprachstil.“84 Das zweite Beispiel ist ein schwedischsprachiger Aufsatz über den schwedischen Schriftsteller und Dramatiker August Strindberg85, in dessen Gesammelten Schriften sich ein recht großer Teil an Übersetzungen findet. So wurden einige seiner französischen Arbeiten sowie ein Teil seiner dänischen und deutschen

81Berendsohn,

W. A.: Heine im germanischen Norden (s. Anm. 74). S. 123. A. Berendsohn: Friedrich Hebbels ‚Maria Magdalena‘ und Karl Larsens Dänische Übersetzung. Abriss einer Stilcharakteristik. Sonderdruck aus: Særtrykk Av Edda 34/4 (1948). S. 274–295. Sonderdruck vorhanden: Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur, Hamburg. P. Walter Jacob Archiv. Sammlung Walter A. Berendsohn und Stockholmer Koordinationsstelle. WAB/I/92. 83Berendsohn, W. A.: Friedrich Hebbels ‚Maria Magdalena‘ (s. Anm. 82). S. 293. 84Berendsohn, W. A.: Friedrich Hebbels ‚Maria Magdalena‘ (s. Anm. 82). S. 295. 85Walter A. Berendsohn: Översättningar i Strindbergs Samlade skrifter. Tre berättelser i olika versioner. [Übersetzungen in Strindbergs Gesammelten Schriften. Drei Geschichten in unterschiedlichen Versionen. Übersetzung: A.B.] In: Samfundet Örebro Stadts- och Länsbiblioteks Vänner, meddelande 19 (1951). S. 7–21. Sonderdruck vorhanden: Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur, Hamburg. P. Walter Jacob Archiv. Sammlung Walter A. Berendsohn und Stockholmer Koordinationsstelle. WAB/V/100. August Strindberg (1849–1912), der als Kosmopolit gilt und einmal gesagt haben soll, er müsse erst Europäer werden, bevor er in Schweden etwas bedeute, musste Schweden wegen zu starker Kritik an seinen politisch gewagten Texten verlassen. Daraufhin lebte er in Frankreich und schrieb mehrere Texte auf Französisch (vgl. Deutsch Schwedische Gesellschaft: Über August Strindberg. Unter: http://www.dsg-hd.de/files/ August_Strindberg_Teufelskerl.pdf [12.04.2019]). Berendsohn hat sich wissenschaftlich intensiv mit Strindberg beschäftigt und seine Texte auch übersetzt. 82Walter

2.1  Berendsohns Exilliteraturforschung über Landes- und Sprachgrenzen hinaus

33

Publikationen (zurück) ins Schwedische übersetzt. Um zu illustrieren, was diese Übersetzungen für die sprachliche Gestaltung bedeuten, stellt Berendsohn drei dieser Übersetzungen den schwedischen Original-Manuskripten Strindbergs gegenüber und arbeitet Abweichungen zwischen den Versionen heraus. Diese Analyse ist damit auf der Übersetzungs-„Mikroebene“ angesiedelt, die das Pendant zur zuvor genannten Makroebene bildet. Aber noch einmal zurück zu Heine: Wenngleich es sich bei Berendsohn um eine primär wissenschaftliche Herangehensweise handelt, kann man seine Auseinandersetzung mit Heine im Zusammenhang damit sehen, dass Heine auch für viele Schriftsteller*innen des Exils ab 1933 und darüber hinaus bis in die Gegenwart ein wichtiger Bezugspunkt war. Vielfältige „interexilische“86 Verweise auf Heine in Exiltexten des 20. Jahrhunderts zeugen davon, dass Heine „als Symbol des verfolgten deutschen freiheitlichen Schriftstellers jüdischer Herkunft eine Schlüsselfunktion“ eingenommen hat und eine übergreifende „Identifikations- und Integrationsfigur des Exils“87 war, die von unterschiedlichen Exil-­Gruppierungen in Anspruch genommen wurde.88 „Verwandte Zeiten machen oft halb vergessene Dichtungen wieder überraschend lebendig“89, heißt es in Berendsohns Heine-Monografie. Außerdem weist er darauf hin, dass Heine weder nur als ‚deutscher‘ noch nur als ‚jüdischer‘ Dichter verortet werden könne, sondern in seiner grenzüberschreitenden Identität betrachtet werden müsse: „Heinrich Heine, der Jude, der Deutsche, der Europäer und Weltbürger“90. Berendsohn stellt die Aspekte der Mehrsprachigkeit in Heines Schreiben heraus und macht auf die weltweiten und zeitlos regen Übersetzungen seiner Texte heraus aufmerksam, wenn er ihn als „eine[n] der wenigen Lyriker überhaupt, die über die Grenzen der Muttersprache hinaus in die Weltliteratur hineingewachsen sind“91, darstellt. „Auf welche Weise ist nun Heinrich Heine in die Weltliteratur hineingewachsen? Da wird man zuerst hervorheben müssen, dass er auf Flügeln des Gesanges alle Landes- und Sprachgrenzen überflogen hat.“92 Dass Berendsohn

86Vgl. zum Begriff „Interexil“: Anne Benteler und Sandra Narloch: Interexilische Korrespondenzen. Exilliteratur(en) und Intertextualität. In: exilograph 23 (2015). S. 1–3. Sowie zuerst bei: Alfrun Kliems: Transterritorial – Translingual – Translokal. Das ostmitteleuropäische Literaturexil zwischen nationaler Behauptung und transkultureller Poetik. In: Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein (Hg.): Literatur und Exil. Neue Perspektiven. Berlin 2013. S. 169–182, hier: S. 177. 87Ariane Neuhaus-Koch: „Heine hat alle Stadien der Emigration mit uns geteilt“. Aspekte der Exilrezeption 1933–1945. In: Joseph A. Kruse u. a. (Hg.): Aufklärung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongreß 1997 zum 200. Geburtstag. Stuttgart/Weimar 1997. S. 644–665, hier: S. 650. 88Vgl. Anne Benteler: „Verzeihen Sie. Man vertut sich so leicht in den Jahrhunderten.“ Die besondere Rolle Heinrich Heines für Exilantinnen und Exilanten im 20. Jahrhundert. In: exilograph 23 (2015). S. 6–8. Sowie: Hartmut Steinecke: Heinrich Heine im Dritten Reich und im Exil. Paderborn 2008. S. 9–43. 89Berendsohn, W. A.: Heine im germanischen Norden (s. Anm. 74). S. 20. 90Berendsohn, W. A.: Heine im germanischen Norden (s. Anm. 74). S. 18. 91Berendsohn, W. A.: Heine im germanischen Norden (s. Anm. 74). S. 18. 92Berendsohn, W. A.: Heine im germanischen Norden (s. Anm. 74). S. 125.

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

angesichts der sich zunehmend verschärfenden politischen Situation in Deutschland und nach seiner Flucht ins Exil so intensiv zu Heine arbeitet, lässt sich mit Bischoff auch als Anlass dazu betrachten, „Gestalten und Phänomene der literarischen Tradition zu beschreiben, die sich gerade nicht einer homogenisierenden Idee von Kultur unterordnen lassen“93. Berendsohn hat wesentlich dazu beigetragen, Heine im Sinne einer jüdischen Exiltradition lesbar zu machen, ohne ihn jedoch zionistisch zu vereinnahmen. Vielmehr hat er die exilische, transnationale Qualität seiner Literatur herausgestellt.

2.1.4 Übersetzung, Weltliteratur und die Aktualität von Berendsohns Forschungsperspektiven Die Geschichte der Weltliteratur beginnt eigentlich erst recht, wenn ein Werk die Grenzen des eigenen Landes und dann die der eigenen Sprache überschreitet.94

Die Ausschnitte aus den verschiedenen wissenschaftlichen Arbeiten Berendsohns zeigen, dass seine Argumentation zu Exilliteratur und Übersetzung in zwei Richtungen weist: Er betrachtet das Phänomen der umfangreichen Übersetzungen von Exilliteratur als qualitativen Indikator und betont zugleich den Einfluss, der ­Exilliteratur erst durch ihre literarischen Übersetzungen für einen interkulturellen Austausch in der Welt, über Landes- und Sprachgrenzen hinweg, zukommen kann. Für die Bedeutung von Übersetzung in Berendsohns Forschungsarbeiten und -positionen, das ist an verschiedenen Stellen aufgefallen, ist der Begriff „Weltliteratur“ essenziell. Bischoff macht erstmals darauf aufmerksam, dass der Begriff und ein damit zusammenhängendes Konzept von Weltliteratur, wiederholt und zentral in Berendsohns Arbeiten auftauchen. Eine genauere Betrachtung sei unter anderem lohnenswert, weil das Konzept anstelle von „statisch gedachte[n] Grenzen von Nationalkulturen und ihren Literaturen […] einen dynamischen Kulturtransfer“ in den Mittelpunkt stellt, der „erst durch Übersetzung und ­Verflechtung“95 entstehen kann. Wie Berendsohn den von Johann Wolfgang von Goethe geprägten Begriff der Weltliteratur verwendet, inwiefern er daran anschließt und diesen insbesondere in Bezug auf Übersetzung weiterentwickelt, wird genauer in Abschn. 3.1.2.3 herausgearbeitet. Besonders interessant ist dafür unter anderem ein Text mit dem Titel „Die ungeschriebene Geschichte der Weltliteratur“96. In dem Kapitel gilt es auch,

93Bischoff,

D.: Beginn einer (trans-)nationalen Exilforschung (s. Anm. 25). S. 63. Vgl. zu Berendsohn und Heine bei Bischoff S. 63–68. 94Walter A. Berendsohn: Martin Andersen Nexös Weg in die Weltliteratur. Berlin 1949. S. 19. 95Bischoff, D.: Beginn einer (trans-)nationalen Exilforschung (s. Anm. 25). S. 61. 96Berendsohn, W. A.: Die ungeschriebene Geschichte der Weltliteratur. In: Ders.: Martin Andersen Nexös Weg in die Weltliteratur. Berlin 1949. S. 17–24.

2.1  Berendsohns Exilliteraturforschung über Landes- und Sprachgrenzen hinaus

35

etwaige Verbindungen zu zeitgenössischen Weltliteraturkonzepten zu ziehen, wie beispielsweise dasjenige von Erich Auerbach, ebenso wie die gegenwärtigen Tendenzen der Wiederaufnahme des Weltliteratur-Begriffs zu eruieren. Diese Schnittstellen zu verfolgen, ist für eine aktuelle Annäherung an die historische Exilzeit besonders interessant, die danach fragt, inwiefern hier bereits Fragen und Begriffe entwickelt wurden, die auf heutige Diskussionen um Globalisierung und Transnationalität, in deren Horizont auch der Begriff der Weltliteratur eine neue Konjunktur erlebt, vorausweisen.97

In diesem Sinne ist Berendsohns Exilforschung in ihrer Vorreiterrolle auch für die vorliegende Arbeit ein maßgeblicher Anschlusspunkt. Wenngleich sich sein wissenschaftliches Vorgehen aus heutiger Perspektive methodisch stark von aktuellen Ansätzen der Exilforschung und auch von der literaturwissenschaftlichen Herangehensweise dieses Projekts unterscheidet, sind einige von Berendsohns Positionen und seine Ausrichtung auf transnationale Phänomene immer noch oder wieder erstaunlich aktuell. So vermag man sie auch in heutigen Exilforschungsansätzen wiederzuerkennen.98 Nicht zuletzt mit Hilfe und anhand von (Literatur-)Übersetzungen geht Berendsohn insbesondere exilliterarischen Phänomenen nach, die über nationale und sprachliche Grenzen hinausweisen. Entgegen einer ausschließlichen Vereinheitlichung und Trennung von etwaigen Nation(-alliteratur-)en oder Kulturen richtet sich Berendsohns Interesse von Anfang an auch auf transnationale, transkulturelle und transnationale Aspekte von Exilliteratur. Dem von den Nationalsozialist*innen beabsichtigten gesellschaftlichen Ausschluss von jüdischen sowie politisch nicht konformen Schriftsteller*innen, wie er durch Verfolgung, Vertreibung und die Verbrennung von Büchern vorangetrieben wurde, sucht Berendsohn mit seiner Übersetzungs-Exilforschung konsequent etwas entgegenzusetzen. Er zeigt umfassend sowie detail- und beispielreich, wie gerade diejenigen, deren Werk als „[w]ider den undeutschen Geist“ aus der vermeintlich ‚deutschen‘ Nationalphilologie bzw. Nationalliteratur NS-Deutschlands ausgegrenzt werden sollten, weiterhin von Bedeutung waren – und dies nicht nur auf nationalkultureller Ebene, sondern durch Übersetzungen oder als Übersetzer*innen sogar grenz- und sprachüberschreitend auf weltliterarischer Ebene. Im Anschluss an Berendsohn und in Bezugnahme auf aktuelle Forschung sowie eigene Forschungsleistungen sollen im Folgenden vier Aspekte bzw. Konstellationen von Übersetzung und Exil in den Fokus genommen werden: 1) Äußerungen zu Übersetzung von Exilschriftsteller*innen in essayistischen Texten und Korrespondenzen, 2) Schriftsteller*innen, die im Exil zu Übersetzer*innen von Texten anderer wurden, 3) Exilschriftsteller*innen, die als Selbstübersetzer*innen in Erscheinung getreten sind, also ihre eigenen Texte übersetzt haben, 4) Formen von Übersetzungen in Exiltexten, die als sprachlich-ästhetisches Mittel eingesetzt werden. Dieser Überblick dient als Hinführung zum thematischen Schwerpunkt des Analyseteils.

97Bischoff, 98Vgl.

D.: Beginn einer (trans-)nationalen Exilforschung (s. Anm. 25). S. 60. Bischoff, D.: Beginn einer (trans-)nationalen Exilforschung (s. Anm. 25). S. 54.

36

2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

2.2 Essays Exilierter zu Übersetzung zwischen „Verlust“ und „Bereicherung“ Angesichts einer mangelnden deutschsprachigen Leserschaft und erschwerter Publikationsmöglichkeiten im Exil sahen sich die meisten geflüchteten Schriftsteller*innen vor die Situation gestellt, dass ihre Texte, sofern sie weiterhin auf Deutsch schrieben, in einigen Fällen übersetzt werden mussten, um erscheinen zu können. In zahlreichen Essays und Briefen, von denen nur einige wenige hier beispielhaft erwähnt werden, wurde diese in den künstlerischen Produktionsprozess einschneidende Veränderung reflektiert. Einer der bekanntesten Essays, der sich mit Sprach- und Übersetzungsschwierigkeiten im Exil auseinandersetzt, stammt von Feuchtwanger (1884–1958) und wurde bereits in der Einleitung zitiert. Er beruht auf einem Vortrag, den Feuchtwanger 1943 im amerikanischen Exil über die Arbeitssituation von S ­ chriftsteller*innen im Exil gehalten hat. Feuchtwanger, der dem Schreiben in einer anderen Sprache als der Deutschen sehr kritisch gegenübersteht („In einer fremden Sprache dichten, in einer fremden Sprache gestalten kann man nicht“99), stellt auch die neue Übersetzungsnotwendigkeit im Exil zunächst pessimistisch dar. Der Schriftsteller, der den Leserkreis seines eigenen Landes verliert, verliert mit ihm sehr häufig das Zentrum seiner wirtschaftlichen Existenz. Sehr viele Schriftsteller, die in ihrem eigenen Lande marktfähig waren, sind trotz höchster Begabung im Ausland nicht verkaufbar, sei es, weil ihr Wert vor allem im Sprachlichen liegt und dieses Sprachliche nicht übertragbar ist, sei es, weil ihre Stoffe den ausländischen Leser nicht interessieren.100

In künstlerischer Hinsicht könne Übersetzung den Wert des Sprachlichen, das einen literarischen Text erst zu dem macht, was er ist, nicht überbrücken. Das habe auch ökonomische Konsequenzen, wenn Verkäufe ausbleiben. Die erforderlichen Übersetzungen erzeugten insofern Fremdheit bei dem*der Verfasser*in, der*die sich unter Umständen nicht mehr eindeutig mit seinem (übersetzten) Text identifizieren könne. Seltsam ist es, zu erfahren, wie die Wirkung unserer Werke nicht ausgeht von der Fassung, in welcher wir sie schreiben, sondern von einer Übersetzung. Der Widerhall, den wir hören, ist nicht der Widerhall des eigenen Wortes. Denn auch die beste Übersetzung bleibt ein Fremdes. Da haben wir etwa um einen Satz, um ein Wort gerungen, und nach langem Suchen haben wir den Satz, das Wort gefunden, die glückliche Wendung, die sich unserm Gedanken und Gefühl bis ins Letzte anschmiegte. Und nun ist da das übersetzte Wort, der übersetzte Satz. Er stimmt, es ist alles richtig, aber der Duft, das Leben ist fort.101

Allerdings ist es bemerkenswert – und das ist womöglich auch ein Grund dafür, dass diese Passagen aus Feuchtwangers Essay so rege zitiert werden, wenn es um

99Feuchtwanger,

L.: Der Schriftsteller im Exil (s. Kap. 1, Anm. 5). S. 536. L.: Der Schriftsteller im Exil (s. Kap. 1, Anm. 5). S. 534. 101Feuchtwanger, L.: Der Schriftsteller im Exil (s. Kap. 1, Anm. 5). S. 536. 100Feuchtwanger,

2.2  Essays Exilierter zu Übersetzung zwischen „Verlust“ und „Bereicherung“

37

das sogenannte ‚Sprachproblem‘ im Exil geht –, dass er der Problematik auch einen kreativen Vorteil abgewinnen kann: Ich darf […] nicht verschweigen, daß zum Beispiel auch der erzwungene ständige Kontakt mit der fremden Sprache, über den ich vorhin so laut geklagt hatte, sich am Ende als eine Bereicherung erweist. Der im fremden Sprachkreis lebende Autor […] gibt sich dann nicht zufrieden mit dem, was ihm die eigene Sprache darbietet, sondern er schärft, feilt und poliert an dem Vorhandenen so lange, bis es ein Neues geworden ist […]. Jeder von uns hat glückliche Wendungen der fremden Sprache seiner eigenen eingepaßt.102

Diese Betonung der, man könnte sagen, ‚produktiven‘ Seite einer Übersetzungsnotwendigkeit und Mehrsprachigkeit in der konkreten Exilsituation, ist deutlich erkennbar. Sie bleibt dabei allerdings insofern verhalten, als dass es sich nicht um eine generelle Befürwortung von durch Übersetzung entstehender Mehrsprachigkeit handelt. Die ‚eigene‘ Schreibsprache bzw. die Muttersprache behält für Feuchtwanger weiterhin einen besonderen Status gegenüber ‚fremden‘ Sprachen bzw. Exilsprachen. Er beschreibt hier, dass durch Mehrsprachigkeit und Übersetzungsprozesse auch das eigene Schreiben und sogar die Schreibsprache selbst beeinflusst, transformiert und damit erweitert werden kann, indem die ‚fremde‘ Sprache als eine Art Reservoir zur Bereicherung der ‚eigenen‘ dient. Durch automatische, während des Schreibens stattfindende sprachliche Übersetzungsprozesse entstehe Neues in der ‚eigenen‘ Sprache aus dem ‚Fremden‘, das zwar bereichern kann, aber integriert – „eingepaßt“ – werden muss. Weniger bekannt als Feuchtwanger ist Martin Gumpert (1887–1955), Arzt und Schriftsteller, der fast zeitgleich lebte und ebenfalls in die USA exilierte. Dort konnte er seinen Lebensunterhalt mit einer dermatologischen Praxis sichern und verkehrte darüber hinaus in kulturellen Kreisen mit anderen Exilschriftsteller*innen, u. a. Klaus und Erika Mann. Gumpert hat im Exil auf Englisch und Deutsch geschrieben, sein Roman Dunant. Der Roman des Roten Kreuzes erschien 1938 gleichzeitig in beiden Sprachen und wurde darüber hinaus noch in weitere übersetzt.103 In seinem 1941 in englischer Übersetzung publizierten autobiografischen Text First Papers104, dessen Titel auf ein Dokument im amerikanischen Einbürgerungsprozess anspielt, geht er umfassend auf die Bedeutung der Übersetzungsthematik für Schriftsteller*innen im Exil ein. On the day of my arrival in New York my first book in the English language was published. The German edition had been successful; the English edition was not successful at all. I had the same experience with two later books. They were praised by the critics, but

102Feuchtwanger,

L.: Der Schriftsteller im Exil (s. Kap. 1, Anm. 5). S. 537–538. Deutsch publiziert bei Berman-Fischer: Martin Gumpert: Dunant. Der Roman des Roten Kreuzes. Stockholm 1938. Gleichzeitig ist der Roman auf Englisch bei Oxford University Press erschienen: Martin Gumpert: Dunant. The story of the Red Cross. New York 1938. 104Martin Gumpert: First Papers. New York 1941. 103Auf

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933 they were not bought. It is not hard for me to understand the reason. The books were too European and they lacked the qualities that make for success. The way a book emerges when translated into a foreign language – that represents a curious test.105

Diese Beobachtung führt Gumpert, der sich auch mit Übersetzungstheorie und -geschichte auseinandersetzt, zu der Vermutung: „Translation may be utterly impossible.“106 Unmöglich sei Übersetzung insofern, als „[t]ranslation can never convey an adequate impression of a literary work.“107 Gumperts These, die sich im obigen Zitat andeutet, wenn er davon spricht, sein Buch wäre „too European“ gewesen, ist, dass es Übersetzung auch auf einer Ebene bedürfe, die über die sprachliche hinausgeht – heute würde man von kultureller Übersetzung sprechen.108 Anhand der Beschreibung des US-amerikanischen Buchmarkts, des Verlagssystems, des Buchhandels, des Lesergeschmacks und der beliebten Art zu Schreiben erläutert Gumpert Unterschiede zu Europa. Zusätzlich lässt sich dies auch als Erklärungsansatz für die teils prekäre Situation der in die USA emigrierten Schriftsteller*innen lesen. Wie anders ist nicht nur die Sprache, sondern auch das System, in das sie sich integrieren müssen? Hier wird also auch deutlich, welch immense kulturelle Übersetzungsprozesse für die Schriftsteller*innen im Exil vonnöten waren, um im Exilland weiter in dem Beruf arbeiten zu können. Doch auch Gumpert spricht ob dieser Unmöglichkeit einer adäquaten Übersetzung von der Möglichkeit, dass literarischen Texten durch Übersetzung, zumindest in einigen Fällen, eine Art Gewinn zukommen könne. „Nevertheless, many books, when suffering such partial destruction, sound all the more impressive as fragments. Many actually gain by translation. Many merely require a very long time to become translatable.“109 Das Bild von Übersetzung als teilweiser Zerstörung und Fragmentierung von literarischen Texten greift Gumpert erneut auf, wenn er über Thomas Manns literarischen Erfolg im Ausland nachdenkt. „The case of Thomas Mann is a strange one – proof that great creative art carries even when halved or quartered.“110 Es ist interessant, dass Gumpert davon spricht, ein Text oder Werk werde durch Übersetzung halbiert oder geviertelt, also durch Übersetzung geteilt, nicht im Sinne von Verbreitung bzw. Verteilung, sondern im Sinne von Zerteilung. Über den dennoch großen Erfolg von Manns Exilroman Lotte in Weimar ist er durchaus erstaunt: „In my opinion, this book belongs of German literature. The language of this book is virtually untranslatable. Yet the American edition attained a sale of no less than 25,000 copies.“111

105Gumpert,

M.: First Papers (s. Anm. 104). S. 104. M.: First Papers (s. Anm. 104). S. 104. 107Gumpert, M.: First Papers (s. Anm. 104). S. 104. 108Siehe dazu Abschn. 3.4. 109Gumpert, M.: First Papers (s. Anm. 104). S. 104–105. 110Gumpert, M.: First Papers (s. Anm. 104). S. 106–107. 111Gumpert, M.: First Papers (s. Anm. 104). S. 107. 106Gumpert,

2.2  Essays Exilierter zu Übersetzung zwischen „Verlust“ und „Bereicherung“

39

Die Vorstellung von fester Zugehörigkeit („belongs of German literature“) zu einer Nation(-alliteratur), die nicht übersetzt werden könne, ohne zerteilt, zerstückelt, zerstört zu werden, erinnert an die Wurzel- bzw. Pflanzenmetapher in einer Strophe aus Carl Zuckmayers Kleine Sprüche aus der Sprachverbannung. Das Gedicht verweist ebenfalls auf eine zerschneidende Eigenschaft von Übersetzung. Zusätzlich spielt es auf den Wert von Übersetzung oder Original in Bezug auf Thomas Manns Texte an. Die Strophe lautet folgendermaßen: Die Übersetzung ist ein Wurzelmesser. Sie kappt und schneidet, wo es keimend wächst. Das Mittelmäßige macht sie häufig besser, Vom Bessern bleibt zur Not der nackte Text. Ach, welche Wohltat, daß man seinen Mann Noch im Stockholmer Urtext lesen kann –!112

Die Erwähnung des zunächst paradox klingenden deutschsprachigen „Stockholmer Urtext[es]“ bezieht sich auf den vorübergehenden Sitz des Bermann-­ Fischer Verlags in Schweden, der sich unter der Leitung des selbst exilierten Verlegers Gottfried Bermann-Fischer auf die Publikation deutschsprachiger Exilliteratur spezialisiert hatte – selbstverständlich ohne sie zu dieser Zeit in Deutschland vertreiben zu können. Die Betonung, dass der Urtext, das Original von Thomas Mann, zwar aus Deutschland verbannt, aber dennoch der Sprachverbannung entgangen zu sein scheint, liest sich vor dem Hintergrund, dass sich Thomas Mann als Repräsentant eines ‚anderen Deutschland‘ positionierte, im Sinne einer Fürsprache für die Beibehaltung des Deutschen als Schreibsprache. Die Metapher der Übersetzung als Wurzelmesser liest sich als Mittel einer sprachlichen Entwurzelung, einer Trennung vom heimischen Boden, in dem die Sprache verwachsen war. Demzufolge lässt sich die Translation auch als Akt der Transplantation verstehen. Auf die Kappung der Wurzeln, ein durchaus gewaltvolles und mit Schmerz assoziiertes Sprachbild, folgt die Verpflanzung in eine neue, fremde Umgebung, in der sich neue Verbindungen, neue Wurzeln erst herausbilden müssen. Die Metapher der Transplantation verwendet auch Gumpert, um das Exil der zahlreichen Schriftsteller*innen in den USA darzustellen. Most of these poets and writers will remain in America. The background against which they work, the atmosphere they breathe, the fate that awaits them – all these are your own. And it will be far more than an interesting experiment to see to what extent this transplantation will succeed, to see what will languish and what will thrive, to see how the peculiarities of this new influx will adapt themselves to the life of this country.113

112Carl Zuckmayer: Kleine Sprüche aus der Sprachverbannung. In: Ders.: Gedichte 1916–1948. Amsterdam 1948. S. 119–120. 113Gumpert, M.: First Papers (s. Anm. 104). S. 108–109.

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

Bis zu welchem Ausmaß, fragt Gumpert, kann eine solche sprachliche und kulturelle Verpflanzung gelingen? In der Pflanzenmetaphorik bleibend, geht es um die Möglichkeiten, sich neuen (Umwelt-)Einflüssen, dem Leben in einem anderen Land anzupassen: Was wird eingehen, verkümmern? Was wird gedeihen, florieren, blühen? Jean Améry vergleicht in seinem Essay Das Leben zwischen den Sprachen die Situation eines von Mehrsprachigkeit umgebenen Schriftstellers grundsätzlich mit derjenigen eines Übersetzers, wenn er schreibt: Dem Schriftsteller aber wird unter Umständen die Mehrsprachigkeit, die ihn zugleich reicher und ärmer macht, zu jener Qual, die jeder gewissenhafte Übersetzer kennt. Überwältigt von der Sprache, aus der er übersetzt, fühlt er, wie ihm die Muttersprache, in die er überträgt, entgleitet.114

Der „gewissenhafte Übersetzer“ erscheint hier allerdings nicht in der eindeutigen Position oder Funktion einer beide oder mehrere Sprachen beherrschenden Person, sondern er wird durch seine Mehrsprachigkeit „zugleich reicher und ärmer“, weil die umgebende gegenwärtige Sprache die Muttersprache überlagert und teilweise verdrängt, sodass es zu einer quälenden Arbeit wird, sie wieder freizulegen. In seinem berühmten Text Wieviel Heimat braucht der Mensch? verwendet Améry ebenfalls Übersetzungen als Beispiel dafür, dass bei der Übertragung von Worten aus der Muttersprache in eine andere Sprache Bedeutungen, Assoziationen, Gefühle, die an den Worten hängen, nicht übersetzbar sind und eine gewisse Fremdheit, die der neuen Sprache anhaftet, von der Übersetzung nicht überwunden werden kann. Es wurde uns aber nicht im gleichen Maße, wie die Muttersprache sich feindlich zeigte, die fremde zur wirklichen Freundin. Sie verhielt und verhält sich reserviert und nimmt uns nur zu kurzen Höflichkeitsbesuchen auf. Man spricht bei ihr vor, comme on visite des amis, was nicht dasselbe ist, wie wenn man bei Freunden einkehrt. La table wird niemals der Tisch, bestenfalls kann man sich daran sattessen. Selbst einzelne Vokale, und mochten ihnen die gleichen physikalischen Qualitäten eignen wie den heimischen, waren fremd und sind es geblieben.115

Signifikant und Signifikat entsprechen einander nicht mehr so scheinbar eindeutig. „Die Assoziationshöfe der Wörter sind nicht in allen Sprachen die gleichen. Total kongruente Synonyma sind selten.“116 Améry geht sogar noch weiter und spricht von „differenten Denkformen“, die aus den verschiedenen syntaktischen Strukturen von Sprachen resultieren und in der Übersetzung aufeinanderprallen, was einen überwiegend störenden und nur selten förderlichen Effekt habe.117

114Jean Améry:

Das Leben zwischen den Sprachen. In: Die Zeit 37 (1976). Améry: Wie viel Heimat braucht der Mensch? In: Ders.: Werke. Hg. von Irene Heidelberger-Leonard. Bd. 2: Jenseits von Schuld und Sühne. Hg. von Gerhart Scheit. Stuttgart 2002. S. 68–117, hier: S. 105. 116Améry, J.: Leben zwischen den Sprachen (s. Anm. 114). 117Vgl. Améry, J.: Leben zwischen den Sprachen (s. Anm. 114). 115Jean

2.2  Essays Exilierter zu Übersetzung zwischen „Verlust“ und „Bereicherung“

41

Das Leben zwischen den Sprachen, das Améry in seinen Essays nachzeichnet, ist eines, das große und unwiederbringliche Verluste verursacht. Aber er stellt zumindest auch die Frage nach Möglichkeiten einer sprachlichen Erweiterung. In Referenz auf einen Text Zuckmayers formuliert er: Zuckmayer hat dies einmal sehr hübsch in einem Verschen ausgesprochen, das ich hier aus dem Gedächtnis zitiere: „… Auch scheint’s sowas nicht auf deutsch zu geben / Wie, zu seinem Rufe aufzuleben…“ Nein, ‚to live up to one’s reputation‘ gibt es im Deutschen tatsächlich nicht. Aber warum eigentlich nicht? Und könnte man die treffende Formel nicht in die deutsche Sprache einführen? Bis zu welchem Punkte bereichert man die Mutter-, spräche durch den Zufluß fremden Sprachguts? Und wo liegt die Grenze, von der ab man sie „verhunzt“?118

Ähnlich wie bei Feuchtwanger ist bei Améry zwar die Möglichkeit einer Bereicherung enthalten, doch unter den eingeschränkten Bedingungen, dass das sprachlich ‚Fremde‘ das ‚Eigene‘ nicht verfremden darf. Um in der für diese Debatte charakteristischen Wassermetaphorik zu bleiben, die man von Feuchtwangers Formel „abgespalten zu sein vom lebendigen Strom der Muttersprache“ kennt, darf also der „Zufluß fremden Sprachguts“ den eigenen Strom nicht zu stark durchmischen, sodass dessen Eigenheit nicht verloren geht. Vielleicht ließe sich dies auf die vereinfachte Formel bringen: Sprachliche Bereicherung ja! – Sprachliche Mischung nein! Dass es bezüglich der Frage von Einflüssen durch andere Sprachen, die sich mittels Übersetzungen oder (fremd-)sprachlichen Mischungen vollziehen, auch noch ganz andere, zum Teil deutlich optimistischere Stimmen von Exilierten gibt, wird im Verlaufe dieser Arbeit immer wieder thematisiert werden. Im Besonderen wird es in den umfangreicheren Analysen der literarischen Texte von Domin, Kaléko und Lansburgh eine zentrale Rolle spielen. Nachdem hier überwiegend Positionen aus essayistischen Texten betrachtet wurden, in denen es um mehr oder weniger künstlerische Aspekte des Schreibens und Übersetzt-Werdens im Exil geht, ist bemerkenswert, dass in Briefen exilierter Schriftsteller*innen meist ein anderer Aspekt der Sprach- und Übersetzungsproblematik hervorgehoben wird, den man als organisatorisch und wirtschaftlich bezeichnen könnte. Dies mag im Übrigen auch mit der Textsorte zusammenhängen. Während literarisch-ästhetische Reflexionen des Übersetzungsthemas eher in essayistischer Form auftreten, werden in Briefen andere, vielleicht könnte man sagen alltäglich-rationalere Aspekte zur Sprache gebracht. Sigurd Paul Scheichl hat in einem Aufsatz Verhandlungen über das Übersetzt-Werden in Briefen exilierter Autor*innen, Agent*innen und Verleger*innen zusammengestellt.119 Anhand von verschiedenen Briefwechseln kann er zeigen, dass die Frage der Übersetzung

118Améry,

J.: Leben zwischen den Sprachen (s. Anm. 114). Paul Scheichl: „damit sofort an die Uebersetzungsarbeit herangegangen werden kann“. Übersetzt-Werden als Thema in Briefen Exilierter. In: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.): Exilforschung 25 (2007): Übersetzung als transkultureller Prozess. S. 171–188. 119Sigurd

42

2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

im Exil für die Schriftsteller*innen eine Vielzahl an politischen, sozialen und kulturellen Problemen berührt. Nach Scheichl sind die Hauptthemen der von ihm analysierten Briefe „die materielle Abhängigkeit von durch Übersetzungen und fast nur durch Übersetzungen zu verdienende[] Honorare[]“ sowie „die Notwendigkeit, sich Wünschen von Verlagen und Herausgebern anzupassen“120. Letzteres sei in den USA nicht zuletzt auch mit einer Abhängigkeit von Literaturagent*innen und Übersetzer*innen gekoppelt gewesen, die er als „Schleusenwächter“ bezeichnet, „welche ein Manuskript auf dem Weg an die Öffentlichkeit passieren musste“, und die als „verzögernd[e] oder sogar verhindernd[e]“121 Instanzen wirken konnten. Um nur wenige Beispiele Scheichls aufzugreifen, beschrieb Ernst Lothar seinen Zustand im Exil folgendermaßen: „vor einem Papier sitzen und so schreiben müssen, daß es übersetzbar sei, auf den Stil verzichtend, der den Mann macht, das war eine abscheuliche Marter“122. Joseph Roth, der in Briefwechseln umfangreich auf Englisch über Übersetzungsrechte verhandelt hat, bezeichnet die Exiljahre als „a period when the rights to and marketing of translations were of crucial importance“123. Alfred Polgar führt seinen Misserfolg in den USA darauf zurück, dass sein Stil in den Übersetzungen nicht angemessen übertragen sei, falls dies überhaupt möglich ist. Er schreibt 1941 in einem Brief: „Daß diese Übersetzungen so very crude sind, ist traurig.“124 Noch deutlich resignierter, wenngleich auch in noch stärker ausgeprägter mehrsprachiger Redeweise, drückt er 1942 sein Missfallen über die Übersetzungssituation aus: So aber gebe ich […] den publishern, die mich nicht publishen wollen, vollauf recht. Meine Skizzen haben viel zu wenig Substanz für amerik. Geschmack. Ihr Reiz, if at all, liegt in der Gewichtlosigkeit, mit der in ihnen Gewichtiges präsentiert wird, in ihrer Musikalität, die, an Sprache gebunden in der Übersetzung verloren geht.125

Die in Briefen Exilierter ausgedrückten omnipräsenten Gedanken an den*die Übersetzer*in im Zusammenhang mit Publikationsmöglichkeiten und zum Teil sogar während des Schreibens selbst stünden nach Scheichls Beobachtung für ein verändertes Übersetzungsbewusstsein im Exil. Obgleich nicht wenige der

120Scheichl,

S. P.: Übersetzt-Werden als Thema in Briefen Exilierter (s. Anm. 119). S. 185. Scheichl macht auch darauf aufmerksam, dass die Auswahl der von ihm analysierten Briefe eher willkürlich stattfand und dass für eine weitreichendere Aussage ein umfangreicheres Briefkorpus zu analysieren sei. (Vgl. S. 186). 121Scheichl, S. P.: Übersetzt-Werden als Thema in Briefen Exilierter (s. Anm. 119). S. 185. 122Zitiert nach Scheichl, S. P.: Übersetzt-Werden als Thema in Briefen Exilierter (s. Anm. 119). S. 174. 123Zitiert nach Scheichl, S. P.: Übersetzt-Werden als Thema in Briefen Exilierter (s. Anm. 119). S. 176. 124Zitiert nach Scheichl, S. P.: Übersetzt-Werden als Thema in Briefen Exilierter (s. Anm. 119). S. 178. 125Zitiert nach Scheichl, S. P.: Übersetzt-Werden als Thema in Briefen Exilierter (s. Anm. 119). S. 180.

2.3  Vom Schriftsteller zum Übersetzer im Exil am Beispiel von Rudolf Frank

43

geflohenen Schriftsteller*innen auch schon vor ihrer Flucht ins Ausland übersetzt worden waren, stand der Übersetzungskomplex nun unter völlig neuen und drastischeren Bedingungen. „Übersetzungen waren damals [vor 1933 bzw. 1938, Anmerkung: A.B.] ein zusätzlicher Erfolg gewesen, nicht fast das einzige Medium literarischer Wirkung.“126 Schriftsteller*innen im Exil waren seit 1933 nicht nur abhängig von Übersetzungen für ihre literarische Produktion und Publikation, sondern sie sind vielfach auch zu Akteur*innen der Übersetzung geworden. In Anbetracht der extrem schwierigen Situation, im Exil eine Lebensgrundlage erwirtschaften zu müssen, war ihr Arbeitsmaterial, die deutsche Sprache, in den meisten Bereichen dafür nutzlos geworden. Die zum Teil im Exil neu erworbenen Sprachkenntnisse sowie die Erfahrung durch die Arbeit mit (literarischen) Texten boten daher in vielen Fällen die Möglichkeit, sich als Übersetzer*in hervorzutun und damit zum Lebensunterhalt beizutragen. Als Beispiel für einen Schriftsteller, der im Exil zu einem sehr aktiven Übersetzer wurde, möchte ich Rudolf Frank anbringen, nicht zuletzt, weil es zu diesem Aspekt bei Frank noch kaum Forschung gibt.127

2.3 Vom Schriftsteller zum Übersetzer im Exil am Beispiel von Rudolf Frank Rudolf Frank (1886–1979) war u. a. Schriftsteller, Schauspieler, Regisseur, Dramaturg, Lektor und Redakteur. Im Schweizer Exil kam darüber hinaus noch seine äußerst umfangreiche Übersetzertätigkeit hinzu, die er Ende der 1930er Jahre aufgenommen und nach 1945 bis in die 1960er Jahre fortgesetzt hat. Insgesamt hat Frank um die 60 Übersetzungen von Theaterstücken, Romanen und Sachbüchern überwiegend aus dem Englischen ins Deutsche angefertigt. Unter den von ihm übersetzten Schriftsteller*innen befinden sich Namen wie John Steinbeck, James Aldrige, Nevil Shute, Pearl S. Buck, Sinclair Lewis, Elizabeth Goudge und Erich Fromm. Vor seiner Emigration 1936 war Frank lediglich vereinzelt mit dem Übersetzen von Texten in Kontakt gekommen. Er sammelte aber Anfang der 1930er Jahre in Berlin Erfahrung im Synchronisieren amerikanischer Filme für die Tobis-­Polyphon Film AG. In seiner Autobiografie Spielzeit meines Lebens schildert er, dass er mangels ausreichender Englischkenntnisse dabei extrem frei vorgegangen sei128 und ihm die Arbeit unter künstlerischen Gesichtspunkten zwar zu anspruchslos erschien, sie ihm allerdings später als Vorübung zugutekommen sollte. „Mit Kunst

126Scheichl,

S. P.: Übersetzt-Werden als Thema in Briefen Exilierter (s. Anm. 119). S. 174. folgende Teilkapitel zu Rudolf Frank ist eine gekürzte und leicht modifizierte Fassung dieser Publikation: Anne Benteler: Rudolf Frank als Übersetzer im Exil. In: Lutz Winckler (Hg.): Geschichten erzählen als Lebenshilfe. Beiträge zum literarischen und künstlerischen Werk Rudolf Franks. Berlin 2015. S. 82–95. 128Vgl. Rudolf Frank: Spielzeit meines Lebens. Heidelberg 1960. S. 321. 127Das

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

hatte das wenig zu tun. Ich betrachtete das Jonglieren mit Worten, Vokabeln und Diphthongen zum Teil als Spielerei, zum Teil als sprachliche Fingerübung. Für meine spätere Übersetzertätigkeit war es ein ausgezeichnetes Training.“129 Diese Übersetzertätigkeit, die Frank erst als Exilant begann, hauptsächlich um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, steht unter den spezifischen Bedingungen seines Lebens im Exil nach der Flucht aus NS-Deutschland. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialist*innen wurde Frank, der aus einer jüdischen Familie stammt, das Leben und Arbeiten in Deutschland schwer und schließlich unmöglich gemacht. Sein zwei Jahre zuvor erschienener Antikriegsroman Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua130 kam 1933 auf die Liste der zu verbrennenden Bücher. Frank wurde im selben Jahr in Berlin festgenommen und inhaftiert. Wenngleich er nach einem Monat wieder auf freien Fuß kam, drohten „die Nazis unmißverständlich mit einer neuerlichen Inhaftierung“, sodass eine weitere „Betätigung als politisch engagierter, kritischer Schriftsteller“131 kaum mehr möglich war. Deshalb emigrierte er 1936 nach Wien und flüchtete nach dem von den Nationalsozialist*innen sogenannten „Anschluss Österreichs“ 1938 über Meran weiter in die Schweiz. Dass Frank diese Exilländer vorzog, hatte hinsichtlich der Sprache pragmatische Gründe, „denn er fühlte sich ans deutsche Sprachgebiet beruflich gebunden.“132 Als Schauspieler und Schriftsteller wollte er unbedingt im deutschen Sprachraum bleiben, was vor dem Hintergrund, dass er später als einer der aktivsten Übersetzer im Exil äußerst ausgeprägt mit Fremdsprachen, insbesondere dem Englischen, beruflich in Kontakt war, durchaus bemerkenswert ist. Frank litt sehr unter dem Arbeitsverbot in der Schweiz, das ihm wie allen anderen, inzwischen meist staatenlos gewordenen Exilant*innen, auferlegt wurde.133 Aus Existenznöten und vom gewohnten Arbeitsdrang angetrieben setzte er sich darüber hinweg. Neben weiteren kleineren Tätigkeiten, u. a. als „heimlicher

129Frank,

R.: Spielzeit meines Lebens (s. Anm. 128). S. 323. Roman ist der wohl bekannteste Text von Frank. 1982 wurde er unter dem Titel Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß neu aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt (Rudolf Frank: Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß. Ein Roman gegen den Krieg. Ravensburg 1982). Vgl. dazu: Heidrun Ehrke-Rotermund: Ein „Kriegsroman“ für den Frieden. Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua von Rudolf Frank. In: Erwin Rotermund (Hg.): Spielzeit eines Lebens. Studien über den Mainzer Autor und Theatermann Rudolf Frank (1886–1979). Mainz 2002. S. 99–123. 131Arnold Busch: Rudolf Frank in den Jahren 1933 bis 1945. In: Anton Maria Keim (Hg.): Exil und Rückkehr. Emigration und Heimkehr. Ludwig Berger, Rudolf Frank, Anna Seghers und Carl Zuckmayer. Mainz 1986. S. 55–69, hier: S. 56. 132Vincent C. Frank: Rudolf Frank – Dr. jur., Theatermann, Schriftsteller. Versuch einer kleinen Biographie. In: Erwin Rotermund (Hg.): Spielzeit eines Lebens. Studien über den Mainzer Autor und Theatermann Rudolf Frank (1886–1979). Mainz 2002. S. 1–17, hier: S. 9. Vincent C. Frank ist der Sohn von Rudolf Frank. 133„Dieses Verbot, seinen Beruf auszuüben, war für uns unerträglich, nicht nur weil wir unsern Unterhalt selber verdienen und keiner Flüchtlingshilfe zur Last fallen wollten, nein, wir alle waren an die uns gemäße Arbeit, wie ans Atmen gewöhnt! […] Arbeits-Verbot verstößt gegen die guten Sitten, es vergewaltigt die menschliche Natur. Alles in uns Eingewanderten lehnte sich dagegen auf, und es begann ein sonderbares Versteckspiel, an dem sich mitfühlende Schweizer und Schweizerinnen beteiligten.“ (Frank, R.: Spielzeit meines Lebens (s. Anm. 128). S. 369). 130Dieser

2.3  Vom Schriftsteller zum Übersetzer im Exil am Beispiel von Rudolf Frank

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Lektor“134 und Herausgeber, die Frank im Zürcher Exil meist unter von Freunden und Bekannten zur Verfügung gestellten Decknamen ausübte, begann er in dieser Zeit auch als Literaturübersetzer zu arbeiten. Im Zeitraum von 1941 und 1943 erschienen vorerst sechs Übersetzungen Franks in Schweizer Verlagen, darunter im Berner Alfred Scherz Verlag: Emily Hahn Chinas drei große Schwestern (1941), Pearl S. Buck Drachensaat (1942) und Thomas Wolfe Es führt kein Weg zurück (1942). Bei den letzteren beiden Titeln verwendete er den Namen eines befreundeten Professors in Zürich: Ernst Reinhard. Der Zürcher Steinberg Verlag, der bis in die späten 1950er Jahre zum Hauptauftraggeber für Franks Übersetzungsarbeiten werden sollte, gab 1943 Franks Übersetzung von Rachel Field Ich wollte, als wäre es heut heraus. Als Pseudonym diente hier Olga Becker, eine befreundete Röntgenärztin aus Zürich. „Aber der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht“135, schreibt Frank rückblickend auf diese Lebensepisode. Denn 1943 wurden die Schweizer Behörden, vermutlich infolge einer Denunziation eines Schriftstellerkollegen, auf seine illegalen Arbeiten und dabei insbesondere auf seine Übersetzertätigkeit aufmerksam. Die Missachtung des Arbeitsverbotes brachte Frank „in diverse schweizerische Flüchtlingslager, die seinem Freiheitsdrang kaum entsprachen“136. Schließlich hatte sie für ihn die dauerhafte Landesverweisung zur Folge, welche durch die Direktion der Polizei des Kantons Zürich in einer Verfügung vom 23. Februar 1943 ausgesprochen wurde: Die Ausübung einer Erwerbstätigkeit war ihm ausdrücklich verboten. Festgestellter- und zugegebenermaßen ist nun aber Dr. Frank seit längerer Zeit in Missachtung des ihm auferlegten Verbotes erwerbstätig, indem er gegen Entgelt seit dem Jahre 1939 für einen hiesigen Bühnenverlag die Lektortätigkeit ausübt und überdies gemeinsam mit einer andern Emigrantin für eine Verlagsfirma in Bern fremdsprachige Bücher gegen eine Entschädigung von Fr. 2000.– ins Deutsche übersetzte. Durch sein Verhalten, in welchem eine schwere Missachtung von Ordnungsvorschriften zu erblicken ist, hat sich Dr. Frank des ihm in der Schweiz gewährten Asyls als unwürdig erwiesen.137

Die Landesverweisung konnte „mangels legaler Weiterwanderungsmöglichkeit“138 nicht durchgesetzt werden, sodass Frank in Flüchtlingslagern in St. Cergue und Lugano interniert wurde. Daraufhin bewilligte ihm der Kanton Baselland Wohnrecht, wo er zunächst in Binningen wohnte, bevor er nach Basel zog und dort bis zu seinem Lebensende 1979 lebte. 1948 erhielt er die dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung für die Schweiz.139

134Frank,

R.: Spielzeit meines Lebens (s. Anm. 128). S. 370. R.: Spielzeit meines Lebens (s. Anm. 128). S. 369. 136Frank, V.C.: Rudolf Frank – Dr. jur., Theatermann, Schriftsteller (s. Anm. 132). S. 11. 137Polizei des Kantons Zürich: Verfügung vom 23. Februar 1943: Ausweisung Rudolf Frank. Stadtarchiv Mainz: Nachlass Rudolf Frank. NL 116/11. 138Frank, R.: Spielzeit meines Lebens (s. Anm. 128). S. 376. 139Vgl. Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement der Schweiz: Ausweis für Rudolf Frank und Befreiung von der Pflicht zur Weiterreise. Bern, 2. Februar 1948. Stadtarchiv Mainz: Nachlass Rudolf Frank. NL 116/11. 135Frank,

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

Seine Übersetzertätigkeit setzte Frank in der Nachkriegszeit und bis in die 1960er Jahre hinein fort. Er stellte sie allmählich ein, nachdem er seit 1957 Entschädigungszahlungen aus Deutschland empfing, die so unglücklich benannte „Wiedergutmachung“. Bis dahin war das Übersetzen seine Haupteinnahmequelle, es „ernährte ihn, wenn auch keineswegs üppig. Seine beiden ihm Aufträge gebenden Verlage setzten normale Übersetzungshonorare an, und sein bescheidenes Leben normalisierte sich.“140 „Die Zahl der von mir übersetzten Bände stieg von Jahr zu Jahr; sie füllen nun schon ein ganzes Büchergestell.“141 Abgesehen von einzelnen Übersetzungen aus dem Französischen hat Frank vorwiegend amerikanische sowie einige britische und australische Autor*innen aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt. Was das Spektrum der von ihm übersetzten Texte angeht, handelt es sich bei der überwiegenden Mehrheit um Romane und Erzähltexte. Der thematische Schwerpunkt seiner Übersetzungen liegt auf gesellschaftskritischen Texten amerikanischer Autoren der 1930er und 1940er Jahre, darunter Thomas Wolfe, Sinclair Lewis oder John Steinbeck. Eine der ersten Übersetzungen Franks im Schweizer Exil war Wolfes Roman Es führt kein Weg zurück (1942), der Themen wie Heimat und Fremde, die Position des Exilierten und die Entwicklungen in Deutschland unter dem NS-Regime verhandelt. Von Steinbeck hat Frank den Erzählband Der Rote Pony und andere Erzählungen (1945), den Roman Die Straße der Ölsardinen (1946) sowie den Reisebericht Logbuch des Lebens (1953) übersetzt. Zwei Romane hat er auch von Lewis übertragen, zunächst Gideon Planish (1946) und später Der königliche Kingsblood (1951), in dem es um Rassenvorurteile geht. Frank hat also dazu beigetragen, der deutschsprachigen Leserschaft wichtige amerikanische Autoren zugänglich zu machen, die nicht zuletzt auch im Deutschland der Nachkriegszeit viel gelesen wurden. Gerade diese Übersetzungen zeitgenössischer sozialkritischer Texte können aber auch im Gesamtzusammenhang seines eigenen literarischen Schaffens gesehen werden.142

140Frank, V.C.: 141Frank, 142Franks

Rudolf Frank – Dr. jur., Theatermann, Schriftsteller (s. Anm. 132). S. 13. R.: Spielzeit meines Lebens (s. Anm. 128). S. 378.

Texte setzen sich beispielsweise gesellschaftskritisch mit kulturellen und nationalen Zuschreibungen sowie Mehrfachzugehörigkeiten auseinander. Der 1931 erschienene Antikriegsroman Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua (s. Anm. 130) „stellt die nationale Hybridität seines Helden mit Nachdruck heraus. Seine Muttersprache ist deutsch, seine nationale Identität polnisch, seine Staatsbürgerschaft russisch.“ (Bettina Bannasch: „Was, Ideal!? Das einzige Ideal ist der Friede“. Rudolf Franks Jugendbuch Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua. Kriegsroman für die junge Generation (1931). In: Lutz Winckler (Hg.): Geschichten erzählen als Lebenshilfe. Beiträge zum literarischen und künstlerischen Werk Rudolf Franks. Berlin 2015. S. 42–59, hier: S. 49) 1936 hat Frank den Roman Ahnen und Enkel in einem Berliner jüdischen Verlag publiziert. Die in der Rahmenhandlung thematisierte „Diaspora-Existenz“ bzw. „migratorische[] Identität“ steht in Verhandlung mit den in den verschiedenen Binnenerzählungen behandelten und kritisch hinterfragten „Traditionen einer deutsch-jüdischen Assimilation“. „Es geht Frank […] um die energische und ironische Zurückweisung antisemitischer Stereotype der ‚Andersheit‘ und ‚Nichtzugehörigkeit deutscher Juden“ (Lutz Winckler: Nomaden im Laubhüttenland. Rudolf Franks Roman Ahnen und Enkel. In: Ders. (Hg.): Geschichten erzählen als Lebenshilfe. Beiträge zum literarischen und künstlerischen Werk Rudolf Franks. Berlin 2015. S. 60–72, hier: S. 65, 66). Franks Roman zeige „die Migration als unabschließbare, immer wieder neu aufgenommene Reise – als innere Reise, die verschiedene Traditionen durchquert, die alle in eine offene, vielschichtige, hybride Identität in der Diaspora aufgenommen werden.“ (Winckler, L.: Nomaden im Laubhüttenland. S. 70).

2.3  Vom Schriftsteller zum Übersetzer im Exil am Beispiel von Rudolf Frank

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Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Frank 1945 die 1941 entstandene Schrift Escape of Freedom des in die USA emigrierten deutschen Psychologen und Sozialwissenschaftlers Erich Fromm aus dem Englischen ins Deutsche übersetze, unter dem Titel Furcht vor der Freiheit. Fromms sozialkritische Analyse richtet sich unter anderem auf die Entstehung des Faschismus in Deutschland. Insgesamt ist knapp ein Drittel von Franks Übersetzungen unter wechselnden Pseudonymen erschienen und einige weitere ohne Namensnennung. Er hat allein für seine Übersetzungen acht verschiedene Pseudonyme verwendet: Frank C. Ruddy, Ernst Moser, Hanna Ricker, Ernst Reinhard, René Ruffener, Olga (Johanna) Becker, William G. Frank und H. Rosbaud. Zunächst übersetzte er nach 1945 teilweise noch weiter unter falschem Namen oder anonym, was darauf zurückzuführen ist, dass die Arbeitsgesetze in der Schweiz mit dem Kriegsende nicht sofort geändert wurden. Allerdings nutzte er mittlerweile nicht mehr die Namen seiner Schweizer Freunde als Tarnung, weil es ihnen zu riskant geworden war.143 Stattdessen verwendete er den Namen seiner in London lebenden Schwester Hilde Rosbaud bzw. „H. Rosbaud“ und den Namen seines in den USA lebenden Bruders William G. Frank. Frank war ein extrem schneller Übersetzer. In vielen seiner erhaltenen Arbeitsexemplare, die er zur Übersetzung gebrauchte, lässt sich anhand von datierten Markierungen genau ablesen, an welchem Tag er bis zu welcher Textstelle übersetzt hat. Beispielsweise hat er die 219 Seiten von Elizabeth Goudges SmokyHouse innerhalb von nur 19 Tagen ins Deutsche übertragen und schaffte zwischen fünf und 17 Seiten täglich.144 Zusätzlich hat Frank in Notizbüchern häufig seine Übersetzungen verzeichnet, in der Regel mit Angabe des Autors, des Original-­ Titels, des Verlags und zeitweise genauen Datierungen.145 Angesichts dieses enormen Arbeitspensums von überwiegend englischsprachigen Texten ist es ganz besonders verblüffend, dass Frank Englisch weder in der Schule146 gelernt hat noch jemals einen Fuß in ein englischsprachiges Land setzte. Frank, der sich ja ausdrücklich aus beruflichen Gründen dafür entschieden hatte, im deutschen Sprachraum zu bleiben, als er ins Exil gehen musste, konnte tatsächlich nie Englisch sprechen. Man kann sagen, dass er „Englisch also wie eine tote Sprache erlernte.“147 Eine Vorstellung, die für die Mehrheit von Übersetzer*innen nahezu unmöglich erscheinen dürfte, lernt man doch besonders durch

143Vgl.

Frank, V.C.: Rudolf Frank – Dr. jur., Theatermann, Schriftsteller (s. Anm. 132). S. 11. Elizabeth Goudge: Smoky-House. London 1947. Arbeitsexemplar Franks für die Übersetzung. Stadtarchiv Mainz: Nachlass Rudolf Frank. NL 116/95. 145Vgl. Rudolf Frank: Notizbuch mit Aufzeichnungen der schriftstellerischen Arbeiten, Vorträge, Rezitationen, Bühnen- und Filmtätigkeit. Stadtarchiv Mainz: Nachlass Rudolf Frank. NL 116/38. 146Rudolf Frank lernte in der Schule Latein, Französisch und Griechisch bis zum Abitur. (Vgl. Großherzogliches Herbstgymnasiums in Mainz: Schulzeugnisse für Rudolf Frank, 1892–1904. Stadtarchiv Mainz: Nachlass Rudolf Frank. NL 116/4). 147Frank, V.C.: Rudolf Frank – Dr. jur., Theatermann, Schriftsteller (s. Anm. 132). S. 10. 144Vgl.

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

das mündliche Sprechen sowie besonders den Aufenthalt in einem Sprachgebiet, und davon gibt es beim Englischen viele auf der Welt, die Varietäten einer Sprache kennen. Auf diesen Umstand angesprochen, habe Frank selbst stets geantwortet: „Andere Übersetzer übersetzen aus dem Englischen in eine ihnen ebenfalls unbekannte Sprache.“148 Das Deutsche war für ihn alles andere als unbekannt und man kann sagen, dass Frank generell eher frei übersetzt hat. Vermutlich zeigt sich darin auch die Stärke und Qualität seiner Übersetzungen, die ihm vielfach von zeitgenössischen Rezensionen bescheinigt wurde. In einer Rezension zur Übersetzung von Thomas Wolfes Roman Es führt kein Weg zurück (1942) steht zum Beispiel: Die deutsche Uebertragung des Romans […] macht die Beschäftigung mit diesem einzigartigen Werk zu einem besonderen Genuss. Das ist nicht das übliche ‚Uebersetzerdeutsch‘, vor dem jeden Kultivierten ein Schauder anpackt; hier spricht ein Nachdichter, der so in das Wesen des Urtextes eindrang, dass auch die leiseste Seelenregung des amerikanischen Autors unverkümmert zum Herzen des Lesers spricht.149

Fritz Karl Mathys schreibt zusammenfassend, „[i]n allen von Frank verdeutschten Romanen spiegelt sich sein ausgezeichnetes Sprachgefühl“ und er habe „in einer direkt sprachschöpferischen Art und Weise übersetzt. Dieses Um- und Neuschreiben, wie man es nennen könnte, ist bis heute kaum richtig gewürdigt worden.“150 Frank selbst beschreibt in seiner Autobiografie das Dichterische als wesentlich für seine Arbeit im Allgemeinen und so auch für das Übersetzen. In allem Schöpferischen und auch in dem, was man als nachschöpferisch bezeichnet, ist die dichterische Version das Bestimmende. Dies fühlte ich deutlich, wenn ich Regie führte, […] und ebenso empfand ich die vis poetica als Notwendigkeit, wenn ich Sinclair Lewis, Somerset Maugham, John Steinbeck, Louis Bromfield, Edna Ferber, Pearl Buck, Charles Morgan, Thomas Wolfe, Hugh Walpole, James Alridge, Nevil Shute und andere übersetzte.151

Frank verstand seine Übersetzungen als seinen Beitrag zur Völkerverständigung, wie er 1947 in seinem Antrag auf Dauerasyl in der Schweiz schreibt: „Ich darf vielleicht darauf hinweisen, daß ich durch meine als besonders wertvoll anerkannten künstlerischen Übersetzungen amerikanischer und englischer Literatur […] mir

148Vincent C. Frank: Rede zur Eröffnung der Ausstellung „…ein sehr lebhaftes Vielerlei“. Der Theatermann und Schriftsteller Rudolf Frank, in Basel am 23.06.2011. Unter: http://www.rudolffrank.net/images/stories/ausstellung/pdf/rede_basel_frank.pdf (24.10.2017). 149G. J.: Der amerikanische Homer. In: Das Band (Dezember 1943). Zeitungsausschnitt vorhanden in: Besprechungen (unvollständig) der Übersetzungen in Schweizer Verlagen. Stadtarchiv Mainz: Nachlass Rudolf Frank. NL 116/283. 150Fritz Karl Mathys: Rudolf Frank im Spiegel seiner Schweizer Freunde. In: Anton Maria Keim (Hg.): Exil und Rückkehr. Emigration und Heimkehr. Ludwig Berger, Rudolf Frank, Anna Seghers und Carl Zuckmayer. Mainz 1986. S. 71–84, hier: S. 77. 151Frank, R.: Spielzeit meines Lebens (s. Anm. 128). S. 379.

2.3  Vom Schriftsteller zum Übersetzer im Exil am Beispiel von Rudolf Frank

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Verdienste um kulturelle Völkerverständigung erwarb.“152 Das Besondere dabei ist vielleicht, dass Frank kein Übersetzer war, der sich in mehreren Sprachen und Kulturen bewegte und deshalb zum Experten wurde. Großbritannien, aber vor allem auch Amerika und Australien waren für ihn weit entfernte Länder, die er selbst nie bereiste. Die Romane und Erzählungen, welche er ins Deutsche übersetzte, führten ihn somit auch selbst in ihm weitgehend unbekannte, ‚fremde‘ Kulturwelten. Frank hat diese Kulturen gleichzeitig sowohl für sich entdeckt als auch einer deutschsprachigen Leserschaft eröffnet und näher gebracht. Er verglich seine Art zu übersetzen mit dem Rollenspiel auf der Bühne: „In jeden Autor lebte ich mich genau wie als Schauspieler in die seelische Situation meiner Rolle ein.“153 Möglicherweise erklärt sich gerade aus dieser Perspektive und der hohen sprachlichen Qualität seiner Übersetzungen ihr Erfolg, denn sie machten viele englischsprachige Romane zu Bestsellern auf dem deutschsprachigen Markt und haben teilweise bis heute Bestand – es ist „[e]in gar nicht hoch genug zu würdigender Beitrag der Literaturvermittlung wie der grenzüberschreitenden Völkerverständigung.“154 Frank ist in dieser Hinsicht eher als ‚Sonderfall‘ unter den übersetzenden Exilschriftsteller*innen zu betrachten, weil er nicht wie viele andere aus der oder in die Sprache ihres Exillandes übersetzte, von der sie alltäglich umgeben waren und die sie im kulturellen Gesamtkontext (immer besser) lernten. Dennoch lässt sich mit Frank hier beispielhaft zeigen, dass die Rolle, welche Exilant*innen als Übersetzer*innen einnehmen, auch wenn die verstärkte Übersetzertätigkeit sich häufig gerade aus existenziellen Nöten und erschwerten Publikations- und Arbeitsbedingungen im Exil ergab, immer auch ein vermittelnde Funktion zwischen Sprachen und Kulturen hat. Selbstverständlich haben nicht alle Schriftsteller*innen, die wie Frank im Exil übersetzten, erst dort damit begonnen. Stefan Zweig etwa, der zu seiner Zeit und bis heute wie kaum ein*e andere*r übersetzt wurde, hat sich schon lange bevor er sich ins Exil begab, sehr rege als Übersetzer betätigt. Zu Beginn des 20. ­Jahrhunderts nutzte er den übersetzenden Umgang mit anderen Sprachen, um neue sprachliche Kreativität und Perspektiven auf die deutsche Sprache zu gewinnen. Darüber hinaus war er aber auch durch die für ihn zentrale Haltung als kosmopolitischer Kulturvermittler motiviert: „[S]ein Selbstverständnis als Übersetzer [ist] von Anfang an auch an ein höheres Ziel gebunden: An den Wunsch, zwischen Kulturen und Nationen zu vermitteln und so dauerhaft zu ihrem friedlichen Miteinander beizutragen.“155 Später im brasilianischen Exil, so arbeitet Sandra Narloch anhand von Briefen Zweigs weiter heraus, ist er hingegen „[a]ls Übersetzer

152Rudolf Frank: Gesuch um Gewährung des Dauerasyls. Binningen, 30.08.1947. Stadtarchiv Mainz: Nachlass Rudolf Frank. NL 116/11. 153Frank, R.: Spielzeit meines Lebens (s. Anm. 128). S. 379. 154Wilfried Weinke: Rede zur Eröffnung der Ausstellung „…ein sehr lebhaftes Vielerlei“. Der Theatermann und Schriftsteller Rudolf Frank, in Berlin am 30.05.2013. Unter: http://www. rudolf-frank.net/images/stories/ausstellung/pdf/rede_berlin_weinke.pdf (12.04.2019). 155Sandra Narloch: Stefan Zweig als Übersetzer und Kulturvermittler. In: exilograph 22 (2014). S. 5–6, hier: S. 5.

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

[…] kaum noch in Erscheinung [getreten], stattdessen ringt er mit der Rolle des Übersetzten, in die ihn das Exil zwingt.“156 Zweig, der mehrere Sprachen fließend sprach, überließ die Übersetzung seiner Texte anderen und litt darunter, dass sie nicht mehr in ihrer „Original“-Sprache wirken können. Er fühlte sich künstlerisch bzw. sprachlich gehemmt, weil er beim Arbeiten im Kopf hatte, ohnehin „doch nur für den Übersetzer“157 zu schreiben, was an einige der in Abschn. 2.2 genannten Positionen von anderen Exilschriftsteller*innen erinnert. Im Exil ist die Übersetzung für Zweig so nicht länger Ausdruck einer lebhaften Kommunikation, sondern wird vielmehr zum Sinnbild seiner eigenen Entwurzelung und Isolation. Dass seine Texte übersetzt und weiterhin in vielen Sprachen gelesen werden, kann den Bruch, den die Vertreibung in seinem Leben und Schreiben markiert, nicht aufheben.158

Somit zeigt sich bei Zweig eine in mehrfacher Hinsicht komplett gegensätzliche Entwicklung zu derjenigen Rudolf Franks. Köpke beschäftigt sich in einem oben bereits erwähnten Forschungsbeitrag mit Hans Sahl als Übersetzer im New Yorker Exil sowie während der Nachkriegszeit.159 Nach Heimatverlust und Fremdheitserfahrungen durch die Exilierung habe auch die Tatsache, dass sich Sahl nach 1945 politisch nicht so eindeutig verorten konnte, wie es anderen gelang, dazu geführt, dass er eine gewisse Distanz zur deutschen Sprache und Deutschland aufrecht erhielt. „Aus dieser Distanz heraus kommt das Leben in zwei Sprachen, in zwei Welten zugleich. Auch die Sprache seines Alltags war ‚doppelt‘, ein fortwährendes ‚Übersetzen‘ von einer Lebensweise in eine andere.“160 Die Distanz zur deutschen Sprache lässt sich auch als Offenheit der englischen Sprache und dem amerikanischen Kulturleben gegenüber begreifen, woraus sich die entsprechenden Kontakte und sprachlichen Fähigkeiten für Sahls Arbeit als Übersetzer ergeben haben. Durch seine Übersetzungen dramatischer Texte von Autoren wie Thornton Wilder, Tennessee Williams, John Osborne, Arthur Miller oder Maxwell Anderson hat er seinen Lebensunterhalt bestreiten können und „eine geachtete Position, zwar exterritorial, aber in einer klaren Funktion als kultureller Vermittler zwischen Amerika und Deutschland“161 erlangt. Auch Andrea Reiter, die in ihrer Monografie den Exterritorialitätsbegriff bei Sahl genau untersucht, stellt heraus, dass „Sahls Selbstverständnis als Übersetzer auf seinem Status der Exterritorialität“162 basiere. Sahl, der sich selbst als

156Narloch,

S.: Stefan Zweig als Übersetzer und Kulturvermittler (s. Anm. 155). S. 6. Zweig an R. Friedenthal am 19.09.1941. In: Ders.: Briefe an Freunde. Hg. von Richard Frieden-thal. Frankfurt a. M. 1978. S. 331–333, hier: S. 333. 158Narloch, S.: Stefan Zweig als Übersetzer und Kulturvermittler (s. Anm. 155). S. 6. 159Köpke, W.: Hans Sahl als Übersetzer (s. Anm. 7). 160Köpke, W.: Hans Sahl als Übersetzer. S. 209. 161Köpke: Hans Sahl als Übersetzer. S. 209. 162Andrea Reiter: Die Exterritorialität des Denkens. Hans Sahl im Exil. Göttingen 2007. S. 242. Vgl. zu Sahls Übersetzertätigkeit in Reiters Monografie insbesondere das Kapitel „Der Exilant als Mittler: Der Übersetzer“ (S. 242–249). 157Stefan

2.3  Vom Schriftsteller zum Übersetzer im Exil am Beispiel von Rudolf Frank

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exterritorialer Mensch charakterisiert hat,163 bezieht dies auch auf den Aspekt der Sprache. Entgegen der unter vielen Schriftsteller*innen im Exil verbreiteten Vorstellung und Befürchtung, die deutsche Sprache könne sich in der Entfernung und Distanz zum deutschen Sprachraum verlieren, schreibt Sahl: „[I]ch brauche die Distanz zu dem Land, in dem meine Muttersprache gesprochen wird, um Distanz zu mir selbst zu finden“164. In Anlehnung an Luther formuliert er, dass Schriftsteller nicht „den Leuten ‚aufs Maul‘ zu sehen“ haben, sondern: Es ist gut, wenn das Material, mit dem der Schriftsteller arbeitet, nicht durch den täglichen Gebrauch abgenutzt wird. Wer in der Fremde lebt, dürfte schwerlich in die Lage kommen, seine Gedichte in derselben Sprache abzufassen, in der er seinen Kaffee bestellt. Sein Verhältnis zu Sprache gleicht dem des Musikers zur Musik: er muß sie jedesmal von neuem herstellen. Natürlich besteht die Gefahr, daß die Substanz, von der er lebt, sich mit der Zeit verflüchtigt. Auch gibt es sprachverderbende Einflüsse, vor denen er sich hüten muß, Einflüsse des fremden Idioms, in dem er lebt und das – in Form von Anglizismen oder Gallizismen – in seine Grammatik einsickert. Andererseits kann aber auch die exterritorial gewordene Sprache, wie bei Joyce, zu einer Verdichtung und Verinnerlichung führen: Rilke, Kafka, Werfel wuchsen in einem Lande auf, in dem Deutsch, und wohl nicht das beste, von einer Minorität gesprochen wurde – wie heute von den Emigranten in Manhattan, sofern sie überhaupt noch deutsch sprechen.165

Dass Sahl hier vor „sprachverderbenden Einflüsse[n] […] des fremden Idioms“ warnt, sei nach Reiter vor allem auf der sprachoberflächlichen Ebene zu sehen und nicht als generelle Ablehnung sprachübergreifender Einflüsse.166 Dies lasse sich insbesondere anhand seiner Überlegungen zu Übersetzung nachvollziehen, in denen er eine übersetzerische Position verteidigt, die in der Übersetzung auch Fremdheit transportiert bzw. bewahrt, wofür er auch kritisiert wurde.167 Sahl selbst schreibt, dass der Übersetzer „ein Narr ist, weil er das Unübersetzbare übersetzbar macht.“168 Übersetzer von Theaterstücken stünden dabei vor einer besonders schwierigen Aufgabe, weil sie nicht nur eine gute Übersetzung liefern [müssen], sondern auch eine, die spielbar ist und sprechbar. Außer der Kenntnis der beiden Sprachen, aus der sie und in die sie übersetzen, müssen sie ein Gefühl für das Theater haben, sie müssen Dialoge schreiben können und den Text den Gesetzen der Bühne anpassen, für die sie übersetzen. Hinzu kommt, daß

163„Ich bin ein exterritorialer Mensch geworden. Ich habe einen Pakt mit der Fremde geschlossen. Ich kann nicht mehr ohne sie leben, ohne dieses Gefühl, nicht ganz zu Hause zu sein, ein Gast in fremden Kulturen, ein Reisender zwischen Abfahrtzeiten.“ (Hans Sahl: Gast in fremden Kulturen. In: Ich lebe nicht in der Bundesrepublik. Hg. von Hermann Kesten. Ulm 1963. S. 144–146, hier: S. 144). 164Sahl, H.: Gast in fremden Kulturen (s. Anm. 163). S. 144–145. 165Sahl, H.: Gast in fremden Kulturen (s. Anm. 163). S. 145. 166Vgl. Reiter, A.: Die Exterritorialität des Denkens (s. Anm. 162). S. 228. 167Vgl. Reiter, A.: Die Exterritorialität des Denkens (s. Anm. 162). S. 246. 168Hans Sahl: Zur Übersetzung von Theaterstücken. In: Rolf Italiaander (Hg.): Übersetzen: Vorträge und Beiträge vom Internationalen Kongress literarischer Übersetzer in Hamburg 1965. Frankfurt a. M./Bonn 1965. S. 104–105, hier: S. 104.

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933 das moderne amerikanische Theater, von Arthur Miller bis Kopit, sich vorwiegend einer Umgangssprache bedient, einer Art von poetisierendem Slang, für den es im Deutschen nichts Entsprechendes gibt – man muß es sich erst zusammensuchen.169

Gerade dieses Zusammensuchen eines Neuen in der Übersetzung scheint für Sahls Übersetzungsdenken paradigmatisch. Angelehnt an Karl Kraus, der gesagt haben soll, „Übersetzen heißt: Üb-ersetzen:“, könne diese Kunst des „Ersetzens“ nur darin bestehen, dem Zuschauer auch eine gewisse Fremdheit des Gezeigten zu vermitteln. Der Zuschauer muss das Gefühl haben, daß ihm mit dem Vertrauten zugleich etwas Fremdes, Exotisches vermittelt wird, etwas, das sich ihm nicht ohne weiteres erschließt und das er sich erst mit den Mitteln des Vergleichs und der Einfühlung erobern muß. Übersetzen heißt, ein Stück in einer anderen Sprache inszenieren.170

Auf diesen Aspekt der Übersetzungen Sahls macht auch Köpke aufmerksam, wenn er am Ende seines Beitrags die thesenartige Frage stellt, ob es vielleicht etwas wie eine Sprache zwischen den Sprachen gibt, eine Sprache der Übersetzungen, die sozusagen nach zwei Seiten hin „durchlässig“ sein soll, die den Weg vom Original in ein fremdes Publikum ebnet und gleichzeitig auf das Original verweist.171

Weiterhin gibt es in der Forschung einige Beiträge, die sich entweder überblicksartiger mit einer Exilregion oder -sprache oder mit einzelnen Exilschriftsteller*innen in ihrer Funktion als Übersetzer*innen beschäftigen. Helmut Müssener etwa, der noch mit Berendsohn an der Stockholmer Koordinationsstelle zur Erforschung der deutschsprachigen Exil-Literatur gearbeitet hat, skizziert und analysiert in seiner 1974 erschienenen Monografie Exil in Schweden172 Leben und Werk von Politiker*innen, Journalist*innen und Schriftsteller*innen. Die umfangreiche Arbeit gilt als grundlegendes Standardwerk zum Exil in Schweden. Im Kapitel „Die Kulturvermittlung“ sind auch einige Informationen zu Übersetzer*innen und Übersetzungen zusammengetragen hat. Müssener erwähnt unter anderen Erwin Leiser, der der einzige ihm bekannte Exilant erster Generation gewesen sei, „der nicht in seine Muttersprache, sondern in die seines Aufnahmelandes übersetze“.173 Insgesamt schätzt Müssener die Übersetzungsleistungen der geflüchteten Schriftsteller*innen in Schweden geringer ein, als er es zuvor erwartet hatte. Das führt er darauf zurück, dass die Chancen auf dem deutschsprachigen Buchmarkt, abgesehen von der Schweiz, sehr gering waren und sich

169Sahl,

H.: Zur Übersetzung von Theaterstücken (s. Anm. 168). S. 104. H.: Zur Übersetzung von Theaterstücken (s. Anm. 168). S. 105. 171Köpke, W.: Hans Sahl als Übersetzer (s. Anm. 7). S. 224. 172Müssener, H.: Exil in Schweden (s. Anm. 35). 173Müssener, H: Exil in Schweden (s. Anm. 35). S. 355. 170Sahl,

2.4  Exil und Selbstübersetzung am Beispiel von Georges-Arthur Goldschmidt

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Verlage meist ihrer eigenen Übersetzer bedienten. Dies änderte sich auch in der Nachkriegszeit größtenteils kaum. Über die in diesem Kapitel genannten hinaus gibt es noch zahlreiche weitere Schriftsteller*innen, die im Exil als Literaturübersetzer*innen hervorgetreten sind.174 Diese Zusammenhänge sind kaum und zum Teil noch gar nicht erforscht. Weitere Einzeluntersuchungen und die Zusammenführung von Ergebnissen sind wünschenswert, um dieses weitgehend unbearbeitete Forschungsfeld der Exil(-literatur-)forschung zu erschließen. Insbesondere im Fall von Domin möchte diese Arbeit einen Beitrag dazu leisten (vgl. Abschn. 5.3). Da die Übersetzungstätigkeit von Exilschriftsteller*innen in der Regel auch als kulturvermittelnde oder sogar politische Arbeit betrachtet werden kann und in diversen Fällen die Übersetzungen auch das eigene Schreiben maßgeblich beeinflusst haben, verspricht ein solcher Ansatz vielversprechende Ergebnisse und Perspektiven auf sprachen- und nationenübergreifende literarische Zusammenhänge.

2.4 Exil und Selbstübersetzung am Beispiel von GeorgesArthur Goldschmidt Eine andere Möglichkeit, durch die Exilschriftsteller*innen zu Übersetzer*innen werden können, ist ihre eigenen literarischen Texte zu übersetzen – von der Muttersprache in eine Exilsprache oder umgekehrt. Diese Übersetzungskonstellation ist insofern etwas Besonderes, als dass der*die Übersetzer*in nicht näher am zu übersetzenden Text sein könnte. Im Allgemeinen bezeichnet man einen zu übersetzenden Text als das ‚Original‘, was in diesem Fall zumindest zum Teil an Bedeutung verliert. Als Original im Sinne einer künstlerischen Erstfassung lässt sich der zuerst da gewesene Text zwar immer noch verstehen, aber nicht mehr, wenn man dem Begriff auch eine gewisse an den*die Autor*in gebundene Originalität im Sinne von Echtheit beimisst. Sowohl die Erstfassung als auch die Selbstübersetzung stammen beide als Versionen aus einer Feder. Sie sind von dem*derselben Autor*in geschaffen, der*die sich zwischen mindestens zwei Sprachen bewegt. Eine weitere Besonderheit von Selbstübersetzungen ist, dass man trotz der unvergleichlichen Nähe des*der Übersetzers*in zum Ausgangstext nicht selten eine sehr große Freiheit beim Übersetzen entdeckt – etwa in Form von Modifikationen,

174Man denke z. B. an Wolfgang Hildesheimer, der Literatur überwiegend aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt hat und als Dolmetscher bei den Nürnberger Prozessen tätig war (vgl. dazu Klaus von Schilling: Wolfgang Hildesheimer als Übersetzer und Übersetzungstheoretiker. In: Andreas F. Kelletat und Aleksey Tashinskiy (Hg.): Übersetzer als Entdecker. Ihr Leben und Werk als Gegenstand translationswissenschaftlicher und literaturhistorischer Forschung. Berlin 2014. S. 317–330). Auch beispielsweise Hilde Spiel, die englischsprachige Dramatiker übersetzt hat, Ilse Losa, die u. a. Bertolt Brecht und Thomas Mann ins Portugiesische übertragen hat, oder Willy Keller, der brasilianische Lyrik ins Deutsche übersetzt hat, sind in dieser Hinsicht wie viele weitere unbedingt aus übersetzungs- und literaturwissenschaftlicher Perspektive zu untersuchen.

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

Umstellungen, eingefügten Erläuterungen etc. Ein*e Selbstübersetzer*in nimmt sich unter Umständen eine solch umfassende Freiheit, die ein*e andere*r Übersetzer*in womöglich nicht zu wagen bereit oder berechtigt wäre, ohne dass man ihm*ihr unterstellen würde, umzuschreiben, das heißt also, selbst zu schreiben. Dementsprechend ist aber auch bei Selbstübersetzungen ein Unterschied zwischen übersetzen und neu schreiben oder weiterschreiben eventuell nicht oder zumindest nicht mehr deutlich abgrenzbar bzw. identifizierbar. Anhand dieser beiden Besonderheiten deutet sich bereits an, dass die Grenzen zwischen mehrsprachigem Schreiben und Selbstübersetzung häufig fließend sind und deshalb auch unbedingt hier so gekennzeichnet werden sollen. Der Komplex von Mehrsprachigkeit und (Selbst-)Übersetzung in den jeweils äußerst individuellen Schreibprozessen lässt sich zum Teil nur schwierig trennen. An dieser Stelle soll daher noch einmal deutlich darauf hingewiesen werden, dass die Aufteilung nach einzelnen Kategorien in diesem Kapitel eine Containerfunktion oder Schubladenverwaltung weder suggerieren geschweige denn erfüllen soll. Es geht lediglich darum, in einigermaßen strukturierter Form, auf verschiedene mögliche Aspekte von Exil und Übersetzung aufmerksam zu machen, d. h. ein Spektrum von Möglichkeiten aufzuzeigen, anhand dessen im weiteren Verlauf der Arbeit spezifiziert werden kann. Georges-Arthur Goldschmidt, der in diesem Teilkapitel exemplarisch als Selbstübersetzer untersucht wird, ließe sich in Bezug auf diese grundsätzlichen Überlegungen zweifelsohne auch als Beispiel für mehrsprachiges Schreiben im Exil anbringen. Es gibt umfangreiche Forschung zu den vielfältigen Mehrsprachigkeits- und (Selbst-)Übersetzungsaspekten in Goldschmidts Werk.175 Auch

175Vgl. u. a. Rainer Guldin: „Das sonderbare Francodeutsch“. Georges-Arthur Goldschmidt: Übersetzer und Selbstübersetzer. In: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.): Georges-Arthur Goldschmidt. München 2009. S. 59–70; Ders.: Verschiedene Wege zum selben Ziel. Zur Bilingualität im Werk Georges-Arthur Goldschmidts. In: Kultur & Gespenster 5 (2007). S. 102–119; Paul Nizon: Im Zweistromland der Sprache. Zur Autobiographie „Über die Flüsse“. In: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.): Georges-Arthur Goldschmidt. München 2009. S. 18–21; Vera Viehöver: Lesen – Übersetzen – Kommentieren: Goldschmidt auf dem Weg zu Kafka. In: Sibylle Schönborn, Karl Ivan Solibakke und Bernd Witte (Hg.): Traditionen jüdischen Denkens in Europa. Berlin 2012. S. 175–190; Gisela Thome: Ein Grenzgang der besonderen Art: zur Selbstübersetzung von Georges-Arthur Goldschmidts Autobiografie „La traversée des fleuves“. In: Lebende S ­ prachen 53/1 (2008). S. 7–19; Stefan Willer: Selbstübersetzungen. Georges-Arthur Goldschmidts Anderssprachigkeit. In: Susan Arndt, Dirk Naguschewski und Robert Stockhammer (Hg.): Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin 2007. S. 264–281; Stefan Willer: Beeing translated. Exile, Childhood and Multilingualism in G.-A. Goldschmidt and W.G. Sebald. In: Anne Fuchs, Mary Cosgrove und Georg Grote (Hg.): German Memory Contests. The Quest for I­dentity in Literature, Film, and Discourse since 1990. Rochester 2006. S. 87–105; Jenny Willner: ­Sprache, Sexualität, Nazismus. Georges-Arthur Goldschmidt und die deutsche Sprache. In: Doerte Bischoff, Christoph ­Gabriel und Esther Kilchmann (Hg.): Exilforschung 32 (2014): Sprache(n) im Exil. S. 293–309; Tim Trzaskalik: Gegensprachen. Das Gedächtnis der Texte. Georges-­Arthur Goldschmidt. Frankfurt a. M. 2007; Philipp Wulf: Georges-Arthur Goldschmidts Selbstübersetzung als interkultureller Vermittlungstext. In: exilograph 22 (2014). S. 7–8.

2.4  Exil und Selbstübersetzung am Beispiel von Georges-Arthur Goldschmidt

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Goldschmidt selbst hat sich in essayistischen Texten immer wieder zu der Thematik seines mehrsprachigen Schreibens und Übersetzens geäußert.176 An dieser Stelle sollen aber insbesondere jene Aspekte und die dazugehörigen Forschungsergebnisse in den Blick genommen werden, die im Zusammenhang seines Schreibens mit Prozessen der Selbstübersetzung stehen. Als Kind einer assimilierten jüdischen Familie aus Reinbek bei Hamburg wurde Goldschmidt als Zehnjähriger 1938 von seinen Eltern ins französische Savoyen geschickt, wo er in einem Internat Schutz vor den Nationalsozialisten fand, sich aber mit Gewalterfahrungen konfrontiert sah. Erst in den 1960er ­Jahren begann er schriftstellerisch tätig zu sein, schrieb zunächst auf Französisch und später auch auf Deutsch. Zudem arbeitete er als Übersetzer ins Französische (u. a. Peter Handke, Franz Kafka, J. W. Goethe, Walter Benjamin, Friedrich Nietzsche) und übersetzte seine Autobiografie Über die Flüsse selbst. Goldschmidt nennt sich mit an Sarkasmus grenzender Selbstironie eine „poule de luxe de la traduction“177, weil er als verbeamteter Lehrer nicht auf die Übersetzung angewiesen war, die zu übersetzenden Texte daher frei auswählen und ohne Zeitdruck übersetzen konnte. Er arbeitete also unter ganz anderen Bedingungen als andere hauptberufliche Literaturübersetzer*innen. Zwei immense Unterschiede fallen direkt ins Auge, wenn man Goldschmidts Übersetzungssituation mit derjenigen Rudolf Franks vergleicht: Goldschmidt schreibt und übersetzt zum einen erst deutlich später als Frank, zum anderen muss er dieser Beschäftigung weder zur Bestreitung des Lebensunterhaltes nachgehen noch hat er strafrechtliche Konsequenzen zu befürchten, weswegen er auch nicht unter Pseudonymen arbeiten musste, wie es für Frank notwendig war. Dennoch, so die in der vorliegenden Arbeit vertretene Auffassung und dem bereits erläuterten Exilbegriff folgend,178 sind beide Schriftsteller und Übersetzer des Exils ab 1933 aus NS-Deutschland. Dagegen könnte man vielleicht anführen, dass Goldschmidt bereits als Kind ins französische Exil gehen musste und zu dieser Zeit selbstverständlich noch kein Schriftsteller war. Er hat später zuerst auf Französisch zu schreiben begonnen und das Französische ist bis heute, abgesehen von wenigen Ausnahmen, seine dominante Schreibsprache und „Lebenssprache“179 geblieben. Er ist aus dem Exilland

176Georges-Arthur Goldschmidt: Exil und Doppelsprachigkeit. In: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hg.): Exilforschung 25 (2007): Übersetzung als transkultureller Prozess. S. 1–2; Ders.: Sprachen des Exils. In: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.): Georges-Arthur Goldschmidt. München 2009. S. 75–85; Ders.: Wie Grün Rot werden soll oder Die Metamorphose des Übersetzens. In: Alberto Gil und Manfred Schmeling (Hg.): Kultur übersetzen. Zur Wissenschaft des Übersetzens im deutsch-französischen Dialog. Berlin 2009. S. 5–14; Ders.: Auf zwei Stühlen oder: Von der „Zweiliteraturigkeit“. In: Neue Rundschau 122/1 (2011). S. 74–82. 177Georges-Arthur Goldschmidt: Remerciements. In: Quatrième Remise du Prix Lémanique da la traduction. Travaux du Centre de Traduction littéraire. Lausanne 1996. S. 35–38, hier: S. 36. Der Äußerung ließe sich als „Edelhure der Übersetzung“ ins Deutsche übertragen. 178Siehe dazu: Einleitung, Kap. 1. 179Goldschmidt, G.: Exil und Doppelsprachlichkeit (s. Anm. 176). S. 2.

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

Frankreich nie zurückgekehrt bzw. „heimgekehrt“ – das Exil ist also auch zu einem dauerhaften Zuhause geworden. Goldschmidt wird dennoch eindeutig als ein Schriftsteller des Exils betrachtet, weil sowohl seine autofiktionalen als auch seine zahlreichen essayistischen Texte wiederholt die Vertreibung aus Deutschland und aus dem deutschen Sprachraum, die Trennung von Familie und einstiger Heimat thematisieren und reflektieren. Sie verhandeln die deutsche Muttersprache im Zwiespalt zwischen kindlichen Erinnerungen an die Familie und der Sprache der Täter des nationalsozialistischen Grauens. Sie erzählen, wie das Deutsche jahrelang nicht ausgesprochen werden durfte und von der bedrückenden Lebensgefahr, als deutscher Junge jüdischer Herkunft unter der Besatzung in Frankreich erkannt zu werden. Bei Goldschmidt funktioniert die Übersetzung deutscher Texte anderer Autoren ins Französische zunächst einmal als eine Art Auslöser für die Wiederannäherung und Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache, die zugleich Kindheitssprache und Sprache der Eltern ist, aber auch die Sprache ihrer Verfolger. „Er liest seine Muttersprache nicht nur durch den Filter des französischen Sprachverstands, sondern im Zerrspiegel seiner durch den Nazihorror zerrissenen Existenz.“180 Seine kindliche Exilerfahrung mit dem abrupten und unfreiwilligen Wechsel in den neuen, bis dato unbekannten Sprachraum und die Arbeit als Übersetzer, die er in zahlreichen literarischen und essayistischen Texten reflektiert, scheinen sehr eng miteinander verzahnt zu sein. In Exil und Doppelsprachlichkeit beschreibt Goldschmidt, dass die Exilerfahrung eine „verdoppelte Seinserfahrung“ zur Folge habe: [S]ie läßt einen nie in Ruhe und verlangt jedesmal eine fast leibliche Umstellung, die man täglich erlebt – von der man aber immer nur in der einen Sprache berichten kann, was man in der anderen erlebt, so daß man jeden Augenblick auf die ausweglose, aber so erfrischende Situation des Übersetzenmüssens zurückgeworfen wird.181

Diese tägliche „fast leibliche Umstellung“ im Exil, „von der man aber immer nur in der einen Sprache berichten kann, was man in der anderen erlebt“182, wirft die interessante Frage auf, welche Bedeutung der (Selbst-)Übersetzung im Zusammenhang mit der Erfahrung des Exils zukommt: Kann man über traumatische Erlebnisse womöglich besser in einer ‚anderen‘ Sprache schreiben, also mit der Distanz der Übersetzung? Diese These ließe sich in Bezug auf Goldschmidt etwa durch das Argument stützen, dass seine autofiktionalen Texte, die seine Exilierung aus NS-Deutschland literarisch verhandeln, zunächst auf Französisch geschrieben sind (z. B. La forêt interrompue183), während ausgerechnet der parallel entstehende Text Die Absonderung184, der sich mit den Gewalterfahrungen

180Nizon,

P.: Im Zweistromland der Sprache (s. Anm. 175). S. 20. G.: Exil und Doppelsprachlichkeit (s. Anm. 176). S. 2. 182Goldschmidt, G.: Exil und Doppelsprachlichkeit (s. Anm. 176). S. 2. 183Georges-Arthur Goldschmidt: La forêt interrompue. Paris 1991; Georges-Arthur Goldschmidt: Der unterbrochene Wald. Aus dem Franz. Übers. v. Peter Handke. Zürich 1992. 184Georges-Arthur Goldschmidt: Die Absonderung. Erzählung. Zürich 1991. 181Goldschmidt,

2.4  Exil und Selbstübersetzung am Beispiel von Georges-Arthur Goldschmidt

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als Heranwachsender im französischen Internat auseinandersetzt, als erster seiner literarischen Texte zuerst auf Deutsch verfasst ist. Beide erzählen in der jeweils ‚anderen‘ Sprache, was in der Sprache, in der es passiert ist, vielleicht (zunächst) schwer oder unsagbar ist.185 Inwiefern es sich dabei um traumatisch bedingte Formen von Mehrsprachigkeit bzw. Sprachwechsel handelt oder man wie Rainer Guldin bei Goldschmidt von „Übersetzen aus einem stummen Vortext“186 sprechen kann, ist auch davon abhängig, wie weit man den Übersetzungsbegriff fassen möchte: Versteht man unter „Übersetzung“ auch solche Prozesse, die vortextuell bleiben, d. h. die während des Schreibens stattfinden, aber nicht als Text manifestiert sind und damit nur indirekt nachvollzogen werden können? Im Bezug auf Goldschmidt legt die ebenfalls im obigen Zitat auftauchende Formulierung der „ausweglose[n], aber so erfrischende[n] Situation des Übersetzenmüssens“, die sich durch die Doppelsprachlichkeit im Exil ergebe, nahe, dass die alltäglich notwendigen Übersetzungen im Exil ebenso wie die Arbeit als Übersetzer seinen kreativen Schreibprozess generell entscheidend beeinflussen. Guldin spricht nicht nur von einer „das Schreiben erweckende[n] Funktion des Übersetzens“187, er nennt es eine „komplexe, osmotische Beziehung zwischen Schreiben und Übersetzen […]. Schreiben und Übersetzen kommentieren einander; sie gehören grundsätzlich zusammen und sind eigentlich fast dasselbe“188. Auch Stefan Willer entdeckt in Goldschmidts zweisprachigem erzählerischen Werk Schreib- und Übersetzungsmechanismen, bleibt jedoch deutlicher auf der konkreten Text- bzw. Erzählebene. „In der wiederholten Erzählung seiner Kindheit als eines Übersetzungsprozesses und im Transfer jenes Vorgangs auf den Schreibprozess“189 lassen sich strukturelle Zusammenhänge von Erinnerung,

185Im

Zusammenhang von Trauma und Sprache ist auch Goldschmidts langer Essay interessant: Georges-Arthur Goldschmidt: Quand Freud voit la mer. Freud et la langue allemande. Paris 1988. Darin beschreibt er auf Französisch die deutsche Sprache der Psychoanalyse Freuds. Goldschmidt nehme darin nicht nur eine Exilperspektive auf die Muttersprache ein, sondern er lese die repressive Sprache der Nationalsozialisten „gegen den Strich“ (S. 308), heißt es bei Jenny Willner. Er zeige, dass alles, was der Nationalsozialismus vernichten und verbieten wollte, von der Sprache selbst, im Satz, im Wort, verkörpert werde. Freuds Umgang mit der deutschen ­Sprache erscheint dadurch auch als eine unbewusste Voranalyse des Nazismus (vgl. Willner, J: Sprache, Sexualität, Nazismus (s. Anm. 175)). Eine besondere Herausforderung war dieser Text auch für die deutsche Übersetzung aufgrund der Frage der subjektiven Perspektiven der Sprachen. Bei einer Veranstaltung am 13.02.2014 im Körber-Forum Hamburg, sagte Goldschmidts Übersetzerin Brigitte Große, dass es schwierig war, zu übersetzen wie auf Französisch das Deutsche beschrieben ist, zumal der Text auch noch primär für französische Psychoanalytiker geschrieben ist. Während in der französischen Version die im Text übernommenen deutschen Wörter als ‚Fremdkörper‘ ins Auge fallen, fehlt diese Markierung in der deutschen Übersetzung und es entsteht ein ganz anderes Textbild. 186Guldin, R.: „Das sonderbare Francodeutsch“ (s. Anm. 175). S. 60. 187Guldin, R.: „Das sonderbare Francodeutsch“ (s. Anm. 175). S. 61. 188Guldin, R.: „Das sonderbare Francodeutsch“ (s. Anm. 175). S. 59–60. 189Willer, S.: Selbstübersetzungen (s. Anm. 175). S. 265.

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

Übersetzung und Trauma erkennen. Die „fortlaufende Wiederholung und fortwährende Neuübersetzung, der Goldschmidt seine eigene Geschichte unterzieht, [lässt sich] als Dokument der Traumatisierung“190 lesen. Ein Vergleich zwischen Die Absonderung und La forêt interrompue zeigt Willer zufolge grundlegende Schreibstrategien, die darüber hinaus auch für die Autobiografie gelten: Das doppelte Anschreiben der gleichen Erinnerungssubstrate sorgt dabei an mehreren Stellen dafür, dass sich der eine Text in den nächsten übersetzt – und zwar in einer Weise, dass jeder der beiden als Version des jeweils anderen erscheint, weil die Richtungen des Übersetzens, die Ordnung von Original und Übersetzung nicht zu bestimmen sind. Das gesamte Schreiben Goldschmidts ist so gesehen Übersetzen – seine eigene Übersetzung seiner Autobiographie aus dem Französischen ins Deutsche ist der Punkt des Werkes, an dem dieser Umstand nochmals hervorgehoben wird. So muss sich eine Lektüre Goldschmidts von Buch zu Buch immer auch als ein Übersetzungsvergleich vollziehen.191

Wie Willer hier bereits andeutet, ist Goldschmidts Übersetzung seiner zunächst auf Französisch geschriebenen Autobiografie La traversée des fleuves192 (1999) ins Deutsche Über die Flüsse193 (2001) eine Selbstübersetzung im engen Sinn. Das bedeutet, es handelt sich um eine Personalunion von Autor und Übersetzer, in der Forschung auch Eigenübersetzer oder Ipsoübersetzer genannt.194 Im Fall der Autobiografie und dem ihr immanenten „autobiografischen Pakt“195 ist diese Personalunion sogar zusätzlich mit der Figur des autodiegetischen Protagonisten vereint. In Anlehnung an die verschiedensprachigen Titel beschreibt Paul Nizon Goldschmidts Autobiografie(n) als „Zweistromland der Sprache“ und betont einen „für das schöpferische Staunen und Sprachwerden nicht nur fruchtbare[n], sondern determinierende[n] Riss“, der infolge der gewaltsamen „Zwangsverpflanzung“, dem „frühe[n] Entrissenwerden aus der Geborgenheit der deutschen Familienzugehörigkeit“ eine „Wesenspaltung“196 ausgelöst habe. Guldin interpretiert, ebenfalls in Anlehnung an die Wassermetaphorik: „Die schon überwundenen Ströme und die noch zu überwindenden Flüsse stehen dabei für den autobiografischen Aspekt und zugleich für die zwischen den Sprachen vermittelnde Tätigkeit des Schriftstellers und Übersetzers.“197 Der oder besser die Titel von Goldschmidts Autobiografie(n) erinnern auch an das oben erwähnte, bekannte Zitat Feuchtwangers, in dem es

190Willer,

S.: Selbstübersetzungen (s. Anm. 175). S. 271. S.: Selbstübersetzungen (s. Anm. 175). S. 270. 192Georges-Arthur Goldschmidt: La traversée des fleuves. Paris 1999. 193Georges-Arthur Goldschmidt: Über die Flüsse. Zürich 2001. 194Vgl. Thome, G.: Ein Grenzgang der besonderen Art (s. Anm. 175). S. 7. 195Vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Aus dem Franz. v. Wolfram Bayer. Frankfurt a. M. 1994. 196Vgl. Nizon, P.: Im Zweistromland der Sprache (s. Anm. 175). S. 18–19. 197Guldin, R.: „Das sonderbare Francodeutsch“ (s. Anm. 175). S. 65. 191Willer,

2.4  Exil und Selbstübersetzung am Beispiel von Georges-Arthur Goldschmidt

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darum geht, „abgespalten zu sein vom lebendigen Strome der Muttersprache“. Dabei fällt aber auf, dass die transgressive Bewegung des Überquerens oder Überschreitens der Flüsse, die an Grenzen bzw. Grenzflüsse, evtl. auch konkret zwischen Frankreich und Deutschland, denken lassen, einen ganz anderen Akzent setzt als Feuchtwangers „Abspaltung“. Für seine Selbstübersetzung, die Goldschmidt auf Anregung seines Schweizer Verlegers begonnen haben soll,198 hat er einzelne Textstellen ausgelassen, andere stärker zusammengefasst oder weiter ausgeführt. Diese Veränderungen fallen aber i. d. R. nur durch einen direkten Vergleich beider Versionen auf. Zahlreiche Worterklärungen sowie insgesamt 62 erläuternde Fußnoten führen allerdings dazu, dass die ausschließlich deutschsprachige Leserschaft französische Begriffe und Zusammenhänge besser nachvollziehen kann, während Passagen, in denen in der französischen Version stärker erklärt wurde (z. B. die Information, was ein Hamburger Fleet ist) wegfallen. Anhand dieser Eingriffe macht sich der Selbstübersetzer permanent sichtbar. Sie markieren den deutschsprachigen Text auch ohne Vergleich mit dem französischsprachigen Ausgangstext von vornherein als Übersetzung und lassen die Leserschaft am Übersetzungsvorgang gewissermaßen teilhaben. Der Selbstübersetzung steht außerdem ein Vorwort Goldschmidts voran, in welchem dieser nicht nur auf die außergewöhnliche Nähe des Selbstübersetzers zum Ausgangstext eingeht, sondern auch eine eher texttreue Übersetzungsmaxime formuliert – die er aber längst nicht so konsequent einhält, wie es hier deklariert wird: Möglicherweise weiß doch der Autor am besten, was und wie er es meinte, er versteht den Text, so wie er ihn im Entstehen in sich fühlte; jedenfalls, wenn er das Glück hat, „zweisprachig“ und selber Übersetzer zu sein, weiß er genau, wie und ob er seinen Text in der anderen Sprache erkennen würde. […] Es geht darum, daß es derselbe Text bleibt. Es geht darum, daß der Text nicht von der anderen Sprache umgestaltet wird. Deshalb wurde so genau, so wortgetreu wie nur möglich übersetzt, ohne vom Text abzuweichen. Die seltenen Fälle, wo es geschehen ist, werden durch eine Fußnote gekennzeichnet. Der Autor-Übersetzer wurde immer von dem Hintergedanken der möglichen Rückübersetzung geleitet. Es galt dem Ursprungstext so nahe zu bleiben wie nur möglich, ohne hineinzuinterpretieren, ohne den Text der Zielsprache mehr als nötig anzupassen. Und doch, durch den anderen Sprachklang, durch die anderen Sprachvorstellungen ist es ein anderer Text geworden.199

Guldin macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die in der Selbstübersetzung feststellbaren Eingriffe dieses zu Beginn selbst auferlegte Gebot der absoluten Treue bei weitem überschreiten200 und sich stattdessen auch stark am Zielpublikum orientieren. Über die Flüsse sei aufgrund der Freiheit des Autors bei der Selbstübersetzung viel

198Vgl.

Thome, G.: Ein Grenzgang der besonderen Art (s. Anm. 175). S. 7. Dies habe Goldschmidt laut Thome in einem Fernsehinterview am 27.08.2002 so geäußert. 199Georges-Arthur Goldschmidt. Vorwort. In: Georges-Arthur Goldschmidt: Über die Flüsse. Zürich 2001. S. 7. 200Vgl. Guldin, R.: „Das sonderbare Francodeutsch“ (s. Anm. 175). S. 65.

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

mehr als eine Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche. „[D]ie zu Anfang geforderte wortgetreue Übersetzung [wird] immer wieder durch ad hoc getroffene Entscheidungen durchkreuzt und so letztlich desavouiert.“201 Gisela Thome weist aus translationswissenschaftlicher Perspektive anhand einer systematischen text- und satzsyntaktischen sowie lexikalischen Analyse nach, dass die deutschsprachige Übersetzung Goldschmidts stark vom Französischen geprägt ist. Auf syntaktischer Ebene orientieren sich viele Sätze im Deutschen an für das Französische typischen Satzstellungen. Auf syntagmatischer Ebene entdeckt sie „Fehler bezüglich Genus, Kasus und Numerus“202. Auf lexematischer Ebene stellt sie Phänomene von für das Deutsche untypischer bzw. unkorrekter Wortwahl und Wortbildung fest. Diese Analyse ist in ihrer Genauigkeit bemerkenswert und interessant, allerdings hinsichtlich der Schlussfolgerung und Bewertung dieser Ergebnisse sehr einseitig: Die Entdeckungen werden insgesamt als Liste stilistischer Schwachpunkte zusammengefasst, woran zu erkennen sei, dass Goldschmidt seine Fähigkeiten als Übersetzer überschätzt habe. Seine Erstsprache Deutsch sei nach vielen Jahrzehnten deutlich vom Französischen verdrängt worden und es handele sich damit um einen „letztlich nicht geglückte[n] Grenzgang“203, der dringend ein Lektorat erfordert hätte. Hier ist der vertretene übersetzungswissenschaftliche Standpunkt einzig und allein auf einen translatorischen „Erfolg“ in professioneller Hinsicht ausgerichtet, d. h.: eine möglichst glatte, elegante, ‚schmerzfreie‘ und widerstandslose Übersetzung. Die Selbstübersetzung Goldschmidts zeichnet sich jedoch gerade durch die sprachlichen Besonderheiten aus, die sich durch die Überlagerung der kindlichen Sprache mit der von der Exilsprache zur Lebenssprache gewordenen französischen Sprache ergeben und eine Form sprachlicher Grenzüberschreitung textimmanent abbilden, die eben nicht glatt ist, sondern Risse aufweist. Um Goldschmidts Vorwort wieder aufzugreifen, ist die Selbstübersetzung seiner Autobiografie ein „anderer Text“ geworden, nicht nur weil die Übertragung ins Deutsche einen anderen „Sprachklang“ und andere „Sprachvorstellungen“ mit sich bringt, sondern auch oder vielleicht gerade, weil die Exilsprache bei der Übersetzung, die gewissermaßen zurück zur Muttersprache führt, Reste oder Spuren hinterlässt. Im weiteren Forschungsumfeld zum Thema der Selbstübersetzung im Exil gibt es unter anderem Untersuchungen zu Robert Schopflocher204, Hannah

201Guldin:

„Das sonderbare Francodeutsch“ S. 67. G.: Ein Grenzgang der besonderen Art (s. Anm. 175). S. 16. 203Thome, G.: Ein Grenzgang der besonderen Art (s. Anm. 175). S. 18. Thome formuliert zu Beginn des Aufsatzes: „Auf die translatorische Realität übertragen, korrespondiert damit die Vertrautheit mit den beiden involvierten Sprachen als Teil einer spezifischen Kultur sowie das Wissen um Strategien der Nutzung von vorhandenen Konvergenzen und Affinitäten zur Überbrückung von bestehenden Abweichungen und Divergenzen.“ (S. 18). 204Reinhard Andress: Robert(o) Schopflocher als Selbstübersetzer. In: Ibero-amerikanisches Jahrbuch für Germanistik 5 (2011). S. 157–172. 202Thome,

2.4  Exil und Selbstübersetzung am Beispiel von Georges-Arthur Goldschmidt

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Arendt205 und Klaus Mann. Mann, der Anfang der 1940er Jahre seine Schreibsprache gewechselt hatte, begann insbesondere nach 1945 eigene auf Englisch verfasste Texte ins Deutsche zu übersetzen – „in verschiedener Hinsicht ein vielversprechendes Experiment, denn Klaus Mann konnte nun erstmals wirtschaftlich von seiner Zweisprachigkeit profitieren.“206 Utsch, die sich intensiv mit Manns Sprachwechsel beschäftigt hat, beschreibt seine Selbstübersetzungen in Anlehnung an ein Zitat als „linguistische Metamorphosen“207: „Eine Übersetzung? Eher eine Metamorphose. Man übersetzt sich nicht selbst, ohne sich dabei zu wandeln …“208. Insbesondere kommt dies zum Tragen in Bezug auf die deutsche ­Fassung von Manns Autobiografie Der Wendepunkt, die er aus dem Englischen The Turning Point übertragen hat. Mann zufolge sei es falsch, dabei von einer „Übersetzung“ zu sprechen, wenngleich die beiden Texte natürlich miteinander verbunden seien. „[V]ielmehr habe ich ein neues deutsches Buch geschrieben, wobei ich einiges Material aus der ursprünglichen Fassung verwenden konnte.“209 Eine 2014 von Willer organisierte Tagung zum Thema „Selbstübersetzung als Wissenstransfer“210 beschäftigte sich im Speziellen mit Selbstübersetzungen von Wissenschaftler*innen und beleuchtete die wissenstheoretische und geschichtliche Reichweite dieses Komplexes von der Frühen Neuzeit bis zur aktuellen globalisierten und internationalisierten Wissensgesellschaft und ihren Akteuren. Auf eine Publikation der Tagungsbeiträge, unter denen sich mit Bezug auf Exil unter anderem Beiträge zu Walter Benjamin, Leo Spitzer und dem Neurologen Kurt Goldstein finden, bleibt noch zu hoffen. Im Folgenden greift insbesondere Abschn. 3.3 dieser Arbeit das Thema der Selbstübersetzung im Exil erneut auf, wenn es um die übersetzungsphilosophischen Überlegungen Vilém Flussers geht, die wesentlich auch im wechselseitigen Einfluss mit seiner systematisch mehrsprachigen und selbstübersetzenden Schreibpraxis zu sehen sind.

205Sigrid Weigel: Per-sonare, poetische Differenz und Selbstübersetzung. Der Sound von Hannah Arendts Denken und Schreiben. In: Ulrich Baer (Hg.): Hannah Arendt zwischen den Disziplinen. Göttingen 2014. S. 63–90; Sigrid Weigel: Sounding Through – Poetic Difference – Self-­ Translation: Hannah Arendts’s Thoughts and Writings Between Different Languages, Cultures, and Fields. In: Eckart Goebel und Siegrid Weigel (Hg.): „Escape to Life“. German Intellectuals in New York: A Compendium on Exile after 1933. Berlin/Boston 2012. S. 55–79. 206Utsch, S.: Übersetzungsmodi (s. Kap. 1, Anm. 24). S. 145. 207Utsch, S.: Sprachwechsel im Exil. Die „linguistische Metamorphose“ von Klaus Mann (s. Kap. 1, Anm. 24). 208Klaus Mann: Brief an die Redaktion der „Welt am Sonntag“ vom Februar 1949. In: Ders.: Briefe und Antworten. 1922–1949. Hg. von Martin Gregor-Dellin. Reinbek bei Hamburg 1991. S. 605–607, hier: S. 606. 209Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Frankfurt a. M. 1952. S. 383. 210Vgl. den Ankündigungstext und das Tagungsprogramm des Berliner Zentrums für Literaturund Kulturforschung. Unter: http://www.zfl-berlin.org/veranstaltungen-detail/items/selbstuebersetzung-als-wissenstransfer.html (12.04.2019).

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

2.5 Übersetzungen schreiben – Sprachliche und kulturelle Übersetzungen als ästhetisches Mittel in Exiltexten Bis hierhin wurde ein breites Spektrum verschiedener Konstellationen im Spannungsfeld von Exil, Literatur und Übersetzungen abgebildet, mitsamt der dazugehörigen Forschung sowie eigenen Ergebnissen. Durch die Betrachtung der Beispiele in ihrer individuellen Art und Weise zeigte sich, dass eine eindeutige Kategorisierung allerdings weder stets möglich noch grundsätzlich sinnvoll ist. Über die bereits genannten Aspekte hinaus möchte ich an dieser Stelle eine weitere Perspektive auf Übersetzung eröffnen, die für die Literatur des Exils aus NS-Deutschland und Österreich seit 1933 noch gänzlich unerforscht ist. Übersetzung und Exilliteratur können auch miteinander in Verbindung stehen, indem sich verschiedene Formen von Übersetzungen direkt in der literarischen Sprache von Exiltexten manifestieren. Übersetzungen zwischen mehreren Sprachen fungieren somit als inhaltliches und ästhetisches Gestaltungsmittel und erzeugen im Ergebnis einen mehr oder weniger stark ausgeprägten mehrsprachigen Text. Drei verschiedene Ebenen von Übersetzungen in literarischen Exiltexten sind grundsätzlich denkbar: Erstens kann die für die Lebensrealität im Exil essenzielle Übersetzungsthematik, sowohl hinsichtlich ihrer Schwierigkeiten, sprachlichen Konfrontationen oder Missverständnisse als auch hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, sprachlichen Erweiterungen und neu gewonnener Kreativität, in Texten des Exils thematisch verhandelt und reflektiert werden. Zweitens ist es möglich, dass Übersetzer*innenfiguren in den Texten auftauchen, die als sprach- und/oder kulturvermittelnde Akteur*innen agieren und dadurch die Komposition von Exiltexten wesentlich bestimmen. Drittens können Exiltexte Übersetzungen intratextuell, das heißt, textimmanent abbilden und als ästhetisches Mittel verwenden, indem Übersetzungen zwischen Sprachen konkret in den Text integriert sind. Exiltexte, die ein oder mehrere dieser Kriterien erfüllen, sind das Forschungsinteresse dieser Arbeit. Während die ersten beiden Kriterien relativ gut abzugrenzen sind, liegt es bezüglich des dritten Kriteriums, also dem der intratextuellen Übersetzungen, auf der Hand, dass die Grenze dieses Phänomens zu literarischen Verfahren, die im Allgemeinen als „Mehrsprachigkeit“ bezeichneten werden, schwer zu bestimmen ist. Wie genau sich diese Begriffe zueinander verhalten, ob sie ineinander aufgehen oder im Gegensatz zueinander stehen, soll daher in Kap. 4 betrachtet werden, das dem analytischen Teil vorgeschaltet ist. Es gilt, Begriffsdefinitionen von mehrsprachigen und übersetzenden Schreibverfahren miteinander abzugleichen, um für die daran anschließenden Analysekapitel Begriffe zu bestimmen. Das Ziel ist, ein vergleichendes Arbeiten zu ermöglichen und im Idealfall Analysekategorien zu entwickeln, die auch für weiterführende Untersuchungen adaptiert werden können. Während es zu sprachlichen und kulturellen Übersetzungen als ästhetisches Mittel in Texten des Exils aus NS-Deutschland und Österreich derzeit noch keine spezialisierten Forschungsbeiträge gibt, ist das Forschungsfeld, das sich auf Migration thematisierende Gegenwartsliteratur richtet, diesbezüglich deutlich

2.5  Übersetzungen schreiben

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ausgeprägter.211 Allerdings geht es angesichts des in dieser Arbeit präsentierten Umfangs nicht um einen Vergleich zwischen Texten des Exils seit 1933 mit mehrsprachigen und übersetzenden Gegenwartstexten einer sogenannten „Migrationsliteratur“. Wenngleich dieser für weitere Projekte spannende Ansatz hier Erwähnung finden sollte, erscheint es mir wichtig, das literarische Umfeld des historischen Exils seit 1933 zunächst für sich zu betrachten, bevor ein Vergleich mit Gegenwartstexten hinsichtlich der Kreativitätsgrade und Innovation textinterner Übersetzungen sowie mehrsprachiger Schreibweisen in Texten der Gegenwart angefertigt werden kann. Schließlich möchte ich noch einmal auf Berendsohn zurückkommen, mit dem dieses kontextualisierende Kapitel begonnen wurde. Berendsohns bald 90 Jahre zurückliegenden Exilforschungsarbeiten unterscheiden sich stark von dem in dieser Arbeit gewählten Vorgehen. Dennoch richtet sich das Forschungsinteresse ebenfalls auf sprach- und länderübergreifende Phänomene, indem Übersetzungsfragen wie bei Berendsohn ein wichtiger Stellenwert für die Analysen zukommt. Während Berendsohn versucht, vor allem durch Sammlungen und Tabellen von Exilliteratur und ihren Übersetzungen Aussagen über deren Reichweite und Bedeutung zu treffen, wird in dieser Arbeit der Blick stärker auf die Texte selbst gerichtet, mit einem speziellen Fokus auf Darstellungen, Verhandlungen und Schreibverfahren von Übersetzung. Statt wie Berendsohn makroperspektivisch einer systematischen Verbreitung von Exilliteratur durch Übersetzungen nachzugehen, wird im Folgenden eher mikroperspektivisch anhand einzelner Texte untersucht, welche übersetzenden, sprach- und länderübergreifenden Konstellationen in den betrachteten Texten von Hilde Domin, Mascha Kaléko und Werner Lansburgh zu erkennen sind. Übersetzung soll hier als Begriffskonzept etabliert werden, das den Zugang zur analytischen Auseinandersetzung mit literarischen Texten des Exils ermöglicht. Für ein derartiges Vorgehen ist es eine wichtige Voraussetzung, sich mit Übersetzungstheorien zu befassen. Über allgemeine Begriffsklärungen und eine knappe Einführung in die Übersetzungstheorie und -wissenschaft hinaus werden

211Vgl. z. B. Julia Genz: Yoko Tawadas Poetik des Übersetzens am Beispiel von Überseezungen. In: Bernard Banoun und Hansjörg Bay (Hg.): L’oreiller occidental-oriental de Yoko Tawada. Paris 2010. S. 467–482; Bernard Banoun: Abenteuerliche Übersetzungen, Überbabelisierung des Originals. Zum Gedicht Vor einem hellen Vokal aus Yoko Tawadas Abenteuer der deutschen Grammatik. In: Barbara Agnese (Hg.): Die Lücke im Sinn. Vergleichende Studien zu Yoko Tawada. Tübingen 2014. S. 95–104; Gizem Arslan: Undivided waters. Spatial and translational paradoxes in Emine Sevgi Özdamar’s The Bridge of the Golden Horn. In: Andrew Hammond (Hg.): The novel and Europe. Imagining the continent in post-1945 fiction. London 2016. S. 271–286; Yasemin Yildiz: Political trauma and literal translation. Emine Sevgi Özdamar’s Mutterzunge. In: Gegenwartsliteratur 7 (2008). S. 248–270. Vgl. zu der in besonders ausgeprägter Weise mehrsprachig dichtenden Gegenwartskünstlerin Cia Rinne: Claudia Benthien: Visuelle Polyphonie. Cia Rinnes archive zaroon als mediale Reflexion Konkreter Poesie. In: Dies. und Gabriele Klein (Hg.): Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformationen. Paderborn 2017. S. 123–139. Benthien nimmt neben sprachlichen und kulturellen Übersetzungen im Speziellen Aspekte medialer und situationaler Übersetzung bei Rinne in den Blick.

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2  Forschung und Kontexte zu Übersetzung im Exil ab 1933

im folgenden Kapitel zwei Übersetzungstheorien vorgestellt, die besonders vielversprechend für eine Lektüre von literarischen Texten im Allgemeinen sowie von Exiltexten im Speziellen sind, nicht zuletzt weil sie von Exilanten stammen bzw. im Kontext von Exil entstanden sind. Verfasser dieser beiden Theorien sind Walter Benjamin und Vilém Flusser. Durch die philosophisch-literarische Schreibweise nehmen Benjamins und Flussers Texte in dieser Arbeit selbst einen Status zwischen Analysegegenstand und Theoriebildung ein. Darüber hinaus können sowohl Benjamins als auch Flussers theoretische Übersetzungsüberlegungen als wichtige Vorgedanken einer sich seit einigen Jahren herausbildenden kulturwissenschaftlich geprägten Übersetzungsforschung betrachtet werden, die ebenfalls einen wertvollen Zugang für die Analysekapitel bildet.

3

Sprachphilosophische und kulturwissenschaftliche Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

Für die Beschreibung der historischen Produktions-, Publikations- und Rezeptionsbedingungen von Schriftsteller*innen und ihren Texten im Exil stellt die Bedeutung von literarischen Übersetzungen im engeren Sinne, d. h. interlinguale Übersetzungen von literarischen Texten aus ‚einer‘ Sprache in eine ‚andere‘, einen wichtigen Aspekt dar, wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat. Im analytischen Teil dieser Arbeit stehen jedoch überwiegend Exiltexte im Zentrum, die das Thema Übersetzung im Zusammenhang von Flucht und Exil sowohl thematisch als auch ästhetisch aufgreifen. Insofern geht es nicht um eine übersetzungswissenschaftliche Untersuchung von Exiltexten und ihren Übersetzungen,1 sondern vornehmlich um textinterne Schreibweisen und Formen von Übersetzung als Stilmittel. Dennoch bilden die in diesem Kapitel behandelten Übersetzungstheorien verschiedener Provenienz und Ausrichtung wichtige Ausgangspunkte für die literaturwissenschaftlichen Primärtextanalysen zu Hilde Domin, Mascha Kaléko und Werner Lansburgh in den Kap. 5, 6 und 7. Dafür lassen sich folgende, nicht voneinander trennbare Begründungen anführen: Erstens sind Übersetzungstheorien im Allgemeinen und die hier vorgestellten im Besonderen von Interesse, weil sie ein jeweils grundlegendes Verständnis von Sprache, von verschiedenen Sprachen im Verhältnis zueinander, ihren Überschneidungen und ihren Grenzen beinhalten. Zweitens sind einige der vorgestellten Übersetzungstheorien im Kontext von Exil entstanden bzw. von Exilanten geschrieben, sodass sich die darin formulierte Auffassung von Sprache sowie Sprachen in ihrem Zusammenspiel

1Einem solchen Ansatz folgend könnte man etwa analysieren, inwiefern Veränderungen bei Übersetzungen im Vergleich zum originalsprachlichen Ausgangstext entstanden sind und der Frage nachgehen, ob dies auf etwaige Gegebenheiten im Exil zurückzuführen ist (z. B. eine Ausrichtung auf ein Lesepublikum im Exilland durch erläuternde Fußnoten oder ein Glossar; politische Umstände, die ggf. zu Zensur, Kürzungen, Modifikationen, Betonungen gewisser Aspekte geführt haben könnten).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Benteler, Sprache im Exil, Exil-Kulturen 2, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04943-8_3

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3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

im Übersetzungsprozess gegebenenfalls auch konkreter mit der Exilsituation in Beziehung setzen lässt. Drittens kann man insbesondere in Kombination mit den neueren Entwicklungen innerhalb der Übersetzungswissenschaften, die ein Übersetzungsdenken in den Kulturwissenschaften implementieren und damit auch für eine kulturwissenschaftlich geprägte Literaturwissenschaft anschlussfähig sind, das Interesse auch auf die Darstellung von kulturellen Übersetzungsvorgängen und Kulturkonzepten in Exiltexten öffnen. Die sprachphilosophischen Übersetzungstheorien von Benjamin und Flusser sollen in diesem Kapitel ausführlicher besprochen und hinsichtlich des explizit formulierten oder implizit angelegten Zusammenhangs von Übersetzung und Exil untersucht werden. Die konkreten Exilbiografien der Verfasser spielen dabei eher am Rande eine Rolle. Stattdessen lautet die das Erkenntnisinteresse leitende Frage, ob und inwiefern die philosophisch-theoretischen Überlegungen über Übersetzung und Exil konzeptuell miteinander verschränkt sind. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive sind diese Abhandlungen über Übersetzung darüber hinaus aufgrund ihres deutlich literarischen Charakters selbst Analysegegenstand. Ein Blick auf die sprachliche Beschaffenheit der Texte lässt sowohl bei Benjamin als auch bei Flusser eine sehr bildhafte Sprache erkennen. Die Metapher, vom griech. „metaphorein“ – „übertragen“ abgeleitet, ist selbst eine Form der Übersetzung. Vermutlich ist sie auch deshalb eine überaus häufig verwendete Reflexionsfigur für Übersetzungsvorgänge, was es bei Benjamin und Flusser genauer zu betrachten gilt. Nicht zuletzt um die Übersetzungstheorien von Benjamin und Flusser wissenschaftshistorisch zu rahmen und einzuordnen, wird in diesem Kapitel zu Beginn die Entstehung und Entwicklung von Übersetzungstheorie in groben Zügen nachgezeichnet. Selbstverständlich kann hier kein Vollständigkeitsanspruch gelten, da es vornehmlich darum geht, Vorgänger (Abschn. 3.1) sowie Einflüsse und Weiterentwicklungen (Abschn. 3.4) der behandelten Übersetzungstheorien aufzuzeigen.2

3.1 „Einbürgern“, „Verdeutschen“ oder „Verfremden“? Das ethische Potenzial von Übersetzung „Traduttore – Traditore“3: hört man auf dieses alte sprichwortartig verwendete i­talienische Begriffspaar, kann der Übersetzer nur ein Betrüger und Verräter sein. Er ist es nicht nur, weil er niemals erreichen kann, was im Original gegeben ist,

2Für

eine allgemeine Einführung in Übersetzung und Übersetzungstheorie vgl. z. B.: Radegundis Stolze: Übersetzungstheorien. Eine Einführung. 6., überarb. und erw. Aufl. Tübingen 2011. Wichtige Arbeiten auf dem Weg zu einer (bislang älteren) Gesamtgeschichte des Übersetzens stammen von: Hans J. Vermeer: Skizzen zu einer Geschichte der Translation. Frankfurt a. M. 1992; Ders.: Das Übersetzen im Mittelalter. Heidelberg 1996; Ders.: Das Übersetzen in Renaissance und Humanismus. Heidelberg 2000. 3„Traduttore“: Italienisch für „Übersetzer“. „Traditore“: Italienisch für „Verräter“.

3.1  „Einbürgern“, „Verdeutschen“ oder „Verfremden“?

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sondern auch, weil er zumindest teilweise ein Fremder ist, der sich zwischen zwei Welten bewegt, von denen in der Regel eine der jeweils anderen Seite unvertraut erscheint. Denn wird erst ein Übersetzer gebraucht, ist es der Situation i­mmanent, dass ihn auch niemand so genau kontrollieren kann. „Les belles infidèles“ – die untreuen Schönen – war eine seit dem 17. bis ins 19. Jahrhundert in Frankreich geläufige Formulierung, die in gezielter Doppeldeutigkeit auf attraktive Ehebrecherinnen anspielt, und für eine Art von Übersetzung steht, die zugunsten sprachlicher Attraktivität dem Originaltext nicht treu sein muss.4 Darüber hinaus wird Übersetzungen in deutschsprachigen Kontexten nachgesagt, wie sich im Folgenden zeigen wird, sie könnten „einbürgern“, sie können „verdeutschen“, aber auch „verfremden“. Doch was gilt in diesem Zusammenhang als fremd und was heißt eigentlich Treue? Eine für diese Arbeit äußerst bemerkenswerte Eigenschaft von übersetzungstheoretischen Ansätzen aller Zeiten ist, dass sie sich grundsätzlich mit „Fremdheit“ und „Eigenheit“ von Sprache(n) auseinandersetzen. Dies kann in programmatisch politischer Weise stattfinden oder indem immanente Fragen wie die folgenden zugrunde liegen: Was ist die Sprache des Originals? In welche Sprache wird übersetzt? Worin unterscheiden sie sich? Wo hört die eine Sprache auf, wo fängt die andere an? Was passiert, wenn sie sich während des Übersetzungsvorgangs begegnen? Verändert die Sprache des Originals die Zielsprache oder muss sich das Original der Zielsprache in der Übersetzung anpassen? Übersetzung beinhaltet sowohl ein vereinendes als auch ein trennendes Moment zugleich. Sie bewegt sich stets auf dieser Grenzlinie zwischen Sprachen, die sie selbst zu setzen, aber auch zu verschieben und zu durchbrechen vermag. Mit einer solchen, man könnte sagen grundsätzlich sprachkritischen Funktion von Übersetzungstheorie und -praxis geht nicht selten auch eine Positionierung gegenüber Konzepten wie Nation und Kultur einher. Man denke hier etwa an die Diskussion um Nationalsprachen und Nationalliteraturen, die im Folgenden wiederholt eine Rolle spielen wird. Übersetzen und Dolmetschen stehen seit jeher im Zentrum von Kultur- und Sprachkontakten jeglicher Art – etwa im Bereich von Religion, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Kunst. Übersetzungen [sind] von allergrößter Bedeutung gewesen für die Erfindung der Schriften, die Entwicklung der Nationalsprachen und das Entstehen nationaler Literaturen, für

4Vgl. dazu die Monografie von Georges Mounin: Les belles infidèles. Paris 1955. Vgl. insbesondere zum Gebrauch von geschlechtsspezifisch konnotierten Metaphern im Übersetzungsdiskurs seit dem 17. Jahrhundert: Pilar Godayol: Metaphors, women and translation: From les belles infidèles to la frontera. In: Gender and Language 7 (2013). S. 97–116. „The expression les belles infidèles […] not only plays with the phonetical repetition of two words but also expresses the concerns of the period as regards faithfulness and property, the man with regard to the woman and the author with regard to the original text. Both in marriage and translation only a promise of faithfulness can guarantee legitimacy; that is to say, the paternity of the newborn child. What is questioned in both cases is the authority of the father/author“ (S. 100).

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

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die Verbreitung von Wissen und die Ausbreitung politischer Macht, bei der Weitergabe der Religionen und der Übertragung kultureller Werte, beim Verfassen von Wörterbüchern seit der Antike, und nicht zuletzt als Dolmetscher in diplomatischer Mission.5

Nicht nur für die Herausbildung der Nationalsprachen und Nationalliteraturen waren und sind Übersetzungen maßgeblich. Auch für deren stets erforderliche (Neu-)Definition in Abgrenzung zu ‚anderen‘ Sprachen und Literaturen sowie nicht zuletzt zur Überwindung und Auflösung nationalsprachlicher wie nationalliterarischer Begrenzungen und Kanonisierungen ist Übersetzung relevant. Daher lohnt es sich insbesondere, einen genaueren Blick auf die Zeit um 1800 zu werfen, in der diese gegensätzlichen und zugleich sich gegenseitig bedingenden Entwicklungen ihren Ursprung haben. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwiefern (früh-)romantische Übersetzungsdiskurse (Abschn. 3.1.2.1), Friedrich Schleiermachers Übersetzungstheorie (Abschn. 3.1.2.2) und Goethes Konzepte von Übersetzung und Weltliteratur (Abschn. 3.1.2.3) für die Entstehung und Verhandlung von Nationalsprachen und Nationalliteraturen eine besondere Rolle spielen. Ausgangspunkt für die folgende Betrachtung von Übersetzungsgeschichte ist die Grundannahme, dass Übersetzungsreflexion und -theorie nicht in einem wertfreien Raum stattfinden. Kyoung-Jin Lee bezeichnet dies in ihrer 2014 erschienenen Dissertation als das „Ethische der Übersetzung“.6 Sie analysiert die ethische Problematik in deutschsprachigen Übersetzungsdiskursen von Herder über die deutsche Romantik bis hin zu Goethe. Mit theoretischem Bezug zu postkolonialen Ansätzen und Perspektiven der Dekonstruktion zu Alterität und Übersetzung arbeitet sie kritisch heraus, inwiefern sich diese Diskurse zu aktuellen Überlegungen über ein ethisches Verhältnis zum ‚Eigenen‘ und ‚Anderen‘ verhalten. Diese ethische Frage, die in der Übersetzung enthalten ist und gleichzeitig von ihr infrage gestellt wird, erhält eine noch größere Dringlichkeit in Zeiten der Globalisierung, wo einerseits Multikulturalität und Interkulturalität durch den zunehmenden Verkehr zwischen Kulturen gefördert zu werden, andererseits die Kulturen aber auch im Zuge von Modernisierung und Globalisierung homogenisiert und standardisiert zu werden drohen. Angesichts von aktuellen, globalen Problemen von aus politischen und ökonomischen Gründen Emigrierten, Flüchtlingen und Gastarbeitern und von weltweit religiösen und kulturellen Konflikten stellt sich immer dringender die Frage, wie man die andere Kultur verstehen und aufnehmen und wie das Verhältnis des Eigenen zum Anderen aufgebaut sein sollte. Dabei werden auch moderne Kategorien der Gemeinschaftsbildung wie Nation, Ethnie, Rasse, Sprache, usw. infrage gestellt.7

5Stolze,

R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 16. Lee: Die deutsche Romantik und das Ethische der Übersetzung. Die literarischen Übersetzungsdiskurse Herders, Goethes, Schleiermachers, Novalisʼ, der Brüder Schlegel und Benjamins. Würzburg 2014. 7Lee, K.-J: Die deutsche Romantik und das Ethische der Übersetzung (s. Anm. 6). S. 16–17.

6Kyoung-Jin

3.1  „Einbürgern“, „Verdeutschen“ oder „Verfremden“?

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Vor diesem Hintergrund erscheinen zum Beispiel bereits die Bezeichnungen „Original“ oder „Originalsprache“ fragwürdig, weil sie eine Art metaphysischen Ursprung bzw. Genese suggerieren und damit stets eine (Sprach-)Hierarchie nahelegen. Selbst die moderneren und neutraler anmutenden übersetzungswissenschaftlichen Begriffe „Ausgangs-“ und „Zielsprache“ kann man in dieser Hinsicht problematisieren. Einen kritisch-innovativen Umgang mit dieser Problematik findet man etwa bei Lydia He Liu. Sie vermeidet in ihrer Arbeit die translationswissenschaftlichen Termini source language und target language aufgrund der darin mitschwingenden Authentizitätsvorstellungen sowie der teleologischen und einseitigen Bewegungsrichtung.8 Stattdessen verwendet sie die Begriffe host language und guest language, wenn es um Übersetzungen geht. Nach Liu sind diese geeigneter, weil u. a. der zielsprachliche Kontext bedacht wird, d. h. die Übersetzer*innen, Literaturagent*innen und Rezipient*innen werden als Initiator*innen und Vermittlungsstellen im Übersetzungsprozess erkennbar – innerhalb dieser „linguistic transaction by inviting, selecting, combining, and reinventing words and texts from the guest language“9. Die von Liu verwendeten Begriffsalternativen verweisen interessanterweise auf einen neuen Bedeutungsbereich, der besonders für Übersetzung im Kontext von Migration im Allgemeinen und Exil im Speziellen anschlussfähig ist. Das Begriffspaar host language und guest language löst in diesem Zusammenhang eine neue Assoziationskette aus und kann für den analytischen Teil dieser Arbeit und die Auseinandersetzung mit Exiltexten als Referenz herangezogen werden, wenngleich ihre Anwendbarkeit noch zu hinterfragen ist. Vorab lässt sich jedoch auch bei dieser Gegenüberstellung von einer „Gastgeber- oder Hausherrensprache“ und einer „Gastsprache“ – wie es etwas sperrig heißen müsste, wollte man die Begriffe übersetzen – eine gewisse Problematik feststellen, die gerade Exiltexte auf mehreren Ebenen reflektieren. Vielfach verhandeln sie sowohl den existenziellen und materiellen Komplex „aus Haus und Heim vertrieben“ zu sein, „unter anderen Dächern“10 eine Zuflucht finden zu müssen und „in der Fremde/ bei Fremden zu Gast“ zu sein als auch die Aspekte der sprachlichen Exilierung. Die Vorstellung der fremden Muttersprache als Gastgeberin und Hausherrin, die Texte und Worte aus einer anderen Sprache durch Übersetzung (nur) als Gast aufnimmt, aber womöglich niemals ganz ankommen oder gar heimisch werden lässt, legt insofern eine grundlegende Begrenzung der Reichweite und Bedeutung von

8Lydia He Liu: Translingual Practice. Literature, National Culture, and Translated Modernity – China. Stanford 1995. „The idea of source language often relies on concepts of authenticity, origin, influence, and so on, and has the disadvantage of re-introducing the age-old problematic of translatability/untranslatability into the discussion. On the other hand, the notion of target language implies a teleological goal, a distance to be crossed in order to reach the plentitude of meaning; it thus misrepresents the ways in which the trope of equivalence is conceived in the host language, relegating its agency to secondary importance.“ (S. 27). 9Liu, L. H.: Translingual Practice (s. Anm. 8). S. 27. 10Man denke z. B. an Brechts Formulierung „Geflüchtet unter das dänische Strohdach“ (Bertolt Brecht: Svendborger Gedichte. In: Ders.: Gedichte. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1961).

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3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

­ bersetzungen nahe, weil damit nicht zuletzt territoriale Besitzansprüche von Ü Sprachen impliziert oder bestätigt werden. Wenn im Folgenden die Begriffe „Übersetzung“ und „Original“ trotz der genannten Schwierigkeiten weiterhin Verwendung finden, ist dies nicht allein auf bislang mangelnde funktionierende Alternativen zurückzuführen. In erster Linie wird dies damit begründet, dass die Termini in den hier diskutierten Texten selbst benutzt werden und der weitere Gebrauch eine Vergleichbarkeit zwischen übersetzungstheoretischen Ansätzen erleichtert, aber nicht ohne die hier erläuterte kritische Perspektive stets reflektierend mitzudenken. Möglicherweise ergeben sich daraus im Anschluss an die Analysen der literarischen Texte auch Impulse für eine neue Terminologie. Im besonderen Hinblick auf die sprachliche Gestaltung in übersetzungstheoretischen Abhandlungen, vor allem auf zentrale Begriffe wie Übersetzung und Original, aber auch auf Fremdheit, Eigenheit, Kultur und Nation und der damit zusammenhängenden Positionen, werden im Folgenden einige Schlaglichter auf die Übersetzungsgeschichte geworfen. Nach der Benennung der wichtigsten Positionen der älteren Übersetzungstheorie wird die Zeit um 1800 genauer beleuchtet, bevor es dann vorwiegend um Walter Benjamins und Vilém Flusser ­Übersetzungstheorien aus dem 20. Jahrhundert geht.

3.1.1 Vorgeschichte: Die Entstehung von Übersetzungstheorie aus der Praxis Was genau unter den Begriffen „Übersetzen“ und „Dolmetschen“ sowie den damit verbundenen Tätigkeiten verstanden wird, hat sich im Laufe der Geschichte immer wieder verschoben und ist auch bis heute nicht eindeutig definiert.11 Nach gegenwärtigem Verständnis ist jedoch zumindest im deutschsprachigen Raum geregelt, dass „Übersetzen“ bzw. „Übersetzung“ auf Schrift festgelegt ist, während „wir mit ‚Dolmetschen‘ nur noch die mündliche Übertragung gesprochener Mitteilungen“12 meinen. Daraus ergibt sich ein offensichtlicher, aber entscheidender Unterschied zwischen der schriftlichen Übersetzung und dem mündlichen Dolmetschen, ­insofern als „dass die Textvorlage längere Zeit zur Verfügung steht und der Übersetzungstext nach einem ersten Entwurf überarbeitet werden kann.“13

11„Die

Bezeichnungen für die schriftlich fixierte Übersetzerarbeit und die spontane mündliche Sprachmittlung, die wir heute Dolmetschen nennen, variieren in den verschiedenen Sprachen erheblich, sowohl in der oft exotischen Etymologie als auch in der Verwendung.“ (Stolze, R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 14.). Stolze verweist hier beispielhaft darauf, dass das deutsche Wort „Dolmetschen“ seinen Ursprung wahrscheinlich im 2. Jahrtausend v. Chr. in einer kleinasiatischen Sprache habe, in einem nordtürkischen Wort für einen Mittelsmann, der zwischen Parteien vermittelt, die unterschiedliche Sprachen sprechen. 12Stolze, R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 15. 13Stolze, R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 15.

3.1  „Einbürgern“, „Verdeutschen“ oder „Verfremden“?

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Die ältesten Übersetzungen der menschlichen Geschichte, die bis heute erhalten geblieben sind, stammen aus dem 3. Jahrtausend v.Chr.14 In der griechisch-römischen Antike erlangte Übersetzung einen neuen, noch wichtigeren Stellenwert als zuvor, weshalb man von dieser Zeit auch als „erste historisch greifbare Übersetzungsepoche“15 sprechen kann. Die gesteigerte Bedeutung der Vermittlung zwischen den Sprachen hat sicherlich mit den imperialistischen Bestrebungen des antiken Griechenlands wie auch des römischen Reiches zu tun. Mit dem römischen Schriftsteller, Politiker und Philosoph Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) und dem römischen Dichter Horaz (65–8 v. Chr.), die beide auch Übersetzer waren, begann spätestens auch die kritische Reflexion praktizierter Übersetzertätigkeit.16 Cicero vertrat einen eher patriotischen Standpunkt, der sich auch sprachlich darin äußerte, dass er als Übersetzer weniger Worttreue dem Ausgangstext und der Ausgangssprache gegenüber forderte, sondern eine sinngemäße und an die Zielsprache angepasste Wiedergabe, was auch im Zusammenhang mit dem Konzept der aemulatio, der kritisch-konkurrierenden Nachbildung und Überbietung des Vorbildes, zu sehen ist.17 Wenngleich die antike Praxis des Übersetzens große Unterschiede zum Übersetzen seit der Moderne aufweist, entwickelten Übersetzer*innen dieser Zeit einige grundlegende Prinzipien, die weit über ihre eigene Epoche hinaus, teilweise sogar bis heute fortwirken.18 Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich die Übersetzungsschwierigkeiten, mit denen sich ein*e antike*r Übersetzer*in konfrontiert sah, nicht allzu sehr von den eines*r modernen Übersetzers*in unterscheiden: „lexikalische Lücken, semantische Ambivalenzen, divergierende Sprachsysteme, unübersetzbare Idiomatismen, Bilder und Metaphern, metrische Zwänge, glossierungsbedürftige Stellen usw.“19 Obwohl sich antike Übersetzer nicht selten und deutlich ungehemmter als moderne auch über solche Schwierigkeiten hinwegsetzten, entwickelten sie zumindest ansatzweise theoretisch reflektierte Strategien zu deren Überwindung.20 Dazu gehörten zum Beispiel unterschiedliche Verfahren, die Übersetzer im Falle einer lexikalisch bedingten Lücke anwenden können: Auf das Fehlen eines zu übersetzenden Wortes in der Zielsprache könne man entweder mit einem Übersetzungslehnwort (meist ein zielsprachlicher Neologismus), einem Bedeutungslehnwort (neue Bedeutung für ein bereits vorhandenes Wort), der Übernahme eines Fremdwortes (also in der Originalsprache belassen) oder einer

14Vgl. Stolze, R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 15. Dabei handelt es sich um „altbabylonische Inschriftentafeln religiösen Inhalts in sumerischer und akkadischer Sprache“. 15Stolze, R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 17. 16Vgl. Hartmut Böhme: Vorwort. In: Hartmut Böhme, Christof Rapp und Wolfgang Rösler (Hg.): Übersetzung und Transformation. Berlin 2007. S. V–XIII, hier: S. X. 17Vgl. Stolze, R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 18. 18Vgl. Stolze, R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 17. 19Astrid Seele: Römische Übersetzer – Nöte, Freiheiten, Absichten. Darmstadt 1995. S. 17. 20Vgl. Seele, A.: Römische Übersetzer (s. Anm. 19). S. 17.

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

72

Paraphrase (Umschreibung mit mehreren Wörtern in der Zielsprache) reagieren.21 Römische Übersetzer*innen hatten tendenziell den Anspruch, die lateinische Sprache durch Übersetzungen aus dem Griechischen zu bereichern, nicht zuletzt auch um sie „literaturfähig zu machen, die im Griechischen schon vorhandenen literarischen Gattungen auf dem Wege der Übersetzung zu gewinnen.“22 Einen besonderen Status in der Geschichte der Übersetzungspraxis und -theorie nehmen als „heilig“ geltende Texte ein. In der christlichen Spätantike etwa veränderten sich die Ansprüche an das Übersetzen grundlegend, denn man führte eine Trennung zwischen verschiedenen Textarten ein, wobei die heiligen Texte einen speziellen Umgang erforderten. Im Fall von religiösen Texten, wie der Bibel, galt das Original als „heilig“ und in der Übersetzung durfte folglich nichts verändert oder umgestellt werden, da auch die Wortfolge als heiliges Mysterium unangetastet bleiben sollte. Der Kirchenvater und Übersetzer Hieronymus (347–420) unterschied in seinen Aufzeichnungen als einer der ersten grundsätzlich zwischen wörtlicher (verbum de verbo) und sinngemäßer (sensum de senso) Übersetzung. Während er sich überwiegend für die letztere Übersetzungsweise aussprach und sich dabei auch auf Cicero und Horaz berief, ging er für seine lateinische Bibelübersetzung23 strikt als wortgetreuer Übersetzer vor: Ich gebe es nicht nur zu, sondern bekenne es frei heraus, daß ich bei der Übersetzung griechischer Texte – abgesehen von den Heiligen Schriften, wo auch die Wortfolge ein Mysterium ist – nicht ein Wort durch das andere, sondern einen Sinn durch den anderen ausdrücke.24

Im Fall von heiligen Texten sei die sinngemäße Übersetzung unangebracht und nur die wörtliche Übersetzung angemessen. „Wenn es nicht erlaubt ist, Wort für Wort zu übersetzen, ist es viel mehr ein Sakrileg, das Mysterium verhehlt oder überhaupt nicht gekannt zu haben.“25 In diesem Zusammenhang ist auch an die Entstehung der sogenannten „Interlinearversion“ zu denken, „eine zwischen die Zeilen geschriebene Wort-für-Wort-Übersetzung“26, die besonders häufig etwa in frühen mittelalterlichen Handschriften zu finden ist.

21Vgl.

Seele, A.: Römische Übersetzer (s. Anm. 19). S. 24–26. Römische Übersetzer (s. Anm. 19). S. 4. 23Hieronymus lateinische Bibelübersetzung, die zum Teil Übersetzung, zum Teil Revision ist, ist auch unter dem Begriff „Vulgata-Bibel“ bekannt. Für viele Jahrhunderte hatte sie im gesamten katholischen Raum den Status als maßgebliche Übersetzung schlechthin inne. Im hier zitierten Brief an Pammachius geht Hieronymus anhand einzelner Beispiele Übersetzungsunterschieden zwischen der Septuaginta (älteste zusammenhängende Übersetzung der hebräisch-aramäischen Bibel in altgriechische Umgangssprache, „Koine“) und den auf Griechisch verfassten Evangelien nach und argumentiert unter Rückbezug auf das Hebräische, warum er für seine Bibelübersetzung (Vulgata) strikter wortorientiert vorgegangen ist. 24Hieronymus: Brief an Pammachius „Über die beste Art des Übersetzens“. Aus dem Lat. übers. v. Wolfgang Buchwald. In: Hans Joachim Störig (Hg.): Das Problem des Übersetzens. 2. durchges. und veränd. Aufl. Darmstadt 1973. S. 1–13, hier: S. 1. 25Hieronymus: Brief an Pammachius (s. Anm. 24). S. 6. 26Stolze, R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 19. 22Seele, A.:

3.1  „Einbürgern“, „Verdeutschen“ oder „Verfremden“?

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Für seine deutsche Bibelübersetzung betrat Martin Luther (1483–1546) Neuland, indem er sich als Erster für eine freiere, weniger wortgetreue Übersetzung der Heiligen Schrift als üblicherweise erlaubt entschied, wofür ihn einige Zeitgenossen scharf kritisierten. In seinem 1530 veröffentlichten „Sendbrief vom Dolmetschen“27 beschreibt Luther seine Übersetzungstechnik als „verdeutschen“28 – eine stellenweise Loslösung von der Unantastbarkeit des Originals, um den Text an die gesprochene deutsche Sprache anzupassen. „Ich hab mich beflissen im ­Dolmetschen, daß ich rein und klar Deutsch geben möchte.“29 Denn man muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll Deutsch reden, wie diese Esel tun [gemeint sind „Papisten“, Anmerkung: A.B.], sondern man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen, und denselbigen aufs Maul sehen, wie sie reden und darnach dolmetschen; da verstehen sie es denn und merken, daß man deutsch mit ihnen redet.30

Luthers Bibelübersetzung, die bis heute immer wieder als Errungenschaft für die Herausbildung und Entwicklung der deutschen Sprache dargestellt wird, ist auch deswegen interessant, weil sie mit der zuvor deutlichen Trennung zwischen heiliger Schriftsprache (primär Latein) und Umgangssprache bricht bzw. das umgangssprachliche Deutsch der Zeit auch als Literatursprache für heilige Texte einführt. Diese Schlaglichter auf die europäische Geschichte der Übersetzung zeigen, dass die Übersetzungspraxis seit jeher mit einer Auseinandersetzung über die Methoden und Prinzipien des Übersetzens einhergeht, wenngleich es sich dabei noch nicht um umfassende Übersetzungstheorien handelt, die darüber hinaus durch ihre enge Verbindung zur Übersetzungspraxis ohnehin immer in Bewegung bleiben. Es zeichnet sich jedoch ab, dass sich die Abhandlungen über Übersetzung immer wieder um ähnliche Fragen drehen, welche häufig stark vereinfachend den Schlagworten „Treue“ oder „Freiheit“ zugeordnet werden können. Die zahlreichen Anmerkungen zum Übersetzen kreisen im Grunde immer um den grundsätzlichen Streit zwischen der abbildend-wörtlichen und der sinngemäß-übertragenden, also der „treuen“ und der „freien“ Übersetzung, was vielleicht mit einzelnen Beispielen belegt, aber nicht stringent theoretisch begründet wird.31

Josefine Kitzbichler arbeitet heraus, dass diese duale Gegenüberstellung von Beginn an das Prinzip von Übersetzungstypologien schlechthin sei, sich aber letztlich kein übergeordnetes Begriffspaar, auch nicht „treu“ und „frei“, finden

27Der Begriff „Dolmetschen“ bei Luther entspricht dem heutigen, also schriftlichen „Übersetzen“. 28Martin Luther: Sendbrief vom Dolmetschen [1530]. In: Hans Joachim Störig (Hg.): Das Problem des Übersetzens. 2. durchgeseh. und veränd. Aufl. Darmstadt 1973. S. 14–37, hier: S. 15. 29Luther, M.: Sendbrief vom Dolmetschen (s. Anm. 28). S. 20. 30Luther, M.: Sendbrief vom Dolmetschen (s. Anm. 28). S. 21. 31Stolze, R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 21–22.

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

74

lasse, dem alle unterschiedlichen dual geprägten Typologien zugeordnet werden ­können.32 Von der Antike bis heute ist diese Typologie in immer neuen Varianten und Adaptionen weiter geschrieben und den jeweiligen Interessen und Fragestellungen angepasst worden. So hat man Übersetzungen nach ihrem Verhalten zur Fremdheit des Originals als verfremdend bzw. eindeutschend bezeichnet.33

Während „Treue“ und „Freiheit“ einer Übersetzung stets das Verhältnis zum Original beschreiben sollen, bezieht sich das hier erwähnte Begriffspaar „verfremdend“ und „eindeutschend“ dementsprechend auf die Zielsprache beim Übersetzen. Bleibt man dem Original möglichst „treu“, „verfremdet“ man (in unterschiedlichem Grad) die Zielsprache. Soll für die Übersetzung die Zielsprache möglichst nicht verändert werden, muss man mit dem Original „freier“ vorgehen. Zugunsten einer Anpassung an bzw. Integration in die Zielsprache („eindeutschen“) sind dabei möglicherweise durchaus größere Modifikationen des Originals erforderlich. Um Missverständnisse zu vermeiden, soll dabei allerdings ausdrücklich betont sein, dass von Positionierungen gegenüber dem Original weder grundsätzlich noch in eindeutiger Weise auf das Verhältnis zur Zielsprache geschlossen werden kann. Eine Forderung nach „Freiheit“ gegenüber dem Original muss nicht automatisch einer angestrebten Integration bzw. Anpassung an die Zielsprache entsprechen. Nimmt man aber das Begriffspaar „Verfremden“ vs. „Eindeutschen“, macht die Perspektive auf die Zielsprache erneut die ethische und politische Dimension von Übersetzung deutlich, weil damit eine sprachliche Grenzsetzung einhergeht. Solche Übersetzungsmaximen spiegeln stets auch das Verständnis und den Umgang mit einer als ‚eigen‘ empfundenen (National-)Sprache wider. Für den deutschen Sprachraum lohnt es daher, besonders jene Zeit zu betrachten, in der die Vorstellungen von einer deutschen Nationalsprache und Nationalliteratur entstanden sind.

32Vgl.

Josefine Kitzbichler: Nach dem Wort, nach dem Sinn. Duale Übersetzungstypologien. In: Hartmut Böhme, Christof Rapp und Wolfgang Rösler (Hg.): Übersetzung und Transformation. Berlin 2007. S. 31–45, hier: S. 33. 33Kitzbichler, J: Nach dem Wort, nach dem Sinn (s. Anm. 32). S. 31. Der Autorin zufolge sei der Gegensatz von verfremdenden vs. eindeutschenden Übersetzungsverfahren aktueller „etwa in Wolfgang Schadewaldts Unterscheidung von dokumentarischem und transponierendem Übersetzen, in Werner Kollers von transferierendem und adaptierendem Übersetzen oder jüngst in Klaus Reicherts Begriffspaar Assimilation vs. Appropriation aufgegriffen“ worden. Vgl. für eine umfangreichere Übersicht über solche Begriffspaare auch Juliane House: Zwischen den Kulturen: Dialog und Dominanz in der Übersetzung. In: Jörn Albrecht, Heidrun Gerzymisch-Arbogast und Dorothee Rothfuß-Bastian (Hg.): Übersetzung – Translation – Traduction. Neue Forschungsfragen in der Diskussion. Festschrift für Werner Koller. Tübingen 2004. S. 107–125, hier: S. 108.

3.1  „Einbürgern“, „Verdeutschen“ oder „Verfremden“?

75

3.1.2 Zwischen Nationalbewusstsein und Internationalität im Übersetzungsdiskurs um 1800 Die deutsche (Früh-)Romantik war eine Übersetzerepoche. Nahezu alle wichtigen Dichter*innen und Philosoph*innen haben sich auch als Übersetzer*innen betätigt und diese Arbeit reflektiert.34 Einiges, das später vorwiegend Schleiermacher als „Übersetzungsgenius“ zugeschrieben wird, stammt bereits aus der frühromantischen Zeit und ist auf Novalis und die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel zurückzuführen.35

3.1.2.1 Konzepte von Sprache und Übersetzung in der deutschen Frühromantik: Verändernde Übersetzung Das Übersetzungsdenken der Frühromantik unterscheidet sich wie auch die philosophischen und literarischen Diskurse stark von denjenigen der Aufklärung. Ein entscheidender Unterschied zwischen aufklärerischem und romantischem Übersetzungsdenken ist dieser: Wenn man in der Aufklärung das Gebot einer absoluten (Wort-)Treue zum Original hochhielt, beinhaltete dies die Grundannahme, dass nicht nur „jeder Text möglichst originalgetreu übersetzt werden soll, sondern auch, daß jeder literarische Text in eine andere Sprache originalgetreu übersetzt werden kann“36. Von dieser Vorstellung nahmen die frühromantischen Theoretiker, insbesondere F. Schlegel und Novalis Abstand, weil sie nicht mehr an die Erreichbarkeit einer solch identitären Übersetzung glaubten. Ihnen zufolge beruht die Möglichkeit und Notwendigkeit des Übersetzens gerade auf der Verschiedenheit der Sprachen. Hierin folgen sie Herder, der dem Babel-Topos eine positive Wendung gab. In der frühromantischen Übersetzungstheorie wird so der Identitätsbegriff durch den grundlegenderen Differenzbegriff abgelöst. Dies hat sie mit den dekonstruktivistischen Ansätzen gemeinsam.37

In übersetzungswissenschaftlicher Hinsicht argumentiert Holger Siever, die Romantik sei die gemeinsame Basis von Übersetzungstheorien, die sich dem sogenannten „verstehenstheoretischen Paradigma“ zuordnen lassen, wozu er

34Zu

den bekanntesten Frühromantikern, die zugleich Übersetzer waren, gehören Novalis (1772–1801), Hölderlin (1770–1843), August Wilhelm Schlegel (1967–1845), Friedrich Schlegel (1772–1829) und Ludwig Tieck (1773–1853). 35Vgl. Holger Siever: Übersetzen und Interpretation. Die Herausbildung der Übersetzungswissenschaft als eigenständige wissenschaftliche Disziplin im deutschen Sprachraum von 1960 bis 2000. Frankfurt a. M. 2010. S. 92. 36Araceli Marín Presno: Zur Rezeption der Novelle „Rinconete y Cortadillo“ von Miguel de Cervantes im deutschsprachigen Raum. Frankfurt a. M. 2005. S. 114. 37Siever, H.: Übersetzen und Interpretation (s. Anm. 35). S. 92–93.

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3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

sowohl hermeneutische Ansätze (in der Folge Schleiermachers) als auch die Dekonstruktion (in der Folge Benjamins) zählt.38 Unter dem Begriff des verstehenstheoretischen Paradigmas fasse ich die hermeneutischen Theorien des Übersetzens einerseits und die dekonstruktivistischen Theorien andererseits zusammen. Etwas vereinfacht gesagt, fokussieren hermeneutische Theorien den Originaltext, der zum Maßstab guten Übersetzens wird, und bestehen auf […] der Forderung, den Text nicht nur so wie vom Autor intendiert, sondern sogar besser zu verstehen, als der Autor es vermochte. Demgegenüber betonen dekonstruktivistische Ansätze die Freiheit des Übersetzers gegenüber dem Originaltext und lehnen den Sinn-Imperativ ab, weil der Textsinn letztlich nicht einholbar sei.

Die Bezeichnung „verstehenstheoretisches Paradigma“ erscheint mir insofern nicht sehr gut gewählt, als dass Vertreter*innen der Dekonstruktion mit Sicherheit ablehnen würden, sich hier subsumieren zu lassen. Doch anhand dieser Systematisierung ist aufschlussreich, wie Siever an anderer Stelle darlegt, dass diejenigen Übersetzungstheorien, die diesem Paradigma zugeordnet werden, innerhalb der Übersetzungswissenschaften eher randständig sind, weil sie im Gegensatz zu stärker linguistisch geprägten Theorien relativ wenig praxisnah sind. Stattdessen erfreuen sich diese Ansätze, zu denen neben Benjamins auch Flussers gezählt werden kann,39 in philosophischen und literaturwissenschaftlichen Kontexten großer Beliebtheit. Über den Exil-Bezug hinaus werden Benjamin und Flusser nicht zuletzt aufgrund der Eigenschaft, eher (sprach-)philosophisch als linguistisch-translationswissenschaftlich ausgerichtet zu sein, auch in dieser literaturwissenschaftlichen Arbeit als Bezugspunkte herangezogen. Vorerst aber wieder zurück zu der Zeit um 1800: Der frühromantische Übersetzungsdiskurs ist maßgeblich prägend für die ethisch-übersetzungstheoretische Diskussion, weil hier Fragen nach Identität und Differenz in zweierlei Hinsicht aufgeworfen werden: poetologisch und ethisch-politisch. Aus heutiger Perspektive ist der in der deutschen Frühromantik verwendete Übersetzungsbegriff sehr weit gefasst, was im Zusammenhang der romantischen Programmatik einer „progressiven Universalpoesie“40 zu sehen ist. Demnach sei das Übersetzen auch im Sinne von einer über sich hinaus deutenden Bewegung zu verstehen. So wie verschiedene Gattungen der Poesie oder getrennte Wissenschaftsbereiche zusammengebracht werden sollen, sollen auch die Grenzen zwischen Übersetzung und

38Siever, H.: Übersetzen und Interpretation (s. Anm. 35). S. 88. Das sogenannte „verstehenstheoretische Paradigma“ unterscheidet sich stark von den übrigen eher linguistisch geprägten Übersetzungsparadigmen, die Siever aufzählt. 39Vgl. Holger Siever: Flussers Übersetzungstheorie im Lichte der Translationswissenschaft. Rekontextualisierung als Übersetzungskonzept. In: Susanne Klengel und Holger Siever (Hg.): Das Dritte Ufer. Vilém Flusser und Brasilien. Kontexte – Migration – Übersetzungen. Würzburg 2009. S. 191–205. 40Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. In: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler. Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hg. von Hans Eichner. München/Paderborn/Wien 1967. S. 165–255, hier: S. 182.

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Poesie, zwischen Übersetzung und Kritik verschwimmen bzw. ineinander übersetzt werden. Übersetzung erscheint demnach einerseits als Poesie („Am Ende ist alle Poesie Übersetzung“41 (Novalis)) und andererseits als philosophisches „Reflexionsmedium“42 über Dichtung.43 Novalis unterscheidet zwischen grammatischer, verändernder und mythischer Übersetzung. Als „grammatische Übersetzung“ bezeichnet er „Übersetzungen im gewöhnlichen Sinn“, die vor allem „Gelehrsamkeit, aber nur diskursive Fähigkeiten“44 erfordere. Die „verändernde[…] Übersetzung“ hingegen verlange „höchst poetische[n] Geist“, womit Novalis die Bedeutung der Veränderung im Übersetzungsvorgang und damit nicht zuletzt die Nähe von Übersetzer und Dichter betont: „Der wahre Übersetzer dieser Art muß in der That der Künstler selbst seyn […]. Er muß der Dichter des Dichters seyn“45. Der Übersetzer, der ja ein wahrer Künstler sein soll, kann sein Potenzial nicht ausschöpfen, wenn er wie ein Kopist die Vorlage sklavisch nachzubilden versucht. Der kreative Übersetzer muss verändern, um sich dem, was in der Übersetzung zu sagen ist, anzunähern. Novalis und auch Friedrich Schlegel beziehen den Begriff der unendlichen Annäherung nicht mehr – wie noch A. W. Schlegel – auf eine Annäherung an das Original, an den Textsinn oder die Autorintention, sondern sie beziehen ihn auf die Uneinholbarkeit von Sinn.46

Unter dem Begriff der „mythischen Übersetzung“ lässt sich ein „metaphorische[s] Verständnis von Übersetzung im Sinne einer mythischen Weltdeutung“ verstehen, das eher ein „erstrebenwertes Ideal“47 für den Dichter als für den Übersetzer sei. Dies ist als womöglicher Anknüpfungspunkt für Benjamins utopisches Ideal der

41Novalis

an A. W. Schlegel am 30.11.1797. In: Ders.: Briefe und Werke. Hg. von Ewald Wasmuth. Leipzig 1943. Bd. 1. S. 301–303, hier: S. 302. 42Lee, K.-J: Die deutsche Romantik und das Ethische der Übersetzung (s. Anm. 6). S. 113. Den Begriff des „Reflexionsmediums“ prägte Walter Benjamin in seiner Dissertation, die er über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik geschrieben hat (1918/1919; veröffentlicht 1920). „Methodisch beruht die gesamte Kunsttheorie auf der Bestimmung des absoluten Reflexionsmediums als Kunst, genauer gesagt als Idee der Kunst. Da das Organ der künstlerischen Reflexion die Form ist, so ist die Idee der Kunst definiert als das Reflexionsmedium der Formen. In diesem hängen alle Darstellungsformen stetig zusammen, gehen in einander über und vereinigen sich zur absoluten Kunstform, welche mit der Idee der Kunst identisch ist.“ (Walter Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1980. S. 87). 43Man denke in Bezug auf das Reflexionspotenzial von Übersetzung auch an Friedrich Schlegels bekannte Spiegelmetapher: Wie „in einer endlosen Reihe von Spiegeln“ potenziert sich die Reflexion romantischer Poesie immer wieder selbst. (Schlegel, F: Athenäums-Fragmente (s. Anm. 40). S. 182–183). 44Novalis: Blüthenstaub [1798 Athenäum]. In: Hans Joachim Störig (Hg.): Das Problem des Übersetzens. 2. durchges. und veränd. Aufl. Darmstadt 1973. S. 33. 45Novalis: Blüthenstaub (s. Anm. 44). S. 33. 46Siever, H: Übersetzen und Interpretation (s. Anm. 35). S. 95. 47Siever, H.: Übersetzen und Interpretation (s. Anm. 35). S. 94.

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durch unendliche Übersetzungsfragmente hervorzubringenden „reinen Sprache“ denkbar (vgl. Abschn. 3.2).48 Donatella di Cesare betont den fragmentarischen Charakter von Sprachen, der sich in der romantischen Sprachauffassung widerspiegele: „[E]ver since the fall of the Tower [of Babel, Anmerkung: A.B.], it [language, Anmerkung: A.B.] manifests itself historically in an always fragmented and shattered form.“49 Die Frühromantik unterscheidet sich stark von der deutlich nationalistischer geprägten Hoch- und Spätromantik, das müsse laut Siever hervorgehoben werden, weil es auch die Einstellung zu Übersetzung betrifft. „Die Frühromantik ist durch die Stichworte Kosmopolitismus, weltliterarisches Bewusstsein […] charakterisiert, während die Hochromantik durch Nationalismus […] gekennzeichnet ist.“50 Aber auch die Übersetzungskonjunktur der Frühromantik entwickelt sich gerade an der paradoxen Schnittstelle zwischen Weltoffenheit und Nationalbewusstsein. Dies kommt insbesondere anhand von Fragen zu Übersetzung zum Tragen, weil die Beschäftigung mit anderen Sprachen, Kulturen und Literaturen der Welt, also das Übersetzen an sich als besonders „deutsch“ eingeordnet wird. So schreibt Novalis in einem Brief an A.W. Schlegel über dessen Shakespeare-Übersetzung: So lange wir Deutschen übersetzen, so national dieser Hang des Übersetzens ist, indem es fast keinen deutschen Schriftsteller von Bedeutung giebt – der nicht übersetzt hätte […]. Außer den Römern sind wir die einzige Nation, die den Trieb des Übersetzens so unwiderstehlich gefühlt, und ihm so unendlich viel Bildung schuldig sind. Daher manche Aehnlichkeit unserer und der spätrömischen litterarischen Kultur. Dieser Trieb ist eine Indication des sehr hohen, ursprünglichen Karakters des deutschen Volkes. Deutschheit ist Kosmopolitismus mit der kräftigsten Individualität gemischt. Nur für uns sind Übersetzungen Erweiterungen gewesen. Es gehört poëtische Moralität, Aufopferung der Neigung dazu, um sich einer wahren Übersetzung zu unterziehn. – Man übersetzt aus ächter Liebe zum Schönen, und zur vaterländischen Litteratur.51

Dieses Zitat veranschaulicht das Spannungsverhältnis von Nationalbewusstsein und Internationalität, in dem sich der Übersetzungsdiskurs der Frühromantik um 1800 befindet. Die paradox anmutende Einstellung, sich durch Übersetzung

48Benjamin

setzt sich in seiner Dissertation u. a. mit dem selbstreflexiven und dadurch unendlichen Moment der Kunstkritik in der Romantik auseinander und vermutet darin auch eine Verbindung zur Übersetzung: „Vielleicht denkt Novalis, indem er Kritik und Übersetzung einander nah rückt, an eine mediale, stetige Überführung des Werkes aus einer Sprache in eine andere, eine Auffassung, die bei der unendlich rätselhaften Natur der Übersetzung von vornherein ebenso statthaft ist, wie eine andere.“ (Benjamin, W.: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (s. Anm. 42). S. 70). 49Donatella Ester Di Cesare: Utopia of Understanding. Between Babel and Auschwitz. Albany 2012. S. 42. Siehe insbesondere Kap. 3: „Love without Demands“: Translation in the Age of Romantism (S. 41–49). 50Siever, H.: Übersetzen und Interpretation (s. Anm. 35). S. 90. 51Novalis: Brief an A.W. Schlegel vom August 1797. In: Ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Bd. 4: Tagebücher, Briefwechsel, Zeitgenössische Zeugnisse. Darmstadt 1975. S. 237.

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i­nternational und interlingual zu bilden und zu bereichern, sei nationale Eigenart, gar der „ursprüngliche[] Karakter[] des deutschen Volkes“ gipfelt in den Aussagen „Deutschheit ist Kosmopolitismus“ und „[m]an übersetzt aus ächter Liebe […] zur vaterländischen Litteratur“. Die Ansicht, dass Übersetzen etwas charakteristisch „Deutsches“ sei, vertrat auch Friedrich Schleiermacher (1768–1834), der als Begründer der modernen Hermeneutik gilt und ein äußerst einflussreicher Übersetzungstheoretiker war.

3.1.2.2 Verfremdendes Übersetzen und vom „Verpflanzen ganzer Litteraturen“ bei Friedrich Schleiermacher Schleiermacher hat sich besonders deutlich mit der Diskussion um Verfremdung im Übersetzungsvorgang auseinandergesetzt. Wie bereits erwähnt, konnte er in einigen Punkten an die fragmentarischen Übersetzungsgedanken der Frühromantik anschließen. 1813 hielt er einen Vortrag Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens52, den man mit Antonella Nicoletti als „Synthese und Systematisierung der frühromantischen Übersetzungskonzeption zu einer Übersetzungstheorie“53 bezeichnen kann. Darin hat Schleiermacher zunächst verschiedene Dimensionen unterschieden, nach denen ein Text, der übersetzt werden soll, dem Übersetzer und/oder dem Zielpublikum „fremd“ sein kann und damit Übersetzung erforderlich macht: zeitlich, räumlich, durch einen anderen kulturellen Hintergrund bzw. Kontext.54 Interessanterweise beschreibt er also nicht nur interlinguale, sondern auch intralinguale Formen von Übersetzung, die z. B. aufgrund von Phänomenen wie historisch bedingten Sprachveränderungen oder Mundarten praktiziert werden. Der Vortrag konzentriert sich aber auf das, was immer wieder als die Tätigkeit des „eigentliche[n] Uebersezer[s]“55 bezeichnet wird: die Übersetzung aus einer anderen Sprache in die deutsche, im Bereich von Literatur und Wissenschaft. Auf Schleiermacher geht die „in der modernen Übersetzungstheorie im deutschen

52Friedrich Schleiermacher: Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens [1813]. Vortrag am 24.6.1813 in der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin. In: Hans Joachim Störig (Hg.): Das Problem des Übersetzens. 2. durchges. und veränd. Aufl. Darmstadt 1973. S. 38–70. 53Antonella Nicoletti: Übersetzung als Auslegung in Goethes West-östlichem Divan im Kontext frühromantischer Übersetzungstheorie und Hermeneutik. Tübingen/Basel 2002. S. 3. 54Vgl. Schleiermacher, F.: Methoden des Uebersezens (s. Anm. 52). S. 38–39. Entgegen der heute geläufigen Trennung von „Dolmetschen“ als mündlich und „Übersetzen“ als schriftlich geprägtem Vorgang versteht Schleiermacher den Unterschied zwischen diesen beiden Begriffen im thematischen Zugehörigkeitsbereich und erinnert damit eher an die übersetzungswissenschaftliche Unterscheidung von Fachübersetzen und Literaturübersetzen. „Der Dolmetscher nämlich verwaltet sein Amt in dem Gebiete des Geschäftslebens, der eigentliche Uebersezer in dem Gebiete des Wissenschaft und Kunst“ (S. 39). Dolmetschen wird dabei als vorwiegend „mechanischer“ Vorgang gegenüber dem wesentlich anspruchsvolleren und voraussetzungsreicheren Übersetzen in Kunst und Wissenschaft dargestellt. 55Schleiermacher, F.: Methoden des Uebersezens (s. Anm. 52). S. 47.

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Sprachraum wohl am stärksten rezipierte duale Formel“56 zurück. Ihm zufolge gebe es zwei methodische Vorgehensweisen des Übersetzens, die prinzipiell binär gedacht sind und nicht miteinander vermischt werden sollen. „Entweder der Uebersezer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe, und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.“57 Der zweitgenannten Methode zufolge wäre es das Ziel einer Übersetzung, „so zu uebersezen wie der Verfasser in der Sprache der Uebersezung selbst würde ursprünglich geschrieben haben“58. Schleiermacher lehnt diese Methode ab, nicht nur weil sie „unerreichbar“ sei. Wie es für diese Zeit einer sich noch nicht als Staat, sondern primär auf der Einheitsfunktion von Sprache verstehenden (Kultur-) Nation Deutschland charakteristisch war, geht Schleiermacher in der Folge Johann Gottfried Herders und Wilhelm von Humboldts davon aus, dass einer (Mutter-) Sprache59 und damit auch einer Nation bzw. Kultur (er spricht von „Volk“) ein jeweils eigentümlicher „Geist“ innewohne, der gleichfalls aus der Sprache entspringe und sich nicht in eine andere Sprache übertragen lasse, ohne seine „Eigenthümlichkeit“ einzubüßen.60 Die erstgenannte Methode ist das „verfremdende“ Übersetzen. Dies erfordere, so Schleiermacher, zum einen eine gebildete Leserschaft61, und zum anderen sei es notwendig, dass nicht nur vereinzelt, sondern systematisch und breit übersetzt werde, wobei verschiedene Übersetzungen desselben Originals durchaus Berechtigung nebeneinander hätten. Nur so sei es möglich, dass der Leser die Übersetzung nicht lediglich als fremd, als „nicht ganz einheimisch“ wahrnehme, sondern auch ein bestimmtes Gefühl für den Geist der „Ursprache“62 erlange. „Daher erfordert diese Art zu uebersezen durchaus ein Verfahren im großen,

56Kitzbichler,

J.: Nach dem Wort, nach dem Sinn (s. Anm. 32). S. 32. F.: Methoden des Uebersezens (s. Anm. 52). S. 47. 58Schleiermacher, F.: Methoden des Uebersezens (s. Anm. 52). S. 60. 59Vgl. zu Begriff und Begriffsgeschichte von „Muttersprache“ Abschn. 4.1. 60Vgl. dazu Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Mit einem Nachwort Hg. von H. Nette. Darmstadt 1949. Darin heißt es: „Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache, man kann sich beide nicht identisch genug denken.“ (S. 60). Nach Stolze sei Humboldt als Wegweiser dafür zu betrachten, dass sich in der deutschen Romantik eine Vorstellung vom eigentümlichen „Geist der Sprache“ herausbildete. Dies war entscheidend für die in dieser Zeit übliche „allgemeine Übersetzungsmaxime, eine Art idealer Treue zum Originaltext und zum Autor“ herzustellen, „oberstes Gebot war stets, die Stimme des Autors zu Gehör zu bringen.“ (Stolze, R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 25). 61Schleiermacher, F.: Methoden des Uebersezens (s. Anm. 52). S. 49, 51. Aus diesem Grund wurde seinem Übersetzungsdenken z. T. auch „bourgeoiser Kulturelitismus“ vorgeworfen (vgl. Lawrence Venuti: Genealogies of Translation: Schleiermacher. In: Traduction, Terminologie, Rédaction 4/2 (1991). S. 125–150). 62Schleiermacher, F.: Methoden des Uebersezens (s. Anm. 52). S. 57. 57Schleiermacher,

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ein Verpflanzen ganzer Litteraturen in eine Sprache, und hat also nur Sinn und Werth unter einem Volk welches entschiedene Neigung hat sich das fremde anzueignen.“63 Diese Art zu Übersetzen ist für Schleiermacher eine Gratwanderung, insofern als dass es um das Übersetzungsdilemma geht, einerseits die Fremdheit des Originals in der eigenen Sprache zu bewahren, und andererseits die eigene Sprache im Kontakt mit der fremden Sprache nicht zu stark abzuwandeln, damit sie noch als „eigene“ gilt. Die Lösung könne nur eine Sprache sein, die „nicht alltäglich“ ist, „nicht ganz frei gewachsen, vielmehr zu einer fremden Aehnlichkeit hinübergebogen“64. Der Übersetzer müsse dabei einige Schwierigkeiten überwinden, Risiken eingehen, eventuell Abstriche machen und Kritik ertragen, die Schleiermacher anhand folgender Bilder veranschaulicht: Wer möchte nicht lieber Kinder erzeugen, die das väterliche Geschlecht rein darstellen, als Blendlinge? […] Wer wird sich gern gefallen lassen, daß er für unbeholfen gehalten werde, indem er sich befleißiget der fremden Sprache so nahe zu bleiben als die eigene es nur erlaubt, und daß man ihn, wie Eltern, die ihre Kinder den Kunstspringern übergeben, tadelt, daß er seine Muttersprache, anstatt sie in ihrer heimischen Turnkunst gewandt zu üben, an ausländische und unnatürliche Verrenkungen gewöhne!65

Gerade wegen der Verwendung zahlreicher solcher genealogischer Metaphern und Formulierungen, wie insbesondere dem darwinistischen Begriff „Blendlinge“, der an „Bastard“ oder „hybrid“ erinnert, wird Schleiermachers Übersetzungstheorie in der Forschungsliteratur immer wieder auch mit dem Vorwurf des Nationalismus konfrontiert. Anthony Pym kritisiert beispielsweise, dass in Schleiermachers Übersetzungstheorie weder von Grenzbereichen zwischen Sprachen noch näher von der Figur des Übersetzers und damit auch nicht von interkulturellen Identitäten oder Lebensformen die Rede ist.66 Boris Buden betont, dass der Übersetzer bei Schleiermacher auch als eine Art Wächter der Grenzbereiche von deutscher Sprache fungiere, weil er sich stets in der Gefahr bewege, „sich im Fremden zu verlieren und das Eigene zu verraten.“67 Innerhalb von Schleiermachers dualistischem Übersetzungsdenken beinhaltet die verfremdende Übersetzungsmethode aber die Vorstellung einer zumindest bis

63Schleiermacher,

F.: Methoden des Uebersezens (s. Anm. 52). S. 57. F.: Methoden des Uebersezens (s. Anm. 52). S. 55. 65Schleiermacher, F.: Methoden des Uebersezens (s. Anm. 52). S. 55. 66Vgl. dazu Anthony Pym: Schleiermacher and the problem of Blendlinge. In: Translation and Literature 4/1 (1995). S. 5–25. 67„Der Raum der Übersetzung ist nach Schleiermacher ein schwer zu bestimmendes Grenzgebiet zwischen zwei Sprachen, der eigenen und der fremden. Seine Metaphern dienen vor allem dazu, dieses Gebiet […] zwischen der gelungenen und der misslungenen Übersetzung […] abzustecken. Dieses Grenzgebiet ist vor allem ein Gebiet der Angst – der Angst vor einer möglichen Übertretung der ‚feinsten Linie‘, die in der Übersetzung stellvertretend für die ultimative Grenze der Nation qua Sprachgemeinschaft steht.“ (Boris Buden: Der Schacht von Babel. Ist Kultur übersetzbar? Berlin 2005. S. 41). 64Schleiermacher,

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zu einem gewissen Grad bewegten Nationalsprache, innerhalb derer die Übersetzungstätigkeit und der bereichernde Kontakt mit anderen Sprachen „für die stete Spracherneuerung und -erweiterung unentbehrlich“68 ist.69 „[T]ranslation means inviting the most diverse languages and literatures to enter into dialogue, yet without losing their peculiar character.“70

3.1.2.3 Weltliteratur und Übersetzung seit Johann Wolfgang von Goethe Am zeitgenössisch entstandenen Schlagwort „Weltliteratur“ lässt sich das Spannungsverhältnis zwischen Nationalität und Internationalität, die Vorstellung eines „deutschen Kosmopolitismus“, in dem sich Übersetzungsdiskurse um 1800 bewegen, besonders deutlich erkennen. Der Gedanke von einer gesamteuropäischen Literatur oder gar einer Weltliteratur, in der die Deutschen sowie ihre deutsche Sprache und Literatur eine besondere Rolle spielen, findet sich auch bei den Frühromantikern und Schleiermacher. Man zielte darauf, im Projekt der Weltliteratur, mit Übersetzungen aus fremden Nationalliteraturen eine deutsch-internationale Schatzkammer namens Weltliteratur zu gründen. Dahinter steckt einerseits eine kosmopolitische Liebe zu fremden Kulturen, andererseits die Aspiration, das Deutsche als Leitwährung auf weltliterarischen Märkten zu befördern.71

Nicht der Begriff, den auch schon andere vor ihm verwendet haben,72 aber die konzeptualisierte Idee einer solchen „Weltliteratur“, wie er sie gegen Ende seines Lebens entwickelte, ist in erster Linie auf Goethe zurückzuführen.73 „National-Literatur will

68Lee,

K.-J.: Die deutsche Romantik und das Ethische der Übersetzung (s. Anm. 6). S. 171. auch Daniel Weidner: Frevelhafter Doppelgänger und sprachbildende Kraft. Zur Wiederkehr der Anderssprachigkeit in Schleiermachers Hermeneutik. In: Susan Arndt, Dirk Naguschewski und Robert Stockhammer (Hg.): Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin 2007. S. 229–247. 70Di Cesare, D.: Utopia of Understanding (s. Anm. 49). S. 41. 71Lee, K.-J.: Die deutsche Romantik und das Ethische der Übersetzung (s. Anm. 6). S. 135. 72Zuerst hat Christoph Martin Wieland den Begriff „Weltliteratur“ verwendet, aber mit einer noch etwas anderen Bedeutung als Goethe, der den Begriff „in Umlauf und zu Ansehen gebracht“ hat. (Dieter Lamping: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere. Stuttgart 2010. S. 10). 73Vgl. Dieter Lamping: Internationale Literatur. Eine Einführung in das Arbeitsgebiet der Komparatistik. Göttingen/Bristol 2013. S. 30. Lamping macht diesbezüglich darauf aufmerksam, dass Goethes Bemerkungen zu „Weltliteratur“ nicht eindeutig einzuordnen seien, weil er seine punktuellen Äußerungen nicht mehr in einen systematischen Zusammenhang gebracht habe. Zum einen beinhalte die Idee Aspekte von Intertextualität, aber auch die „Zusammenarbeit von Autoren über sprachliche und politische Grenzen hinweg.“ (S. 31). „Goethes Idee der Weltliteratur ist ein Programm literarischer Internationalisierung, die nach seinem Verständnis eine neue Epoche der Literatur schaffen würde. Wenn man sein aktuelles literarisch-soziales und sein historisch-intertextuelles Verständnis von Weltliteratur verknüpft, ergibt sich ein komplexes Konzept. In seinem Zentrum stehen Texte von Autoren, die mit nationalen Kategorien nicht mehr zu beschreiben sind“ (S. 32). 69Vgl.

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jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.“74 Goethes „Weltliteratur“ ist zwar als übernationale kosmopolitische Literatur gedacht, sie bleibt jedoch insofern zum Teil auch mit dem seinerzeit noch relativ neuen Nation(alliteratur)enkonzept verbunden, als dass die besondere Rolle der deutschen Kulturnation für die bzw. in der Weltliteratur betont wird. Insofern ist Goethes Idee einer Weltliteratur nicht als Ablösung von Nationalliteraturen misszuverstehen, denn die beiden Begriffe schließen einander in ihrer Logik nicht aus.75 Was das Übersetzen betrifft, unterscheidet Goethe, der auch selbst übersetzt hat, zwischen zwei Methoden des Übersetzens. Diese Unterscheidung und die Art und Weise ihrer Darstellung erinnert stark an die etwa gleichzeitig entstandene, im vorangegangenen Abschnitt zitierte Betrachtung von Schleiermacher. Während Schleiermacher allgemeiner von „Leser“ und „Schriftsteller“ spricht, die von der einen oder anderen Seite einander entgegen bewegt werden müssten, verwendet Goethe explizit den Begriff der Nation: Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, dass der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, dass wir ihn als den unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung, dass wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände, seine Sprechweise, seine Eigenschaften finden sollen.76

Im zweiten Teil des Zitats, der das Verhältnis „zu dem Fremden“ thematisiert, wird deutlich, dass Übersetzung für Goethes Weltliteraturkonzept eine grundlegende Funktion hat. Mit Fawzi Boubia könnte man sagen, dass die Möglichkeit der Akzeptanz von kultureller Alterität bei Goethe von der Übersetzung abhängt.77 Man könnte aber noch stärker betonen, dass diese Vorstellung bei Goethe auch deutlich mit dem Begriffsfeld und noch relativ neuen Konzept von (Kultur-)Nationen verknüpft ist. In einem Brief schreibt er: [E]ben diese Bezüge vom Originale zur Übersetzung sind es ja, welche die Verhältnisse von Nation zu Nation am allerdeutlichsten aussprechen und die man zur Förderung der vor- und obwaltenden allgemeinen Weltliteratur vorzüglich zu kennen und zu beurteilen hat.78 74Johann

Wolfgang von Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hg. von Peter Boerner. Erg.-Bd. 2: Tagebücher. Hg. von Ernst Beutler. Zürich 1964. S. 468. Hierbei soll es sich um Goethes erste Äußerung des Begriffs handeln, die er am 31.01.1927 in einem Gespräch mit Peter Eckermann tätigte. Im gleichen Jahr benutzte Goethe den Begriff „Weltliteratur“ auch in seiner Zeitschrift Ueber Kunst und Alterthum, die Übersetzungen und Beiträge zu Literatur aus der ganzen Welt beinhaltete (vgl. Lamping, D.: Idee der Weltliteratur (s. Anm. 72). S. 19). 75Vgl. Lamping, D.: Idee der Weltliteratur (s. Anm. 72). S. 60–65. 76Johann Wolfgang von Goethe: Zu brüderlichem Andenken Wielands [1813]. In: Hans Joachim Störig (Hg.): Das Problem des Übersetzens. 2. durchges. und veränd. Aufl. Darmstadt 1973. S. 34–35, hier: S. 35. 77Vgl. Fawzi Boubia: Goethes Theorie der Alterität und die Idee der Weltliteratur. In: Bernd Thum (Hg.): Gegenwart als kulturelles Erbe. Ein Beitrag der Germanistik zur Kulturwissenschaft deutschsprachiger Länder. München 1985. S. 269–301. 78Johann Wolfgang von Goethe: Der Brief an Streckfuß vom 27.1.1827. In: Ders.: Goethes Briefe. Hg. von Karl Robert Mandelkow und Bodo Morawe. Bd. 4: Briefe der Jahre 1821–1832. Hamburg 1967. S. 215.

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3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

Das Verhältnis zu ‚fremden‘ Nationen hängt also in Goethes Weltliteratur-Verständnis maßgeblich von Übersetzung ab, deren höchste Ziele Kenntnis und Toleranz zwischen Nationen zu sein scheinen. Das von Goethe geprägte Konzept der Weltliteratur wurde seitdem weitreichend rezipiert, adaptiert, in seiner Bedeutung auch erweitert und verändert. Nach Lamping sind diese Entwicklungstendenzen möglich, weil Weltliteratur von Beginn an nie eindeutig definierbar und systematisierbar war, denn sie beruht letztlich auf empirischen Beobachtungen. Daher seien die jeweiligen theoretischen Verschiebungen und Akzentuierungen davon, was unter Weltliteratur verstanden und wie dies eingeordnet wird, stets auch vor dem jeweiligen historischen und kulturellen Kontext zu sehen, in dem sie zutage treten.79 So erlebt Weltliteratur aktuell wie kaum ein anderes literaturwissenschaftliches Konzept eine große internationale Aufmerksamkeit und taucht unter den neuen Vorzeichen einer zunehmend globalisierten Welt verstärkt in Diskussionen auf.80 Dies ist nicht zuletzt auf ein großes Forschungsinteresse an Fragestellungen zu grenzüberschreitenden Literaturen zurückzuführen. Gerade mit einem Fokus auf Formen literarischer Inter- und Transnationalität kann man dabei Übersetzungen als Voraussetzungen und Vektoren einer solchen Inter- und Transnationalisierung betrachten. Gleichzeitig wirft der Weltliteraturbegriff im aktuellen kulturpolitischen Übersetzungsdiskurs aber auch Fragen von Machtverhältnissen zwischen Kulturen und modernen kulturellen Vereinheitlichungstendenzen auf. In der jüngeren Forschung wird betont, dass Übersetzung stets Aspekte kultureller und politischer Dominanz beinhaltet. Bereits die Frage, „Wer und was, aus welchen und in welche Sprachen wird überhaupt übersetzt?“, ist von großer kulturpolitischer Relevanz. Dem Philosophen Souleymane Bachir Diagne zufolge sei es daher naiv zu denken, dass Übersetzung stets Transparenz erzeuge: Zum einen sei zu bedenken, dass manche, häufig kleinere Sprachen (und deren Autor*innen), etwa einige des afrikanischen Kontinents, bei globalen Übersetzungsprozessen deutlich unterrepräsentiert sind. Zum anderen könne und dürfe Übersetzung zugunsten vermeintlicher Transparenz Unübersetzbares nicht einfach eliminieren. Stattdessen fordert er ein Denken und Übersetzen, dass sich der Vielheit von

79Vgl.

Lamping, D.: Die Idee der Weltliteratur (s. Anm. 72). S. 114–116. in diesem Kontext auch: David Damrosch: What is World Literature? Princeton 2003. Damrosch argumentiert, Weltliteratur sei nicht nur ein Kanon ausgewählter, meist europäischer „Meisterwerke“, sondern ein dynamischer weltweiter Austauschprozess, der durch Übersetzung beide Seiten bzw. Sprachen und Kulturen bereichert. Vgl. im deutschsprachigen Raum z. B.: Sigrid Löffler: Die neue Weltliteratur und ihre großen Erzähler. München 2014. Wenn Löffler von einer „neuen Weltliteratur“ spricht, meint sie „hybride“ Literatur von Autor*innen und Erzähler*innen, die sich zwischen mehreren Kulturen bewegen. Obwohl sie nicht gänzlich die Topografie dieser als neu bezeichneten Weltliteratur erfassen kann und sich vor allem auf Beispiele im Zusammenhang der ehemaligen Kolonien des British Empire sowie der Bürgerkriegsfolgen konzentriert, gelingt es ihr zu zeigen, dass das beschriebene Phänomen nicht marginal ist, sondern zentral die gegenwärtige Weltliteratur prägt.

80Vgl.

3.1  „Einbürgern“, „Verdeutschen“ oder „Verfremden“?

85

­ prachen permanent bewusst ist.81 Auch die Komparatistin Emily Apter äußert S sich in ihrer Monografie Against World Literature82 den heutigen marktorientierten und an Universalismus orientierten Mechanismen von Weltliteratur kritisch gegenüber, weil darin Unübersetzbares und Fehlübersetztes vielfach übersehen werde und zurück bleibe.83 Für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit lohnt es sich, von der gegenwärtigen Diskussion noch einmal einen Schritt zurückzugehen und sich den Umgang mit dem Weltliteraturbegriff und -konzept im Kontext des Exils seit 1933 anzusehen. Wie in Abschn. 2.1 gezeigt werden konnte, verwendete Walter A. Berendsohn den Weltliteraturbegriff in seinen übersetzungsorientierten sprach- und länderübergreifenden Forschungsarbeiten. Er argumentiert, die weltliterarische Bedeutung von Exilliteratur komme nicht zuletzt erst durch Übersetzung zustande und könne an der Anzahl von Übersetzungen bemessen werden. Wie aber ist die Bezugnahme Berendsohns auf das von Goethe geprägte Konzept vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Geschehnisse von Flucht, Verfolgung und Krieg zu bewerten? Bischoff, die dieses Forschungsdesiderat erstmals konkret benannt hat, stellt heraus, dass sich Berendsohns Verwendung des Begriffs und seine „emphatische Hinwendung“84 zum Konzept von Weltliteratur nicht nur als Bedürfnis erklären lässt, in Zeiten der Bedrohung des kulturellen Erbes mit Goethe an einen großen Repräsentanten einer deutschen Literatur anzuknüpfen, die über Deutschland hinaus wirksam war und die in der Welt für ein ‚anderes Deutschland‘ stehen konnte. Ebenso deutlich scheint doch, dass hier ein Verständnis von Literatur formuliert wird, das ausdrücklich über die Vorstellung nationalkultureller Verwurzelung, Besonderheit und Repräsentanz hinausweist. Nicht das Nebeneinander nationaler Literaturen macht die Weltliteratur, so Berendsohn, diese entsteht erst durch Übersetzung und Verflechtung, die

81Vgl.

Souleymane Bachir Diagne. Keynote Speech: „Translation and the Universal“. 19.05.2017, Hamburg. Internationale Konferenz: „Situated in Translation: Global Media and Cultural Practices“, vom 18. bis 20.05.2017. Organisiert vom Forschungsverbund „Übersetzen und Rahmen. Praktiken medialer Transformationen“. 82Emily Apter: Against World Literature. On the Politics of Untranslatability. London/New York 2013. 83Aus translationswissenschaftlicher Perspektive kritisiert Gauti Kristmannsson, dass viele literaturwissenschaftliche Analysen zu Weltliteratur von einem „naiven Verständnis der Translationspraxis ausgehen und für den Begriff Translation über keine angemessene Definition (oder Definitionen) verfügen.“ Eine „dystopische Sicht“, die „in eine Theorie der Unüberetzbarkeit mündet“, wie Kristmannsson sie bei Apter beobachtet, sei ebenfalls damit zu erklären. „Was die weltliterarische Diskussion daher bereichern würde, wäre eine intensivere Beschäftigung mit der Translationswissenschaft, z. B. mit den Arbeiten von André Lefevre, Hans J. Vermeer, Susan Bassnett, Lawrence Venuti, Antoine Berman u. v. a., die Translation nicht als bloßen Transfer von Texten definieren, sondern viele andere Faktoren berücksichtigen, kulturelle und sprachliche.“ (Gauti Kristmannsson: Die Entdeckung der Weltliteratur. In: Andreas F. Kelletat und Aleksey Tashinskiy (Hg.): Übersetzer als Entdecker. Ihr Leben und Werk als Gegenstand translationswissenschaftlicher und literturgeschichtlicher Forschung. Berlin 2014. S. 347–366, hier: S. 350, 351, 352). 84Bischoff, D.: Beginn einer (trans-)nationalen Exilforschung (s. Kap. 2, Anm. 25). S. 60.

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

86

nicht statisch gedachte Grenzen von Nationalkulturen und ihren Literaturen, sondern stattdessen einen dynamischen Kulturtransfer erkennbar werden lassen.85

Vor allem Berendsohns einleitendes Kapitel „Die ungeschriebene Geschichte der Weltliteratur“86 in seiner Monografie über Martin Andersen Nexø ist in diesem Zusammenhang interessant, weil er darin Goethes Verständnis von Weltliteratur als Ausgangspunkt für seine eigenen Überlegungen verwendet. Er betont, dass Goethe von der „ehrenvolle[n] Rolle des deutschen Volkes in der Weltliteratur“ überzeugt war, die auch in „der eifrigen Übersetzungsarbeit, die man in Goethes Zeit in Deutschland mehr als irgendwo sonst pflegte“87, zu erkennen sei. Nach Goethes Verständnis, so Berendsohn, könne Weltliteratur „keinen allgemeinen Frieden, aber doch die Duldsamkeit zwischen den Völkern fördern.“88 Er zitiert unter anderem eine Textstelle, in der Goethe davon spricht, die Besonderheiten einer Nation seien wie ihre Sprache und Münzsorten, sie erleichtern den Verkehr, ja sie machen ihn erst möglich. Eine wahrhaft allgemeine Duldung wird am sichersten erreicht, wenn man das Besondere der einzelnen Menschen und Völker auf sich beruhen läßt, bei der Überzeugung jedoch festhält, daß das wahrhaft Verdienstliche sich dadurch auszeichnet, daß es der ganzen Menschheit angehört.89

Berendsohn stellt fest, eine wirkliche „Geschichte der Weltliteratur“ sei bis dato ungeschrieben, weil die bisherigen Versuche im Ergebnis zumeist lediglich aneinandergereihte Nationalliteraturen und deren bedeutsamsten Werken seien.90 Doch selbst wenn die hervorragendsten Werke der nationalen Literaturen alle zur Weltliteratur gehörten, so ist mit ihrer Entstehung im Rahmen der nationalen Entwicklung ja nichts über das Geschehen ausgesagt, das sie zu einem festen Bestandteil der Weltliteratur gemacht hat. Die Geschichte der Weltliteratur beginnt eigentlich erst recht, wenn ein Werk die Grenzen des eigenen Landes und dann die der eigenen Sprache überschreitet.91

Wolle man „eine wirkliche Geschichte der Weltliteratur“ schreiben, müsse statt eines Fokus auf die Entstehung der literarischen Werke, die Aufmerksamkeit

85Bischoff,

D.: Beginn einer (trans-)nationalen Exilforschung (s. Kap. 2, Anm. 25). S. 60–61. W. A.: Die ungeschriebene Geschichte der Weltliteratur (s. Kap. 2, Anm. 96). Berendsohn geht in seiner Monografie über den dänischen Schriftsteller Martin Andersen Nexø der Frage nach, „was ihn über die Grenze seines Landes und seiner Sprache hinaus in die Weltliteratur getragen hat.“ (S. 5). 87Vgl. Berendsohn, W. A.: Die ungeschriebene Geschichte der Weltliteratur (s. Kap. 2, Anm. 96). S. 18. 86Berendsohn,

88Vgl. Berendsohn, W. A.: Die ungeschriebene Geschichte der Weltliteratur (s. Kap. 2, Anm. 96). S. 17. 89Zitiert

nach Berendsohn, W. A.: Die ungeschriebene Geschichte der Weltliteratur (s. Kap. 2, Anm. 96). S. 17–18. 90Vgl. Berendsohn, W. A.: Die ungeschriebene Geschichte der Weltliteratur (s. Kap. 2, Anm. 96). S. 18–19. 91Berendsohn, W. A.: Die ungeschriebene Geschichte der Weltliteratur (s. Kap. 2, Anm. 96). S. 19.

3.1  „Einbürgern“, „Verdeutschen“ oder „Verfremden“?

87

v­ielmehr auf deren „Nachwirkung“ gerichtet werden.92 Berendsohn hat sogar eine konkrete Idee, wie dabei vorzugehen wäre: Man müsse die „Wanderungen und Wirkungen“ bedeutender Werke, „die in die meisten Kultursprachen übersetzt sind“93, nachverfolgen. Dabei, so Berendsohn, stelle sich unter Umständen heraus, dass „scheinbar das Nationalste […] größtenteils uraltes Wandergut“94 ist. Insofern ist Berendsohns Weltliteraturverständnis nicht wie noch Goethes deutlich an ein Nationenkonzept gebunden, sondern zielt auf eine grundsätzliche Infragestellung bzw. Überwindung desselben. Statt wie Goethe neben einem kleinen Anteil des „Allgemein-Menschliche[n]“95 an der Überzeugung spezifischer nationaler oder kultureller Eigenheiten festzuhalten, ist bei Berendsohn ein anderer Ansatz zu erkennen. Indem er kulturelle Bewegungen über national(literarisch) e Grenzen hinaus nachverfolgen will, geht es ihm auch darum, schon immer da gewesene und unlösbare kulturelle Verflechtungen und Überlagerungen aufzudecken – ein Ziel, das in Anbetracht der Zeitgeschichte auch als ethische oder gar politische Position aufgefasst werden kann. Gerade in der Zeit letzter Überspannung des Nationalismus wäre es notwendig und nützlich, festzulegen, wie groß, wie mannigfaltig und reich dies Gemeingut der Menschheit ist und wieviel davon sehr tief eingebettet ist in das Bewußtsein breiter Volksschichten.96

Jemand, der sich im Zusammenhang mit „Weltliteratur“ noch etwas ausdrücklicher vom Konzept der Nation löst, ist Berendsohns Zeit- und Schicksalsgenosse Erich Auerbach. Der aus NS-Deutschland zunächst ins türkische Exil geflohene und später in die USA emigrierte Philologe veröffentlichte 1952 seine Philologie der Weltliteratur. Darin stellt Auerbach fest, „[e]s ist Zeit sich zu ­fragen, welchen Sinn das Wort Weltliteratur, in Goethescher Weise auf das Gegenwärtige und das von der Zukunft zu Erwartende bezogen, noch haben

92Vgl.

Berendsohn, W. A.: Die ungeschriebene Geschichte der Weltliteratur (s. Kap. 2, Anm. 96).

S. 19. 93Berendsohn, W. A.:

Die ungeschriebene Geschichte der Weltliteratur (s. Kap. 2, Anm. 96). S. 19. W. A.: Die ungeschriebene Geschichte der Weltliteratur (s. Kap. 2, Anm. 96). S. 20. Hier geht es um mündliche Überlieferung von z. B. Märchen, Sagen, Schwänken, Zaubersprüchen und Sprichwörtern. Aber auch die weltweite und vielschichtige Bedeutung der Bibel, „dies Sammelwerk jüdischer Literatur“, nimmt Berendsohn zum Anlass weltweite kulturelle Verflechtungen zu vermuten, durch Übersetzungen, Umdichtungen, Adaptionen, Überlieferungen, durch Übernahmen biblischer Stoffe und Gestalten. Nicht zuletzt habe der Stil der Bibel „Prosa und Poesie aller Völker sehr nachhaltig beeinflusst.“ (S. 20). Diese Verflechtungen und Überlagerungen seien nicht in einem Werk zusammenzufassen, so Berendsohn weiter. Wäre eine solche Monografie vorhanden und verbreitet gewesen, so ist er überzeugt, „würde die fanatische Rassenhetze es viel schwerer gehabt haben, sich auszubreiten. Wie kann man ausrotten wollen, was unlösliche Grundlage der eigenen Existenz ist, wie weit man sich auch davon entfernt haben mag!“ (S. 20). 95Berendsohn, W. A.: Die ungeschriebene Geschichte der Weltliteratur (s. Kap. 2, Anm. 96). S. 17–18. 96Berendsohn, W. A.: Die ungeschriebene Geschichte der Weltliteratur (s. Kap. 2, Anm. 96). S. 19. 94Berendsohn,

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

88

kann“97. Daraufhin formuliert Auerbach den programmatischen Entwurf einer Weltliteraturwissenschaft, die sich konsequent von den Kategorien des Nationalen bzw. der Nationalliteraturen lösen soll. Jedenfalls aber ist unsere philologische Heimat die Erde; die Nation kann es nicht mehr sein. Gewiß ist noch immer das Kostbarste und Unentbehrlichste, was der Philologe ererbt, Sprache und Bildung seiner Nation; doch erst in der Trennung, in der Überwindung wird es wirksam. Wir müssen, unter veränderten Umständen, zurückkehren zu dem, was die vornationale mittelalterliche Bildung schon besaß: zu der Erkenntnis, daß der Geist nicht national ist.98

Greift man noch einmal Lampings Beobachtung der historisch-kulturellen Prägung in der Diskussion um Weltliteratur auf, lässt sich festhalten, dass sich die wissenschaftlichen Diskurse um Weltliteratur aus dem Kontext des Exils aus NS-Deutschland seit 1933 verstärkt kritisch mit der Kategorie des Nationalen auseinandersetzen. Berendsohn und Auerbach argumentieren zugunsten einer Auflösung national(philologisch)er Denkweisen und plädieren für die Erforschung transnationaler Phänomene der Weltliteratur. Darin unterscheiden sie sich deutlich von Goethes Weltliteraturkonzept, das vor dem Hintergrund der deutschen Literatur um 1800 im Spannungsfeld von Internationalität und Nationalität verhaftet ist. Wie hier in Bezug auf Weltliteraturkonzepte zusammengefasst wurde, ist auch davon auszugehen, dass übersetzungstheoretische Diskurse kontextuell verortet sind. Nachdem in diesem einführenden Kapitel der Übersetzungsdiskurs in Deutschland um 1800 als Ausgangspunkt nachgezeichnet wurde, werden nun zwei Übersetzungstheoretiker in den Blick genommen, die beide Exilanten waren. Es stellt sich die Frage, wie Übersetzungstheorien, in denen das Exil vorausweisend oder rückblickend mitgedacht wird, in Bezug auf Fragen nach sprachlicher, kultureller oder nationaler Originalität bei der Übersetzung reagieren und wie sie sich im Zusammenhang mit der ethischen Dimension von Übersetzung verhalten, etwa zu Vorstellungen von Fremdheit.

3.2 Übersetzung und Exil 1: Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers Die Übersetzung ist die Überführung der einen Sprache in die andere durch ein Kontinuum von Verwandlungen. Kontinua der Verwandlung, nicht abstrakte Gleichheits- und Ähnlichkeitsbeziehungen durchmißt die Übersetzung.99

97Erich

Auerbach: Philologie der Weltliteratur. In: Walter Muschg, Emil Staiger und Walter Henzen (Hg.): Weltliteratur. Festgabe für Fritz Strich zum 70. Geburtstag. Bern 1952. S. 39–50, hier: S. 39. 98Auerbach, E.: Philologie der Weltliteratur (s. Anm. 97). S. 49. 99Walter Benjamin: Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 2.1. Frankfurt a. M. 1977. S. 151.

3.2  Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers

89

Walter Benjamins Leben (1892–1940) war vom Exil gezeichnet.100 Wegen seiner jüdischen Herkunft verließ er nach der Machtübernahme der Nationalsozialist*innen 1933 Deutschland und emigrierte, so wie viele andere, zunächst ins französische Nachbarland. Die kommenden schwierigen Jahre verbrachte er in Paris und unter anderem bei Brecht in dessen Haus im dänischen Exil. Die Kapitulation Frankreichs zwang Benjamin 1940 dazu, das Pariser Exil zu verlassen. Er versuchte, in die USA zu gelangen, wo sich bereits das nach New York emigrierte Frankfurter Institut für Sozialforschung befand. Auf der Flucht vor der Gestapo sah er sich an der spanischen Grenze schließlich seinen Verfolgern ausgeliefert und beging Selbstmord. Benjamins Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers101 entstand bereits 1921, also noch lange bevor er 1933 ins Exil gehen musste, sodass man nicht von einem direkten historischen bzw. biografischen Zusammenhang zwischen seiner eigenen Exilerfahrung und der Entstehung dieses Textes sprechen kann. Christine Schmider, die sich mit Benjamin als Literatur- und Selbst-Übersetzer auseinandersetzt, stellt in ihrem Aufsatz sogar die Beobachtung an, dass Übersetzung für Benjamin seit seinem Leben im Exil völlig den Sinn wie auch die Richtung ändert. Benjamins Arbeiten über Sprachphilosophie und Moderne ist die Übersetzung von Baudelaire und Proust vom Französischen ins Deutsche vorausgegangen, weshalb man ihn als einen der französisch-deutschen Mediatoren der Weimarer Republik betrachten könne. Im Pariser Exil sei angesichts der Unmöglichkeit, auf Deutsch zu publizieren, die Übersetzung seiner eigenen Texte ins Französische das einzige Mittel für ihn gewesen, sich im kulturellen Bereich in Paris sichtbar zu machen.102 „Le sens de la traduction (dans les deux significations du therme) change alors radicalement pour l’exilé.“103 Im Gegensatz zu Schmider stehen hier allerdings nicht die lebensrealen Zusammenhänge mit Übersetzung sowie Benjamins tatsächliche Übersetzungspraxis im Zentrum, sondern seine sprachphilosophischen Überlegungen über Übersetzung, wie er sie in seinem Übersetzer-Aufsatz formuliert. Diesbezüglich lautet meine These, in entgegengesetzter Richtung zu der von Schmiders beobachteten Übersetzungspraxis, dass Benjamin in Die Aufgabe des Übersetzers eine Theorie der Übersetzung entwickelt, die bereits auf einen

100Vgl. zu den Lebensumständen Benjamins z. B. die aktuell erschienene Biografie von Lorenz Jäger: Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten. Berlin 2017. 101Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers [1923]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 4.1. Hg. von Tillmann Rexroth. Frankfurt a. M. 1972. S. 9–21. Im Folgenden zitiert mit der Sigle „AÜ“, alle Seitenangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe. 102Vgl. Christine Schmider: L’exil parisien de Walter Benjamin: traduire pour exister. In: Bernard Banoun, Michaela Enderle-Ristori und Sylvie Le Moël (Hg.): Migration, exil et traduction. Espace francophone et germanophone XVIIIe–XXe siècles. Paris 2011. S. 165–182. 103Schmider, C.: L’exil parisien de Walter Benjamin (s. Anm. 102). S. 165. „Die Richtung / der Sinn der Übersetzung (in beiden Bedeutungen des Ausdrucks) ändern sich also für den Exilierten in radikaler Weise.“ [Übersetzung: A.B.].

90

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

e­ xilischen Zustand vorausweist.104 Meine Lesart ist dabei von Vertreter*innen der Dekonstruktion inspiriert, die sich wiederum durch Benjamin stark beeinflusst sahen. Daran anschließend möchte ich zeigen, inwiefern Benjamins Übersetzungsdenken produktive Anknüpfungspunkte für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Exilliteratur bieten kann, im Speziellen auch für die in dieser Arbeit ausgewählten literarischen Exiltexte. Benjamins Aufsatz Die Aufgabe des Übersetzers wurde erstmals 1923 als Vorwort seiner Übersetzung von Charles Baudelaires Tableaux Parisiens105 veröffentlicht. Benjamin, der bereits 1914 mit seinen Baudelaire-Übersetzungen begonnen hatte, dachte spätestens seit 1920 über dieses Vorwort nach. Der Titel des Aufsatzes erzeugt den Anschein, es handele sich hier womöglich um eine Art programmatische Anleitung des Übersetzens, eine Form von Instruktion für den*die Übersetzer*in von Literatur oder etwa eine konkrete Reflexion von Benjamins eigenen Erfahrungen bei seiner Baudelaire-Übersetzung. Doch tatsächlich ist eine solche Leseerwartung weit gefehlt. Seine sprachphilosophischen Betrachtungen sind keineswegs praktisch angelegt; so kann der Titel Die Aufgabe des Übersetzers durchaus doppeldeutig verstanden werden, insofern als er das Aufgeben des Übersetzers angesichts seiner Aufgabe mitschwingen lässt. Benjamin entwickelt einen neuen, revolutionären Begriff der Übersetzung, der die bisherigen Vorstellungen von einer ‚gelungenen‘ Übersetzung, die sich in der Regel zwischen den Kategorien von „Treue“ und „Freiheit“ bewegen, noch radikaler infrage stellt als es in der Vorgeschichte der Fall war. Er löst sich nicht nur von dem Ideal, dass Übersetzung zum Ziel habe, das jeweilige Original möglichst genau nachzuahmen, um den Inhalt einer Aussage von einer Sprache in eine andere Sprache zu übertragen. Ein etwaiger Inhalt und dessen womögliche Nachahmung entfallen nahezu vollständig als Bezugspunkte. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Benjamins Übersetzungstheorie in den deutlicher an der Übersetzungspraktik orientierten Translationswissenschaften (vgl. dazu Abschn. 3.4.1) weniger rezipiert wurde und wird als es in den Literaturwissenschaften der Fall ist. Dass dies auch auf die sprachliche Gestaltung des Textes selbst, u. a. Benjamins metaphernreiche Schreibweise, zurückzuführen ist, liegt auf der Hand. Hinter dieser Kehrtwende steht bei Benjamin eine Auffassung von Literatur und Dichtung, die nicht oder nicht mehr den Inhalt ins Zentrum stellt. Ausgehend von der Frage, „Was ‚sagt‘ denn eine Dichtung? Was teilt sie mit?“, stellt Benjamin fest: „Sehr wenig dem, der sie versteht.“ (AÜ 9). Das „Wesentliche“ einer Dichtung, so heißt es weiter, „ist nicht Mitteilung, nicht Aussage“, sondern vielmehr „das Unfaßbare, Geheimnisvolle, ‚Dichterische‘“ (AÜ 9). Wenn das Wesentliche einer

104Diesem

Kapitel geht ein publizierter Aufsatz voraus, der für diesen Zusammenhang überarbeitet und umgestellt wurde. Anne Benteler: Walter Benjamins Begriff der Übersetzung – eine neue Perspektive auf Exilliteratur. In: Doerte Bischoff u. a. (Hg.): Exil Lektüren. Studien zu Literatur und Theorie. Berlin 2014. S. 100–111. 105Baudelaire, Charles: Tableaux Parisiens. Aus dem Franz. übers. von Walter Benjamin. Heidelberg 1923.

3.2  Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers

91

­ ichtung nicht aus Mitteilung besteht, folgt daraus für die Übersetzung, dass sie D ebenso wenig durch Mitteilung bestimmt ist wie das O ­ riginal.106

3.2.1 Das Verhältnis der Sprachen zueinander Fern von einer Vermittlung des Inhalts versteht Benjamin Übersetzung als eine Form, die zum Zweck hat, das Verhältnis der Sprachen zueinander darzustellen. Übersetzung ist „zuletzt zweckmäßig für den Ausdruck des innersten Verhältnisses der Sprachen zueinander“, dieses kann sie „unmöglich offenbaren, unmöglich herstellen; aber darstellen, indem sie es keimhaft oder intensiv verwirklicht“ (AÜ 12). Wenn Benjamin in diesem Zusammenhang auch von „Verwandtschaft der Sprachen“ (AÜ 13) spricht, „tut [er] es nie als Komparatist oder Sprachhistoriker“107. Er meint weder eine Verwandtschaft im historischen Sinne von Sprachfamilien noch eine Ähnlichkeit der Sprachen. Das Kriterium der Ähnlichkeit sei deshalb nutzlos für die Übersetzung und keine Übersetzung wäre möglich, „wenn sie Ähnlichkeit mit dem Original ihrem letzten Wesen nach anstreben würde.“ (AÜ 12). Nach Benjamin sind alle Sprachen stattdessen deshalb miteinander verwandt, weil sie gemeinsam auf etwas Höheres hinweisen, nämlich auf das, was er die reine Sprache nennt. Vielmehr beruht alle überhistorische Verwandtschaft der Sprachen darin, daß in ihrer jeder als ganzer jeweils eines und zwar das selbe gemeint ist, daß dennoch keiner einzelnen von ihnen, sondern nur der Allheit ihrer einander ergänzenden Intentionen erreichbar ist: die reine Sprache. (AÜ 13)

Diese reine Sprache steht für Benjamin, zumindest hat es den Anschein, am Ende einer Entwicklung. Er spricht vom „heilige[n] Wachstum der Sprachen“, die „bis ans messianische Ende ihrer Geschichte wachsen“ (AÜ 13) und schließlich in den „vorbestimmten, versagten Versöhnungs- und Erfüllungsbereich der Sprachen“ (AÜ 15) eintreffen. Die Formulierung, dass der Zustand der Erlösung108 „versagt“ bleibt, macht aber deutlich, dass dieser niemals erreichbar ist, also eine Utopie bleiben muss.

106Vgl. Jacques Derrida: Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege. In: Alfred Hirsch (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion. Frankfurt a. M. 1997. S. 119–165, hier: S. 135. 107Derrida, J.: Babylonische Türme (s. Anm. 106). S. 142. 108Vgl. zu dem Aspekt der „Erlösung“ bezüglich der reinen Sprache bei Benjamin die Monografie der Philosophin Di Cesare, D. E.: Utopia of Understanding (s. Anm. 49). Interessant ist hier insbesondere Kap. 3 „Translation and Redemption“, in dem Di Cesare Benjamins Übersetzungstheorie vor dem Hintergrund jüdischer Tradition liest. „For Benjamin, translating is redeeming“, schreibt sie und betont, dass Erlösung im jüdischen Verständnis nicht der rückwärtsgerichtete Weg zum Original sei. Die messianische Bedeutung der Übersetzung sei folgendermaßen zu verstehen: Ausgehend von „Babel and the diaspora of languages“, „from the diversity of languages, the unity is not projected toward the origin, toward a lost Edenic unity to be restored. In the wake of Jewish hermeneutics, and of the positive meaning that it attributes to fragmentation, dispersal, and incompleteness, the unity is sought in the future rather than the past.“ (S. 81).

92

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

De Man zufolge gibt es die reine Sprache nur in ihrer Disjunktion beziehungsweise Differenz.109 In dieser Differenz zur reinen Sprache versucht die Übersetzung laut Derrida „die Affinität zwischen den Sprachen bemerkbar zu machen, auszuzeichnen, ihre Markierung zu markieren; sie versucht ihre eigene Möglichkeit auszustellen.“110 Benjamins reine Sprache lässt sich daher als eine Art Relationsbegriff fassen, der darüber hinaus schwer oder sogar unfassbar bleibt. Worauf sie in der Übersetzung zielen, jede einzelne Sprache und alle Sprachen gemeinsam mit ihren Meinungen, ist die Sprache selber als babylonisches Ereignis. Sie zielen auf eine Sprache, die weder eine Universalsprache im Leibnizschen Sinne ist noch gar die natürliche Sprache einer einzelnen abgesonderten, für sich genommenen Sprache; sie zielen auf die Sprachlichkeit der Sprache, auf die Sprache als solche, sie zielen auf jene Einheit ohne Selbst-Identität, die bewirkt oder bedingt, daß es Sprachen gibt und daß jenes, was es gibt, eine Vielfalt von Sprachen ist.111

Bei Carol Jacobs heißt es dazu: „Die ‚reine Sprache‘ (pure language) […] weist nicht auf die Apotheose einer äußersten und letzten Sprache, sondern eher auf das, was ausschließlich (purely) Sprache ist – nichts als Sprache.“112 Wahrscheinlich haben unter anderem seine Formulierungen bezüglich der Idee einer reinen Sprache dazu geführt, dass Benjamin in der Forschung lange Zeit auf einen „messianischen“ Grundton reduziert und teilweise deshalb missverstanden oder sogar als rückständig kritisiert wurde.113 Eine solche Perspektive aber verkennt den innovativen Charakter dieser nun fast hundert Jahre alten Überlegungen.

109Vgl. Paul de Man: Schlußfolgerungen. Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers“. In: Alfred Hirsch (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion. Frankfurt a. M. 1997. S. 182–227, hier: S. 208. 110Derrida, J.: Babylonische Türme (s. Anm. 106). S. 143. 111Derrida, J.: Babylonische Türme (s. Anm. 106). S. 159. 112Carol Jacobs: Die Monstrosität der Übersetzung. In: Alfred Hirsch (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion. Frankfurt a. M. 1997. S. 166–181, hier: S. 171. Bei den Angaben in Klammern handelt es sich um Anmerkungen des*r Übersetzers*in. 113So spricht man beispielsweise von der „messianische[n] Übersetzungstheorie Benjamins […], gemäß welcher die Übersetzung die Verwandtschaft der Sprachen aufscheinen läßt und diese auf das Ende ihrer Geschichte in der reinen Sprache hin öffnet.“ (Hans-Jost Frey: Der unendliche Text. Frankfurt a. M. 1990. S. 32). Auch Paul de Man stellt fest: „Der erste Eindruck, den Sie von Benjamins Text erhalten, ist der einer messianischen, prophetischen Verkündung“ (de Man: Schlußfolgerungen (s. Anm. 109). S. 187) und „so dürfte Benjamin auf den ersten Blick als äußerst rückschrittlich erscheinen. Er würde […] als auf religiöse Weise messianisch erscheinen […]. Tatsächlich ist er dafür kritisiert worden.“ (De Man, P.: Schlußfolgerungen (s. Anm. 109). S. 186–187). Diesbezüglich macht Derrida aber deutlich: „Die religiöse Schlüsselsprache erweist sich hier als wesentlich“, denn der heilige Text funktioniert bei Benjamin essenziell als „das reine Urbild der reinen Übersetzbarkeit“, „als das ideale Maß aller Übersetzung.“ (Derrida, J.: Babylonische Türme (s. Anm. 106). S. 160–161). Di Cesare macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass es ein vielfach wiederholter Fehler sei, zu glauben, „that Jewish hermeneutics aspires to regain the lost language of paradise.“ (Di Cesare, D. E.: Utopia of Understanding (s. Anm. 49). S. 92).

3.2  Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers

93

Wie im Folgenden dargestellt wird, holt Benjamin die Übersetzung aus ihrem sekundären Status und erhebt sie zu einem elementaren Schlüsselbegriff, weil sie das Original zu aktualisieren vermag. Wie genau dies zu verstehen ist und inwiefern dabei exilische Denkfiguren zum Tragen kommen, wird im nächsten Abschnitt betrachtet.

3.2.2 Übersetzung als Exil? Das Verhältnis, in welchem Original und Übersetzung zueinander stehen, beschreibt Benjamin folgendermaßen: Wie nämlich Scherben eines Gefäßes, um sich zusammenfügen zu lassen, in den kleinsten Einzelheiten einander zu folgen, doch nicht so zu gleichen haben, so muß anstatt dem Sinn des Originals sich ähnlich zu machen, die Übersetzung liebend vielmehr und bis ins Einzelne hinein dessen Art des Meinens in der eigenen Sprache sich anbilden, um so beide wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen. (AÜ 18)

Dieses Bild von den Scherben eines Gefäßes darf nicht insofern fälschlich interpretiert werden, als dass das Original das zerschlagene Gefäß sei und die Scherben metaphorisch für die Übersetzungen desselben stünden. Stattdessen versinnbildlicht diese Metapher den zentralen Aspekt von Benjamins Übersetzungstheorie, weil im Bild des zerbrochenen Gefäßes sowohl das Original als auch die Übersetzung Scherben sind.114 Sie befinden sich auf der gleichen Ebene und das ist entscheidend für Benjamins Auffassung von Übersetzung. Er geht von der Übersetzung nicht (mehr) als etwas dem Original gegenüber Sekundärem aus. Diese Aufwertung der Übersetzung überträgt Derrida daran anschließend auch auf Übersetzer*innen: „Ich möchte deutlich machen, daß jeder Übersetzer in der Lage ist, von der Übersetzung zu sprechen; er kommt nicht an zweiter Stelle, seine Stellung ist nicht zweitrangig.“115

114Das Bild des zerbrochenen Gefäßes ist durchaus auch im Zusammenhang mit der jüdischen Tradition der lurianischen Kabbala und dem „Bruch der Gefäße“ zu sehen. Auf diesen Zusammenhang, die kabbalistische Bedeutung der Gefäß-Metapher, macht etwa Carol Jacobs in ihrem Aufsatz zu Benjamins Übersetzer-Aufsatz aufmerksam. Dabei bezieht sie sich zunächst auf Gershom Scholem (vgl. ders.: Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleine Beiträge. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1983, S. 66), der in einem Kommentar zu Benjamins Engel der Geschichte eine Beziehung zum Begriff des Tikkun in der lurianischen Kabbala herstellt (vgl. Carol Jacobs: Die Monstrosität der Übersetzung. In: Hirsch (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion, S. 166–181, hier: S. 179–180). Vgl. zum Aspekt der Kabbala in der jüdischen Mystik auch Sonja Dickow: Jüdische Exiltraditionen in der Lyrik von Nelly Sachs. In: Doerte Bischoff u. a. (Hg.): Exil Lektüren. Studien zu Literatur und Theorie. Berlin 2014. S. 44–55, hier: S. 45–47. 115Derrida, J.: Babylonische Türme (s. Anm. 106). S. 140.

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

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Übersetzung und Original sind zusammen Bestandteile von etwas Größerem, das sie aber niemals und genauso wenig wie die reine Sprache erreichen oder zusammenfügen können. Elementar ist, dass das Gefäß zerbrochen ist und es sich bei den Scherben um Bruchstücke handelt, denn Benjamin „sagt damit also nicht, daß die Bruchstücke eine Totalität konstituieren, er sagt: die Bruchstücke sind Bruchstücke und bleiben wesentlich fragmentarisch. Sie folgen einander, metonymisch, und werden nie eine Gesamtheit bilden.“116 Daraus folgt auch, dass der Ursprungstext, das Original, bereits fragmentarisch ist und dass die Übersetzung wiederum ein Fragment dieses Fragments ist. Übersetzungen sind Fragmente, die das Original immer wieder neu und anders beschreiben. Das Original war nicht einfach zuerst da und kann nun rekonstruiert werden. Es ist vielmehr nur aus der Perspektive der Übersetzung zugänglich. „Bei Benjamin steht die Fragmentierung am Anfang; in bezug auf jene reine Sprache ist jedes Werk gänzlich zerstückelt, es hat nichts mit ihr gemein, und jede Übersetzung ist gänzlich zerstückelt in ihrem Bezug auf das Original.“117 Insofern könnte man mit de Man sagen, dass das Original auch schon eine Übersetzung ist und die Übersetzung somit eine Übersetzung der Übersetzung. Das Original ist also nur im Verhältnis zur Übersetzung ein ­Original. Die Übersetzung ist das Fragment eines Fragments, sie zerbricht das Bruchstück – das Gefäß zerbricht also immer wieder aufs neue –, und nie fügt sie es wieder zusammen; es gab von vorneherein kein Gefäß, oder wir besitzen keine Kenntnis von diesem Gefäß, oder kein Bewußtsein, keinen Zugang zu ihm […].118

Die „Aufgabe“ des Übersetzers ist daher tatsächlich auch im Sinne von „etwas aufgeben“ zu verstehen. Will der Übersetzer das rekonstruieren oder imitieren, was im Original gegeben war oder ist, so muss er scheitern, denn es gibt kein eindeutig fassbares, feststehendes Original. Diese für Benjamin typische, im Begriff „Aufgabe“ verankerte und unauflösbare Dualität, die bewusst beide Seiten mitdenkt, verbirgt sich bereits eindrucksvoll im Titel des Aufsatzes. [S]o müssen wir diesen Titel mehr oder weniger als Tautologie lesen. Aufgabe (engl.: task) kann sich auch auf den beziehen, der aufgeben muß. […] In diesem Sinn handelt es sich auch um die Niederlage, das Aufgeben des Übersetzers. Der Übersetzer muß aufgeben angesichts der Aufgabe, das wiederzufinden, was im Original gegeben war.119

Deshalb erscheint es nicht zuletzt auch sinnvoll, Walter Benjamins Essay im Sinne eines mise en abyme selbst als Übersetzung zu betrachten, denn der Text führt vor,

116De

Man, P.: Schlußfolgerungen (s. Anm. 109). S. 206–207. Man, P.: Schlußfolgerungen (s. Anm. 109). S. 207. 118De Man, P.: Schlußfolgerungen (s. Anm. 109). S. 207. 119De Man, P.: Schlußfolgerungen (s. Anm. 109). S. 192. 117De

3.2  Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers

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worüber er spricht.120 Er ist sein eigenes Beispiel und ist somit selbst ein „Akt der Übersetzung“121. In die „Aufgabe des Übersetzers“ geraten Definitionen eher aus der Bahn, als daß sie festgesetzt würden, denn – und der Aufsatz ist selbst eine Art unheimlicher Übersetzung – weder gilt die Sorge dem Verständnis durch den Leser, noch geht es dem Wesen nach um Mitteilung.122

Derrida liest Benjamins Text zunächst in der französischen Übersetzung123 von Maurice de Gandillac und geht in seiner Lektüre vom biblischen Mythos des Turmbaus zu Babel aus.124 Er sieht die Übersetzung und den Übersetzer zusätzlich zu den bereits genannten Bedeutungen des Wortes „Aufgabe“ im Komplex von Schuld und Strafe als Resultat der babylonischen Sprachverwirrung. Derrida zufolge werden „viele Bedeutungen zu einem Netz verwebt“125: „Pflicht, Soll(en), Schuld(en), Belastung, Zins, Steuer, Erblast, Nachlaßbürde; edle Verpflichtung und doch nur Fronarbeit auf halbem Wege zu Schöpfung, unendliche Aufgabe, wesentliche Unvollständigkeit“126. Es lässt sich festhalten, dass Übersetzung bei Benjamin im übertragenen Sinn ihren Ursprung oder ihre Heimat niemals in einem eindeutigen Original finden kann. Bei seiner Idee einer reinen Sprache geht es im Wesentlichen darum, „diese Bewegung, dieses Irren der Sprache, das nie ans Ziel gelangt, das in bezug auf das, was es zu erreichen meinte, immer verschoben ist“127, herauszustellen. Ohne fest stehenden heimatlichen Ursprung, zu dem eine Rückkehr ohnehin nicht möglich ist, und immer in der Fremde weilend, verweist seine Übersetzungstheorie

120De Man, der sich mit den Übersetzungen von Benjamins Übersetzer-Aufsatz beschäftigt, stellt fest: „Der Text über die Übersetzung ist selbst eine Übersetzung, und die Unübersetzbarkeit, die er von sich selbst erwähnt, ist in seiner Textur heimisch und wird jeden heimsuchen, der ihn seinerseits zu übersetzen versucht, so wie ich es eben jetzt versuche und scheitere. Der Text ist unübersetzbar: […] er ist ein Beispiel für das, was er darlegt, er ist im technischen Sinn ein mise en abyme, eine Erzählung innerhalb der Erzählung darüber, was er selbst aussagt.“ (De Man, P.: Schlußfolgerungen (s. Anm. 109). S. 200). 121Jacobs, C.: Die Monstrosität der Übersetzung (s. Anm. 112). S. 166. 122Jacobs, C.: Die Monstrosität der Übersetzung (s. Anm. 112). S. 166. 123Walter Benjamin: La tâche du traducteur. In: Ders.: Mythe et violence. Traduit par Maurice de Gandillac. Paris 1971. Interessanterweise lässt das französische „la tâche“ (im Deutschen „Aufgabe“ oder „Arbeit“) immer auch an „la tache“ erinnern, was „Fleck“, „Makel“ oder „Fehler“ bedeutet. 124„Von seiner Höhe (des Hochmuts) herab überwacht und überrascht Babel ständig meine Lektüre: ich übersetze, übersetze die Übersetzung von Maurice de Gandillac, die Übersetzung eines Textes, den Benjamin als Vorwort zu einer Übersetzung geschrieben hat und den er zum Anlaß nimmt darzutun, wozu sich ein Übersetzer verpflichtet und worin er eingebunden ist.“ (Derrida, J.: Babylonische Türme (s. Anm. 106). S. 139). 125Derrida, J.: Babylonische Türme (s. Anm. 106). S. 156. 126Derrida, J.: Babylonische Türme (s. Anm. 106). S. 157. 127De Man, P.: Schlußfolgerungen (s. Anm. 109). S. 208.

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

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damit auf einen nomadischen, wenn nicht sogar exilischen oder diasporischen Zustand. Bedarf aber das Original einer Ergänzung, ruft es nach ihr und ruft es sie herbei, so deshalb, weil es ursprünglich nicht fehler- und makellos ist, nicht voll, vollständig, identisch mit sich. Von Anfang an, im Ursprung bereits des zu übersetzenden Originals, findet ein Fall und eine Verbannung statt, gibt es Exil.128

Eine solche Lesart mag zunächst frappierend erscheinen, weil Benjamins metaphorische Sprache häufig durch sprachbildliche Analogien zur Natur Konzepte von Verwurzelung, Wachstum, Abstammung und Ganzheit nahelegt. In Bezug auf die reine Sprache etwa heißt es, in der Übersetzung „wächst das Original in einen gleichsam höheren und reineren Luftkreis der Sprache hinauf, in welchem es freilich nicht auf die Dauer zu leben vermag, wie es ihn auch bei weitem nicht mit allen Teilen erreicht“ (AÜ 14). Übersetzung ist in diesem Bild nicht als einfaches Wachstum lesbar, obwohl die Formulierung des Hinaufwachsens daran zunächst erinnert. Denn das Original erreiche den neueren „Luftkreis“ „nicht mit Stumpf und Stiel, aber in ihm steht dasjenige, was an einer Übersetzung mehr ist als Mitteilung. Genauer läßt sich dieser wesenhafte Kern als dasjenige bestimmen, was an ihr selbst nicht wiederum übersetzbar ist.“ (AÜ 15). Grund für die Unmöglichkeit des Übersetzens der Übersetzung sei, dass sich Original und Übersetzung deutlich unterscheiden, was „das Verhältnis des Gehalts zu Sprache“ (AÜ 15) betrifft. Diese Verschiedenheit beschreibt Benjamin metaphorisch: „Bilden [Gehalt und Sprache, Anmerkung: A.B.] im ersten eine gewisse Einheit wie Frucht und Schale, so umgibt die Sprache der Übersetzung ihren Gehalt wie ein Königsmantel in weiten Falten.“ (AÜ 15). Die Sprache der Übersetzung bleibe „ihrem eigenen Gehalt gegenüber unangemessen, gewaltig und fremd“ (AÜ 15) und ist deshalb in ihrer Gebrochenheit auch nicht mehr übersetzbar. Übersetzung verpflanzt also das Original in einen wenigstens insofern – ironisch – endgültigeren Sprachbereich, als es aus diesem durch keinerlei Übertragung mehr zu versetzen ist, sondern in ihn nur immer von neuen und an andern Theilen erhoben zu werden vermag. (AÜ 15)

Carol Jacobs spricht über Benjamins Übersetzer-Aufsatz von einem „metaphorischen Klima“129, in dem die Übersetzung aus dem Original aufzublühen scheint. Wie eine genauere Betrachtung der hier erwähnten sprachlichen Bilder zeigt, ist es jedoch nur eine „scheinbar üppige[] Blüte“. „Die natürlichen Metaphern für die Übersetzung tragen keine Früchte – im Gegenteil.“130

128Derrida,

J.: Babylonische Türme (s. Anm. 106). S. 145. C.: Die Monstrosität der Übersetzung (s. Anm. 112). S. 167. 130Jacobs, C.: Die Monstrosität der Übersetzung (s. Anm. 112). S. 167. 129Jacobs,

3.2  Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers

97

[D]er Text steckt voller Tropen, und er wählt Tropen, die die Illusion von Totalität vermitteln. Er scheint in die tropologischen Irrtümer zu verfallen, die er verurteilt. Der Text benutzt unablässig Bilder des Säens, des Reifens, der Harmonie, er benutzt das Bild des Kerns und der Schale […] – die aus Analogien zwischen Natur und Sprache abgeleitet zu sein scheinen, während ständig die Behauptung vorgebracht wird, daß es solche ­Analogien nicht gibt.131

Obwohl die Übersetzung damit letztlich niemals zum Original vordringen kann, wird mit ihr „das Original in Bewegung versetzt, um es zu entkanonisieren, ihm die Bewegung der Fragmentierung, ein irrlichtendes Wandern, eine Art permanenten Exils zu verleihen.“132

3.2.3 Übersetzungen als dynamische Wandlungen des Originals Die Instabilität des Originals und der daraus folgende nomadische oder gar exilische Charakter der Übersetzung bergen ein immenses dynamisches Potenzial. So betont Derrida hinsichtlich Benjamins Gefäß-Metapher, dass das fragmentierte Gefäß, das sich niemals ganz vervollständigen lässt, nach außen geöffnet bleibt. Das Gefäß ist mit sich eins und zugleich nach außen offen: diese Öffnung (er)öffnet die Einheit, sie ist ihre Möglichkeit und verbietet, daß sie zur Ganzheit wird. Sie erlaubt ihr zu empfangen und zu geben.133

In Benjamins Bild gehe es „um eine Vergrößerung durch Zusammenfügung und Verfugung (das Fügen folgt den gebrochenen Linien des Bruchstücks)“134. Das Original werde also nicht einfach reproduziert, vielmehr wachse es in der Übersetzung. „Die Übersetzung ist in Wahrheit ein Moment im Wachstum des Originals; das Original […] ergänzt sich selber und vervollständigt sich, indem es sich vergrößert.“135 Original und Übersetzung stehen demzufolge in einem prozesshaften Wechselverhältnis der Bewegung, Wandlung und Erneuerung. Übersetzungsprozesse sind nach Benjamins Verständnis extrem dynamisch. Die Beweglichkeit des Originals, das selbst niemals eindeutig fixier- oder festlegbar ist, eröffnet erst die Möglichkeit einer permanenten Veränderung im Übersetzungsprozess.

131Jacobs,

C.: Die Monstrosität der Übersetzung (s. Anm. 112). S. 204. de Man: The Resistance To Theory. Minneapolis/Minnesota 1986. S. 92. 133Derrida, J.: Babylonische Türme (s. Anm. 106). S. 147. 134Derrida, J.: Babylonische Türme (s. Anm. 106). S. 146. 135Derrida, J.: Babylonische Türme (s. Anm. 106). S. 145. 132Paul

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

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Die Übersetzung befindet sich damit im Wandel der Sprache(n) insgesamt. „Denn wie Ton und Bedeutung der großen Dichtungen mit den Jahrhunderten sich völlig wandeln, so wandelte sich auch die Muttersprache des Übersetzers“ (AÜ 13). Die Sprache des Originals unterliegt einer dauerhaften Wandlung über die Zeit hinweg, deren Ausprägungen sich in dessen Übersetzungen offenbaren. Als „stets erneute späteste und umfassendste Entfaltung“ (AÜ 11) sind Übersetzungen im Sinne Benjamins zu verstehen als Aktualisierungen des Originals. Sie aktualisieren das Original und sind damit einhergehend imstande es zu verändern, denn „das Original selbst […] ist in einen Prozeß der Veränderung einbegriffen. Gegeben ist es in der Veränderung; es gibt sich hin, indem es sich verändert […]. Das Original lebt und überlebt in der Wandlung“136. Die Übersetzung transformiert auf der anderen Seite auch die Zielsprache. Benjamin zitiert gegen Ende seines Aufsatzes Rudolf Pannwitz, dessen Worte genau diesen Gedanken aufnehmen: unsre übertragungen auch die besten gehn von einem falschen grundsatz aus sie wollen das indische griechische englische verdeutschen anstatt das deutsche zu verindischen vergriechischen verenglischen. sie haben eine viel bedeutendere ehrfurcht vor den eigenen sprachgebräuchen als vor dem geiste des fremden werks … der gründsätzliche irrtum des übertragenden ist dass er den zufälligen stand der eignen sprache festhält anstatt sie durch die fremde sprache gewaltig bewegen zu lassen. […] er muss seine sprache durch die fremde erweitern und vertiefen man hat keinen begriff in welchem masze das möglich ist bis zu welchem grade jede sprache sich verwandeln kann.137

Bezüglich der Frage nach „Treue“ oder „Freiheit“ zum Original und ihrer ethischen Dimension von „Fremdheit“ und „Eigenheit“ in der Zielsprache positioniert sich dieses Zitat äußerst deutlich dafür, bei der Übersetzung die ‚eigene‘ Sprache „durch die fremde sprache gewaltig [zu] bewegen“ und damit prinzipiell unendlich zu „erweitern und vertiefen“ und zu „verwandeln“. Jacobs formuliert diesbezüglich treffend im Rückschluss auf Benjamin: „Die Übersetzung, so Benjamin, wandelt nicht eine fremde Sprache in eine, die wir unser eigen nennen könnten, sondern läßt uns die Sprache, die wir für unsere eigene halten, als aufs äußerste fremd erscheinen.“138 Übersetzen ist im Benjaminschen Sinne also kein Vorgang mehr, der zwischen zwei einander fremden Sprachen vermitteln will. Vielmehr ist es als Vorgang zu verstehen, der die unaufhebbare Ambivalenz der Sprache(n) vor Augen führt. Übersetzung betont jene Differenz, die Sprache an sich innehat und jene Differenz, die verschiedene Sprachen unterscheiden. Dabei wirkt sie zusätzlich „als Potenzierung des Differentiellen“139.

136Derrida,

J.: Babylonische Türme (s. Anm. 106). S. 138–139. Rudolf: Die Krisis der europäischen Kultur. Nürnberg 1917. S. 240–242. 138Jacobs, C.: Die Monstrosität der Übersetzung (s. Anm. 112). S. 167. 139Reinhard, Miriam: Entwurf und Ordnung. Übersetzungen aus „Jahrestage“ von Uwe Johnson. Ein Dialog mit Fragen zur Bildung. Bielefeld 2012. S. 34. 137Pannwitz,

3.2  Walter Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers

99

Übersetzung hat bei Benjamin einen translingualen und transkulturellen Charakter, denn es handelt sich um einen Prozess der Durchdringung, Durchquerung und Verflechtung der Sprachen. Im Ergebnis wird durch den Übersetzungsvorgang etwas Neues hervorgebracht. Gleichzeitig ist jedes Original immer schon selbst Resultat von Übersetzungsprozessen. Genauso gibt es keine eindeutige Eigen- oder Muttersprache, die in eine Fremdsprache übersetzt werden könnte oder umgekehrt. Denn Sprache an sich ist immer schon von Übersetzungen durchzogen. Sie befindet sich in einem unabschließbaren Prozess der Wandlung, Transformation und Aktualisierung.

3.2.4 Exiltexte lesen vor dem Hintergrund von Benjamins Übersetzungstheorie? Aufgrund seiner Auffassung von Sprache ist Benjamin als wichtiger Wegbereiter für poststrukturalistisches Denken zu betrachten, wie auch die Lektüren seines Übersetzer-Aufsatzes von de Man, Derrida und Jacobs zeigen. Weder das Original noch die Übersetzung, weder die Sprache des Originals noch die Sprache der Übersetzung sind fixierte und dauernde Kategorien. Sie haben keine essenzielle Qualität und werden in Raum und Zeit ständig verwandelt. Das ist der Grund, warum Benjamins Essay so wichtig für die dekonstruktivistische Theorie wurde, weil er die Idee eines essentiellen Ursprungs so vehement in Frage stellt.140

Poststrukturalistische Texttheorien sind daher ohne Benjamin nahezu undenkbar. Aus heutiger Perspektive erscheint es Alfred Hirsch absolut logisch, dass die von Benjamin fruchtbar gemachte Inkommensurabilität der Sprache eine geradezu zwingende Fortsetzung in einem Denken finden muß, das Sprache als differentielles und bedeutungskonstitutives Ordnungsgeschehen einführt. Denn gerade indem die Differenz zwischen Eigenem und Fremdem in der Übersetzung zur Darstellung gebracht wird, vollzieht sich in der Übersetzung in exemplarischer Weise das, was Derrida ein ‚System in Dekonstruktion‘ nennt.141

Zugleich ist es zu einem hohen Anteil der Rezeption und Weiterentwicklung aus Perspektive der Dekonstruktion – allen voran Derrida und de Man – maßgeblich zu verdanken, dass die Bedeutung und Anschlussfähigkeit von Benjamins Übersetzungstheorie herausgestellt wurde. Zuvor war Die Aufgabe des Übersetzers lange Zeit weitgehend ohne Resonanz geblieben.142 140Boris Buden: Kulturelle Übersetzung. Warum sie wichtig ist, und wo damit anzufangen ist. 2006. Unter: http://eipcp.net/transversal/0606/buden/de (12.04.2019). S. 4. 141Alfred Hirsch: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion. Frankfurt a. M. 1997. S. 11. 142In den achtziger Jahren lösen Derrida mit seinem Aufsatz Babylonische Türme und de Man mit seinem Text Schlußfolgerungen: Walter Benjamins „Die Aufgabe des Übersetzers“ erstmals eine umfassende Diskussion über Benjamins Übersetzungsdenken aus (vgl. Hirsch, A.: Vorwort (s. Anm. 141). S. 11).

100

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

Durch die poststrukturalistische Betrachtungsweise kann „[d]ie ehemals als Übersetzung zwischen den Sprachen entworfene Übersetzung […] zu einer Übersetzung in sprachlichen Geweben und Verweisordnungen werden.“143 Somit entwickelt sich ein „Übersetzungsdenken, das diese radikale textuale Struktur der Sprache mitberücksichtigt“144. Die Übersetzung spielt dabei eine besondere Rolle, weil der Prozeß der Übersetzung selbst die Modifikation der betroffenen sprachlichen Gewebe vorantreibt. Womit noch einmal der dekonstruktive Charakter der Übersetzungsbewegung exponiert wird. Denn gerade die Übersetzung löst in ein und demselben Ereignis bestehende Texturen auf und schafft neue; sie konstruiert und destruiert zugleich. Der Prozeß der Übersetzung erhellt damit in paradigmatischer Weise die brüchige, inkohärente und zugleich bedeutungskonstitutive Struktur der Sprache im allgemeinen.145

Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Perspektive für die Auseinandersetzung mit Exilliteratur ziehen und welche Möglichkeiten bietet dabei Benjamins Übersetzungsbegriff? Es ist deutlich geworden, dass Benjamins Aufsatz weniger als feste Theorie des Übersetzens, denn als spezifische sprachkritische Denkweise zu begreifen ist, die nicht zuletzt aufgrund ihrer metaphorischen Sprache selbst für literaturwissenschaftliche Analysen anschlussfähig ist. Vermutlich ist sie auch deshalb überwiegend Philosoph*innen und Literaturwissenschaftler*innen rezipiert worden, während sie in den Übersetzungswissenschaften zwar wahrgenommen wird, aber wegen des fehlenden Praxisbezugs auch Kritik geerntet hat.146 Weiterhin erscheint es mir wichtig, an dieser Stelle noch einmal deutlich zu machen, dass es sich bei dem gewissermaßen „Exilischen“ in Benjamins Übersetzungsdenken, wie es dieses Kapitel unter anderem vorgeführt hat, eher um ästhetische, philosophische und theoretische Denkfiguren geht als um tatsächliches Exil. Doch gerade eine solche Denkweise, die in Bezug auf Sprachen, Herkünfte und Verortungen insbesondere auch Brüchigkeiten und Inkohärenzen betrachtet, die die Existenz von „Originalen“ konsequent infrage stellt und Übersetzungsprozesse im Hinblick auf die durch sie stattfindenden Transformationen betrachtet, eignet sich meines Erachtens besonders gut für die Lektüre und Analyse von Exiltexten.

143Hirsch, A.: Vorwort

(s. Anm. 141). S. 12. (s. Anm. 141). S. 12. 145Hirsch, A.: Vorwort (s. Anm. 141). S. 12. 146Vgl. Siever, H.: Flussers Übersetzungstheorie im Lichte der Translationswissenschaft (s. Anm. 39). S. 196. Siever beobachtet, dass sowohl Benjamin als auch Vilém Flusser, um den es im nächsten Kapitel geht, überwiegend wortorientiert denken. Deshalb seien sie, so Sievers Schlussfolgerung, von der Translationswissenschaft nicht so stark rezipiert und eingebunden worden. Denn spätestens seit der pragmatischen Wende in den 1970er Jahren galten wortorientierte Ansätze im übersetzungswissenschaftlichen Diskurs als veraltet. 144Hirsch, A.: Vorwort

3.3  Vilém Flussers mehrsprachige „Bodenlosigkeit“

101

Im Speziellen für solche Texte des Exils, die auf verschiedene Weise das Thema von Sprachkonstellationen reflektieren und darstellen, bietet Benjamins Übersetzungsdenken daher einen vielversprechenden Ansatz. So ließe sich etwa auch die Auseinandersetzung mit Konzepten von Muttersprache (vgl. dazu Abschn. 4.1) und Exilsprachen im Verhältnis zu zeitgenössischen Konzepten von Nation betrachten und miteinander vergleichen. Dabei bietet es sich an, den Bewegungen des sogenannten translational turn folgend, den Übersetzungsbegriff für kulturwissenschaftliche Konzepte wie Transkulturalität und ­Transnationalität zu öffnen (vgl. dazu Abschn. 3.4). Meine These vom Anfang aufgreifend, komme ich zu folgendem Zwischenfazit und einer Spezifizierung der Fragestellung für die weitere Analyse: Benjamins Übersetzer-Aufsatz, der weder zeitlich noch inhaltlich konkret mit seiner eigenen Exilerfahrung in Verbindung steht, entwickelt einen Begriff der Übersetzung, der ein spezifisches Potenzial für die Auseinandersetzung mit mehrsprachiger und übersetzender Exilliteratur bietet. Davon ausgehend soll in den Analysekapiteln zu Domin, Kaléko und Lansburgh betrachtet werden, inwiefern Übersetzung als ästhetische Kategorie, als Reflexionsfigur und Gestaltungsmittel eine Rolle für diese Exiltexte spielen. Ein weiterer Übersetzungsphilosoph, dessen Arbeit neben Benjamins als Bezugspunkt für die folgenden Analysen herangezogen werden soll, ist Vilém Flusser. Flusser ist ebenfalls ein Flüchtling, der sich vor den Nationalsozialist*innen in Sicherheit bringen musste. Seine Arbeiten sind deshalb interessant, weil seine Überlegungen über Übersetzung erstens thematisch mit dem Exil untrennbar verbunden sind und weil sie zweitens mit einer bemerkenswerten konsequent mehrsprachigen und übersetzenden Schreibpraxis ­einhergehen.

3.3 Übersetzung und Exil 2: Vilém Flussers mehrsprachige „Bodenlosigkeit“ Vilém Flusser (1920–1991), der besonders im deutschsprachigen Raum zunächst vorwiegend als Kommunikations- und Medienphilosoph147 bekannt geworden ist, hat sich darüber hinaus mit vielen weiteren Themen umfassend beschäftigt, die längere Zeit außerhalb der wissenschaftlichen Rezeptionsreichweite geblieben sind. Wie einige Forschungsbeiträge und -initiativen im letzten Jahrzehnt

147Flussers medien- und kommunikationstheoretischen Texte, die er in den 1970er und 1980er Jahren nach seiner Rückkehr nach Europa geschrieben hat, gelten als sein Spätwerk. Diese deutschsprachig verfassten Texte haben ihn im Zuge der Verbreitung von Internet und neuen Kommunikationstechnologien in den 1990er Jahren, zumindest in Deutschland, als ‚digitalen Denker‘ berühmt werden lassen. Flussers Frühwerk, wozu die in den 1960er Jahren in Brasilien entwickelte „linguistisch-existenzialistisch inspirierte Übersetzungstheorie“ gehört, habe seine späteren medientheoretischen Überlegungen aber wesentlich beeinflusst. (Vgl. Rainer Guldin: Philosophieren zwischen den Sprachen. Vilém Flussers Werk. München 2005. S. 7).

102

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

­herausgearbeitet haben,148 ist das Thema der Übersetzung auf verschiedenen Ebenen konstitutiv für nahezu das gesamte Werk Flussers, nicht zuletzt durch seine mehrsprachige, zwischen vier Sprachen hin und her wechselnde und (selbst)übersetzende Schreibpraxis. Insbesondere in den letzten Jahren gibt es ein vermehrtes Interesse daran, sich mit Flusser als Übersetzungstheoretiker und Exilant aus einer und für eine kulturwissenschaftliche Perspektive auseinanderzusetzen.149 Ohne explizit biografiezentriert arbeiten zu wollen, ist die Entstehung von Flussers Werk unbedingt auch im Zusammenhang mit seiner eigenen Erfahrung von Vertreibung, Exil und lebenslanger Mehrsprachigkeit zu betrachten – nicht zuletzt, weil viele seiner Texte diesen Aspekt selbst hervorheben. Der 1920 in Prag geborene Flusser wuchs als Sohn jüdischer Intellektueller zweisprachig auf. Nach dem Einmarsch der Nationalsozialist*innen floh er 1939 als junger Mann und einziges Familienmitglied nach England, alle weiteren Familienmitglieder wurden deportiert und in Konzentrationslagern ermordet. 1940 musste er erneut fliehen und emigrierte mit seiner Frau Edith und deren Familie nach Brasilien. In São Paulo arbeitete Flusser zunächst etwa zehn Jahre für einen tschechischen Handelsbetrieb bis er in den 1950ern genug Kontakte in intellektuellen Kreisen sammeln konnte, um die Gründung eines philosophischen Netzwerkes in Brasilien voranzutreiben. Anfang der 1960er Jahre erhielt er einen Lehrstuhl für Kommunikationstheorie an der Universität in São Paulo. Dort lebte er mit Edith Flusser bis zu seiner Rückkehr nach Europa 1972, wo sie sich in Frankreich niederließen. 1991 kam Flusser bei einem Autounfall ums Leben. Im Gegensatz zu Benjamin, dessen sprachphilosophischer Übersetzer-Aufsatz bereits mehr als ein Jahrzehnt vor seiner Flucht aus NS-Deutschland entstanden ist, hat Flusser seine schriftstellerische Arbeit erst im Laufe der 1950er Jahre im brasilianischen Exil begonnen und bis zu seinem Lebensende fortgesetzt. Dass seine Texte über Exil, Migration, Heimatlosigkeit, Mehrsprachigkeit und Übersetzung vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung von Vertreibung und Exil entstanden sind, wird von Flusser meist in den Texten selbst reflektiert. So nimmt er persönliche Erlebnisse zum Beispiel als Schreibanlass bzw. Ausgangspunkt der

148Dies ist zentral auf Arbeiten und Herausgeberschaften von Rainer Guldin zurückzuführen. Darunter der aus einem Symposium hervorgegangene Sammelband: Rainer Guldin (Hg.): Das Spiel mit der Übersetzung. Figuren der Mehrsprachigkeit im Werk Vilém Flussers. Tübingen/ Basel 2004. Und die Monografie: Guldin, R.: Philosophieren zwischen den Sprachen (s. Anm. 147). Sowie Rainer Guldin, Anke Finger und Gustavo Bernardo: Vilém Flusser. Paderborn 2009. Seit 2005 erscheint zweimal jährlich das auf Flussers Werk ausgerichtete internationale e-Journal: Flusser Studies. Multilingual Journal for Cultural and Media Theory (Unter: http://www. flusserstudies.net [12.04.2019]). Diesen Initiativen Guldins ist es auch im Wesentlichen zu verdanken, dass einige bislang unzugängliche Texte verfügbar gemacht wurden, durch die Veröffentlichung bislang unpublizierter Typoskripte. Guldin hat darüber hinaus vieles erstmalig aus dem Portugiesischen ins Deutsche übersetzt, zum Teil auch in Zusammenarbeit mit Edith Flusser. 149Vgl. z. B. Robert Krause: Übersetzungsexperimente zwischen den Sprachen. Zur Relevanz von Vilém Flussers Werk für die kulturwissenschaftliche Exilforschung. In: Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein (Hg.): Literatur und Exil. Neue Perspektiven. Berlin/Boston 2013. S. 97–114.

3.3  Vilém Flussers mehrsprachige „Bodenlosigkeit“

103

Überlegungen oder macht wie im Fall von Bodenlos150 durch die außergewöhnliche Gattungsbezeichnung „philosophische Autobiographie“ darauf aufmerksam. Obwohl sich im vorliegenden Kapitel nicht auf die Suche nach Rückschlüssen von Flussers Texten auf seine biografischen Erfahrungen begeben wird, um darin etwaige Begründungen oder Kausalzusammenhänge zu finden, ist das Exil als Entstehungskontext seiner Arbeiten aber stets mitzudenken. Im Folgenden geht es darum, anhand von Flussers Texten zu den Themen Übersetzung und Mehrsprachigkeit sowie den bisher dazu vorliegenden Forschungsbeiträgen herauszuarbeiten, inwiefern Exil und Übersetzung in Flussers Denken konzeptuell miteinander verbunden sind und wie sie im Verhältnis zu der Entwicklung seiner außergewöhnlichen mehrsprachigen Denk- und Schreibmethode zu sehen sind. Flusser, so meine These, eignet sich als theoretischer Bezugspunkt für dieses Dissertationsprojekt, gerade weil seine konzeptuellen Überlegungen zu Übersetzung und Mehrsprachigkeit einerseits sowie sein autobiografisch und das theoretisch reflektierte Leben als Flüchtling, Exilant und Migrant151 andererseits nicht getrennt voneinander zu denken sind. Ausgangspunkt für die Darstellung von Übersetzung und Exil bei Flusser ist zunächst einmal sein übersetzendes und zwischen verschiedenen Sprachen wechselndes Schreiben, das er im Exil als Arbeits- und Denkmethode entwickelt hat. In einem zweiten Schritt richtet sich der Blick auf das metaphorische Konzept der „Bodenlosigkeit“ im Exil, das bei Flusser zentral ist, und das er unter anderem in seiner philosophischen Autobiografie formuliert. Darauf aufbauend werden Flussers philosophisch-theoretische Überlegungen zu Übersetzung und Mehrsprachigkeit betrachtet, mit dem Ziel, Zusammenhängen zu seinem mehrsprachigen und (selbst)übersetzenden Schreibverfahren nachzugehen. Dabei ist zu hinterfragen, ob und inwiefern sich die zunächst autobiografisch entwickelte Bodenlosigkeits-Metapher auch in seinen philosophisch-theoretischen Überlegungen zu Exil und Übersetzung wiederfinden lässt. Dieser Dreischritt kann nicht mehr als der Versuch einer strukturgebenden Orientierung für dieses Kapitel sein, denn die drei Bereiche bzw. Aspekte sind bei Flusser so eng miteinander verwoben und häufig bereits zusammen entwickelt, dass eine exakte Separierung, etwa zwischen ‚Theorie‘ und ‚Schreibtechnik‘ weder sinnvoll noch überhaupt möglich zu sein scheint. Dies ist nicht zuletzt in der Charakteristik von Flussers Texten begründet: Erstens setzen sie sich­ häufig selbst über Textsorten-, Fächer- und Methodengrenzen hinweg und bzw. oder sie wechseln zwischen diesen. Zweitens zeichnen sich Flussers Texte durch

150Vilém Flusser: Bodenlos: eine philosophische Autobiographie. Hg. von Stefan Bollmann. Bernsheim/Düsseldorf 1992. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mit der Sigle „B“ und unter Angabe der Seitenzahl direkt im Fließtext zitiert. 151Bei Flusser selbst ist es nicht ganz eindeutig und es verschiebt sich von Text zu Text, was er unter diesen Begriffen versteht, wie sie sich unterscheiden und wie er sich selbst dazu positioniert. Daher muss immer wieder hinterfragt werden, welche Begriffe wann wie verwendet werden. (Siehe auch Anm. 186).

104

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

einen eher nicht-akademischen Stil aus, so verzichtet Flusser zum Beispiel konsequent auf Fußnoten und Quellennachweise. Und drittens ist eine gewisse Offenheit seiner theoretischen Gedanken charakteristisch, die häufig kein in sich geschlossenes, systematisch durchdachtes Gebäude ergeben und auch Widersprüche und Unabgeschlossenheiten enthalten können.152 Dadurch entgehen seine Texte einfachen Kategorisierungen, sie spielen gezielt mit neuen, überraschenden Perspektiven, provokativen Übertreibungen, erstaunlichen Analogien und unlösbaren Widersprüchen. Seine [Flussers, Anmerkung: A.B.] metaphorische Phantasie operiert dabei mit Kontaminationen, deren Ziel es ist, neue Interpretationsmöglichkeiten zu erschließen.153

Gerade durch diese spielerische Offenheit und die literarischen Züge – z. B. die bildreiche Sprache und sprachphilosophische Auseinandersetzungen auf Wortebene – eignen sich Flussers Texte meines Erachtens wiederum besonders gut als Bezugspunkte, die fruchtbar für die Auseinandersetzung mit mehrsprachiger und übersetzender Exilliteratur sein können.

3.3.1 Mehrsprachiges und (selbst)übersetzendes Schreiben als kritischer Reflexionsprozess Flusser hat abwechselnd in mindestens vier Sprachen geschrieben: Deutsch, Englisch, Portugiesisch, Französisch. Hinzukommt, wenn auch nur sehr selten, Tschechisch. Mehrsprachigkeit ist bei Flusser überwiegend textübergreifend festzustellen. Zwar lässt sich auch innerhalb einzelner Texte hin und wieder das Phänomen beobachten, dass einzelne Wörter gezielt in anderen Sprachen eingesetzt werden oder nach einer Übersetzung in der zuerst gewählten Sprache bleiben,154

152„Flusser wusste um die theoretischen Fragilitäten seines sich zwischen Sprachen und Diskursen hin und her bewegenden nomadischen Schreibstils: der Mangel an durchgehender terminologischer Konsistenz und der Abwesenheit eines ultimativen umfassenden theoretischen Gebäudes“ (Guldin, R. u. a.: Vilém Flusser (s. Anm. 148). S. 7). Diese Aspekte mögen dazu beigetragen haben, dass Flussers Texte längere Zeit besonders in der akademischen Welt nur eine begrenzte Reichweite oder Wahrnehmung erreicht haben. Aber sie werden in der neueren Forschung mittlerweile in ihrer Qualität auch anders bewertet. „Flussers Denken ist auch insofern nomadisch, als es sich weigert, sich in einem einzigen disziplinären Feld zu verwurzeln. Flusser will den Raum, den er erkundet nicht erobern, um darin ein stabiles theoretisches Gebäude zu errichten. Er schlägt seine Zelte in gewissen Gegenden auf und zieht dann weiter“ (Guldin, R. u. a.: Vilém Flusser (s. Anm. 148). S. 44). 153Guldin, R. u. a.: Vilém Flusser (s. Anm. 148). S. 7. 154Z. B. tauchen in seinem auf Portugiesisch geschriebenen und posthum von Edith Flusser übersetzten Aufsatz „Probleme mit der Übersetzung“, um den es genauer in Abschn. 3.3.3 gehen wird, einige sehr wenige deutsche und englische Wörter auf, darunter z. B. „Bodenlosigkeit“ oder „Feed-back“. (Vilém Flusser: Probleme mit der Übersetzung. Übers. aus dem Portugies. von Edith Flusser. In: Rainer Guldin (Hg.): Das Spiel mit der Übersetzung. Figuren der Mehrsprachigkeit im Werk Vilém Flussers. Tübingen/Basel 2004. S. 15–46).

3.3  Vilém Flussers mehrsprachige „Bodenlosigkeit“

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doch ist dies eher selten der Fall. Flussers strategisch mehrsprachiges Schreiben ist textübergreifend, und zwar in sehr prägnanter Häufigkeit sein gesamtes Werk betreffend. Seinen mehrsprachigen Schreibstil entwickelte Flusser sukzessive im Laufe seines Lebens. Mit Deutsch und Tschechisch war er aufgewachsen und während des Universitätsstudiums in Prag hatte er begonnen, Englisch lesen und schreiben zu lernen. Als er in den 1950er Jahren in Brasilien anfing, schriftstellerisch tätig zu werden, entstehen die meisten Texte, sowohl kürzere essayistische Arbeiten als auch ganze Bücher auf Portugiesisch und Deutsch, und das heißt häufig: sowohl als auch. Spätestens seit der Rückkehr auf den europäischen Kontinent in den 1970er Jahren kamen immer häufiger Englisch und Französisch als Schreibsprachen hinzu.155 Guldin, der sich hier auf eine Aussage Flussers zur Entstehung seiner Mehrsprachigkeit als „Überschichtung“ bezieht, fasst zusammen: „Auf die ursprüngliche Zweisprachigkeit legte sich somit im Laufe der Jahre eine zweite, dritte und vierte Schicht.“156 Mehrsprachigkeit besteht bei Flusser nicht lediglich darin, dass er für jeden Text eine der Sprachen wählt, die er gut genug spricht bzw. schreibt. Der Schritt der Sprachwahl und des ersten Verfassens ist in den meisten Fällen erst der Anfang eines Schreib- und Übersetzungsprozesses, denn viele seiner Texte hat er anschließend in eine oder mehrere andere Sprachen übertragen, um sie nicht selten zum Schluss wieder in die erste Sprache rückzuübersetzen.157 Das Übersetzen der eigenen Texte hat dabei die Funktion des Weiterdenkens in der Auseinandersetzung mit Unterschieden, Übersetzungsschwierigkeiten und gegebenenfalls auch Unübersetzbarkeiten zwischen den Sprachen. In The gesture of writing verweist Flusser darauf, dass er letztlich keine „freie“ Wahl bezüglich der Sprache(n) habe und betont die Bedeutung von Erinnerung bei diesem Prozess: I am programmed for various spoken languages, but this does not mean that I can choose freely in which of them I am going to write the thought that press to be written. I am not ‚free‘ in this somewhat marcantilistic sense, (freedom of choice), because the languages stored in my memory are not equivalent and exchangeable one for any other. They have, each, their own function, (although those functions overlap), and their specificity is due both to their ‚objective‘ character and to the place they occupy ‚subjectively‘ within my program. The result of this discrepancy between the languages in my memory is the fact that some of my thoughts are better expressed in one of those languages, and some other

155Guldin,

R. u. a.: Vilém Flusser (s. Anm. 148). S. 53. R: Philosophieren zwischen den Sprachen (s. Anm. 147). S. 247. Guldin bezieht sich auf Flussers vermutlich Mitte der 1970er Jahre auf Portugiesisch entstandenen, unveröffentlichten Essay Retradução enquanto método de trabalho (Rückübersetzung als Arbeitsmethode). 157Ein anschauliches Beispiel für die Dimension dieser selbstübersetzenden Schreibweise ist ein Text Flussers über Hannah Arendt, von dem es insgesamt zwölf verschiedene Versionen in wechselnden Sprachen gibt (vgl. Guldin, R. u. a.: Vilém Flusser (s. Anm. 148). S. 53). Eine tabellarische Gesamtübersicht über Flussers Texte als Versionen in verschiedenen Sprachen findet sich bei Guldin; R: Philosophieren zwischen den Sprachen (s. Anm. 147). S. 313–315. 156Guldin,

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3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

thoughts in some other language. Or, to state the same thing the other way round: I tend to think some thought in one of those languages, and some other thought in some other languages.158

In der französischen Version dieses Textes ergänzt Flusser die Vermutung einer Tendenz der Sprachwahl, wenngleich er von einem nahezu unkontrollierbaren Prozess spricht: „Je dirai, (sans y vouloir insister trop), que mes pensées ‚philosophiques‘ tendent vers l’allemand, les pensées ‚politiques‘ vers le portugais, et mes pensées ‚scientifiques‘ vers l’anglais.“159 Die besondere Position des Selbst-Übersetzers, der zugleich Autor ist und seine eigenen Texte übersetzt, ist bereits ausführlich in Abschn. 2.4 bei Georges-Arthur Goldschmidt zur Sprache gekommen. Zusammenfassend zeichnet sie sich dadurch aus, dass er sich einerseits so nah wie überhaupt möglich am produzierten Ausgangstext befindet und sich andererseits bei der Übersetzung einer größeren Freiheit bedienen kann, als dies ein anderer Übersetzer wagen würde. Bei Flusser ist es vor allem der zweite Aspekt, der seine (Selbst-)Übersetzungen charakterisiert bzw. sogar eine ihrer wesentlichen Funktionen begründet. „Mais je ne traduis pas comme ‚traducteur normal‘. […] Je n’essai [sic !] pas être fidèle au texte […], mais de le dépasser.“160 Hier zeigt sich ein Selbstverständnis als Übersetzer, der das Übersetzen im Sinne eines Überschreitens, Übertreffens oder sogar Überwindens des Ausgangstextes versteht. So nutzt Flusser für seine Übersetzungen gerade die auftauchenden Bedeutungsverschiebungen, die differierende Etymologie, die philosophischen Sprachspiele, die Metaphern und feinen Nuancen zwischen den Sprachen, überwiegend konzentriert auf die Wortebene und weniger die Syntax betreffend, um seine Ideen und Texte auf inhaltliche Stimmigkeit zu prüfen, aber auch um sie gedanklich zu erweitern und von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Daher muss seine „Praxis der Selbstübersetzung […] vor allem als kritische Überarbeitung verstanden werden, mit dem Ziel, die vielfachen Bedeutungen des Textes zu vertiefen und zu erweitern, so dass jede weitere Version neue Aspekte hinzufügt.“161

158Vilém Flusser: The gesture of writing. Maschinenschriftliches Transkript. In: Flusser Studies 8 (2009). Unter: http://www.flusserstudies.net/sites/www.flusserstudies.net/files/media/attachments/ the-gesture-of-writing.pdf (12.04.2019). S. 9. 159Vilém Flusser: Le geste d’écrire. Maschinenschriftliches Transkript. In: Flusser Studies 8 (2009). Unter: http://www.flusserstudies.net/sites/www.flusserstudies.net/files/media/attachments/ le-geste-d-ecrire.pdf (12.04.2019). S. 7. „Ich würde sagen, (ohne zu stark insistieren zu wollen), dass meine ‚philosophischen‘ Gedanken zum Deutschen tendieren, die ‚politischen‘ Gedanken zum Portugiesischen und meine ‚wissenschaftlichen‘ Gedanken zum Englischen.“ [Übersetzung: A.B.]. 160Flusser, V.: Le geste d’écrire (s. Anm. 159). S. 9. „Aber ich übersetze nicht wie ein ‚normaler Übersetzer‘. […] Ich versuche nicht treu zum Text zu sein […], sondern ihn zu überholen / überschreiten / übertreffen.“ [Übersetzung: A.B.]. 161Guldin, R. u. a.: Vilém Flusser (s. Anm. 148). S. 54. Die Methode des mehrsprachigen Schreibens und Selbstübersetzens, so ist zumindest am Rande zu erwähnen, kann neben ihrer von Flusser erwünschten Funktion der Selbstkritik und Überarbeitung seiner Texte auch im Zusammenhang von Publikationsmöglichkeiten und Mehrfachverwertung im internationalen Wissenschaftsund Universitätsbetrieb gesehen werden – zumal sie nicht zuletzt auch mit seinen wechselnden

3.3  Vilém Flussers mehrsprachige „Bodenlosigkeit“

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Flusser übersetzt und rückübersetzt seine eigenen Texte, um deren Wahrhaftigkeit und innere Kohärenz zu überprüfen und um sein eigenes Denken in Frage zu stellen. Übersetzen bedeutet somit immer ein Zweifaches: eine evolutive Vorwärtsbewegung, welche die verschiedenen Blickwinkel sukzessive kumuliert, und eine konträre, aber komplementäre involutive Rückwärtsbewegung.162

Seinen mehrsprachigen Schreibstil hat Flusser immer wieder reflektiert. Einer der wichtigsten Texte dazu, der wiederum selbst in zwei verschiedensprachigen Varianten vorliegt, ist der oben bereits erwähnte Essay The gesture of writing bzw. auf Französisch Le geste d’écrire. Darin spielt er die kreisende Bewegung seines Arbeitsprozesses von Übersetzen, Weiterübersetzen und Rückübersetzen anhand eines zuerst auf Deutsch formulierten Textes durch, den er als zweiten Schritt ins Portugiesische übersetzt hatte. Let us suppose that I have translated the thought from Portuguese into English, and from English into French, and that I now try to translate it back into German. I shall find that my second German text will differ radically from the first one, although the thought expressed in both texts is still the same thought. The reason of course is the fact that in the second text all the other languages at my disposal are somehow present, and thus confer it at a depth which is lacking in the first text. Now this presents a situation typical of all infinite regression. Theoretically I could go on translating end re-translating „ad nauseam“ or to my exhaustion. But practically I find that the chain of thoughts is exhausted in the process long before I myself am exhausted.163

Flusser beschreibt eine Art kreis- oder spiralförmigen mehrsprachigen Gedankenprozess der Übersetzung, dessen theoretische Unendlichkeit sich in der Praxis allerdings meist irgendwann von selbst erschöpfe. Was sich in der Schreibtechnik und der damit einhergehenden Gedankenspirale unter anderem erkennen lässt, ist, dass Flusser das Übersetzen der eigenen Texte dazu dient, sich von ihnen zu distanzieren, einen neuen Standpunkt einzunehmen, neue Perspektiven eines Gedankens zu erschließen und diesen von anderen Seiten zu beleuchten. Guldin entdeckt diesbezüglich Parallelen zu einem anderen Text Flussers über Fotografie, denn das dort beschriebene „jumping from position to position“ ähnele dem zwischen Sprachen hin und her springenden Schreiben und Übersetzen als Perspektivwechsel.164

­ tandorten in Verbindung zu bringen ist. Insofern lässt Flussers Situation, obwohl er erst im Exil S zum Wissenschaftler wurde, hinsichtlich der sprachlichen Herausforderungen auch Ähnlichkeiten zu den Bedingungen von exilierten Wissenschaftlern erkennen. 162Guldin, R. u. a.: Vilém Flusser (s. Anm. 148). S. 45. 163Flusser, V.: The gesture of writing (s. Anm. 158). S. 11–12. 164Vgl. Rainer Guldin: Translation, Self-Translation, Retranslation. Exploring Vilém Flusser’s Multilingual Writing Practice. In: Ders. (Hg.): Das Spiel mit der Übersetzung. Figuren der Mehrsprachigkeit im Werk Vilém Flussers. Tübingen/Basel 2004. S. 99–118, hier: S. 101–102.

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3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

An dieser Stelle lässt sich von Flussers mehrsprachiger und (selbst-)übersetzender Schreibweise auch eine Verbindung zu der jüdischen Interpretationstechnik Pilpul165 herstellen, mit der er sich auseinandergesetzt hat und in der er seine eigene „Denktechnik“, seine „eigene Art, über welchen Gegenstand auch immer nachzudenken“166, gewissermaßen wiedererkannte.167 Diese Art zu denken, so Flusser, lasse sich am Beispiel des besonderen Aufbaus einer Seite im babylonischen Talmud folgendermaßen nachvollziehen: „In der Seitenmitte steht ein Wort, oder einige wenige Worte, und um diesen Seitenkern drehen sich konzentrisch einige Textkreise. […] Die Kreise kommentieren nicht nur den Textkern, sondern auch einander. Das nennt man Pilpul.“168 Traditionellerweise sind die einzelnen Textteile des Talmuds, die sich um die im Zentrum stehende Passage herum aufbauen, sowohl von verschiedenen Autoren als auch teilweise in verschiedenen Sprachen (i. d. R. Hebräisch, Aramäisch) und über einen großen Zeitraum hinweg verfasst. Es ist wichtig, wie Flusser es auch selbst tut, darauf hinzuweisen, dass er kein „orthodoxes“ Verständnis von Pilpul hat und es ihm darum auch nicht geht. Vielmehr geht es ihm um die Art und Weise, in der sich denkend, schreibend und übersetzend einem Gegenstand genähert wird bzw. wie der Gegenstand aus immer wieder neuen Standpunkten umkreist und hinterfragt wird. „Die den Seitenkern umzingelnden Kommentare sind nicht nur auf diesen Kern, sondern ebenso gegeneinander gerichtet.“169 Ihn interessiert besonders am Pilpul, dass

165Pilpul, ein Wort, was „scharfe Durchdringung; zugespitztes Argument“ bedeutet, ist eine im Spätmittelalter unter aschkenasischen Gelehrten entstandene Methode des Talmudstudiums und -unterrichtes. „Dabei wurden sämtliche, auch gering scheinende inhaltliche oder sprachliche Details – und manchmal auch deren Fehlen – gedeutet. Die Gelehrten gingen der Frage nach, warum eine Talmudpassage eine bestimmte Frage oder Begründung anführte, wenn eine jeweils andere dieselbe halachische Schlussfolgerung nach sich zog. Die oftmals spitzfindigen Interpretationen ergaben sich aus der Diskussion zweier oder mehrerer Gelehrter.“ (Elisha Ancselovits: Talmud tora. In: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 5. Stuttgart/Weimar 2014. S. 17–23, hier: S. 19). 166Vilém Flusser: Pilpul (I). Die Lage des an den Westen assimilierten Juden an einem Beispiel. In: Ders.: Jude Sein. Essay, Briefe, Fiktionen. Hg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser. Mannheim 1995. S. 137–142, hier: S. 141. Der Text „Pilpul (I)“ entstammt einem zu Lebzeiten unveröffentlichten, undatierten Manuskript in deutscher Sprache. 167Vgl. zu diesem Aspekt des Pilpul bei Flusser auch Guldin, R.: Philosophieren zwischen den Sprachen (s. Anm. 147). S. 258–260; Irmgard Zepf: Vilém Flusser lesen und verstehen – unterschiedliche Zugänge zu seinem Werk. In: Rainer Guldin (Hg.): Das Spiel mit der Übersetzung. Figuren der Mehrsprachigkeit im Werk Vilém Flussers. Tübingen/Basel 2004. S. 47–74. Flusser selbst schreibt dazu: „Zum Beispiel stelle ich überraschend fest, daß meine wissenschaftliche und philosophische Argumentation ganz ähnlichen Regeln folgt wie diejenigen des talmudischen Denkens, ohne daß ich je Kontakt mit dem Talmud gehabt hätte. […] Ich erkenne in einer mir fremden Literatur [klassische jüdische Literatur, Anmerkung: A.B.] meine eigene Denktechnik wieder.“ (Flusser, V.: Pilpul (I) (s. Anm. 166). S. 138). 168Vilém Flusser: Pilpul (II). In: Ders.: Jude Sein. Essay, Briefe, Fiktionen. Hg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser. Mannheim 1995. S. 143–153, hier: S. 144. Der Text „Pilpul (II)“ war zuvor unter dem Titel „Pilpul“ erschienen in der Zeitschrift kultuRRevolution, Zeitschrift für angwandte Diskurstheorie 23 (Juni 1990). S. 43–45. 169Flusser, V.: Pilpul (II) (s. Anm. 168). S. 149–150.

3.3  Vilém Flussers mehrsprachige „Bodenlosigkeit“

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es gilt, „die Sache, auf die man immer wieder zurückkommt, […] von so vielen Standpunkten wie möglich anzugehen und letztere dabei in gegenseitigen Konflikt zu bringen.“170 Erkennen heißt für Pilpul die Einnahme möglichst vieler Standpunkte gegenüber dem Zu-erkennenden. Es kann kein vollkommenes Erkennen (keine definitive Wahrheit) geben, weil alles Zu-erkennende von einem unerschöpflichen Schwarm von Standpunkten umzingelt ist und nur dann völlig erkannt würde, wenn alle Standpunkte erschöpft wären.171

Flusser beschreibt Pilpul somit als spezielle Denkbewegung172: „dieses Zurücktreten vom zu bedenkenden Kern und dieses Immer-wieder-darauf-Zurückkommen [ist] eine Bewegung […], die im Talmud seit Jahrhunderten geübt wird.“173 Vor allem in der Art und Weise, in welcher er diese Interpretationstechnik beschreibt, welche Aspekte er daran betont und welche Sprachbilder (z. B. der Kreis) er bei dessen Beschreibung verwendet, lassen sich tatsächlich Parallelen zu seinem übersetzenden Denk- und Schreibverfahren erkennen. In Flussers Fall sind es aber nicht unterschiedliche Autoren, sondern gerade die verschiedenen Sprachen, die eine entscheidende Rolle spielen, wenn es um ein gegenseitiges Kritisieren, Kommentieren und Weiterdenken der einzelnen Textvarianten bzw. Übersetzungen geht. In diesem Zusammenhang ist eine weitere Metapher von Interesse, die Flusser zur Charakterisierung seines Schreibens verwendet und die an die oben bereits erwähnte Vorstellung von Mehrsprachigkeit als Überschichtung erinnert: das Palimpsest. Hier möchte ich noch einmal zum oben modellhaft beschriebenen zirkulären Übersetzungsvorgang zurückzukehren, der verschiedensprachige ­Versionen eines Textes hervorbringt (Deutsch – Portugiesisch – Englisch – Französisch – Deutsch). Das Bild des Palimpsestes spielt dabei insofern eine Rolle, als dass die einzelnen linearen und „einsprachigen“ Versionen, die im Übersetzungsvorgang entstehen, andere Sprachen und Versionen durchscheinen lassen, ohne dass sie direkt sichtbar sind. Wie bei einem Gebäude, das auf einem älteren, zwar nicht mehr sichtbaren, aber für die Bausubstanz unverzichtbaren Fundament steht,

170Flusser, V.:

Pilpul (II) (s. Anm. 168). S. 150. Pilpul (II) (s. Anm. 168). S. 150. 172Flusser erkennt neben seiner eigenen Denktechnik im Pilpul unter anderem auch die Husserlsche Phänomenologie wieder. Das sei aber keineswegs inhaltlich oder traditionsgebunden zu verstehen, sondern zeige sich vielmehr in einer ähnlichen Struktur der Denkbewegung (vgl. Flusser, V.: Pilpul (II) (s. Anm. 168). S. 152). In seinem essayistischen Text „Pilpul (I)“ sieht er darüber hinaus auch Parallelen zur „Denktechnik“ von Marx, Freud oder Kafka und stellt die These eines spezifisch ‚jüdischen Denkens‘ auf, das gewissermaßen vererbbar sei und das „in einem kulturellen Programm eingetragen ist, das man nicht erwerben muß und dessen man sich nicht bewußt sein muß, um von ihm programmiert zu werden“ (Flusser, V.: Pilpul (I) (s. Anm. 166). S. 141–142). 173Flusser, V.: Pilpul (II) (s. Anm. 168). S. 152. 171Flusser, V.:

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3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

überlagert sich Schicht über Schicht, Sprache über Sprache, jedoch mehr in dynamischer als in statischer Weise.174 Bien sûr: le texte portugais sera aussi linéaire que le texte allemand, car il sera, lui aussi, un texte écrit. En ce sens il ne dépassera son pré-texte. Néanmoins: il y aura, pour ainsi dire „entre les lignes“ du texte portugais, des vestiges des lignes allemandes. Ça sera une sorte de palympseste [sic !]. La pensée ne prendera [sic !] pas tout à fait la même direction prise dans le texte allemand. Mais la direction allemande y sera ­présente de quelque sorte, néanmoins. Pour moi, c’est le geste d’écrire: faire des palymp­sestes [sic !].175

In der englischen Variante des Textes spricht Flusser von Assoziationen aus der deutschen Sprache, die nach der Übersetzung in der Portugiesischen versteckt seien: The text which will result from this writing will be Portuguese, to be sure, but the German text and the German associations eliminated from the text will somehow be hidden within it. A sort of palympsest [sic!] not readily decipherable, but still in sense effective.176

Im Bild des Palimpsestes wird „die Kopräsenz aller vorherigen Texte im letzten“177 veranschaulicht. Durch den wiederholten Übersetzungsvorgang entstehen Schichten und Überlagerungen, die Spuren bzw. Reste („vestiges“) aus mehreren Sprachen durchscheinen lassen können. „Die verschiedenen Schichten des plurilingualen Palimpsestes widerspiegeln dabei die vielfältige im Laufe wiederholter Übersetzungsprozesse auseinandergefaltete Komplexität des ursprünglichen Gedankens.“178 Um Flussers mehrsprachige und (selbst-)übersetzende Schreibpraxis mit seinen stärker übersetzungstheoretischen Überlegungen, u. a. in seinem Text Probleme mit der Übersetzung, im Kontext von Exil in Verbindung zu bringen, ist es unumgänglich, sich zunächst mit seinem Begriff der „Bodenlosigkeit“ zu beschäftigen.

174Interessanterweise

spricht Flusser in der englischen Fassung The gesture of writing bei den einzelnen durch Übersetzung entstehenden Versionen auch von „bricks“ – (Ziegel-/Bau-)Steinen. 175Flusser, V.: Le geste d’écrire (s. Anm. 159). S. 9. „Natürlich: der portugiesische Text wird genauso linear / eindimensional wie der deutsche Text sein, denn auch er wird ein geschriebener Text sein. In diesem Sinne / in dieser Richtung überschreitet er seinen Vor-Text nicht. Nichtsdestoweniger wird es, sozusagen ‚zwischen den Zeilen‘ des portugiesischen Textes, Spuren / (Über-)Reste der / aus den deutschen Zeilen geben. Es wird eine Art von Palimpsest. Die Gedanken schlagen nicht genau dieselbe Richtung ein, wie sie es im deutschen Text getan haben. Aber die deutsche Richtung / Lenkung [der Gedanken] wird darin auf eine Art und Weise trotzdem präsent sein. Das ist für mich die Geste des Schreibens: Palimpseste zu machen / herzustellen.“ [Übersetzung: A.B.]. 176Flusser, V.: The gesture of writing (s. Anm. 158). S. 11. 177Guldin, R. u. a.: Vilém Flusser (s. Anm. 148). S. 54. 178Guldin, R. u. a.: Vilém Flusser (s. Anm. 148). S. 54.

3.3  Vilém Flussers mehrsprachige „Bodenlosigkeit“

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3.3.2 Bodenlosigkeit im Exil Flussers viel zitierte Metapher der „Bodenlosigkeit“ kann als Kernelement seines philosophischen Denkens betrachtet werden. Wenn im Folgenden versucht wird, diesem Begriff und dem darin implizierten Konzept nachzugehen, soll vorab betont werden, dass es sich bei „Bodenlosigkeit“ nicht nur um einen philosophisch-theoretischen Komplex handelt, sondern er darüber hinaus auch „als Titel der gleichnamigen ‚Autobiografie‘ der ostentative Entwurf eines Deutungsrahmens für Flussers Philosophie“179 ist. Christoph Ernst weist daher zu Recht darauf hin, dass die „literarischen Implikationen“ dieses Konzepts zu bedenken sind und formuliert diesbezüglich treffend: Flussers Metapher der ‚Bodenlosigkeit‘ ist ein zweischneidiges Schwert. […] Folglich bewegt man sich auf einem schmalen Grat, wenn man die Bodenlosigkeitsmetapher unhinterfragt an den Anfang von Überlegungen zu Flusser stellt. […] ‚Bodenlosigkeit‘ ist ein Gesamtkonzept für Flussers Denken und Schreiben, das philosophische Elemente enthält, selbst aber über diese Elemente hinausgeht.180

Vor dem Hintergrund dieser Prämisse soll sich dem Begriff und metaphorischen Komplex der „Bodenlosigkeit“ bei Flusser nun genähert werden. In seiner philosophischen Autobiografie Bodenlos181 schildert Flusser die wichtigsten Stationen seines Lebens. Er beginnt die Einleitung seiner biografisch-philosophischen Aufzeichnungen mit einer etymologischen Wortdefinition von „absurd“: Das Wort „absurd“ bedeutet ursprünglich „bodenlos“, im Sinn von ohne Wurzel. Etwa wie eine Pflanze bodenlos ist, wenn man sie pflückt, um sie in eine Vase zu stellen. Blumen auf dem Frühstückstisch sind Beispiele eines absurden Lebens. Wenn man versucht, sich in solche Blumen einzuleben, dann kann man ihren Drang mitfühlen, Wurzeln zu schlagen und diese Wurzeln in irgendeinen Boden zu treiben. Dieser Drang der entwurzelten Blumen ist die Stimmung des absurden Lebens. Es ist die Absicht des folgenden Buches, diese Stimmung zu bezeugen. (B 9)

Nach Flusser bedeutet „absurd“ in der Regel „bodenlos“ im Sinn von „sinnlos“182, aber auch im Sinn von „ohne vernünftige Basis“183. „Man hat dabei das 179Christoph Ernst: Verwurzelung vs. Bodenlosigkeit. Zur Frage nach „Struktureller Fremdheit“ bei Vilém Flusser. In: Flusser Studies 2 (2006). Unter: http://www.flusserstudies.net/sites/www. flusserstudies.net/files/media/attachments/strukturelle-fremdheit02.pdf (12.04.2019). S. 3. 180Ernst, C.: Verwurzelung vs. Bodenlosigkeit (s. Anm. 179). S. 3. 181Vilém Flusser: Bodenlos (s. Anm. 150). Die in dieser Ausgabe veröffentlichten autobiografischen Schriften Flussers entstammen einem 136 Seiten umfassenden Manuskript, dass Flusser „Zeugenschaft aus der Bodenlosigkeit“ genannt hat und das direkt nach seiner Rückkehr nach Europa 1973 und 1974 in Meran und Frankreich entstanden ist (vgl. Stefan Bollmann: Zu dieser Ausgabe. In: Vilém Flusser: Bodenlos: eine philosophische Autobiographie. Hg. von Stefan Bollmann. Bernsheim/Düsseldorf 1992. S. 287–290, hier: S. 287). 182Hier gibt Flusser das Beispiel unseres Planetensystems: Warum und wozu dreht es sich um die Sonne? „Die sinnlose Kreisbewegung, mit dem Nichts als Hintergrund, ist die Stimmung des absurden Lebens.“ (B 9). 183Hier gibt Flusser ein Beispiel aus der mathematischen Logik anhand des folgenden Rechenbeispiels: „Etwa wie der Satz, der behauptet, zwei mal zwei sei vier um sieben Uhr abends in São Paulo. Er ist Beispiel eines absurden Denkens.“ (B 9).

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3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

s­chwindelnde Gefühl, über einem Abgrund zu schweben, in dem die Begriffe ‚wahr‘ und ‚falsch‘ nicht funktionieren“ (B 9). Die Erfahrung der Bodenlosigkeit ist laut Flusser „eine Erfahrung der Einsamkeit“ (B 11) und kann nicht öffentlich besprochen werden ohne zu zerrinnen. „Sie ist grundsätzlich antikulturell und kann daher nicht zu Kulturformen erstarren“ (B 11). Bodenlosigkeit könne daher auch nicht unverfälscht in Literatur, Philosophie oder Kunst wiedergegeben werden (vgl. B 11). Man kann nur versuchen, sie in diesen Formen zu umschreiben, sie einzukreisen und so einzufangen. Oder aber man kann versuchen, sie direkt zu bezeugen, indem man autobiographisch seine eigene Lage schildert, in der Hoffnung, daß sich in der Schilderung andere erkennen. (B 11)

Bemerkenswerterweise schildert Flusser seine autobiografischen Erlebnisse im Folgenden stets mittels des unpersönlichen Pronomens „man“ anstelle des Personalpronomens „ich“. Diese Erzählhaltung hat einen zugleich distanzierenden und generalisierenden Effekt und ist äußerst ungewöhnlich für eine Autobiografie, entspricht daher aber vielleicht am ehesten dem, was Flusser unter einer „philosophischen Autobiographie“ versteht. Flusser beschreibt zunächst das Prag seiner Jugend, das heißt in der Zwischenkriegszeit, als Brennpunkt der Kulturen, als eine Umgebung voller „produktive[r] Spannungen“ (B 15).184 „Das Charakteristische an Prag ist dabei, daß seine Persönlichkeit alle nationalen, religiösen und sozialen Unterschiede überwindet. Ob Tscheche, Deutscher oder Jude, ob Katholik, Protestant oder Marxist, ob Bürger oder Proletarier, man ist vor allem Prager“ (B 14). Dieses kulturell besondere Klima Prags, erläutert Flusser, zeige sich zuallererst in sprachlicher, das heißt mehrsprachiger Hinsicht – eine Konstellation, die ihn von Beginn an geprägt habe. „Es war selbstverständlich, zwei Muttersprachen zu haben, das Tschechische und das Deutsche, unbewußt von einer in die andere zu gleiten und so ganz spontan an zwei Welten, der west- und der osteuropäischen, teilzunehmen“ (B 15). In dieser Situation aufzuwachsen, habe bedeutet, dass man den „tiefgreifende[n] strukturelle[n] Unterschied zwischen dem Slawischen und dem Germanischen“ nicht als „Unterschied, sondern als Komplement wahrgenommen“ (B 15) habe. Die Mehrsprachigkeit in Prag wird von vielen Zeitgenossen als ein selbstverständliches Phänomen beschrieben, das weder grundsätzlich positiv noch negativ konnotiert ist, in seiner Selbstverständlichkeit aber über den Prager Kontext hinaus

184Das spannungsreiche Prag beschreibt Flusser als „Zentrum einer von Masaryk inspirierten neuen tschechischen Kultur, es war Brennpunkt des jüdischen europäischen Kulturlebens, und es war ein Zentrum jener deutschen Kultur, in der sich die Tradition der Habsburger Monarchie zu neuer Blüte emporhob. Diese Kulturen befruchteten einander in Kampf und Zusammenarbeit so gewaltig, […].“ (B 14). Als Ergebnisse dieser produktiven Spannungen nennt Flusser beispielsweise Kafka, Einstein, die Prager linguistische Schule, die Phänomenologie und psychoanalytische Experimente (vgl. B 14–15).

3.3  Vilém Flussers mehrsprachige „Bodenlosigkeit“

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nur begrenzt vermittelbar ist. Dieser Aspekt der von Anfang an mehrsprachigen Situation spielt insbesondere auch für Flussers Übersetzungsdenken eine wichtige Rolle, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird. Mit der Flucht aus der Heimatstadt und dem Abschied von der Familie beginnt für Flusser das Leben in der „Bodenlosigkeit“. Er beschreibt diese Situation, zunächst im englischen Exil, als existenziellen Haltverlust, der sich in einer Art Gleichgültigkeit und damit auch einer Distanz (vgl. z. B. B 33, B 40) zu den Geschehnissen zeigte. Auf der anderen Seite habe die Distanz der Bodenlosigkeit auch etwas Befreiendes gehabt, indem sie eine Offenheit für Neues zur Folge hatte, darunter vor allem für Sprache(en) und Kultur(en), zunächst in England. „Die Folge dieser Gleichgültigkeit war ein Sichöffnen ungeahnter Horizonte“ (B 36). Zwar war man von jetzt ab bodenlos, aber über einem wölbte sich der grenzenlose Himmel. Von jetzt ab war alles möglich. In diese grenzenlose Möglichkeit stürzte man, zwar blutenden Herzens, aber aufgeschlossenen Geistes. (B 30)

So entstehen neue Perspektiven und neue Wahrnehmungsformen für Raum und Zeit auch im brasilianischen Exil, „in der Bodenlosigkeit des schattenhaften Daseins, in der entwurzelten Getriebenheit, in der man von den Wellen der Sinnlosigkeit, Strandgut gleich, an die brasilianische Küste geworfen wurde“ (B 39). Flussers Bodenlosigkeit ist keine allgemeingültige Erfahrung, er skizziert sich selbst als „bewußter bodenlos“ als die anderen Immigranten, weshalb er auch dem brasilianischen Boden offener gegenüber gestanden habe als viele andere. „Man war an ihm interessierter und konnte sich später in ihm weit tiefer verwurzeln als die andern“ (B 42). Aber auch bei ihm war dies nur vorübergehend bzw. nicht im Sinne einer neuen Beheimatung möglich. Brasilien war keine Herausforderung, um wieder Boden zu fassen, sondern es blieb ein Ort, von dem man, wie etwa vom Mars aus, auf das lächerliche, widerliche, aber interessante Scheingeschehen blicken konnte. Das war das Klima, in dem man begann, einen Lebensweg in der Bodenlosigkeit, also ein geordnetes Gleiten und Schweben über dem Abgrund zu planen. (B 47)

Hier deutet sich an: Flussers metaphorisches Konzept der Bodenlosigkeit ist nicht nur als Heimatlosigkeit zu denken, sondern sie ist vielmehr zu verstehen als Erkenntnis darüber, dass es keine Heimat gibt bzw. dass Heimat lediglich aus Ge-Heimnissen von Verwurzelung und Zugehörigkeit bestehen kann. Diesen Gedanken entwickelt Flusser in seinem Aufsatz Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit185. Darin

185Vilém Flusser: Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit. In: Ders.: Bodenlos: eine philosophische Autobiographie. Hg. von Stefan Bollmann. Bernsheim/Düsseldorf 1992. S. 247–264. Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mit der Sigle WBH und unter Angabe der Seitenzahl direkt im Fließtext zitiert. Dieser Text Flussers geht auf Manuskriptfassungen zurück, die anlässlich eines Vortrags beim II. Internationalen „Kornhaus-Seminar“ zum Thema „Heimat und Heimatlosigkeit“ in Weiler im Allgäu verfasst wurden. Wann dies stattfand, lässt sich dem Band leider nicht entnehmen.

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3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

schreibt er Migranten186 oder Vertriebenen die Möglichkeit zu, aus der leidvollen Erfahrung des Heimatverlustes187, aus dem „Schweben über den Standorten“ (WBH 247) auch eine Freiheit zu gewinnen, aus der heraus man erkennen kann, daß jede Heimat […] nichts als Sakralisation von Banalem [ist]; daß Heimat, sei sie wie immer geartet, nichts ist als eine von Geheimnissen umwobene Wohnung. Und daß man, wenn man die in Leiden erworbene Freiheit der Heimatlosigkeit erhalten will, ablehnen muß, an dieser Mystifikation von Gewohnheiten teilzunehmen. (WBH 259–260)

Diese Dialektik zwischen Freiheit und Heimatlosigkeit ist bei Flusser nicht als Abkehr oder Verleugnung von der eigenen Herkunft gedacht, sondern sie entspricht der absurden Situation der Bodenlosigkeit: ohne „vernünftige Basis“, ohne „tragende Struktur“ zu sein. Der Migrant wird frei, nicht wenn er die verlorene Heimat verleugnet, sondern wenn er sie aufhebt. Ich bin Prager und Paulistaner und Robionenser und Jude und gehöre dem deutschen sogenannten Kulturkreis an, und ich leugne dies nicht, sondern ich betone es, um es verneinen zu können. (WBH 253)

Die „Freiheit“ des Migranten, so könnte man folgern, liegt in der Mehrdeutigkeit von „aufheben“, zwischen aufsammeln bzw. (auf)bewahren und auflösen bzw. beenden. Bei Flusser stellt sich dies in folgendem Bild dar: Zwar schleppe jeder Migrant „Brocken der Geheimnisse aller jener Heimaten in seinem Unterbewußtsein mit, die er durchlaufen hat, aber er ist in keinem derartigen Geheimnis verankert.“ (WBH 263). Daran anschließend beschreibt Flusser Migranten als „aus

186Es

ist wichtig in diesem Zusammenhang auf die Begriffswahl „Migrant“ einzugehen. Flusser spricht in diesem Essay von „Migranten“ und für ihn kann dies mehrere Bedeutungen haben: „Wir, die ungezählten Migranten (seien wir Fremdarbeiter, Vertriebene, Flüchtlinge oder […] pendelnde Intelektuelle)“ (WBH 249). In einem anderen Essay, Exil und Kreativität, äußert Flusser sich folgendermaßen: „Ich sage ‚Vertriebene‘ und nicht ‚Flüchtlinge‘ oder Emigranten‘, um die Reichweite des hier angeschnittenen Problems vor Augen zu führen. Denn ich meine nicht nur Phänomene wie die Boat people, Palästinenser oder jüdische Emigration aus Hitlers Europa, sondern jenes Vertriebensein der älteren Generation aus der Welt ihrer Kinder oder Enkel oder jenes Vertriebensein der Humanisten aus der Welt der Apparate. […] Dieser Aufsatz wird von einem mehrfach und in verschiedenen Sinnen Vertriebenen geschrieben.“ (Vilém Flusser: Exil und Kreativität [1984/85]. In: Ders.: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Hg. von Stefan Bollmann. Berlin/Wien 2000. S. 103–109, hier: S. 104). Die Beispiele zeigen, dass sowohl Migration als auch Exil bei Flusser sehr weit gefasste Begriffe sind, die sich nicht eindeutig abgrenzen lasssen und damit eher definitorische Übergänge und Übereinstimmungen zwischen Exil und Migration herausstellen. 187Flusser betont stets die zweiseitige Situation von Migration und Exil: „Denn die Migration ist zwar eine schöpferische Tätigkeit, aber sie ist auch ein Leiden. Wie ja bekanntlich das Tun aus dem Leiden emportaucht“ (WBH 249). Vgl. dazu auch den für diese Thematik zentralen Aufsatz: Flusser, V.: Exil und Kreativität (s. Anm. 186). Darin formuliert Flusser eine gedankliche Perspektive, aus der die Exilsituation, ohne das ihr vorausgegangene und anhaltende Leid dieser Erfahrung negieren zu wollen, als Herausforderung für Kreativität, für „schöpferische Handlung“ zu sehen ist.

3.3  Vilém Flussers mehrsprachige „Bodenlosigkeit“

115

dem Zusammenbruch der Seßhaftigkeit emportauchende[] Nomaden“188 (WBH 250) und als Vorboten einer „heranrückenden heimatlosen Zukunft“ (WBH 263). Wie eng Flussers Konzept der bodenlosen Heimatlosigkeit im Zusammenhang mit seinen theoretischen Überlegungen zu Übersetzung und seiner bewusst mehrsprachigen Schreibpraxis steht, deutet sich bereits im folgenden Zitat an: Kurz, ich bin heimatlos, weil zu zahlreiche Heimaten in mir lagern. Das äußert sich täglich in meiner Arbeit. Ich bin in mindestens vier Sprachen beheimatet und sehe mich aufgefordert und gezwungen, alles Zu-Schreibende wieder zu übersetzen und rückzuübersetzen. (WBH 247)

3.3.3 Übersetzung als sprachliche Bodenlosigkeit Vielleicht ist alles, was ich versuche, eine Theorie der Übersetzung. Dazu lebe ich allerdings nicht lange genug.189

Ein zentraler Text in Flussers theoretischer Auseinandersetzung mit Übersetzung190 ist ein Mitte der 1960er Jahre auf Portugiesisch entstandener Text, Problemas em Traduçao, der von Edith Flusser ins Deutsche übersetzt erstmals 2004 unter dem Titel Probleme mit der Übersetzung191 erschienen ist. Dieser Text, der einst als Einleitung eines größeren aber letztlich unverwirklicht gebliebenen 188Vgl. zum Begriff des Nomadischen, der bei Flusser häufiger auftaucht, v. a. den Essay: Vilém Flusser: Nomadische Überlegungen. In: Ders.: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Hg. von Stefan Bollmann. Berlin/Wien 2000. S. 55–64. Darin erklärt Flusser das verbreitet aufkommende Interesse am Nomadentum damit, dass wir alle durch neue Kommunikationstechnologien und die Informationsrevolution zu nomadisieren beginnen, und stellt die Lebensformen von Sesshaftigkeit und Nomadismus phänomenologisch einander gegenüber. „Seßhafte sitzen und Nomaden fahren.“ (S. 58). „Nomaden sind Leute, die hinter etwas herfahren, etwas verfolgen. […] Gleichgültig, welches das verfolgte Ziel ist, das Fahren ist keineswegs beendet, wenn es erreicht wurde. Alle Ziele sind Zwischenstationen, sie liegen neben dem Weg (griechisch metodos), und als Ganzes ist das Fahren eine ziellose Methode. Ganz anders als das Pendeln des Seßhaften zwischen privat und politisch ist das Fahren des Nomaden ein offenes Schweifen. Jedoch ist dieses ziellose offene Schweifen vielleicht ein perspektivischer, vom Seßhaften begangener Irrtum.“ (S. 60). 189Vilém Flusser im Gespräch mit Hans Joachim Lenger, Hamburg, November 1990. In: Edition Flusser. Bd. 9: Zwiegespräche. Interviews 1967–1991. Hg. von Klaus Sander. Göttingen 1996. S. 146–158, hier: S. 149. 190In den 1960er und Anfang der 1970er Jahren schrieb Flusser einige essayistische Texte über Übersetzung und verfolgte das Ziel, eine umfassende Translationstheorie zu erarbeiten. Versuche, eine solche größere Arbeit zu schreiben, sind aber unvollendet geblieben (vgl. Guldin, R. u. a.: Vilém Flusser (s. Anm. 148). S. 41). 191Vilém Flusser: Probleme mit der Übersetzung (s. Anm. 154). Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mit der Sigle PÜ und unter Angabe der Seitenzahl direkt im Fließtext zitiert. Dass hier aufgrund von mangelnden Sprachkenntnissen des Portugiesischen nun mit einer Übersetzung eines theoretischen Textes über Übersetzung gearbeitet werden muss, ist mit Sicherheit keine ideale Ausgangssituation, soll deshalb selbstreflektierend aber zumindest benannt werden.

116

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

Projektes geplant war, ist „eine Reflexion, die zwischen dem existentiellen und philosophischen Aspekt der Übersetzung eine Brücke zu schlagen versucht.“192 Wie Benjamins Die Aufgabe des Übersetzers führt auch dieser Titel zu falschen Erwartungen, die zu Beginn des Textes jedoch sogleich adressiert werden. Die Arbeit soll „keine Anleitung für Übersetzer“, kein „Handbuch für die Übersetzung und die damit verbundenen Probleme“ (PÜ 15) sein. Die verwendete Methode in diesem Aufsatz ist, wie in vielen Texten Flussers, eine phänomenologische.193 Für seine Überlegungen zum Thema Übersetzung in diesem Text betont Flusser die Bedeutung seiner von Beginn an mehrsprachigen Lebenssituation: „Bei meiner Geburt bin ich in eine zweisprachige Situation geworfen worden und eine der Bedingungen, die mir meine Umgebung auferlegt hat, war das Übersetzen.“ (PÜ 16). Die Folge dessen sei ein „‚natürliches‘ Übersetzen“ (PÜ 16), das introspektiv Klarheit über eine innere Dialektik verschaffe. Ich habe eine deutsche und eine tschechische Seite. Zwischen diesen Seiten zu ­übersetzen, ist in einem gewissen Sinne der Versuch, diese meine innere Dialektik zu überwinden und mich zu finden. Ein zweisprachiges Milieu legt dem Bewusstsein eine strukturelle Selbstentfremdung auf, die an Schizophrenie erinnert. Die Übersetzung gewinnt in einem solchen Kontext eine von der Entfremdung befreiende Funktion. (PÜ 16)

Diese, wie Flusser sie nennt, „von der Entfremdung befreiende Funktion“ der Übersetzung ist meines Erachtens eine zentrale Formulierung in seinem Übersetzungsdenken. Durch den Akt oder besser den Prozess der Übersetzung wird Fremdheit im Sprachenkontakt überwunden, was der Befreiung von einer Art trennenden „Grenze“ zwischen den Sprachen gleichkommt. In Bezug auf die in den vorangegangenen Kapiteln diskutierte Position, die Übersetzungstheorien einnehmen, indem sie unter den Schlagworten „Treue“ und „Freiheit“ stets auch eine Aussage darüber treffen, wie mit sprachlicher, kultureller oder nationaler Fremdheit umzugehen sei, ist dies besonders interessant. Indem Flusser der Übersetzung die Funktion zuteilt, von Entfremdung zu befreien, beschreibt er sie als programmatisch vereinenden Vorgang, der sich in der doppelten Verneinung, von der Entfremdung befreien, auch in einer ethischen Dimension als Schutzmechanismus lesen lässt und damit einem Ausgeschlossensein entgegenwirkt. Flusser vergleicht eine von Beginn an „zweisprachige Situation“ mit der ­Situation von Menschen, die „nur in eine Sprache geboren worden“ (PÜ 16)

192Rainer

Guldin: Einführung. In: Ders. (Hg.): Das Spiel mit der Übersetzung. Figuren der Mehrsprachigkeit im Werk Vilém Flussers. Tübingen/Basel 2004. S. 9–13, hier: S. 11. 193Flusser betont selbst, dass er die Methode nicht dogmatisch verwendet. Er spricht von „der Methode, die ich in dieser Arbeit ‚zu verwenden beabsichtige‘. Ich sage ‚zu verwenden beabsichtige‘ und nicht ‚benutzen werde‘, weil ich mir keine Methode wie eine Zwangsjacke anlegen will, sondern es vorziehe, ein offenes bewegliches Schema zu wählen, das sich gefügig den in Betracht gezogenen Problemen anpasst. Mit diesem Vorbehalt werde ich die phänomenologische Methode auf das Problem der Übersetzung anwenden“ (PÜ 18–19).

3.3  Vilém Flussers mehrsprachige „Bodenlosigkeit“

117

sind.194 Ohne dieses Phänomen verallgemeinern zu wollen, geht Flusser davon aus, dass beim Erlernen weiterer Sprachen die Muttersprache für Menschen, die mit nur einer Sprache groß geworden sind, die „Infrastruktur der neu dazukommenden Sprache“ sei, wie „eine Art natürliche[…] Meta-Sprache“ (PÜ 16). „Das Übersetzen wird in einem solchen Fall das Anpassen an die Muttersprache sein, ohne dass die Basis einer stützenden Struktur fehlen würde, etwas, das wiederum die Situation der Zweisprachigkeit charakterisiert“ (PÜ 16). Das Fehlen einer tragenden Struktur, die Flusser als charakteristisch für die zweisprachige Situation betrachtet, bezeichnet er ebenfalls als „Bodenlosigkeit“195 (PÜ 16). Diese Bodenlosigkeit in der Übersetzung werde zwar „von den Menschen mit einer Muttersprache in gemilderter Form erlebt“, aber grundsätzlich von allen, also auch denjenigen mit nur einer Muttersprache. Die Bodenlosigkeit der Übersetzung, so könnte man im Sinne Flussers vielleicht formulieren, besteht in der Erkenntnis einer Unübersetzbarkeit zwischen den Sprachen, weil die eine Sprache die jeweils andere konsequent infrage stellt. Die Übersetzung enthüllt die Begrenzungen der Kompetenzen der Muttersprache, weil immer wieder unübersetzbare Texte auftauchen. In dem Maße wie die Praxis auf die Unmöglichkeit hinweist, die gelernten Sprachen und die Muttersprache einander anzupassen, wird die Muttersprache als stützende Struktur problematisch. Die Praxis des Übersetzens unterhöhlt die Solidität der Denk- und Verhaltensmodelle, weil sie die Relativität und die Beschränkung von deren Anwendbarkeit sichtbar macht. (PÜ 16–17)

Dieses Phänomen bezeichnet Flusser als die „enthüllende Funktion der Bodenlosigkeit“ (PÜ 17), die beim Übersetzen zutage tritt und die mit der oben erwähnten „von der Entfremdung befreiende[n] Funktion“ der Übersetzung zu denken ist. Dabei handelt es sich jedoch um zwei sich dialektisch gegenüberstehende Phänomene, die sich als zwei Seiten derselben Erkenntnis erweisen. Eine Phänomenologie der Übersetzung sollte den Widerspruch, auf den ich eben hingewiesen habe, folgendermaßen beleuchten: die Notwendigkeit, übersetzen zu müssen, enthüllt die Abgründe zwischen den Sprachen und die Möglichkeit zu übersetzen, die Methode, diese zu überbrücken. Dem Zweisprachigen ist die Übersetzung eine Brücke über den Abgrund, dem Einsprachigen die Enthüllung des Abgrunds. (PÜ 17)

Über das Konzept der Bodenlosigkeit, in seiner Doppeldeutigkeit zwischen Heimatlosigkeit und Freiheit im Sinne von Ungebundenheit, lässt sich bei Flusser eine Verbindung zwischen seinem Denken über Übersetzung und Exil erkennen. Die Bodenlosigkeit der Übersetzung kann entsprechend als „Schwebe über den Sprachen“ (B 83) verstanden werden.

194Vgl. dazu und auch vor dem Hintergrund kolonisierter Sprachen den wichtigen Aufsatz von Jacques Derrida: Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 2/2 (2011). S. 153–168. 195Dies ist im Übrigen eines derjenigen Wörter, die bereits im portugiesischen Originaltext auf Deutsch geschrieben sind.

118

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

Und so, wie Flusser zufolge die Bodenlosigkeit des Exils neben dem schmerzhaften Verlust von tragenden Strukturen jeglicher Art auch eine Freiheit im Sinne von neuen Perspektiven bedeuten kann, ist auch Übersetzung über ein rein linguistisches Verständnis als Übertragung von einer Sprache in eine andere hinausgehend als ständiger (philosophischer) Reflexionsprozess gedacht.196 Ein derartig gefasster Übersetzungsbegriff lässt Übersetzung auch als Überlegung, Interpretation, Kritik oder Neuformulierung in einem anderen Kontext verstehen (vgl. PÜ 18). Genau hier befindet sich die Schnittstelle, an der sich der am Anfang dieses Kapitels begonnene Kreis von Flussers Übersetzungsdenken zu seiner mehrsprachigen und übersetzenden Schreibmethode schließen oder von neuem nachvollziehen ließe. „Die Übersetzung ist in vieler Hinsicht von zentraler Bedeutung für Flussers Leben und Werk: ein philosophischer Begriff, ein kritisches und kreatives Prinzip im Schreibprozess sowie eine Metapher für eine nomadische Existenz zwischen den Kulturen.“197 Mit Guldin lässt sich abschließend auf das Konzept des Nomadismus zu sprechen kommen, das in Flussers Texten eine Rolle spielt.198 Er beschreibt Übersetzung bei Flusser als „Denkbewegung“, die einem „kontinuierliche[n], nomadische[n] Kreisen [gleichkomme], das den Ausgangspunkt nie ganz aus den Augen verliert, sondern immer wieder dorthin zurückkehrt, um ihn ebenso schnell wieder zu verlassen.“199 In Flussers Werk ist der gedankliche Nomadismus mit der Vorstellung eines grundsätzlich endlosen unabschließbaren Übersetzungsvorgangs verbunden. Der Übersetzer sieht sich gezwungen, immer weiterzuziehen und gleichzeitig zum ursprünglichen Einfall zurückzutendieren, um am Ende festzustellen, dass dies gar nicht möglich ist. Die Bedeutung ist heimat- und obdachlos, sie kann nicht an einem bestimmten Text festgemacht und selbst nicht im Original aufgefunden werden. Die diasporische Natur jeglicher Form von Bedeutung ist jedoch nur eine Seite des (Rück)Übersetzungsspiels. Übersetzungen ­entfalten das Vielfältige und verdeutlichen die (noch) verborgenen Potentialitäten eines Textes.200

Das bei Flusser entwickelte Bild vom „Schweben“ des Übersetzers „über den Sprachen“, das pragmatisch gedacht auch Schwierigkeiten aufweist, lässt sich 196„Die

strukturelle Ähnlichkeit zwischen der streng philosophischen Problematik und der Problematik des Übersetzens weist nachdrücklich auf die intime Beziehung zwischen ihnen hin. Der Prozess des Übersetzens nimmt dabei die Stelle der Reflexion ein, die Metasprache die der Transzendenz und das Resultat einer Übersetzung die Stelle der Überwindung der Struktur der philosophischen Tradition. Die Gedanken in Bezug auf das Problem der Übersetzung sind möglicherweise nur eine Variante der Gedanken in Bezug auf das Problem des Denkens. Ich bin davon überzeugt, will daraus aber kein Dogma machen, sondern nur eine working-hypothesis.“ (PÜ 17). 197Guldin, R. u. a.: Vilém Flusser (s. Anm. 148). S. 41. 198Siehe Anm. 188. 199Guldin, R. u. a.: Vilém Flusser (s. Anm. 148). S. 43. 200Guldin, R. u. a.: Vilém Flusser (s. Anm. 148). S. 44–45.

3.3  Vilém Flussers mehrsprachige „Bodenlosigkeit“

119

zum einen als neue Perspektive in (literarischen) Texten bzw. Übersetzungen lesen und zum anderen erscheint die Unabgeschlossenheit des Übersetzens bzw. Unmöglichkeit der „eindeutigen“ Übersetzung als produktives Moment. Die Idee eines solchen dynamischen und endlosen, weil letztlich unmöglich abschließbaren Übersetzungsprozesses, erinnert hier stark an Benjamins Übersetzungstheorie, von welcher Flusser unter anderem beeinflusst war.201 Dies erklärt vielleicht teilweise einen mystischen Charakter, den man auch in Flussers Übersetzungsdenken erkennen kann.

3.3.4 Flussers Übersetzungsdenken als Zugang zu Exilliteratur? Inwiefern lässt sich nun eine Relevanz von Flussers Übersetzungsdenken und -schreiben für die literaturwissenschaftliche Analyse von mehrsprachiger Exilliteratur, die die Themen Übersetzung und Sprache ästhetisch verhandelt, begründen? Eignet sich Flusser als „theoretischer“ Zugang für den analytischen Teil dieser Arbeit? In der Auseinandersetzung mit Flussers Texten hat sich in diesem Kapitel unter anderem gezeigt, dass diese selbst sehr literarisch sind, wenngleich in unterschiedlichem Maße, indem sie zum Beispiel in zentraler Weise mit Sprachbildern operieren. Diese Eigenschaft sowie sein (selbst-)übersetzendes Schreibverfahren machen Flussers Arbeiten einerseits selbst als literaturwissenschaftliches „Analyseobjekt“ interessant. Andererseits geht mit diesem Aspekt aber auch eine Schwierigkeit einher, will man hier von „Theorie“ sprechen, geschweige denn „Gebrauch“ machen. Im Übrigen ist dies nicht zuletzt auf eine Problematik zurückzuführen, die den immer prominenter werdenden Übersetzungsdiskurs generell kennzeichnet: Eine inflationäre metaphorische Verwendung des Übersetzungsbegriffs für außersprachliche Phänomene sowie die metaphorische Beschreibung von sprachlichen Übersetzungsvorgängen führen gegebenenfalls zu einer fehlenden Trennschärfe. Diese Problematik ist auch in Flussers Texten gegeben, zumal er diese selbst nirgends explizit reflektiert, dennoch eine Metaphorisierung in zwei verschiedene Richtungen zum Tragen kommt: „So wie der Begriff der Übersetzung als Metapher des Übergangs und der Vermittlung zur Anwendung kommt, wird umgekehrt auf Metaphern zurückgegriffen, um die Funktionsweise des Übersetzens zu veranschaulichen.“202 Daher ist also eine gewisse Vorsicht vor scheinbar klaren Gesetztheiten geboten, wie sie auch einige in diesem Kapitel herangezogene Zitate und sprachliche Bilder Flussers gegebenenfalls nahezulegen vermögen.

201Flussers

Übersetzungstheorie gehe, so argumentieren Guldin u. a. zentral auf das Werk Benjamins, „besonders die messianische Dimension seines Übersetzungsverständnisses“ (Guldin, R. u. a.: Vilém Flusser (s. Anm. 148). S. 48) zurück. 202Guldin, R: Philosophieren zwischen den Sprachen (s. Anm. 147). S. 204.

120

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

Von einem Theoriemodell der Übersetzung im engeren Sinne kann also nicht die Rede sein, denn Flusser entwickelt kein Theorie-Kit, das man einfach exportieren könnte. Es ergibt sich kein sozusagen theoretisches Kondensat, das sich von der sprachlichen Gestaltung seiner Texte trennen ließe. Stattdessen sind seine philosophisch-theoretischen Überlegen zu Exil und Übersetzung stark an die Art und Weise seines Schreibens gebunden bzw. entspringen sie daraus. Das gilt insbesondere für Bodenlos, das als „philosophische Autobiografie“ ohnehin einer durchaus außergewöhnlichen Textsorte angehört. Es ist also festzuhalten, dass in der Auseinandersetzung mit Flussers Texten eine Abgrenzung zwischen Theorie und literarischen Verfahrensweisen letztlich nicht eindeutig möglich ist. Flussers Ertrag, von dem auch diese Arbeit profitieren kann, besteht aber mit Sicherheit unter anderem darin, ein sowohl theoretisches als auch ästhetisches Konzept von Übersetzen als Denken in mehreren Sprachen entwickelt und praktiziert zu haben, das zwischen Philosophie und Literatur steht. Damit eignen sich Flussers Texte besonders gut als Bezugspunkte für den analytischen Teil der vorliegenden Untersuchung. Seine Überlegungen zu Übersetzung beziehen sich vor allem auf das Übersetzen eigener Texte, stehen also äußerst eng mit der Textproduktion an sich zusammen. Denn es geht bei Flusser letztlich auch zentral um die Frage, inwiefern es kreativ sein kann, sich selbst, d. h. seine eigenen Texte, in andere Sprachen zu übersetzen und darüber hinaus mit solchen Übersetzungen gar ein spezielles Verfahren der Textproduktion zu begründen. Dieser Ansatz bietet gute Anschlussmöglichkeiten u. a. zu mehrsprachiger Exilliteratur. In vielen literarischen Texten des Exils lässt sich ebenfalls eine Auslotung (neuer) ästhetischer Verfahrensweisen durch Mehrsprachigkeit und Übersetzung im Kontext von Exil beobachten, sodass sich ein Zusammenlesen mit Flusser, z. B. durch eine Verknüpfung mit seinen zentralen Metaphern, anbietet und ertragreich sein kann. Darüber hinaus ist Flusser für diese Arbeit besonders interessant, weil er zum einen von einem linguistischen Übersetzungsverständnis ausgeht (und damit konkrete sprachliche Übersetzungen in den Blick nimmt) und zum anderen anschließbar für kulturwissenschaftliche Ansätze ist, wie bereits von einigen Forschungsbeiträgen herausgearbeitet wurde.203 Die generelle Anschlussfähigkeit Flussers für die Kulturwissenschaften zeigt sich zunächst einmal darin, wie auch einige in diesem Kapitel zitierte Textstellen gezeigt haben, dass er, zwar häufig zunächst von Sprache ausgehend, auch übersprachliche kulturelle Phänomene beobachtet und reflektiert hat. Dazu gehört, dass er aus seiner autobiografischen Perspektive heraus und darüber hinaus Migration und Exil in den Blick genommen hat und sich intensiv mit dem historischen und aktuellen Zusammenspiel von Kulturen in Brasilien auseinandergesetzt hat. 203Vgl. dazu z. B. Anke Finger: Jenseits der Medientheorie. Vilém Flusser und die Kulturwissenschaften – Versuch einer grenzüberschreitenden Verortung. In: Susanne Klengel und Holger Siever (Hg.): Das Dritte Ufer. Vilém Flusser und Brasilien. Würzburg 2009. S. 245–259. Sowie: Guldin, R. u. a.: Vilém Flusser (s. Anm. 148) Insbesondere das Kap. 4 „Kulturwissenschaftliche Kontexte: Entgrenztes Denken“ (S. 57–72).

3.4  Übersetzungstheorie in den Kulturwissenschaften

121

Speziell in Bezug auf Flussers Übersetzungsverständnis und kulturwissenschaftliche Herangehensweise formuliert etwa Ernst die These, Flussers Denken sei „mit Versuchen vereinbar, das Konzept der ‚Übersetzung‘ als einen Grundbegriff der kulturwissenschaftlichen Forschung zu etablieren.“204 So betont auch Guldin das „kulturkritische Potential“ in Flussers Übersetzungsdenken, wenn er schreibt: Hier liegt wohl die eigentliche Aktualität von Flussers Übersetzungstheorie begründet: die radikalen erkenntnistheoretischen, kultur- und sprachkritischen Implikationen von Übersetzung gesehen und reflektiert zu haben, und dies vor dem Dekonstruktivismus und der erwähnten Proliferation des Übersetzungsbegriffes in kulturwissenschaftlich argumentierenden Diskursen.205

Ein geeignetes resümierendes Plädoyer aus der kulturwissenschaftlich geprägten Exil(literatur)forschung findet sich bei Krause wie folgt: Flussers Leben und Werk noch stärker innerhalb der Exil- und Migrationsliteratur zu kontextualisieren sowie Vergleiche zwischen anderen Autoren herzustellen, verspricht eine produktive kulturwissenschaftliche Reflexion über verschiedene Exilphänomene. Für die Exilforschung sind Flussers vielfältige Übersetzungsprozesse und polyglotte Schreibversuche größtenteils noch zu entdecken und aufzuarbeiten, wobei sich Flusser wohl selbst als ein bislang relativ wenig beachteter Vorläufer der Kulturwissenschaften erweisen dürfte.206

In diesem Sinne sollen hier anknüpfend jene Entwicklungen skizziert werden, die dafür gesorgt haben, dass der Übersetzungsbegriff und damit zusammenhängende übersetzungstheoretische Ansätze Einzug in den Bereich der Kulturwissenschaften gehalten haben, mit dem Ziel, die jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen eines derartig erweiterten Übersetzungsverständnisses für die literaturwissenschaftliche Exilforschung zu erarbeiten.

3.4 Übersetzungstheorie in den Kulturwissenschaften Wie in den vorangegangenen Teilkapiteln in unterschiedlicher Hinsicht deutlich geworden ist, drehen sich theoretische Verhandlungen und Reflexionen über Übersetzung seit jeher um die Positionierung zwischen den Kategorien von Treue und Freiheit beim Übersetzen. Es ist auch erkennbar geworden, dass dies keine Frage ist, die mit „entweder – oder“ beantwortet werden kann, wenngleich ältere, dualistisch formulierte Ansätze, wie etwa Schleiermachers, dies zunächst

204Ernst,

C.: Verwurzelung vs. Bodenlosigkeit (s. Anm. 179). S. 1. Guldin: Das Übersetzungsspiel: Zur kulturkritischen Dimension von Vilém Flussers mehrsprachigem Denkstil. In: TRANS 15 (2004). Unter: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_5/guldin15.htm (12.04.2019). 206Krause, R.: Übersetzungsexperimente zwischen Sprachen und Kulturen (s. Anm. 149). S. 111. 205Rainer

122

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

n­ ahezulegen scheinen. Treue und Freiheit in der Übersetzung sind vielmehr als zwei Pole auf einer Skala vorzustellen, zwischen denen extremere Positionen, die deutlich zu einer der beiden Seiten tendieren, oder neutralere Positionen in der Mitte eingenommen werden können. Bei Benjamin und Flusser zeigten sich Übersetzungskonzeptionen, die sich von diesen Kategorien entweder gänzlich lösen oder innerhalb eines philosophischen Denk- und Schreibverfahrens damit experimentieren. Grundsätzlich aber, unabhängig von der unterschiedlichen Ausprägung der Standpunkte, ist das Austarieren von Übersetzungsansprüchen und -maßstäben, wie es zunächst auf sprachlicher Ebene stattfindet, immer auch als Auseinandersetzung mit Aspekten und Vorgängen von kultureller Begegnung zu denken: Fremdheit, Akkulturation, Anpassung, Verfremdung, von der Entfremdung befreien, Verwurzelung, Bodenlosigkeit, kulturelle oder nationale Originalität etc. konnten als Bezugspunkte entdeckt werden, die sowohl inhaltlich als auch zur sprachlichen Gestaltung der hier betrachteten Übersetzungstheorien mit literarischer Prägung beitragen. Bei Flusser, dessen übersetzungstheoretischen Überlegungen untrennbar mit der Erfahrung und Reflexion des Exils verbunden sind, zeigte sich eine deutliche Verbindung der Betrachtung von Sprachkonstellationen mit Kulturkonzepten wie Exil, Migration oder Nomadismus. Benjamin ist mit seiner Auffassung von Sprache und seiner Neubewertung des Verhältnisses von Übersetzung und Original, womit er unter anderem ein Denken der Dekonstruktion prägte, indirekt ein wichtiger Vordenker für solche Perspektiven, die über Sprachen hinaus auch die Existenz von eindeutig abzugrenzenden und in sich homogenen Kulturen in Zweifel ziehen und sich stattdessen auf kulturelle Übergänge, Überlagerungen, Brüche oder Verflechtungen konzentrieren. Daher können sowohl Flusser als auch Benjamin, wenngleich auf unterschiedliche Weise, als Wegbereiter einer Entwicklung gesehen werden, die als translational turn bezeichnet wird und zwischen den Übersetzungswissenschaften und Kulturwissenschaften angesiedelt ist. Bevor die auch für die vorliegende Untersuchung wichtige Anregungen liefernde Fusion von Übersetzung(swissenschaft) und Kultur(wissenschaft) in Abschn. 3.4.2 genauer betrachtet wird, erfolgt noch ein Blick auf die bereits einige Male erwähnte Disziplin der Übersetzungswissenschaften, um die Zusammenhänge besser situieren zu können.

3.4.1 Entwicklung der Übersetzungswissenschaft als eigenständige Disziplin Die Forderung nach einer eigenständigen Übersetzungswissenschaft ist zwar bereits Anfang des 19. Jahrhunderts bei Schleiermacher zu finden,207 aber es

207Vgl. Siever, H.: Übersetzen und Interpretation (s. Anm. 35). S. 18. Siever beruft sich dabei auf ein Zitat aus Schleiermachers 1818 Text erschienenen Text „Alte Literatur. Über die Farbengebung des Alterthümlichen in Verdeutschung alter klassischer Prosa“, in dem Schleiermacher explizit fordert, dass es eine „Uebersetzungswissenschaft“ geben müsse.

3.4  Übersetzungstheorie in den Kulturwissenschaften

123

musste noch einige Zeit vergehen, bis sich ein akademischer Forschungsbereich allmählich herausbildete, indem „eine systematische und nachhaltige Auseinandersetzung mit den Problemen des Übersetzens begann.“208 Die Übersetzungswissenschaft ist eine verhältnismäßig junge Disziplin. Ihre Anfänge lassen sich ungefähr auf die Mitte des 20. Jahrhunderts festlegen.209 Bei der Herausbildung und Entwicklung Übersetzungswissenschaften sind die ersten Impulse auf die Linguistik zurückzuführen, die sich in den 1960er Jahren erstmals umfassender mit dem Übersetzen befasste, nachdem dies zuvor eher Übersetzer*innen und Schriftsteller*innen zufiel. Es herrschte lange und auch teilweise heute noch Uneinigkeit darüber, ob es sich bei der Übersetzungswissenschaft um eine zwar interdisziplinär arbeitende, aber dennoch eigene Wissenschaftsdisziplin handelt oder ob sie eine Interdisziplin ist und damit nicht eigenständig sei. Siever plädiert ausdrücklich dafür, Übersetzungswissenschaft als eigenständige Wissenschaftsdisziplin zu begreifen, so wie es in Deutschland und anderen Teilen Europas auch durch die universitäre Institutionalisierung repräsentiert ist.210 Eine grundsätzliche Problematik besteht nach Radegundis Stolze allerdings darin, dass durch die Interdisziplinarität dieser Fachrichtung ein immer breiteres Feld entsteht, welches eher durch das Hinzukommen neuer Ansätze und einer Vielzahl konkurrierender Begriffe und Termini geprägt ist, anstatt sich durch zunehmende Klarheit und Eindeutigkeit hin zu einer allgemeinen Übersetzungstheorie zu bewegen.211 Dies sei im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass bereits die Grenzen zwischen „Übersetzungstheorie“ und „Übersetzungswissenschaft“ fließend sind und es innerhalb der Übersetzungswissenschaften „noch nicht entschieden ist, ob es sich hier um eine allgemeine, reine Theoriediskussion handelt oder vielmehr um eine angewandte Sprachwissenschaft, welche die Verbesserung konkreter Übersetzungsleistungen zum Ziel hat.“212 Die Bezeichnungen der Disziplin variieren daher allein im deutschen Sprachraum zwischen „Übersetzungswissenschaft, Übersetzungstheorie, Translationslinguistik, Translationswissenschaft, Translationstheorie, Translatologie, Translatorik“213. Hier werden jeweils deutliche Akzentverschiebungen in der Ausrichtung ersichtlich. Wolle man die zentralen Unterschiede zwischen den geläufigsten Übersetzungstheorien herausarbeiten, wird laut Stolze die Schwierigkeit erkennbar, dass „kaum jemand eine klar umrissene, stringente Theorie als solche entworfen

208Siever,

H.: Übersetzen und Interpretation (s. Anm. 35). S. 18. Siever, H.: Übersetzen und Interpretation (s. Anm. 35). S. 17. 210Vgl. Siever, H.: Übersetzen und Interpretation (s. Anm. 35). S. 13. 211Vgl. Stolze, R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 9. 212Stolze, R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 10. 213Stolze, R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 9–10. Im Folgenden wird weiterhin von Übersetzungswissenschaft oder Translationswissenschaft gesprochen, da mir diese Bezeichnungen am umfassendsten und zugleich neutralsten erscheinen. 209Vgl.

124

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

hat“214. Damit einhergehend stünden sich Übersetzungstheorien nicht selten in ihrer inhaltlichen Aussage deutlich entgegen und widersprächen sich gar, indem sie zum Beispiel völlig verschiedene Aspekte der Übersetzung betonen bzw. betrachten. Dies kann nicht zuletzt auch zu einer mangelnden Vergleichbarkeit untereinander führen, obwohl sich das Untersuchungsfeld prinzipiell nicht wesentlich verändert hat. „Die Entwicklung [der Übersetzungswissenschaften, Anmerkung: A.B.] verlief keineswegs geradlinig, sondern eher wie eine Spirale, immer wieder aus anderen Blickwinkeln um dieselben Fragen kreisend.“215 Im Zuge der fachlichen Entwicklungen hat sich auch der Blick auf den*die Übersetzer*in und seine*ihre Rolle bis heute stark verändert. Tendenziell rücken Übersetzer*innen stärker ins Zentrum des Interesses. Wie man anhand der unterschiedlichen theoretischen Ansätze seit den 1960er Jahren nachverfolgen kann, tritt etwa seit den 1990er Jahren verstärkt eine „Berücksichtigung der kognitiven Leistungen und interkulturellen Kompetenz des Übersetzers“216 zutage.217 Bezüglich einer solchen „interkulturellen Kompetenz“ von Übersetzer*innen wurden Anregungen der interkulturellen Kommunikationsforschung und Kultursemiotik übernommen.218 In diesem Zusammenhang steht auch die in den folgenden Teilkapiteln dargestellte interdisziplinäre Entwicklung eines kulturwissenschaftlichen Übersetzungsbegriffes, dessen Entstehung, Einflüsse und Folgen für die gegenwärtige Debatte sowie seine Möglichkeiten und Grenzen nachgezeichnet werden sollen. Lawrence Venuti ist einer derjenigen, die die Debatte um den*die Übersetzer*in seit den 1990ern deutlich beeinflusst haben. Seine Monografie The Translator’s Invisibility219 hat innerhalb des internationalen übersetzungswissenschaftlichen Diskurses für einige neue Diskussionen gesorgt, weil Venuti darin als einer der Ersten dafür argumentiert, ein*e Übersetzer*in solle sich in den zu übersetzenden Text einschreiben und sich damit sichtbar machen. Er kritisiert damit auch die historisch sehr lange aufrecht erhaltene Einstellung, Übersetzer*innen müssten zugunsten ‚flüssiger Übersetzungen‘220 möglichst unsichtbar sein und sich daher auf gewisse Weise selbst nivellieren. Ziel eines solchen ‚unsichtbaren‘

214Stolze,

R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 10. R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 9. 216Siever, H.: Übersetzen und Interpretation (s. Anm. 35). S. 17. 217Nach Heidemarie Salevsky lassen sich seit der Entstehung der Übersetzungswissenschaften drei chronologische Entwicklungsphasen nachzeichnen, die Unterschiedliches in den Fokus nehmen: 1) Texte (Textlinguistik), 2) Übersetzungsprozesse (Handlungstheorie, Kommunikationstheorie), 3) Übersetzer*innen (Psychologie, Psycholinguistik) (vgl. Heidemarie Salevsky: Translationswissenschaft. Ein Kompendium. Frankfurt 2002. S. 204–205). 218Vgl. Siever, H.: Übersetzen und Interpretation (s. Anm. 35). S. 16. 219Lawrence Venuti: The Translator’s Invisibility. A History of Translation. London 1995. 220Die Translationsnorm der „fluent translation“ herrschte seit dem 16. Jahrhundert in der anglo-amerikanischen Übersetzungspraxis vor (vgl. Stolze, R.: Übersetzungstheorien (s. Anm. 2). S. 205). 215Stolze,

3.4  Übersetzungstheorie in den Kulturwissenschaften

125

Übersetzens sei es, Spuren von Alterität, Fremdheit oder Verfremdung zu vermeiden. Zugleich würde verdeckt, wie sehr die Arbeit von Übersetzer*innen die Entwicklung des internationalen literarischen und wissenschaftlichen Geschehens beeinflusst und wie prägend sie für die Art und Weise ist, wie ‚fremde‘ Kulturen und Gesellschaften einander sehen. Daher argumentiert Venuti für einen Paradigmenwechsel, demzufolge postmoderne Übersetzer*innen aufgerufen sind, ihre Rolle und ihr Vorgehen, nicht zuletzt angesichts asymmetrischer Machtverhältnisse, genauer zu betrachten und zu reflektieren und zugleich in ihrer Mittelbarkeit deutlich sichtbarer als je zuvor in ihren Übersetzungen hervorzutreten.

3.4.2  Translational turn: Übersetzung als kulturwissenschaftliches Paradigma In den letzten zehn Jahren hat sich in den Kultur- und Sozialwissenschaften ein Übersetzungsdenken zunächst allmählich herausgebildet und dann immer rasanter verbreitet – eine Entwicklung, die unter der Bezeichnung translational turn221 zusammengefasst wird. Im Zuge dieses translational turn wird der Vorgang des Übersetzens „mehr und mehr aus dem linguistisch-textlichen Paradigma herausgelöst“222. Voraussetzung hierfür ist die vorangegangene kulturwissenschaftliche Wende in der Übersetzungswissenschaft seit Ende der 1980er Jahre. Mit dieser Wende vollzog sich eine Neuorientierung der philologisch-linguistischen Übersetzungswissenschaft, deren Gegenstand in erster Linie Sprachen und Texte sind, hin zu einer kulturwissenschaftlichen Übersetzungsforschung, die sich immer stärker für Fragen „kultureller Übersetzung“ öffnet.223 Wenngleich sich interdisziplinär bereits seit einiger Zeit immer mehr auf Übersetzung gerichtete und mit Übersetzungsbegriffen hantierende Forschungsansätze herausbilden, gibt es noch keine übergreifende systematisch-theoretische Ausarbeitung dieser translatorischen Wende. Ein sich zunehmend etablierendes erweitertes Übersetzungsverständnis beeinflusst die Sicht auf die kulturwissenschaftlich betrachteten Phänomene selbst. Dies manifestiert sich im Bereich der Kulturtheorie als neues Verständnis von Kultur als Übersetzung.224 Die Konzeption eines durch Übersetzung geprägten ­Kulturbegriffs basiert auf einem dynamisierten Kulturverständnis, welches sich

221Im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff insbesondere von der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick etabliert. Die folgende Darstellung der Herausbildung des translational turn erfolgt hier in Anlehnung an: Doris Bachmann-Medick: Translational Turn. In: Dies.: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Neu bearb. 4. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2010. S. 238–283. 222Bachmann-Medick, D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 238. 223Vgl. Bachmann-Medick, D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 238. 224Vgl. Bachmann-Medick, D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 245.

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3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

von starren kulturwissenschaftlichen Modellen löst und stattdessen den Akzent auf kulturelle Übersetzungsprozesse legt. Denn im Gegenzug zu Vereinheitlichungstendenzen, zu Identitätsbehauptungen und essenzialistischen Festschreibungen lassen sich mit der Übersetzungsperspektive konkrete Differenzstrukturen freilegen: heterogene Diskursräume innerhalb einer Gesellschaft, kulturinterne Gegendiskurse, bis hin zu Diskursformen von Widerstandshandlungen.225

Übersetzung wird zu einer wichtigen Kategorie für die Aushandlung von kulturellen Grenzen und Differenzen, weil sie „der vermeintlichen Reinheit von Konzepten wie Kultur, Identität, Religion usw.“226 widerstrebt. In verschiedenen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen arbeitet man demnach direkt oder indirekt auf ein nicht-dichotomisches Übersetzungsmodell hin […], das keine festen Pole mehr annimmt, sondern die Wechselseitigkeit der Transfers sowie Zustände des Immer-schon-Übersetztseins hervorhebt.227

Hier deutet sich eine interdisziplinäre Anschlussfähigkeit an, die im translational turn verankert ist. Denn „im Unterschied zu anderen kulturwissenschaftlichen Leitkategorien wie Raum oder Bild“ ist die Übersetzungskategorie „geradezu selbstreflexiv, nämlich ausdrücklich auf die eigene kulturwissenschaftliche Tätigkeit als einer Übersetzungstätigkeit bezogen.“228 Gründe für die zunehmende Herausbildung eines translational turn sind mit Sicherheit in den neuen Konstellationen zu sehen, die das gegenwärtige Zeitalter von Migration und Globalisierungsprozessen mit sich bringt. Die Betonung von Übersetzungsvorgängen resultiert insofern wesentlich aus sich immer stärker abzeichnenden Übersetzungsnotwendigkeiten und -herausforderungen der Gegenwart.229 Die translatorische Wende führt aus diesem Grund ferner dazu, dass Kultur zunehmend in einem räumlichen Paradigma als Prozess der Über-Setzung verstanden wird. Hierbei geht es unter anderem um die Erforschung von Migrationsprozessen und transitorischen Zwischenräumen, die als Übersetzungsräume betrachtet werden. Der translational turn befinde sich nach Bachmann-Medick insofern „[m]it einem Bein […] durchaus auch im spatial turn“230. Damit einhergehend wird die in der Kulturwissenschaft und -politik bis heute „weit verbreitete Vorstellung vom Übersetzen als Brückenbauen“231 abgelöst. Eine neue

225Bachmann-Medick,

D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 249. D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 246. 227Bachmann-Medick, D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 246. 228Bachmann-Medick, D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 272. 229Vgl. Bachmann-Medick, D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 240. 230Bachmann-Medick, D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 247. 231Bachmann-Medick, D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 254. 226Bachmann-Medick,

3.4  Übersetzungstheorie in den Kulturwissenschaften

127

Sichtweise richtet sich daher gerade auch auf Brüche, Differenzen, Missverständnisse und Fehlübersetzungen in Übersetzungsprozessen.232 Was Bachmann-Medick hier für gegenwärtige Phänomene von Migration und Globalisierung nachzeichnet, ist meines Erachtens durchaus auch relevant für historische Konstellationen. Ich würde sogar dafür plädieren, dass es geradezu notwendig ist, die durch aktuelle Debatten gewonnenen neuen Zugänge, Perspektiven und Begriffe auch auf vorausgegangene Zeiten zu richten, in denen sprachliche Übersetzungsbewegungen mit räumlichen und kulturellen korrelieren. Die Geschichte und Literatur des Exils aus NS-Deutschland und Österreich seit 1933 bis weit in die Nachkriegszeit hinein ist in dieser Hinsicht noch kaum erforscht. Zahlreiche bereits bestehende Betrachtungen über die Literatur dieses Exils, das insgesamt recht gut und breit erforscht ist, könnten mithilfe einer solchen translatorischen Sichtweise sinnvoll ergänzt werden. Insofern stellt sich die Frage, ob sich nicht auch auf das historische Exil übertragen lässt, was die Übersetzungswissenschaftlerin Michaela Wolf als die sich in der Gegenwart immer mehr herausbildende „Denkfigur von Migration als Übersetzung“233 beschreibt. Migration wird demnach als Übersetzung über sprachliche, nationale und kulturelle Grenzen hinweg aufgefasst. Für Exil, das man als Sonderform einer solchen Migration begreifen kann und dem zumeist Vertreibung und Flucht aus der einstigen Heimat vorausgegangen sind, trifft das Folgende in mindestens ähnlicher, wenn nicht sogar noch verstärkter Weise zu: Wird nun konsequenterweise Migration als Ort der Differenz und der Brüchigkeit verstanden, so übernimmt die Kategorie der Grenze eine Schlüsselrolle in der Konzeptualisierung des „kulturellen Übersetzens der Migration“: Übersetzen bedeutet ja, nicht nur entlang der Grenzen zu arbeiten, sondern diese auch kontinuierlich in Frage zu stellen […].234

Begreift man nun Exil als spezifische Art der Migration und diese wiederum als Übersetzung, wird zum einen das Medium Sprache und seine Bedeutung für Migrationszusammenhänge betont. „Das heißt, Migration als physischer, materieller und geistiger, mentaler Prozess ruft Repräsentationen auf den Plan, die zumeist durch Sprache realisiert werden.“235 Zum anderen wird mit diesen Denkfiguren von Migration und Exil als Übersetzung konsequent ein Akzent auf die jeweilige Prozesshaftigkeit und Dynamik dieser räumlichen, kulturellen und sprachlichen Bewegungen von Menschen gelegt. Dies bedarf erstens einer Definition von Übersetzung, die über den traditionellen Begriff weit hinausgeht. Zweitens „ist ein

232Vgl.

Bachmann-Medick, D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 254–255. dazu Michaela Wolf: Zur kulturellen Übersetzung der Migration: Theoretische Vorüberlegungen. In: Gisella Vorderobermeier und Michaela Wolf (Hg.): „Meine Sprache grenzt mich ab …“. Transkulturalität und kulturelle Übersetzung im Kontext von Migration. Wien/Berlin 2008. S. 21–36. 234Wolf, M.: Zur kulturellen Übersetzung (s. Anm. 233). S. 28. 235Wolf, M.: Zur kulturellen Übersetzung (s. Anm. 233). S. 23. 233Vgl.

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3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

Kulturkonzept vonnöten, das grenzüberschreitende Denkoperationen zulässt und kulturelle Überlappungsbereiche freilegt“236. Die postkoloniale Hybriditätstheorie hat mit ihrem Konzept des dritten Raums den Grundstein für ein Verständnis von Kultur gelegt, in dem „kulturelle Übersetzung“ als zentrale Figur funktioniert. Somit wird „der Blick auf das Prozessuale kultureller Übergänge ebenso gelenkt […] wie auf die Konstruiertheit von Kulturen“237, weil sich in eben jenen Übersetzungsvorgängen der Konstruktcharakter kultureller Zuschreibungen und Identitäten erkennen lässt. So stammen einige wichtige und initiierende Anstöße für das hier skizzierte kulturwissenschaftlich geprägte Übersetzungsdenken besonders aus postkolonialen Strömungen. Nach Bachmann-Medick habe sich der translational turn bereits in Zusammenhang mit dem postcolonial turn238 angekündigt, weil es schon hier zu einer Neubewertung von Übersetzungsprozessen gekommen ist.239 Daher ist es lohnenswert, im folgenden Abschnitt einen Blick auf das Konzept kultureller Übersetzung zu werfen, das Homi Bhabha im Rahmen seiner postkolonialen Theorie der Hybridität und des third space entwickelt.

3.4.3 Postkoloniale Theorie und kulturelle Übersetzung Homi Bhabha ist einer der prominentesten Theoretiker des Postkolonialismus. Aus einer stark von Derrida und der Dekonstruktion beeinflussten Perspektive hat er das Konzept der kulturellen Übersetzung ganz wesentlich geprägt. Dem Philosoph und Kulturwissenschaftler Boris Buden zufolge begreift Bhabha kulturelle Übersetzung sogar synonym mit seinem zentralen Begriff der Hybridität.240 Bhabha geht in seinen Aufsätzen, die in The Location of Culture, in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Die Verortung der Kultur241, zusammengetragen sind, davon aus, dass Kultur generell nicht als binär zu verstehen ist.

236Wolf,

M.: Zur kulturellen Übersetzung (s. Anm. 233). S. 24. M.: Zur kulturellen Übersetzung (s. Anm. 233). S. 24. 238Vgl. dazu Doris Bachmann-Medick: Postcolonial Turn. In: Dies.: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Neu bearb. 4. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2010. S. 184–237. 239Vgl. Bachmann-Medick, D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 240. 240Vgl. Buden, B.: Kulturelle Übersetzung (s. Anm. 140). S. 4. 241Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur [1994]. Mit einem Vorw. von Elisabeth Bronfen. Deutsche Übers. V. Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen 2000. Martina Wagner-Egelhaaf betont, dass die deutsche Übersetzung des englischen Titels The Location of Culture mit dem Begriff „Verortung“ nicht ganz treffend gewählt sei. Als geeigneter erachtet sie „Entortung“ oder „Deplazierung“ (vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Verortungen. Räume und Orte in der transkulturellen Theoriedebatte und in der neuen türkisch-deutschen Literatur. In: Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart 2005. S. 745–768, hier: S. 753). 237Wolf,

3.4  Übersetzungstheorie in den Kulturwissenschaften

129

Stattdessen sagt seine Theorie der Hybridität, dass kulturelle Differenz erst im Zusammentreffen von Kulturen, in der Interaktion und durch wechselseitiges Infragestellen entsteht. Dazu müssen Räume zwischen den Kulturen durchschritten werden. Kulturen begegnen sich im sogenannten „dritten Raum“. „Im ‚dritten Raum‘ finden nach Bhabha Prozesse der ‚Übersetzung und Verhandlung‘, also der Hybridisierung statt“242. Die nichtsynchrone Zeitlichkeit globaler und nationaler Kulturen eröffnet einen kulturellen Raum – einen dritten Raum –, in dem die Verhandlung inkommensurabler Differenzen eine Spannung schafft, wie sie für Existenz(weis)en an der Grenze typisch ist.243

Der dritte Raum ist weder abgeschlossen noch zwischen zwei Welten „eingeklemmt“, er ist vielmehr ein Transitraum, ein Schwellenraum, ein Ort des Durch- oder Übergangs. In diesem Zwischenraum der Übersetzungen werden eindeutige Verortungen verwehrt und es entstehen Hybriditäten. Hier sammeln sich inkommensurable Überreste von Übersetzungen, die belegen, dass direkte, „saubere“ oder „glatte“ Übersetzungen nicht möglich sind, sondern immer etwas dazwischen kommt. Daher ist der „Prozeß der kulturellen Übersetzung (translation) und Umwertung (transvaluation)“244 sowohl ein zentraler Gegenstand als auch ein wichtiges Bestreben postkolonialer Denker*innen, Theoretiker*innen, Schriftsteller*innen und Künstler*innen. Nach Bhabha ist Kultur prinzipiell „sowohl transnational als auch translational“245. Sie ist transnational, weil die zeitgenössischen postkolonialen Diskurse in spezifischen Geschichten der kulturellen De-plazierung wurzeln […]. Kultur ist translational, weil […] solche räumliche Geschichten der De-plazierung […] die Frage, was Kultur signifiziert oder was durch Kultur signifiziert wird, zu einer höchst komplexen Angelegenheit machen.246

Kulturen sind translational, weil sie einerseits immer schon von anderen Kulturen durchsetzt beziehungsweise an sich aus Übersetzungsprozessen hervorgegangen sind. Andererseits vollziehen und verändern sie sich stets von Neuem im performativen Akt der Übersetzung und bilden somit keinen statischen ­Bezugspunkt.

242Hendrik

Blumentrath u. a.: Transkulturalität. Türkisch-deutsche Konstellationen in Literatur und Film. Münster 2007. S. 25. 243Homi K. Bhabha: Wie das Neue in die Welt kommt: Postmoderner Raum, postkoloniale Zeiten und die Prozesse kultureller Übersetzung. In: Ders.: Die Verortung der Kultur [1994]. Deutsche Übers. von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen 2000. S. 317–352, hier: S. 326. 244Homi K. Bhabha: Das Postkoloniale und das Postmoderne. In: Ders.: Die Verortung der Kultur [1994]. Deutsche Übers. von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen 2000. S. 255– 294, hier: S. 259. 245Bhabha, H. K.: Das Postkoloniale und das Postmoderne (s. Anm. 244). S. 257. 246Bhabha, H. K.: Das Postkoloniale und das Postmoderne (s. Anm. 244). S. 257.

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3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

Daher fordert Bhabha: „Es muß einen Stamm von Dolmetschern […] geben – die Übersetzer der Dissemination von Texten und Diskursen über Kulturen hinweg“247. Sie können einen Beitrag dazu leisten, dass „[n]ationale Gegen-Geschichten […] die – wirklichen und begrifflichen – totalisierenden Grenzen der Nation zur Sprache bringen und verwischen“248. Es zeigt sich, dass die postkoloniale Akzentuierung kultureller Übersetzungsvorgänge davon ausgeht, dass Kultur narrativ erzeugt, weitergegeben und erhalten wird. Kultur wird, wie im Übrigen auch Nation und Geschichte249, in diesem Verständnis auch als Ergebnis von Narration, als Erzählung begriffen. Zum einen wird damit ihre konstruktive Beschaffenheit herausgestellt. Zum anderen werden jene Machtdiskurse dekonstruiert, aus denen Nationen hervorgehen und mittels derer sie durch Erzählungen legitimiert und werden – insofern bedürfen sie der Übersetzung. Aus diesem Grund ist der dritte Raum im Sinne Bhabhas notwendigerweise als Äußerungsraum250 zu denken, in dem sich die Geschichte(n), die Na(rra)tionen und Kulturen begegnen. Dort kreuzen und widersprechen sie sich. Sie müssen übersetzt werden und bleiben dennoch immer ein Stück weit unübersetzbar, zumindest sind sie nicht einfach übertragbar oder vermittelbar. Das zeigt, dass es nach Bhabha, ähnlich wie nach Benjamin, kein ursprüngliches, fixierbares Original gibt. Davon ausgehend, dass Geschichte niemals objektiv ist, nimmt die postkoloniale Perspektive an, dass es sich in der Geschichtsschreibung meist um die Geschichte(n) ‚der großen Männer‘ handele, auf deren Grundlage sich wiederum Nationen erbauen und selbst bestätigen. Genauso wenig gibt es so etwas wie eine eindeutige Kultur oder kulturelle Identität, die auf Kulturformen wie Sprachen, Denkmustern, Handlungsweisen oder Religionen beruht. Gerade in politischen, ideologischen oder religiösen Zusammenhängen und Konflikten wird dies aber immer wieder behauptet. Benjamin schreibt in seinen Geschichtsthesen: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von dem einen

247Homi K. Bhabha: DissemiNation. Zeit, Narrative und die Ränder der modernen Nation. In: Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius und Therese Steffen (Hg.): Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte. Tübingen 1997. S. 149–194, hier: S. 152. 248Bhabha, H. K.: DissemiNation (s. Anm. 247). S. 163. 249Bhabha knüpft diesbezüglich an Benjamins Verständnis von Geschichte an, das er in seinen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ entwickelt. Benjamin verankere in seinem Geschichtsverständnis die grundlegende Ambivalenz der modernen nationalen Narrative und treibe „eine asynchrone, inkommensurable Spalte in das Zentrum des Geschichtenerzählens.“ (Bhabha: DissemiNation (s. Anm. 247). S. 181). 250Vgl. Homi K. Bhabha: Das theoretische Engagement. In: Ders.: Die Verortung der Kultur [1994]. Deutsche Übers. V. Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen 2000. S. 29–58, hier: S. 56.

3.4  Übersetzungstheorie in den Kulturwissenschaften

131

an den anderen gefallen ist.“251 Um diesen hierarchischen und machtpolitischen Mechanismus kultureller Überlieferung aufzudecken, stellt Bhabha die Bedeutung des dritten Raumes heraus: Erst wenn wir verstehen, daß sämtliche kulturelle Aussagen und Systeme in diesem widersprüchlichen und ambivalenten Äußerungsraum konstruiert werden, begreifen wir allmählich, weshalb hierarchische Ansprüche auf die inhärente Ursprünglichkeit oder ‚Reinheit‘ von Kulturen unhaltbar sind […].252

Wie diese strikte Negierung von kulturellen Konzepten der Ursprünglichkeit oder Reinheit vermuten lässt, greift Bhabha hier Benjamins Gedanken zur Übersetzung auf.253 In mehreren Texten nimmt er explizit Bezug auf den Übersetzer-Aufsatz und kommt zu folgender Beurteilung: „Benjamins Argumentation kann zu einer Theorie kultureller Differenz ausgearbeitet werden.“254 Im Unterschied zu Derrida und de Man richtet Bhabha sein Interesse weniger auf den Aspekt der Fragmentierung des Originals.255 Ihm gehe „es mehr um das ‚fremde‘ Element, welches das Zwischenräumliche enthüllt“256. „[A]us der Perspektive des Sich-SelbstFremdseins ist es möglich“, so heißt es an anderer Stelle, „die spezifische Lokalität kultureller Systeme – ihre inkommensurablen Differenzen – einzuschreiben und durch dieses Erfassen von Differenz den performativen Akt kultureller Übersetzung zu vollziehen.“257 Es wird schließlich deutlich, dass Bhabha die Überlegungen aus Benjamins bahnbrechendem Essay auf sein Konzept der kulturellen Übersetzung überträgt. Das Neue an der kulturellen Übersetzung gleicht dem, was Benjamin als die ‚Fremdheit der Sprachen‘ beschreibt – jenem Problem der Repräsentation, das der Repräsentation selbst innewohnt. […] Mit dem Konzept der ‚Fremdheit‘ kommt Benjamin der Beschreibung der Performativität der Übersetzung als Inszenierung kultureller Differenz am nächsten.258

251Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 1.2. Frankfurt a. M. 1978. S. 691–704, hier: S. 696. 252Bhabha, H. K.: Das theoretische Engagement (s. Anm. 250). S. 57. 253Bhabha nimmt darüber hinaus insbesondere in seinen Aufsätzen Wie das Neue in die Welt kommt. Postmoderner Raum, postkoloniale Zeiten und die Prozesse kultureller Übersetzung (vgl. S. 335, 339–341, 352) und DissemiNation. Zeit, Narrative und die Ränder der modernen Narration (vgl. S. 194) explizit Bezug auf Benjamins Übersetzer-Aufsatz. 254Bhabha, H. K.: DissemiNation (s. Anm. 247). S. 185. 255Vgl. Bhabha, H. K.: Wie das Neue in die Welt kommt (s. Anm. 243). S. 340. 256Bhabha, H. K.: Wie das Neue in die Welt kommt (s. Anm. 243). S. 340. 257Bhabha, H. K.: DissemiNation (s. Anm. 247). S. 185. 258Bhabha, H. K.: Wie das Neue in die Welt kommt (s. Anm. 243). S. 339.

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3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

Bhabha versteht Übersetzung als die „performative Natur kultureller Kommunikation“259. Insbesondere angesichts von weltweiten Migrations- und Fluchtbewegungen gewinnen Übersetzungsprozesse an Komplexität und vor allem an Wichtigkeit. Die transnationale Dimension kultureller Transformation – Migration, Diaspora, De-plazierung, Neuverortung – läßt den Prozeß kultureller Translation zu einer komplexen Form der Signifikation werden. Der natürliche oder naturalisierte, einheitsstiftende Diskurs, der auf festverwurzelten Mythen der kulturellen Besonderheit wie ‚Nation‘, ‚Völkern‘ oder authentischen ‚Volks‘-Traditionen beruht, kann hier kaum als Bezugspunkt dienen. Der große, wenngleich beunruhigende Vorteil dieser Situation besteht darin, daß sie uns ein stärkeres Bewußtsein von der Kultur als Konstruktion und von der Tradition als Erfindung verschafft.260

Mit diesem Vorschlag einer translationalen und transnationalen Kultur steht Bhabha einer multikulturalistischen Ideologie kritisch gegenüber, wie sowohl Buden als auch Wolf feststellen.261 Dem Multikulturalismus entspringt die Vorstellung, dass Gesellschaften ein Zusammenschluss beziehungsweise ein Nebeneinander von einheitlichen kulturellen Gruppen und Identitäten sind. Nach Bachmann-Medick werde aus postkolonialer Perspektive betont: „Kulturen konstituieren sich vielmehr in der Übersetzung und durch die vielschichtigen Überlappungs- und Übertragungsphänomene von Verflechtungsgeschichten unter den ungleichen Machtbedingungen der Weltgesellschaft.“262 Dabei ist es „in erster Linie das Konfliktfeld von transnationaler Migration und Exil, das die Vorstellung von Kultur als einer geschlossenen traditions- und identitätssichernden Instanz fragwürdig gemacht hat.“263 So stellt Bhabha in Referenz zu seinem Konzept kultureller Übersetzung ausdrücklich heraus, daß die ‚Gegenwart‘ der Übersetzung nicht notwendigerweise ein sanfter Übergang, eine konsensuelle Kontinuität sein muß, sondern auch in der Konfiguration der disjunktiven Neuschreibung der transkulturellen Migrantenerfahrung bestehen kann.264

Es ließe sich ergänzen, dass Exilerfahrungen besonders häufig mit massiven Rupturen kultureller Zugehörigkeiten bis hin zu existenziellem Heimatverlust einhergehen, zugleich aber auch Möglichkeiten für Neuschreibungen und transkulturelle Mehrfachzugehörigkeiten erzeugen.

259Bhabha,

H. K.: Wie das Neue in die Welt kommt (s. Anm. 243). S. 341. H. K.: Das Postkoloniale und das Postmoderne (s. Anm. 244). S. 257. 261Vgl. Buden, B.: Kulturelle Übersetzung (s. Anm. 140). S. 4; vgl. Wolf, M.: Zur kulturellen Übersetzung (s. Anm. 233). S. 32. 262Bachmann-Medick, D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 247–248. 263Bachmann-Medick, D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 248. 264Bhabha, H. K.: Wie das Neue in die Welt kommt (s. Anm. 243). S. 338. 260Bhabha,

3.4  Übersetzungstheorie in den Kulturwissenschaften

133

3.4.4 Transkulturalität als Resultat kultureller Übersetzungsprozesse Die einst gängige Vorstellung von in sich geschlossenen Kulturen wird vor allem durch den längst populär gewordenen Begriff der Transkulturalität abgelöst. Transkulturalität betont stattdessen eine dynamische Verflechtung der Kulturformen. Dieser in der kulturwissenschaftlichen Theoriedebatte bereits seit einiger Zeit geläufige Begriff ist im deutschsprachigen Raum von Wolfgang Welsch eingeführt worden.265 Konzeptkritisch wendet sich Welsch damit gegen den Begriff der Interkulturalität, weil dieser sich eines traditionellen Kulturbegriffs bediene. Sein wesentlicher Einwand bezieht sich auf die dem Interkulturalitätskonzept zugrunde liegende Vorstellung von „wohlabgegrenzten und beträchtlich verschiedenen Kulturen“266. Dieser klassische Kulturbegriff, den Welsch auf Johann Gottfried Herder zurückführt, ist wesentlich durch die Merkmale der klaren Abgrenzung zu anderen Kulturen und der Vereinheitlichung innerhalb der eigenen Kultur bestimmt.267 Herder stellt sich Kulturen wie Kugeln vor und [z]u diesem Kugelmodell gehört ein internes Homogenitätsgebot und externes Abgrenzungsgebot. […] Fremdes ist in dieser Konzeption minimiert. Und im Außenbezug gilt strikte Abgrenzung: Jede Kultur soll, als Kultur eines Volkes, von den Kulturen anderer Völker spezifisch unterschieden und distanziert sein.268

Diese Vorstellung von Kulturen als „autonome Inseln“269 beurteilt Welsch als eindeutig überholt und, falls überhaupt jemals existent, zumindest zeitgenössischen Kulturen unangemessen. Daher schlägt er mit dem Begriff der Transkulturalität ein Konzept vor, das dem traditionellen Kulturbegriff kontrastiv gegenübersteht. ‚Transkulturalität‘ will, dem Doppelsinn des lateinischen trans- entsprechend, darauf hinweisen, dass die heutige Verfassung der Kulturen jenseits der alten (der vermeintlich kugelhaften) Verfassung liegt und dass dieses eben insofern der Fall ist, als die kulturellen Determinanten heute quer durch die Kulturen hindurchgehen, so dass diese nicht mehr durch klare Abgrenzung, sondern durch Verflechtung und Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind.270

265Vgl.

Wagner-Egelhaaf, M.: Verortungen (s. Anm. 241). S. 748. Welsch: Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen. In: Information Philosophie 2 (1992). S. 5–20, hier: S. 5. 267Vgl. Welsch, W.: Transkulturalität (s. Anm. 266). S. 6. 268Wolfgang Welsch: Was ist eigentlich Transkulturalität? [2010] Unter: http://www2.uni-jena. de/welsch/papers/W_Welsch_Was_ist_Transkulturalit%C3%A4t.pdf (12.04.2019). S. 2. 269Welsch, W.: Transkulturalität (s. Anm. 266). S. 8. 270Welsch, W.: Was ist eigentlich Transkulturalität (s. Anm. 268)? S. 3. 266Wolfgang

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3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

Dies führt nach Welsch zur Auflösung von Fremdheit und Eigenheit. „Es gibt nicht nur kein strikt Fremdes, sondern auch kein strikt Eigenes mehr“271, weil im Zuge von Globalisierung und Migration durch „Immanentisierung und Trabantisierung […] die Separiertheit und Besonderung der Kulturen aufgehoben“272 wird. An dessen Stelle tritt die „Kreuzung, Durchdringung, Überlagerung von Kulturformen“273. Wie in der lateinischen Vorsilbe „trans-“ begrifflich verankert ist, akzentuiert das Transkulturalitätskonzept eher kulturelle Übergänge als kulturelle Grenzen. Demnach betont es Beweglichkeit und Dynamik anstelle von Statik. Transkulturalität basiert insofern auf der Grundannahme, dass Kulturen einerseits nach innen vielfach differenziert sind und andererseits auch nach außen zahlreiche Verbindungen mit anderen Kulturen aufweisen.274 Ähnlich wie die Hybriditätstheorie unterscheidet sich das Transkulturalitätskonzept damit nicht nur vom Begriff der Interkulturalität, es distanziert sich außerdem gezielt von Ansätzen der Multikulturalität. Die Konzepte der Multi- und der Interkulturalität halten immer noch am alten Kugelmodell fest. Der Unterschied zwischen beiden ist nur, dass die Multikulturalisten dies im Blick auf Verhältnisse innerhalb von Gesellschaften, die Interkulturalisten hingegen im Blick auf die Verhältnisse zwischen Gesellschaften tun.275

Welsch wendet sein Konzept nicht nur auf der Makroebene von Gesellschaften an, sondern auch auf der Mikroebene der Individuen. Analog zu einer Kreuzung, Durchdringung und Verflechtung der Kulturen gebe es auch „interne Transkulturalität der Individuen“276 und das heiße: „Heutige Menschen werden zunehmend in sich transkulturell.“277 Man sollte nicht nur davon sprechen, dass heutige Gesellschaften unterschiedliche kulturelle Modelle in sich befassen (‚cultural diversity‘), sondern das Augenmerk darauf richten, dass Individuen heute durch mehrere kulturelle Muster geprägt sind, unterschiedliche kulturelle Elemente in sich tragen.278

271Welsch,

W.: Transkulturalität (s. Anm. 266). S. 11. W.: Transkulturalität (s. Anm. 266). S. 11. 273Welsch, W.: Transkulturalität (s. Anm. 266). S. 16. 274Vgl. Blumentrath, H. u. a.: Transkulturalität (s. Anm. 242). S. 17. 275Welsch, W.: Was ist eigentlich Transkulturalität (s. Anm. 268)? S. 7. 276Welsch, W.: Was ist eigentlich Transkulturalität (s. Anm. 268)? S. 6. 277Welsch, W.: Was ist eigentlich Transkulturalität (s. Anm. 268)? S. 5. 278Welsch, W.: Was ist eigentlich Transkulturalität (s. Anm. 268)? S. 6. 272Welsch,

3.4  Übersetzungstheorie in den Kulturwissenschaften

135

Welschs Konzept, dessen Begriff der Transkulturalität sich mittlerweile auch über den wissenschaftlichen Kontext hinaus etabliert hat, ist in einigen Punkten auch Kritik entgegen gebracht worden.279 Erstens wurde kritisiert, dass es sich um ein „idealtypisches Modell“ handelt, das in seiner Konsequenz „letztlich zur kompletten Entdifferenzierung und Homogenisierung der Kulturen“280 führe. Welsch argumentiert dagegen, dass Transkulturalität keineswegs Uniformierung, sondern sowohl auf der gesellschaftlichen Mikro- als auch auf der Makroebene „neuartige Diversität“ hervorbringe.281 Unterschiede gibt es also weiterhin, nur haben sie jetzt eine andere Form als zuvor. Es handelt sich nicht mehr um Unterschiede zwischen nebeneinander stehenden Monokulturen, sondern um Unterschiede von Individuum zu Individuum oder von Gruppe zu Gruppe bei insgesamt anwachsender Gemeinsamkeit.282

Weiterhin wird Welschs Konzept „Blindheit für konkrete Machtverhältnisse“283 vorgeworfen. Dieser Kritikpunkt lässt sich allerdings nicht uneingeschränkt halten, weil Welsch durchaus anmerkt, dass sich „der Übergang zu Transkulturalität nicht in einem machtfreien Raum“284 abspiele. „Ganz im Gegenteil: Die treibenden Kräfte der Makroebene, welche Transkulturalisierung bewirken, sind weithin Machtprozesse.“285 Dennoch trifft diese Kritik nicht gänzlich ins Leere, weil die gesellschaftlichen und politischen Hierarchiestrukturen hier eindeutig nicht so grundlegend konzeptuell verankert sind wie im postkolonialen Diskurs um Hybridität. Entgegen der Vorstellung von in sich einheitlichen und nach außen abgegrenzten Kulturen wird das Konzept der Transkulturalität aus der Perspektive der Übersetzung aufgenommen, um die Kreuzung, Verflechtung und Durchdringung von Kulturen herauszustellen, die sich an vielschichtigen Übersetzungsprozessen erkennen lässt und gleichsam durch solche Übersetzungsvorgänge hervorgebracht wird. Die Gedanken Benjamins aufgreifend, kann Transkulturalität daher als eine Form der Übersetzung betrachtet werden, die auf kein eindeutiges Original zurückzuführen ist, weil das Original selbst immer schon von Übersetzungen durchzogen ist. Inwiefern ein solches Konzept von Transkulturalität als Voraussetzung für das in der Linguistik entstandene und für

279Zur Kritik an Welschs Konzept: vgl. Blumentrath, H. u. a.: Transkulturalität (s. Anm. 242). S. 17–18; vgl. Wagner-Egelhaaf, M.: Verortungen (s. Anm. 241). S. 750. 280Blumentrath, H. u. a.: Transkulturalität (s. Anm. 266). S. 17. 281Vgl. Welsch, W.: Was ist eigentlich Transkulturalität (s. Anm. 268)? S. 13. 282Welsch, W.: Was ist eigentlich Transkulturalität (s. Anm. 268)? S. 14. 283Blumentrath, H. u. a.: Transkulturalität (s. Anm. 266). S. 19. 284Welsch, W.: Was ist eigentlich Transkulturalität (s. Anm. 268)? S. 9. 285Welsch, W.: Was ist eigentlich Transkulturalität (s. Anm. 268)? S. 9.

136

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

die vorliegende Arbeit wichtige Konzept von Translingualität funktioniert, wird in Abschn. 4.2.4 betrachtet.

3.4.5 Möglichkeiten und Grenzen von „Übersetzung“ als kultur- und literaturwissenschaftliche Analysekategorie Nach der Darstellung dieser Neujustierung und Erweiterung des Übersetzungsbegriffs zur Beschreibung kultureller Phänomene stellt sich für den Rahmen der vorliegenden Untersuchung nun die Frage, inwiefern Übersetzung als analytischer Parameter nicht nur in den Kulturwissenschaften, sondern auch für literarische Texte im Allgemeinen und für Exilliteratur im Speziellen funktionieren kann. Das ist auch über diesen Kontext hinaus eine entscheidende Frage, die es im Zusammenhang des translational turn, idealerweise auf Basis eines Austausches zwischen den verschiedenen Disziplinen wie Kultur-, Übersetzungsund Literaturwissenschaft, in Zukunft noch stärker auszuhandeln gilt: Was ist der Mehrwert von kultureller Übersetzung als Analysekategorie und wo tauchen Problematiken auf? An dieser Stelle soll zunächst noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass der Begriff der Übersetzung oder genauer der kulturellen Übersetzung entgegen der im Vorfeld skizzierten Kulturkonzeption der Transkulturalität oder der Sichtweise postkolonialer Theoriebildung prinzipiell auch für ein essenzialistisches Verständnis von Kultur instrumentalisiert werden kann. Gegenüber einer (de)konstruktivistischen Kulturauffassung ist „auch ein multikulturelles Konzept kultureller Übersetzung“ denkbar, welches „kulturelle Übersetzung immer als ‚inter-kulturelle‘ Übersetzung“286 versteht. Insofern ist stets zu bedenken, dass Übersetzen gleichzeitig beides bedeuten kann – Grenzen bilden und überwinden – und aus verschiedenen (Forschungs-)Perspektiven wird jeweils das eine oder das andere unterstrichen. Mit anderen Worten kann das Konzept der kulturellen Übersetzung im Dienste beider einander widersprechenden Paradigmen der postmodernen Theorie und der postmodernen politischen Vision allgemein angewendet und verstanden werden: dem Multikulturalismus und der Dekonstruktion.287

Insofern kann es ertragreich sein, in den literarischen Exiltexten stattfindende oder reflektierte Übersetzungsprozesse dahin gehend zu untersuchen, welche Kulturkonzeptionen sie implizit oder explizit transportieren. Stehen sie im Zeichen einer Übertragung bestimmter Inhalte von einer eher als geschlossen und einheitlich gedachten Kultur in eine andere? Oder funktionieren sie grenzüberschreitend und

286Buden, 287Buden,

B.: Kulturelle Übersetzung (s. Anm. 140). S. 4. B.: Kulturelle Übersetzung (s. Anm. 140). S. 2.

3.4  Übersetzungstheorie in den Kulturwissenschaften

137

gehen quer durch Kulturen hindurch, indem eher dynamische und transkulturelle Kulturkonzeptionen abgebildet werden? Das erweiterte Konzept von Kultur als Übersetzung und der Begriff der kulturellen Übersetzung bergen aber durchaus auch Probleme. Speziell der metaphorische Gebrauch des Übersetzungsbegriffs für kulturelle und soziale Phänomene wird äußerst kontrovers diskutiert. Dabei kommt Kritik nicht zuletzt aus übersetzungswissenschaftlicher Perspektive.288 Es wird beanstandet, dass die metaphorische Verwendung und weitere Konzeptualisierung dieses Begriffs die sprachlichen Unterschiede und die Koexistenz von Sprachen, auf denen Übersetzung im traditionellen Sinn beruht, nicht nur unterbewertet, sondern dass darüber hinaus der Begriff selbst sukzessive abhanden kommt.289

Nach Wolf taucht also das wesentliche Problem auf, dass das Konzept der kulturellen Übersetzung überstrapaziert und die unaufhörliche und permanente Übersetzung ein für alle Mal festgeschrieben wird – damit wäre ‚alles‘ Übersetzung, was den Begriff obsolet erscheinen lassen würde.290

Buden und Stefan Nowotny beobachten ebenfalls die Beliebtheit und die breite Verwendung der Übersetzungsmetapher. Es sei zu einem regelrechten Trend geworden, den Begriff der Übersetzung zu verwenden „als ginge es um eine Art Universalkleber für allerlei Risse in der gegenwärtigen Reflexion.“291 Dieser Tendenz müsse entgegengewirkt werden. Auch Bachmann-Medick sieht im Zuge des translational turn „die große Gefahr, dass die Übersetzungskategorie zu weit gedehnt, zu inflationär gebraucht und oft doch nur metaphorisch eingesetzt wird.“292 Es mag paradox klingen, dass Übersetzung zu metaphorisch verstanden werden kann. Die Übersetzung des griechischen μεταϕράζω (metaphorein) ist schließlich: Übersetzen. Aber es bleibt äußerst fragwürdig, was der Nutzen einer solchen Analysekategorie sein soll, wenn sie auf alles gleichermaßen angewendet wird.

288Die

Übersetzungswissenschaftlerin Wolf kritisiert: „Es kann nicht angehen, dass in vielen Disziplinen der Begriff der Übersetzung verwendet wird, ohne von der Existenz einer einschlägigen Wissenschaft, nämlich der Translation Studies, überhaupt Notiz zu nehmen. Doch eine ablehnende Haltung gegenüber der Einbeziehung dieser auch ‚metaphorischen Übersetzung‘ kommt letztlich auch einer Absage an interdisziplinäres Arbeiten gleich. Gerade dies ist aber für die Translationswissenschaft von Anfang an konstitutiv“ (Wolf, M.: Zur kulturellen Übersetzung (s. Anm. 233). S. 33). 289Wolf, M.: Zur kulturellen Übersetzung (s. Anm. 233). S. 32. 290Wolf, M.: Zur kulturellen Übersetzung (s. Anm. 233). S. 31. 291Boris Buden und Stefan Nowotny: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Übersetzung: Das Versprechen eines Begriffs. Wien 2008. S. 7–9, hier: S. 7. 292Bachmann-Medick, D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 267.

138

3  Übersetzungstheorien im Kontext von Exil

Problematisch wird sie [die Übersetzungskategorie] vor allem durch die Metaphorisierung und inflationären Gebrauch dieser Kategorie, deren Konturen zu verschwimmen scheinen. Nicht alles, was Übersetzung genannt wird, generiert auch schon einen translational turn. Im Einzelfall wäre kritisch zu fragen, was die Arbeit mit der Übersetzungskategorie wirklich für die Erkenntnisgewinnung austrägt oder ob hier nur der Siegeszug einer neuen Metapher eingeläutet wird.293

Kultur als Übersetzung zu verstehen habe keine „bloße metaphorische Bedeutung“294, stellt Bachmann-Medick fest und schlägt vor, ein mögliches Augenmerk auf topografische Übersetzungen zu richten. Die räumliche Auffassung von Über-Setzung jedenfalls, gleichsam ihr Durchgang durch einen spatial turn, wäre ein Versuch, die Übersetzungsmetapher noch weiter zu erden, sodass sie zu einer Leitkategorie empirischer Untersuchungen werden kann.295

Dabei muss es meiner Ansicht nach im Einzelfall aber darum gehen, die Verbindung von übersetzen und räumlichem über-setzen hinsichtlich ihrer Sinnhaftigkeit zu überprüfen. Demzufolge könnte in der Kombination mit Konzepten der Raumtheorie herausgestellt werden, inwiefern durch räumliche Bewegungen, beispielsweise Migrationsprozesse im Allgemeinen sowie Fluchtbewegungen und Exil im Speziellen, konkrete Übersetzungsvorgänge stattfinden und worin die entsprechenden Übersetzungsleistungen bestehen. Daher ist auch noch deutlicher zu betonen als es bisher in der Forschung getan wurde, dass der durchaus wichtige und innovative Mehrwert von Übersetzung als kulturwissenschaftlicher Analysekategorie, wie sie in den letzten Jahren hervorgebracht wurde, nicht auf gegenwärtige Phänomene beschränkt bleiben sollte. Nicht nur das aktuelle 21. Jahrhundert, das immer wieder als Migrations- und Globalisierungszeitalter stilisiert wird, kann durch ein weitreichend translatorisches Denken besser erforscht werden. Gerade für ein umfassenderes Verständnis von auch kulturellen Entwicklungsprozessen sind historische Perspektiven meines Erachtens unumgänglich. Die vorliegende Arbeit möchte dazu einen Beitrag leisten, indem Untersuchungen des Exils seit 1933, wie es vielfach in literarischen Texten verhandelt wird, durch eine ­solche translatorische Perspektive sinnvoll ergänzt werden. Besonders aus heutiger Sichtweise lässt sich damit auch eine Suche nach Konstellationen rechtfertigen, die das Thema weltweiter Fluchtbewegungen, wie es gegenwärtig wieder diskutiert wird, ebenso historisch wie aktuell und damit zeitlos erscheinen ­ ­lassen. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive und im Hinblick auf ein realisierbares Analysevorhaben soll in dieser Arbeit aber ein deutlicher Fokus auf sprachliche Phänomene gelegt werden. Zum einen ist Sprache der primäre

293Bachmann-Medick,

D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 272. D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 249. 295Bachmann-Medick, D.: Translational Turn (s. Anm. 221). S. 272. 294Bachmann-Medick,

3.4  Übersetzungstheorie in den Kulturwissenschaften

139

Gegenstand einer Untersuchung von literarischen Texten. Zum anderen ist dies eine Möglichkeit, die Übersetzungskategorie durch die Rückbindung an sprachliche Phänomene vor einer begrifflichen Verwässerung und Verallgemeinerung zu schützen. Betrachtet man in einem literarischen Text die ästhetischen Übersetzungsformen, zum Beispiel das zwischen mehreren Sprachen übersetzende und wechselnde Schreibverfahren, wie es in Abschn. 2.5 umrissen wurde, wird die Grenze zu mehrsprachigem Schreiben fließend. Aus diesem Grund soll im folgenden Kapitel der methodische Rahmen für das analytische Vorgehen in dieser Arbeit genauer vorbereitet und begrifflich abgesteckt werden, indem Formen literarischer Mehrsprachigkeit und ihre wissenschaftliche Diskussion hinzugezogen werden. Ziel ist es, ein klares und sinnvolles begriffliches Instrumentarium zu entwickeln, das eine Systematisierung und Vergleichbarkeit in der geplanten Beschreibung und Analyse der ausgewählten Texte möglich macht und darüber hinaus den Ansprüchen weiterer Untersuchungen gerecht werden kann.

4

Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien für mehrsprachige Literatur

Was ist Mehrsprachigkeit und wozu steht sie in Differenz? Gibt es überhaupt so etwas wie ‚Einsprachigkeit‘? Wenn ja, wo hört sie auf und wo fängt Mehrsprachigkeit an? Wie lässt sich das große Spektrum unterschiedlichster Formen von Mehrsprachigkeit beschreiben? Und wie lässt sich damit insbesondere für literaturwissenschaftliche Analysen von mehrsprachigen Texten umgehen? Die Mehrsprachigkeitsforschung ist zunächst im Bereich der Sprachwissenschaft entstanden. Sie hat viele Teilrichtungen ausgeprägt, die jeweils bestimmte Aspekte von Mehrsprachigkeit untersuchen.1 Bis heute hat sich die linguistische Mehrsprachigkeitsforschung zu einem zentralen Forschungsbereich der gesamten sprachwissenschaftlichen Disziplin entwickelt.2 Angesichts der zunehmenden Bedeutung von sowohl gesellschaftlicher als auch individueller Mehrsprachigkeit in einer Zeit von immer stärker ansteigender internationaler Vernetzung sowie großen und weltweiten andauernden Migrationsbewegungen hat diese Entwicklung ihren Zenit vermutlich noch nicht erreicht. Indessen bringen sich zunehmend auch andere Disziplinen in den Forschungsdiskurs um Mehrsprachigkeit ein. Neben Soziologie, Kultur- und Sozialanthropologie und Politikwissenschaft gehört auch die Literaturwissenschaft dazu. Seit einiger Zeit beobachtet die literaturwissenschaftliche Forschung ein verstärktes Auftauchen mehrsprachiger Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur, entdeckt

1Die linguistische Forschung hat drei schwerpunktmäßige Zugänge zu Mehrsprachigkeit herausgebildet, welche methodisch und in Bezug auf den Forschungsgegenstand zum Teil stark differieren, aber auch miteinander kombiniert werden: Soziolinguistische und kognitiv-psycholinguistische Mehrsprachigkeitsforschung sowie Sprachkontaktforschung. Warum und inwiefern diese Ansätze interessante Perspektiven für die vorliegende Arbeit bieten, fasst der einführende Teil von Abschn. 4.2 zusammen. 2Vgl. Brigitta Busch: Mehrsprachigkeit. Wien 2013. S. 6. Nach Busch habe sich die Mehrsprachigkeitsforschung insbesondere seit Beginn der 2000er Jahre zu einem international bedeutenden Wissenschaftsfeld entwickelt.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Benteler, Sprache im Exil, Exil-Kulturen 2, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04943-8_4

141

142

4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

aber auch ältere Texte unter diesem Aspekt neu.3 Dazu bedienen sich die meisten Untersuchungen nicht zuletzt einiger Begriffe und Ansätze der linguistischen Mehrsprachigkeitsforschung und machen diese für ihre Analysen fruchtbar. Das Phänomen mehrsprachiger literarischer Texte kann man insofern als eine wichtige linguistisch-literaturwissenschaftliche Schnittstelle betrachten, die interdisziplinäres Arbeiten voraussetzt.4 Ausgangspunkt für die Analysen der vorliegenden Arbeit ist eine Definition von literarischer Mehrsprachigkeit, die sich nach Georg Kremnitz grundsätzlich unterscheiden lässt „als textinterne (intratextuelle) und textübergreifende (intertextuelle) Mehrsprachigkeit“: „Während in der ersten Form innerhalb eines Textes mehrere Sprachen verwendet werden, benützen in der zweiten Autoren in unterschiedlichen Texten verschiedene Sprachen.“5 Unter textinterner Mehrsprachigkeit wird demnach das Auftauchen anderer Sprachen im ‚deutschsprachigen‘ Text bezeichnet, etwa in Form einzelner oder mehrerer Wörter oder Sätze. „Es interessiert, wo und warum sich im deutschen Text gezielte Einfügungen aus anderen sogenannten ‚Nationalsprachen‘ finden bzw. aus vom Standard der Schriftsprache abweichenden Dialekten oder Soziolekten.“6 Textinterne Mehrsprachigkeit steht im Zentrum des Interesses bei den folgenden Analysen. Diesen beiden Ebenen von intratextueller und intertextueller literarischer Mehrsprachigkeit soll eine dritte hinzugefügt werden, die ich als reflektierte Mehrsprachigkeit bezeichnen möchte. Sie steht gewissermaßen zwischen textinterner und textübergreifender Mehrsprachigkeit, weil sie in den Texten selbst zu finden ist, aber nicht zwingend in mehreren Sprachen stattfinden muss. Im Gegensatz zu der von Kremnitz als textübergreifende Mehrsprachigkeit beschriebenen Kategorie ist solche literarische Mehrsprachigkeitsreflexion nicht nur auf das Schreiben von Autor*innen in mehreren Sprachen begrenzt, aber es ist sehr häufig Gegenstand ihrer Reflexion. Darüber hinaus umfasst eine solche literarische Mehrsprachigkeitsreflexion nach meinem Verständnis aber noch umfassender eine Reflexion von Sprachen und deren Konstellationen, wie sie insbesondere in Kulturkontakten,

3Vgl.

z. B. folgende Sammelbände: Manfred Schmeling und Monika Schmitz-Emans (Hg.): Multilinguale Literatur im 21. Jahrhundert. Würzburg 2002; Susan Arndt, Dirk Naguschewski und Robert Stockhammer (Hg.): Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin 2007; Michaela Bürger-Koftis, Hannes Schweiger und Sandra Vlasta (Hg.): Polyphonie. Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität. Wien 2010; Till Dembeck und Georg Mein (Hg.): Philologie und Mehrsprachigkeit. Heidelberg 2014. 4Selbstverständlich erfordert Mehrsprachigkeit stets auch insofern interdisziplinäres Arbeiten, als dass die immer noch an Nationalsprachen bzw. -philologien orientierte Einteilung von Fächergrenzen nicht eingehalten werden kann und zu überwinden ist. Je nachdem welche Sprachen im Spiel sind, erfordert Mehrsprachigkeit das Zusammenarbeiten von Germanist*innen, Anglist*innen, Romanist*innen, Sinolog*innen, Skandinavist*innen etc. 5Georg Kremnitz: Mehrsprachigkeit in der Literatur. Wie Autoren ihre Sprachen wählen. Aus Sicht der Soziologie der Kommunikation. Wien 2004. S. 14. 6Esther Kilchmann: Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur. Zur Einführung. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3/2 (2012). S. 11–18, hier: S. 11–12.

4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

143

Migration und Exil zum Tragen kommt. Deshalb ist sie für die Besprechung von Texten, die diese Themen verhandeln, von besonderem Interesse. Die literaturwissenschaftlichen Analysen intratextueller Mehrsprachigkeit, welche mittlerweile entstanden sind, arbeiten zum Teil mit unterschiedlichen Begriffen und Definitionen, was mitunter eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse stört. Zu den beliebtesten Begriffsadaptionen in der literaturwissenschaftlichen Mehrsprachigkeitsforschung gehört seit einiger Zeit das Code-Switching.7 Aber auch der Begriff „Translingualität“ erfreut sich in jüngster Zeit großer Beliebtheit und taucht immer häufiger bei der Besprechung mehrsprachiger Literatur auf.8 Nicht selten variiert dabei die Verwendungsweise der Begriffe von Forscher*in zu Forscher*in und es ist nicht immer ersichtlich, ob und wie genau mit den Begriffen auch die dahinterstehende linguistische Theorie importiert wurde. Damit läuft die literaturwissenschaftliche Diskussion von literarischen Mehrsprachigkeitsphänomenen mitunter auch Gefahr, Trennschärfe einzubüßen und eine Verwässerung der Begriffe in Kauf zu nehmen, die unter Umständen dann eher schlagwortartig als analytisch funktionieren. Es gibt aber bislang kein übergreifendes Analyseinstrumentarium für mehrsprachige Texte, auf das man sich berufen könnte. Selbstverständlich ist auch fraglich, ob es ein solches überhaupt geben kann, wenn man die extrem große Heterogenität mehrsprachiger Literatur in Betracht zieht, der es damit gerecht zu werden gilt. Unflexible und schablonenartige Vorgaben entsprechen dem vielfältigen Gegenstand wohl kaum. Es ist zugunsten von Klarheit und Nachvollziehbarkeit bei der Analyse mehrsprachiger Texte in jedem Fall förderlich, die aus der Linguistik entliehenen Begriffe in ihrem Entstehungskontext zu sehen und mit dazugehöriger aktueller Forschung abzugleichen. Aus diesem Grund konzentriert

7Vgl. z. B. Dagmar Winkler: „Code-Switching“ und Mehrsprachigkeit. Erkennbarkeit und Analyse im Text. In: Michaela Bürger-Koftis, Hannes Schweiger und Sandra Vlasta (Hg.): Polyphonie. Mehrsprachigkeit und literarische Kreativität. Wien 2010. S. 181–195. Winkler erprobt mittels des Begriffes Code-Switching Texte von Marica Bodrožić, z. B. Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern (2007). Sie konzentriert sich dabei verstärkt auf sprachreflektorische Darstellungen von Code-Switchings und weniger auf im Text stattfindende Code-Switchings. Es erscheint mir aber problematisch, dass Winkler unter Code-Switching das „Herauftönen“ einer Sprache in einer anderen versteht, indem etwa durch Einfügen neuer Satzstruktukten die „Grundmelodie“ einer anderen Sprache zu hören sei. Aus der Perspektive der linguistischen Mehsprachigkeitsforschung handelt es sich dabei eher um Sprachmischungen und Transferprozesse im Sprachkontakt (vgl. Abschn. 4.2.2) als um Code-Switchings im engeren Sinne. 8Vgl. z. B. Ottmar Ette: Über die Brücke Unter den Linden. Emine Sevgi Özdamar, Yoko Tawada und die translinguale Fortschreibung deutscher Literatur. In: Susan Arndt, Dirk Naguschewski und Robert Stockhammer (Hg.): Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin 2007. S. 165–194; Alfrun Kliems: Transterritorial – translingual – translokal. Das ostmitteleuropäische Literaturexil zwischen nationaler Behauptung und transkultureller Poetik. In: Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein (Hg.): Literatur und Exil. Neue Perspektiven. Berlin 2013. S. 169–182. In diesen beiden insgesamt hervorragenden und erhellenden Aufsätzen fällt jedoch auf, dass der Begriff der „Translingualität“ eingesetzt wird ohne ihn genauer zu definieren oder sich auf ­entsprechende linguistische Forschung zu beziehen.

144

4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

sich dieses Kapitel auf sprachwissenschaftliche Mehrsprachigkeitsforschung, indem aktuelle Definitionen von Mehrsprachigkeit sowie insbesondere von denjenigen Begriffen und Konzepten vorzustellen sind, die als Referenzpunkte für die darauf folgenden Analysekapitel fungieren. Die vornehmlich aus der Linguistik heraus entwickelten Termini sollen dazu dienen, die Texte von Domin, Kaléko und Lansburgh besser und genauer beschreiben zu können. Ich möchte dabei vorab ausdrücklich betonen, dass es mir um Textphänomene geht, die untersucht werden sollen. Einige der in diesem Kapitel besprochenen linguistischen Begriffe könnten auch den Eindruck erwecken, dass womöglich im Anschluss das biografische Sprachverhalten der Autor*innen in den Blick genommen werden soll. Davon wird weitestgehend Abstand genommen. Ziel dieses Kapitels ist es, etablierte Definitionen aus dem Bereich der linguistischen Mehrsprachigkeitsforschung zusammenzufassen, die für den Umgang mit literarischen Texten geeignet sind. Auf diese Weise soll eine fachlich adäquate Begriffsschärfe bei der Übernahme der Begriffe gewährleistet werden. Im Fokus stehen Termini wie Muttersprache vs. Erstsprache (siehe Abschn. 4.1), mehrsprachige Praktiken wie Code-Switching (siehe Abschn. 4.2.1), Sprachmischungen (siehe Abschn. 4.2.2), language crossing (siehe Abschn. 4.2.3) und translanguaging bzw. Translingualität (siehe Abschn. 4.2.4). Es soll aber nicht tiefer in die linguistische Fachdiskussion eingetaucht werden als es für die Analyse der literarischen Texte notwendig und sinnvoll ist. Daher wird zum Teil für detailreichere ­Darstellungen auf jeweils weiterführende Literatur verwiesen. Diese eigens ausgewählte und erstmals so existierende Zusammenstellung präsentiert eine Spannweite von Mehrsprachigkeitsbegriffen und -konzepten, die hinsichtlich ihrer Anschlussfähigkeit für die Auseinandersetzung mit mehrsprachigen literarischen Texten relevant ist. Wie ein solches literaturwissenschaftliches Vorgehen denkbar ist, thematisieren die einzelnen Teilkapitel, denn selbstverständlich kann eine Adaption von linguistischen Begriffen nicht stattfinden, ohne die Grenzen einer solchen Übertragung auf Literatur aufzuzeigen und zu diskutieren. Inwiefern die ursprünglich überwiegend auf mündliche Sprachpraktiken bezogenen Modelle überhaupt aufschlussreich für schriftliche (Kommunikations-)Formen sein können – und dabei insbesondere für das Medium Literatur, das sich hinsichtlich seiner Informationsseite grundlegend von anderen Kommunikationsarten unterscheidet9 und das hier ohnehin vorwiegend in seiner ästhetischen Qualität denn in einer konkreter gedachten Kommunikationsfunktion betrachtet wird –, ist unbedingt von Belang und klärenswürdig. Dabei ist auch zu bedenken, dass es sich bei Sprachkombinationen oder -mischungen in literarischen „Texten nicht um eine realistische oder im linguistischen Sinne korrekte Abbildung von ­Mehrsprachigkeit

9Vgl.

Dominik Schreiber: Literarische Kommunikation. Zur rekursiven Operativität des Literatursystems. In: Textpraxis 1 (2010). Unter: https://www.uni-muenster.de/Textpraxis/sites/ default/files/beitraege/dominik-schreiber-literarische-kommunikation.pdf (12.04.2019). S. 8.

4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

145

handelt.“10 Vielmehr sei literarische Mehrsprachigkeit, wie Esther Kilchmann in heterolingualer Gegenwartsliteratur etwa seit den 1990er ­ Jahren beobachtet, „Ergebnis eines artifiziellen Prozesses“, bei dem „Sprachmischung im linguistischen Sinne und poetische[] Sprachinvention“ ineinander übergehen und „die Grenzen zwischen den ‚natürlichen Sprachen‘ ins Fließen gebracht“11 werden. Es stellt sich also die Frage nach der Art und Weise, in welcher Literatur die im Folgenden besprochenen, überwiegend mündlichen Sprachpraktiken aufruft, nachahmt oder künstlich überzeichnet. Inwiefern solche programmatischen und systematischen Formen von mehrsprachiger Literatursprache bereits in den Texten des Exils seit 1933 und dessen Nachleben zu beobachten sind, gilt es im Einzelfall zu prüfen. Elke Sturm-Trigonakis etwa fasst aus heutiger Perspektive zusammen, dass sich die mehrsprachige Gegenwartsliteratur, welche sie als „die Neue Weltliteratur“ bezeichnet, durch eine besonders hohe Quantität an Mehrsprachigkeit und einen deutlichen Reflexionsgrad auszeichne, wie es zuvor noch nicht der Fall gewesen sei. Wenngleich es schon immer literarische Mehrsprachigkeit gegeben habe, zeigten unter anderem die Menge, Vielfalt und Komplexität mehrsprachiger Literatur sowie ein Wandel des Rezeptionsverhaltens einen Paradigmenwechsel der Gegenwart an.12 Obwohl die vorliegende Untersuchung ausdrücklich nicht darauf ausgerichtet ist, einen Vergleich zwischen den genauer analysierten literarischen Texten von Domin, Kaléko und Lansburgh zu Texten der Gegenwartsliteratur oder zu älteren Texten zu ziehen, so ist dies im konzeptuellen Ansatz zumindest als fortzuführende Anschlussmöglichkeit enthalten und mitgedacht. Ein solcher Vergleich von mehrsprachigen Schreibverfahren und Stilmitteln könnte insbesondere im Hinblick auf verschiedene Grade von Experimentalität – sozusagen auf einer Skala von ansatzweiser bis zur größtmöglichen Mehrsprachigkeit – und Innovation der literarischen Texte aufschlussreich sein. Ob und inwiefern Texte des Exils ab 1933 poetische Strategien von Mehrsprachigkeit entwickeln und daher in gewisser Weise auch als Vorreiter gegenwärtiger mehrsprachiger Texte betrachtet werden können, die sich mit Flucht, Exil, Sprachverlust beschäftigen, ist eine wichtige Forschungsfrage, mit der es sich zukünftig bzw. in einem größeren historischen Überblick zu literarischer Mehrsprachigkeit im Kontext von Exil und Migration unbedingt auseinanderzusetzen gilt. Schließlich wird das Kapitel auch gezielt die Frage aufwerfen, wie das Phänomen textinterner Übersetzungen als sprachlich-ästhetisches Verfahren in den Mehrsprachigkeitsdiskurs einzuordnen ist und wie damit in den darauf folgenden Analysen umgegangen werden soll. Sind textinterne Übersetzungen einfach eine

10Esther Kilchmann: Poetik des fremden Worts. Techniken und Topoi heterolingualer Gegenwartsliteratur. In: Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur. Sonderheft der Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 2 (2012). S. 109–129, hier: S. 111. 11Kilchmann, E.: Poetik des fremden Worts (s. Anm. 10). S. 111. 12Vgl. Elke Sturm-Trigonakis: Global Playing in Literatur. Ein Versuch über die neue Weltliteratur. Würzburg 2007. S. 160–165.

146

4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

Kategorie mehrsprachigen Schreibens? Oder reichen sie darüber hinaus, indem sie zusätzlich eine neue Ebene (vgl. Kap. 3) – eine wie auch immer geartete translatorische Perspektive – eröffnen? Wie unterscheiden sich textinterne Übersetzungen von Code-Switching und Sprachmischungen? Lassen sich Schreibverfahren, die Mehrsprachigkeit und Übersetzung integrieren, übergreifenden Sprachkonzepten zuordnen – auf einer imaginären Skala zwischen den Polen Muttersprach- bzw. Einsprachigkeitsideologien auf der einen und Translingualitätskonzepten auf der anderen Seite? Die in diesem Kapitel eingeführten Begriffe gilt es, soweit wie möglich zu systematisieren, sodass sie als verbindliche Bezugspunkte dienen können. Allerdings dürfen sie sich nicht der Möglichkeit verstellen, im Verlauf der Primärtextanalysen auch selbst noch einmal hinterfragt und gegebenenfalls modifiziert zu werden. Bevor es konkret um Praktiken von Mehrsprachigkeit geht, werden zunächst zwei Begriffe besprochen, die nicht nur auf Mehrsprachigkeit ausgerichtet sind, aber damit indirekt in Verbindung stehen und als notwendige Voraussetzung betrachtet werden können: Muttersprache bzw. Erstsprache. Insbesondere der Muttersprachbegriff und damit zusammenhängende Sprachideologien sind von elementarer Bedeutung, weil sie in der Zeit der Weimarer Republik gesellschaftlich sehr verbreitet waren und weil sie auch direkt in den analysierten literarischen Exiltexten auftauchen bzw. verhandelt werden, sodass eine elementare Rolle für die Sprach(en)konzeption der Texte vermutet werden kann.

4.1 Muttersprache oder Erstsprache? Beide Begriffe – „Muttersprache“ und „Erstsprache“ – können Sprach(en)konstellationen auf einer individuellen Ebene von Menschen oder auf einer überindividuellen bzw. gesellschaftlichen Ebene betreffen. Sowohl die Bezeichnung Erstsprache als auch das Wort Muttersprache seien allerdings nicht streng definiert, fasst Rainer Dietrich angesichts der seit langem vielfältigen Forschung in diesem Bereich zusammen, da weder allgemeingültige Theorien vorliegen noch eine e­inheitliche Benutzung beobachtet werden kann. Anhand von Verwendungsweisen ließen sich jeweils lediglich „begriffliche Profile“ herleiten.13 Inwiefern die Begriffe Muttersprache und Erstsprache dieselben oder unterschiedliche sprachideologische Positionen beinhalten können, die nicht zuletzt für die Auseinandersetzung mit Mehrsprachigkeit wichtig sind, gilt es im Folgenden zu skizzieren. So kann man in der sprachwissenschaftlichen Diskussion beobachten, dass der Begriff Muttersprache seit einiger Zeit überholt ist und in der Regel durch Erstsprache bzw. die Abkürzung L1 (für „Language 1“) abgelöst wird.14

13Vgl. Rainer Dietrich: Erstsprache – Muttersprache / First Language – Mother Tongue. In: Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Bd. 3.1: Ulrich Ammon u. a. (Hg.): Sociolinguistics/Soziolinguistik. 2004. Berlin/New York 2008. S. 305–311, hier: S. 310. 14Vgl. Dietrich, R.: Erstsprache – Muttersprache (s. Anm. 13). S. 309. In der Soziolinguistik sei der Muttersprachbegriff Dietrich zufolge aber auch aktuell teilweise noch gebräuchlich.

4.1  Muttersprache oder Erstsprache?

147

Als Erstsprache wird zunächst einmal die Sprache bezeichnet, die ein Mensch als erste gelernt hat. Wenn keine Störung vorliegt, ist der Erwerb des grammatischen Wissens im Alter von etwa fünf Jahren abgeschlossen. An lexikalischem Wissen verfügt das Kind in seiner Erstsprache dann über einen Wortschatz von etwa 3000 Wörtern aktiv und bis zu 14000 Wörtern passiv.15

Die sprachwissenschaftliche Verabschiedung des Muttersprachbegriffs lässt sich gemäß aktueller Forschungslage folgendermaßen begründen: Erstens verstellt der familiär-biologische Anklang des Wortes die Bedeutung, die die umgebende Gesellschaft beim Erstspracherwerb eines Menschen hat. Zweitens gingen ältere Forschungspositionen zu Muttersprache häufig mit einer negativen Bewertung von frühkindlicher Mehrsprachigkeit einher. Von dieser Konnotation möchte man sich heute befreien, weil dies eindeutig widerlegt ist, und stattdessen eine potenzielle Mehrsprachigkeit, wie im Falle von bilingualem Erstsprachenerwerb, auch terminologisch einbegreifen. Drittens ist die Bezeichnung Muttersprachler*in irreführend, weil sie eine sehr hohe Sprachkompetenz suggeriert und häufig sogar als Äquivalent zu ‚perfekten‘ Sprachkenntnissen verwendet wird, was keineswegs der Realität entsprechen muss. Die Erstsprache kann beispielsweise nach Migrationsbewegungen im Laufe des Lebens zunehmend in Vergessenheit geraten und von der umgebenden Sprache allmählich überlagert werden, was man Spracherosion nennt. Es ist auch möglich, dass eine Erstsprache als Sprache der Eltern bzw. eines Elternteils, die/das eine andere Sprache als die der umgebenden Gesellschaft sprechen/spricht, zwar im Sinne einer Familiensprache zuerst erlernt und lebenslang gesprochen wird, aber den Kompetenzstand einer anderen eventuell erst später in Bildungseinrichtungen und der alltäglichen Lebenswelt erlernten Sprache niemals erreicht. Um die gesellschaftliche Ebene von Sprachen zu beschreiben, wird Muttersprache seit dem europäischen Hochmittelalter als „Bezeichnung einer besonderen Sprache von mehreren in einer Nation oder Gesellschaft“16 verwendet, wobei sich die genauere Bedeutung des Begriffs im Verlauf der Geschichte immer wieder verschoben hat. Einar Haugen zeichnet beispielsweise historisch drei unterschiedlich akzentuierte Muttersprachbegriffe nach, mit jeweils semantischen Veränderungen: Nachdem Muttersprache im Mittelalter vor allem abwertend im Gegensatz zu Bildungssprachen, also im Sinne einer bildungsfernen Volkssprache, verwendet wurde, sei er seit der Renaissance und der Bibelübersetzung aus dem Lateinischen in Volkssprachen nicht mehr deutlich negativ assoziiert. Allerdings gelte dies überwiegend für kirchlich-reformatorische Kontexte. Seit Ende des 18. Jahrhunderts werde der Begriff schließlich im Zuge der Herausbildung von Nationen und

15Dietrich,

R.: Erstsprache – Muttersprache (s. Anm. 13). S. 306. Dietrich stützt sich hier bezüglich der Daten zum Wortschatz auf Jean Atchinson: Wörter im Kopf. Eine Einführung in das mentale Lexikon. Tübingen 1997. S. 22. 16Dietrich, R.: Erstsprache – Muttersprache (s. Anm. 13). S. 306.

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4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

Nationalsprachen auch zur Bezeichnung einer zusammengehörenden Kulturnation oder -region benutzt.17 Thomas Bonfiglio arbeitet heraus, dass Vorstellungen von Muttersprache(n), wie sie maßgeblich von Johann Gottfried Herder im 18. Jahrhundert und von Friedrich Schlegel im 19. Jahrhundert geprägt wurden, dazu beigetragen haben den Konnex von Sprache und Nation von Beginn an als natürlich, gar organisch zu sehen.18 Die Einheitsfunktion, die der deutschen (Mutter-)Sprache zugeschrieben wurde, hat bei der Entstehung einer deutschen (Kultur-)Nation eine entscheidende Rolle gespielt.19 Die Bedeutung, welche dabei den seit dem 17. Jahrhundert prominenten botanischen und genealogischen Metaphern – man denke etwa an baumartige Modelle von Sprachfamilien – schätzt Bonfiglio als immens ein. The seventeenth century witnessed an excess of arboreal metaphors in justification of the vernacular […]. It was in this period that the notion of language as a botanical entity entered into the cultural habitus; the habitual understanding of language as such aided in its enracination and configuration within the matrix of race and ethnicity. In the eighteenth century, the botanical configuration of language became more and more abstract in the theories of Leibniz and Herder, but the generalizing gestures always recovered and reinforced language-specific ideologies.20

An dieser historischen Entstehung und Manifestation lässt sich bereits erahnen, dass es sich bei Muttersprache, im Gegensatz zu dem neutraleren Wort Erstsprache, um einen deutlich stärker sprachideologisch aufgeladenen Begriff handelt. Spricht man von Muttersprache, so legt dies noch deutlicher markierte und bewertete Sprachhierarchien nahe als der Terminus Erstsprache. Dies rührt daher, dass er nicht nur eine Reihenfolge festlegt, sondern den Anschein eines quasi natürlichen Dazugehörens, eines In-die-Sprachgemeinschaft-hineingeboren-Werdens erweckt. Diese konnotative Färbung wiederum gibt einen Hinweis darauf, warum der Ausdruck Muttersprache von Individuen oder Sprachgemeinschaften nach wie vor häufig mit bewussten oder unbewussten identifikatorischen Absichten verwendet wird. Es gibt verschiedene Definitionen zu Sprachideologien21, aber übergreifend versteht man darunter Verknüpfungen von sprachlichen Phänomenen mit s­ozialen

17Vgl.

Einar Haugen: The „mother tounge“. In: Robert Cooper und Bernard Spolsky (Hg.): The Influence of Language on Culture and Thought. Essays in Honour of Joshua A. Fishman’s Sixty Fifth Birthday. Berlin 1991. S. 75–84, hier insbesondere: S. 82. Haugen betrachtet in seinem Artikel aber nicht nur die deutschsprachige Entwicklung, sondern fasst Erkenntnisse einer eher gesamteuropäischen Etymologie zusammen, nimmt also auch romanische und skandinavische Sprachen in den Blick. Die von ihm vorgeschlagenen drei Entwicklungsstufen treffen in ihrer Allgemeinheit aber auch auf den deutschsprachigen Begriff zu. 18Vgl. Thomas Paul Bonfiglio: Mother Tongues and Nations. The Invention of the Native Speaker. New York 2010. S. 131–139 und 143–145. 19Vgl. zum Zusammenhang von Nation und Sprache um 1800 auch Abschn. 3.1.2. 20Bonfiglio, T. P.: Mother Tounges and Nations (s. Anm. 18). S. 220. 21Paul Kroskrity zufolge, der neuere Überblicksbeiträge zum Thema geschrieben hat, seien Sprachideologien stets im Plural zu denken, da jeweils gleichzeitig verschiedene Dimensionen zusammenspielen und einander gegenseitig bedingen, dabei aber sehr unterschiedlich kombiniert sein können. (Vgl. Paul Kroskrity: Language Ideologies. Evolving Perspectives. In: Jef Verschueren und Jan-Ola Östman (Hg.): Handbook of Pragmatics 2010. Amsterdam 2010. S. 1–24).

4.1  Muttersprache oder Erstsprache?

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Werten. Es geht also darum, inwiefern Sprachen, Varietäten, Register etc. als Repräsentationen von Sprecher*innen im Hinblick auf zum Beispiel Nationalität, Ethnizität, Geschlecht, Moral, Religion etc. funktionieren. Sprachideologien entstehen und manifestieren sich durch Diskurse, in welchen derartige Verknüpfungen und Bewertungen hergestellt, verhandelt und reproduziert werden. Solche metasprachlichen Diskurse und Sprachideologien spielen für Sprecher*innen insbesondere dann eine Rolle, wenn es um die Sprachwahl in Interaktionen oder um Einstellungen zu Sprachwechsel, Spracherhalt oder Sprachaufgabe geht.22 Typische Sprachideologien drehen sich unter anderem um Homogenismus, Konservatismus, Purismus und Standardismus von Sprachen.23 Wie bewusst Sprachideologien den Sprecher*innen sind, kann sehr unterschiedlich sein. Umstrittene Sprachideologien sind vermutlich tendenziell bewusster, während unumstrittene Sprachideologien eher unhinterfragt verinnerlicht werden.24 Was die Bedeutung von sprachideologischen Aspekten und Muttersprache betrifft, setzt sich Claus Ahlzweig in seiner sprachhistorisch ausgerichteten Monografie über Muttersprache und Nation sehr kritisch mit der sprachwissenschaftlichen Erforschung des Muttersprachbegriffs und seiner Entstehung auseinander.25 Er beanstandet, dass ein Großteil der linguistischen Forschung sich hinsichtlich der Herkunft und Verwendung des Wortes bis dato auf nicht belegte sprachideologische Vorstellungen und Zuschreibungen beruft und diese somit weiterhin fortbestehen lasse und aktualisiere. So halte sich vor allem eine seit dem 19. Jahrhundert

22Vgl.

Busch, B.: Mehrsprachigkeit (s. Anm. 2). S. 80–85. Maitz und Stephan Elspaß beschreiben z. B. einige in Deutschland geläufige Sprachideologien, die im Zusammenhang mit der Herabwürdigung bestimmter Sprachen, Sprecher*innen(gruppen) oder Sprachpraktiken stehen, und in der Regel in mehrsprachigen Kontexten eine Rolle spielen. „Sprachliche Ideologien, die auf geradem Wege zur sprachlichen Diskriminierung bestimmter Sprechergruppen führen können und tatsächlich führen, sind innerhalb der deutschsprachigen Bevölkerung in Deutschland weit verbreitet. Hinsichtlich ihres Inhalts bestehen sie aus einem eklektischen Gemisch von Elementen verschiedener (vielfach anachronistischer) politischer Ideologien, (untergegangener) professioneller Sprachtheorien und oft jahrhundertealter sprachlicher Mythen. Die geläufigsten und gleichzeitig auch in sprachsozialer Hinsicht am schädlichsten von ihnen sind unserer Ansicht nach der sprachliche Konservatismus, Purismus, Homogenismus und Standardismus (m. a. W. die Standardsprachenideologie). […] Diese Ideologien, die sich inhaltlich z. T. überlappen, tragen deutliche Spuren nicht nur organologischer Sprachvorstellungen des 19. Jahrhunderts (etwa in Form permanenter Sprachverfallsängste), sondern u. a. genauso auch (sprach-)patriotistischer und später (sprach-)nationalistischer politischer Strömungen, die in der frühen Neuzeit einsetzten und etwa zu sprachlicher Xenophobie oder der abwertenden bzw. ablehnenden Haltung dem sprachlichen Nonstandard und sprachlicher Vielfalt gegenüber führten. […] Spuren dieser Ideologien sind aber […] genauso auch in der linguistischen Praxis, an Begriffen bzw. Termini der professionellen Linguistik [zu erkennen].“ (Péter Maitz und Stephan Elspaß: „Dialektfreies Sprechen – leicht gemacht!“ Sprachliche Diskriminierung von deutschen Muttersprachlern in Deutschland. In: Dies. (Hg.): Sprache und Diskriminierung. Themenheft der Zeitschrift Der Deutschunterricht 63/6 (2011). S. 7–17, hier: S. 8–9). 24Vgl. Kroskrity, P.: Language Ideologies (s. Anm. 21). S. 17. 25Claus Ahlzweig: Muttersprache – Vaterland. Die deutsche Nation und ihre Sprache. Opladen 1994. 23Péter

150

4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

emotionalisierte und nationalistisch ideologisierte Aufladung des Muttersprachbegriffs, dessen Verwendung auch eine politische Haltung transportiere. In diesem Zusammenhang betont Ahlzweig unter anderem den großen Einfluss des Sprachwissenschaftlers Leo Weisgerber (1899–1985), insbesondere seit den 1920er und 1930er Jahren in der Weimarer Republik. Weisgerber, der durch zahlreiche Publikationen den sprachwissenschaftlichen und sprachdidaktischen Diskurs der BRD sogar noch bis in die 1970er Jahre mitgeprägt hat, habe den Muttersprachbegriff zum Zentrum seiner Sprachauffassung vom „Wesen der Muttersprache“ gemacht, die darin besteht, dass Sprache jeweils ein besonderes Weltbild repräsentiert, das ‚natürlich‘ gegeben ist.26 Demzufolge ist „Spracherlernen […] also in erster Linie Aneignung des muttersprachlichen Weltbildes, Hineinwachsen in die Geisteswelt der Sprachgemeinschaft.“27 Der Begriff Muttersprache habe dabei eine Funktion, die man als emotional-ideologisierend bezeichnen kann. Wichtig ist für Weisgerber also nicht nur die durch die deutsche Sprache allen Deutschen vermittelte Weltsicht, sondern die bereits durch das Wort Muttersprache allen Sprechern vermittelte gefühlsmäßige Einstellung zu dem Weltbild der deutschen Sprache.28

26„Leo

Weisgerber ist zum Protagonisten einer Sprachauffassung geworden, die als Sprachinhaltsforschung bezeichnet wird, öfter aber nur durch das Wort Muttersprache charakterisiert wird. Weisgerber akzeptiert für sich den Begriff Muttersprachapostel; damit bezeichnet er nicht sein Eintreten für eine bestimmte Sprache, sondern seine Auffassung von Sprache.“ (Ahlzweig, C.: Muttersprache – Vaterland (s. Anm. 25). S. 185). 27Leo Weisgerber: Die Zusammenhänge zwischen Muttersprache, Denken und Handeln [1929/1930]. In: Ders.: Zur Grundlegung der ganzheitlichen Sprachauffassung. Aufsätze 1925–1933. Hg. von Helmut Gipper. Düsseldorf 1964. S. 175–208, hier: S. 193. Es ist wichtig an dieser Stelle zu bemerken, dass sich auch gegenwärtige Forschung nach wie vor aktiv mit dem Einfluss der Erstsprache auf das Denken an sich auseinandersetzt und durchaus Zusammenhänge erkennt: Unterschiede zwischen Erst- und Zweitspracherwerb und dem Sprachwissen, das der jeweiligen Sprache zugrunde liegt, bestehen demzufolge meist darin, dass beim Erstspracherwerb die sprachlichen Strukturen und Lexeme ausschließlich ungesteuert erworben werden, während der Erwerb weiterer Sprachen, zumindest ab einem gewissen Alter, meist teilweise gesteuert abläuft. Daraus ergeben sich nicht nur Folgen für das jeweilige verfügbare Sprachwissen, sondern umgekehrt formt/formen die Erstsprache/n gewissermaßen auch das ­Denken an sich. „In Abgrenzung zu Zweitsprache steht die Erstsprache unter den von einem Menschen gelernten Sprachen in einem besonderen Verhältnis zu seinem Denken. Ihre lexikalische und grammatische Gliederung wirkt sich in besonderer Weise auf den Aufbau des begrifflichen Wissens und Denkens aus.“ (Dietrich, R.: Erstsprache – Muttersprache (s. Anm. 13). S. 306). Zu der Frage, wie groß und weitreichend dieser Einfluss sprachspezifisch ist, gibt es bis heute sehr weit auseinandergehende Forschungspositionen. Die einen sprechen von sehr starker sprachlicher Determiniertheit des Denkens durch die Erstsprache, was zu „sog. sprachliche[r] Relativität [führe], der Effekt, dass Systeme begrifflicher Unterscheidungen von Sprachgemeinschaft zu Sprachgemeinschaft verschieden sind.“ (Dietrich, R.: Erstsprache – Muttersprache (s. Anm. 13). S. 307). Andere bezweifeln, dass dieser Relativitätseffekt über die sprachbezogenen Prozesse hinaus auch nicht sprachbezogene kognitive Vorgänge betreffe. Man ist sich aber einig darüber, dass insbesondere kognitive Prozesse, die im Zusammenhang mit Äußerungen und deren Vorbereitung stehen, durch die Erstsprache determiniert werden (vgl. Dietrich, R.: Erstsprache – Muttersprache (s. Anm. 13). S. 307). 28Ahlzweig, C.: Muttersprache – Vaterland (s. Anm. 25). S. 187.

4.1  Muttersprache oder Erstsprache?

151

Diese Sprachauffassung Weisgerbers und anderer Sprachwissenschaftler tauche bereits in der Zwischenkriegszeit in Kombination mit den damals noch ‚neueren‘ Begriffen „völkisch“ oder „volkhaft“ auf.29 Weisgerber, dessen Verbindung zum Nationalsozialismus zwar nach wie vor kontrovers diskutiert wird, unter anderem, weil er nie NSDAP-Parteimitglied war, ergänzt seine wissenschaftlichen Schriften über Muttersprache zwischen 1933 und 1945 um eindeutig völkisch-rassistische Ideologien, indem er seine Vorstellung von Sprachgemeinschaft auf nationalsozialistisches Gedankengut zuspitzt. 1941 formuliert er zum Beispiel: „[M]it der Muttersprache eröffnet die Gemeinschaft den Nachkommenden das Tor zur geistigen Welt ihres Volkes […]. Indem das Kind in die Muttersprache hineinwächst, prägt sich ihm diese geformte Welt seines Volkes zutiefst ein.“30 Leo Weisgerber und Georg Schmidt-Rohr haben nach 1933 daran gearbeitet, das Konstrukt der Muttersprache komplementär zum biologistisch konzeptualisierten Rassegedanken zu entwickeln, um die Überlegenheit der deutschen Sprache an prominenter Stelle in die NS-Weltanschauung einfließen zu lassen.31

Darüber hinaus habe Weisgerber auch versucht, ohne entsprechend überzeugende Belege dafür zu bringen, anstelle der romanischen eine germanische Herkunft des Wortes Muttersprache herzuleiten und zu etablieren.32 Ahlzweig zufolge sei die wesentlich auf Weisgerber zurückführende Muttersprachideologie seit den 1920er Jahren – oder zumindest einige Aspekte davon – vielfach unhinterfragt übernommen und damit reproduziert worden, sogar von einigen Sprachwissenschaftler*innen, die sich explizit kritisch mit ihm und seinen Arbeiten auseinander gesetzt haben.33 An diese Thematik anschließend hat Utsch genauer herausgearbeitet, dass Muttersprachideologien der 1920er

29Vgl. Ahlzweig,

C.: Muttersprache – Vaterland (s. Anm. 25). S. 183. Weisgerber: Die deutsche Sprache im Aufbau des deutschen Volkslebens. In: Gerhard Fricke, Franz Koch und Klemens Lugowski (Hg.): Von deutscher Art in Sprache und Dichtung. Stuttgart/Berlin 1941. Bd. 1. S. 3–41, hier: S. 7–8. 31Utsch, S.: Der prägende Einfluss von Muttersprachideologien (s. Kap. 1, Anm. 8). S. 49–50. 32Vgl. Ahlzweig, C.: Muttersprache – Vaterland (s. Anm. 25). S. 190–195. „Weisgerber nimmt ein Wort (Muttersprache), schreibt ihm eine Bedeutung zu, die es nicht hat (Ausdruck germanischer Sehweise), konstruiert eine Bedeutungsentwicklung, die nicht existiert (Postulat einer mündlichen germanischen Tradition) und zieht daraus kulturhistorische und sprachtheoretische Rückschlüsse – und hält die gegen die Belege durch.“ (Ahlzweig, C.: Muttersprache – Vaterland (s. Anm. 25). S. 193). 33Darunter nennt er z. B. auch den österreichisch-jüdischen Literaturwissenschaftler und Romanist Leo Spitzer, der 1933 von der Uni Köln entlassen wurde, nach Istanbul und später in die USA (Baltimore) emigrierte. Spitzer sei in seiner Auseinandersetzung mit Weisgerber zu wichtigen Erkenntnissen gekommen, doch auch er transponiere die sprachlichen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts weit zurück und übernehme beispielsweise unhinterfragt die Grundvorstellung, dass mit dem Wort Muttersprache seit seiner Entstehung ein „weicher Hauch“, eine emotionale Beziehung ausgedrückt werde (vgl. Ahlzweig, C.: Muttersprache – Vaterland (s. Anm. 25). S. 199–200). 30Leo

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4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

und 1930er Jahre, darunter zentral auch diejenige von Weisgerber, als wichtiger Einfluss auf die prominenten Sprachbewahrungstendenzen von Exilschriftsteller*innen fungiert haben.34 Utsch hinterfragt erstmals umfangreicher den Ursprung des normativen Charakters bezüglich des Mutterspracherhalts im Exil ab 1933 und geht im Bereich der Exilliteratur Hinweisen auf mögliche „für dieses Sprachverhalten verantwortliche Prägungen der konservierenden Sprachauffassung“35 nach. Dafür nimmt sie im Speziellen das US-amerikanische Exil in den Blick und argumentiert unter Bezug auf soziolinguistische Erkenntnisse, dass Sprachwechsel neben objektiven Umständen, Nutzen oder Hindernissen, vor allem durch Einstellungen motiviert seien.36 „Diese Einstellungen haben in Sprachkontaktsituationen unter anderem Orientierungs- und Erkenntnisfunktion.“37 So könne man die vorherrschenden Sprachbewahrungstendenzen, die angesichts der offensichtlichen Vorteile, die das Schreiben und Sprechen des Englischen im US-amerikanischen Exil mit sich gebracht hätten, verblüffend erscheinen, zumindest teilweise erklären. Anhand eines Korpus von Aussagen über Spracheinstellungen von Exilschriftsteller*innen in fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten beobachtet Utsch zunächst eine sehr häufige Verwendung des Wortes „Muttersprache“ sowie damit assoziierbaren Wortbildungen mit dem Wort „Mutter-“.38 Der (Mutter-)Sprache werden hier existenzielle Funktionen zugeschrieben: Sie wird im Exil zum Ersatz für den gleichermaßen metaphorisch und konkret zu lesenden ­verschollenen Besitz, die verlorene Heimat, die vermisste Mutter. Die Überhöhung der (Mutter-)Sprache kulminiert in quasi-sozialen Eigenschaften und metaphysischen Fähigkeiten. Personifiziert als gewissermaßen unverwundbares Medium steht die Sprache dem Sprecher in Sprachbeschreibungen aktiv gegenüber, die eine durchweg positive Einstellung zur deutschen Sprache widerspiegeln.39

Aufgrund der als „naturgegeben verstandene[n] Bindung an die Muttersprache“ und ihrer „Überbewertung und Hypostasierung“ stellt Utsch an dieser Stelle Verbindungslinien zu den zeitgenössischen Kernthesen deutscher Sprachwissenschaftler heraus, darunter neben Georg Schmidt-Rohr zentral Leo Weisgerber und seine Muttersprachideologie. Da diese Muttersprachauffassungen in den 1920er und 1930er Jahren in der Weimarer Republik nachweisbar stark verbreitet und geläufig waren, kommt Utsch zu der These, dass die Sprachauffassung und das

34Vgl.

Utsch, S.: Der prägende Einfluss von Muttersprachideologien (s. Kap. 1, Anm. 8). S. 29–50. S.: Der prägende Einfluss von Muttersprachideologien (s. Kap. 1, Anm. 8). S. 30. 36Damit, und mit den Beobachtungen (S. 34) entkräftet sie teilweise auch das Argument, es sei davon abhängig gewesen, in welchem Alter die Exilierung stattgefunden habe (vgl. Köpke, W.: Das Sprachproblem der Exilliteratur (s. Kap. 1, Anm. 20). S. 3111; Alexander Stephan: Die deutsche Exilliteratur 1933–1945. Eine Einführung. München 1979. S. 151). 37Utsch, S.: Der prägende Einfluss von Muttersprachideologien (s. Kap. 1, Anm. 8). S. 35. 38Vgl. Utsch, S.: Der prägende Einfluss von Muttersprachideologien (s. Kap. 1, Anm. 8). S. 36. 39Utsch, S.: Der prägende Einfluss von Muttersprachideologien (s. Kap. 1, Anm. 8). S. 37. 35Utsch,

4.1  Muttersprache oder Erstsprache?

153

Sprachwissen exilierter Schriftsteller*innen wesentlich von den Muttersprachideologien der 1920er und 1930er Jahre geprägt waren.40 Es ist eine bitterböse Ironie der Geschichte, dass die konservative Muttersprachauffassung nicht nur viele Exilanten beeinflusst hat, sondern in Deutschland nach 1933 den Boden für die völkisch-rassischen Muttersprachkonstruktionen der NS-Diktatur bereitete.41

Indem sie Texte von Exilintellektuellen unter anderem den sprachwissenschaftlichen Texten Weisgerbers über Muttersprache aus der Zeit vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten gegenüberstellt, kann sie anhand von zahlreichen inhaltlichen und teilweise nahezu verblüffend wörtlichen Übereinstimmungen diese These stützen. Sie entdeckt in den Sprachbeschreibungen der Exilant*innen eine deutliche „emotionale Bindung in Form einer schicksalhaften Zugehörigkeit“42. Etwa sei Ernst Bloch, um hier nur eines der vielen sehr guten Beispiele und Zitate zu nennen, überzeugt gewesen daß der Zufall der uns in die oder jene Sprache hineingeboren werden ließ, später durch keinen anderen ‚Zufall‘ korrigiert werden kann, auch nicht durch Emigration. Die Sprache wird dem Menschen sehr bald ein Stück selbst, und eines, das – in der Mehrzahl der Fälle – am wenigsten abgetan werden kann.43

In der Folge von dementsprechend konservativen ideologischen Sprachauffassungen ergeben sich auch Konsequenzen für den Umgang mit und das Erleben von Fremdsprachen. Utsch verweist etwa auf die in mehreren Exiltexten entwickelte Gefängnismetapher – die deutsche Muttersprache wird im Exil sprachbildlich als Gefängnis, aus dem man nicht ausbrechen kann, dargestellt – oder auf die von dem Sprachwechsler Hans Natonek hervorgebrachte Metapher der Geliebten für die neue Sprache, gegenüber der deutschen Sprache als „Mutter“, bei der man sich trotz des Reizes der neuen Sprache noch deutlicher beheimatet fühlt.44 Hier deutet sich auch an, dass ausgeprägte Muttersprachideologien im Sinne einer ‚natürlichen‘, emotionalisierten Sprachbindung die Einstellung zu Fremdsprache massiv beeinflussen, was deren Erwerb hemmen oder sogar Sprachwechsel- und Zweisprachigkeitsphobien auslösen kann. Diesbezüglich erkennt Utsch auch einige Ansichten der zeitgenössischen linguistischen Forschung in Form von Metaphern und Befürchtungen – zum Beispiel Zweisprachigkeit als Schizophrenie – in Texten der Exilintellektuellen wieder.45

40Vgl.

Utsch, S.: Der prägende Einfluss von Muttersprachideologien (s. Kap. 1, Anm. 8). S. 38. S.: Der prägende Einfluss von Muttersprachideologien (s. Kap. 1, Anm. 8). S. 49. 42Utsch, S.: Der prägende Einfluss von Muttersprachideologien (s. Kap. 1, Anm. 8). S. 40. 43Bloch, E.: Zerstörte Sprache – zerstörte Kultur (s. Kap. 1, Anm. 9). S. 280. 44Vgl. Utsch, S.: Der prägende Einfluss von Muttersprachideologien (s. Kap. 1, Anm. 8). S. 41. 45Vgl. Utsch, S.: Der prägende Einfluss von Muttersprachideologien (s. Kap. 1, Anm. 8). S. 42–43. 41Utsch,

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4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

Die inhaltliche und sprachliche Nähe dieser Postulate von Schmidt-Rohr und Weisgerber zu den metasprachlichen Exilantenäußerungen stützt die These einer Prägung, die erst im Exil evident wurde: Die erzwungene Sprachkontaktsituation verstärkte offenbar jene symbolische Dimension von Muttersprache, die in Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren verbreitet worden war und nolens volens auch ihren Weg ins Exil gefunden hat.46

Die besondere Rolle von Muttersprache als Begriff, Konzept und Ideologie in Sprachkontaktsituationen, die Utsch hier andeutet, wird auch in der folgenden Definition von Dietrich deutlich. Als Muttersprache wird die Sprache eines Individuums bezeichnet, die es mit Mitgliedern einer kulturell homogenen Gemeinschaft als Erstsprache gemeinsam hat und zu der es auf dieser Grundlage eine spezifische, auch affektive Bindung empfindet. Diese ist in Qualität und Intensität verschieden: individuell, national und je nach Lebensumständen des Einzelnen; so ist sie etwa in Sprachkontaktsituationen salienter im Bewusstsein als in der homogenen muttersprachlichen Umgebung ‚zu Hause‘, und in der Emigration tendenziell noch einmal ausgeprägter.47

Gerade der sprachideologischen Seite des Muttersprachbegriffs im Sinne ihrer Identifikations- und Repräsentationsfunktion kommt also in mehrsprachigen Konstellationen zusätzliches Gewicht zu, sei es auf individueller oder gesellschaftlicher Ebene. Kolonisation, Kriege, Diktaturen, Repressionen, Zensur und daraus folgende Migration, Flucht und Exil sind nur einige Schlagwörter, die im Hintergrund für die Entstehung, Aufrechterhaltung oder Verschärfung von Sprachideologien stehen können. Sie veranschaulichen, dass die Kategorie von Muttersprache(n) i­nsbesondere in Konkurrenz- oder Konfliktsituationen mit anderen Sprachen eine zentrale Rolle für die Aushandlung der Grenzen zwischen ‚Eigenem‘ und ‚Fremden‘, sowie für ­Fragen von Zugehörigkeit und Ausgrenzung spielt. Diese Gedanken im Hintergrund zu haben ist umso mehr unerlässlich, wenn man beobachtet, wie sich das Wort Muttersprache und damit verbundene tradierte Vorstellungen bis heute vehement im allgemeinen Sprachgebrauch halten. Die instrumentalisierende Verwendung des Wortes zeigt sich auch heute noch, vor allem in (kultur-)politischen Debatten und Vereinnahmungen, wie es sich nicht zuletzt an gegenwärtigen nationalistischen Tendenzen und deren populistischer Rhetorik erschreckend deutlich beobachten lässt.48 Die im obigen Zitat betonte Verstärkung des affektiv-identifikatorischen Effekts in denjenigen Sprachkontaktsituationen, die sich entfernt von der vermeintlich „homogenen muttersprachlichen Umgebung“ ereignen, also beispielsweise in der

46Utsch,

S.: Der prägende Einfluss von Muttersprachideologien (s. Kap. 1, Anm. 8). S. 44. R.: Erstsprache – Muttersprache (s. Anm. 13). S. 308. Man kann an dieser Definition Dietrichs kritisieren, dass m. E. eine kritische Distanz zu Muttersprachideologien fehlt, z. B. müsste besser von einer „vermeintlich kulturell homogenen Gruppe“ die Rede sein. 48Man denke z. B. an die 2014 von der CSU angestoßene und daraufhin öffentlich-poltisch geführte Debatte darüber, ob Migrant*innenfamilien auch zu Hause Deutsch sprechen sollten. (Vgl. z. B. Anna Reimann: Die CSU spielt Migranten-Polizei. In: Spiegel Online (06.12.2014). Unter: http:// www.spiegel.de/politik/deutschland/csu-will-dass-migranten-zuhause-deutsch-sprechen-a-1006932. html [12.04.2019]). 47Dietrich,

4.2  Mehrsprachigkeit: Praktiken und Konzepte

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Emigration oder im Exil, ist ein wichtiger Aspekt für die in Exilliteraturen rekurrent stattfindenden Auseinandersetzungen und Verhandlungen der Muttersprachthematik. Zusammen mit der wichtigen historischen Situierung, die Utsch in Bezug auf zeitgenössisch relevante und prominente Muttersprachideologien vorgenommen hat, bildet dieser Aspekt eine erste Analysekategorie für die f­olgenden drei ­Analysekapitel: Findet der Muttersprachbegriff Verwendung in den untersuchten literarischen Texten? Wird er weiterentwickelt oder verfremdet? Lassen sich anhand der Reflexion von Muttersprache und der Sprachkontaktsituation im Exil, die in den Texten thematisiert oder dargestellt wird, Positionierungen in sprachideologischer Hinsicht erkennen? Falls ja, decken sie sich mit den verwendeten ästhetischen Verfahrensweisen der Texte oder stehen sie im Kontrast zu diesen?

4.2 Mehrsprachigkeit: Praktiken und Konzepte Nach einer aktuellen linguistischen Begriffsbestimmung bezeichnet „Mehrsprachigkeit“ das Zusammenspiel von mehreren Sprachen oder Varietäten in individuellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Zu den diversen Formen von Mehrsprachigkeit gehören Sprachkompetenzen von Einzelnen wie Gruppen und verschiedene Situationen, in denen mehrere Sprachen in Kontakt miteinander kommen oder in einer Konversation beteiligt sind. Diese verschiedenen Sprachen schließen nicht nur offizielle Nationalsprachen mit ein, sondern auch Regional-, Minderheiten- und Gebärdensprachen und sogar Sprachvarietäten wie Dialekte.49

In der Regel sind dabei die gesellschaftlichen und individuellen Ebenen auf komplexe Weise miteinander verbunden, sie bedingen und beeinflussen sich gegenseitig. Insofern bezieht sich der Mehrsprachigkeitsbegriff „auf die psycho- und soziolinguistischen Eigenschaften oder Verhaltensweisen der Menschen, die diese Sprachen sprechen, oder der gesellschaftlichen Gruppen, in denen diese Sprachen verwendet werden.“50 Allerdings ist der Terminus Mehrsprachigkeit bereits an sich nicht unproblematisch und wird auch innerhalb der angewandten Linguistik vermehrt kritisch hinterfragt.51 Die Mehrsprachigkeitsforschung ist aus der im englischsprachigen Raum entstandenen sogenannten Bilingualismus-Forschung hervorgegangen, der zufolge die Zweisprachigkeit lange Zeit als „Sonderfall“ betrachtet wurde, wohingegen die Einsprachigkeit als „Normalfall“ galt.52 Darin liegt eine der Problematiken, welche der Begriff konnotativ mit sich bringt, denn Mehrsprachigkeit ist welthistorisch betrachtet weder eine neue Erfindung noch ein

49Claudia

Maria Riehl: Mehrsprachigkeit. Eine Einführung. Darmstadt 2014. S. 9. Maria Riehl: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt. In: Peter Auer (Hg.): Sprachwissenschaft. Grammatik – Interaktion – Kognition. Stuttgart 2013. S. 377–404, hier: S. 377. 51Vgl. Busch, B.: Mehrsprachigkeit (s. Anm. 2). S. 8. 52Vgl. Busch, B.: Mehrsprachigkeit (s. Anm. 2). S. 8. 50Claudia

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4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

Randphänomen. Tatsächlich weisen archäologische Funde und historische Quellen Mehrsprachigkeit bis sehr weit zurück in der Menschheitsgeschichte nach und mehrsprachige Menschen sind im Verhältnis weltweit in der Mehrzahl, sobald man eine eurozentristische Sichtweise ablegt.53 Im Hinblick auf individuelle Mehrsprachigkeit kann das Verhältnis, in dem sich diese zwei oder mehr Sprachen zueinander befinden, sehr unterschiedlich sein. Während man vor einem halben Jahrhundert noch davon ausging, dass jemand nur mehrsprachig sei, wenn er mindestens zwei Sprachen gleichermaßen sicher, also auf L1-Niveau beherrsche, die er oder sie als Kind gleichzeitig erlernt habe, wird dies von der aktuellen Forschung revidiert. Stattdessen schlägt sie einen umfassenderen Mehrsprachigkeitsbegriff vor: Gegenüber diesen „engen“ Mehrsprachigkeitsdefinitionen, welche sich am idealen bilingualen Sprecher/Hörer als einem theoretischen Konstrukt orientieren, hat sich heute in der Regel eine „weite“ Definition durchgesetzt. Danach ist mehrsprachig, wer sich irgendwann in seinem Leben im Alltag regelmäßig zweier oder mehrerer Sprachvarietäten bedient und auch von der einen in die andere wechseln kann, wenn dies die Umstände erforderlich machen, aber unabhängig von der Symmetrie der Sprachkompetenz, von den Erwerbsmodalitäten und von der Distanz zwischen den beteiligten Sprachen.54

Nicht nur das gleichzeitige Erlernen zweier Muttersprachen bzw. Erstsprachen in exakt gleichwertiger Kompetenz ist äußerst selten, auch das sprachliche Vermögen und der Einsatz der jeweiligen Sprachen ist an unterschiedliche Gesellschaftsbereiche55 53„Es

mag aus unserer mitteleuropäischen Perspektive befremdlich klingen: Statistisch gesehen gibt es weltweit mehr mehrsprachige als einsprachige Menschen. Man denke nur an die afrikanischen Staaten, den indischen Subkontinent, weite Teile Asiens und Osteuropas. Viele Forscher sind daher der Meinung, dass Mehrsprachigkeit die Regel und Einsprachigkeit die Ausnahme ist.“ (Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 377). 54Georges Lüdi: Mehrsprachigkeit. In: Hans Goebl u. a. (Hg.): Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Bd. 12.1: Kontaktlinguistik. Berlin/New York 1996. S. 233–245, hier: S. 234. Dazu eine Bemerkung am Rande: Dass im Sinne einer aktuell wissenschaftlich geläufigen „weiten“ Mehrsprachigkeitsdefinition auch Varietäten inbegriffen sind, während sich zugleich die Ansprüche an die Sprachkompetenzen von Sprecher*innen sowie hinsichtlich des Zeitpunktes des Spracherwerbs gewandelt haben, um als mehrsprachig zu gelten, beeinflusst natürlich auch den zu untersuchenden Gegenstand selbst. Wenn also immer mehr Mehrsprachigkeit bei Individuen und in gesellschaftlichen Bereichen verzeichnet wird, mag dies auch darauf zurückzuführen sein, dass rein definitorisch mehr Phänomene in den Blick kommen. 55Man spricht dabei von sogenannten „Domänen“ als gesellschaftliche Bereiche (z. B. ­ Familie, Bildung, Medien, Arbeitswelt) und untersucht welche Sprache(n) diesen zugeordnet sind. In bilingualen Gemeinschaften ist ihnen jeweils eine (dominante) Sprache zugewiesen. „Domains are defined […] in terms of institutional contexts and their congruent behavioural co-occurences. […] Domains enable us to understand that language choice and topic [are] related to widespread sociocultural norms and expectations“ (Joshua Fishman: Language in Sociocultural Change. Essays by Joshua A. Fishman. Stanford 1972. S. 248). Der Begriff der Domänen wird jedoch auch kritisiert, weil erstens Aspekte wie Macht und sprachlich-soziale Hierarchien kaum eine Rolle spielen und zweitens mehrsprachige Praktiken wie Code-Switching oder Sprachmischungen nur als Abweichungen gelten. Daher bevorzugt man im Sinne von aktueller gesellschaftlicher Mehrsprachigkeitsforschung, die überwiegend soziolinguistisch geprägt ist, von „Räumen“ statt Domänen zu sprechen, weil diese dynamischer definiert sind als die eher statischen Domänen und damit eher den Bedingungen einer zunehmend globalisierten Welt mit transnationalen Verbindungen und ­lokalen Diversifizierungen entsprechen.

4.2  Mehrsprachigkeit: Praktiken und Konzepte

157

und soziale Rollen gebunden und somit prinzipiell in Bewegung. „Meist ist bei einem mehrsprachigen Individuum eine Sprache dominant, wobei sich aber diese Dominanz im Lauf des Lebens immer wieder verschieben kann.“56 Den Erwerb weiterer bzw. mehrerer Sprachen beschreibt man nach der Art und Weise des Lernprozesses als ungesteuerten, das heißt spontanen oder immersiven Zweitspracherwerb (second language acquisition) oder gesteuerten Zweitspracherwerb (second language learning), was wiederum nicht unbedingt getrennt voneinander vor sich geht.57 Im Zuge lebenslanger Sprachveränderungen ist es auch möglich, dass einst beherrschte oder gelernte Sprachen wieder vergessen werden. Verschiedene Formen von langfristiger Migration mit einhergehenden Akkulturationsprozessen spielen dabei häufig die entscheidende Rolle. Für den Kontext der vorliegenden Arbeit sowie im Anschluss an den Abschnitt zu Muttersprache und damit verbundenden Ideologien ist es besonders bemerkenswert, dass man sich in soziolinguistischer Hinsicht unter anderem auch mit sogenannten Ideologien der Mehrsprachigkeit auseinandersetzt. Dazu zählt zum Beispiel die Prämisse einer Abgrenzbarkeit von Sprachen, der zufolge Sprachen klare Grenzen haben, welche sich einhalten und kontrollieren lassen. Man kann auch die bereits angesprochene Vorstellung einer perfekten, ausgeglichenen Mehrsprachigkeit dazu zählen, wonach man nur von Mehrsprachigkeit sprechen könne, wenn Sprecher*innen alle Sprachen in ‚muttersprachlicher‘ Kompetenz beherrschen. Darüber hinaus gibt es Maximen einer sogenannten ‚doppelten Einsprachigkeit‘: Sprecher*innen mehrerer Sprachen sollen diese im Idealfall nur getrennt voneinander benutzen, keinesfalls mischen oder miteinander verschränken. Schließlich werden auch Ideologien betrachtet, die, auf die nationale und territoriale Geltung von Sprachen ausgerichtet, ähnlich wie der Muttersprachbegriff etwa seit dem 19. Jahrhundert verwendet werden, um Einheiten von Nation, Sprache und Territorium zu bestimmen. Bezüglich des ersten Punktes ist infrage zu stellen, ob eine solche Prämisse der Abgrenzbarkeit von Sprachen nicht auf funktionale Weise bereits in den aktuell geläufigen sprachwissenschaftlichen Begriffen und der Benennung von Sprachen enthalten ist: Inwiefern wird durch eindeutige Bezeichnungen – sei es Muttersprache bzw. Erstsprache oder Fremdsprache bzw. Zweitsprache; L1, L2 oder L3; Deutsch, Griechisch oder Finnisch – nicht stets auch das Bild transportiert, dass Sprachen einzeln und übergangslos nebeneinander stehen? Um die Reihenfolge des Spracherwerbs oder Hierarchisierung im individuellen sprachlichen Repertoire zu bezeichnen, hat man Begriff und Abkürzungen wie Erstsprache, Zweitsprache, L1, L2, L3, Ln eingeführt. Das impliziert die Annahme, dass Sprachen klar voneinander abgrenzbar und somit zählbar sind.58

56Riehl,

C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 377. Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 378. 58Busch, B.: Mehrsprachigkeit (s. Anm. 2). S. 8. 57Vgl.

158

4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

Sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Sprachebene ist eine solche Vorstellung autonomer Sprachinseln natürlich ebenso wenig haltbar wie es im Hinblick auf Kulturen ist.59 Daher wird in der angewandten Sprachwissenschaft seit einigen Jahren der Sprachbegriff dahin gehend insgesamt diskutiert: Hinterfragt wird dabei vor allem die Vorstellung von Sprachen als voneinander klar abgegrenzte Entitäten, also die Annahme, dass Sprachen wie etwa Deutsch, Englisch, Russisch im Gebrauch trennscharf unterschieden werden können, was letztlich Auswirkungen auf damit verbundene soziale Zuschreibungen und Abgrenzungen hat.60

So plädiert man aus soziolinguistischer Perspektive heute dafür, von s­prachlichen „Ressourcen“ anstatt einfach nur von „Sprachen“ zu sprechen.61 Dies wird durch die Begründung gestützt, dass dem Begriff Ressourcen im Gegensatz zu nationalsprachlichen Ideologien seit dem 19. Jahrhundert, die auf der Vorstellung von Sprachen als jeweils ‚ganzer‘, distinktiv zueinander abgegrenzter Einheiten beruhen, durchaus gewollt ein fragmentarisches Konzept zugrunde liegt.62 Ressourcen setzen keine vollständige sprachliche Kompetenz voraus, sie definieren sich vielmehr als Mittel, die für das kommunikative Handeln verfügbar sind. Insofern können Ressourcen nicht nur unterschiedlichen Sprachen entstammen, sondern sogar über das Sprachliche hinausgehen, indem sie ebenfalls semiotische Mittel in unterschiedlicher Modalität wie Gesten, Stimmlagen oder sogar Typografie umfassen können. Um mit dieser Problematik umzugehen, gibt es in der englischsprachigen Forschung die Entwicklung, den prozessorientierten, dynamischen, subjektbezogenen Begriff languaging gegenüber dem eher objektivierenden Wort language zu bevorzugen, insbesondere wenn es um sprachliche Praktiken geht.63

59Vgl. Abschn. 3.4.4

zu Transkulturalität. B.: Mehrsprachigkeit (s. Anm. 2). S. 8. 61Soziolinguistische Mehrsprachigkeitsforschung erlebt insbesondere seit den 2000er Jahren einen Aufschwung, der aus neuen gesellschaftlichen Bedarfen resultiert und zugleich dazu führt, neue Begriffe zu entwickeln und zu prägen. 62Monica Heller argumentiert entgegen der Vorstellung von Sprachen als objektivem Ganzen für eine Betrachtungsweise „of language as a set of resources which circulate in unequal ways in social networks and discursive spaces, and whose meaning and value are socially constructed within the constraints of social organizational processes, under specific historical conditions. It [the book, Anmerkung: A.B.] argues that hierarchies are not inherently linguistic, but rather social and political; language is but one terrain for the construction of relations of social difference and social inequality. It situates the study of bilingualism in the domain of studies of ideology, social practice and social organization.“ (Monica Heller: Bilingualism as ideology and practice. In: Dies. (Hg.): Bilingualism: A Social Approach. Basingstoke 2007. S. 1–22, hier: S. 2). 63Vgl. z. B. Ofelia García: Bilingual Education in 21st Century: A Global Perspektive. Chichester 2009. S. 31–32. „Languages are not fixed codes by themselves; they are fluid codes framed within social practices. […] What we have learned to call dialects, pidgins, creoles, and academic language are instances of languaging: social practices that we perform.“ (S. 32) In diesem Zusammenhang ist z. B. auch der Begriff des translanguaging zu sehen, eine mehrsprachige Sprachpraktik, die sich explizit an Sprachgrenzen bewegt und deren Determination sich mehr dynamisch als starr begreifen lässt, nicht zuletzt indem es diese auch zu verschieben mag. Dieser Sprachpraktik und dem gewissermaßen konzeptuellen Überbau, den man „Translingualität“ nennt, widmet sich Abschn. 4.2.4. 60Busch,

4.2  Mehrsprachigkeit: Praktiken und Konzepte

159

Wie bereits am Begriff Muttersprache deutlich geworden ist, ist auch die sprachideologische Seite von Mehrsprachigkeitstheorien und -begriffen im Zusammenhang dieser Arbeit bedeutsam, weil dadurch sprachliche Praktiken in diskursiven Deutungsspielräumen verortet werden können. Über die reine Beschreibung mehrsprachiger Phänomene in literarischen Texten hinaus ist das eine weitere Denkrichtung, die es ermöglicht, Sprachkonzeptionen in literarischen Texten miteinander zu vergleichen und in Beziehung zu setzen. Ob sich diese Perspektive anbietet, um literarische Texte direkt oder indirekt als Verhandlungen von mehr oder weniger sprachideologischen Positionierungen zu lesen, wird sich in den Analysen ab Kap. 5 zeigen. Im Gegensatz dazu legen Ansätze einer kognitiv-psycholinguistisch geprägten Mehrsprachigkeitsforschung ihren Fokus auf die individuelle Zwei- oder Mehrsprachigkeit von Menschen. Sie beschäftigen sich unter anderem mit der Art und Weise des Spracherwerbs (z. B. bilingualer Erstspracherwerb), mit der Strukturierung des Sprachwissens im Gehirn sowie mit weiteren mentalen Prozessen.64 Themen und Ergebnisse der psycholinguistischen Mehrsprachigkeitsforschung können auch für literaturwissenschaftliche Analysen von Belang sein, insofern als dass Texte von mehrsprachig schreibenden Autor*innen solche Prozesse individueller Mehrsprachigkeit, zum Beispiel Erst- und Zweitspracherwerb oder Sprachverlust darstellen und/oder metaphorisch abzubilden suchen. Immer wieder tauchen in literarischen Texten im Kontext von Mehrsprachigkeit Reflexionen darüber auf, in welcher Art und Weise die Wahl der Sprache das Denken an sich oder das Schreiben im Speziellen determiniert.65 Es entstehen mitunter kreative Sprachbilder und Darstellungsweisen, die individuelle Repräsentationen oder Strukturierungen des Sprachwissens im Gehirn nachempfinden. Man denke zum Beispiel an Goldschmidts Sprachbeschreibungen und -reflexionen im Kontext von Exil und traumatischen Erlebnissen. Er stellt seine beiden Lebens- und Schreibsprachen – Französisch und Deutsch – mittels Synästhesien als unterschiedliche Farben dar oder versieht sie mit Attributen wie Tageszeiten. Französisch erscheint so als „orange Abendsprache“, während Deutsch als „grüne Morgensprache“ beschrieben wird.66 Interessanterweise werden umgekehrt in der individuellen Mehrsprachigkeitsforschung unter anderem auch autobiografisch geprägte literarische Texte herangezogen. Im Sinne einer Sprachbiografieforschung, die es explizit zum Ziel hat, subjektive Sichtweisen von mehrsprachigen Sprecher*innen zu erforschen, dienen

64Methodisch

kann man dazu deskriptiv-linguistisch vorgehen, indem man z. B. Korpora zum Erstspracherwerb auswertet. Oder man arbeitet in experimentellen Settings, die dezidiert neurophysiologisch z. B. anhand von Neuroimaging in Form von Magnetresonanztomografie vorgehen. 65Eine umfangreiche Sammlung solcher literarischer Texte in Auszügen quer durch die Geschichte haben herausgegeben: Brigitta Busch und Thomas Busch (Hg.): Mitten durch meine Zunge. Erfahrungen mit Sprache von Augustinus bis Zaimoğlu. Klagenfurt/Celovec 2008. 66Vgl. u. a. Georges-Arthur Goldschmidt: Wie Grün Rot werden soll oder die Metamorphose des Übersetzens. In: Alberto Gil und Manfred Schmeling (Hg.): Kultur übersetzen. Zur Wissenschaft des Übersetzens im deutsch-französischen Dialog. Berlin 2009. S. 5–14.

160

4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

solche literarischen Texte als nachträgliche Rekonstruktion von Sprachbiografien und zum Verständnis des Erlebens von Mehrsprachigkeit.67 Autobiografische literarische Texte, die Spracherfahrungen wie das Eintauchen in eine neue Sprachwelt, Sprachwechsel oder Sprachverlust thematisieren, stellen eine wichtige, wenn auch nicht unumstrittene Quelle dar, um Rückschlüsse auf emotionales Spracherleben in bestimmten politisch-historischen Zusammenhängen zu ziehen.68

Der Ansatz dieser Arbeit zielt allerdings nicht darauf, womöglich Rückschlüsse aus solchen literarischen Beschreibungen auf Autor*innenbiografien zu ziehen, sondern vielmehr darauf, zu untersuchen, mit welchen Mitteln Literatur kognitiv-­ psychologische Aspekte von Mehrsprachigkeit und Exilierung aufgreift, abbildet und reflektiert.69 Schließlich sind Untersuchungsergebnisse der Sprachkontaktforschung für dieses Projekt relevant, weil sie hilfreich sind, um Übergänge und Mischformen von Sprachen zu beschreiben. Die Sprachkontaktforschung erforscht Mehrsprachigkeit, indem sie sich auf konkrete Erscheinungsformen zwischen zwei oder mehr Sprachen richtet. Das betrifft auch asymmetrische Verhältnisse zwischen Sprachen, da man davon ausgeht, dass eine Sprache je nach Domäne grundsätzlich kulturell mächtiger oder dominanter ist als eine oder mehrere andere. Dies hat wiederum deutliche Auswirkungen auf strukturelle Gegebenheiten von mehrsprachigen Praktiken. Eine Vielzahl an Forschungsliteratur beschäftigt sich etwa mit der Abgrenzung von Entlehnung und Code-Switching (siehe dazu Abschn. 4.2.1). Sprachkontaktphänomene lassen sich in eine Art Rangordnung zunehmenden strukturellen Kontakts stellen und somit können verschiedene Kontaktstufen bestimmt und die Entstehung von Mischsprachen beobachtet werden (Abschn. 4.2.2). Sprachkontakt, so der Ausgangspunkt, auf welchem das Vorgehen dieser Arbeit basiert, kann auch in literarischen Texten stattfinden. Gegebenenfalls lassen sich Funktionsweisen oder Muster solcher Sprachkontakte, die entstehen, wenn ­literarisch mit Sprachübergängen und -mischungen gespielt wird, erkennen und einordnen. Ob und inwiefern sich dies eventuell auch als Auseinandersetzung mit den genannten, in der Regel asymmetrischen Beziehungen, in denen Sprachen

67Vgl.

u. a. Simone Hein-Khatib: Mehrsprachigkeit und Biographie. Zum Sprach-Erleben der Schriftsteller Peter Weiß und Georges-Arthur Goldschmidt. Tübingen 2007; Bürger-Koftis u. a. (Hg.): Polyphonie (s. Anm. 7); Aneta Pavlenko: Autobiographic Narratives as Data in Applied Linguistics. In: Applied Linguistics 28 (2007). S. 163–188. 68Busch, B.: Mehrsprachigkeit (s. Anm. 2). S. 15. Busch zufolge sind diesbezüglich häufig zitierte Texte Elias Canettis Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend (1979) und Eva Hoffmans Lost in Translation: A Life in a New Language (1989). 69Vgl. z. B. zu Mehrsprachigkeit und autobiografischem Schreiben im/über das Exil: Anne Benteler: Leben als Sprachodyssee. Mehrsprachigkeit und autobiografisches Schreiben über das Exil 1933–48. In: exilograph 24 (2016). S. 7–8; Katrin Schneider-Özbek: Sprachreise zum Ich. Mehrsprachigkeit in den Autobiografien von Ilma Rakusa und Elias Canetti. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 3/2 (2012). S. 19–32.

4.2  Mehrsprachigkeit: Praktiken und Konzepte

161

zueinander stehen, lesen lässt, ist ein zusätzlicher Aspekt, für den es aufschlussreich sein kann, Sprachkontaktphänomene in literarischen Texten genauer zu betrachten. Für die im Folgenden dargestellten Begriffe und Konzepte werden je nach Bedarf Beiträge und Definitionen aus allen diesen unterschiedlichen Teilbereichen der Mehrsprachigkeitsforschung zitiert, die sich je nachdem auf individuelle und/ oder gesellschaftliche Mehrsprachigkeit beziehen.

4.2.1 Funktionen von Code-Switching Code-Switching ist ein typisches Sprachphänomen, welches Gespräche von mehrsprachigen Sprecher*innen charakterisiert. Es zeichnet sich dadurch aus, dass innerhalb des Gesprächs oder sogar innerhalb von Sätzen die Sprache gewechselt wird. Code-Switching bezeichnet den „Wechsel zwischen zwei (oder mehr) Sprachen oder Varietäten innerhalb ein und derselben kommunikativen Interaktion. Der Wechsel kann sowohl einzelne Lexeme als auch einen ganzen Diskursabschnitt betreffen.“70 Je mehr sprachliche Ressourcen in einer Sprecher*innengruppe vorhanden sind bzw. je größer das sprachliche Repertoire der einzelnen Sprecher*innen ist, desto höher kann die Anzahl der Codes sein, zwischen denen gewechselt wird. Obwohl Code-Switching ein sehr verbreitetes Phänomen ist, wurde es lange Zeit eher stigmatisiert und abgewertet. Sprachideologisch geprägten Perspektiven in Wissenschaft und Gesellschaft zufolge, die Mehrsprachigkeit bevorzugt als ‚doppelte Einsprachigkeit‘, also das Beherrschen von unabhängigen bzw. getrennten ‚ganzen‘ Sprachen, betrachten, wurde die Kombination von mehreren Sprachen nicht befürwortet. Mittlerweile gibt es jedoch eine äußerst lebendige und vielseitige linguistische Forschungslandschaft zu Code-Switching: Es wird zum Beispiel als Diskursstrategie, als psycholinguistisches Phänomen oder in struktureller Hinsicht untersucht.71 Grundsätzlich, so zumindest der überwiegende Konsens in der Forschung, wird Code-Switching von Entlehnungen unterschieden, also von konventionalisierten Übernahmen aus einer anderen Sprache (vgl. dazu Abschn. 4.2.2). Es geht dabei auch um die Frage, ob es sich erst um Code-Switching handelt, wenn für ganze Phrasen oder (Teil-)Sätze die Sprache gewechselt wird oder auch schon, wenn nur ein einziges Wort aus einer anderen Sprache integriert wird. Bezüglich dieser Definitionsgrenze gehen die Forschungspositionen auseinander. Viele zählen auch ein alleinstehendes eingefügtes Wort zum Code-Switching, solange es spontan geäußert wird und sich nicht fest im Lexikon der Varietät der betreffenden Sprachgemeinschaft befindet.72 Andere argumentieren dafür, einen solchen Fall besser

70Riehl,

C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 385. Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 385. 72Vgl. z. B. Carol Myers-Scotton: Contact Linguistics. Bilingual Encounters and Grammatical Outcomes. New York 2002. S. 153. 71Vgl.

162

4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

als „Ad-hoc-Entlehnung“, also eine Form von Entlehnung (noch) nicht konventionalisierter Lexeme zu klassifizieren.73 François Grosjean spricht in Bezug auf diese Distinktionsgrenze von „Gastwörtern“ (guest words) und untersucht, wie (schnell) diese von Sprecher*innen als solche identifiziert werden. Dafür zieht er zusätzlich den phonetisch-phonologischen Aspekt hinzu und schlägt vor, dann von Code-Switching zu sprechen, wenn die Wörter gemäß der Phonologie der Gastsprache ausgesprochen werden. Werden sie phonologisch an die Basissprache angepasst, handele es sich um (Ad-hoc-)Entlehnungen.74 Die Problematik, dass teilweise nur schwerlich festzustellen sein wird, wie sicher dies zu trennen ist, weil man auch kompetenzspezifische Ausspracheformen, z. B. fremdsprachliche Akzente, in Betracht ziehen muss, liegt auf der Hand. Darüber hinaus greift diese Unterscheidung im Schriftlichen und daher auch in der Literatur nicht. Inwiefern aber durch die Hinzunahme typografisch oder orthografisch verfremdender Schreibweisen eine Darstellung von Ausspracheformen und Akzenten stattfinden kann, ist eine mögliche Frage für die literaturwissenschaftliche Erforschung mehrsprachiger Texte. Die Formulierung „Gastwörter“ ist darüber hinaus interessant, weil sie auch an die in Kap. 3 geführte Diskussion um guest language und host language in der Übersetzungstheorie erinnert. Hier deutet sich bereits an, dass auch Fragen nach der Art und Weise sowie der Intensität von Integration verschiedener Sprachen in Kontaktsituationen bedeutsam sind. An dieser Stelle werden die Grenzen von Code-Switching, was primär als Sprachwechsel-Phänomen gedacht ist, insofern fließend zu sprachlichen Transfer-Prozessen (vgl. Abschn. 4.2.3), als dass nicht unbedingt nur zwischen zwei Sprachen hin- und hergeschaltet wird, sondern damit einhergehend auch Übertragungsprozesse von einer Sprache in die andere oder sogar reziprok stattfinden können. Bevor es aber im nächsten Teilabschnitt genauer um derartige Sprachkontaktphänomene geht, sollen weitere Aspekte der Code-Switching-Forschung betrachtet werden, die über das Definitorische hinaus gegebenenfalls von Interesse sein können, um die Gestaltung von mehrsprachigen literarischen Texten zu untersuchen: 1) Funktionen von Code-Switching und 2) Motivationen von Sprecher*innen, die diese zum Code-Switching bewegen. Dabei geht man grundlegend davon aus, dass Sprachwechsel in Form von Code-Switching in der Regel Bedeutung haben. Sie sind Einschnitte oder Markierungen, die zeigen, dass sich etwas verändert oder etwas Neues beginnt. Insofern differenziert man zunächst zwischen situativem und konversationellem Code-Switching. Ersteres zeichnet sich dadurch aus, dass der Sprachwechsel eine neue Situation markiert. Das kann zum Beispiel das Hinzukommen einer neuen

73Vgl.

Claudia Maria Riehl: Schreiben, Text und Mehrsprachigkeit. Zur Textproduktion in mehrsprachigen Gesellschaften am Beispiel der deutschsprachigen Minderheiten in Südtirol und Ostbelgien. Tübingen 2001. S. 61. 74Vgl. François Grosjean: A Psycholinguistic Approach to Code-Switching. The Recognition of Guest Words by Bilinguals. In: Lesley Milroy und Pieter Muysken (Hg.): One Speaker, Two Languages. Cross-Disciplinary Perspectives on Code-Switching. Cambridge 1995. S. 259–275.

4.2  Mehrsprachigkeit: Praktiken und Konzepte

163

Person oder der Wechsel zu einem neuen Gesprächsthema sein. Es kann auch durch einen etwaigen Übergang vom privaten zum öffentlichen Modus bedingt werden.75 Konversationelles Code-Switching findet hingegen in unveränderter Gesprächssituation unter mehrsprachigen Sprechern statt. Dafür kann es zum Beispiel diskursstrategische Gründe geben, die auf einen kommunikativen Effekt abzielen, etwa denjenigen der Nachahmung oder der Vermittlung von Authentizität. „Das Zitieren in einer Sprache ist eine der häufigsten Formen von Code-­Switching und kommt in allen mehrsprachigen Gruppen vor. Das hat zum einen damit zu tun, dass man oft die Stimmlage und den Wortlaut eines Zitats wiedergeben möchte.“76 Code-Switching hat weiterhin eine expressive Funktion. Wie beobachtet wurde, wechseln Sprecher*innen nämlich besonders häufig gerade dann die Sprache, wenn sie persönliche Einstellungen und Werte ausdrücken.77 In linguistischen Untersuchungen wurde auch eine referenzielle Funktion von Code-Switching entdeckt. Sie besteht darin, dass im Falle von unzureichender Sprachkompetenz ein Sprachwechsel ausgelöst wird, um die sprachliche ‚Lücke‘ durch den Einsatz der anderen Sprache zu füllen.78 Einige Forschungsarbeiten haben darüber hinaus eine sogenannte poetische Funktion des Code-Switchings identifiziert. Diese Funktion kommt zum Beispiel bei Sprachspielen oder Witzen zum Tragen, die in der gewechselten Sprache zu integrieren sind oder dadurch sogar erst entstehen.79 Diese poetische Funktion von Code-Switching wird von René Appel und Pieter Muysken nur knapp erwähnt und kaum erläutert, aber interessanterweise anhand eines Zitats aus Ezra Pounds Canto XIII gezeigt, wie das zum Beispiel funktioniert. Pound works with complex internal rhymes across languages: Chinese gods, rivers, emperors and mountains are matched with elements from Homeric Greek and French, Italian, or Provençal verse. The result is at once an erudite evocation of all human civilizations and a panoply of sounds.80

Mehrsprachige Schreibverfahren, mittels derer ein Text oder ein Gedicht durch Sprachwechsel geprägt wird oder erst zustande kommt, lassen sich demnach eindeutig als Form von Code-Switching begreifen, das sich auf die poetische Funktion von Sprache bezieht. Darauf liegt beim vorliegenden Vorhaben der Fokus. Doch auch die anderen Funktionen von Code-Switching sind interessant, weil sie in literarischen Texten nachgeahmt werden können.

75Vgl.

Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 387. C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 387. 77Vgl. René Appel und Pieter Muysken: Language Contact and Bilingualism. London 1987 (Nachdruck: Amsterdam 2006). S. 119. Die Einteilung von verschiedenen Funktionen des CodeSwitchings ist auf Appel und Muysken zurückzuführen. 78Vgl. Appel, R. und Muysken. P.: Language Contact and Bilingualism (s. Anm. 77). S. 118–119. 79Vgl. z. B. Peter Auer: Code-switching/mixing. In: Ruth Wodak, Barbara Johnstone und Paul Kerswill (Hg.): The SAGE Handbook of Sociolinguistics. London 2010. S. 460–478. 80Appel, R. und Muysken. P.: Language Contact and Bilingualism (s. Anm. 77). S. 120. 76Riehl,

164

4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

Die meisten der hier genannten Funktionen des Code-Switchings zeigen, dass diese mehrsprachige Praktik im Zusammenhang mit der individuellen und gesellschaftlichen Konstruktion von sozialer Identität und Sprache steht. Der Sprachwechsel im Code-Switching lässt sich, selbstverständlich mit einigen Ausnahmen, als sprachliche Markierung sowie als Ausdruck von Zugehörigkeit und individueller oder gruppenspezifischer Positionierung deuten: Sehr viele Untersuchungen gehen davon aus, dass Code-Switching zwischen Sprachen einem Wechsel zwischen einem we-code und einem they-code gleichkommt und dass daher beim Code-Switching verschiedene soziale Identitäten der Sprecher aktiviert werden81.

Jene Identitätsfunktion der Sprache, so Sprachwissenschaftlerin und Deutsch-alsFremdsprache-Expertin Claudia Riehl weiter, sei möglicherweise sogar der Grund, warum es überhaupt zu Code-Switching komme. Dadurch ließe sich zum Beispiel erklären, warum Menschen auch lange Zeit nach Migrationsbewegungen in Interaktionen mit entsprechenden Gesprächspartner*innen an ihrer Erstsprache (­we-code) festhalten oder dies zumindest so weit wie möglich versuchen, teilweise sogar, obwohl sie die Sprache der umgebenden Sprachgesellschaft (they-code) objektiv betrachtet eventuell deutlich kompetenter beherrschen.82 Dass es aber auch mehrfache ‚we-codes‘ geben kann, wird in diesem Beispiel nicht deutlich. Mir erscheint es daher an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass die Positionierungen von ‚we-code‘ und ‚they-code‘, also von ‚wir‘ und ‚die Anderen‘, vielschichtig sind und immer wieder neu gesetzt werden können. Sie funktionieren ebenfalls nicht als einfache Rechnung „wir“ = Minderheit und „they“ = Mehrheit, sondern sind auch auf der hierarchischen Ebene wesentlich komplexer und dynamischer angelegt. Neben diesen unterschiedlichen Arten von funktionalisiertem Code-­ Switching diagnostiziert die linguistische Mehrsprachigkeitsforschung etwas, das sie als nichtfunktionales Code-Switching oder „psycholinguistisch motiviertes Code-­Switching“83 bezeichnet. Das heißt, dass der Sprachwechsel ohne bewusste Absicht des Sprechers stattfindet und damit keine im engeren Sinne intendierte kommunikative Funktion hat.84 Eine konkret gedachte kommunikative Funktion gibt es in der Literatur natürlich ohnehin nicht. Aber es ist von Interesse, weil man bezogen auf solche Code-­ Switchings von sogenannten „Trigger-Effekten“ spricht. Darunter versteht man, dass es anstelle von Sprechermotivationen Auslösewörter („trigger words“85) sind, die den Wechsel im Code-Switching von einer in eine andere Sprache auslösen bzw. verursachen. Auslösewörter sind sehr häufig ­ Ausdrücke, die in beiden oder

81Riehl,

C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 388. Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 388. 83Vgl. Michael Clyne: Transference und Triggering. Observations on the Language Assimilation of Postwar German-speaking Migrants in Australia. The Hague 1967. 84Vgl. Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 388. 85„Trigger-word: A word that causes the speaker ‚automatically‘ to switch from one language to another.“ (Clyne M.: Transference und Triggering (s. Anm. 83). S. 20). 82Vgl.

4.2  Mehrsprachigkeit: Praktiken und Konzepte

165

­ ehreren Sprachen ähnlich oder identisch klingen, zum Beispiel Eigennamen, lexim kalische Entlehnungen oder bilinguale Homomorphe (in beiden Sprachen ähnlich lautende ­Wörter).86 „Die Auslösewörter erleichtern den Übergang von einer Sprache in eine andere, weil sie in beiden Sprachsystemen vorhanden sind.“87 Statt einzelner ­Wörter können es auch andere strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Sprachen sein, die den Wechsel bewirken. Solche nicht bewusst intendierten und durch Trigger-­ Effekte verstärkten Formen von Code-Switching treten logischerweise deutlich häufiger zwischen ähnlichen Sprachen als zwischen sehr unterschiedlichen Sprachen in Erscheinung. In diesem Zusammenhang ist aber auch die Verbindung zu traumatischen Strukturen interessant. In literarischen Texten kann beispielsweise dargestellt werden, wie einzelne Wörter aus anderen Sprachen im Text auftauchen, die einen Erinnerungsvorgang im Erzählen auslösen. Mit diesem Aspekt des Traumatischen hat sich erstmals Kilchmann in Bezug auf nicht deutschsprachige Erinnerungsliteratur an den Holocaust beschäftigt.88 Sie geht in ihrer Analyse von mehrsprachigen Texten Primo Levis, David Roussets und Jorge Semprúns der Frage nach, wie der „Bruch mit der (Sprache) der Zivilisation in Zeugenberichten auf Ebene der Literatursprache gestaltet wird“89. Insbesondere das Durchsetzt-Sein der Erzähltexte mit deutschem Vokabular – z. B. Schimpf- und Befehlswörter, verbale Gewalt und NS-Sprache, wie sie in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern praktiziert wurde – in Form von Code-Switchings lege eine traumatische Spur, die unübersetzbar bleibt, in den Erzähltexten. Dies erzeuge eine „buchstäblich ‚gebrochene‘ Sprache […], in der die umfassende Frage nach einer adäquaten Sprache für die traumatischen Erinnerungen ebenso wie die Situation eines notwendig gebrochenen Erzählens zur Darstellung kommt“90. „Traumatisierung wird dabei literarisch gestaltet, indem die fremden Wörter die kohärente Erzähl- und Muttersprache in der Logik von flash-backs durchbrechen.“91 In Bezug auf literarische Texte des Exils seit 1933, die mit Formen von Code-Switching experimentieren, soll untersucht werden, ob sich in der Systematik des textinternen Sprachwechsels eine der hier besprochenen Funktionen wiedererkennen lässt oder nachgeahmt wird, z. B. in der Figurensprache oder im Erzähltext. Es erscheint mir im Zusammenhang von narrativen Texten über das Exil besonders vielversprechend, diejenigen Textstellen zu betrachten, an welchen die Sprache gewechselt wird und ob sich etwaige Auslösewörter ausmachen lassen, die sich unter Umständen thematisch auf die (sprachliche) Exilierung beziehen lassen.

86Vgl.

Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 389. C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 389. 88Esther Kilchmann: Gebrochen schreiben. Die Verwendung des Deutschen bei Primo Levi, David Rousset und Jorge Semprún. In: Dies. (Hg.): artefrakte. Holocaust und Zweiter Weltkrieg in experimentellen Darstellungsformen in Literatur und Kunst. Köln/Weimar/Wien 2016. S. 217–234. 89Kilchmann, E.: Gebrochen schreiben (s. Anm. 88). S. 219. 90Kilchmann, E.: Gebrochen schreiben (s. Anm. 88). S. 220–221. 91Kilchmann, E.: Gebrochen schreiben (s. Anm. 88). S. 232–233. 87Riehl,

166

4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

4.2.2 Sprachmischungen und Transferprozesse im Sprachkontakt Ergebnisse der Sprachkontaktforschung eignen sich auch für die Analyse von Literatur, wenn in den Texten durch Mehrsprachigkeit neue sprachliche Strukturen entstehen bzw. einsprachige Strukturen aufgelöst werden. Das Aufeinandertreffen von mindestens zwei Sprachen nennt man nach folgender Definition „Sprachkontakt“: Unter Sprachkontakt versteht man die wechselseitige Beeinflussung von zwei oder mehreren Sprachen oder Varietäten. Zwei oder mehrere Sprachen stehen miteinander im Kontakt, wenn sie von ein und demselben Individuum abwechselnd gebraucht werden oder wenn sie in derselben Gruppe gebraucht werden.92

Der sogenannte Sprachkontakt findet sowohl im Gehirn von Individuen statt, die mehr als eine Sprache sprechen, als auch innerhalb von Sprachgemeinschaften, in denen einige Mitglieder mehr als eine Sprache sprechen.93 Die Sprachkontaktforschung nimmt nun innerhalb solcher Konstellationen die Strukturen der beteiligten Sprachen in den Blick und beobachtet Veränderungen durch Austauschvorgänge. Sprachgruppen betreffend spricht man bei Sprachkontaktphänomenen von „Entlehnung (borrowing)“ und beschreibt damit „Übernahmen aus einer anderen Sprache (der Geber- oder Quellsprache), die in das System einer Sprache (der Nehmer- oder Aufnahmesprache) integriert und dort kodifiziert oder zumindest konventionalisiert sind.“94 Betrachtet man hingegen Sprachkontaktphänomene beim Individuum, ist die Rede von „Transfer“. Der Sprachwissenschaftler Michael Clyne definiert dies als Prozess, bei dem sprachliche Elemente, Strukturen oder Regeln von einer Sprache in eine andere übertragen werden.95 Dabei ist die Transferrichtung wichtig, weil je nach Status der Sprachen (L1 bzw. Erstsprache oder L2 bzw. Zweitsprache) in der Regel andere Transferprozesse zum Tragen kommen. Vereinfacht kann man sagen: „Die L1 wirkt auf die L2 vor allem sprachstrukturell, d. h. in der Phonologie, Morphosyntax und Semantik. Der Einfluss der L2 auf die L1 betrifft vor allem die Lexik, und dabei besonders Inhaltswörter (Substantive, Adjektive oder Verben).“96 Nach der Linguistin Carol Myers-Scotton werden überwiegend diejenigen Inhaltswörter aus der Zweitsprache übernommen, die in neuen, veränderten Situationen

92Riehl,

C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 390. bedeutet ausdrücklich nicht, dass jedes einzelne Mitglied der Sprachgemeinschaft über ein mehrsprachiges Repertoire verfügen muss. Sprachliche Austausch- und Übertragungsprozesse ereignen sich auch in der Gruppe als Ganzes, wenn nur einige Mitglieder mehrsprachig sind. 94Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 390. Diese etwas an Transplantationen erinnernden Begriffe „Geber- und Nehmersprache“, aber auch das eine Ursprünglichkeit nahelegende Wort „Quellsprache“ verstellen womöglich ein wenig die Tatsache, dass es sich dabei um äußerst dynamische und ungeplante Vorgänge handelt. Als Entlehnungen gelten z. B. die aktuell zahlreich im Deutschen geläufigen Anglizismen (T-Shirt, Computer etc.) (vgl. Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 391). 95Vgl. Michael Clyne: Community Languages. The Australian Experience. Cambridge 1991. S. 160. 96Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 391. 93Das

4.2  Mehrsprachigkeit: Praktiken und Konzepte

167

oder Umgebungen, etwa nach einer Migration, nötig sind, um sich zu integrieren, sie nennt dies cultural borrowings.97 Auch Clyne zufolge sind es beim Zweitspracherwerb in erster Linie diejenigen Lexeme, welche übernommen werden, für die es keine entsprechenden Bezeichnungen in der Erstsprache gibt.98 Es gibt eine besondere Form des Transfers, die im Zusammenhang dieser Arbeit interessant und wichtig ist, weil mit ihr eine Form von Übersetzung einhergeht, die an Lehnübersetzungen erinnert: „Außer dem Transfer von Bedeutungen oder Konstruktionen findet man im Sprachkontakt häufig Konstruktionen im Sinne einer 1:1-Übersetzung, dabei handelt es sich oft um feste Wendungen, sog. idiomatische Prägungen“99, die wörtlich bzw. Wort-für-Wort übersetzt werden und in der anderen Sprache zunächst fremd wirken, diese aber durch sukzessive Konventionalisierung erweitern können. In Kontexten und Situationen, in denen der Kontakt zwischen Sprachen so umfassend und massiv stattfindet, dass im Ergebnis eine neue Sprache entsteht, die sich als Kombination aus mindestens zwei zunächst als eher distinkt wahrgenommenen Sprachen erkennen lässt, spricht man in der Forschung von „Mischsprache[]“100. Mischsprachen zeichnen sich dadurch aus, dass sie lexikalisches und grammatisches Material von einer (dominanten) Sprache übernommen haben. Die Linguist*innen Sarah Thomason und Terrence Kaufman haben verschiedene Kontaktstufen bei solchen Mischsprachen bestimmt, die die unterschiedlichen Einflüsse beschreiben, welche die Zweitsprache auf die Erstsprache haben kann – je nach gesellschaftlicher Dominanz und den Machstrukturen von Mehrheitssprachen gegenüber Minderheitssprachen.101

97Vgl.

Carol Myers-Scotton: Multiple Voices. An Introduction to Bilingualism. Malden/Oxford/ Carlton 2006. S. 212. 98Vgl. Michael Clyne: Dynamics of Language Contact. English and Immigrant Languages. Cambridge 2003. S. 111–112. 99Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 396. Zu idiomatischen Prägungen vgl. Helmut Feilke: Sprache als soziale Gestalt. Ausdruck, Prägung und die Ordnung der sprachlichen Gestalt. Frankfurt a. M. 1996. „Feilke versteht darunter konventionell im gesellschaftlichen Umgang mit Sprache sich verfestigende Gebrauchsregeln auf verschiedenen Ebenen der Sprache, u. a. figurative Wendungen wie ins Gras beißen oder plastische Wendungen wie ins Bett gehen.“ (Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 396). Riehl bringt hier das Beispiel, dass viele Australiendeutsche, wenn sie jemanden fragen wollen, ob ihr*ihm warm ist, die Frage „Bist du warm?“ verwenden, analog zum englischen „Are you warm?“. 100Vgl. Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 398. 101Stufe 1 beschreibt einen nur geringen Sprachkontakt, der ausschließlich lexikalische Entlehnungen zur Folge hat. Dies betrifft hauptsächlich Inhaltswörter, während der Grundwortschatz vom Sprachkontakt überwiegend unberührt bleibt. Die Stufen 2 und 3 beziehen sich bereits auf ausgeprägte Formen von Sprachkontakt, der sich über die lexikalische Ebene hinaus auch in geringen und mittleren strukturellen Entlehnungen äußert. Das können neue Phoneme in Lehnwörtern oder einzelne syntaktische Konstruktionen sein. Stufe 4 und 5 zeigen sich durch stärkere bis umfassende strukturelle Entlehnungen, die meist dann zutage treten, wenn die Mehrheitssprache sehr dominant ist, etwa als alleinige Schriftsprache oder in allen gesellschaftlichen Bereichen. Dies kann in extremen Fällen zu solch schwerwiegenden strukturellen Entlehnungen führen wie dem typologischen Sprachwechsel oder sogar der Sprachaufgabe bzw. dem Sprachwechsel in die Zweitsprache (= Mehrheitssprache). (Vgl. Sarah G. Thomason und Terrence Kaufman: Language Contact, Creolization, and Genetic ­Linguistics. Berkely/Los Angeles/Oxford 1988. S. 74–76).

168

4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

Zu den extremsten Ausprägungen solcher Mischsprachen gehören zum einen Pidgin- und Kreolsprachen und zum anderen bilinguale Mischsprachen.102 Pidginsprachen sind vereinfachte Sprachen, die in Kontexten und Situationen entstehen, in denen zunächst keine gemeinsame Verständigungssprache zwischen Sprecher*innen vorhanden ist. Da sie auf konkreten Gebrauch im Sinne von Verständigung ausgelegt sind (sie tauchen zum Beispiel in Handelsbeziehungen häufig auf), zeichnen sie sich durch eher einfache Strukturen aus und gehen kaum über den konkreten Gebrauch hinaus.103 Aber pidgins unterscheiden sich von einfachem „foreigner-talk“, dem ‚gebrochenen‘ Sprechen einer Fremdsprache, z. B. dem Englischen.104 Anhand von drei Kriterien (nach Thomason und Kaufman) lassen sich Pidginsprachen erkennen: 1) Sie sind keine Erstsprache, d. h. es gibt keine Sprechergemeinschaft und damit keine Sprecher*innen, die in diese Sprachen ‚hineingeboren‘ werden oder sich mit ihnen als Muttersprache identifizieren. Alle Sprecher*innen einer Pidginsprache sprechen noch mindestens eine andere Sprache. 2) Sie sind in Bezug auf die Quellsprachen relativ unverständlich, d. h. Sprecher*innen der Kontaktsprachen können nach der Entstehungsphase von Pidginsprachen diese nicht mehr ohne Weiteres verstehen. 3) Sie sind konventionalisiert, d. h. bis zu einem gewissen Grad stabilisiert. Sie müssen von Sprecher*innen gelernt werden und können nicht lediglich durch Vereinfachung und Sprachmischungen individuell erzeugt bzw. praktiziert werden.105 Wenn sich solche Pidginsprachen jedoch weiterentwickeln, indem sie komplexere grammatische Strukturen herausbilden und sich vom Bezug auf konkrete und eingeschränkte Gebrauchssituationen lösen, entwickeln sie sich zu sogenannten Kreolsprachen. Diese können sowohl Erstsprache einer Sprecher*innengruppe sein als auch in der Folge Standardsprachen werden.106 Wichtig zu bemerken ist,

102Vgl.

Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 398. Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 398. 104Vgl. Thomason, S. G. u. T. Kaufman: Language contact, Creolization, and Genetic Linguistics (s. Anm. 101). S. 168. 105Vgl. Thomason, S. G. u. T. Kaufman: Language contact, Creolization, and Genetic Linguistics (s. Anm. 101). S. 168–170. 106Vgl. Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 398. Thomason und Kaufman beschreiben die äußeren Bedingungen solcher Entwicklungen, die zu derart starken Übernahmen sprachlicher Strukturen führen, als „overwhelming cultural pressure“, wie er durch den Kolonialismus hervorgebracht wurde. „Cultural pressure so intense that all the pressured speakers must learn the dominant language of the community usually leads to one of the three linguistic outcomes.“ Neben einem plötzlichen oder langsam vor sich gehenden „language death“ sei die dritte Möglichkeit eine Sprach- und Kulturloyalität, die dazu führe, dass „the pressured group may maintain what it can of its native language while borrowing such large portions of the dominant languageʼs grammar that they replace all, or at least sizable portions of, the original grammar.“ (Thomason, S. G. u. T. Kaufman: Language contact, Creolization, and Genetic Linguistics (s. Anm. 101). S. 100). 103Vgl.

4.2  Mehrsprachigkeit: Praktiken und Konzepte

169

dass man sich bei der Beschreibung von Pidgin- (und Kreol-)Sprachen von dem Gedanken verabschieden muss, dass es sich dabei um eine einheitliche Erscheinung handelt. Das ergibt sich schon daraus, dass Pidgins ein sehr weit verbreitetes Phänomen darstellen, das weit über die bekannten, im Zusammenhang mit der Kolonialisierung entstandenen Sprachformen hinausgeht. Die strukturelle Verschiedenheit der Pidgins ergibt sich aus den verschiedenen beteiligten Sprachen, ihren Gebrauchskontexten und der unterschiedlichen Zusammensetzung der Sprechergruppen.107

Bilinguale Mischsprachen unterscheiden sich von Pidgin- und Kreolsprachen hinsichtlich ihres Entwicklungsprozesses, da sie in der Regel innerhalb von bereits bilingualen Sprachgemeinschaften entstehen. Es sind dabei nur zwei Sprachen involviert, während es bei Pidgin- und Kreolsprachen oft mehr als zwei Sprachen sind.108 Die verschiedenen Abstufungen von Sprachkontaktphänomenen können vielversprechend sein, um den ‚Grad‘ von Transferprozessen in mehrsprachiger Literatur näher zu beschreiben. Natürlich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die umfangreichen Definitionen von Mischsprachen nicht prinzipiell auf mehrsprachige literarische Experimente übertragbar sind, weil diese beispielsweise nur selten die Komplexität von eigenen Mischsprachen erreichen können. Aber literarische Sprache kann zum Beispiel Mischsprachen wie Pidginsprachen oder Kreolsprachen und deren Entstehung nachahmen oder aufgreifen. Darüber hinaus können Ideen, Experimente und Ansätze von mehrsprachigen Schreibweisen so weit reichen, dass sie eine neue literarische Sprache entwickeln, die aus dem Kontakt von mehreren Sprachen genährt wird.

4.2.3  Language crossing: Kann man eine Sprache besitzen? Der von dem Soziolinguisten Ben Rampton geprägte Begriff language crossing beschreibt „the use of language varieties associated with social or ethnic groups that the speaker does not normally belong to“109. Es geht also um die situative Wahl bzw. den Gebrauch von Sprachen, die quer zu sprachlichen, sozialen oder ethnischen Zugehörigkeiten stattfinden und daher auch als Auseinandersetzung und Spiel mit Identitäten betrachtet werden können. Im Gegensatz zu klassischen Konstellationen von Zwei- und Mehrsprachigkeit, wie sie zum Beispiel bei bilingualen Familien und Migrantengemeinschaften vorliegen, geht es beim Crossing um unorthodoxe Fälle von Sprachkontakt, um das Vorkommen einer fragmentarischen, unnormierten und unerwartbaren zwei- oder mehrsprachigen Praxis.110

107Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 400. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Claudia Benthien, Rama Kant Agnihotri und Tatiana Oranskaia (Hg.): ‚Impure Languages‘. Linguistics and Literary Hybridity in Contemporary Cultures. Delhi 2015. 108Vgl. Riehl, C. M.: Mehrsprachigkeit und Sprachkontakt (s. Anm. 50). S. 401. 109Vgl. Ben Rampton: Crossing. Language and ethnicity among adolescents. London 1995. S. 14–15. 110Jannis Androutsopoulos: jetzt speak something about italiano. Sprachliche Kreuzungen im Alltagsleben. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 65 (2003). S. 79–109.

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4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

Language crossings oder „Sprachkreuzungen“111 sind Alltagsphänomene, die zeigen, dass Sprecher*innen sich über ihren Sprachgebrauch zu Kategorien wie ‚fremd‘ und ‚eigen‘ positionieren können. Es werden unterschiedlichste Formen von crossing beobachtet.112 Allen Formen des crossing ist aber gemein, dass sie sich per definitionem von anderen mehrsprachigen Praktiken unterscheiden, wie etwa Code-Switching oder Sprachmischungen. Indem bereits der Begriff des language crossing in dem Bild der Überschreitung auch die räumlich assoziierbare (Grenz-)Überschreitung enthält, ist erkennbar, dass es bei der Frage, welche Sprache jemand spricht (oder besser: welcher Sprache sich jemand bedient) stets auch um Verhandlungen von sprachlichen Territorien und damit nicht zuletzt von Besitzansprüchen geht. Man denke hier erneut an die spätestens seit dem 19. Jahrhundert hart umkämpfte Vorstellung von einheitlichen und voneinander abgrenzbaren Nationalsprachen, die im Besonderen auch in politischen Diskursen zum Tragen kommen. Aber dieser Komplex wird noch deutlich vielschichtiger, wenn man Phänomene innergesellschaftlicher Mehrsprachigkeit mit einbezieht. Dass ganze Nationen (nur) eine Sprache sprechen, lässt sich anhand mannigfaltiger Konstellationen (Migration, Regionalsprachen, Dialekte etc.) und deren Überschneidungen (z. B. Sprachmischungen) widerlegen. In diesem Zusammenhang geht es für Sprecher*innen bei ihrer Sprachwahl nicht selten auch um eine Art sprachliche Verortung in einer bestimmten Gruppe, Ethnie oder Kultur. Stark simplifiziert könnte man vielleicht sagen, dass die Wahl der Sprache sowie auch mehrsprachiges Sprechen (z. B. Code-Switching) in dieser Hinsicht einen tendenziell einen affirmativen Charakter haben, insofern, dass sie dem Prinzip der ‚Eigenheit‘ folgen, auch wenn diese Eigenheit aus mehreren Sprachen bestehen mag, im Sinne von: „Ich spreche meine Sprache(n)“ bzw. „Wir sprechen unsere Sprache(n)“.

111Das

deutschsprachige Äquivalent „sprachliche Kreuzung“ oder „Sprachkreuzung“ ist zurückzuführen auf Volker Hinnenkamp: Mehrsprachigkeit in Deutschland und deutsche Mehrsprachigkeit. Szenarien einer migrationsbedingten Nischenkultur. In: Heidrun Kämper und Hartmut Schmidt (Hg.): Das 20. Jahrhundert. Sprachgeschichte – Zeitgeschichte. Berlin/New York 1998. S. 137–162. 112Vgl. Androutsopoulos, J.: Sprachliche Kreuzungen im Alltagsleben (s. Anm. 110). S. 14–18. „Crossing-Merkmale werden im Lexikon, in der Phraseologie und den Routineformeln sowie der Lautung und Prosodie identifiziert. Zumindest im lexikalisch-phraseologischen Bereich scheint das typische Material sprachenübergreifend auf ganz bestimmte semantisch-funktionale Kategorien zurückzugehen: (a) Gruß- oder Anredeformeln, (b) Formeln für einfache Sprechhandlungen (z. B. Drohungen, Liebeserklärungen, Danksagungen, Fragen nach Geld oder Uhrzeit), (c) Interjektionen (z. B. Ausrufe der Überraschung, Zustimmung, Ablehnung), (d) Diskurspartikeln (z. B. ­Affirmations- und Negationswörter), (e) Beschimpfungen […], (f) Wortschatz aus bestimmten semantischen Bereichen, u. a. soziale Kategorisierungen, Sexualität, Körperteile und -funktionen, Genussmittel und Geld. […] Trotz der allgemein konstatierten Formelhaftigkeit der Ressourcen kann die Form von Kreuzungen im Gespräch nicht ein für allemal festgehalten werden. Das Spektrum reicht von minimalen stereotypischen Elementen – Akzentnachahmungen, Wortschatzelementen und festen Routineformeln – bis hin zu längeren, teils freien Äußerungen.“ (S. 15–16).

4.2  Mehrsprachigkeit: Praktiken und Konzepte

171

Vor diesem Hintergrund ist crossing als die konversationelle Aneignung einer Sprache oder Varietät von ‚anderen‘ Gruppen oder Kulturen von Sprecher*innen, die diese im engeren Sinne eigentlich nicht sprechen dürfen oder können bzw. nicht „beherrschen“, eine besondere Form von Mehrsprachigkeit. Es lässt sich insofern als spezielle sprachliche Grenzüberschreitung verstehen, weil dadurch nicht nur Sprachgrenzen überschritten werden, sondern „Sprecherinnen und Sprecher in ihnen ‚fremde‘ sprachliche Territorien hineinwandern“113. Dabei sind grob zwei Richtungen erkennbar, in die sich Formen von crossing hinsichtlich der Frage nach der Verhandlung sozialer und kultureller Grenzen richten können. Auf der einen Seite kann sich ein*e Sprecher*in beispielsweise Wörtern oder Phrasen aus der ‚anderen‘ Sprache oder Sprachvarietät bedienen, um dazugehören zu wollen. Auf der anderen Seite kann ein*e Sprecher*in das sprachlich ‚Andere‘ auch benutzen, um dieses als ‚fremd‘ auszustellen und sich davon bewusst, teils sogar deutlich abwertend, zu unterscheiden.114 Entscheidend ist, dass der Sprachkontakt, der bei crossing zutage tritt, nicht in einem machtfreien Raum stattfindet, sondern häufig vor allem Ausdruck einer Hierarchie zwischen Sprachen und Varietäten ist. Einen grundsätzlich wichtigen Aspekt stellt dabei meist das Prestige dar, welches einer gewissen Sprache oder Varietät von einer gewissen Gruppe zugesprochen wird. Auch aus diesem Grund liegt im Übrigen eine Verbindung zu dem aus der postkolonialen Theorie stammenden Begriff der Hybridität nahe.115 Hierarchien von dominierender und dominierter Sprache können durch crossing, zum Beispiel mittels evtl. ironischer Sprachspiele, aber auch subversiv unterlaufen werden, was an das postkoloniale Konzept der mimikry erinnert, wie es auf Bhabha zurückzuführen ist.116 Bhabha geht davon aus, dass sich die kolonialisierte Minorität durch Mimesis, also durch Formen der Nachahmung und Performance, gegen die Kolonisatoren auflehnen kann. Der sogenannte mimic man ist keine Kopie des Originals, in seiner Nachahmung liegt immer eine gewisse Abweichung. „In dieser Ambivalenz der Mimikry […] liegen

113Androutsopoulos,

J.: Sprachliche Kreuzungen im Alltagsleben (s. Anm. 110). S. 5. Beispiel aus der Forschung, das veranschaulicht, wie verschränkt diese Aspekte miteinander sein können, wäre diesbezüglich „Stilisiertes Türkendeutsch“, das Arnulf Deppermann in Gesprächen deutscher Jugendlicher untersucht hat. Nach Deppermann hat „Stilisiertes Türkendeutsch“ einen „paradoxen Status“: „Einerseits hat es ein niedriges Prestige als they-code der fremdkulturellen out-group. Es indiziert eine hochgradig stereotypisierte negative Identität seiner primären Sprecher. […] Andererseits hat stilisiertes Türkendeutsch aber ein hohes Prestige, denn es bietet die Gelegenheit, die Kenntnis von Medienvorbildern und den Besitz jugendkulturellen Kapitals in einer kunstfertigen Performance vorzuführen und mimetische Kenntnisse und genaue Beobachtungsgabe unter Beweis zu stellen.“ (Arnulf Deppermann: Stilisiertes Türkendeutsch in Gesprächen deutscher Jugendlicher. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 148 (2007). S. 43–65, hier: S. 57–58). 115Vgl. Androutsopoulos, J.: Sprachliche Kreuzungen im Alltagsleben (s. Anm. 110). S. 12–13. 116Homi K. Bhabha: Von Mimikry und Menschen: Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses. In: Ders.: Die Verortung der Kultur [1994]. Deutsche Übers. von Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen 2000. S. 125–136. 114Ein

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4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

Chancen des kolonialen Widerstandes. Jene unvollständigen Kopien der Kolonialmacht enthüllen die Ambivalenz des kolonialen Diskurses und brechen seine Autorität auf.“117 Die Vorstellung, dass eine Sprache nur einer bestimmten Gruppe bzw. einer bestimmten Ethnie oder Kultur ‚gehört‘ oder gebraucht werden darf, ist unter anderem angesichts zahlreicher Phänomene von Mehrsprachigkeit schwer haltbar. Anhand von Praktiken des crossing lässt sich zum einen aber besonders gut veranschaulichen, dass solche Vorstellungen nach wie vor bestehen und aufgegriffen werden, denn Sprachkreuzungen funktionieren häufig gerade über sprachlich manifestierte kulturelle Stereotype. Zum anderen sind Praktiken des crossing ein Beweis dafür, dass vermeintliche Sprachzugehörigkeiten veränderbar sind, indem Sprecher*innen sich etwas ‚Anderes‘ oder ‚Fremdes‘ zu eigen machen und damit auch in andere Gruppen oder Gesellschaftsbereiche sprachlich eintreten – sich quasi ‚hineinsprechen‘ – können. Sie können sich aber durch die spezifische Weise der sprachkreuzenden Aneignung (z. B. ironisch – „mocking“) auch selbst definieren bzw. ‚eigene‘ Gruppen in Relation zu dem ‚Anderen‘ bilden. Für die literaturwissenschaftliche Analyse von mehrsprachigen Texten eröffnet das Konzept des language crossing eine neue Perspektive, nicht zuletzt wenn es um literarische Diskurse von Sprachaneignung und Nationalliteraturen geht. Neben möglichen Darstellungen von beispielsweise Figuren als Sprachgrenzgänger*innen oder Inszenierungen von sprachkulturell manifestierten Machtverhältnissen, kann die literarische Verwendung oder Abbildung von Sprachkreuzungen auch als Auseinandersetzung mit oder sogar bewusstes Überschreiten von nationalliterarischen Grenzen fungieren, das sich eventuell auch als mehr oder weniger gezieltes ‚Hineinschreiben‘ in nationalkanonische Strukturen interpretieren lässt.

4.2.4  Translanguaging: Warum eignet sich ein Konzept von Translingualität besonders für die Literaturwissenschaft? Der Begriff translanguaging und das damit zusammenhängende Konzept haben vor allem in den letzten fünf bis zehn Jahren in der Mehrsprachigkeitsforschung deutlich an Aufmerksamkeit gewonnen, sodass sogar von einem translanguaging turn in den Sprachwissenschaften die Rede ist.118 Ursprünglich geht das Wort „translanguaging“ auf Cen Williams und das walisische „trawsieithu“ zurück. Es wurde zuerst genutzt, um bilinguale Praktiken im Schulunterricht in Wales zu beschreiben, bei denen der Input (z. B. Lesen oder Zuhören) in einer Sprache stattfindet und der Output (z. B. Sprechen oder Schreiben) in ein einer anderen.

117Blumentrath,

H. u. a.: Transkulturalität (s. Kap. 3, Anm. 242). S. 25. Ofelia García und Li Wei: Translanguaging: language, bilingualism and education. Basingstoke/Hampshire 2014. S. 19. 118Vgl.

4.2  Mehrsprachigkeit: Praktiken und Konzepte

173

Seitdem ist der Begriff nicht nur übersetzt, sondern von vielen F ­ orscher*innen deutlich weiterentwickelt worden, wobei die Definitionen leicht voneinander abweichen.119 Ofelia García und Li Wei, die der wissenschaftlichen Entwicklung und Verwendung des Begriffs nachgegangen sind, haben als aktuelle Definition vorgeschlagen, translanguaging als eine sprachliche Interaktion von mehrsprachigen Sprecher*innen zu verstehen, die zum Entstehen von innovativen Sprechweisen beiträgt, indem sie einzelne Elemente aus der Verankerung in nationalsprachlichen Zusammenhängen, in welchen diese normalerweise erwartet werden, herauslöst und neu zusammen agieren lässt.120 „[T]ranslanguaging does not refer to two separate languages nor to a synthesis of different language practices or to a hybrid mixture. Rather translanguaging refers to new language practices that make visible the complexity of language exchanges“121. Dabei ist translanguaging mehr als nur ein Sammel- oder Dachbegriff für multioder plurilinguale Praktiken wie Code-Switching, Sprachmischungen oder Sprachkreuzungen.122 Diese sind zwar durchaus involviert und tragen dazu bei, aber das Konzept von translanguaging, verstanden als systematischer, strategischer, ­verbindender und Sinn stiftender Prozesses, geht darüber hinaus. TranslanguagingPhänomene sind García zufolge multiple discursive practices in which bilinguals engage in order to make sense of their bilingual worlds. Translanguaging therefore goes beyond what has been termed code-switching […], although it includes it, as well as other kinds of bilingual language use and bilingual contact.123

Li Wei entwickelt in diesem Zusammenhang die räumliche Metapher eines translanguaging space als sozialer Raum, in dem translinguale Praktiken stattfinden und der zugleich durch dieselben erst generiert wird.

119Vgl.

García, O. und L. Wei: Translanguaging (s. Anm. 118). S. 20. is the enaction of language practices that use different features that had previously moved independently constrained by different histories, but that now are experienced against each other in speakerʼs interactions as one new whole.“ (García, O. und L. Wei: Translanguaging (s. Anm. 118). S. 21). 121García, O. und L. Wei: Translanguaging (s. Anm. 118). S. 21. 122Li Wei betont ebenfalls, dass translanguaging seiner Auffassung nach nicht nur ein Sammelbegriff für mehrsprachige Praktiken sei. „My idea of translanguaging comes from a different source; it builds on the psycholinguistic notion of languaging, which refers to the process of using a language to gain knowledge, to make sense, to articulate one’s thought and to communicate about using language“. Translanguaging „includes the full range of linguistic performances of multilingual language users for purposes that transcend the combination of structures, the alternation between systems, the transmission of information and the representation of values, identities and relationships.“ (Li Wei: Moment Analysis and translanguaging space: Discursive construction of identities by multilingual Chinese youth in Britain. In: Journal of Pragmatics 43 (2011). S. 1222–1235, hier: S. 1223). 123Ofelia García: Bilingual Education in the 21st Century. Malden/Oxford 2009. S. 42–43. 120„Translanguaging

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4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

The act of translanguaging then is transformative in nature; it creates a social space for the multilingual language user by bringing together different dimensions of their personal history, experience and environment, their attitude, belief and ideology, their cognitive and physical capacity into coordinated and meaningful performance, and making it into lived experience. I call this space ‚translanguaging space‘, a space for the act of translanguaging as well as a space created through translanguaging.124

Die Raummetapher steht zum einen damit in Verbindung, dass solche translingualen Prozesse durch tatsächliche räumliche Überschneidungen und Begegnungen befördert werden. Die Verbindung zur räumlichen Metapher von Über-Setzung, etwa Migration oder Exil als Übersetzung, wie sie in Abschn. 3.4.2 besprochen wurde, liegt insofern auf der Hand. Aber die Vorstellung eines translanguaging space ist auch auf die weltweit durch vernetzte Kommunikationssysteme im Internet entstehenden medialen Begegnungsräume übertragbar. Lässt sich auch mehrsprachige Literatur, die Migrationsprozesse ästhetisch mehrsprachig reflektiert, als translingualer Raum begreifen? Wei bringt sein Konzept eines translanguaging space mit Bhabhas Vorstellung von kultureller Übersetzung (vgl. Abschn. 3.4.3) zusammen, mit der Begründung, dass der Raum, in dem translinguale Praktiken von Individuen aus verschiedenen sprachlichen Ressourcen geformt werden, ein eigenes kraftvolles transformatives Potenzial entwickelt. It is a space where the process of what Bhabha (1994) calls ‚cultural translation‘ between traditions take place; it is not a space where different identities, values and practices simply co-exist, but combine together to generate new identities, values and practices. The boundaries of a translanguaging space are ever-shifting; they exist primarily in the mind of the individual who creates and occupies it, and the construction of the space is an ongoing, lifelong process.125

Die Schlüsselwörter für die Möglichkeit der Transformation beim translanguaging sind Kreativität und Kritik. Mehrsprachige Individuen können sich in der kommunikativen Interaktion kreativ oder kritisch auf soziale bzw. gesellschaftliche Zusammenhänge, Dynamiken und Hierarchien beziehen. Das Konzept translanguaging enthält insofern in der Regel auch eine Stellungnahme oder Haltung, es ist eine Positionierung gegen klare Einteilungen und Abgrenzungen von Sprachen und drückt stattdessen deren Integration aus. Allerdings macht die Mehrsprachigkeitsforscherin Brigitta Busch darauf aufmerksam, dass dies nicht bedeuten könne, sprachliche Machtverhältnisse sofort aufzulösen. Es bestehe sogar die Gefahr, diese durch den kritischen Bezug auf diskursive sprachliche Kategorisierungen und Stereotypisierungen in gewisser Weise fortzuführen, indem sie erneut aufgerufen werden.126 Aber es „wird ein Spielraum geöffnet, in dem das sprechende

124Wei,

L.: Moment Analysis and translanguaging space (s. Anm. 122). S. 1223. L.: Moment Analysis and translanguaging space (s. Anm. 122). S. 1223. 126Vgl. Busch: Mehrsprachigkeit (s. Anm. 2). S. 59. 125Wei,

4.2  Mehrsprachigkeit: Praktiken und Konzepte

175

Subjekt sich nicht bloß als positioniert erleben kann, sondern auch als sich selbst positionierend“127. Aufgrund dieser aktuellen linguistischen Forschungslage zum translanguaging lässt sich zusammenfassen, dass ein Konzept von „Translingualität“, analog zum Konzept von Transkulturalität, zunächst einmal auf der Annahme beruht, dass Sprachen so wie Kulturen keine einheitlichen, klar voneinander trennbaren Entitäten bilden. Darin unterscheidet es sich von dem Terminus Multilingualität (bzw. Multikulturalität), denn dieser basiert (noch) eher auf einem interkulturellen bzw. sprachlichen ‚Insel‘- oder ‚Kugel‘-Modell, in dem eine territoriale Ko-­Präsenz von Sprachen angenommen wird, die grundsätzlich von einer internen Homogenität und einer externen Abgrenzung der einzelnen Sprachen ausgeht (siehe Abschn. 3.4.4 zu Transkulturalität). Im Gegensatz dazu postuliert das Translingualitätskonzept die Kreuzung, Verflechtung und Durchdringung von Sprachen. Translingualität bedeutet, vermeintliche Grenzen von Sprachsystemen und Sprachstrukturen zu überschreiten und stattdessen die Komplexität von Sprachaustauschprozessen sichtbar zu machen. Das erzeugt ein sprachreflexives, kreatives und transformatives Potenzial, welches dazu beiträgt, sich von feststehenden nationalsprachlich geprägten Sprachidentitäten zu lösen. In der Vorsilbe „trans-“ wird also eine Grenzüberschreitung ausgedrückt und betont, die auch und gerade sprachpolitisch von Bedeutung ist. Translingualität ist insofern ein sprachideologisch aufgeladener Begriff, der im diametralen Gegensatz zu Mutter-, Einsprachigkeits- oder Nationalsprachideologien steht. Anstelle von einer Trennung oder Hierarchisierung betont er vielmehr die dynamische Verflechtung und ständige Erneuerung von Sprachen. Die Verwendung dieses Begriffs im Bereich der Literatur ist zusätzlich damit zu begründen, dass es bei translanguaging bereits in der linguistischen Diskussion ausdrücklich nicht nur um gesprochene Sprache, sondern auch um andere Modalitäten geht.128 „[T]ranslanguaging is both going between different structures and systems, including different modalities (speaking, writing, signing, listening, reading, remembering) and going beyond them.“129 Der geschriebenen Sprache und im Speziellen literarischen Texten wird ein besonderer Möglichkeitsspielraum zugesprochen, der hier allerdings noch überwiegend an die Autor*innen geknüpft zu sein scheint: Writers translanguage to make sense of themselves and their audience. […] Bilingual literary writers often write in one or another language (see, for example Joseph Conrad […] or Eva Hoffmann […]). As more and more bilingual authors are published, many self-translate themselves into one or another language. […] What is called ‘mixed-­ language’ bilingual writing is also becoming more prevalent today. For example, in the US, Spanish/English bilinguals, writing in English, are using translanguaging strategically for literary effect.130

127Busch,

B.: Mehrsprachigkeit (s. Anm. 2). S. 59. O. und L. Wei: Translanguaging (s. Anm. 118). S. 26. 129Wei, L.: Moment Analysis and translanguaging space (s. Anm. 122). S. 1223. 130García, O. und L. Wei: Translanguaging (s. Anm. 118). S. 26–27. 128Vgl.García,

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4  Linguistische Mehrsprachigkeitsforschung und Analysekategorien

Interessanterweise ist zu dem Beispiel angeführt, dass es eine Rolle spielt, inwiefern der literarische Text „includes no quotes, no italics, no way to privilege one or another way of speaking“131. Wenn beispielsweise durch Kursivsetzung oder Anführungsstriche Textstellen markiert erscheinen, an denen eine weitere als die überwiegend verwendete Sprache in einem Text ins Spiel kommt, bleibt eine gewisse Betonung sprachlicher Grenzen nicht aus. Der Eindruck von Translingualität verstärkt sich prinzipiell, wenn auf solche optisch zwischen Sprachen differenzierenden Markierungen verzichtet wird. Es lohnt sich daher für die Analysen, auch im Blick zu behalten, ob und wie Sprachen in den literarischen Texten hervorgehoben werden. Translingualität wird im Folgenden als übergeordneter Begriff von mehrsprachigen Phänomenen in literarischen Texten gefasst. Einzelne Code-Switchings, Sprachmischungen oder language crossings bringen nicht sofort einen translingualen Text hervor. Treten diese jedoch in strukturell auffälliger und bedeutsamer Weise auf, welche eine Einsprachigkeit des jeweiligen Textes unterläuft, kann von Translingualität die Rede sein. Es stellt sich im Allgemeinen und für die folgenden Analysen im Besonderen die Frage, inwiefern Literatur als translanguaging space betrachtet werden kann, in dem durch Kreativität und/oder Kritik transformatives Potenzial über Sprachgrenzen hinweg entfaltet werden kann. Weiterhin sind Übersetzen und Dolmetschen als zwei der Handlungsfelder für translinguale Reflexion über Sprache(n) zu betrachten. Inwiefern diese in literarischen Texten als translinguale ästhetische Mittel funktionieren und dazu beitragen, mehrsprachige Schreibweisen als literarisches translanguaging zu betrachten, gilt es im Folgenden zu untersuchen. Vorab noch eine Bemerkung dazu, dass im Verlauf der Analysen Sprachen unvermeidlich benannt werden: Wenn also von „Englisch“, „Schwedisch“, „Deutsch“ oder „Spanisch“ die Rede sein wird, legt dies schnell nahe, Sprachen würden als distinkte Entitäten begriffen. Warum das nicht der Fall ist, dürfte in diesem Kapitel deutlich geworden sein. Daher möchte ich den analytischen Kapiteln eine Prämisse voranstellen und zugrunde legen, wie sie Kilchmann für den Umgang mit literarischer Mehrsprachigkeit besonders treffend formuliert hat: Dabei können Mehrsprachigkeit, ‚Nationalsprachen‘, ‚natürliche‘ versus ‚künstliche‘ Sprachen hier keine unmissverständlichen Kategorien sein. Vielmehr verweist gerade die literarische Repräsentation und Reflexion von Mehrsprachigkeit immer wieder auf die grundlegende Problematik dieser Trennungen und Einteilungen. Ebendiesen zentralen Effekt mehrsprachigen Schreibens gilt es stets mit zu reflektieren, soll die Untersuchung heterolingualer Elemente im deutschen Text nicht Gefahr laufen, in der Scheidung von ‚fremder Sprache‘ auf der einen, ‚deutscher Sprache‘ auf der anderen Seite, deren ganze Problematik zu reimplementieren. Mit anderen Worten sollte eine germanistische Fremdwortbestimmung nicht dort fortgeschrieben werden, wo der literarische Text selbst eher den gegenteiligen Effekt hat: diese Trennungen zu hinterfragen und die Vorläufigkeit und Unzulänglichkeit von Kategorien wie Nationalsprache, natürliche versus künstliche Sprache zu bedenken zu geben. […] Deutlich wird, wie der Einsatz anderer Sprachen immer wieder die Vorstellung einer sprachlichen Einheit und damit die monolinguale Norm durchkreuzt.132

131García,

O. und L. Wei: Translanguaging (s. Anm. 118). S. 27. E.: Mehrsprachigkeit und deutsche Literatur (s. Anm. 6). S. 12.

132Kilchmann,

5

Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen: Einflüsse durch Mehrsprachigkeit und Übersetzung bei Hilde Domin

Hilde Domin (1912–2006) gilt als die „Dichterin der Rückkehr“1 schlechthin, die nach Jahrzehnten im Exil nicht nur nach Deutschland zurückkehrte, sondern auch in die deutsche Sprache. So heißt es in einer literarischen Selbstdarstellung: „ich verwaist und vertrieben, da stand ich auf und ging heim, in das Wort. […] Von wo ich unvertreibbar bin. Das Wort aber war das deutsche Wort. Deswegen fuhr ich wieder zurück über das Meer, dahin wo das Wort lebt.“2 Domin hat sich für die deutsche Sprache als Schreibsprache entschieden und ihre Verbindung zur Erstbzw. Muttersprache in verschiedenen Textsorten dargestellt und reflektiert. Im Wesentlichen durch die Exilerfahrung bedingt, sprach sie aber auch mehrere weitere Sprachen fließend – Italienisch, Spanisch, Englisch und Französisch – und betätigte sich als Übersetzerin von wissenschaftlichen Texten und literarischen Texten anderer Autor*innen. Zu übersetzen begann sie lange bevor sie selbst Schriftstellerin wurde. Deutliche Einflüsse dieser Mehrsprachigkeit und Übersetzungstätigkeit, so meine These, lassen sich in Domins literarischen Texten erkennen, und zwar – es mag paradox klingen – obwohl sie fast ausschließlich auf Deutsch schrieb. Unter dem bürgerlichen Namen Hildegard Dina Löwenstein wurde Domin in eine überwiegend säkular orientierte, bürgerliche jüdische Familie in Köln geboren. 1932 hat sie für einen Forschungsaufenthalt und in weiser Vorahnung angesichts der sich zuspitzenden politischen Situation Deutschland verlassen. Sie lebte mit ihrem Mann Erwin Walter Palm, der ebenfalls einer jüdischen Familie entstammte, zunächst einige Jahre in Italien, in Rom und Florenz, wo beide promovierten. Nachdem das Paar auch dort wegen der sich unter Mussolini

1Hans-Georg Gadamer: Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr [1971]. In: Bettina von Wangenheim (Hg.): Vokabular der Erinnerungen. Zum Werk von Hilde Domin. Aktual. von Ilseluise Metz. Frankfurt a. M. 1998. S. 29–35. 2Hilde Domin: Unter Akrobaten und Vögeln. Fast ein Lebenslauf [1964]. In: Dies.: Gesammelte autobiographische Schriften. Frankfurt a. M. 1998. S. 21–31, hier: S. 21–22.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Benteler, Sprache im Exil, Exil-Kulturen 2, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04943-8_5

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5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

v­ erschärfenden Situation für Juden*Jüdinnen nicht mehr bleiben konnte, floh es 1939 über Paris nach London und 1940 schließlich über Kanada in die Dominikanische Republik. Im karibischen Exil begann Domin zehn Jahre später, im Alter von knapp 40 Jahren, erstmals Gedichte zu schreiben. In Anlehnung an das Exilland und seine Hauptstadt Santo Domingo entstand auch der Künstlername „Domin“, unter welchem sie bekannt werden sollte. Das war kurz vor ihrer sukzessiven Rückkehr nach Deutschland 1954, die in den ersten Jahren von zwei längeren Spanienaufenthalten unterbrochen war. Nach dem Erscheinen ihrer ersten Gedichtbände Nur eine Rose als Stütze3 (1959), Rückkehr der Schiffe4 (1962) und Hier5 (1964) entwickelte sich Domin zu einer sehr viel gelesenen Dichterin, die bis an ihr Lebensende Lesungen gab und weitere Gedichtbände6 veröffentlichte. Neben einigen autobiografischen Texten sowie einem Roman Das zweite Paradies7 (1968) hat sie auch eine poetologische Abhandlung Wozu Lyrik heute8 (1968) geschrieben und 1987 Poetik-Vorlesungen unter dem Titel Das Gedicht als Augenblick von Freiheit9 an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main gehalten. Die allerersten Veröffentlichungen Domins waren einzelne Gedichte, die sie zuvor selbst ins Spanische übersetzt hatte. Es folgten vereinzelt Übersetzungen ins Spanische von Gedichten anderer Autor*innen, u. a. von Günter Eich und Hans Magnus Enzensberger. Ins Deutsche übersetzte sie neben einzelnen Gedichten aus dem Spanischen und Französischen u. a. eine Reihe von Gedichten von Guiseppe Ungaretti aus dem Italienischen. Außerdem gab sie den Erzählband Spanien erzählt10 (1963) heraus, für den sie ebenfalls eine Erzählung ins Deutsche ­übertrug. Angesichts einer durchaus umfangreichen Forschungslandschaft zu Domin soll hier erstmals zusammenhängend herausgearbeitet werden, welche Merkmale und Spuren durch andere Sprachen und durch die Arbeit als Übersetzerin in ihrem

3Hilde

Domin: Nur eine Rose als Stütze. Gedichte. Frankfurt a. M. 1959. Domin: Rückkehr der Schiffe. Gedichte. Frankfurt a. M. 1962. 5Hilde Domin: Hier. Gedichte. Frankfurt a. M. 1964. 6Hilde Domin: Höhlenbilder. Gedichtzyklus 1951–1952. Duisburg 1968; Dies.: Ich will dich. Gedichte. München 1970; Dies.: Der Baum blüht trotzdem. Gedichte. Frankfurt a. M. 1999. Alle zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte sind, ergänzt um Gedichte aus dem Nachlass, publiziert in: Hilde Domin: Sämtliche Gedichte. Hg. von Nikola Herweg und Melanie Reinold. Frankfurt a. M. 2009. Auf diese Ausgabe wird sich im Folgenden überwiegend bezogen, wenn es um die Gedichte geht. 7Vgl. dazu insbesondere Abschn. 5.5. 8Hilde Domin: Wozu Lyrik heute. Dichtung und Leser in der gesteuerten Gesellschaft. München 1968. 9Hilde Domin: Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1987/1988. München 1988. 10Spanien erzählt. Sechsundzwanzig Erzählungen. Ausgew. und eingel. von Hilde Domin. Frankfurt a. M. 1963. 4Hilde

5.1  Stand der Domin-Forschung

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l­iterarischen Werk zu finden sind. Diese Befunde gilt es in Bezug auf die von Domin selbst und in der Forschung wiederholt proklamierte ‚Heimat in der deutschen ­Sprache‘11 einzuordnen.

5.1 Stand der Domin-Forschung Elsbeth Pulver hat Domins Werk in ihrem Lexikonartikel grob nach vier schwerpunktmäßigen Arbeitsperioden eingeteilt: 1) 1950er und 1960er Jahre als „dichte[] lyrische Produktion“, 2) die späten 1960er Jahre als Zeit der poetologischen Reflexion, 3) die 1970er und 1980er als „die Zeit der großen Essays“ und 4) die späteren 1980er Jahre „unter dem Zeichen des Sammelns und Ordnens“, weil Domin ab 1987 ihre entstandenen Arbeiten der letzten Jahrzehnte in drei Bänden12 gesammelt herausgab.13 Etwa seit Mitte der 1980er Jahre hat sich die literaturwissenschaftliche Forschung verstärkt mit Domin und ihren Texten auseinandergesetzt und das wissenschaftliche Interesse an ihren lyrischen, autobiografischen und essayistischen Texten sowie ihrem Roman Das zweite Paradies hält bis heute an. Es lässt sich beobachten, dass viele Dissertationen und weitere Monografien hervorgebracht wurden, die sich ausschließlich mit Domin beschäftigen. Eine der Ersten war diejenige von Irmgard Hammers 1983.14 Hammers und weitere monografische Arbeiten zielen darauf, Domins dichtungstheoretische Reflexionen15 und Poetikvorlesungen16 in Zusammenhang mit ihrer Lyrik und Prosa zu bringen.17 Den ästhetischen Reflexionen Domins räumt Hammers eine „Stellung zwischen Tradition und Moderne ein“18, wobei ihre Poetik in erster Linie deskriptiv statt normativ sei, da poetische Kategorien überwiegend aus der künstlerischen Praxis abstrahiert würden.

11„Wir

waren im Deutschen zu Hause und haben uns auch nie als exiliert aus der Sprache betrachtet, sondern die Sprache war unser Zuhause.“ (Hilde Domin: „Wortwechsel“. Interview mit Christa Schulze-Rohr (Südwestfunk Baden-Baden 1991). In: Bettina von Wangenheim (Hg.): Vokabular der Erinnerungen. Zum Werk von Hilde Domin. Aktual. von Ilseluise Metz. Frankfurt a. M. 1998. S. 200–218, hier: S. 202). 12Hilde Domin: Gesammelte Gedichte. Frankfurt a. M. 1987; Hilde Domin: Gesammelte Essays. Heimat in der Sprache. München 1992; Hilde Domin: Gesammelte autobiographische Schriften. Fast ein Lebenslauf. München 1992. 13Vgl. Elsbeth Pulver: Hilde Domin. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München 1984. S. 1–10. 14Die Arbeit erschien 2017 als Neuausgabe: Irmgard Hammers: Hilde Domin. Dichtungstheoretische Reflexion und künstlerische Verwirklichung [1984]. Köln, Weimar, Wien 2017. 15Domin, H.: Wozu Lyrik heute (s. Anm. 8). 16Domin, H.: Das Gedicht als Augenblick von Freiheit (s. Anm. 9). 17Vgl. dazu z. B. auch Michael Braun: Exil und Engagement. Untersuchungen zur Lyrik und Poetik Hilde Domins. Frankfurt a. M. 1993. 18Hammers, I.: Hilde Domin (s. Anm. 14). S. 167.

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5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

Poetisches und künstlerisches Werk bilden insofern eine Einheit, als das künstlerische Werk Ausgangspunkt für die kunstapologetische Position der Dichterin wird und als die dieser Poetik innewohnende Forderung nach „totaler“ Wirkungsästhetik sich aus den Gedichten selbst herleitet.19

Margret Karsch untersucht Domins Werk vor dem Hintergrund des Diskurses um die moralische (Un-)Möglichkeit von Literatur nach der Schoah, der in der Nachkriegsliteratur unter Theodor W. Adornos Zitat – „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“20 – prominent geworden ist.21 Domin, die sich wiederholt gerade für die Notwendigkeit von Gedichten nach Auschwitz ausgesprochen hat, beschränke sich Karsch zufolge innerhalb dieses Diskurses nicht wie Adorno auf theoretische Überlegungen, sondern „verleiht dem moralisch-ästhetischen Dilemma darüber hinaus in ihrer Lyrik Ausdruck“22. Karsch gibt aber zu beachten, dass die Gattungsgrenzen bei Domin fließend sind, weil ihre poetologischen Reflexionen und Essays, die sich unter anderem auch durch bildhafte Sprache kennzeichnen, nicht trennscharf von ihrer Lyrik zu unterscheiden sind. Indem das Paradoxon bei Domin als „Ausgangspunkt, um ihre Denkbewegungen dialektisch zu dynamisieren“23, funktioniere, erkennt Karsch insgesamt wesentliche Parallelen zu Adornos Kulturkritik. Für diese Denkbewegungen spiele insbesondere der Rezeptionsprozess eine wichtige Rolle, wie Domin auch in ihren poetologischen Überlegungen reflektiert hat, weil durch diesen Polysemie erzeugt und vervielfacht werde.24 Keine Interpretation, auch nicht die des Autors, kann Domin zufolge alleinige Gültigkeit beanspruchen, da jede Begegnung zwischen Text und Leser individuell und situativ bedingt ist. Mit diesem Aspekt ihrer Poetologie, der die Bedingungen von Sprache produktiv wendet, weist Domin einen Ausweg aus der Sprachkrise nach Auschwitz.25

19Hammers,

I.: Hilde Domin (s. Anm. 14). S. 166. W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Bd. 10.1. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1977. S. 722–725, hier: S. 723. 21Margret Karsch: „das Dennoch jedes Buchstabens“. Hilde Domins Gedichte im Diskurs um Lyrik nach Auschwitz. Bielefeld 2007. Karsch betont, dass der viel zitierte (Teil-)Satz Adornos häufig fälschlicherweise als Absage an die Kunst im Allgemeinen oder als Verbot, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben, interpretiert wurde. Die moralische Kritik Adornos richte sich vielmehr auf Positionen, die sich, innerhalb der Dialektik von Kultur und Barbarei, nach dem Massenmord rein ästhetischen Fragen zuwenden und politische auszuklammern. Insofern sei die Aussage vor allem als eine für Adorno charakteristische „provozierende Denkanregung“ zur Auseinandersetzung mit Begriffen und Gegenbegriffen zu verstehen (vgl. S. 15–17). 22Karsch, M.: „das Dennoch jedes Buchstabens“ (s. Anm. 21). S. 335. 23Karsch, M.: „das Dennoch jedes Buchstabens“ (s. Anm. 21). S. 335. 24„Domins Methode der ‚unspezifischen Genauigkeit‘ dient im Kommunikationsprozess nach Auschwitz dazu, die Wirklichkeit nicht durch Repräsentation zu bannen und dabei womöglich zu verfehlen, sondern durch die Polysemie und Autonomie der Wirklichkeit im Kunstwerk herauszustellen.“ (Karsch, M.: „das Dennoch jedes Buchstabens“ (s. Anm. 21). S. 335). 25Vgl. Karsch, M.: „das Dennoch jedes Buchstabens“. S. 336. 20Theodor

5.1  Stand der Domin-Forschung

181

Weiterhin sind, wie eingangs bereits erwähnt, Arbeiten zum Rückkehr-Motiv in der Domin-Forschung äußerst präsent vertreten. Rückkehr und Remigration werden auf verschiedene Weise in Domins Texten zusammen mit Aspekten von Exil und Heimat gelesen, womit nicht zuletzt auch Domins einziger Roman in den Blick gerät, der neben ihrer Lyrik zunächst eher im Hintergrund stand.26 Eine wesentliche Streitfrage bzw. Problematik in der Domin-Forschung scheint mir der Umgang mit autobiografischen Bezügen in ihrem Werk zu sein.27 Bereits Hammers formuliert: „Das Werk Hilde Domins ist ein autobiografisches. Eigenes Erleben wird in der Lyrik benannt und in der Benennung zum Allgemeinen geläutert.“28 Nikola Herweg schreibt sogar, Domins Gedichte und ihr Roman seien „zutiefst autobiographisch“29. Dass autobiografische Hintergründe in Domins literarischen Texten vorhanden sind, steht nicht zur Debatte, sie wurden schließlich nicht zuletzt von der Autorin mehrfach benannt oder durch die Publikation in Sammelausgaben paratextuell festgelegt. In der Konzentration auf Autobiografisches besteht meines Erachtens immer auch die Gefahr, in den literarischen Texten Informationen über die Biografie der Autorin finden und sammeln zu wollen, um schließlich alles zu einer Art Gesamtkunstwerk zu verweben. Die 2009 – im 100. Geburtsjahr der Autorin – erschiene und umfangreich recherchierte Biografie von Marion Tauschwitz etwa büßt deutlich an wissenschaftlichem Anspruch ein, weil sie Domins Gedichte in weiten Teilen unreflektiert als Zeugnisse ihres Lebens interpretiert. So werden die Person der Autorin und das lyrische oder erzählende Ich gewissermaßen gleichgesetzt und das verleiht den literarischen Texten einen Status, der sich von dem Umgang mit persönlichen Briefen Domins, welche sich in ihrem Nachlass befinden, kaum

26Vgl.

z. B.: Gadamer, H.-G.: Hilde Domin, Dichterin der Rückkehr (s. Anm. 1); Guy Stern: In Quest of a Regained Paradise. The Theme of Return in the Works of Hilde Domin. In: Germanic Review 62/3 (1987). S. 136–142; Dieter Sevin: Rückkehr aus dem Exil als Ursprung und Voraussetzung ihrer Poetologie. In: Helga Schreckenberger (Hg.): Ästhetiken des Exils. Amsterdam/ New York 2003; Vera Viehöver: „Euphorische Heimkehr“? Hilde Domins Ankunft im Literaturbetrieb der Nachkriegszeit. In: Günter Häntzschel, Sven Hanuschek und Ulrike Leuschner (Hg.): Zur Präsenz deutschsprachiger Autorinnen. Frauen und Medien. München 2010. S. 69–85; Elfe Vallaster: „Ein Zimmer in der Luft“. Liebe, Exil, Rückkehr und Wort-Vertrauen. Hilde Domins lyrischer Entwicklungsweg und Interpretationszugänge. New York 1994; Kathrin Wittler: Sprachund Remigrationsdiskurse im Jahr 1959. Hilde Domins Gedichtband „Nur eine Rose als Stütze“. In: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens 8 (2008). S. 245–253; Braun, M.: Exil und Engagement (s. Anm. 17). S. 75–86: „zur Gestaltung des Rückkehrerthemas“. 27Zur Frage nach dem Umgang mit Autobiografischem bei Domin siehe auch Abschn. 5.2. 28Hammers, I.: Hilde Domin (s. Anm. 14). S. 89. 29Nikola Herweg: „nur ein land / mein sprachland“. Heimat erschreiben bei Elisabeth Augustin, Hilde Domin und Anna Maria Jokl. Würzburg 2011. S. 103.

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5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

unterscheidet.30 Zugute halten kann man der Biografie jedoch die intensive Durchsicht der gesamten im Nachlass befindlichen Korrespondenz.31 Eine weitere Biografie über Domin und die einzige von ihr autorisierte ist diejenige von Ilka Scheidgen32. Auch Scheidgen zieht neben persönlichen Gesprächen mit Domin deren literarisches Werk als Quelle heran. Sie lässt jedoch eher Domins Aussagen über ihr Leben die Gedichte kommentieren als umgekehrt. Im Folgenden soll genauer betrachtet werden, wie der Themenkomplex von Muttersprache, Mehrsprachigkeit und Übersetzung in Domins Werk innerhalb der Forschung bis dato untersucht und eingeschätzt wurde, um den hier verfolgten Ansatz noch genauer zu situieren.

5.1.1 Die (deutsche) Sprache als Heimat Hinsichtlich des Komplexes von Sprache und Exil bei Domin betonen Forschungsbeiträge bis heute überwiegend die Bedeutung der deutschen Muttersprache als Sprachheimat. Walter Jens’ Interpretation zu Domins erstem Gedichtband Nur eine Rose als Stütze, dass mit der Rose die deutsche Sprache gemeint sei, die als Halt im Exil fungiert habe,33 ist eine der ersten Referenzen dieses Forschungsstandpunktes. Vor allem seit Domin als Reaktion darauf schrieb, diese Lesart hätte sie „sofort überzeugt[]“34, ist dies in der Forschung wiederholt aufgegriffen und ausgearbeitet worden. Im Zentrum vieler Analysen steht die Frage nach Sprache und Identität, allerdings nicht nur in den Texten, sondern auch bei der Autorin selbst. Denise Reimann formuliert zu dieser Beobachtung in einem aktuellen Beitrag:

30Vgl.

Marion Tauschwitz: Dass ich sein kann, wie ich bin: Hilde Domin. Die Biografie. Heidelberg 2009. Ähnlich kritische Einschätzungen zu dieser Biografie finden sich im Vorwort bei Hammers, I.: Hilde Domin (s. Anm. 14). S. 13–14. Sowie in einem Zeitungsartikel von Ulla Hahn: Magische Gebrauchsgegenstände. Hilde Domin verteidigte das Gedicht gegen seine Grabredner. Neue Bücher zu Ehren der großen Poetin. In: Zeit online (23.07.2009). Unter: http:// www.zeit.de/2009/31/L-B-Domin (12.04.2019). Darin schreibt Hahn: „Nahezu naiv bezieht die Biografin Lebensdaten und Gedichtzeilen unmittelbar aufeinander, setzt lyrische Gedichtzeilen und reale Person in eins; benutzt die Gedichte und mehr noch den Roman Das zweite Paradies wie Dokumente zum Tagesgeschehen, als habe eine ästhetische Umwandlung nie stattgefunden. […] Diese Biografie jedoch degradiert das Werk Hilde Domins zur Datenbank“. 31Darunter befindet sich auch die Briefsammlung, die 2009 beim Einsturz des Archivs der Stadt Köln gänzlich zerstört wurde. (Vgl. Tauschwitz, M.: Hilde Domin (s. Anm. 30). S. 16) Ein Teil der Briefe von Domin an ihren Mann ist erschienen unter: Hilde Domin: Die Liebe im Exil. Briefe an Erwin Palm aus den Jahren 1931–1959. Hg. von Jan Bürger, Frank Druffner und Melanie Reinold. Frankfurt a. M. 2009. Aktuell erstmals publiziert ist der Briefwechsel zwischen Hilde Domin und Nelly Sachs: Hilde Domin und Nelly Sachs: Briefwechsel. Hg. von Nikola Herweg und Christoph Willmitzer. Marbach 2016. 32Ilka Scheidgen: Hilde Domin. Dichterin des Dennoch. Eine Biografie. Lahr 2006. 33Walter Jens: Volkommenheit im Einfachen [1959]. In: Bettina von Wangenheim (Hg.): Vokabular der Erinnerungen. Zum Werk von Hilde Domin. Aktualisierte Neuaufl. von Ilseluise Metz. Frankfurt a. M. 1998. S. 53–56. 34Hilde Domin: Leben als Sprachodyssee [1979]. In: Dies.: Gesammelte autobiographische Schriften. Frankfurt a. M. 1998. S. 32–40, hier: S. 33.

5.1  Stand der Domin-Forschung

183

Darüber, dass Hilde Domin zu denjenigen ExilautorInnen gehört, welche in der Sprache ihre verlorene Heimat wiederzufinden hofften, besteht in den interpretatorischen Zugängen zu ihrem Werk weitgehende Einigkeit. So lässt die Autorin in zahlreichen ihrer Gedichte und expositorischen Schriften, aber auch in ihrem Roman Das zweite Paradies den Topos der Sprache als Heimat aufscheinen, in der sie sich so vertraut und unerschrocken zu bewegen scheint wie es in der deutschen Nachkriegslyrik sonst eher selten der Fall ist.35

Reimann kritisiert anschließend zu Recht Forschungspositionen, die anhand des Sprach- und Rückkehrmotivs bei Domin in Richtung einer „(Re-)Essentialisierung von Heimat im Sinne eines geografisch, national oder sprachlich fixierbaren Ursprungslandes“36 argumentieren oder „unterschiedlos[]“37 von einer neuen ideellen Heimat in der Sprache sprechen, wie etwa Herweg in ihrer 2011 erschienenen Monografie mit dem Titel nur ein land / mein sprachland. Heimat erschreiben bei Elisabeth Augustin, Hilde Domin und Anna Maria Jokl38. Herweg untersucht Domins Texte, unter Betonung einer autobiografischen Prägung, im Hinblick auf Heimat- und Identitätskonzepte. Sie kommt zu dem Schluss, dass „Domins Werk keinen Zweifel an der Verwurzelung seiner Autorin in der deutschen Sprache“39 lasse. Mit der ‚Heimat Sprache‘ sei bei Domin stets die deutsche Sprache gemeint, „statt des deutschen Bodens die deutsche Sprache“40. In Form einer „Ablösung des ‚traditionellen‘ Heimatkonzeptes durch die ‚ideelle‘ Heimat Sprache“41 erobere sich Domin „zumindest innerhalb ihres Werkes eine Normalität zurück, die den meisten Exilanten verwehrt bleibt, eine Normalität, in welcher Land der Herkunft und Sprachheimat identisch sind.“42 Dieser einseitige Befund ist meines Erachtens nicht zutreffend – besonders nicht innerhalb des Werkes. Zum einen missachtet die Untersuchung, dass Domin selbst auch reflektiert hat, welche Bedeutung ‚fremde‘ Sprachen und Literaturen für ihr eigenes Schreiben hatten und dass die deutsche Sprache auch die Sprache ihrer Verfolger war. Zum anderen übersieht Herweg die auffällige Dynamik von Sprach- und Heimatkonzeptionen innerhalb des literarischen Werkes, die es im Folgenden zu zeigen gilt. Michael Braun stellt fest, die sprachliche „Identitätskrise“ sei bei Domin deut­ lich weniger zugespitzt als bei anderen Exilautor*innen, denen durch die Exilierung die sprachliche Produktionsbasis und das Lesepublikum entzogen wurde.

35Denise

Reimann: „denn man liebt immer nur ein Phantom.“ Heimatumschreibungen einer Remigrantin in Hilde Domins lyrischem Roman Das zweite Paradies. In: Chiara Conterno und Walter Busch (Hg.): Weibliche jüdische Stimmen deutscher Lyrik aus der Zeit von Verfolgung und Exil. Würzburg 2012. S. 145–163, hier: S. 161–162. 36Reimann, D.: Heimatumschreibungen (s. Anm. 35). S. 148. 37Reimann, D.: Heimatumschreibungen (s. Anm. 35). S. 148. 38Herweg, N.: „nur ein land / mein sprachland“ (s. Anm. 29). 39Herweg, N.: „nur ein land / mein sprachland“ (s. Anm. 29). S. 210. 40Herweg, N.: „nur ein land / mein sprachland“ (s. Anm. 29). S. 192. 41Herweg, N.: „nur ein land / mein sprachland“ (s. Anm. 29). S. 192. 42Herweg, N.: „nur ein land / mein sprachland“ (s. Anm. 29). S. 193–194.

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5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

Das liege erstens daran, so führt er aus, dass sich Domin „durch die Mitarbeit an den fremdsprachigen Projekten ihres Mannes, als Übersetzerin in anderen Sprachen kundig [machte]“43 und zweitens, dass sie erst so spät im Exil zu schreiben begonnen hat. Daher habe „das Exil für sie keinen Verlust der Sprache bedeutet; die Sprache war vielmehr das ‚Unverlierbare‘, das ‚letzte, unabnehmbare Zuhause‘ (GE, 14)“44. Domin sei „mit dem Leben in fremden Sprachen und der Lyrik der Moderne“ vertraut gewesen und habe daher keine „erstarrte[…] Kunstsprache“45 erzeugt wie zum Beispiel Lion Feuchtwanger, sondern in „der sprachlichen und biographischen Isolation Formen konstruktiver – auch fehlschlagender –­ Verständigung und Selbstverständigung“46 hervorgebracht. „Hans Natoneks Äußerung, die Muttersprache wachse und blühe nicht unter einem fremden Himmel, trifft auf Domins literarische Entwicklung nicht zu, sie wird geradezu von ihr widerlegt.“47 Dieter Sevin bezieht sich auf dasselbe Domin-Zitat, in welchem sie die Sprache als das „Letzte“, das „Unverlierbare“, das „unabnehmbare Zuhause“48 beschreibt, wenn er ausführt: „Bezeichnend ist die große Rolle, welche Domin der Sprache, d. h. der Muttersprache beimißt, was für sie natürlich die deutsche Sprache ist, wie sie betont“49. Anhand ihrer autobiografischen Schriften kommt Sevin ebenfalls zu dem Schluss, dass die deutsche Sprache bei Domin identitätsbewahrend fungiert habe. Er gibt dabei zu bedenken, dass es sich um einen komplexen Zusammenhang von deutscher Sprache und Identität handele. Daher dürfe die Frage nicht ausgeklammert werden, inwieweit es sich bei den aus der Nachkriegszeit stammenden Aussagen der Autorin – auch in Bezug auf die zu diskutierende Einstellung zur Bundesrepublik – um einen gewissen Willensakt handelte oder auch um einen bewußten oder unbewußten Rationalisierungsprozeß. Domins Aussagen über die deutsche Sprache im Exil sollten […] nicht einfach als gegeben gewertet werden; der Möglichkeit einer kritisch skeptischen Auslegung muß stets Rechnung getragen werden. Domin hat selber darauf verwiesen, daß es sich auch um die Sprache der Verfolger handelte, die für ihre Vertreibung und ihr Exil verantwortlich waren, was ihre positiven Aussagen also einer gewissen Mehrdeutigkeit unterwerfen.50

43Braun, M.: Exil und Engagement (s. Anm. 17). S. 30. Vgl. auch Michael Braun: „Die schwersten Wege“: Exil und Sprache im Werk von Hilde Domin (1909–2006). In: Norbert Honsza und Przemyslaw Sznurkowski (Hg.): Deutsch-jüdische Identität. Mythos und Wirklichkeit. Ein neuer Diskurs? Frankfurt a. M. 2013. S. 121–134. Darin schreibt Braun, die Arbeit mit der italienischen, englischen und spanischen „Sprache wurde zum Katalysator der dichterischen und übersetzerischen Tätigkeiten.“ (S. 127). 44Braun, M.: Exil und Engagement (s. Anm. 17). S. 30. 45Braun, M.: Exil und Engagement (s. Anm. 17). S. 31. 46Braun, M.: Exil und Engagement (s. Anm. 17). S. 31. 47Braun, M.: Exil und Engagement (s. Anm. 17). S. 31. 48Hilde Domin: Heimat [1982]. In: Dies.: Gesammelte Essays. München 1992. S. 13–16, hier: S. 14. 49Sevin, D.: Rückkehr aus dem Exil als Ursprung (s. Anm. 26). S. 355–356. 50Sevin, D.: Rückkehr aus dem Exil als Ursprung (s. Anm. 26). S. 356.

5.1  Stand der Domin-Forschung

185

Trotzdem könne man sich Sevin zufolge aber „nicht der Überzeugungskraft einer grundsätzlich positiven Wertung entziehen, die die deutsche Sprache im Exil nach eigener Aussage für sie als Mensch und Lyrikerin, für ihre Identitätserhaltung hatte.“51 Was die Rolle von Mehrsprachigkeit betrifft, macht Sevin also zwar darauf aufmerksam, „daß Domin ja durchaus das Erlernen- und Benutzenmüssen von fremden Sprachen, bedingt durch die Exilumstände, als ungemein bereichernd empfand, ja, für ihre Entwicklung als Lyrikerin sogar als essentiell ansah“52. Jedoch sei sie trotzdem, und damit beruft er sich wieder auf ein Zitat Domins, in anderen Sprachen „nur zu Gast“ gewesen, „aber eben nicht zu Hause wie in der Muttersprache.“53 Die Biografin Tauschwitz formuliert diesbezüglich: „In der deutschen Sprache war Hilde Löwenstein zu Hause. […] Jede vorübergehende ‚Sprachodyssee‘ mündete zuletzt wieder in den Hafen der deutschen Sprache.“54 Wenn Reimann in ihrem oben bereits zitierten Aufsatz ausführt, dass es bei Domin, „um die im Exil begonnenen und auch nach der Remigration nicht abschließbaren Umschreibungen von Heimat“55 gehe, so möchte die vorliegende Untersuchung an diese Beobachtung in Bezug auf die Sprachheimat anschließen. Statt Muttersprache und Heimat stets in mehr oder weniger eindeutigen Gegensatz zu Mehrsprachigkeit zu stellen – hier im „Heimathafen“ und dort nur „zu Gast“ –, soll im Folgenden gerade denjenigen Aspekten und Konstellationen in Domins Schreiben nachgegangen werden, die die vielfach betonten essenzialistisch anmutenden Vorstellungen von Muttersprache durchbrechen. Vorab seien noch diejenigen wenigen Beiträge umrissen, die der Bedeutung von anderen Sprachen neben der deutschen und den Übersetzungen in Domins Werk bereits ansatzweise nachgehen.

5.1.2 Zur Bedeutung von Mehrsprachigkeit und Übersetzung Wittbrodt erwähnt Domin in seiner Arbeit, die sich mehrsprachiger jüdischer Exilliteratur widmet, zunächst als Übersetzerin. Man finde „von Domin verstreut Übersetzungen aus dem Deutschen ins Spanische wie aus dem Spanischen, Englischen, Französischen und Italienischen.“56 Weiter heißt es, Domin habe zwar „zeitlebens an ihrer Erstsprache, Deutsch, festgehalten“, obwohl sie mehrere Sprachen sprach und einige ihrer auf Deutsch geschriebenen Gedichte selbst übersetzte. Dennoch nimmt Wittbrodt Domin in seine ­Auswahlbibliografie

51Sevin,

D.: Rückkehr aus dem Exil als Ursprung (s. Anm. 26). S. 356. D.: Rückkehr aus dem Exil als Ursprung (s. Anm. 26). S. 356. 53Sevin, D.: Rückkehr aus dem Exil als Ursprung (s. Anm. 26). S. 357. Vgl. dazu Domin, H.: Heimat (s. Anm. 48). S. 14. 54Tauschwitz, M.: Hilde Domin (s. Anm. 30). S. 72. 55Reimann, D.: Heimatumschreibungen (s. Anm. 35). S. 148. 56Wittbrodt, A.: Mehrsprachige jüdische Exilliteratur (s. Kap. 1, Anm. 28). S. 23–24. 52Sevin,

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5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

mehrsprachiger jüdischer Schriftsteller*innen auf, weil „die Mehrsprachigkeit Domins eindeutig auf ihr Exil zurückgeht und sich zumindest in marginaler Form auch literarisch manifestiert hat, nämlich in Gestalt von Selbstübersetzungen und Ausgaben von Literatur aus fremden Sprachen“57. Dass die Mehrsprachigkeit bei Domin, wenn man sie wie Wittbrodt ausschließlich im konkreten Sinne als Wahl der Schreibsprache versteht, im Vergleich zu anderen Exilautor*innen, die umfangreich in mehreren Sprachen schrieben, die Schreibsprache ‚gänzlich‘ wechselten oder mehrsprachige Texte produzierten, sich nur „marginal […] literarisch manifestiert“, ist nachvollziehbar. Einen darüber hinausführenden Ansatz hinsichtlich eines weiter gefassten Verständnisses von mehrsprachigen Einflüssen und Reflexionen von Mehrsprachigkeit bei Domin, wie es das vorliegende Projekt unternimmt, hält er aber zugleich für sinnvoll: Bei Domin und verwandten Fällen wie Erich Fried, Wolfgang Hildesheimer und Peter Weiss ließen sich die Werke der Autor*innen „auch im Hinblick auf die Frage, ob sich das Leben in und zwischen mehreren Kulturen nicht in einer anderen Art niedergeschlagen haben, etwa in Adaptionen spezifischer Schreibweisen der fremden Kultur.“58 Asako Miyazaki beschäftigt sich in ihrem Aufsatz mit dem Komplex von Sprache als Gegenstand und Medium der Erinnerung bei Domin und Rose Ausländer und bezieht dabei auch Aspekte der Mehrsprachigkeit mit ein, die im Unterschied zu Wittbrodt eher imaginativ oder metaphorisch als konkret gedacht sind.59 Mit den Fragen „Wie wird im und nach dem Exil an Sprache – und an welche Sprache – erinnert? Wie funktioniert Sprache dabei als Medium des Erinnerns?“ richtet Miyazaki ihre Analyse auf das lyrische Werk der behandelten Schriftstellerinnen. Beide Autorinnen gehen in ihrer Lyrik voller Sprachreflexionen sowohl von der Erfahrung des Exils und damit des Sprachverlustes als auch vom Potential der Mehrsprachigkeit aus und setzen dies in ihren deutschsprachigen Gedichten in eine spezifische Spannung und Imagination um.60

Die im Exil beförderte Mehrsprachigkeit sei „die grundlegende Bedingung dafür, dass nicht (nur) Wörter, sondern die Sprache selbst die Funktion eines unkontrollierbaren Archivs gewinnt und gleichzeitig auch zum Gegenstand der Erinnerung wird.“61 Anhand von ausgewählten Gedichten Domins (z. B. Linguistik und Rückzug) stellt Miyazaki die These auf, dass sich die Sehnsucht nach einer „reinen Sprache“62, welche es aber noch nie gegeben hat, erkennen lässt.

57Wittbrodt, A.:

Mehrsprachige jüdische Exilliteratur (s. Kap. 1, Anm. 28). S. 36. Mehrsprachige jüdische Exilliteratur (s. Kap. 1, Anm. 28). S. 36. 59Asako Miyazaki: Erinnerung an eine „erinnerungslose“ Sprache. Sprachimaginationen bei den Exildichterinnen Hilde Domin und Rose Ausländer. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7/1 (2001). S. 33–46. 60Miyazaki, A.: Erinnerung an eine „erinnerungslose“ Sprache (s. Anm. 59). S. 37–38. 61Miyazaki, A.: Erinnerung an eine „erinnerungslose“ Sprache (s. Anm. 59). S. 37. 62Miyazaki, A.: Erinnerung an eine „erinnerungslose“ Sprache (s. Anm. 59). S. 38. 58Wittbrodt, A.:

5.1  Stand der Domin-Forschung

187

„Die Sprachimaginationen […] markieren […] die Problematik der Erinnerung an einen historischen Kontext, in dem die Sprache als unkontrolliertes Archiv von Traumata erscheint.“63 Der Beitrag leidet m. E. darunter, dass die verwendeten Begriffe und Formulierungen, wie zum Beispiel die „reine Sprache“, „Trauma“ oder auch das „Archiv“, zu lange oder gänzlich unreflektiert benutzt werden. Erst kurz vor Schluss stellt Miyazaki den Bezug zu Walter Benjamins Idee der „reinen Sprache“ her, ohne jedoch den Aspekt der Übersetzung, die bei Benjamin im Zusammenspiel mehrerer Sprachen diesbezüglich eine entscheidende Rolle spielt, genauer zu betrachten. Auch die Begriffe Trauma und Archiv könnten noch stärker rückgebunden werden, zum einen in Bezug auf Erinnerungsdiskurse und Psychoanalyse und zum anderen vor dem Hintergrund von postkolonialen Theorien, zumal sie sich unter anderem auf Derridas Einsprachigkeit des Anderen bezieht. Außerdem enthält der Aufsatz die Fehlinformation, dass beide Dichterinnen im Exil zunächst vermieden hätten, auf Deutsch zu schreiben und es später doch taten.64 Das trifft auf Domin jedenfalls nicht zu, es sei denn man möchte den relativ späten Schreibbeginn im Exil dahin gehend deuten, dass sie davor bewusst nicht deutsch geschrieben habe, aber das erscheint mir unschlüssig. Karsch formuliert in ihrer Monografie in Bezug auf Mehrsprachigkeitseinflüsse das Forschungsdesiderat, dass es sinnvoll sei, in zukünftigen Untersuchungen intertextuellen Bezügen zu romantischen und zu romanischen Autoren genauer nachzugehen, und zu „überprüfen, ob umgekehrt auch Domins Werk Spuren in der Literatur insbesondere der spanischsprachigen Länder hinterlassen hat und nach den Konsequenzen [zu] fragen, die dieser Austausch für die nationalen und internationalen literarischen Debatten besitzt.“65 Diesem Ansatz nähert sich die spanischsprachige Arbeit von Antonio Pau Hilde Domin en la poesía española66, in welcher er zwei Spuren nachgeht: Erstens der Rolle Domins als Übersetzerin, die durch ihre Übersetzungen dazu beigetragen hat, spanische Schriftsteller in Deutschland und umgekehrt deutsche Literatur in der spanischen Sprache bekannt zu machen. Zweitens habe die Begegnung Domins mit populärer spanischer Literatur, vornehmlich Lyrik, so Pau, ihren durch Leichtigkeit gekennzeichneten Stil maßgeblich beeinflusst. Ein italienischsprachiger Beitrag von Enza Dammiano analysiert Domins Vorgehen bei ihren Ungaretti-Übersetzungen und beschreibt den Einfluss von Übersetzungen für ihr eigenes Werk.67

63Miyazaki, A.:

Erinnerung an eine „erinnerungslose“ Sprache (s. Anm. 59). S. 45. Erinnerung an eine „erinnerungslose“ Sprache (s. Anm. 59). S. 37. 65Karsch, M.: „das Dennoch jedes Buchstabens“ (s. Anm. 21). S. 341. 66Antonio Pau: Hilde Domin en la poesía española. Madrid 2010. 67Enza Dammiano: Hilde Domin: identità in esilio tra poesia e traduzione. In: Università degli Studi di Napoli l’Orientale 21/1–2 (2011). S. 373–398. Ergebnisse dieses Beitrags kommen in Abschn. 5.3 zur Sprache, das sich mit Hilde Domins kulturvermittelnder Position als Übersetzerin beschäftigt. 64Miyazaki, A.:

188

5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

Tauschwitz beobachtet bei der Durchsicht sämtlicher in Domins Nachlass befindlicher Briefe auffallende Formen von Mehrsprachigkeit, sodass sie ihrer Biografie folgende editorische Notiz voranstellt: „Emigranten, die wie Hilde Domin die Sprache so oft gewechselt haben, nehmen linguistische Besonderheiten in ihren Sprachgebrauch auf, Ausdrucksformen vermischen sich“68. Hier etwas lapidar auf alle Emigrant*innen verallgemeinert, zeigt sie im Verlaufe der Arbeit eine gewisse Spezifik von Mehrsprachigkeit in Domins Briefen auf, insbesondere in denjenigen an ihren Mann. Bereits vor dem Leben im Exil stellt Tauschwitz die „Fähigkeit, problemlos in die französische und englische Sprache zu wechseln“69, fest, welche sich im Laufe des Aufenthaltes in verschiedenen Ländern und Sprachen fortgesetzt und darüber hinaus intensiviert habe. Die Funktionen solcher Formen von Code-Switching, wie man sagen könnte, auch wenn Tauschwitz den Begriff nicht verwendet, innerhalb der Korrespondenz interpretiert sie diesbezüglich folgendermaßen: Das Französische sei in Bezug auf Emotionen, vor allem in der Liebesbeziehung, zum Einsatz gekommen, als würde sich etwas Emotionales einfacher ausdrücken lassen, wenn es nicht in der Muttersprache gesagt werde, oder aus Gründen der Geheimhaltung vor anderen Personen. Hilde Löwenstein bediente sich immer der französischen Sprache, wenn sie mit ihrer Muttersprache keine Gefühle verletzen oder ihr Innerstes Ich dem Gesagten entziehen wollte. Das Unsagbare konnte so in Distanz zur eigenen Person treten, wenn die Thematik zu kompromittierend war; sie wählte die Diplomatensprache, wenn Ungeheuerlichkeiten wiedergegeben werden mussten, zum Beispiel als sie über den Antisemitismus einer Vermieterin sprach, […] oder wenn sie über die Starrköpfigkeit Erwin Walter Palms verärgert war.70

Das Englische blieb Tauschwitz zufolge im Gegensatz zum Französischen immer eine sachliche Sprache für Domin, die eher für Offizielles als für Privates und Persönliches verwendet wurde. Auf die englische Sprache griff Hilde Palm dagegen immer dann zurück, wenn es galt, effektiv zu formulieren. Sie nutzte das Englische, weil sich damit Geschäftliches, Pragmatisches auf einen kurzen Nenner bringen ließ und die deutsche Sprache umständliche Formulierungen erforderlich gemacht hätte. Doch Englisch hatten die Palms als „Esperanto der dritten Welt“ bezeichnet und wollten es nicht im privaten Sprachgebrauch einsetzen.71

68Tauschwitz,

M: Hilde Domin (s. Anm. 30). S. 10. M: Hilde Domin (s. Anm. 30). S. 73. 70Tauschwitz, M: Hilde Domin (s. Anm. 30). S. 73. Das Beispiel der Vermieterin befindet sich bei Tauschwitz (S. 76): Noch in Heidelberg bei der Wohnungssuche schreibt Hilde Löwenstein eine Postkarte auf Französisch (damit es der Junge, der die Karte einwerfen soll, nicht lesen kann) und berichtet ihrem zukünftigen Mann von dem Vorfall, dass sie eine Wohnung nicht bekommen haben, weil sie Juden sind. 71Tauschwitz, M: Hilde Domin (s. Anm. 30). S. 73. Tauschwitz verwendet die unterschiedlichen Namen nach biografischer Reihenfolge: zunächst der Mädchenname „Löwenstein“, seit der Hochzeit mit Erwin Walter Palm der Namen „Palm“. 69Tauschwitz,

5.2  Darstellungen von Sprache und Übersetzung im Exil

189

Diese durchaus bemerkenswerten Beobachtungen Tauschwitzs zur Mehrsprachigkeit in Domins Briefen unterstützen den Forschungsbedarf das Werk der Autorin betreffend. Allerdings wurde sich in der vorliegenden Analyse bewusst dazu entschieden, persönliche Briefe der Autorin als Untersuchungsgegenstand auszuklammern und sich zugunsten einer weniger biografistischen Lesart auf die spezifischen Sprachen- und Übersetzungskonstellationen in Domins literarischen und essayistischen Texten zu konzentrieren. Wie dabei mit dem Genre von explizit als „autobiografisch“ markierten Texten umzugehen ist, bedarf vorab einer Erläuterung.

5.2  Leben als Sprachodyssee – Darstellungen von Sprache und Übersetzung im Exil in den autobiografischen Texten Hilde Domin hat keine zusammenhängende Autobiografie verfasst. Aber sie hat ihr Leben, von der Kindheit und Jugend in Deutschland über das mehr als zwei Jahrzehnte andauernde und weltumspannende Exil bis zu ihrer Rückkehr nach Deutschland in den 1950er Jahren wiederholt in mehreren, überwiegend kürzeren Texten beschrieben. Eine nicht chronologische Zusammenstellung dieser heterogenen Texte, die seit den 1960er Jahren sukzessive entstanden sind und etwa zur Hälfte zuvor unveröffentlicht waren, hat sie noch zu Lebzeiten publiziert.72 Die autobiografischen Texte überschneiden sich thematisch mehrfach und nehmen einzelne Lebensphasen und Episoden entweder ausführlicher oder knapper zusammengefasst und in leicht veränderter Weise wieder auf. Insgesamt ergänzen sie einander, sodass der Eindruck entsteht, sie fügten sich zu einer Art unvollständig bleibendem autobiografischem Mosaik aus unterschiedlichsten Teilen zusammen. Vera Viehöver sieht darin sogar den mehr oder weniger bewussten „Versuch […], das eigene Leben zu schreiben, ohne sich der traditionellen Form der Autobiografie zu bedienen.“73 Als Domin 1992 die Gesammelten autobiographischen Schriften zusammenstellte, versah sie den gesamten Band mit dem Untertitel „Fast ein Lebenslauf“, den sie bereits für den Essay Unter Akrobaten und Vögeln (1964) verwendet hatte. Das einschränkende „Fast“ macht einmal mehr deutlich, dass sich ihr durch das Exil „zerrissenes“ Leben nicht zum „Lebenslauf“ glätten und daher nicht zu einer linearen Erzählung zusammenfügen ließ. „Autobiografie“ ist daher für Domin keine fest definierte Gattung, sondern der Prozess des Schreibens selbst, ein Schreiben, das sich, auch da, wo es in Form von Lyrik auftritt, immer aus dem eigenen Leben speist, aber über das eigene Leben hinaus auf allgemeine menschliche Erfahrungen verweist.74

72Domin,

H.: Gesammelte autobiographische Schriften (s. Anm. 12). Hilde Domin (s. Anm. 26). S. 123. 74Viehöver, V.: Hilde Domin (s. Anm. 26). S. 124. 73Viehöver, V.:

190

5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

Der erste Teil des Zitats vermittelt eine interessante Sichtweise auf Domins autobiografische Texte sowie deren Arrangement als – bewusste oder unbewusste – Verweigerung einer linearen Lebenserzählung vor dem Hintergrund eines durch Flucht und Exil mehrfach erschütterten Lebens. Da die Texte über mehrere Jahre unabhängig voneinander entstanden sind und erst im Nachhinein zusammengestellt und zu einem größeren Anteil erstmals veröffentlicht wurden, darf auch ein literaturökonomischer Aspekt dieses Vorgehens vermutlich nicht ganz außer Acht gelassen werden. Weiterhin scheint Viehöver hier unter „traditioneller Autobiografie“ als Gegenfolie eine „fest definierte Gattung“ vor Augen zu haben, die es so homogen nicht gibt. Insbesondere Autobiografien und autobiografische Romane, die von Flucht und Exil erzählen, bringen nicht selten diverse formalästhetisch experimentelle Formen von Fragmentierung hervor.75 Noch entscheidender scheint es mir, an dieser Stelle den zweiten Teil des Zitats von Viehöver zu betrachten, in welchem sie das gesamte Schreiben Domins als autobiografisch auffasst und dazu auch die lyrischen Texte zählt. Wie oben bereits angesprochen, handelt es sich dabei um eine in der Domin-Forschung weit verbreitete Vorgehensweise. Man beobachtet es in der Exilliteratur häufig, dass Autor*innen Autobiografisches mehrfach verwenden bzw. wiederholt in ihren Texten auftauchen lassen, sowohl in den explizit autobiografischen als auch in autofiktionalen.76 Das trifft auch auf Domin zu. Nicht nur in den von ihr als „autobiografisch“ ausgewiesenen Texten, sondern auch in ihrer Lyrik sowie ihrer Prosa, dabei insbesondere im Roman Das zweite Paradies, tauchen Lebensepisoden und -aspekte der Autorin in unterschiedlicher Art und Weise auf. Dieser Umstand führte wahrscheinlich dazu, dass einige Literaturwissenschaftler*innen auf Spurensuche nach diesen autobiografischen Versatzstücken in Domins literarischen Texten gehen und/oder umgekehrt sogar die Texte dahin gehend lesen, um mehr über die Autorinnenbiografie zu erfahren. Martina Wagner-Egelhaaf zufolge zeichnet sich eine Autobiografie durch die „Spannung der doppelten Perspektive“ aus, „insofern als die Autorin oder der Autor […] Subjekt und Objekt der Darstellung zugleich ist“77, woraus sich unter­ schiedliche Lesarten dieser Texte ergeben. Angesichts einer solchen „zweifachen Lesbarkeit als historisches Zeugnis und als literarisches Kunstwerk“78 möchte die vorliegende Untersuchung im Gegensatz zu einigen anderen Beiträgen der Domin-Forschung deutlich zur letzteren tendieren, ohne die erste jedoch

75Vgl.

Doerte Bischoff: Verzeichnete Erschütterungen. Autobiografie und Exil. In: exilograph 24 (2016): Interexilische Korrespondenzen. S. 1–3; Erich Kleinschmidt: Schreiben und Leben. Zur Ästhetik des Autobiographischen in der deutschen Exilliteratur. In: Thomas Koebner, Wulf Köpke und Joachim Radkau (Hg.): Exilforschung 2 (1984): Erinnerungen ans Exil – kritische Lektüre der Autobiographien nach 1933 und andere Themen. S. 24–40. 76Innerhalb von Exilliteratur denke man z. B. an die in dieser Arbeit auch behandelten Autoren Georges-Arthur Goldschmidt (vgl. Abschn. 2.4) oder Werner Lansburgh (Kap. 7). 77Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. 2., akt. und erw. Aufl. Stuttgart 2005. S. 1. 78Wagner-Egelhaaf, M.: Autobiographie (s. Anm. 77). S. 1.

5.2  Darstellungen von Sprache und Übersetzung im Exil

191

k­ ategorisch ausschließen oder verneinen zu wollen. Selbstverständlich steht die Lebensgeschichte der Autorin im Hintergrund und legitimiert gewissermaßen den Anlass, ihre Texte im Rahmen einer Arbeit über Exilliteratur zu untersuchen.79 Aber es geht hier nicht darum, die autobiografischen Texte Domins hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes mit dem Leben der Autorin abzugleichen, sondern sie im Hinblick auf ihre sprachliche Gestaltung und Darstellungsweise zu untersuchen. Dies entspricht einer Betonung von Konstruiertheit und Materialität auch solcher literarischer Texte, die als autobiografisch gelten. Nach Wagner-Egelhaaf ist [dies] nicht so zu verstehen, dass die Subjektperspektive für obsolet erklärt und das autobiographische Ich im Spiel der Zeichen zum Verschwinden gebracht würde. Das wäre sicherlich sachunangemessen. Es bedeutet vielmehr, dass die autobiographischen Texte selbst in ihrem literarisch-handwerklichen Gemachtsein auf eine neue Weise ernst genommen werden, die es erlaubt, die Äußerungsformen des autobiographischen Ichs in ihrer Rhetorizität zu beschreiben und die konstitutive sprachliche Verfasstheit von Individualität und Subjektivität wahrzunehmen. Verabschiedet wird lediglich die emphatische Vorstellung eines (aus) sich selbst schöpfenden autonomen Subjekts. Autobiographie heißt demzufolge nicht be-schriebenes, sondern ge-schriebenes Leben.80

Ein gewisser Grad an Konstruktion anstelle einer etwaigen Entsprechung oder Repräsentation von Dargestelltem und Wirklichkeit bzw. Erlebtem könne nach Bischoff für autobiografische Erzählungen über Vertreibung und Exil sogar besonders „zugespitzt“ sein: Ein Verstehen der Wirklichkeit erscheint nicht mehr möglich, wo die Zusammengehörigkeit von Ich und vertrauter Welt grundsätzlich in Frage gestellt ist und kulturelle Traditionen, auf die sich das Ich schreibend beziehen könnte, offenbar nachhaltig zertrümmert sind.81

Auch Viehöver fügt ihrer Beobachtung schließlich hinzu, dass einzelne unter den als „autobiografisch“ gekennzeichneten Texten Domins „über den autobiografischen Dokumentationswert hinaus als eigenständige Prosastücke von hoher literarischer Qualität gelesen“ werden können, in denen „zugleich ein exemplarisches Exilschicksal erzählt“82 wird. In diesem Teilkapitel sollen nun neben einigen weiteren autobiografischen Texten Domins insbesondere Leben als Sprachodyssee83, Meine Wohnungen –

79Vgl.

zur besonderen Konstellation von Autorschaft und Exil(literatur)forschung auch Schöll, J.: Die Rückkehr des Autors in den Diskurs (s. Kap. 1, Anm. 29). 80Wagner-Egelhaaf, M.: Autobiographie (s. Anm. 77). S. 16–17. 81Bischoff, D.: Verzeichnete Erschütterungen (s. Anm. 75). S. 1. 82Viehöver, V.: Hilde Domin (s. Anm. 26). S. 123. 83Domin, H.: Leben als Sprachodyssee (s. Anm. 34). Im Folgenden werden Zitate aus dieser Ausgabe unter der Sigle „LS“ und Seitenangabe direkt im Text nachgewiesen.

192

5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

„Mis moradas“84 und Unter Akrobaten und Vögeln. Fast ein Lebenslauf85 im Mittelpunkt der Analyse stehen. Was dabei im Besonderen interessiert, ist die ­Verhandlung von Sprache(n) im Zusammenhang mit der Exilerfahrung – in thematischer und ästhetischer Hinsicht, also das „Was?“ und „Wie?“ der Darstellung. Welche Sprachen spielen eine Rolle? Wie reflektieren die Texte Spracherwerb und Mehrsprachigkeit im Exil? Welche Bedeutungen und Funktionen werden den mannigfaltigen Übersetzungstätigkeiten zugeschrieben? Wie wird das Verhältnis von Fremdsprachen zur Muttersprache beschrieben? Gibt es auch intratextuelle Mehrsprachigkeit oder Übersetzungen?

5.2.1 „von Sprache zu Sprache gewandert“ – Mehrsprachigkeit und Spracherwerb im Exil In Leben als Sprachodyssee unternimmt Hilde Domin den Versuch, ihren „Lebenslauf ganz von der Sprache her darzustellen.“ (LS 33). Der literarische Lebensbericht konzentriert sich primär auf die Zeit des Exils bis zur Rückkehr nach Deutschland und strukturiert sich nicht etwa nach Orten, Tätigkeiten oder Ereignissen, sondern ist motiviert und geordnet von allem, was als „[s]prachlich erwähnenswert“ (LS 37) gilt. So erscheinen die beschriebenen Exilwege über verschiedene Länder und Kontinente in dieser autobiografischen Darstellung als sprachliche Migrationen, als Bewegungen zwischen Sprachen: „In der Tat sind wir ja von Sprache zu Sprache gewandert“ (LS 33). Wenn Wagner-Egelhaaf in einem anderen Zusammenhang von einem „spielerische[n] Umgang mit Formeln der Lebensbeschreibung“86 spricht, so ließe sich dies hier ansatzweise auch in Bezug auf Sprache in der Lebenserzählung von Fluchtbewegungen und Exilstationen übertragen. Sprachen treten in Leben als Sprachodyssee an die Stelle der räumlichen Dimension, wenn in Reise-, Migrations- oder Fluchterzählungen üblicherweise eher von Orten, Ländern oder Staaten die Rede ist. In der mehr oder weniger chronologischen Reihenfolge sind Sprachen im Text dementsprechend wie Etappen oder Meilensteine der Flucht und des Exils nachgezeichnet: Zunächst von der deutschen in die italienische Sprache führt die Sprachodyssee weiter nur über eine kurze Route durch die französische in die englische Sprache. Es folgt

84Hilde Domin: Meine Wohnungen – „Mis moradas“ [1974]. In: Dies.: Gesammelte autobiographische Schriften. Frankfurt a. M. 1998. S. 71–138. Im Folgenden werden Zitate aus dieser Ausgabe unter der Sigle „MW“ und Seitenangabe direkt im Text nachgewiesen. 85Hilde

Domin: Unter Akrobaten und Vögeln. Fast ein Lebenslauf [1964]. In: Dies.: Gesammelte autobiographische Schriften. Frankfurt a. M. 1998. S. 21–31. Im Folgenden werden Zitate aus dieser Ausgabe unter der Sigle „AV“ und Seitenangabe direkt im Text nachgewiesen. 86Wagner-Egelhaaf benutzt die Formulierung im Zusammenhang von Ich-Romanen, die autobiografische Schreibsituationen aufgreifen und simulieren oder parodieren. Das kann das fiktionale Konstrukt zwar entlarven, es kann aber kein eindeutiges Unterscheidungskriterium sein. „Warum sollte eine Autobiographie nicht ebenfalls mit ihrer Formensprache spielen?“ (Wagner-Egelhaaf, M.: Autobiographie (s. Anm. 77). S. 5).

5.2  Darstellungen von Sprache und Übersetzung im Exil

193

ein langer Aufenthalt in der spanischen Sprache und schließlich die Heim- bzw. Rückkehr in die deutsche Sprache. Wenn man an die im Abschn. 3.4 eingeführte auch räumlich gedachte und verwendete Metapher von Migration und Exil als Über-Setzung denkt, zeigt Domins Text eine literarische Darstellungsweise, welche die räumlichen (Übersetzungs-)Bewegungen auf der Flucht und im Exil direkt mit der Dimension sprachlicher Grenzüberschreitungen verbindet. Von sprachlichen Etappen oder Meilensteinen kann allerdings nur bedingt die Rede sein, weil die Bewegung nicht konkret auf ein Ziel hinführt, sondern im Wesentlichen durch Vertreibung geprägt ist. Fluchtbewegungen und das Leben im Exil unterscheiden sich von einer Reise oder geplanten Migration ja dahin gehend, dass sie anstelle von Planbarkeit durch zeitliche und räumliche Ungewissheit aufgrund von existenzieller Bedrohung gekennzeichnet sind. So heißt es in einem anderen autobiografischen Text Domins, der sich auf die Unterkünfte konzentriert und in dessen Titel sich die Bedeutungsvielfalt erst durch Übersetzung entfaltet: „Meine Wohnungen“ – „mis moradas“ (genau übersetzt: meine Aufenthalte, meine Stationen), das ist fast etwas Paradigmatisches für mich. […] Die meisten Wohnungen in meinem Leben waren Fluchtwohnungen, oder verwandelten sich plötzlich, aus scheinbar ganz normalen Behausungen. Das steckt einem in den Knochen ein Leben lang. (MW 71)

Durch den zweisprachigen bzw. übersetzten Titel stehen zwei Wörter einander gegenüber, die zum Teil das gleiche bezeichnen und doch einen jeweils anderen Bedeutungshorizont eröffnen. Die konnotative Öffnung von „Wohnung“ durch das spanische „morada“ betont die unsichere Seite des Lebens und Wohnens im Exil und stellt Behausungen in ihrer alleinigen Möglichkeit als vorübergehende Bleiben heraus, die stets von der Bedingung abhängig ist: „Wohnen dürfen. Bleiben dürfen.“ (MW 71). Aber noch einmal zurück zur „Sprachodyssee“: Dass auch Sprachen keine sicheren bzw. dauerhaften Aufenthalte sein können, klingt bereits im Titel mit seiner intertextuellen Anspielung auf Homers Odyssee an.87 Das in Domins Text nachgezeichnete Leben im Exil gestaltet sich in Anlehnung zu Odysseus Wanderungen als sprachliche Irrfahrt, mit ungewissen Stationen, unbekannter Reisedauer und unsicherer Heimkehr. Es wird „die ‚permanente Flucht‘ als permanente Sprachherausforderung dargestellt.“ (LS 39). An einer Stelle ist auch von „linguistische[r] Odyssee“ (LS 40) die Rede, was sich darauf beziehen lässt, dass die Exilaufenthalte in Italien und der Dominikanischen Republik von Forschungstätigkeiten begleitet waren.88 Vermutlich spielt diese Formulierung aber eher auf die

87Der

intertextuelle Verweis spielt womöglich auch auf einen ähnlichen Zeitumfang an. Die sprachliche Odyssee bei Domin umfasst 22 Jahre bis zur Rückkehr, während Odysseus nach 20 Jahren zurück nach Ithaka kam. Der Bezug zu Homers Odyssee ist im Übrigen auch in Domins Rückkehr-Roman Das zweite Paradies sehr präsent, in dem das Deutschland der Nachkriegszeit, wohin die Protagonisten nach dem Exil zurückkehren mehrfach als „Ithaka“ bezeichnet wird. (vgl. dazu Abschn. 5.5). 88In Italien haben Domin und ihr Mann promoviert, in Santo Domingo waren beide an der Universität beschäftigt. Erwin Walter Palm war klassischer Archäologe, Domin hat jahrzehntelang seine Forschungsarbeiten in mehrere Sprachen übersetzt. Zusätzlich war sie als Lektorin für Deutsch tätig.

194

5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

übersetzende Tätigkeit an, die in diesem und weiteren autobiografischen Texten eine wichtige Rolle spielt, weil das Übersetzen ein linguistisches Verständnis von Sprachen voraussetzt (vgl. dazu die Abschn. 5.2.2, 5.2.3 und 5.3). Eine wichtige Beobachtung ist weiterhin, dass im Unterschied zu Wohnungen oder Ländern, die Sprachen in „Leben als Sprachodyssee“ nicht als sich gegenseitig ablösende Stationen gedacht sind, zu denen man nicht mehr zurückkehrt, nachdem man weiterziehen musste. Vielmehr, so gestaltet es sich im Text, vermehren und überlagern sie sich, als blieben die Sprachen der verlassenen Länder und Exilorte im Gepäck auf dem Weg zum nächsten. Die inszenierte Vermehrung und teilweise Überlagerung von Sprache über die Zeit der verschiedenen Exilstationen hinweg etabliert insofern eine Vorstellung von Mehrsprachigkeit, die nicht nur in Form einzelner abtrennbarer Sprachen funktioniert, sondern translinguale Verbindungen hervorbringt. Hier deutet sich bereits an, dass die einerseits negativ konnotierte permanente Anstrengung und Herausforderung der sprachlichen Odyssee andererseits auch Möglichkeiten erzeugt, welche durch Mehrsprachigkeit und Übersetzung erst entstehen. Inwiefern dies auch zu einem voraussetzenden Moment der literarischen Selbstinszenierung Domins als Schriftstellerin betrachtet werden kann, wird in Abschn. 5.2.3 genauer betrachtet. Was nicht nur metaphorisch, sondern konkret im Gepäck bleibt, ist Literatur aus verschiedenen Ländern und Sprachen. Wiederholt figurieren Domins autobiografische Texte Bücher als Reisebegleiter und Vorbereiter auf dem Weg zur nächsten Station der ungewissen Reise. Damit verbunden ist auch der Spracherwerbsprozess deutlich von Literatur und im Speziellen von Lyrik geprägt, wie zum Beispiel auf der Reise von Italien über Frankreich nach England: Vorbereitet hatten wir uns auf das Englische durch die Lektüre von Keats, Shelley und Swinburne. Gedichte lesend und vorlesend haben wir uns jeweils in der fremden Sprache heimisch gemacht. Gedichte lesend verbringt man die Abende, auch in Armut und Verfolgung, sehr glücklich. Meine Eltern schickten uns die englischen Bücher, sowie sie für uns das Visum bekommen hatten, was einem Wunder gleichkam. Nur Alte und Kinder wurden damals, 1939, in England aufgenommen, und wir waren ja beides nicht. (LS 35)

Die Position, Gedichte lesend könne man sich in einer „fremden Sprache heimisch“ machen, ist bemerkenswert, weil hier die Möglichkeit, in ‚fremden‘ Sprachen ein Zuhause zu finden, zumindest eröffnet wird. Diese Aussage steht im deutlichen Gegensatz zu denjenigen Forschungsbeiträgen, welche den Konnex von Sprache und Heimat bei Domin eindeutig und ausschließlich auf die deutsche Muttersprache begrenzen. Die Textstelle ist aber auch in der Art und Weise lesbar, die Literatur bzw. Lyrik an sich zu einem wichtigen übergreifenden Bezugspunkt und Zufluchtsort erhebt, ohne dabei an eine bestimmte Sprache gebunden zu sein. Das ist zumal vor dem Hintergrund einer Zeit bedeutsam, in der Kategorien wie räumliche Verortung oder staatliche Zugehörigkeit ihre Geltung verloren haben oder zumindest massiv erschüttert wurden. In Domins Text werden Bücher zu beinahe personifizierten Akteuren der Weltliteratur: Fremdsprachige Bücher reisen durch die Welt, holen die Flüchtenden ab und begleiten sie an ihr Ziel, als Sprachlernhelfer, aber auch als moralische Unterstützung für die „Abende in Armut und Verfolgung“.

5.2  Darstellungen von Sprache und Übersetzung im Exil

195

Auf der gefährlichen Schiffspassage von England über den Atlantik nach Kanada, von wo aus es weitergehen sollte, über Jamaika in die Dominikanische Republik, bereiten erneut didaktische Bücher und Gedichtbände auf die nächste Sprachstation vor, in diesem Fall das Spanische. Hilfsmittel[], um Spanisch zu lernen. Also einer englisch-spanischen Grammatik und einem „Brush up your Spanish“, „Staube dein Spanisch ab“, während unser Englisch um die Terminologie der Rettungsübungen, des täglichen „boat drill“, bereichert wurde. Auch argentinische und mexikanische Dichter hatten wir dabei auf unserer Fahrt, bei der unser Schwesterschiff versenkt wurde (mit bekannten Schicksalsgenossen. Mit vielen andern kam Rudolf Olden dabei um.) (LS 37)

Die Gegenüberstellung und Übersetzung des Brush up your Spanish, was vergleichsweise unbedarft klingt, und dem englischen „boat drill“, das die aktuelle gefährliche Situation auf dem Schiff veranschaulicht, spiegelt den Kontrast der unterschiedlichen Formen des Spracherwerbs und der Mehrsprachigkeit an Bord des Flüchtlingsschiffes wider. Textinternes Code-Switching integriert die genannten Begriffe in den Text und übersetzt den Buchtitel aus dem Englischen ins Deutsche – wenn auch etwas zu wörtlich, ließe sich „to brush up“ doch eher mit „aufpolieren“ als „abstauben“ übersetzen. Die Formulierung, „wir hatten auch argentinische und mexikanische Dichter dabei“ führt eng mit der realen Lebensbedrohung, weil sie sich doppeldeutig lesen lässt. Obwohl es sich recht offensichtlich um Metonymien für die Gedichtbände der genannten Autoren handelt, liegt eine Verbindung zu dem kurz darauf erwähnten Tod des befreundeten Journalisten und Rechtsanwalt Rudolf Olden nahe, der sich auf dem bombardierten Schwesterschiff befunden hatte und also auch neben ihnen hätte sitzen können. (Vgl. LS 37). Das Motiv der durch die Welt reisenden bzw. durch die Welt voraus- oder hinterhergeschickten Bücher taucht auch in weiteren autobiografischen Texten Domins auf. Eine Schlüsselfunktion nimmt es in einem zuerst als Zeitungsartikel erschienenen Text unter dem Titel Bücher-„Grillen“89, der den Bibliographischen Grillen90 Adornos gewidmet ist, ein. Die „‚gereisten‘ Bücher“ folgen darin den Geflüchteten, die nur mit leichtem Gepäck vorausgehen konnten, in großen vernagelten Holzkisten auf dem Ozean – nicht ganz ohne Verluste: „Bei jeder neuen

89Hilde

Domin: Bücher-„Grillen“ [1964]. In. Dies.: Gesammelte autobiographische Schriften. Frankfurt a. M. S. 139–145. 90Theodor W. Adorno: Bibliographische Grillen. In: Ders.: Noten zur Literatur 3. Frankfurt a. M. 1965. S. 30–35. „In diesem wunderbaren Konvolut von Notizen, in denen um das geistige und materielle Eigenleben von Büchern geht, beklagt sich Theodor W. Adorno über die Tendenz, zu den Werken philosophischer Autoren Lexika zu erstellen. […] Denn wie soll die Substanz derartig komplexer Theorien, derartig weit ausgeholter Überlegungen dadurch wiedergegeben werden, dass sie in eine Vielzahl einzelner Begriffe zerlegt werden, über die sich dann knappe, summarische Eintragungen finden lassen?“ (Axel Honneth: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Schlüsseltexte der Kritischen Theorie. Wiesbaden 2006. S. 11–14, hier: S. 11).

5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

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Wanderung neue Verletzte.“91 Bücher sind in Domins autobiografischen Darstellungen die einzigen Dinge, die als wertvoll beschrieben werden, sie sind das einzige kostbare Inventar in den vorübergehenden Bleiben. Sie werden vor Hitze, tropischen Zyklonen, vor Wespennestern und Schlangen beschützt. Außerdem sind sie die einzige Investition, die trotz der finanziell äußerst schwierigen Zeiten vorgenommen wird.92 Anhand der reisenden Bücher und der besonderen Rolle von Literatur für das Lernen neuer Sprachen wurde bereits deutlich, dass Sprachen den geografischen Orten teilweise auch vorauseilen oder nachklingen. Man könnte darin auch eine Vorstellung von Weltliteratur lesen, die mit dem räumlichen In-die-Welt-geworfenSein des*der Flüchtenden bzw. Exiliert-Sein in direkter, nahezu körperlicher Verbindung steht. In jedem Fall haben gewisse Sprachen somit weiterhin Raum, auch nach dem Verlassen desjenigen Landes oder Ortes, wo sie als mehrheitliche Erstsprache gesprochen werden. In Domins literarischem sprachorientierten Lebenslauf wird insofern keine eindeutige territoriale Übereinstimmung von Sprache mit den jeweiligen Orten oder Staaten inszeniert. Vielmehr stellt der Text dar, wie sich Sprachen in der Exilsituation zunehmend überlagern und zu sich immer wieder verändernden Konstellationen von Mehrsprachigkeit führen. In England waren wir dreisprachig. Italienisch war unser beider Privatsprache. Es war so gut wie ein Geheimcode. Mit den Eltern sprachen wir deutsch. Und im übrigen bemühten wir uns – auf der Straße auch untereinander, das war gefragt – um das Englische. (LS 35–36)

Der Text reflektiert neben der Erweiterung des sprachlichen Repertoires im Exil auch die Funktionen, welche Sprachen für mehrsprachige Individuen oder Sprecher*innengruppen übernehmen können. An dieser Stelle geht es um die Verwendung der einzelnen Sprachen in den jeweiligen Exilsituationen für die Ich-Erzählerin. Es wird insbesondere gezeigt, dass solche Funktionen nicht fixiert sind. Durch die Veränderung der Umgebung können sie sich immer wieder verschieben. War Italienisch in England bei den deutschsprachigen Eltern und in der englischsprachigen Umgebung noch „Geheimcode“ zwischen dem Ehepaar, so fällt diese Funktion in der spanischsprachigen Dominikanischen Republik und ohne deutschsprachige Bekannte und Familie weg. In Santo Domingo mußten wir uns entscheiden: sprachen wir nun italienisch oder deutsch miteinander. Wir entschieden uns für Deutsch, natürlich. Wir verkehrten ja sonst, außer mit den Dominikanern, in der Hauptsache mit spanischen Intellektuellen, Flüchtlingen der Spanischen Republik. (LS 38)

91Domin, 92Vgl.

H.: Bücher-„Grillen“ (s. Anm. 89). S. 139. dazu auch MW 88, 89, 115–116.

5.2  Darstellungen von Sprache und Übersetzung im Exil

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Thematisiert wird im Zusammenhang mit Funktionen von Sprachen stets auch die Wichtigkeit der emotionalen Beziehung zu Sprachen, die zu einer Rangfolge jenseits von mehr oder weniger rationaler Funktionalität führt. Beispielsweise bleibt das Englische in Domins Texten überwiegend als Sprache dargestellt, in der man sich notwendigerweise bewegen musste, aber nicht wirklich ankommen konnte. Schreckenerregend waren im Englischen die festen Floskeln, die etwas anderes bedeuteten, als was gesagt wurde. Zumindest brachte man uns dies bei. „I hope to see you again“, zum Beispiel, meinte, daß unverzeihbare Formfehler im Laufe eines Besuchs gemacht worden waren und daß man dem Betreffenden nie mehr vor Augen kommen sollte. (LS 36)

Das schlechte Verhältnis zur englischen Sprache, das Domin wiederholt beschreibt, steht im Zusammenhang mit als fehlend empfundener sprachlicher Freiheit während der Exilzeit in England. Nie und nirgends wurden wir in so ein Sprachkorsett gezwängt: nicht von den Engländern übrigens, von Schicksalsgenossen, die eine Art Regierung über die Neuankömmlinge ausübten. Der Fremde muß dort, so wurden wir belehrt, warten, ob ein Einheimischer überhaupt Lust hat, ihn wiederzuerkennen, wenn er ihn zum zweiten Mal trifft. Im positiven Fall ist herauszufinden, ob er etwas anderes als einen Satz über das Wetter zu hören willens ist. Schweigen wie ein Engländer war das beste. Überraschenderweise konnten wir bei der Abfahrt, von einem Tag zum andern fließend Englisch. (LS 36)

Dass die als so bedrückend wahrgenommenen Sprachnormen ausgerechnet von anderen Exilant*innen auferlegt wurden, spiegelt die sprachlichen Akkulturationsdebatten in Emigrationskreisen der Zeit wider, wie sie zum Beispiel auch Mascha Kaléko anhand der New Yorker Emigrant*innen mehrfach aufgenommen hat (vgl. Kap. 6). Sprachen markieren in dieser außergewöhnlichen Vita, die sich als Sprachodyssee gestaltet, auch wichtige Lebensstationen. Zum Beispiel schildert der Text die Hochzeit der Protagonistin in Italien anhand des originalsprachlichen Wortlautes des Standesbeamten im deklarativen Sprechakt und liefert die nachstehende Übersetzung ins Deutsche mit erläuterndem interkulturellem Kommentar: Wie ich ja auch in der italienischen Sprache geheiratet habe, nach italienischem Recht, in dem die Frau fast nur Pflichten und der Mann fast nur Ansprüche hat. […] [D]er Standesbeamte hatte die Trikolore um den Bauch gewickelt und schloß den Katalog meiner künftigen Pflichten mit den Worten: „Vi dichiaro marito e moglie“, und dem Nachsatz „ed i bambini si vacciano“, woraus Sie sehen, was die Sprache tut, denn im Deutschen wäre dergleichen unvorstellbar. „Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau … und die Kinder werden geimpft“, sagte er. (LS 33)

Gegenüber den Forschungsarbeiten im Exil, die viel Übersetzungsarbeit (vgl. dazu folgenden Abschn. 5.2.2) erforderten und wenig finanziellen Ertrag brachten, aber dafür als anregend dargestellt werden, taucht der Sprachunterricht, mit dem Domin den Lebensunterhalt in Italien verdienen musste, in der autobiografischen Darstellung lediglich als unterbezahlter „Frondienst“ (LS 35) auf. Doch

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die ­Einkünfte sind in der prekären Exilsituation notwendige Lebensgrundlage. „Nach der Heirat lebten wir wortwörtlich von der Sprache, nämlich vom Sprachunterricht, den ich von morgens acht bis abends acht mit kleiner Mittagspause gab: stundenweise und schlecht bezahlt“ (LS 34). In Italien gab Domin Deutschunterricht. In England arbeitete sie nach Kriegsbeginn erneut als Sprachlehrerin, diesmal „für Diplomatenkinder an einem College in Somerset. Ich unterrichtete – in Englisch – Französisch und Italienisch. Oder auch Latein. Deutsch war nicht gefragt.“ (LS 37). Später, nach Kriegsende und nach bereits einigen Jahren Aufenthalt in der Dominikanischen Republik, begann sie als Lektorin an der Universität Deutsch zu unterrichten. 1948 wurde dann ein Lehrstuhl für Deutsch geschaffen, ein Lektorat, welches ich bekam. Hauptsächlich Professoren waren meine Studenten, wenige, weil Deutschland noch nicht wieder auf der Landkarte lag. Wer Heidegger zu lesen hoffte, der begann bei mir mit Deutsch. (LS 39)

Die Schilderungen des wiederholten Sprachunterrichtes in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten kommentieren zugleich auch, wie sich die Rolle der deutschen Sprache vor dem Hintergrund des historischen Zeitgeschehens in ihrem internationalen Ansehen und der Funktion mehrfach verschoben hat. Nachdem die Exilantin als Sprachlehrerin also zunächst in Italien Deutschlernende unterrichtete, die sich auf die Hitler-Zeit vorbereiten wollten, in England nur andere Sprachen lehren konnte, weil das Deutsche nicht gefragt war, vermittelt sie die deutsche Sprache schließlich in der Dominikanischen Republik ab 1947 vorwiegend an Wissenschaftler*innen, die sich mit der Sprache, Kultur und Wissenschaft allmählich wieder (kritisch) auseinandersetzen wollen und können. Die Dominikanische Republik war das einzige amerikanische Land und eines der wenigen Länder weltweit, die zu der Zeit um 1938 noch Flüchtlinge aufnahmen, und vorerst Sicherheit für die aus Deutschland Geflüchteten boten. Der dort herrschende, äußerst grausame und rassistische Diktator Rafael Leónidas Trujillo Molina ließ ab 1938 europäische Flüchtlinge ins Land, mit dem Zweck, sein Land ‚aufzuweißen‘. Außerdem hoffte er durch Aufnahme von Flüchtlingen auf internationale Rehabilitation, nachdem er 1937 in einem Massaker bis zu 27.000 haitianische Zuckerrohrarbeiter – Haitianer lehnt er wegen ihrer dunkleren Hautfarbe ab – hatte brutal ermorden lassen.93 Von der Schwierigkeit, dass man

93Trujillo

Molina, der selbst haitianische Vorfahren hatte und seine dunklere Hautfarbe mit Bleichcreme und weißem Puder zu kaschieren suchte, soll von der „rassischen Aufhellung“ der dominikanischen Bevölkerung besessen gewesen sein. 1938 hat er auf der internationalen Konferenz in Évian als eines der einzigen Länder angeboten, bis zu 100.000 verfolgte europäische Juden (er wollte am liebsten allein stehende Männer) aufzunehmen, von denen aber nur wenige hundert das Land erreichten, weil es an Transitvisa der USA mangelte (vgl. Hans Ulrich Dillmann und Susanne Heim: Fluchtpunkt Karibik. Jüdische Emigranten in der Dominikanischen Republik. Berlin 2009; Christian Schmidt-Häuer: Diktator Rafael Trujillo. Fluch der Karibik. In: Zeit Online (26.05.2011) Unter: http://www.zeit.de/2011/22/Trujillo (12.04.2019)).

5.2  Darstellungen von Sprache und Übersetzung im Exil

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sich in Not in Obhut dieser äußerst fragwürdigen Obrigkeit begeben musste, hat Domin nur relativ wenig geschrieben.94 „Man konnte dem Diktator nicht dankbar sein, man konnte ihm nicht nicht dankbar sein, er war ein furchterregender Lebensretter“ (MW 100). In Leben als Sprachodyssee entfaltet sich das grausame-rettende Doppelgesicht in einer Anekdote zum spanischen Doppelnamen des Diktators: Sprachlich erwähnenswert ist vielleicht noch, daß der Agent der kanadischen Schiffahrtslinie, die uns der Dominikanischen Republik näher bringen sollte, […] uns mitteilte, dort regiere ein Freund von Hitler, ein übler Tyrann, Trujillo mit Namen. Etwas gemäßigt werde er vielleicht durch den zweiten Mann im Staate, Molina. Daß die spanischen Namen Doppelnamen sind und der Diktator Trujillo Molina hieß, das war uns noch nicht bekannt bei dieser finsteren Eröffnung. (LS 38)

Die Ereignisse in Domins bruchstückhafter Exil-Autobiografie werden insofern nicht nur von der/den Sprache/n, sondern auch von der kleineren Einheit, „vom Wort her“ erzählt. So charakterisieren Wörter bestimmte Passagen des Exils, zum Beispiel auf dem bereits gefährlichen Weg durch Frankreich, kurz nach Kriegsbeginn, wie in der folgenden Beschreibung geschildert: „Von der französischen Sprache hörten wir dann hauptsächlich das Wort ‚merde‘, als wir durch Paris kamen auf der Fahrt nach England. Das war während des Einmarsches in die Tschecheslowakei.“ (LS 35). Wie an dieser Stelle werden in Leben als Sprachodyssee immer wieder historische Aspekte eingeblendet, die die Erzählung von der sprachlichen und eher persönlichen Ebene in recht nüchtern-sachlicher Erzählweise vor dem Hintergrund von Weltkrieg und Verfolgung situieren. Die Macht von Sprache bzw. einzelnen Wörtern im weltweiten bürokratischen Kampf um Visa und Asyl der aus NS-Deutschland Geflüchteten beschreibt Domin aber noch eindrücklicher in folgender Passage ihrer „Sprachodyssee“: „In Lebensgefahr gerieten wir durch ein Wort bei der Ankunft in Jamaica. Das Wort stand im Paß, es hieß ‚For transhipment‘“ (LS 37). Das von einem jamaikanischen Polizeioffizier allzu wörtlich verstandene „transhipment“, was die Weiterreise in die Dominikanische Republik bezeichnete, hätte beinahe dazu geführt, dass das sich auf der Flucht befindende Paar das Schiff nicht verlassen, also keinen Fuß an Land setzen durfte. In diesem Fall hätte es mit dem ablegenden Schiff zurück nach Kanada fahren müssen, wo man ebenfalls ohne Visum nicht an Land durfte und Gefahr lief, zurück nach Deutschland geschickt zu werden. Nur eine günstige Fügung, die im Text erwähnt, aber nicht genau erläutert wird, entschärfte in letzter Sekunde diese lebensgefährliche Situation, die sich aufgrund eines sich um ein einziges Wort drehenden Übersetzungsmissverständnisses zugespitzt hatte. (Vgl. LS 38).

94Vgl.

eine Passage dazu in MW 99–100.

200

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5.2.2 „ich jonglierte Texte aus vielen Sprachen in viele Sprachen“ – Übersetzungs-Akrobatik Wie bezüglich des Sprachunterrichts im Exil bereits erkennbar geworden ist, spielen die Sprachen im Hinblick auf die alltägliche und materielle Dimension im Exil eine entscheidende Rolle: „Ich glaube, nicht übertrieben zu haben, wenn ich von mir sage, daß ich Texte gewendet habe, wie andere Kleider wenden.“ (LS 39). Übersetzungen, so beschreiben mehrere autobiografische Texte Domins, waren dabei eine Voraussetzung, um sich im Exil eine berufliche Lebensgrundlage soweit wie möglich zu erhalten bzw. immer wieder neu zu erschaffen. Die Exilantin wird aus der Not heraus zur permanenten Übersetzerin –„[wir] haben in jeder [Sprache] unser Leben verdienen müssen“ (LS 33) – und entdeckt damit auch eine Tätigkeit, die ihr späteres eigenes literarisches Schreiben maßgeblich prägt (vgl. dazu Abschn. 5.2.3 und 5.3). Hilde Domin und Erwin Walter Palm haben auf Italienisch promoviert95, was eine aufwendige Übersetzungsarbeit voraussetzte. „Die Arbeiten schrieben wir noch auf deutsch, tags schrieben wir, über Nacht wurde von einer italienischen Übersetzerin zusammen mit mir der am Tage geschriebene Text ins Italienische gebracht“ (LS 34). Das tägliche Schreiben und das nächtliche Übersetzen stehen einander gegenüber wie die zwei Seiten einer Medaille, wobei die eine vom Tageslicht angestrahlt sichtbar ist, während die Übersetzung im Dunkeln unbemerkt, fast heimlich, stattfindet. Das sichtbare Tagwerk des Schreibens steht dem unsichtbaren, kaum wahrgenommenen Nachtwerk des Übersetzens gegenüber. Die ins Bild gerufene Problematik einer Hierarchie zwischen Original und Übersetzung bzw. zwischen sichtbarem*r Autor*in und unsichtbarem*r Übersetzer*in erscheint hier noch zusätzlich durch die Verteilung der Geschlechterrollen gespiegelt, ohne dies jedoch explizit zu benennen.96 Später in Santo Domingo, wo Palm einen Forschungs- und Lehrauftrag für Archäologie an der Universität erhalten hat, geht die alltägliche Übersetzungsarbeit für Domin weiter. Ihre Arbeit als Übersetzerin, die sie mithilfe von befreundeten spanischen Exilintellektuellen durchführt, ist die Bedingung, unter

95Hilde

Domin wurde 1935 in Politikwissenschaft mit einer Arbeit über Staatstheorie der Renaissance, genauer über Pontatus als Vorläufer von Macchiavelli, an der Universität Florenz promoviert (vgl. Braun, M.: Exil und Engagement (s. Anm. 17). S. 25; Viehöver, V.: Hilde Domin (s. Anm. 26). S. 161). 96Karsch zufolge sei die Frage nach der Darstellung von Geschlechterverhältnissen noch ein weitgehend „unbestelltes Feld“ (vgl. Karsch, M.: „das Dennoch jedes Buchstabens“ (s. Anm. 21). S. 341). Die Rivalität zwischen Domin und ihrem Mann Erwin Walter Palm lässt sich vor dem Hintergrund erahnen, dass Palm sich selbst schon länger poetisch betätigte, aber im Vergleich zu ihr deutlich weniger erfolgreich blieb. Zudem war er zunächst dagegen, dass seine Frau Gedichte veröffentlichte. Dies mag unter anderem ein Grund dafür sein, dass sie den Namen Palm für ihr öffentliches Auftreten zugunsten von „Domin“ ablegte (vgl. dazu folgenden Abschn. 5.2.3). Vgl. dazu auch Domins essayistische Aufzeichnungen: Über die Schwierigkeiten, eine berufstätige Frau zu sein [1974]. In: Dies.: Gesammelte Essays. München 1992. S. 73–79.

5.2  Darstellungen von Sprache und Übersetzung im Exil

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welcher die wissenschaftliche Arbeit ihres Mannes, die von Sprache abhängig ist, im Exil erst möglich wird. „Jede Stunde mußte schriftlich vorbereitet werden, allein das Sprachliche kostete pro Stunde sprechen etwa 20 Stunden Vorbereitung“ (LS 38). Dabei, so schildert der Text weiter, ist die Übersetzungsbewegung nicht allein vom Deutschen in die jeweilige Exilsprache, sondern geht zum Teil auch indirekte Wege, die sich unter anderem durch die Nähe von romanischen Sprachen ergeben. Zu diesem Zeitpunkt war Italienisch die Basis, von der aus Spanisch betrieben wurde. Jeder Ausrutscher in die so nahe verwandte Sprache war ein Lacherfolg. Neben dem Spanischen gab es, Esperanto der dritten Welt, das Englische. Die dortigen Intellektuellen waren noch ganz französisch ausgerichtet. Die italienischen Arbeiten von Palm, die ich ins Englische gebracht hatte, wurden nun ins Spanische übersetzt, um mitteilbar zu sein. Palm begann, kontinentweit spanisch zu veröffentlichen. Brillante spanische Intelektuelle waren bereit, das mit mir durchzuarbeiten, bis es endlich kaum mehr der Arbeit bedurfte. (LS 39)

Die wissenschaftliche Spracharbeit von Schreiben und Übersetzen in „dem noch halb freiwilligen Exil in Italien“97 wird in Domins autobiografischen Texten als 24-h-Aufgabe, die keine Ruhepausen mehr zulässt, dargestellt. Aber sie führt der Übersetzerin erstmals die sprachreflektierende Perspektive des Übersetzens vor Augen, wenn das erzählende Ich zum Beispiel den Erkenntnisprozess beschreibt, „wie großartig und vertrackt und unübersetzbar die deutschen Abstrakta sind und wie sie umgedacht werden müssen ins Konkrete“ (LS 34). Es fällt auf, dass die Übersetzungen im Gegensatz zum „Frondienst“ des Sprachunterrichts, in den autobiografischen Schilderungen Domins zwar als höchst zeitaufwendig und anstrengend wiedergegeben werden, aber sie werden mehrfach auch als „außerordentlich unterhaltende“ (LS 35) Akrobatik zwischen und mit Sprachen beschrieben, die Können, Training und sprachliche Gelenkigkeit bedarf und daher nicht zuletzt auch als künstlerische Performance zu betrachten ist. Im autobiografischen Text Unter Akrobaten und Vögeln, der die Akrobatik bereits im Titel trägt heißt es: „ich jonglierte Texte aus vielen Sprachen in viele Sprachen.“ (AV 25). In Leben als Sprachodyssee ist von „Sprachübung“ (LS 34) und „linguistische[r] Akrobatik an Palms italienischen Texten“ (LS 35) die Rede. Diese wie weitere autobiografische Schriften thematisieren, wie Sprachen bei der Übersetzungsarbeit in direktem oder indirektem Austausch stehen und welche Position der*die mehrsprachige Übersetzer*in dabei einnimmt. Eine spezielle Darstellungsweise, welche sich aus der Tierwelt speist, findet man diesbezüglich in dem oben bereits zitierten Text Bücher-„Grillen“, der die Wege und Bedeutungen von Büchern im Exil verhandelt. An dieser Stelle geht es wie in Adornos Bibliographischen Grillen um Lexika, allerdings nicht um philosophische, sondern um Fremdsprachenlexika. Im Text werden Bücher im Allgemeinen als „Katzen“ personifiziert, weil sie eigensinnig seien, wie Tiere, die

97Viehöver, V.:

Hilde Domin (s. Anm. 26). S. 28.

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man zwar im Haus hat, ohne aber wirkliche Haustiere zu haben. „Sie entziehen sich nicht nur wie die Katzen, sie sind insistent wie die Katzen, hängen sich einem an, wenn man ganz anderes vorhat.“98 Einzig und allein Lexika seien unter den Büchern Haustiere im ausschließlichen Sinne, wobei Haustiere hier nicht in Differenz zu Nutztieren gedacht zu sein scheinen, sondern sich gerade durch die ernährende Nutzbarkeit definieren. Lexika seien „Ziegen- und Kuhherden mit vollen Eutern“, die sich jedoch nur von denjenigen melken ließen, die mit ihnen, also auch mit den Sprachen, vertraut seien. Lexika sind nur für den, der sie eigentlich nicht mehr braucht. Der darf sie melken, den machen sie fett. Das Schönste sind Lexika unter sich: die von Fremdsprache zu Fremdsprache. Man sieht die Wörter sich ausdehnen und zusammenziehen, und obwohl es die gleichen Wörter sind, sind es ganz andere Wörter: größere oder kleinere, die sich überschneiden, selten konzentrisch.99

Die beschriebene Arbeit und die Auseinandersetzung mit Wörterbüchern beziehen sich zwar nicht explizit auf die Tätigkeit des Übersetzens, aber meines Erachtens stehen sie damit in direkter Verbindung. Der interlinguale Vergleich von Wörtern und ihren jeweiligen Reichweiten und Konnotationen, auf der Suche nach Überschneidungen und Unterschieden ist eine wesentliche Basis bei der Übersetzung. Damit einhergehend verweist das metaphorische Bild von Wörtern, die sich im Kontakt mit fremdsprachigen Wörtern ausdehnen und zusammenziehen, auf ein wesentliches Gestaltungs- und Reflexionsprinzip in Domins Texten. Nach einem ähnlichen Prinzip wie beim bereits angesprochenen Titel Meine Wohnungen – „Mis moradas“ funktionieren ihre Texte auf der semantischen Gestaltungsebene vielfach mit solchen konnotativen Erweiterungen. Die Bemerkung, dass es sich aber keineswegs um konzentrische Kreise mit demselben Bedeutungskern handelt, sondern vielmehr um Verschiebungen, die unterschiedlich große Überschneidungen zulassen, kann man als Reflexion einer Übersetzerin betrachten. Eine solche in den Text integrierte Sprachreflexion birgt auch das Potenzial, andere Sprachen in die deutsche Schreibsprache einfließen zu lassen, ohne dass diese an der Oberfläche sofort identifizierbar sind. Meine Wohnungen – „Mis moradas“ ist neben Leben als Sprachodyssee einer derjenigen Texte Domins, in welchem auch intratextuelle Übersetzungen, zumindest ansatzweise, als Gestaltungsmittel betrachtet werden können. Dass sich bereits der Titel derart übersetzt zeigt, stützt diese Annahme. In dem im Übrigen deutlich umfangreichsten der als „autobiographisch“ publizierten Texte wird an einigen wenigen Stellen direkt übersetzt, zum Beispiel, wenn in der Originalsprache wiedergegebene italienische oder spanische Wörter und Redewendungen genannt und anschließend erklärt werden. Dazu nur ein Beispiel: Die Beschreibung

98Domin,

H.: Bücher-„Grillen“ (s. Anm. 89). S. 139. Neben Vögeln tauchen Katzen bei Domin wiederholt auf. Vgl. z. B. auch die autobiografische Erzählung: Die andalusische Katze [1961]. In: Dies.: Gesammelte autobiographische Schriften. Frankfurt a. M. 1998. S. 305–316. 99Domin, H.: Bücher-„Grillen“ (s. Anm. 89). S. 139.

5.2  Darstellungen von Sprache und Übersetzung im Exil

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der römischen Wohnung, in der sie ständig vor morgendlichen Verhaftungen bangen müssen, führt durch eine Übersetzung aus dem Italienischen, welche die Abstellkammer der wartenden, für den Notfall gepackten Koffer als „Katzenloch“ bezeichnet, die Unmenschlichkeit der „Hundezeit“ und die bedrohliche Situation vor Augen. Auch die sich verengende Fluchtmöglichkeit lässt sich darin verbildlicht erkennen. In der Wohnung gab es einen kleinen schlauchartigen Abstellraum, ein bugigattolo, ein Katzenloch, wie das auf Italienisch heißt. Dort standen im Schrank die kleinen Handkoffer, gepackt und fertig, mehrere Wochen. Oder war es eine Woche. Endlose Tage. Wir verließen vor 5 das Haus, denn vor 6 kommen sie ja, wenn sie einen abholen […]. […] Eines Abends hielt ich es nicht mehr aus. Wir entschlossen uns in einer Stunde, ließen alles im Stich und fuhren nach Sizilien, spät in der Nacht. Pünktlich am nächsten Morgen kamen sie, um uns ins Gefängnis abzuholen, wohin alle Hitlergegner und Hitleropfer versammelt wurden, während Hitlers Rombesuch. Voll solcher Episoden, eine nach der andern, waren die zwei Jahre, die wir in der Wohnung der Duse verbrachten, die dort gleichfalls eine Hundezeit gehabt haben muß. (MW 90)

Der Anteil an intratextuellen Übersetzungen oder anderen fremdsprachigen Einschüben in Form von Code-Switchings in den deutschsprachigen Texten ist bei Domin insgesamt, nicht nur in den autobiografischen, eher marginal, insbesondere wenn man sich verschiedene Grade mehrsprachiger Schreibweisen in zeitgenössischer Exilliteratur, also z. B. Kaléko oder Lansburgh, bis hin zu mehrsprachiger Gegenwartsliteratur vergleichend ansieht. Warum Aspekte und Konstellationen von Mehrsprachigkeit und Übersetzung dennoch eine zentrale Rolle in ihren Texten spielen, deutet sich bereits in der wiederholten Selbstinszenierung Domins von ihrer „Geburt“ als Schriftstellerin an und soll ausführlicher im nächsten Abschnitt betrachtet werden.

5.2.3 „Um Abstand zu bekommen“ – Mehrsprachigkeit und (Selbst-)Übersetzung als Vorbereitung für die „Geburt“ als Schriftstellerin Es steht außer Frage, dass Domins autobiografische Texte bei allen Wegen durch verschiedene Sprachen der deutschen Erstsprache eine besondere Bedeutung beimessen. Bei genauerer Betrachtung stellen die Texte aber gleichzeitig das Leben in der mehrsprachigen Exilsituation, die Übersetzung und die Rezeption internationaler, vor allem spanischsprachiger Literatur als Voraussetzung für den Beginn ihres Schreibens und das anschließende Selbstverständnis als Schriftstellerin heraus. Domin hat ihren verhältnismäßig späten Schreibbeginn im dominikanischen Exil und die damit einhergehende Namensgebung bzw. -änderung als „Geburt“ inszeniert. Ich, H.D., bin erstaunlich jung. Ich kam erst 1951 auf die Welt. Weinend, wie jeder in diese Welt kommt. Es war nicht in Deutschland, obwohl Deutsch meine Muttersprache ist. Es wurde spanisch gesprochen, und der Garten vor dem Haus stand voller Kokospalmen.

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Genauer, es waren elf Palmen. Alles männliche Palmen und also ohne Früchte. Meine Eltern waren tot, als ich auf die Welt kam. Meine Mutter war wenige Wochen zuvor gestorben. (AV 21)

Herweg erkennt in dieser Textstelle „sämtliche Aspekte“, welche maßgeblich für Domins ‚Geburt als Schriftstellerin‘ seien, wie folgt: „Schmerz, Heimatverlust, der durch den Tod der Eltern als verschüttet empfundene Zugang zu den eigenen Wurzeln und: Sprache“100, gemeint ist hier die deutsche Sprache. Wenngleich diese Aspekte auftauchen, verkennt Herweg jedoch, dass mittels der hier inszenierten Selbstgeburt jegliche gängigen Muttersprachkonzepte unterlaufen werden. Im Bild, mit deutscher Muttersprache, aber ohne Mutter, in eine spanischsprachige Umgebung geboren zu sein, erscheint die deutsche Muttersprache als etwas Vererbtes, ohne in Kontakt mit muttersprachlichen Bezugspersonen gekommen zu sein bzw. die Mutter schon vor der Geburt verloren zu haben. Während die Erstsprache normalerweise in den ersten Lebensjahren von den umgebenden Bezugspersonen gelernt wird, ist die Muttersprache hier bei der ‚Geburt‘ bereits vorhanden. Wie eine traumatische Spur verweist die Muttersprache dabei auf etwas Vorvergangenes oder Vorgeburtliches, das außerhalb des realen Erfahrungsraumes liegt. Je nach Perspektive könnte man sagen: Die Erzählerin ist mit einer fremden Muttersprache auf die Welt gekommen oder mit der Muttersprache in die Fremde geboren. Zugleich vermittelt das Bild eine wesentliche Prägung durch die spanischsprachige Umgebung in den ersten Jahren als Schriftstellerin „Hilde Domin“. Diese erschriebene Parthenogenese, also Jungfernzeugung oder Jungferngeburt, welche Domin auch einmal als „Wiedergeburt“101 bezeichnet hat, kann man mit dem Vorgang, sich selbst einen (neuen) Namen zu geben, als weibliche und künstlerische Selbstermächtigungsstrategie lesen.102 „Ihr altes Leben, das Exil und der

100Herweg,

N.: „nur ein land / mein sprachland“ (s. Anm. 29). S. 141. Domin: R. A. Bauer interviewt Hilde Domin 1972 in Heidelberg [1972]. In: Dies.: Gesammelte autobiographische Schriften. Frankfurt a. M. 1998. S. 233–242, hier: S. 244. 102Vgl. dazu Kristina Omelchenko: Tod der Mutter und Imaginationen der Heimat. Bedingungen eines weiblichen Schreibens aus dem Exil in autobiografischen Texten von Hilde Domin und Anna Seghers. In: exilograph 24 (2016): Verzeichnete Erschütterungen. Autobiografie und Exil. S. 12–13. Omelchenko umreißt darin den Aspekts des Weiblichen bei der figurierten Selbstgeburt Domins: Die Geburt „wird zu einem schöpferischen Akt, der Weiblichkeit mir Kreativität in Verbindung setzt“. „So wird die Kreativität der Autorin deutlich in Verbindung mit ihrer Weiblichkeit gebracht und die Dichtung mit Prozessen von Zeugung und Geburt verglichen“ (S. 12). Die erwähnten, männlichen Palmen ohne Früchte lassen sich auch auf Erwin Walter Palm beziehen. „Bei Domin lässt sich die Emanzipation als Erweckung ihrer eigenen schöpferischen Stimme verstehen, die mit dem Tod der Mutter und durch die danach einsetzende Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle als Frau freigesetzt wurde“ (S. 12). Im Sinne einer weiblichen und künstlerischen Selbstermächtigungsstrategie ist es auch erwähnenswert, dass Domin nicht nur in Verbindung zum Exil in der Dominikanischen Republik zu sehen ist, sondern indirekt etymologisch (lateinisch „dominus“ – der Herr) auch das Dominante, Herr-schaftliche aufruft und damit auf Männlichkeit verweist (vgl. Viehöver, V.: Hilde Domin (s. Anm. 26). S. 53). 101Hilde

5.2  Darstellungen von Sprache und Übersetzung im Exil

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Garten mit den elf fruchtlosen Palmen liegen hinter ihr, so wie sie ihren alten Namen – Palm – hinter sich gelassen hat“103, formuliert Herweg und erkennt demzufolge in der Namensgebung „Domin“ nach der Rückkehr nach Deutschland eine Art Abkehr von oder Überwindung der Exilerfahrung. Das ist in meinen Augen nicht zutreffend, denn indem der Name Domin von der Dominikanischen Republik abgeleitet ist und damit das Exil eindeutig weiter in sich trägt, schreibt sich die Exilerfahrung in die inszenierte, neu geschaffene Identität der Autorin ein. Es ist in diesem Zusammenhang auch von Interesse, dass Domin bevor sie seit Anfang der 1950er Jahre Gedichte verfasste, bereits seit den 1940ern mehrere kurze Prosatexte geschrieben hat, die das Leben in der Karibik zum Gegenstand machen. Lediglich drei davon sind unter dem Pseudonym „Denise Brühl“104 später veröffentlicht worden: Die Hexe Vitalia und das bedauernswerte Huhn105, Zwei Schätze an einem Tag kann man nicht verlieren106 sowie Und keine Kochbananen mehr107. In Domins Nachlass, der sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach befindet, lässt sich nachverfolgen, dass es darüber hinaus noch weitere dieser frühen Prosatexte gibt, die unter dem Titel Antillengeschichten konzipiert waren.108 Einige dieser kurzen Erzähltexte liegen auch auf Englisch vor, vermutlich von Domin selbst übersetzt und offensichtlich für einen geplanten englischsprachigen Erzählband gedacht. Andere sind sogar nur auf Englisch vorhanden. Ob das auf einen Verlust von Manuskripten zurückgeht oder einzelne Texte direkt auf Englisch entworfen wurden, ist nicht eindeutig nachzuweisen. In einem als „preliminary“ bezeichneten Inhaltsverzeichnis unter dem Titel Guanabana-Stories109 sind zehn Kurzgeschichten aufgeführt, von denen allerdings nicht alle enthalten

103Herweg,

N.: „nur ein land / mein sprachland“ (s. Anm. 29). S. 141. Vorname war vermutlich angelehnt an die in die USA migrierte Schriftstellerin Denise Levertov, welche aus einer jüdischen russisch-walisischen Familie stammte, deren Gedichte Domin übertragen hatte (vgl. Tauschwitz, M.: Hilde Domin (s. Anm. 30). S. 211). 105Hilde Domin [unter dem Pseudonym Denise Brühl]: Die Hexe Vitalia und das bedauernswerte Huhn. In: Die Welt (4.4.1959). Auch in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (20.2.1995). 106Hilde Domin [unter dem Pseudonym Denise Brühl]: Zwei Schätze an einem Tag kann man nicht verlieren. In: Die Welt (30.4.1960). 107Hilde Domin: Und keine Kochbananen mehr. In: 1945. Ein Jahr in Dichtung und Bericht. Hg. von Hans Rausching. Frankfurt a. M. 1965; in: Domin: Von der Natur nicht vorgesehen. Autobiographisches. Frankfurt 1993. S. 128–131; in: Dies.: Gesammelte autobiographische Schriften. Frankfurt a. M. 1998. S. 282–285. 108Vgl. Hilde Domin [unter dem Pseud. Denise Brühl]: Antillengeschichten. Deutsche Literaturarchiv Marbach: A: Domin. Prosa. Sammlungen. Listen zu Guanabana-Stories. HS.2007.0002, HS004938168. Als Inhaltsangabe befindet sich hier nach dem Entwurf eines Titelblattes „REISEN MIT VITALIA. Antillengeschichten von Denise Brühl“ folgende Liste: „1. Vitalias Huhn, 2. Ich reise mit Vitalia, 3. Der Froschfresser, 4. Das Erdbeben (etwa 10 S. fehlt, da umzuarbeiten), 5. Frühmorgens, wenn der Puter kommt, 6. Die Erscheinung, 7. Nichts gegen Gogh, 8. Und keine Kochbananen mehr“. Ein beiliegender Notizzettel vermerkt dazu: „3 von 8 Antillengeschichten. Jetzt schreibe ich andere Prosa. Möchte daher diese abschliessen“. 109Guanábana heißt übersetzt „Stachelannone“ und ist ein immergrüner Baum mit großen sauren Früchten, der typischerweise in der Karibik verbreitet ist. 104Der

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5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

sind bzw. unklar ist, ob sie überhaupt alle geschrieben wurden.110 Eventuell hat Domin bereits Ende der 1940er Jahre versucht die englischsprachigen Geschichten in den USA zu veröffentlichen. Zumindest findet man im Nachlass eine schriftliche Rückmeldung inklusive einer Qualitätsbeurteilung, die den Typoskripten beiliegt.111 Auf den Typoskripten der Guanabana-Stories ist als Name „Denise Turner“ angegeben, vermutlich ein weiteres Pseudonym, das die Schriftstellerin benutzte, bevor sie sich den Namen Domin gab. In diesem Fall fällt auf, dass der Name englisch bzw. amerikanisch anmutet, was sicherlich auch im Hinblick auf mögliche Vermarktungsstrategien im amerikanischen Literaturbetrieb zu sehen ist. Die Kombination mit dem französisch anmutenden Vornamen Denise, der bereits im Pseudonym „Denise Brühl“ auftauchte, scheint zugleich eine Mehrsprachigkeit bzw. sprachliche Mehrfachzugehörigkeit zu implizieren. Dass „turn“ als Bewegungsverb des Wendens oder Umdrehens auf die Tätigkeit des Übersetzens anspielt, wird besonders durch Domins metaphorische Beschreibung des Übersetzens als das Wenden von Texten nachvollziehbar (LS 39). Das Pseudonym Denise Turner lässt sich insofern auch Selbstinszenierung einer (Selbst-)Übersetzerin interpretieren. Die „Antillengeschichten“ bzw. „Guanaba[na]geschichten“, schrieb Domin später in einer Auflistung mit der Überschrift „Autobibliographisches zum ‚Autobiographischen‘“, gehörten zu ihrem „‚ersten Leben‘“112. Zu ihrem provisorischem Künstlernamen „Brühl“ kann man, wie Tauschwitz, die Frage aufwerfen, „ob sie in ihrem Nachnamen ihre heimatliche Verbundenheit manifestieren wollte? Brühl ist nur einen Steinwurf von Köln entfernt“113. Das ist möglich, passt aber

110„1. Sleep while the turkey is silent. 2. I travel with Vitalia. 3. Village life, Homerian style. 4. Jealousy, two versions. 5. Magic theft. 6. Goghʼs crime. 7. La ‚botijuela‘. 8. Mr. Gomez needs a cheese. 9. A social code of living and dying. 10. Guanabanas and other tropical recipes.“ (Hilde Domin: Guanabana-Stories. Deutsches Literaturarchiv Marbach: A: Domin. Prosa. Sammlung: Guanabana-Stories. HS.2007.0002, HS004938168). 111Dieses Schriftstück stammt von einem nicht zu identifizierenden Absender auf Briefpapier des „Harvard Club“ in New York und ist datiert auf den 2. November 1947. „Dear Mrs Palm: As I do not expect to be here tomorrow, Monday, I am returning your stories herewith. I like the quality of them and I think, perhaps, you have a tendency to over-write, to make too much of your points, and thus to become whimsical or fanciful instead of just sticking to the facts, which would be more entertaining. Simplify, simplify always; shorter sentences; keep yourself out of the pictures as much as possible. For these reasons, I liked ‚Farewell plantains‘ best. But it should end, not with your going home, but with the Negro there on the curb. Iʼm sorry I canʼt be more specific than this. One can never really ‚correct‘ something another has written. Just go on writing – you have the feeling for it – and youʼll see yourself what is wrong and what is right about it.“ (Brief von unbekanntem Absender an Hilde Domin, New York, 2.11.1947. Bei: Hilde Domin [unter dem Pseudonym Denise Turner]: Guanabana-Stories. Deutsches Literaturarchiv Marbach: A: Domin. Prosa. Sammlung: Guanabana-Stories. HS.2007.0002, HS004938168) Ob es sich dabei wegen des Briefpapiers um jemanden aus dem universitären Kreis handelt und/oder sogar jemanden aus der Verlagsbranche ist unklar. Domin suchte offensichtlich aber nach Rückmeldungen hinsichtlich einer potenziellen Publikation. 112DLA Marbach. A: Domin. Prosa. Sammlungen. Von der Natur nicht vorgesehen. 07.2. 113Tauschwitz, M.: Hilde Domin (s. Anm. 30). S. 211.

5.2  Darstellungen von Sprache und Übersetzung im Exil

207

nicht unbedingt zur Konzeption der Kurzgeschichten, die ausschließlich in der Karibik situiert sind. Besonders deutlich im Kontrast zu einer etwaigen namentlichen Verbindung zur ‚Heimat‘ im Namen „Brühl“ steht aber der neue Künstlername „Domin“, für den sie sich langfristig entschied und den sie auch in die ‚alte Heimat‘ Deutschland mitnahm. Er scheint eine dauerhafte Veränderung und den fortwährenden Einfluss des Exils zu betonen.114 Dass dieser Einfluss auch in sprachlicher Hinsicht wesentlich ist, lässt die mehrfach in Domins Texten dargestellte Situation bei der Entstehung der ersten Gedichte erkennen. Es wird darin wiederholt geschildert, dass direkt nach dem Schreiben auf Deutsch eine Selbstübersetzung ins Spanische stattgefunden hat. Als ich nach dem Tode meiner Mutter, über den ich hier nichts sage, an eine Grenze kam, da hatte ich plötzlich die Sprache, der ich so lang gedient hatte. Ich wußte, was ein Wort ist. Ich befreite mich durch Sprache. Hätte ich mich nicht befreit, ich lebte nicht mehr. Ich schrieb Gedichte. Ich schrieb deutsch, natürlich. Kaum waren sie entstanden, so übersetzte ich sie ins Spanische, um zu sehen, was sie als Texte aushielten. Um Abstand zu bekommen. (LS 39)

Die Aussage über die Selbstverständlichkeit bei der Wahl der Schreibsprache Deutsch („Ich schrieb deutsch, natürlich“) relativiert bzw. verändert sich, indem von der sofortigen, probeweisen Übersetzung die Rede ist. Ein anderer autobiografischer Text mit dem Titel Ich schreibe, weil ich schreibe nimmt diesen Moment des ersten literarischen Schreibens und unmittelbaren Selbstübersetzens in ähnlicher Weise auf, aber noch etwas ausführlicher. Ich hatte das Gedicht abgetippt, sofort nach dem Aufstehen. Noch am gleichen Tag übersetzte ich es ins Spanische. Nur so. Ohne andere Absicht, als um es auszuprobieren, um zu sehen, ob der Text standhielte. Wie man ein Gewebe prüft, wie es von der andern Seite ist. Es war plötzlich da, ich wollte sehen, was mit ihm los war. Mein Handwerk war ja das Übersetzen von anderer Leute Texten in (und aus) vielerlei Sprachen.115

Mittels Übersetzung durchläuft das deutschsprachige Gedicht nach seiner Entstehung eine mehrsprachige Prüfung in einer Art (sprach-)handwerklichem Sinne. Der Text ist in diesem Bild ein textiles Gewebe, das zwei Seiten hat. Das erinnert stark an eine prominente Metapher in Übersetzungsdiskursen seit dem 17. und 18. Jahrhundert, der zufolge Übersetzung als nur von der Rückseite betrachteter Teppich gezeichnet wird. Reinhard Babel, der sich mit Translationsfiktionen beschäftigt, äußert sich zu dieser Metapher in Bezug auf Cervantes

114Vgl

dazu auch Margret Karsch: Die Darstellung der jüdischen Remigration in Hilde Domins Roman „Das zweite Paradies“. In: Irmela von der Lühe, Axel Schildt und Stefanie Springorum (Hg.): „Auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause.“ Jüdische Remigration nach 1945. Göttingen 2008. S. 422–442, hier: S. 426. 115Hilde Domin: Ich schreibe, weil ich schreibe. (Warum einer tut, was er tut) [1971]. In: Dies.: Gesammelte autobiographische Schriften. Frankfurt a. M. 1998. S. 176–183, hier: S. 176–177.

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5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

Don Quijote. Er schreibt, dass die Metapher an das typische Vorurteil anschließe, Übersetzungen seien gegenüber dem Original als minderwertig anzusehen, weil die Übersetzung der Rückseite des Teppichs entspräche und somit nur einen beschränkten Blick auf die Beschaffenheit des Originals zulasse. Doch nimmt man den Vergleich ernst, dann kann man immerhin feststellen, dass Original und Übersetzung aus demselben Stoff gemacht und infolgedessen so unterschiedlich gar nicht sein können. Beide sind nämlich untrennbar miteinander verwoben. Dies ist umso vielsagender, als mit dem Bild des literarischen Textes und seiner Übersetzung als Teppich die weit verbreitete Metapher des Textgewebes oder des textilen Textes ‚verknüpft‘ ist. Wenn Literatur seit jeher als das Spinnen von Geschichten, das Zusammenführen von Fäden bezeichnet wird, dann zielen diese Tropen auf das Stoffliche des Erzählten ab, nämlich auf die Sprache als dessen Material. Wenn nun der Stoff allerdings, wie es das Bild des Wandteppichs nahelegt, mehrsprachig ist, also verschiedensprachige Fäden zusammenführt, dann kann man schließen, dass das Übersetzen ebenso teilhat an der literarischen Produktion wie das schöpferische Schreiben.116

Bei Domin gibt es den Unterschied, dass sie mit der Gewebe-Metapher nicht auf erzählende Texte, sondern Lyrik referiert.117 Dennoch denke ich, dass auch bei ihr die Übersetzungsmetapher weniger pejorativ zu verstehen ist, sondern vielmehr als sprachkritische Arbeit über Sprachgrenzen hinaus, bei der man sich der Erstbzw. Muttersprache von einer anderen Sprache herangehend nähert. Dies erinnert im Übrigen auch an die oben bereits genannte Textstelle „Ich glaube, nicht übertrieben zu haben, wenn ich von mir sage, daß ich Texte gewendet habe, wie andere Kleider wenden.“ (LS 39). Zum einen kann man sich angesichts dieser Passagen und anhand der Überlegungen von Babel die Frage stellen, ob derartige Selbstübersetzungsvorgänge bei Domin nicht auch als Bestandteil des Schreibprozesses selbst zu betrachten sind, obwohl sie nur wenige selbstübersetzte Gedichte in der spanischen Literaturzeitschrift Caracola veröffentlicht hat.118 Hinzuzählen ließen sich dann auch die bereits erwähnten unveröffentlichten Selbstübersetzungen ihrer Prosatexte ins

116Reinhard Babel: Translationsfiktionen: Zur Hermeneutik, Poetik und Ethik des Übersetzens. Bielefeld 2015. S. 34–35. 117Vgl. zur Gewebe-Metapher: Gerhard Kaiser: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1996. S. 382. Siehe auch Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln u. a. 2002. S. 1–9. 118Darunter: „Herbstzeitlosen“ (in: Caracola 45, 1956), „Gleichgewicht“ (in: Caracola 53, 1957), „Apfelbaum und Olive“ (Caracola 56, 1957), „Bau mir ein Haus“ (in: Caracola 68, 1958), „Abschied von Andalusien“ (in: Caracola 76, 1959) (vgl. Werkverzeichnis in: Vokabular der Erinnerungen. S. 228). Bemerkenswert ist, dass diese Veröffentlichungen Domins zu den frühesten überhaupt gehören. Herweg hat anhand der Korrespondenz nachvollzogen, dass die Veröffentlichungen in Caracola unter anderem auf die Vermittlung des spanischen Lyrikers Vicente Aleixandre zurückzuführen sind (vgl. Herweg, N.: „nur ein land / mein sprachland“ (s. Anm. 29). S. 76).

5.2  Darstellungen von Sprache und Übersetzung im Exil

209

Englische.119 Zwar kann bei Domin längst nicht in einem so umfänglichen Sinne die Rede von mehrsprachigem Schreiben als Reflexionsprozess sein wie bei Vilém Flusser (vgl. Abschn. 3.3.1). Doch in Ansätzen ist auch hier die Idee enthalten, dass durch Übersetzung „Abstand“ gewonnen werden kann, um das Geschriebene aus der Distanz einer anderen Sprache zu betrachten und damit von einer anderen Seite zu beleuchten. Durch die übersetzende Auseinandersetzung mit den eigenen Texten, im Fall von Gedichten bezieht sich das bei Domin vermutlich überwiegend auf Bedeutungsverschiebungen auf Wortebene und in sprachbildlicher Hinsicht, erscheint der eigene Text in einer neuen Perspektive. Es ist nicht ausgeschlossen, obwohl es weder erwähnt wird noch bislang andere Belege dafür vorhanden sind, dass durch oder nach der Übersetzung ins Spanische auch an den zuerst da gewesenen deutschsprachigen Versionen der Gedichte Änderungen vorgenommen wurden. Zum anderen ist hier erkennbar, dass die vorangegangene jahrzehntelange Übersetzungsarbeit und das Leben in mehreren Sprachen als Basis für das eigene literarische Schreiben aufgefasst werden muss. Mehrsprachigkeit wird somit rückblickend zur unbewussten Vorbereitung, um die Schriftstellerin Hilde Domin zu sein: „als ich Hilde Domin wurde und all diese Wanderjahre von Land zu Land, von Sprachgebiet zu Sprachgebiet, sich plötzlich als Vorbereitung, als Lehrjahre dafür erwiesen“ (AV 25). Man kann dies wie Reimann in einem eher praktischen Sinne verstehen, wenn sie schreibt: „Erst im Exil hat Domin die handwerklichen Fähigkeiten für eine hauptberufliche Tätigkeit als Lyrikerin ausbilden können und müssen.“120 Davon abgesehen, denke ich, dass sich die von Mehrsprachigkeit und Übersetzung geprägte Exilzeit in einer viel umfassenderen Weise in Domins Werk eingeschrieben hat. Die auf der Oberfläche zwar überwiegend deutschsprachigen Texte sind meines Erachtens auch im Bewusstsein, in der Auseinandersetzung und in der Gegenwart anderer Sprachen und Literaturen zu sehen, weil sie sich durch permanente und zum Teil motivartige Sprachvergleiche, Übersetzungsbeispiele und Bezüge zu ‚anderen‘ Literaturen auszeichnen. Aus diesem Grund lassen sie sich auch nicht eindeutig bzw. nicht nur in der nationalliterarischen Kategorie ‚deutscher‘ Literatur verorten. Bei Domin lässt sich eine Vorstellung von Literatur erahnen, die an Qualitäten und Eigenschaften gemessen wird, welche jenseits der Verfasstheit in unterschiedlichen Nationalsprachen liegen, wie unter anderem auch die Übersetzung eigener Gedichte ins Spanische zeigt. Die Kenntnis und Fähigkeit verschiedene Sprachen zu sprechen bleibt dabei Bedingung, um solche Zusammenhänge erschließen und

119Weiterhin

sind Selbstübersetzungen Domins von ihrer Prosa ins Englische erhalten. (Hilde Domin: Übersetzungen ihrer Prosa ins Englische. „The Island and the One-eared Tomcat“ (3 Seiten) und „My Father – The Way I Remember Him“ (9 Seiten). Bei: Briefe von Hilde Domin an R. Piper und Co. (München), 1969–1978. Deutsches Literaturarchiv Marbach: A: Piper, Reinhard Verlag. HS.1998.0005, HS001543298). 120Reimann, D.: Heimatumschreibungen (s. Anm. 35). S. 160.

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5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

kreativ nutzen zu können. In Domins Rede bei der Entgegennahme des Rilke-­ Preises 1976 werden das „Sprach-Wechselbad“ und die spanischsprachige Poesie im Besonderen sogar als Schreibanlass hervorgehoben. Es ist merkwürdig, daß die italienische Literatur zu keiner Zeit, in den sieben Jahren unseres Italienaufenthaltes, interferiert hat mit der Liebe zur deutschen, und auch die englische nicht, als wir 1939 weiterwanderten. Das wurde erst anders mit der spanischen. Daß ich kein Rilkeaner geworden bin und überhaupt kein „-eaner“, das verdanke ich – wie ich eben jetzt entdecke – diesem Sprach-Wechselbad und der Tatsache, daß die zeitgenössische spanische Poesie, also der spanischen Republik, einen so mächtigen Einfluß auf mich ausübte, als ich 1951, relativ spät im Leben, in Santo Domingo, gleichsam über Nacht zu schreiben begann.121

Kein „-eaner“ geworden zu sein heißt, sich weder einer literarischen noch einer sprachlichen Tradition eindeutig verschrieben zu haben und im „SprachWechselbad“ beweglich und offen für andere Kulturen, Sprachen, literarische Strömungen oder Stile geblieben zu sein. Die Selbstinszenierung qua Geburt als Hilde Domin beinhaltet demzufolge auch keine eindeutige Verortung. Einmal, in ihrem offenen Brief an Nelly Sachs, bezeichnet sie sich als „deutscher Dichter“ und gibt zugleich an, dass es sich dabei aber um eine paradoxe Situation handelt, zumal für Exilschriftsteller*innen: Es ist auch kein falscher Nationalismus dabei, wenn ich „deutsch“ sage. Wie klänge er gerade auch in unserem Munde. Die deutschen Dichter sind keine „Fußballmannschaft“, die mit andern in Wettbewerb träte zu Ehren einer Nationalflagge. Es handelt sich ganz einfach um Gegebenheiten. Die Sprache ist das Gedächtnis der Menschheit. Je mehr Sprachen man lernt, um so mehr nimmt man teil an der Erinnerung der Menschen, die aus allen Sprachen besteht. Die Dichter, vor anderen, halten diese Erinnerung lebendig und bunt. Ich meine: Sie erhalten sie virulent, indem sie sie immer wieder spitz und verwundend machen, die sich dauernd abschleift. Das kann jeder nur mit seiner Sprache tun. Die unsre ist eben deutsch. Daß der Ausgestoßene überdies ein besonders waches Verhältnis zum Wort hat, gerade wegen seiner Intimität mit fremden Sprachen, daß er ganz von selbst zum „Botschafter“ wird, in die fremden Sprachen die eigene hineintragend, und umgekehrt der Muttersprache „Welt“ anverwandelnd, ist nur ein weiteres der Paradoxe, die sein Leben ausmachen.122

Nur in der ‚eigenen‘ Sprache, der Muttersprache, schreiben zu können, aber zugleich ein intimes und bereicherndes Verhältnis zu anderen Sprachen zu haben, ist eine nationalliterarische und -sprachliche Positionierung, die „vielleicht mit der besonderen Erfahrung von Grenzbewohnern vergleichbar“123 ist. Jedoch darf die

121Hilde Domin: Ins Exil mit Goethe, Heine, Rilke, Joyce (1972). In: Dies.: Gesammelte autobiographische Schriften. Frankfurt a. M. 1998. S. 227–232, hier: S. 229. Es handelt sich um die Dankesrede bei der Entgegennahme des Rainer-Maria-Rilke-Preises für Lyrik 1976. 122Hilde Domin: Offener Brief an Nelly Sachs. Zur Frage der Exildichtung [1966]. In: Dies.: Gesammelte autobiographische Schriften. Frankfurt a. M. 1998. S. 167–175, hier: S. 174. 123Domin, H.: Offener Brief an Nelly Sachs (s. Anm. 122). S. 171.

5.2  Darstellungen von Sprache und Übersetzung im Exil

211

Grenze in dieser Metapher weniger als ausschließend im Sinne eines verlorenen ‚Dazwischen‘ gedacht werden. Vielmehr ist sie meines Erachtens bei Domin eher als Bereicherung nach der in mehrerer Hinsicht schmerzvollen und verlustreichen Exilerfahrung zu erkennen. Da wird einer verstoßen und verfolgt, ausgeschlossen von einer Gemeinschaft, und in der Verzweiflung ergreift er das Wort und erneuert es, macht das Wort lebendig, das Wort, das zugleich das Seine ist und das der Verfolger. Der vor dem Rassenhaß Flüchtende ist nur der Unglücklichste unter den Exildichtern überhaupt. Und während er noch flieht und verfolgt wird, rüstet sich sein Wort schon für den Rückweg, um einzuziehen in das Lebenszentrum der Verfolger, ihre Sprache. Und so erwirbt er ein unverlierbares Bürgerrecht, als wenn er friedlich hätte zu Hause bleiben dürfen und vielleicht sein Wort nicht diese Kraft einer äußeren Erfahrung hätte, die es so stark macht (oder auch gar nicht erst entstanden wäre).124

In ähnlicher Weise findet man in Unter Akrobaten und Vögeln den Selbstentwurf Domins, unter den deutschsprachigen Autoren125 eine besondere Position einzunehmen, nicht zuletzt, da sie auch „gebürtige[r] Schüler der Spanier“126 sei: Wenn ich also einer unserer jüngeren Autoren bin, ich, die ich mir bereits die Haare auffärben lasse – etwas heller als früher –, so verletze ich auch darin alle Regeln, daß ich mit dem „Divan“ und Heine über dem Bett aufgewachsen, von Mannheim, Weber und Jaspers trainiert, mich als gebürtigen Schüler der Spanier betrachten muß, unter denen ich, mehr noch als unter den Italienern, den größeren Teil meines bewußten Lebens zugebracht habe. Was Krolow bei Alberti, was Enzensberger bei Neruda findet, das fließt in meinen Adern, ist von Geburt mein Teil. (AV 30)

Pau schreibt zu der zitierten Textstelle, Domin habe sich als spanische Poetin begriffen, die auf Deutsch schreibt. Ihre literarische Herkunft sei im dichten Stammbaum der spanischen Genealogie zu sehen und durch die Begegnung mit populärer spanischer Literatur geprägt. Hilde Domin se consideró una poeta española que escríbia aléman. Su estirpe literaria es española. […] En la frondosa genealogía española, Hilde Domin se encontraba con la poesía popular: con el romancero, con Lope, con el Machado que reviste de coplas la „honda palpitación del espírizu“, con el Juan Ramón de la „poesía desnuda“, con ­García

124Domin,

H.: Offener Brief an Nelly Sachs (s. Anm. 122). S. 173. spricht von sich selbst stets als „Autor“, nicht „Autorin“. 126Es ist im Übrigen auffällig, dass bei Domin die Kolonisierung Mittel- und Südamerikas insgesamt und in Bezug auf die Sprachthematik im Besonderen nicht reflektiert wird. Wenn es um die spanische Sprache geht, scheint sie insbesondere auf das Spanisch in Spanien zu referieren, das keinesfalls einfach gleichzusetzen ist mit dem Spanisch der kolonisierten Länder wie der Dominikanischen Republik. Einer der Gründe dafür scheint der Kontakt mit aus Spanien geflohenen Exilintellektuellen in der Dominikanischen Republik zu sein, den Domin erwähnt. Ein anderer Grund ist vermutlich die Rezeption ‚spanischer‘ Literatur, deren Einfluss sie für das Erlernen der spanischen Sprache betont. 125Domin

212

5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

Lorca y Rafael Alberti. Este injerto meridional en el arból sombrío de la poesía alemana dio frutos hasta entonces desconocidos: unos poemas sin peso y con pulpa de sabor intenso.127

Wenn Pau hier also von einer „südlichen Pfropfung auf dem düsteren Baum der deutschen Poesie“ spricht, die mit Domin „bis dahin unbekannte Früchte“ gebracht habe, in Form von „Gedichte[n] ohne Schwere und mit geschmacksintensivem Fruchtfleisch“ greift er eine, sicherlich zum Teil auch sprachlich bedingte Metaphorik auf, die übersetzt etwas pathetisch klingt. Das geschieht insbesondere dadurch, dass Pau im Bild der Baummetapher gerade diejenigen Diskurse aufgreift, mittels derer die essenzialistische Verbindung von Sprache und Nation etabliert wurde (vgl. Abschn. 3.1.2 und 4.1). Man kann der Argumentation dieser Metaphorik bei Pau dennoch zum Teil folgen, weil sie die Verwurzelung Domins in der deutschen Sprache und Literatur im Bild der Pfropfung mit spanischen Einflüssen verbindet. Auf der anderen Seite möchte ich jedoch darauf hinweisen, dass Domin selbst in ihren Texten und Gedichten umfangreich mit Natur- und Pflanzenmetaphorik128 arbeitet, diese aber häufig stark verfremdet und damit biologische Naturbilder von Verwurzelung und Genealogie deutlich durchbricht (vgl. dazu insbesondere Abschn. 5.4). Außerdem wird anhand der Erwähnung von Goethes West-östlichem Divan und Heine zusätzlich gerade diejenige ‚deutsche‘ Literatur betont, welche geradezu paradigmatisch bereits selbst für die Überschreitung nationaler und kultureller Grenzen steht. Heine war für viele Exilant*innen, die seit 1933 aus NS-Deutschland geflohen sind, eine symbolische Bezugsfigur, wie Berendsohn es formuliert: „Heinrich Heine, der Jude, der Deutsche, der Europäer und Weltbürger“129. So auch für Domin, die ein fingiertes Interview mit Heine geschrieben hat.130 In diesem nahezu lebendig anmutenden Dialog mit Heine hat Domin direkt zitierte Passagen aus Heines Prosaschriften so montiert, dass ein Gespräch entsteht. Darin befragt sie Heine unter anderem zu seinem Verhältnis zu Deutschland sowie zur deutschen Sprache. Sie stimmt ihm zu, wenn er sagt, „Deutschland, das sind wir selber“, und wenn er die Zugehörigkeit, das Zuhausesein in der deutschen Sprache betont, wenngleich er 127Pau, A.: Hilde Domin en la poesía española (s. Anm. 66). S. 9–10. („Hilde Domin betrachtete sich als eine spanische Dichterin, die deutsch schreibt. Ihre literarische Herkunft ist spanisch. Im dicht belaubten Stammbaum der spanischen Genealogie begegnete Hilde Domin der populären Poesie: dem ‚romancero‘, Lope, dem Machado […]. Diese südliche Pfropfung auf dem düsteren Baum der deutschen Poesie hat bis dahin unbekannte Früchte gebracht: Gedichte ohne Schwere und mit geschmacksintensivem Fruchtfleisch.“ [Übersetzung: A.B.]). 128Das Thema Wurzel- und Pflanzenmetaphorik erhält aktuell Aufmerksamkeit in der Exilforschung. Vgl. Doerte Bischoff: „Sprachwurzellos“ – Reflections on Exile and Rootedness. In: Sabine Sander (Hg.): On the intersection between philosophy of language and political theory. German-jewish thought between 18th and 20th century. Berlin 2015. S. 195–213; exilograph 25 (2016): Gespräche über Bäume. Wurzel- und Pflanzenmetaphern in der Exilliteratur. 129Berendsohn, W. A.: Heine im germanischen Norden (s. Kap. 2, Anm. 74). S. 18. Vgl. dazu Abschn. 2.1.3 über Berendsohn und Heine. 130Hilde Domin: Hilde Domin interviewt Heine 1972 in Heidelberg [1972]. In: Dies.: Gesammelte autobiographische Schriften. Frankfurt a. M. 1998. S. 233–242.

5.3  Hilde Domin als Literaturübersetzerin und Kulturvermittlerin

213

auch auf Französisch geschrieben hat.131 Bei Goethe, der nahezu emblematisch für ‚deutsche‘ Literatur und Kultur steht, betont Domin mit dem West-östlichen Divan sein Interesse für andere Kulturen und Literaturen (vgl. dazu auch Abschn. 3.1.2.3 zu Übersetzung und Weltliteratur bei Goethe). Festhalten lässt sich, dass in Domins autobiografischen Texten mehrfache Zugehörigkeiten in Sprachen und Literaturen generiert und nebeneinander stehen gelassen werden, ohne etwaige dadurch entstehende (Schein-)Widersprüche aufzulösen. Darin kann man eine literarische Selbstinszenierung erkennen, die das „unverlierbares Zuhause“ in der deutschen Sprache nicht als Gegensatz zu ihrem Einfluss durch verschiedene andere Sprachen und internationale Literaturtraditionen positioniert. Die Selbstbenennung, die den Ort des Exils in den Künstlernamen aufnimmt, zusammen mit der Inszenierung der dortigen Geburt als Schriftstellerin stützt diese These maßgeblich und ist im Übrigen auch ein entscheidender Anhaltspunkt dafür, warum man weder die autobiografischen noch die lyrischen Texte Domins als ungefilterte Lebenszeugnisse interpretieren sollte. Oft empfinde ich meine Gedichte daher als stärker als mich, die ich – wie keine Pflanze und kein Tier in einer botanischen oder zoologischen Versuchsstation – gekreuzt und wieder gekreuzt bin. Außerhalb jeder Regel. Von der Natur nicht vorgesehen. Vielleicht durfte es mich nicht geben. Vielleicht gibt es mich nicht. Aber daß es meine Gedichte gibt, scheint außer Zweifel. (AV 31)

5.3 Hilde Domin als Literaturübersetzerin und Kulturvermittlerin Die in den autobiografischen Texten überwiegend beschriebenen Übersetzungen im Exil sind zum einen wissenschaftlich-beruflicher Art. Domin hat sie gewis­ sermaßen aus der alltäglichen Notwendigkeit heraus ausgeführt. Sie waren voraussetzend dafür, die Promotion zu absolvieren sowie die weiterhin von Sprache abhängende berufliche Existenz ihres Mannes als Wissenschaftler zu erhalten bzw. im Exil neu zu errichten. Hinzu kamen im Exil zum anderen, wie in den autobiografischen Texten ebenfalls ansatzweise thematisiert, einige wenige publizierte Selbstübersetzungen. Darüber hinaus hat Domin eine Reihe literarischer Texte anderer Autor*innen übersetzt; vorwiegend aus dem Spanischen und Italienischen ins Deutsche, vereinzelt auch aus dem Französischen oder Englischen, oder andersherum aus dem Deutschen ins Spanische. Zum Teil hat sie mit den Übersetzungen noch im Exil begonnen. Ein Großteil der Übersetzungsarbeit sowie sämtliche Publikationen übersetzter Gedichte fanden aber in der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre statt. Diese Facette ihrer Übersetzungstätigkeit und die damit einhergehende kulturvermittelnde Rolle hat bislang in der Forschung kaum Beachtung bekommen.

131Vgl. dazu auch Benteler, A.: „Verzeihen Sie. Man vertut sich so leicht in den Jahrhunderten“ (s. Kap. 2, Anm. 88). S. 7–8.

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5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

Domins Übertragungen aus dem Italienischen betreffen vorwiegend Gedichte von Giuseppe Ungaretti (1888–1970). Es sind 1964 elf der übersetzten Gedichte in den Neuen Deutschen Heften132 und 1965 neun weitere in den Lyrischen Heften133 erschienen. In den Gesammelten Gedichten Domins wurden diese erneut publiziert und um einige weitere Gedichte Ungarettis erweitert.134 Die italienische Literatur- und Übersetzungswissenschaftlerin Enza Dammiano, die sich Domins Ungaretti-Übersetzungen135 genauer angesehen hat, entdeckt verschiedene thematische und figurative Überschneidungen mit Domins Lyrik und fasst diese wie folgt zusammen: „il fluire del tempo, il suo attraversamento da ‚profughi‘, la ricerca constante di un ‚tu‘, la concentrazione sulla parola, la densità dell`immagine, la simbologia della rosa.“136 In gleicher Weise, in der Domin die Alterität von Wörtern und ihren Bedeutungen bei Ungaretti durchdringt und verborgene, mögliche Lesarten hervorbringt, gehe sie auch in ihrer eigenen Dichtung vor. Die Übersetzungen erzeugten einen wechselseitigen Austausch, der sich auch in Domins Schreiben erkennen lasse.137 Bereits ein erster Blick auf Domins Ungaretti-Übertragungen lässt Dammianos Thesen nachvollziehen, wenn es etwa in Letzte Chöre für das Verheißene Land heißt: Angeleimt ans Heute die Tage der Vergangenheit wie die kommenden. […] Bestimmt von unserm Geschick ist meine Reiseroute. In einem Atemholen Grabe ich aus und erfind ich alle Zeit die war und die sein wird. Heimatlos wie die andern die lebten, die leben, die leben werden.138 Wir fliehen zu einem Ziel: ist da einer, der es kennt?

132Giuseppe Ungaretti: Letzte Chöre für das verheißene Land (11 Gedichte aus „Das Tagebuch des alten Mannes“). In: Neue Deutsche Hefte 10/98 (1964). S. 22–26. 133Giuseppe Ungaretti: Letzte Chöre für das verheißene Land (8 Gedichte), Soldaten. Übertr. von Hilde Domin. In: Lyrische Hefte 23 (1965). S. 11–14. 134Domin, H.: Gesammelte Gedichte (s. Anm. 12). S. 371–83. 135Ungarettis Gedichte haben im Übrigen auch Paul Celan und Ingeborg Bachmann ins Deutsche übertragen (vgl. Dammiano, E.: Identità in esilio tra poesia e traduzione (s. Anm. 67). S. 387). 136Dammiano, E.: Identità in esilio tra poesia e traduzione (s. Anm. 67). S. 387. („das Fließen des Tempos, der Übergang des ‚Flüchtlings‘, die konstante Suche eines ‚Du‘, die Konzentration auf das Wort, die Dichte der Imagination, die Symbolik der Rose.“ [Übersetzung: A.B.]). 137Vgl. Dammiano, E.: Identità in esilio tra poesia e traduzione (s. Anm. 67). S. 396–397. 138Domin, H.: Gesammelte Gedichte (s. Anm. 12). S. 371.

5.3  Hilde Domin als Literaturübersetzerin und Kulturvermittlerin

215

Nicht von Ithaka träumen wir verloren auf hoher See. Unser Blick geht zum Sinai hin über Wüsten zählend die glanzlosen Tage.139

Zunächst fallen die sich überlagernden Zeitebenen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf. Hinzu kommt eine von Heimatlosigkeit geprägte, suchende Bewegung des lyrischen „Wir“ zu einem noch unbekannten Ziel und die Auseinandersetzung mit der alten Heimat unter dem Schlagwort „Ithaka“. Alle diese Aspekte sind auch für Domins Gedichte und ihren Roman Das zweite Paradies (vgl. dazu Abschn. 5.5) prägend, wenn auch in einer etwas anderen Weise. Bei Domin wird „Ithaka“ eher zum Bezugspunkt einer Rückkehr, während Ungarettis Gedicht eine Abkehr von Ithaka und eine Hinwendung zum „verheißenen Land“ verhandelt. Dennoch könnte man anhand dieses biblischen Bezugs zum „verheißenen Land“, hier durch den erwähnten Berg „Sinai“ zu erahnen, eine Parallele zu Domin erkennen, wenn sie ihren Roman Das zweite Paradies in deutlicher Bezugnahme auf die biblische Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies motiviert. Darüber hinaus ließe sich bei Ungaretti das Motiv des Atems weiterverfolgen, das ebenfalls bei Domin wiederholt auftaucht, weil es gerade in den von ihr übersetzten Ungaretti-Gedichten sehr präsent ist. Weiterhin findet sich die Taube in Ungarettis Gedicht Wortloses Lied140 wieder. Auch von Pierre Emmanuel hat Domin bereits 1942 ein Gedicht übersetzt, das die Taube sogar im Titel trägt.141 Wenn man sich mit Domins Gedichten auseinandersetzt, erkennt man schnell eine Dominanz von Vögeln. Im Speziellen taucht darunter die prominente „Taube aus wurmstichigen Holz“142 auf, die sich mit ihrem gebrochenen Flügel fortbewegt und als Symbol für die Stärke trotz Zerbrechlichkeit der Existenz auf der Flucht und im Exil lesen lässt. Auch in Emmanuels Gedicht, das wie viele seiner Gedichte als Verhandlung des französischen Widerstandes gegen die Nationalsozialisten lesbar ist, gestaltet er die Taube als „zerissene[n] Vogel“, als Gegengewicht gegen die Entmenschlichung durch Gewalt und Folter. … Die Hölle hat keine Strafe zu vergeben so schlimm wie euren Haß. Seid ihrʼs nicht müde, Henker, euch so zu entmenschen Vergeblich? … Die Taube gewinnt gegen euch, sie ist in eurer Seele, sie macht ihr Nest in euren folternden Hände die die Seele aus der Seele martern.143

139Domin,

H.: Gesammelte Gedichte (s. Anm. 12). S. 372. H.: Gesammelte Gedichte (s. Anm. 12). S. 378. 141Pierre Emmanuel: Die Taube. Aus dem Franz. übers. von Hilde Domin. In: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 2 (1979). S. 47. Auch in: Domin, H.: Gesammelte Gedichte (s. Anm. 12). S. 384–385. 142Die zweite Strophe lautet: „Taube, / wenn mein Haus verbrennt / wenn ich wieder verstoßen werde / wenn ich alles verliere / dich nehme ich mit, / Taube aus wurmstichigem Holz, / wegen des sanften Schwungs / deines einzigen / ungebrochenen / Flügels.“ (Hilde Domin: Versprechen an eine Taube. In: Dies.: Sämtliche Gedichte (s. Anm. 6). S. 240). 143Emmanuel, P.: Die Taube (s. Anm. 141). S. 384. 140Domin,

216

5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

Neben dem Italienischen144 und Französischen hat Domin wiederholt aus dem Englischen145 und indirekt aus dem Hebräischen146 übersetzt. Der Hauptteil von Domins Übersetzungen und Herausgeberschaften speist sich aber aus spanischer und lateinamerikanischer Literatur, die sie in deutsche Sprache übertragen und veröffentlicht hat. Bereits Mitte der 1950er Jahre ist der Übersetzungsband Rose aus Asche147 unter dem Namen Erwin Walter Palm erschienen. Später eröffnete Domin, dass es sich bei den während der Zeit im dominikanischen Exil angefertigten Übersetzungen vielmehr um das Resultat gemeinsamer

144Domin

hat u. a. auch Gedichte der italienischen Schriftstellerin Gilda Musa übersetzt. Anhand von handschriftlichen Notizen auf dazugehörigen Arbeitstyposkripten dieser Übersetzungen kann man vermuten, dass Domin bei ihren Übersetzungen die Dichterin zu Rate zog und sie kommentieren ließ. Denn Musa wiederum übersetzte Gedichte von Domin ins Italienische und war sprachlich für einen solchen Austausch zwischen Übersetzer*innen kompetent (vgl. Hilde Domin: Konvolut: Übersetzungen von Gedichten 2, Gilda Musa [aus dem Ital.]. Deutsches Literaturarchiv Marbach: A: Domin. HS.2007.0002, HS006920126). Ein gegenseitiges Übersetzen fand ebenfalls zwischen Domin und Nathaniel Tarn statt. Sie übersetzte sein Gedicht „Where Babylon ends“ ins Deutsche (vgl. Hilde Domin: Wo Babylon endet (Manuskripttitel), Nathaniel Tarn [Aus dem Engl.]. Deutsches Literaturarchiv Marbach: A: Domin. HS.2007.0002, HS006920888). Tarn übertrug mehrere Gedichte von Domin (vgl. Deutsches Literaturarchiv Marbach: A: Domin. HS.2007.0002, HS006880183, HS004858737, HS006526923). 145Charles Olson: Eine neu entdeckte homerische Hymne. In: Domin, H.: Gesammelte Gedichte (s. Anm. 12). S. 368–388; Denise Levertov: Claritas; September 1961. In: Domin. Gesammelte Gedichte. S. 392–399. Dabei fällt bei dem letzteren der beiden Gedichte auf, dass es sich insbesondere mit Sprache auseinandersetzt. 146Amir Gilboa: „In der Dunkelheit“, „Pferd und Reiter“, „Im Dunkel“. In: Ensemble 5 (1974). S. 131. Auch in: Domin: Gesammelte Gedichte. S. 389–391. Die drei hebräischen Gedichte Amir Gilboas (1917–1984), der 1937 aus der Ukraine nach Palästina emigrierte, hat Domin aus dem Englischen, übersetzt von Stephen Mitchell, ins Deutsche übertragen. Nachvollziehen lässt sich im Nachlass auch, dass Domin ein weiteres Gedicht Gilboas mit dem Titel „Glück“ nach der englischen Fassung „Happiness“ von Mitchell übersetzt hat, das jedoch unveröffentlicht blieb. Auf den im Nachlass befindlichen Typoskripten der Übersetzungen notierte Domin, dass sie in Kontakt mit einer israelischen Literaturwissenschaftlerin stand, die sie auf ihrer Lesung kennengelernt hatte, um „etwas über Gilboa [zu] erfahren“. Unter den Übersetzungen von „Im Dunkel“ und „In der Dunkelheit“ befinden sich dann auch einige erläuternde Zeilen zu Gilboa, wenngleich eher informativ denn wissenschaftlich: „Amir Gilboa, geb. 1917 in der Ukraine, Bialikpreis 1970, kam 1937 nach Israel, lebt in Tel Aviv, Mitglied des PENclubs.“ „Der Bialikpreis, zu ihrer Information, ist der grösste israelische Lyrikpreis, nach dem gleichfalls aus der Ukraine stammenden Dichter Bialik, einem Landsmann und Freund Gorkis, der übrigens immer nur russisch geschrieben hat.“ (Hilde Domin: Konvolut: Übersetzungen von Gedichten 1, Amir Gilboa [aus dem Engl.]. Deutsches Literaturarchiv Marbach: A: Domin. HS.2007.0002, HS006919626). 147Rose aus Asche: spanische und spanisch-amerikanische Lyrik seit 1900. Hg. und übertr. von Erwin Walter Palm. München 1955.

5.3  Hilde Domin als Literaturübersetzerin und Kulturvermittlerin

217

Arbeit gehandelt habe.148 Die Anthologie umfasst „spanische und spanischamerikanische Lyrik seit 1900“. In erster Linie handelt es sich um Literatur von spanischen Dichtern der Zwischenkriegszeit (etwa Juan Ramón Jiménez, Antonio Machado, Rafael Alberti, Jorge Guillén und Federico García Lorca) und lateinamerikanische Lyrik (unter anderem von Gabriela Mistral, César Vallejo und Jorge Carrera Andrade). Die Übersetzungen der Gedichte haben Palm und Domin überwiegend in den Exiljahren angefertigt und mit einigen der Lyriker*innen, zum Beispiel Gabriela Mistral und Juan Ramón Jiménez, bestanden auch persönliche Kontakte.149 Was die sprach- und kulturvermittelnde Tätigkeit Domins betrifft, ist die von ihr vorgenommene Herausgabe des Erzählbandes Spanien erzählt150 meines Erachtens von Belang, nicht nur, weil sie die enthaltenen Prosatexte ausgewählt und die kurze Erzählung „Der dritte Fetzen“151 von Azorín übersetzt hat. Auch enthält der Band ein relativ umfangreiches Vorwort von Domin, in welchem sie eine genaue Kenntnis der spanischsprachigen Literatur unter Beweis stellt und diese in einer Art Überblick an ein deutschsprachiges Lesepublikum vermittelt. Der Text ist nicht zuletzt in sprachlicher Hinsicht interessant, weil er die Perspektive der aus dem Exil nach Europa zurückgekehrten Schriftstellerin und Literaturkennerin widerspiegelt. „Als wir nach dem Krieg gleichsam mit einem großen Scheinwerfer die uns lange verschlossene Welt absuchten, kam, vor etwa zehn Jahren, auch Spanien neu für uns ans Licht.“152 Aus einem weltliterarischen Blickwinkel erfolgt eine Einschätzung, der zufolge die spanische Prosa „auf unsern literarischen Landkarten“153 marginal positioniert ist. Die spanische Prosa ist ein halb entdeckter Kontinent, auf unsern Karten nur ungenau eingezeichnet, die Funde werden uns pêle-mêle auf den Tisch gelegt, als rührten sie aus einer lebendigen Ausgrabung, einem idealen und unhistorischen Raum von mythischen Ausmaßen: dem Vaterland Federico García Lorcas.154

148Vgl. Tauschwitz, M: Hilde Domin (s. Anm. 30). S. 278; Viehöver, V.: Hilde Domin (s. Anm. 26). Viehöver beruft sich auf einen im Nachlass befindlichen Brief Domins an Walter Boehlich vom 17.02.1964, in dem sie zu der Anthologie geschrieben hat: „Ich habe es Erwin geschenkt, er wäre unglücklich gewesen, ‚unter Mitarbeit …‘ zu schreiben.“ 149Vgl. Hilde Domin: Erinnerungen an Gabriela Mistral und Juan Ramón Jiménez. In: Dies.: Gesammelte autobiographische Schriften. Frankfurt a. M. 1998. S. 317–325. 150Spanien erzählt. Sechsundzwanzig Erzählungen [1963]. Ausgew. und eingel. von Hilde Domin. Frankfurt a. M. 1977 [1963]. 151Azorín: Der dritte Fetzen. In: Spanien erzählt. Sechsundzwanzig Erzählungen [1963]. Ausgew. und eingel. von Hilde Domin. Frankfurt a. M. 1977. S. 69–72. 152Hilde Domin: Vorwort. In: Spanien erzählt. Sechsundzwanzig Erzählungen [1963]. Ausgew. und eingel. von Hilde Domin. Frankfurt a. M. 1977. S. 7–20, hier: S. 7. 153Domin, H.: Vorwort (s. Anm. 152). S. 8. 154Domin, H.: Vorwort (s. Anm. 152). S. 7.

218

5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

Dennoch beobachtet Domin anhand von Übersetzungen und gegenseitiger Beeinflussung ‚national(sprachlich)er‘ Literaturen insgesamt eine übernationale Entwicklung in Richtung von Weltliteratur, was durch die Überwindung von ‚fremd‘ und ‚eigen‘ im Resultat auch eine gewisse Uniformität mit sich bringe. [W]ir nähern uns dem Ende des literarischen Provinzialismus, selbst das abgelegene Spanien tut es, und wir werden den Gleichschritt, und daß wir der eine die Stimme des anderen so lebendig und im selben Augenblick hören, mit dem Verzicht auf die durch räumliche und zeitliche Vielschichtigkeit so reizvollen, noch gestern uns schier unerschöpflich versprochenen Überraschungen und Entdeckungen zu bezahlen haben. Es ist nur eine Zeitfrage, und auf unsern literarischen Landkarten wird kein Kontinent mehr weiße Flecken haben.155

Bemerkenswert ist an der Zusammenstellung der Anthologie Spanien erzählt weiterhin, dass wie selbstverständlich auch im Exil lebende Schriftsteller*innen (Ramón Sender und Max Aub) aufgenommen werden und damit das im Titel zu vermutende Verständnis einer Nationalliteratur Spaniens automatisch die durch den Bürgerkrieg entstandenen Risse mit ins Bild nimmt. Domin übersetzte aber nicht nur von anderen Sprachen in die deutsche Sprache, sondern sie übertrug neben eigenen Texten auch weitere deutschsprachige Gedichte ins Spanische. Häufig ging sie dabei in Kooperation mit spanischsprachigen Kolleg*innen vor. In der spanischen Zeitschrift Caracola, wo bereits ihre selbstübersetzen Gedichte vertreten waren, erschienen jeweils drei Gedichte von Günter Eich (1959) und Hans Magnus Enzensberger (1961).156 Weiterhin hat Domin 1961 in der von der deutschen Regierung bzw. dem Goethe Institut 1958 gegründeten Zeitschrift Humboldt, die als Verbindung zwischen der deutschen und spanischen Kultur (was im weiteren Sinne auch die hispanische Kultur umfassen sollte) gedacht war,157 mehrere von ihr in Zusammenarbeit mit Vicente Nuñez und Aquilino Duque ins Spanische übersetzte Gedichte zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur herausgegeben – unter dem Titel Poemas alemanes de hoy158. Darunter befinden sich jeweils ein Gedicht von Ingeborg Bachmann, Christine Busta, Paul Celan, Günter Eich, Hans-Magnus Enzensberger, Günter Grass, Hans Egon Holthusen, Karl Krolow, Christine Lavant, Nelly Sachs, Wolfdietrich Schnurre und Karl Schwedhelm. Pau zufolge sei die von Domin initiierte Übersetzung Celans in Humboldt eine der ersten Möglichkeiten gewesen, durch welche in der spanischsprachigen Welt von ihm Kenntnis genommen werden konnte.159 In Übersetzungstyposkripten von Gedichten Nelly Sachsʼ, die sie vermutlich der Schriftsteller- und

155Domin,

H.: Vorwort (s. Anm. 152). S. 7. Eich: Drei Gedichte aus „Botschaften des Regens“. In: Caracola 82 (1959); Hans Magnus Enzensberger: Drei Gedichte aus „Landessprache“. In: Caracola 102 (1961). 157Vgl. Pau, A.: Hilde Domin en la poesía española (s. Anm. 66). S. 125. 158Poemas alemanes de hoy. In: Humboldt 5 (1961). S. 17–25. 159Vgl. Pau, A.: Hilde Domin en la poesía española (s. Anm. 66). S. 125. 156Günter

5.3  Hilde Domin als Literaturübersetzerin und Kulturvermittlerin

219

­ bersetzerkollegin ins schwedische Exil geschickt hat, was man aus der entÜ haltenen Privatadresse in Stockholm schlussfolgern kann, vermerkt Domin einen Kommentar, der erkennen lässt, dass sie bei Veröffentlichung ihrer übersetzten Gedichte strategisch vorging. Unter der Übersetzung von Sachsʼ Gedicht Daniel aus Keiner weiß weiter steht: „sollte Ihnen dies Gedicht nicht convenieren–es ist mir besonders lieb–so habe ich andere. Ich halte es für eines ihrer besten. ‚Caracola‘ gab ich es nicht, da ich dort, falls sie die Zensur passiert, Celans ‚Todesfuge‘ bringen will.“160 Trotz oder entgegen der Zensur und eingeschränkten Pressefreiheit im franquistischen Spanien versuchte sie offenbar eine möglichst große Reichweite für die deutschsprachige Literatur zu erreichen, die sich kritisch mit den Verbrechen der NS-Diktatur auseinandersetzte. Diese Übersetzertätigkeit Domins lässt sich insofern als (Kultur-)Vermittlungsvorgang begreifen, der dazu beitrug, im spanischsprachigen Raum, insbesondere in Spanien, die zeitgenössische deutschsprachige Nachkriegsliteratur und ihre Debatten zugänglich zu machen. Wenn Viehöver in ihrer Monografie von 2010 konstatiert, „Domins Rolle als Vermittlerin spanischer und iberoamerikanischer Literatur in Deutschland ist bisher wenig bekannt“161, trifft das also genauso auf ihre Vermittlung der soeben benannten deutschsprachigen Literatur im spanischsprachigen Raum zu. Die umfangreiche Übersetzungstätigkeit Domins veranschaulicht zum einen die besondere Position der Exilantin und Rückkehrerin im internationalen Literaturbetrieb. Zu ihrer Kenntnis und dem Überblicksvermögen weltliterarischer Zusammenhänge sowie der sprachlichen Fähigkeit, Lyrik in und aus verschiedenen Sprachen zu übersetzen, kommt ein Engagement, nicht nur, aber häufig gerade diejenige Literatur über Länder- und Sprachgrenzen hinweg zugänglich zu machen, die sich auch als politisch-kritisches Statement der Nachkriegszeit lesen lässt. Zum anderen zeigt die Betrachtung von Domins Übersetzungen eine große Nähe der übersetzten Originaltexte zu Themen, Motiven und ästhetischen Verfahren ihrer eigenen Literatur. Was hier nur im Einzelnen beobachtet und angedeutet werden konnte, bedarf zukünftig einer detaillierten komparatistischen Analyse. Festhalten lässt sich eine reziproke Beeinflussung zwischen Übersetzungen und eigenen Texten bzw. zwischen eigenen Texten und der Auswahl der zu übersetzenden Texte. In einem Interview hat sich Domin einmal zum Übersetzen geäußert und die Nähe von Schreiben und Übersetzen hervorgehoben. Auf die Frage, ob man Lyrik übersetzen könne, antwortet sie: „Sie schreiben es komplett neu. […] Das heißt, es muß Sie so aufregen wie ein eigenes Gedicht. […] [M]an macht die Erfahrung des Gedichts zu seiner eigenen, wie ein Leser, und dann macht man es neu. Und dabei ist man möglichst genau.“162

160Hilde Domin: Konvolut: Übersetzungen von Gedichten 7, Nelly Sachs [aus dem Dt.] Deutsches Literaturarchiv Marbach: A: Domin. HS.2007.0002, HS006920743. 161Viehöver, V.: Hilde Domin (s. Anm. 26). S. 51. 162Domin, H.: „Wortwechsel“ (s. Anm. 26). S. 210.

220

5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

5.4 „Meine Worte sind Vögel / mit Wurzeln“ – Lyrische Sprachbilder zwischen Verwurzelung und Translingualität Viele von Domins Gedichten thematisieren einerseits eine Verwurzelung und Heimat in der (deutschen) Sprache, andererseits erzeugen sie sprachliche Bilder, die dies wiederum in verschiedener Weise durchbrechen. Hier möchte ich eine Lektüre von einigen Gedichten Domins unternehmen, welche im Speziellen die Sprachbilder bezüglich des Sprach- und Übersetzungsthemas betrachtet, mit dem Ziel, eine weitere, bislang nicht so besprochene Dimension in der Lyrik Domins zu entdecken. Dabei stehen überwiegend Gedichte bzw. Auszüge daraus im Mittelpunkt, in denen es explizit um Sprache(n) geht. Es werden aber auch solche herangezogen, in denen Exil, Heimat und alternative Verortungskonzepte allgemeiner im Raum stehen. Naturmetaphern sind in Domins Gedichten insgesamt als ein zentrales Charakteristikum zu betrachten, worunter Vögel und Pflanzen zu den prominentesten Topoi gehören. Ein Gedicht, das beides miteinander kombiniert und auf Sprache bezieht, ist Vögel mit Wurzeln. Vögel mit Wurzeln Meine Worte sind Vögel mit Wurzeln

1

immer tiefer immer höher Nabelschnur. 5 Der Tag blaut aus die Worte sind schlafen gegangen.163

In diesem Gedicht kann man die sprachbildlich erzeugte Spannung zwischen Reichweite und Verwurzelung von Sprache auch als Verhandlung von Mutter- und Fremdsprachen lesen. Die Metapher von fliegenden Vögeln, die durch Wurzeln in der Erde verwachsen und fixiert sind, verbinden zwei äußerst gegensätzliche,

163Hilde Domin: Vögel mit Wurzeln. In: Dies.: Sämtliche Gedichte. Hg. von Nikola Herweg und Melanie Reinold. Frankfurt a. M. 2009. S. 132. Erstmals erschienen in: Hilde Domin: Hier. Frankfurt a. M. 1964. Alle Gedichte aus diesem Gedichtband sind vermutlich zwischen 1963 und 1964 in Heidelberg entstanden (vgl. Nikola Herweg: Editorische Notizen. S. 324). Im Folgenden wird bei zitierten Gedichten nur eine Zeilennummerierung hinzugefügt, wenn das betreffende Gedicht in seiner gesamten Länge angeführt wird. Sind nur einzelne Strophen oder Verse zitiert, erfolgt keine Nummerierung, um die Gesamtkonzeption und den Aufbau der Gedichte nicht zu verfälschen, indem eine nicht vorhandene Reihenfolge der Verse suggeriert würde.

5.4  Lyrische Sprachbilder zwischen Verwurzelung und Translingualität

221

geradezu widersprüchliche Bewegungen miteinander. Durch die Anapher und den Parallelismus der Verse „immer tiefer / immer höher“ (V. 3–4) in der zweiten Strophe stehen immer tiefer und fester in den Boden wachsende Wurzeln einer gleichzeitig immer größer werdenden Entfernung von demselben Boden gegenüber. Die sprachlich parallele Struktur der beiden Verse erzeugt die Vorstellung eines Gleichgewichtes der beiden, in die jeweils entgegengesetzte Richtung ziehenden Kräfte. Dies kann man zusätzlich von der formalen Symmetrie des gesamten Gedichtes unterstützt sehen. Versteht man die „Worte“ des sich artikulierenden lyrischen Ichs als Synekdoche im Sinne einer Erweiterung, können sie für Sprache im Gesamten stehen. Somit erscheint Sprache als geerdet und territorial festgelegt. Zugleich ist sie aber auch frei wie ein Vogel, der hoch über dem Erdboden schwebt und eine große Reichweite hat. Aufgrund der im fünften Vers erwähnten Metapher der „Nabelschnur“, die für natürliche vorgeburtliche Bindung eines Kindes an seine Mutter steht, liegt es nahe, eine Verbindung zur Herkunft im Allgemeinen und zur Muttersprache in Speziellen zu ziehen. Daher ist es auch plausibel, das Gedicht als eine paradoxe Vorstellung von Muttersprache zu lesen: (Mutter-)Sprache ist beweglich, ohne dass dies bedeutet, dass sie ihre feste Verwurzelung verliert. Trotz einer hohen sprachlichen Flexibilität und Bewegungsreichweite bzw. Freiheit bleibt die Sprache stets in ihrem Ursprung verwurzelt. Diese unauflösbare Grundspannung zeigt sich im Gedicht auch ansatzweise zwischen formaler und semantischer Struktur. Obwohl das Gedicht sehr kurz ist und insgesamt nur sieben Verse umfasst, ist es in drei Strophen eingeteilt. Unter anderem die verwendete Interpunktion legt nahe, dass die ersten beiden Strophen eine syntaktische Einheit bilden: Auf den Hauptsatz in Strophe eins folgen Ergänzungen in Strophe zwei, die als wesentliche Erweiterung der zu Beginn entworfenen Metaphorik funktionieren. Somit entsteht der Eindruck, dass die formal gegebene Strophengrenze überspielt wird.164 Weiterhin findet im Verlauf des Gedichts insofern eine sprachliche Verdichtung statt, als dass es vom ersten Vers mit vier Wörtern zunächst immer weniger werden, dreimal zwei Wörter, bis zu dem fast zentral positionierten Wort „Nabelschnur“, das durch den nur aus einem Wort bestehenden Vers besonders betont wird. Folgt man der hier vorgeschlagenen Lesart im Hinblick auf mögliche Mehrsprachigkeitsreflexionen, erinnert die formale und bildhafte Spannung in diesem Gedicht, die durch die Nabelschnur als Verbindungslinie aufrecht erhalten wird, auch an das permanente Spannungsverhältnis, in dem sich ein*e Übersetzer*in bei seinem*ihren Balanceakt zwischen Treue und Freiheit bewegt. Je nachdem aus

164Dieter Burdorf zufolge seien solche Überschreitungen von Strophengrenzen, im Extremfall durch morphologische Enjambements, ein Anhaltspunkt für eine Spannung zwischen semantischer und formaler Strukur (vgl. Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. 3., akt. und erw. Aufl. Stuttgart 2015. S. 132).

222

5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

welcher Perspektive – von der Muttersprache bzw. der Sprache der Übersetzung oder dem Original ausgehend – ziehen Treue und Freiheit in gegensätzliche Richtungen: die Verwurzelung (im Original oder in der Gebundenheit an die Zielsprache) hindert daran, sich (zu) weit davon zu entfernen. Das durch die Vögel symbolisierte Streben nach Freiheit (vom Original oder von der Zielsprache) lockert zugleich immer auch ein wenig die Verwurzelung aus ihrem Boden, jedoch ohne sie zu verlieren. Das Gedicht Zur Interpunktion setzt sich, auch typografisch, mit sprachlichen und kulturellen Grenzen auseinander. Zur Interpunktion Weil sich die Neger fürchten weil sich die Weißen fürchten fürchten meine Worte ein einfaches Komma eingesperrt zwischen Satzzeichen offene Fenster offene Zeilen meine Worte haben Angst vor dem Verrat des Menschen versuche ihn nicht lasse alle Türen offen presse uns nicht uns Wolken165

1

5

10

15

Das Fehlen der Satzzeichen in Domins Gedicht Interpunktion funktioniert als Befreiung von satz(teil)begrenzenden Zeichen. „Die auffälligste und konsequenteste Abweichung von den gewohnten Schreibnormen ist der in moderner und heutiger Lyrik oft zu beobachtende völlige oder weitgehende Verzicht auf Satzzeichen.“166

165Hilde Domin: Zur Interpunktion. In: Dies.: Sämtliche Gedichte. Hg. von Nikola Herweg und Melanie Reinhold. Frankfurt a. M. 2009. S. 168–169. Erstmals erschienen in: Hilde Domin: Ich will dich. München 1970. 166Burdorf, D.: Einführung in die Gedichtanalyse (s. Anm. 164). S. 48.

5.4  Lyrische Sprachbilder zwischen Verwurzelung und Translingualität

223

Dieses Verfahren, das alle Gedichte in Domins Gedichtband Ich will dich betrifft, wird in Interpunktion nicht nur programmatisch reflektiert,167 ­sondern auch in spezifische Verbindung mit der Aushandlung kultureller Grenzen gebracht. Im gesamten Gedicht befinden sich sechs bestimmte Artikel, nur zwei davon sind besitzanzeigend, sie beziehen sich erneut auf Sprache – „meine Worte“ (V. 5, V. 10) – und legen die affektive Verbindung eines lyrischen Ichs mit ‚seinen‘ Worten bzw. ‚seiner‘ Sprache offen. Dem gegenüber stehen die Formulierungen „die Neger“ (V. 1) und „die Weißen“ (V. 3), welche, durch direkte Artikel betont, eine mittels Sprache funktionierende kulturell-ethnische Zuschreibung im Sinne einer eindeutigen, das heißt schwarz-weißen Kategorisierung abbildet. Durch die Parallelität der ersten vier Verse und sogar dreifachen Anapher als Wiederholung des Wortes „fürchten“ (V. 2, V. 4, V. 5) weist das Gedicht beiden vermeintlich klar abgegrenzten Kategorien dieselbe Emotion bzw. Verfasstheit zu: Furcht. Grenzsetzungen, auch sprachliche, so ließe sich interpretieren, haben etwas Bedrohliches. Sie erzeugen das Gefühl, „eingesperrt“ (V. 7) zu sein. Sprache hat Kraft und Macht, weil sie einsperren oder in etwas hinein „presse[n]“ (V. 17) kann. Sie kann auf gefährliche Art und Weise kategorisieren und festschreiben: „Meine Worte haben Angst / vor dem Verrat / des Menschen“ (V. 10–12). Als Gegenentwurf und gewissermaßen auch als Schutz vor einem solchen kulturellen, rassistischen Schwarz-Weiß-Denken gestaltet das Gedicht performativ Offenheit, die auf der Textoberfläche durch fehlende syntaktische Grenzen und Satzzeichen entsteht. Dreimal taucht neben „fürchten“ auch das Wort „offen“ (V. 8, V. 9, V. 16) jeweils am Versbeginn auf. Das Adjektiv „offen“ bezieht sich in erster Linie auf Übergänge bzw. Schwellenorte: Fenster und Türen, die somit durchlässig werden, durch die hinein- und herausgegangen werden kann. Ein etwaiges Innen und Außen ist nicht mehr eindeutig festgeschrieben, Begrenzungen erscheinen durchlässig. Sie sind wie die geschriebenen „Zeilen“ (V. 9) „offen“, sie gehen ineinander über ohne harten Schnitt von klarem Anfang und Ende. Im Bild der Wolken endet das Gedicht mit einer permanent veränderlichen Dynamik. Die Schwerelosigkeit und Dynamik von Wolken am Himmel lässt sich auch als Gegensatz zum Boden, zu Territorien oder zum Land lesen. Ähnlich wird es auch in Domins Gedicht Auf Wolkenbürgerschaft entworfen:

167„Die

Gedichte der Sammlung Ich will dich kommen ohne Punkt und Komma aus; Domin verwandte lediglich Anführungszeichen, Gedankenstriche, Doppelpunkte und Klammern. Den Verzicht auf Satzzeichen kommentierte sie in dem in der Sammlung enthaltenen Gedicht Zur Interpunktion […].“ (Nikola Herweg: Editorische Notizen. In: Hilde Domin: Sämtliche Gedichte. Hg. von Nikola Herweg und Melanie Reinold. Frankfurt a. M. 2009, S. 320–334, hier: S. 326).

224

5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

Auf Wolkenbürgerschaft Ich habe Heimweh nach einem Land in dem ich niemals war, wo alle Bäume und Blumen mich kennen, in das ich niemals geh, doch wo sich die Wolken meiner genau erinnern, ein Fremder, der sich in keinem Zuhause ausweinen kann. […] Und jenseits des Horizonts, […] liegt ein Erdteil wo sie mich aufnehmen müssen, ohne Paß, auf Wolkenbürgerschaft.168

Das Land, nach dem sich das lyrische Ich sehnt, ist in mehrerer Hinsicht genau das Gegenteil eines Landes im Sinne einer Nation, die auf einem staatlichen Territorium begründet ist und sich gegen andere nach außen hin exakt abgrenzt. Die hier skizzierte Konzeption von „Wolkenbürgerschaft“ ist als eine Art grenzenlose Weltbürgerschaft denkbar, jenseits von Staaten und Pässen. Sie wird zu einem alternativen Zufluchtsort für das Ich, das sich als „Fremder“ bezeichnet und kein „Zuhause“ mehr zur Verfügung hat. Diese Vorstellung bleibt jedoch eine utopische Imagination, weil das Ich aussagt, nie dort gewesen zu sein und auch nie hinzugehen (V. 2, V. 5). Das Gedicht Tokaidoexpreß erprobt ebenfalls Formen von Zugehörigkeit jenseits von Nationalstaaten. Allerdings funktionieren hier nicht „Wolken“, sondern im Speziellen Sprache(n) als neue Konzeptionen von Bürgerschaft, quasi einer – so ließe es sich formulieren – Sprachenbürgerschaft:

168Hilde Domin: Auf Wolkenbürgerschaft. In: Dies.: Sämtliche Gedichte. Hg. von Nikola Herweg und Melanie Reinhold. Frankfurt a. M. 2009. S. 56. Erstmals erschienen in: Dies.: Nur eine Rose als Stütze. Frankfurt a. M. 1959. Der Band enthält überwiegend Gedichte, die zwischen 1953 und 1958 in den USA, Spanien und Deutschland entstanden sind (vgl. Herweg: Editorische Notizen (s. Anm. 167). S. 322).

5.4  Lyrische Sprachbilder zwischen Verwurzelung und Translingualität

225

Tokaidoexpreß Wie ein Tokaidoexpreß sind wir durch die Geschichte gefahren und kaum noch zu sehen

1

Ich rede in der Vergangenheitsform während ich atme sehe ich mir nach 5 ich bin das Rücklicht Als Rücklicht leuchte ich vor euch her euch Dichtern eines vielleicht zweifachen Zuhauses 10 des Bodens auf dem ihr Bleiben dürft euer Land wird immer größer werden wenn die Erdoberfläche sich zusammenzieht und die Grenzen zurückweichen unter den Flügeln der Menschen 15 ihr könnt gehen und doch bleiben und im Worte wohnen vielleicht im Worte vieler Sprachen zugleich doch im deutschen zuerst im deutschen 20 an dem wir uns festhielten Ich der letzte kämpfe für euch alle um den Stempel in diesem Paß um unsern Wohnsitz im deutschen 25 Wort169

Kann man in einer Sprache wohnen? Vielleicht sogar in mehreren zugleich? In Tokaidoexpreß artikuliert sich das Ich als leuchtendes Rücklicht in der Geschichte von „Dichtern eines vielleicht zweifachen / Zuhauses“ (V. 9–10). In der direkten Ansprache derart mehrfach beheimateter Dichter*innen, gegenwärtig wie auch zukünftig, ist eine interexilische Perspektive lesbar. Die Geschichte von Vertreibung und die Fragen nach dem „Boden[] auf dem ihr Bleiben dürft“ (V. 11) reicht bereits historisch weit voraus. Sie ist zwar nur noch aus der zeitlichen Entfernung zu erahnen, aber es wird Nachfolger*innen geben. Das daraufhin gezeichnete Bild eines immer größer werdenden Landes, das entsteht, wenn die „Erdoberfläche sich zusammenzieht“ (V. 13) und „die Grenzen zurückweichen“ (V. 14), gleicht einer Art Prophezeiung trans- oder postnationaler Zeiten, einer nur noch in Sprache beheimateten Weltliteratur. Allein in Sprache beheimatet zu sein, bedeutet, das „Zuhause“ (V. 10) ist das „Wort“ (V. 26). Diese beiden Verse, die jeweils aus nur einem Wort bestehen treten im Arrangement des Gedichts deutlich hervor und somit in Verbindung miteinander. 169Hilde

Domin: Tokaidoexpreß. In: Dies.: Sämtliche Gedichte. Hg. von Nikola Herweg und Melanie Reinhold. Frankfurt a. M. 2009. S. 195. Erstmals erschienen in: Hilde Domin: Ich will dich. München 1970.

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5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

Die zurückweichenden Grenzen, und das ist im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung besonders relevant, betreffen auch die Vorstellung von literarischen Sprachzugehörigkeiten: „ihr könnt gehen und doch bleiben / und im Worte wohnen / vielleicht im Worte vieler Sprachen zugleich / doch im deutschen zuerst“ (V. 16–19). Erneut zeigt sich hier die Forderung nach einer sprachenübergreifenden Öffnung von Literatur, die eine spezielle muttersprachliche Bindung aber keineswegs überwindet, sondern im Gegenzug nach wie vor ausdrücklich hervorhebt. Die Vorstellung und Forderung einer transnationalen und translingualen Literatur, die in dem Gedicht erkennbar ist, lässt sich paradoxerweise nicht von einer exklusiven Verbindung zur deutschen Sprache trennen. So ruft Tokaidoexpreß die Verortung in der Sprache im Allgemeinen auf, stellt aber auch eine Ankerfunktion speziell der deutschen Sprache für ein „wir“ heraus: „im deutschen / an dem wir uns festhielten“ (V. 20–21). Geht man davon aus, dass sich dieses „wir“ als die historischen Vorgänger der „Dichter[] eines vielleicht zweifachen / Zuhauses“ (V. 9–10) auf das Exil aus NS-Deutschland seit 1933 bezieht, ist die Forderung nach einem „Stempel in diesem Paß“ (V. 24), der „unsern Wohnsitz im deutschen / Wort“ (V. 25–26) bezeugen soll, auch als deutliches Weiterschreiben einer deutschsprachigen Literatur im Exil lesbar, wie es zum Beispiel Berendsohn immer wieder betont hat (vgl. Abschn. 2.1). Zugleich bleibt das Bild eines neuen Passes im Exil als Pass in der Sprache durchaus paradox, weil es die territoriale Verortung als Bedingung eines nationalstaatlichen Konzeptes und die daran gebundene Staatsbürgerschaft, sowie deren Erwerbsmöglichkeiten, unterläuft und nach Alternativen fragt. Auf der Suche nach den „am häufigsten vorkommenden Wörtern“ in Domins Gedichten beobachtet Christa Schulze-Rohr zu Recht, dass besonders viele Verben der Bewegung zu finden sind: „Fliegen, Gehen, Kommen, Verlassen, Reisen, Treiben – hat das mit der Heimatlosigkeit zu tun? Mit der Vertreibung?“170 Die Betrachtung dieser ausgewählten Gedichte konnte zeigen, dass dies auch auf die Vorstellungen und Bilder von Sprache(n) zutrifft, während zugleich Aspekte von Verwurzelung oder der Wohnsitz in der deutschen Sprache wie antagonistische Gegenspieler funktionieren. Die Ideen von Sprache(n) in Domins Gedichten legen alle eine permanente Bewegung zugrunde. Unauflösbar befindet sich Sprache in Domins Lyrik zwischen der Erprobung von Grenzüberschreitungen und neuen Zugehörigkeiten auf der einen Seite und der Rückbindung an muttersprachlich konnotierte Ursprünge auf der anderen Seite.

170Domin,

H.: „Wortwechsel“ (s. Kap. 1, Anm. 39). S. 207.

5.5  Brüchige Konstellationen von Heimat und Sprache

227

5.5 Brüchige Konstellationen von Heimat und Sprache im Roman Das zweite Paradies In Hilde Domins einzigem Roman Das zweite Paradies171 kehrt eine namenlos bleibende Protagonistin mit ihrem Ehemann Constantin nach langer Zeit im Exil in die einstige Heimat Deutschland zurück, aus der sie zuvor vertrieben worden waren. Die Rückkehr und Konfrontation mit dieser alten Heimat bzw. dem, was davon übrig geblieben ist, entfaltet sich parallel zum Thema der verlorenen Heimat in der Liebe zwischen der Protagonistin und Constantin, die insbesondere durch die Gefühle der Protagonistin für Wolfgang gestört wird. Anhand des immer wieder angespielten titelgebenden Motives vom biblischen Paradies bzw. dessen Verlust nach der Vertreibung verhandelt der Text auf diesen beiden thematischen Ebenen, Heimat und Liebe, Fragen nach Verlust und Möglichkeiten von Wiedergewinn oder Neubeginn. Eine entscheidende Rolle spielt dabei der Erkenntnisprozess durch die Vertreibung und dem damit einhergehenden Verlust, der das (erste) Paradies als solches überhaupt erst erkennen ließ. Es geht also wesentlich darum, ob man nach dieser existenziellen Bewusstwerdung überhaupt noch einmal in der Lage sein kann, in das erste Paradies zurückzukehren oder ob dieser Weg dann nicht mehr zugänglich ist. Darin besteht auch der zentrale Konflikt zwischen der Protagonistin und Constantin, der – seinem Namen entsprechend – die Konstanz sucht und Beständigkeit symbolisiert. Während Constantin auf beiden Ebenen möglichst bruchlos zurück in das erste Paradies möchte, in der Hoffnung und dem Glauben, dass alles so geblieben ist oder wieder wird, wie es war, ist die Protagonistin in der Zwischenzeit eine andere geworden: durch die Vertreibung und die Zeit im Exil sowie durch die Beziehung mit Wolfgang. Das erste Paradies, das zweite Paradies. Für Constantin war das zweite Paradies identisch mit seinem ersten. So sehr, daß es kein zweites für ihn war, denn wo wäre der Unterschied gewesen? Auch sie glaubte an die Möglichkeit. Nur daß sie nicht die Gleiche geblieben war. Zumindest schien es ihr nicht schlechter als das verlorene. Wenn es auch unstreitig, für sie ein wenig anders war. (DZP 40)

Domin hat in den 1950er Jahren, nach ihrer eigenen Rückkehr, begonnen an Das Zweite Paradies zu arbeiten und den Roman 1961 fertiggestellt, woraufhin aber noch einige Jahre bis zur seiner ersten Publikation 1968172 vergingen.173 Der Untertitel „Roman in Segmenten“ kann als eine Art Motto für die gestückelte und achronische Erzählstruktur des Romans betrachtet werden, dessen Kapitel wie folgt angeordnet sind: „Traum IV“, „Das Cognacglas“, „Traum II“, „Das zweite

171Hilde

Domin: Das zweite Paradies. Roman in Segmenten. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 1993. Im Folgenden wird unter Angabe der Sigle „DZP“ und der Seitenzahl aus dieser Ausgabe im Fließtext zitiert. 172Hilde Domin: Das zweite Paradies. Roman in Segmenten. München: Piper Verlag 1968. 173Vgl. Reimann, D.: Heimatumschreibungen einer Remigrantin (s. Anm. 35). S. 149.

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5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

Paradies“, „Traum I“, „Der Brief“, „Traum III“, „Autodafé“. Wirken die insgesamt acht Segmente des Romans zunächst beliebig aneinandergereiht, entfalten sich nach und nach komplexe Verbindungen zwischen den einzelnen Teilen, sowohl auf verschiedenen zeitlichen Ebenen als auch zwischen Wirklichkeits- und Traumebene174. Dadurch offenbart sich insgesamt die zirkuläre und irrende Struktur des Romans.175 Der Roman bedient sich in seinen einzelnen Segmenten auch unterschiedlicher Erzählperspektiven. Während die als „Traum“ bezeichneten Abschnitte sowie das sehr kurze Kapitel „Der Brief“ aus der Ich-Perspektive erzählt werden, handelt es sich in den anderen drei Erzählteilen, welche die Haupterzählung tragen, um eine personale Erzählweise, die aber auf die Perspektive der „erlebenden, erinnernden und reflektierenden“176 Protagonistin konzentriert und überwiegend darauf begrenzt bleibt. Der längste und umfangreichste Erzählabschnitt „Das zweite Paradies“, der auch den Titel des Romans wieder aufnimmt, befindet sich ungefähr im Zentrum des gesamten Textes. Darin unternimmt das Ehepaar einen Ausflug in einen Gasthof am Main, den sie bereits vor ihrer Vertreibung besucht hatten. Aufgrund von einer Fußverletzung ist Constantin auch physisch unbeweglich, weshalb die Protagonistin allein einen Ausflug auf einen Berg unternimmt und währenddessen in einer Art und Weise die Gegenwart, das Exil und die Zeit vor der Vertreibung reflektiert, die einem Bewusstseinsstrom ähnelt und die drei Zeitebenen miteinander verschränkt. Dass die fragmentarische und nicht lineare Komposition des Textes eine bei der Rückkehr aus dem Exil empfundene Brüchigkeit von Heimatvorstellungen und Zeitebenen auch formal widerspiegelt, wurde in der Forschung bereits mehrfach reflektiert.177 Reimann etwa positioniert sich in diesem Sinne gegenüber

174„Alle Träume erzählen von ambivalenten Situationen, in denen die Protagonistin einerseits Erlebnisse des Trostes und der Geborgenheit hat, dann aber wieder zutiefst verunsichert wird.“ (Viehöver, V.: Hilde Domin (s. Anm. 26). S. 71). 175Zum einen entsteht die zyklische Struktur durch die Anordnung der Traumkapitel, welche mit dem letzten beginnen und mit dessen Vorläufer enden. Dadurch verbinden sie das Ende des Romans erneut mit dem Anfang und umgekehrt. Zum anderen ist zur erzählten Zeit in der Haupterzählung bemerkenswert, dass der Roman mit der Trennung von Wolfgang, die zeitlich der Handlung vorausgeht, endet. „Die beiden Schlussszenen – die Trennung in Autodafé und die Wiederbegegnung in der ‚Hauptgeschichte‘ – bilden eine Dissonanz, die nicht aufgelöst wird.“ (Viehöver, V.: Hilde Domin (s. Anm. 26). S. 72). 176Paul Konrad Kurz: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. In: Bettina von Wangenheim (Hg.): Vokabular der Erinnerungen. Zum Werk von Hilde Domin. Aktual. Neuausgabe von Ilseluise Metz. Frankfurt a. M. 1998. S. 77–95, hier: S. 79. 177Vgl. u. a. Viehöver, V.: Hilde Domin (s. Anm. 26). S. 71–72. Auch Bischoff zufolge zeige der Roman „experimentellere Verfahren, die […] Dissoziation und Fragmentiertheit auch formal hervortreten lassen“ (Bischoff, D.: Verzeichnete Erschütterungen (s. Anm. 75). S. 3.). Karsch, die sich in ihrem Aufsatz zum Roman auch mit der diskontinuierlichen und fragmentarischen Erzählweise auseinandersetzt, bindet hier zusätzlich ein, dass die Erzählerin namenlos bleibt. Dies führe zu einer Rezeption der Erzählung, die insgesamt eine permanente Auseinandersetzung mit Identität verlangt, ähnlich wie für die Protagonistin selbst (vgl. Karsch, M.: Die Darstellung der jüdischen Remigration (s. Anm. 114). S. 425–426).

5.5  Brüchige Konstellationen von Heimat und Sprache

229

Forschungsbeiträgen, die im Roman, unter anderem anhand des im Text zentralen Heimat-Begriffs, eine vermeintlich affirmative Überzeugung der Autorin zur Bundesrepublik wiedererkennen oder zumindest „einen bewußt oder unbewußt motivierten Selbstüberzeugungsprozeß, einen Willensakt, durch den sie sich ihre Rückkehrentscheidung als richtig bestätigt“178, zu erkennen glauben. Sie argumentiert, dass gerade anhand des Romans deutlich werde, warum es falsch ist, „Hilde Domin als gleichsam naive Erdichterin einer auch nach der Rückkehr aus dem Exil mit sich selbst identisch bleibenden, bruchlosen und unhinterfragten Heimat misszuverstehen“179. Nicht nur beginnt das erste Paradies der Heimat-Liebe bereits im Exil zu bröckeln, vielmehr wird das von der Protagonistin ersehnte zweite Paradies nach deren Remigration in die alte Heimat immer wieder von ihren Erfahrungen des Exils und Ausgestoßenwerdens sowie ihren mitunter wehmütigen Erinnerungen an die Ferne bedroht, irritiert und infrage gestellt.180

Stilistisch zeichnet sich Domins Roman Das zweite Paradies durch eine verdichtete literarische Sprache aus. Die einzelnen Sätze sind tendenziell kurz gehalten. Sehr häufig sind sie sogar so kurz, dass sie syntaktisch nicht die Bedingungen eines vollständigen Satzes erfüllen. Dann bestehen sie nur aus nur einem oder wenigen Wörtern, was einen speziellen, nicht immer fließenden Leserhythmus erzeugt und die Sätze an vielen Stellen wie aneinandergereihte Verse wirken lässt. Im Zusammenhang damit, dass der Text zusätzlich mit zahlreichen Sprachbildern arbeitet, erhält man insgesamt den Eindruck, dass sich der Roman gattungsspezifisch in Richtung Lyrik bewegt und er sich am besten mit der Bezeichnung „lyrische Prosa“ beschreiben lässt.181 Zu der segmentierten Erzählstruktur in verschiedenen Zeitund Bewusstseinsebenen (Traum vs. Wirklichkeit) kommt also eine tendenziell lyrisch geprägte Sprache, die vielfach eher Mehrdeutigkeiten als eindeutige Lesarten erzeugt. Dazu trägt die Verbindung des Erzählten mit zwei großen mythischen Intertexten, dem biblischen „Sündenfall“ und Homers Odyssee, wesentlich bei. Auf die Odyssee referiert der Roman vor allem durch die wiederholte Aufrufung der nach 20 Jahren angetretenen und auf Krieg und Irrfahrten folgenden Heimkehr des Helden Odysseus in seine Heimatstadt „Ithaka“, die er zunächst kaum wiedererkennt. In Domins Roman wird Deutschland zwar als Land benannt, in das die Protagonist*innen zurückkehren, aber es taucht keine konkret bezeichnete Stadt oder ein

178Dieter Sevin: Hilde Domin: Rückkehr aus dem Exil als Ursprung und Voraussetzung ihrer Poetologie. S. 361. 179Reimann, D.: Heimatumschreibungen einer Remigrantin (s. Anm. 35). S. 152. 180Reimann, D.: Heimatumschreibungen einer Remigrantin (s. Anm. 35). S. 152. 181Diese Sichtweise setzt natürlich voraus, dass man den Begriff „lyrisch“ zur Merkmalsbeschreibung zulässt und nicht lediglich als fest begrenzte Gattungsbezeichnung verwendet. Burdorf spricht sich beispielsweise deutlich gegen die Verwendung des Begriffs jenseits von Gedichten aus (vgl. Burdorf, D.: Einführung in die Lyrikanalyse (s. Anm. 164)).

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5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

Heimatort auf. Stattdessen zitiert der Text den Mythos und spricht von „Ithaka“. „Die Rückkehr nach Ithaka, so strapaziös“ (DZP 89). Wie Odysseus werden die Protagonist*innen nach ihrer Rückkehr mit „Heimkehrerprobleme[n]!“ (DZP 91) konfrontiert, wenn sie sich einer durch die Zeit stark veränderten Heimat gegenüber sehen, die sich nicht mehr mit Vergangenheit und Erinnerung zur Deckung bringen lässt. Vieles hat sich geändert in den Straßen von Ithaka, fast nur die Namen sind die gleichen. Was an Freunden noch da ist, geht in andere Cafés. Zwei Heimgekehrte vielleicht, versuchen die Koordinaten zu kreuzen, betrinken sich in der Fensternische von früher. Um des Gestern willen, das sich im Heute versteckt. (DZP 92)

Der zweite zentrale Intertext in Domins Roman funktioniert als motivgebende Verknüpfung von Exil bzw. Vertreibung aus der Heimat oder Liebe mit der biblischen Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies nach dem Sündenfall. Der Text trägt das Paradies nicht nur im Titel, sondern er ist mit äußerst vielen und vielschichtigen Anspielungen und Metaphern durchzogen.182 Immer wieder tauchen zum Beispiel Gärten und Bäume auf, mehrfach geht es um (Be-)Kleidung und vereinzelt kommen auch die Wächter des Gartens, der Apfel und die Schlange183 vor. Am Ende der biblischen Sündenfall-Erzählung heißt es: „Und er [Gott] trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens“184. So ist für die Protagonistin beispielsweise der Garten nach der Rückkehr im buchstäblichen Sinne nicht zugänglich, weil ihre Anwesenheit den Hausbesitzer an seinen seit dem Ende der NS-Zeit verlorenen Reichtum erinnert. Sie muss auf das wild verwachsene Nachbargrundstück („Das Gras stand dort hoch, alles voller Unkraut. Die Welt ist voll von Grundstücken heute, die den Ausgewanderten gehören.“ (DZP 18)) ausweichen, das einmal einem wie sie selbst Geflüchteten gehörte, um sich dort einen Platz unter einem Birnbaum zu

182Der Literaturwissenschaftler und Theologe Paul Konrad Kurz macht darauf aufmerksam, dass es sich aus theologischer Perspektive bezüglich des Genesis-Berichts aus der Bibel in Domins Roman um „eine individualistische Verkürzung“ handelt, da er daraus nur „direkt die Problematik des individuellen, beinahe individuellen Zueinander von Mann und Frau, hineingenommen in die Erfahrung von politischer Vertreibung und Rückkehr“ thematisiert, während die Frage der Gotteserkenntnis oder gesellschaftliche Aspekte keine oder kaum eine Rolle spielen. (Kurz: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies (s. Anm. 176). S. 94–95). Dieser Aussage ist in Bezug auf die „Gotteserkenntnis“ zuzustimmen. Gesellschaftliche Aspekte spielen jedoch durchaus eine wichtige Rolle in Domins Roman, der die Rückkehr zweier Protagonist*innen aus dem Exil in die Gesellschaft thematisiert, aus der sie einst vertrieben wurden. 183Als die Protagonistin am Ende des Romans den Geliebten Wolfgang, von dem sie sich getrennt hatte und den sie nun vergessen wollte, im Museum in einem Bild von Johannes dem Täufer wiederzuerkennen glaubt, erinnern sein Gesicht und Kopf sie zugleich an ein Kind und an eine Schlange. „Dabei so starr, so beweglich und zugleich unbewegt wie der Kopf einer Schlange.“ (DZP 160). 184Gen 3.24.

5.5  Brüchige Konstellationen von Heimat und Sprache

231

suchen.185 Wie der biblische Garten Eden erscheint in Das zweite Paradies auch die einst verlassene Heimat von den übernatürlichen geflügelten Wesen Cherubim bewacht zu sein, wenn die Ankunft im Hamburger Hafen beschrieben wird. Man konnte aussteigen, einfach aussteigen, als sei es eine Reise wie jede andere. Der Zoll war schon auf dem Schiff gewesen und auch die Paßkontrolle. Die ersten deutschen Beamten. Hamburger, höflich wie Tanzstundenherren. ‚Der Cherub steht hinter uns‘, der Cherub steht vor uns. ‚Das Paradies ist verriegelt.‘ Vielleicht mußten sie die Reise um die Welt machen. Diese Bedingung hatten sie erfüllt. ‚Um zu sehen, ob es auf der anderen Seite irgendwo wieder offen ist‘. (DZP 115)

Anhand der Wiederaufnahme des biblischen Verweises, welcher an dieser Stelle zusätzlich als Zitat von Heinrich von Kleist186 in den Text montiert ist, ohne dies jedoch als solches zu kennzeichnen, stehen die Erkenntnis und der veränderte Bewusstseinszustand („Vielleicht mußten sie die Reise um die Welt machen.“), welche durch die Vertreibung das (erste) Paradies erst als solches erkennbar gemacht haben, im Fokus. Die einstige als ‚natürlich‘ angenommene Heimat oder die ungebrochene Liebe erscheinen dadurch in neuem Licht, was sie gleichsam von nun an unzugänglich macht, weil der vor- oder unbewusste Zustand in dieser einst dagewesenen Form unmöglich rekonstruiert werden kann. Das Zuhause hat einem nicht wehzutun wie ein Hexenschuss oder ein hohler Zahn. Das Zuhause ist da und man fühlt es nicht. Wenn man es erst fühlt und betastet, wenn man es erst in die Hand nimmt wie eine zerbrechliche Kostbarkeit, die gleich hinfallen kann – die auch vielleicht schon einmal geleimt wurde –, ist es mit dem Zuhause vorbei. Es ist etwas, was man abgenommen bekommt. Wenn man Glück hat, bekommt man es wieder, aber es ist zuviel Erstaunen dabei. (DZP 39–40)

Mit dem besonderen Forschungsblick der vorliegenden Arbeit auf Sprachenkonstellationen, stellt sich nun die Frage, ob und inwiefern man in dieses Konzept eines verlorenen ersten Paradieses in Domins Roman auch auf die Vorstellung von (Mutter-)Sprache bzw. einer Heimat und Rückkehr in die Sprache übertragen kann. Das eben ist das Merkmal des ersten Paradieses, daß man darin natürlich zuhause ist. In seiner Einmaligkeit. Ohne Furcht, ohne Beschämung, beides noch unbekannt, ohne Notwendigkeit zu Verstellung, zu Kleidern und Masken. Arglos. So naiv beheimatet wie jene Italienerin, die sie einmal sagen hörten: „Merkwürdig, alle Menschen sprechen italienisch. Und dann gibt es ein paar, die sprechen andere Sprachen.“ (DZP 101)

185Vgl. dazu den Artikel von Carla Swiderski: Eine Wiese als Heimat in Hilde Domins Das zweite Paradies. In: exilograph 25 (2016): Gespräche über Bäume. Wurzel- und Pflanzenmetaphern in der Exilliteratur. S. 17–18. Swiderski arbeitet darin heraus, dass der Roman tatsächliche und erinnerte Wiesen als alternative Zufluchtsräume, als „Fluchtidyllen“ (DZP 14) der Protagonistin gestaltet. 186„Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen eine Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.“ (Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. München 1994. Bd. 2. S. 338–345, hier: S. 345).

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5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

In diesem Zitat zeigt sich, dass das „naiv[e]“, vorbewusste Zuhause in der Muttersprache, die unreflektiert als ‚natürlich‘ angenommen und nicht hinterfragt wird, insofern analog als gewissermaßen (erster) paradiesischer Sprachzustand betrachtet werden kann. Die mit der Vertreibung und dem Verlust des Paradieses einhergehende Erkenntnis ließe sich in der Folge im Speziellen auf Sprache bezogen als Erkenntnis oder Bewusstwerdung darüber verstehen, dass es auch andere (Mutter-)Sprachen gibt, dass man sich in der ‚eigenen‘ Sprache nicht überall in der gleichen Art und Weise artikulieren kann und sie deshalb zumindest teilweise oder vorübergehend verlassen muss. Nach der territorialen Vertreibung aus dem Sprachraum und dem gesellschaftlichen Ausschluss aus der Sprachgemeinschaft, kommt im Exil notwendigerweise eine Konfrontation mit Fremdsprache(n) hinzu, die das ‚natürliche‘ In-der-Sprache-sein mindestens partiell als Illusion erscheinen lassen muss. Wenngleich der Text diesen Zusammenhang in Bezug auf Sprache nicht so deutlich thematisiert wie er es in Bezug auf Heimat vornimmt, lässt sich schlussfolgern: Ausgehend von den in Das zweite Paradies entwickelten Heimatkonstellationen nach der Rückkehr, wäre dementsprechend auch keine bruchlose Rückkehr zurück in das ‚Paradies‘ der Muttersprache mehr möglich. So, wie sich Vertreibung und Exil in Domins Roman bei der Rückkehr in die einstige Heimat einschreiben und diese umschreiben, so verändert sich auch das Verhältnis zur im ersten paradiesischen Zustand als ‚eigen‘ und ‚natürlich‘ empfundenen (Mutter-) Sprache. In diesem Kontext kann man auch die Kleiderthematik aufrufen, die sowohl in der biblischen Paradies-Erzählung als auch in Domins Roman wiederholt auftaucht. Sie lässt erneut an die oben zitierten Übersetzungsmetaphern (Gewebe/ Kleider wenden) aus den autobiografischen Texten erinnern (vgl. Abschn. 5.2.2). Domins Roman gestaltet in „Traum I“, der als vorletzter der vier Träume im Text angeordnet ist, eine surreale Szenerie, in der die Protagonistin einen Brief von der verstorbenen Mutter erhält und der sie auffordert alles Eigentum, so auch ihre Kleider, abzulegen und aufzugeben. „Als ich meine Kleider auszog, bemerkte ich zum ersten Mal, daß gar nichts mein war. Ich schämte mich, nicht weil ich nichts hatte, sondern weil ich ein fremdes Tuch um mich wickeln mußte und also etwas behielt, das ich hätte zurück geben sollen“ (DZP 150). Diese und ähnliche Textstellen, welche eine Auseinandersetzung mit Fremdheit und Eigenheit aufweisen, im Zusammenhang mit dem Tod der Mutter, der bei Domin insgesamt und auch in Das zweite Paradies ein wichtiges Motiv ist, lässt mich zu der Überlegung kommen, dass eine darin verborgene Reflexion über die vermeintliche ‚Eigenheit‘ und Sicherheit von Muttersprache denkbar ist. Und wir waren fortgefahren aus dem fremden Land, zurück in das Land ihrer Geburt. Mutterland? Die Mütter waren tot. Vaterland? Die Väter waren tot. Niemand wartete zuhause. Wieso zuhause? Auch die Toten warteten nirgends. Das Zuhause ist, wo niemand wartet. Die Fremde ist, wo niemand wartet Das Zuhause sind wir. Wir erwarten uns. Jeden Morgen. Wir wissen es und wir denken es. Mit Hoffnung. Auch mit Angst. Früher haben wir das nicht gewußt. Im ersten Paradies. (DZP 123)

5.5  Brüchige Konstellationen von Heimat und Sprache

233

Das „Mutterland“ – in einem essayistischen Text Domins einmal als „Land meiner Sprache“187 bezeichnet – ist nicht mehr zugänglich, wie es einst verlassen wurde. Aber die Protagonistin in Das zweite Paradies, so arbeitet Reimann heraus, könne dem Exil, „der nichtsdestoweniger leidvollen und verlustreichen Exilerfahrung ein produktives Potenzial ab[]gewinnen.“188 „Jedes Ausgestoßenwerden in Fremde ist Geburt“ (DZP 94), heißt es zum Beispiel im Roman. Dass Domin, ähnlich wie die Protagonistin ihres Romans Das zweite Paradies, der Exilsituation die produktive Kraft einräumt, die Vorstellung einer in sich geschlossenen und mit sich identischen (sprachlichen) Heimat zu hinterfragen, deren Grenzen aufzuzeigen und umzuschreiben.189

Das „innovatorische Potenzial“ in Domins Schreiben sei die „umschreibende[] Auseinandersetzung, Wandlung und Erneuerung – ein Potential, welches Das zweite Paradies nicht zuletzt selbst performativ einzulösen verspricht.“190 Für ihre Argumentation bezieht sich Reimann unter anderem auf Vilém Flusser und seine Überlegungen zum Potenzial des Heimatverlustes (vgl. dazu Abschn. 3.3).191 Domins Roman sei wie Flusser „an der Entmystifizierung von Heimat interessiert. Im Unterscheid zu Flusser sieht sie damit jedoch keineswegs die Konsequenz verbunden, jedwedem geographisch, kulturell oder sprachlich gebundenen Heimatgefühl zu entsagen.“192 Reimann erkennt richtig, dass Flusser noch einen deutlichen Schritt weiter geht als Domins Roman, wenn er anhand der Bodenlosigkeitsmetapher eine Art Erkenntnisgewinn darüber entwickelt, dass Heimat nur eine Illusion ist und aus Geheimnissen besteht. In Domins Roman geht es weniger um eine Absage an jeglicher Heimatkonstruktion, aber es geht auch um eine Erkenntnis. In dem Fall ist es die Erkenntnis, dass Heimat auch dynamisch ist und sich immer wieder verschieben kann. Meines Erachtens lässt sich der Vergleich zwischen Flusser und Domin auch auf sprachliche Konstellationen übertragen. Wenn Flusser die permanente Selbstübersetzung als Schreibund Denkweise etabliert und Übersetzung als Schwebe über Sprachen fruchtbar gemacht hat, unterläuft er damit etwaige muttersprachliche Hierarchien. Bei Domin hingegen bleibt ein (mutter-)sprachlicher Heimatbezug deutlich erhalten. Aber die Sprachheimat muss als etwas Dynamisches betrachtet werden. Durch die Perspektive des Exils – also Aspekte von Mehrsprachigkeit und Übersetzung sowie die Tatsache, dass es sich auch um die Sprache der Verfolger handelte – ist sie zu hinterfragen, was zugleich einen neuen Gestaltungsspielraum eröffnet.

187Domin,

H.: Heimat (s. Anm. 48). S. 14. D.: Heimatumschreibungen einer Remigrantin (s. Anm. 35). S. 160. 189Reimann, D.: Heimatumschreibungen einer Remigrantin (s. Anm. 35). S. 160. 190Reimann, D.: Heimatumschreibungen einer Remigrantin (s. Anm. 35). S. 163. 191Reimann, D.: Heimatumschreibungen einer Remigrantin (s. Anm. 35). S. 161–162. 192Reimann, D.: Heimatumschreibungen einer Remigrantin (s. Anm. 35). S. 162.

188Reimann,

234

5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

5.6 Fazit: Gegen Einengung des Sprachzuhauses – Paradoxale Spannung zwischen Muttersprache und Mehrsprachigkeit „Fremd-Worte / heimisch zu machen“ lauten zwei Verse in Domins Gedicht Drei Arten Gedichte aufzuschreiben193. Darin geht es unter anderem um das an verschiedenen Stellen in Domins Werk auftauchende Wort „Mit-Schmerz“, an welchem sie wiederholt veranschaulicht, dass der Bezug zur ‚eigenen‘ Sprache nicht nur in dem „Glück[,] die eigene Sprache sprechen zu dürfen und sprechen zu hören“, liege, sondern ganz wesentlich in einer nur hier vorhandenen sprachlichen Gestaltungsfreiheit bestehe. Es ist vor allem die Souveränität, die einer im Umgang mit der eigenen Sprache hat. „Mensch / Tier das den Mit-Schmerz kennt“, schreibe ich zum Beispiel. Wäre ich ein Ausländer, jeder könnte kommen und mir sagen: „Mitschmerz gibt es nicht. Das heißt Mitleid bei uns.“ Da ich aber als deutscher Dichter deutsch schreibe, bin ich so frei, ich bilde das Wort, weil es mir geschwisterlicher scheint als Mitleid, das etwas Herablassendes, von oben nach unten, bekommen hat. Die Freude, frei sagen zu können, was ich will, wie ich will, frei atmen zu können und den Sprachduktus in Übereinstimmung mit der eigenen Atemführung zu spüren, das ist eine der Hauptfreuden beim WiederZuhause-Sein, für einen Autor. (LS 40)

Das Sprechen und Schreiben in der ‚eigenen‘ Sprache ist demzufolge essenziell, weil man nur dort die Freiheit habe oder empfinde, die ‚eigene‘ Sprache gleichsam zu verändern, zu transformieren, zu verfremden. Diese Sichtweise zeigt sich auch in Domins kurzem Essay Gegen Einengung des Sprachzuhauses auf dem Verordnungswege194, in welchem sie sich mit der sogenannten „Sprachnormendebatte“ auseinandersetzt. Der Text liest sich als deutliches Plädoyer für eine Gestaltungsfreiheit, eine Offenheit für Veränderungen in der ‚eigenen‘ Sprache. Dies ist eine bei Domin wichtige Positionierung – nicht obwohl, sondern weil sie paradox ist. Das Paradox hat Domin selbst als eines ihrer wichtigsten Mittel bei der lite­ rarischen Gestaltung gesehen.195 Wie sie in ihrer Poetik-Vorlesung Das Paradox als Stilmittel196 (1989) erläutert, habe es folgende Funktion: „Wer zum Paradox greift oder wem es sich sozusagen als Ausweg offeriert, der steht jenseits aller

193Hilde Domin: Drei Arten Gedichte aufzuschreiben. In: Dies.: Sämtliche Gedichte. Hg. von Nikola Herweg und Melanie Reinold. Frankfurt a. M. 2009. S. 156. 194Hilde Domin: Gegen Einengung des Sprachzuhauses auf dem Verordnungswege. Zur „Sprachnormendebatte“ [1980]. In: Dies.: Gesammelte Essays. München 1992. S. 367–369. Erstmals erschien der Text in: „Der öffentliche Sprachgebrauch I“. Hg. von der Akademie für Sprache und Dichtung. Diskussionsbeitrag zur „Normendebatte“. Stuttgart 1980. 195Vgl. Viehöver, V.: Hilde Domin (s. Anm. 26). S. 56. 196Hilde Domin: Das Paradox als Stilmittel. In: Dies.: Gesammelte Essays. München 1992. S. 219–232.

5.6  Paradoxale Spannung zwischen Muttersprache und Mehrsprachigkeit

235

Ideologien, in einem der Tröstung dieser Allheilmitteln baren Raum.“197 Insofern steht das Paradox eines sprachlichen Zuhauses, das nur ein Zuhause sein kann, wenn es nicht unveränderlich feststeht, sondern dynamisch bleibt, jenseits von Muttersprach- oder Einsprachigkeitsideologien. Trotz einer durchaus affektiven Beziehung zur Muttersprache ist eine solche Verortung fern von sprachideologischen Positionen, die sich insbesondere einem sprachlichen Konservatismus verschreiben. In gewisser Weise unterscheidet sich Domins Einstellung damit auch von den Forderungen nach einem ‚anderen Deutschland‘ im Exil, denen zufolge die deutsche Muttersprache zu „bewahren“ sei, also auch vor ‚fremden‘ Einflüssen. Gerade wer sich zwei Jahrzehnte lang als Gast fremder Sprachen, wie jeder Gast, zur genauesten, ja pedantischen Einhaltung der beim Gastgeber gültigen Regeln verpflichtet sah, der kann nur mit Widerwillen an „Sprachempfehlungen“ denken, die Eingriffe in die Texte anderer geradezu fordern, ihm also das Zuhause in der eigenen Sprache von einer selbst ernannten Obrigkeit her beschneiden möchten.198

Dass sich Domin für ihre Argumentation im Folgenden ausgerechnet auf Benjamin beruft, ist äußerst bemerkenswert. Die Art und Weise, wie sie auf ihn referiert lässt sich auch mit Benjamins Übersetzeraufsatz zusammenzubringen, obwohl es hier im Speziellen um einen anderen seiner Texte199 geht: Ausgehend von der Definition Walter Benjamins, „das zutiefst Schöpferische“, sei die Variante, der Widerspruch sein „Vater“, die Nachahmung die „Mutter“ des Schöpferischen, frage ich: Wie kann sich das Schöpferische, diese Kleinstabweichung vom Sprachgebrauch, gegen die Macht der Medien behaupten? […] Wer „Vater Widerspruch“ und „Mutter Norm“ verkoppelt, Benjamin würde sagen „verkuppelt“, der will die Kleinstabweichung gerade wahrnehmbar machen. Das hält Sprache lebendig. Alles Lebendige ist heute ohnehin gefährdet, nicht durch Unter- sondern durch Übernormierung. Man meint zu stutzen, und man wird gestutzt. Auch die Sprache.200

Domin argumentiert hier also für ein dynamisches Sprachverständnis, das dem Übersetzungsdenken Benjamins ähnelt, demzufolge Übersetzungen ein vermeintliches Original fortleben lassen, es also lebendig halten, was nur stattfinden kann, indem sie es auch verändern. Die Analysen von Domins literarischen und essayistischen Texten in diesem Kapitel haben gezeigt, dass die in der Forschung und auch von Domin selbst betonte „Heimat“ in der deutschen Muttersprache in paradoxalen Zusammenhängen mit der Beeinflussung durch andere Sprachen und der Vertreibung aus dem deutschen Sprachraum gesehen werden muss.

197Domin,

H.: Das Paradox als Stilmittel (s. Anm. 196). S. 222. H.: Gegen Einengung des Sprachzuhauses (s. Anm. 194). S. 367. 199Das in Domins Text nicht nachgewiesene Zitat Benjamins stammt aus: Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie [1931]. In: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt a. M. 2003. S. 45–64, hier: S. 62. 198Domin,

200Domin,

H.: Gegen Einengung des Sprachzuhauses (s. Anm. 194). S. 368.

236

5  Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen

Wenn daher alle Dichter das Paradox leben […], so leben die deutschen Dichter jüdischen Schicksals, um sie so zu nennen, in diesem historischen Augenblick, es eben um einige – unwägbare – Grade härter. Mögen die Gutmeinenden uns kein falsches sentimentales Etikett umhängen. Die Stimme wird gehört, weil sie eine deutsche Stimme ist. Wie würde sie sonst die Menschen in diesem Lande erregen. […] Aber wozu bestehe ich eigentlich so darauf, da es doch vorentschieden ist, wie ich sagte, und also der Wille nichts hinzufügen und das Sträuben nichts wegnehmen kann? Nicht das eigene und auch nicht das fremde. Nur durch die physische Ermordung des lebenden Worts, nur durch eine neue Bücherverbrennung ließe sich das so Vereinte trennen. Und selbst dadurch nicht, denn das Wort hat schon gewirkt, fließt schon in anderen Worten weiter.201

Als durchgängiges Gestaltungsmittel bei Domin ist das Paradox auch für die Sprachthematik in ihrem Werk zentral. In Bezug auf Sprachen sind paradoxale Strukturen dahin gehend erkennbar, dass eine starke Verhaftung in und an der Muttersprache besteht und reflektierend betont wird, während zugleich auch deutliche Einflüsse aus anderen Sprachen sowie der Übersetzungsarbeit, die überwiegend an die Exilzeit gebunden sind, ihre Texte und ihr Schreiben beeinflussen. Allerdings war ich Leserin in vielen Sprachen, wie es mein Leben mit sich brachte. Zudem war ich Spracharbeiterin, Übersetzerin aus und in andere Sprachen. Wir mußten im Laufe der Jahre unseren Unterhalt in vier Sprachen verdienen. Das erwies sich, nachträglich, für mich als Vorbereitung auf das Leben als Hilde Domin. Ich war keine Anfängerin, ich hatte mit Worten gearbeitet. Das Gewicht jedes Wortes, seine so verschiedenen, horizontalen wie vertikalen Bedeutungsstrata, die ihm zugewachsenen Assoziationen, sind ja in jeder Sprache verschieden. In einer kann ein Wort neu und überraschend sein, und in der eigenen ist es längst verbraucht. „Weiß wie ein Betttuch“ zum Beispiel. Bei uns ein Klischee. Ins Spanische übersetzt ein „Aha-Effekt“. Wie weit ein Wort reicht, was sich ihm an der Peripherie und in den Tiefenschichten angliedert, das erfährt man nie genauer als beim Arbeiten mit fremden Sprachen. Weswegen es für Dichter, aber auch für Leser, für jeden, der sich mit Literatur beschäftigt, keine bessere Spracherziehung gibt als aufmerksame und kritische Arbeit mit fremden Sprachen. Das kommt dem Umgang mit der eigenen Sprache dann zugute. Man ist zugleich in ihr und doch selbstkritisch.202

Daraus entsteht eine selbstreflexive Dynamik der literarischen Sprache, die für Domins Werk konstitutiv ist. Als Ergebnis der vorliegenden Analyse lässt sich diese Dynamik auf eine mehrsprachige Sichtweise zurückzuführen ist, insofern als die deutsche (Mutter-)Sprache als eine unter vielen erscheint. Domins literarische Texte zeugen an der Textoberfläche nicht im engeren Sinne von einem ausgeprägt mehrsprachigen Schreiben, sondern von einem Schreiben im Bewusstsein anderer Sprachen, das die Perspektive der Übersetzerin und in mehreren Sprachen lebenden Exilantin und Rückkehrerin immer wieder aufscheinen lässt.

201Domin, 202Domin,

H.: Offener Brief an Nelly Sachs (s. Anm. 122). S. 173–174. H.: Das Gedicht als Augenblick von Freiheit (s. Anm. 9). S. 41–42.

6

Mehrsprachige Sprachsatire: Nachahmung gesprochener Fremdsprache und dynamische Kulturenkonstellationen bei Mascha Kaléko

Mascha Kaléko (1907–1975) äußerte sich über das Schreiben in einer anderen Sprache als der Deutschen und über das Übersetzen eigener Texte zeitlebens eher kritisch, obwohl sie fließend Englisch sprach und vieles, vor allem Tagebücher und ihre Korrespondenz, aber auch Werbetexte und einige Gedichte auf Englisch schrieb. In ihrem Text Von der Unübersetzbarkeit lyrischer Dichtung heißt es zu der Frage, warum sie nicht oder kaum auf Englisch dichte, dass es dazu nicht reiche, eine andere Sprache zu beherrschen: Niemandem, der nicht direkten schmerzlichen Kontakt mit diesem Problem erfahren hat, scheint es einzufallen, daß, um in einer Sprache dichten zu können, es nicht genügt, daß man diese Sprache beherrsche, die Sprache muß u n s beherrschen. Uns aber beherrscht nur jene Sprache, in der wir zuerst MUTTER sagten und ICH LIEBE DICH. Die Gefühlsassociationen der Kindheit und ersten Jugend, das Empfindungs- und Geistesgut, die in unserer Muttersprache eingeschlossen sind wie der Nußkern in seiner Schale, sie sind es, die uns in einer neuerworbenen Sprache mangeln. Jeder von uns Emigrierten kennt die Binsenweisheit, daß oft sogar Begriffe fehlen, nicht nur Worte, in einer uns fremden Sprache, weil ja die Mentalität jeder Nation sich im Fehlen oder Vorhandensein bestimmter Begriffe in ihrem Sprachschatz kundtut.1

Diese Aussage liest sich als traditionelles affektiv-emotionales Muttersprachverständnis, welches davon ausgeht, dass Sprachen gewissermaßen ‚natürlich‘ sowohl an die Erfahrungen der Kindheit als auch an die jeweilige Nation untrennbar und scheinbar eindeutig gebunden seien (vgl. Abschn. 4.1). Lexikalische Lücken wie sie beim Vergleichen oder Übersetzen von Sprachen auftauchen, seien ein

1Mascha Kaléko: Von der Unübersetzbarkeit lyrischer Dichtung. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 833–834, hier: 833. Bei diesem Text handelt es sich um ein 1961 entstandenes Typoskript aus Kalékos Nachlass (vgl. Jutta Rosenkranz: Kommentar. In: Mascha Kaléko: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 4: Kommentar. München 2012. S. 415).

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Benteler, Sprache im Exil, Exil-Kulturen 2, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04943-8_6

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6  Mehrsprachige Sprachsatire

offensichtlicher Beweis dafür. Kaléko überträgt ein solches Sprachverständnis in demselben Text auch auf die Übersetzbarkeit bzw. Unübersetzbarkeit lyrischer Texte und benutzt dafür eine geläufige Metapher: Mir kommen die meisten Vers-Übertragungen vor wie ein Brokat auf der linken Seite. Die einzelnen Gold- und Farbfäden sind zwar irgendwo miteingewebt, aber so klar und rein in seiner Farbharmonie wie auf der rechten Seite kann eine linke nicht sein. Und schon gar idiomatische Dichtung wie die von MK.2

Die rechte und linke Seite eines Brokat-Teppichs als Metapher für das Verhältnis von Original und Übersetzung ist hier sehr ähnlich aufgegriffen, wie sie seit dem 17. Jahrhundert in Übersetzungsdiskursen verwendet wurde.3 Zwar ist die Übersetzung aus demselben Material gemacht wie das Original, sodass „Goldund Farbfäden“ auch noch auf der Rückseite durchblitzen. Doch ihre Farben sind nicht mehr „klar und rein“, die „Farbharmonie“ der Vorderseite bzw. des Originals bleibt unerreichbar. Lyrik – darunter insbesondere solche, die wie Kalékos mit idiomatischen Prägungen spielt – ist daher, wie Kaléko meint, die im Zitat in der dritten Person von sich spricht, so gut wie unübersetzbar. Derartige Äußerungen und Einschätzungen zu Mehrsprachigkeit und Übersetzung von der Dichterin selbst,4 in denen solch ein starker Gegensatz von Heimat in der deutschen Sprache bzw. Muttersprache und Fremdheit in der Exilsprache evoziert wird, haben vermutlich dazu beigetragen, dass in der Kaléko-Forschung das Thema Mehrsprachigkeit in ihrem Werk bisher meist nur am Rande erwähnt wird und der Fokus stattdessen eher auf der Verbindung Kalékos zur deutschen Sprache bleibt. Damit wird nicht nur ignoriert, dass Kaléko mehrsprachig aufwuchs und Deutschland bereits als ihr erstes Exil betrachtet werden muss. Die Kalékos Werk häufig nachgesagte insgesamt charakteristische Mischung aus „satirischer Schärfe und leiser Wehmut“5 begegnet in ihren Texten seit dem Exil in den USA zunehmend auch einer Mischung von Sprachen. Das Spiel mit berlinerischem Lokalkolorit und Hochdeutsch war bereits vor ihrer zweiten Exilierung ein Markenzeichen der jungen Dichterin im Berlin der 1930er Jahre. Besonders seit ihrer erneuten Exilierung ist es aber auffällig, dass Kaléko immer wieder auch

2Kaléko,

M.: Von der Unübersetzbarkeit lyrischer Dichtung (s. Anm. 1). S. 833. Babel, R.: Translationsfiktionen (s. Kap. 5, Anm. 116). S. 34–35. 4„In dem Interview, das MK am 9.12.1958 dem RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) gab […], sagte sie dazu: ‚Ich lebe zwar in einer englischen Atmosphäre und spreche englisch beinah so gut wie deutsch heute, aber es ist doch etwas ganz anderes, ob man erst als geformtes Wesen in ein Land gekommen ist und in die Sprache hineingewachsen ist.‘ Am 21.6.1959 versicherte MK dem Journalisten und Autor Egon Lehrburger-Larsen, der 1938 nach England emigrierte: ‚Ich ‚schreibe‘ auch Englisch, aber ‚dichten‘ uff Inglisch, nee. Das soll man den Eingeborenen nicht wegnehmen, was ich in sogenannter ‚Englischer‘ Lyrik Eingewanderter gesehen habe, waren Ausgeburten. […] (Ich habe auch an der Music-Anthology von Vinaver als Editor [Redakteurin] fuer den englisch-sprachigen Text mitgearbeitet, aber das ist ja keine Poesie.)‘“ (Rosenkranz, J.: Kommentar (s. Anm. 1). S. 55). 5Jutta Rosenkranz: Mascha Kaléko [2007]. Biografie. München 2012. S. 7. 3Vgl.

6.1  Stand der Kaléko-Forschung

239

fremdsprachige, vor allem englische Wörter und Wendungen in ihre Gedichte und Prosatexte einbaut. Ausgehend von diesen Beobachtungen ergibt sich die These für die folgende Untersuchung: Die in den oben beispielhaft angeführten Textstellen geäußerte Muttersprachauffassung Kalékos und ihr Verständnis von Übersetzung widerspricht in verschiedener Hinsicht den wesentlich differenzierteren und vielfältigeren Bildern von Sprachen und Kulturen, wie sie in ihren Texten durch spezifisch mehrsprachige und übersetzende Schreibverfahren entstehen. Insofern geht es im vorliegenden Kapitel darum, die Funktionen und Effekte textinterner Mehrsprachigkeit und Übersetzung bei Kaléko erstmals ausführlich zu untersuchen und mithilfe von entsprechenden Termini aus der Mehrsprachigkeitsforschung der Frage nachzugehen, wie ihre Texte Sprach- und Kulturenkonstellationen reflektieren.

6.1 Stand der Kaléko-Forschung Mascha Kaléko6 wurde 1907 im galizischen Chrzanów, damals Österreich-Ungarn, heute Polen, geboren. Chrzanów war zu dieser Zeit ein Ort im Dreiländereck zu Russland und Preußen, „am Verkehrsknotenpunkt zweier Hauptstraßen von Ost nach West und Nord nach Süd“7, wo sich mehrere Sprachen und Kulturen permanent begegneten. Vermutlich lernte und sprach sie bereits als Kind Jiddisch und Deutsch. Für ihre Familie arbeiteten meist Kindermädchen aus Berlin. „So ist Mascha der Berliner Dialekt, neben ihrer Muttersprache Deutsch und dem Jiddischen, von Kindheit an vertraut.“8 Gemeinsam mit ihrer Familie flüchtete sie aus dem jüdischen Stetl im Alter von sieben Jahren nach Deutschland, zunächst Frankfurt am Main und Marburg.9 Nach Ende des Ersten Weltkrieges ließ sich die Familie in Berlin-Mitte, im Scheunenviertel nieder, in dem vor allem sogenannte „Ostjuden“ lebten. Nach dem

6Ohne den Anspruch einer vollständigen Darstellung biografischer Zusammenhänge, werden hier lediglich Kalékos zentrale Lebens- und Exilstationen nachgezeichnet und jene Aspekte erwähnt, die für ihre ‚Sprachbiografie‘ eine Rolle gespielt haben. Für eine ausführliche, gründlich recherchierte und die derzeit aktuellste Biografie, siehe Rosenkranz, J.: Mascha Kaléko (s. Anm. 5). 7Karina von Tippelskirch: Mimikry als Erfolgsrezept. Mascha Kalékos Exil im Exil. In: Helga Schreckenberger (Hg.): Ästhetiken des Exils. Amsterdam/New York 2003. S. 157–171, hier: S. 162. 8Rosenkranz, J.: Mascha Kaléko (s. Anm. 5). Rosenkranz bezieht sich hier auf Interview von Joachim Fischer mit Mascha Kaléko am 09.10.1973 in Jerusalem. 9Gründe für dieses erste Exil waren zum einen die Angst vor möglichen Pogromen gegen Juden, zum anderen die Tatsache, dass Kalékos Vater, Fischel Engel, russischer Staatsbürger war, während ihre Mutter, Chaja Reisel Aufen, einen österreichischen Pass besaß. Die Befürchtung lag daher nahe, dass der Vater mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 für den russischen Kriegsdienst eingezogen worden wäre. (Vgl. Tippelskirch, v.K.: Mimikry als Erfolgsrezept (s. Anm. 7). S. 162–163).

240

6  Mehrsprachige Sprachsatire

­ chulabschluss machte Kaléko eine Ausbildung als Bürokraft beim „ArbeiterS fürsorgeamt der jüdischen Organisationen Deutschlands“ und besuchte am Abend als Gasthörerin Vorlesungen in Philosophie und Psychologie. Kaléko, die mittlerweile mit dem Hebraisten Saul Kaléko verheiratet war, bewegte sich in der künstlerischen-literarischen Szene Berlins, z. B. im berühmten „Romanischen Café“, und begann in dieser Zeit auch selbst zu schreiben. Im Laufe der nächsten Jahre entwickelte sie sich zu einer bekannten Schriftstellerin, bevor sie dann zum zweiten Mal ins Exil gehen musste. Im Gegensatz zu Hilde Domin (vgl. Kap. 5) und Werner Lansburgh (vgl. Kap. 7), die beide erst im Exil bzw. ganz kurz davor begonnen haben schriftstellerisch tätig zu sein, hatte sich Kaléko bereits als Schriftstellerin etabliert, bevor sie aus NS-Deutschland fliehen musste. Insofern kam für sie im Zuge der Vertreibung aus dem Sprachraum neben dem Verlust der Publikationsmöglichkeiten auch der Verlust einer bis dato gewonnen Leserschaft hinzu. Seit 1929 hatte sie immer regelmäßiger Gedichte in Zeitungen platziert, darunter u. a. Der Querschnitt, Vossische Zeitung, Berliner Tageblatt und Welt am Montag. Ihr erfolgreicher erster Gedicht- und Erzählband Das lyrische Stenogrammheft10 erschien 1933, die zweite Gedichtsammlung Kleines Lesebuch für Große11 1935. Im gleichen Jahr erhielt Kaléko aufgrund ihrer jüdischen Herkunft Publikationsverbot durch die Nationalsozialist*innen und konnte von nun an nur noch in jüdischen Zeitschriften publizieren. Darunter befindet sich der zuerst in der Jüdischen Rundschau publizierte Text Schiff der Jugend, welchen Kaléko vermutlich während ihrer Palästina-Reise im Frühjahr 1935 schrieb. Auffällig mehrsprachig geht es darin um die Überfahrt nach und die Ankunft in Palästina. „We shall have a fine weather to-day, Captain?“ „Il fait très beau aujourd’hui, n’est-ce pas?“ „Hajom jafe m’od, chawerim!“ „– Det Wetter, Mensch! Einfach knorke“ Pack deinen dicken Sprachführer in den Koffer zurück, Bildungsbeflissener. So viele Sprachen kannst du in den paar Tagen nicht lernen. Das schwirrt nur so: Deutsch und Englisch, Polnisch und Französisch, Tschechisch und Ungarisch, Jiddisch und Hebräisch, gut gemischt mit dem Italienisch der Triester Schiffsmanschaft. – Die Rettung aus diesem babylonischen Sprachgewirr heißt: Hebräisch. Aber im Iwrith-Kurs habt ihr gerade erst die zweite Konjugation „gehabt“, leider. Und wenn die aus Kowno und Warschau ganz selbstverständlich ihr fließendes Hebräisch sprechen, bleibt euch nichts anderes, als neidvoll aufzuhorchen und – zunächst einmal – klug zu schweigen.12

10Mascha

Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft. Berlin 1933. Kaléko: Kleines Lesebuch für Große. Berlin 1935. 12Mascha Kaléko: Schiff der Jugend. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. München 2012. Bd. I: Werke. S. 402–409, hier: S. 403. Erstdruck: Jüdische Rundschau 31 (20.04.1937) unter dem Titel „Unterwegs.“ 11Mascha

6.1  Stand der Kaléko-Forschung

241

In der Jüdischen Rundschau veröffentlichte Kaléko weiterhin auch Übersetzungen von hebräischen Gedichten und Kindergeschichten.13 1938 sah Kaléko sich gezwungen, mit ihrem zweiten Ehemann, dem Komponisten, Dirigenten und Musikwissenschaftler Chemjo Vinaver und dem gemeinsamen Sohn Evjatar, genannt Steven, vor der nationalsozialistischen Verfolgung aus Deutschland zu fliehen. Sie entschieden sich für eine Emigration nach New York, wo sie abgesehen von einem einjährigen Aufenthalt in Hollywood bis 1959 lebten, zuerst nahe des Central Parks, später im Künstlerviertel Greenwich Village. Kaléko lernte die englische Sprache schnell, dolmetschte und übersetzte für ihren Mann, schrieb überwiegend jedoch weiter auf Deutsch. Einige Gedichte und kürzere Prosatexte konnte sie in der deutschsprachigen Exilzeitschrift Aufbau14 unterbringen, hatte darüber hinaus aber kaum Möglichkeiten zur Publikation. Im amerikanischen Exil verfasste sie des Weiteren englische Werbetexte und schrieb auch einige Gedichte auf Englisch, die jedoch unveröffentlicht blieben. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sie wieder veröffentlichen. 1945 erschien der Band Verse für Zeitgenossen15, der sich thematisch mit den Erfahrungen des Exils auseinandersetzt, als eine der wenigen deutschsprachigen Exilpublikationen in den USA. In der Nachkriegszeit war Kaléko unter anderem aus beruflichen Gründen wie Lesereisen wiederholt in Deutschland. Aber sie kehrte nie wieder dauerhaft in das Land zurück, aus dem sie 1938 vertrieben worden war. Sie emigrierte mit ihrem Mann 1959 nach Jerusalem. 1975 starb sie in Zürich. Kurz vor ihrem Tod betraute sie Gisela Zoch-Westphal mit der Verwaltung ihres literarischen Nachlasses. Diese gab posthum einige weitere, neu arrangierte Gedichtbände heraus, zum Teil mit zuvor unveröffentlichten Gedichten. Der Nachlass befindet sich heute im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Seit 2012 liegt die kommentierte Mascha-Kaléko-Gesamtausgabe Sämtliche Werke und Briefe16 vor, die erstmals alle im Nachlass befindlichen Texte und Entwürfe Kalékos enthält und auf die auch für die vorliegende Untersuchung zugegriffen wurde. In der literaturwissenschaftlichen Forschung wurde etwa seit den 1980er Jahren allmählich begonnen, sich mit Mascha Kaléko und ihrem Werk zu beschäftigen, das daraufhin insbesondere seit der Jahrtausendwende mehr Aufmerksamkeit

13Vgl.

Rosenkranz, J.: Mascha Kaléko (s. Anm. 5). S. 59. Aufbau ist eine deutsch-jüdische Zeitschrift, die 1934 in New York gegründet wurde, wo sie bis 2004 auch ihren Hauptsitz hatte. Alle bis 1950 erschienenen Ausgaben sind online verfügbar unter: https://archive.org/details/aufbau (12.04.2019). Neben den im Aufbau enthaltenen Themen und Informationen für jüdische und deutschsprachige Exilant*innen, war die Zeitschrift auch ein wichtiges kulturelles Forum und Sprachrohr für exilierte deutschsprachige Schriftsteller*innen, die in den USA kaum Möglichkeiten zur Publikation hatten. 15Mascha Kaléko: Verse für Zeitgenossen. Cambridge/Massachusetts 1945. 16Mascha Kaléko: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. und komm. von Jutta Rosenkranz. München 2012. 14Der

242

6  Mehrsprachige Sprachsatire

erfährt.17 Bislang liegen zwei Monografien18, ein Sammelband19 sowie eine Reihe von Forschungsbeiträgen vor. Lediglich die prägnantesten Forschungsthemen und -debatten sollen hier in ihrer Entwicklung knapp skizziert werden.

6.1.1 Zentrale Forschungsthemen Kalékos Stil, besonders derjenige ihrer frühen Texte und Gedichte, wird der literarischen Strömung der Neuen Sachlichkeit zugeordnet.20 Ihre Lyrik, so die breite Forschungsmeinung, habe sich seit dem Exil aber verändert, insofern als daß Kalékos frühere Motive des kleinen, unschuldigen Glücks ihr durch die Zeitläufe gründlich abhanden gekommen waren und die alte lockere Tonart, leichtgewichtige, spielerische Tonart, die sie so perfekt beherrscht hatte, unmöglich geworden war.21

17Das

spät aufkommende Interesse steht auch damit im Zusammenhang, dass Kalékos Gedichte lange als „Gebrauchslyrik“ abgetan wurden. 1998 schreibt Beate Schmeichel-Falkenberg dazu: „Die Germanistik hat die Lyrikerin Mascha Kaléko bisher weitgehend ignoriert, wie sie ja auch mit Geistesverwandten wie Tucholsky, Ringelnatz oder Kästner ihre Schwierigkeiten hat. Die Urteile: Zu leichtgewichtig, humorvoll, nicht seriös, Gebrauchslyrik – dies übrigens eine Tucholskysche Wortschöpfung und keineswegs pejorativ gemeint – und die unselige Trennung zwischen E- und U-Literatur, die ja nunmehr langsam in Deutschland verschwindet, standen bisher einer angemessenen Beurteilung der Kalékoschen Lyrik im Wege.“ (Beate Schmeichel-Falkenberg: „Hoere, Teutschland“. Mascha Kalékos Verse aus dem Exil. In: Jörg Thunecke (Hg.): Deutschsprachige Exillyrik von 1933 bis zur Nachkriegszeit. Amsterdam/ Atlanta 1998. S. 199–215, hier: S. 214). 181. Astrid Wellershoff: Vertreibung aus dem „Kleinen Glück“. Das lyrische Werk der Mascha Kaléko. Aachen 1982. Diese Dissertation ist die erste ausführliche wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Mascha Kaléko. Wellershoff hat damit einen Grundstein für die Kaléko-Forschung gelegt, da viele nachfolgende Arbeiten auch Jahrzehnte später sich noch auf sie stützen. Kritisiert wird die Arbeit aus heutiger Perspektive dafür, dass sie das mittlere und späte Werk Kalékos abwerte (vgl. Hans-Jürgen Schrader: „…einst ein schönes Vaterland“. Mascha Kalékos Poesie von Exil zu Exil. In: Paula Giersch, Florian Krobb und Franziska Schößler (Hg.): Galizien im Diskurs. Inklusion, Exklusion, Repräsentation. Frankfurt a. M. 2012. S. 261–294, hier: S. 263). 2. Andreas Nolte: „Mir ist zuweilen so als ob das Herz in mir zerbrach“: Leben und Werk Mascha Kalékos im Spiegel ihrer sprichwörtlichen Dichtung. Bern 2003. Noltes Dissertation richtet sich mit parömiologischem Interesse darauf, die Bedeutung von Sprichwörtern und Redensarten in der Lyrik Kalékos herauszuarbeiten. Schwierig an dieser Arbeit erscheint mir wie Schrader, dass sie zum Teil „auf die (unkritisch im historischen Umfeld recht ahnungslos reproduzierte) Biographie kurzschließ[t]“ (Schrader, H.-J.: „… einst ein schönes Vaterland“. S. 263). 19Andreas Nolte (Hg.): „Ich stimme für Minetta Street“: Festschrift aus Anlass des 100. Geburtstags von Mascha Kaléko. Burlington 2007. 20Vgl. z. B. Ruth Fruchtman: Mascha Kaléko. In: Britta Jürgs (Hg.): Leider hab ichʼs Fliegen ganz verlernt. Portraits von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen der Neuen Sachlichkeit. Grambin/Berlin 2000. S. 140–161. 21Schmeichel-Falkenberg, B.: „Hoere, Teutschland“ (s. Anm. 17). S. 208.

6.1  Stand der Kaléko-Forschung

243

Im Zusammenhang des in Kalékos späteren Texten melancholischeren Tons findet in der Forschung auch eine Debatte um die Bedeutung des Judentums für ihre Literatur statt. In einer großen Anzahl von zum Teil auch aufeinander aufbauenden Forschungsbeiträgen wird dargestellt, dass die Dichterin erst im Exil begonnen habe, sich mit jüdischen Themen zu beschäftigen, nachdem ihre deutsche bzw. berlinerische Identität ins Wanken geraten sei.22 Dagegen argumentieren Beiträge, die Kalékos bewusstes Zurückhalten von Informationen über ihre ostjüdische Herkunft auch als Reaktion auf antijüdische Ressentiments der Gesellschaft in der Weimarer Republik und als publikumsorientierte Selbstinszenierung als ‚waschechte Berlinerin‘ sehen. „Das Eintrittsbillet in die literarische Welt der Weimarer Republik verschaffte ihr die Wahlidentität der ‚typischen Berlinerin‘.“23 Daher sei Kalékos deutlichere Hinwendung zu jüdischen Themen im Exil eher als Rückkehr denn als völlig neu entstandene Identifikation zu lesen.24 Damit einhergehend gerät in der neueren Forschung die Bedeutung und Position von Kalékos erstem Exil für ihr Werk stärker ins Forschungsinteresse, was auch zu einer Kritik an der bisherigen Berlin- und Deutschland-Zentrierung führt, wie sie vor allem in den biografischen Arbeiten sowie älteren Beiträgen zu Kaléko stark ausgeprägt ist.25 Insgesamt fallen in der Kaléko-Forschung die überwiegend autororientierten Herangehensweisen26 und Zuschreibungen kultureller und sprachlicher Identität auf, welche selbst ein Teil des ‚Mythos‘ um Kaléko sind und diesen somit fortschreiben. Erst durch einige neuere Beiträge wird dies zu Recht auch kritisch reflektiert und infrage gestellt.27 Indem ich den Blick auf literarische Textphänomene und Schreibverfahren richte, möchte ich mich davon ebenfalls dis-

22Vgl. u. a. Wellershoff, I.: Vertreibung aus dem „Keinen Glück“ (s. Anm. 18). S. 149–149; Sigrid Bauschinger: Mascha Kaléko. In: John M. Spalek und Joseph Strelka (Hg.): Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. 2. Bern 1989. S. 410–420, hier: S. 418. Wellershoff und Bauschinger argumentieren, dass es vor dem Exil keinerlei Indizien in Kalékos Texten für ihre Religion und die ostjüdische Herkunft gegeben habe, weil diese für sie zuvor keine Rolle gespielt habe, da sie sich stattdessen als Deutsche bzw. Berlinerin verstand. 23Tippelskirch, v.K.: Mimikry als Erfolgsrezept (s. Anm. 7). S. 167. 24Vgl. Tippelskirch, v.K.: Mimikry als Erfolgsrezept (s. Anm. 7). S. 171. 25„Die noch immer wenigen umfassenden Biographien und monographischen Arbeiten haben an diesen Deutschland-, Berlin- und allemal Europa-zentrierten Stereotypen und massiven Ungleichgewichtigkeiten der Beleuchtung durchweg, wenngleich in unterschiedlicher Weise, teil.“ (Schrader, H.-J.: „… eins ein schönes Vaterland“ (s. Anm. 18). S. 262–263). 26„Ganz sicher stimmt für ihr Werk der in der Forschung oft betonte Sachverhalt, dass wider alle Germanistenregeln diese Poesie auch noch im Fiktionalen und selbst in den häufigen Rollenkonstruktionen ungewöhnlich unverstellt von Ich-Erfahrungen der Autorin spricht. Von den in ihren Gedichten natürlich nicht Eins zu Eins gespiegelten Stationen ihrer Biografie und von Kundgaben des autobiografphischen Erlebens und Empfindens muss deshalb zu deren Tiefenverständnis mehr die Rede sein als das sonst den Grundsätzen der Zunft entspricht […].“ (Schrader, H.-J.: „… einst ein schönes Vaterland“ (s. Anm. 18). S. 264). 27Vgl. z. B. Carla Swiderski: Zwischen zwei Kriegen und dann Exil. Strategien der Selbstinszenierung bei Mascha Kaléko. In: Exil. Forschung, Erkenntnisse, Ergebnisse 30 (2010). S. 52–62.

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6  Mehrsprachige Sprachsatire

tanzieren. Aus diesem Grund werden, wie im vorangehenden Kapitel zu Domin, auch keine persönlich-privaten Schriftstücke wie Briefe oder Tagebücher für die Analyse herangezogen.28 Anschließend an diese allgemeine Themenübersicht der Kaléko-Forschung wird nun der bisherige Stand der Forschungsergebnisse und -ansätze dargestellt, die sich explizit mit dem Thema Mehrsprachigkeit beschäftigen, um damit als Basis für die anschließenden Textanalysen zu textinterner Mehrsprachigkeit zu dienen.

6.1.2 Bisherige Forschungsansätze und -positionen zum Thema Mehrsprachigkeit F.C. Weiskopf erwähnt Kaléko 1948 in seiner Abhandlung Unter fremden Himmeln in dem sehr knappen, nur fünf Seiten umfassenden Kapitel zum Thema „Sprache im Exil“.29 Über die deutschsprachigen, aus NS-Deutschland ins Exil geflohenen Schriftsteller*innen heißt es hier: „Sie ‚bewahrten das Wort‘, und doch blieb ihre Sprache nicht die gleiche. Wie ihnen selbst, so wurde auch ihr vom Exil der Stempel aufgedrückt.“30 Was in der Metapher des aufgedrückten Stempels als gewaltsam und vorgeprägt mitschwingt, beschreibt Weiskopf im Folgenden eher wertfrei als Prozesse von Veränderung und Erneuerung der Sprache durch die Konfrontation mit Fremdsprachen im Exil. Die Zeit zwischen 1933 und 1947 war besonders reich an heftigen und tiefgehenden Veränderungen auf allen Gebieten des Lebens. Jede dieser Veränderungen veränderte auch die Sprache. Neue Erscheinungen verlangten nach neuem sprachlichem Ausdruck; neue Situationen prägten neue Worte. Der exilierte Schriftsteller begegnete dem neuen Wort zunächst im fremden Idiom und lernte es in der Muttersprache erst später, manchmal überhaupt nicht kennen.31

Kaléko ist eine von mehreren in diesem Kapitel beispielhaft genannten Exilschriftsteller*innen, anhand derer er eine Entwicklung fremdsprachiger Einflüsse in deutschsprachigen literarischen Texten des Exils veranschaulicht. „In den

28Rosenkranz, die sämtliche Werke und Briefe Kalékos herausgegeben hat, beschreibt die Mehrsprachigkeit in Tagebüchern und Briefen bei Kaléko folgendermaßen: „Auch im Tagebuch, das MK zwischen 1938 und 1944 führte, zeigte sich der neue sprachliche Einfluss. Waren die ersten Eintragungen noch auf Deutsch, aber in hebräischer Schrift geschrieben, so tauchten in MKs New Yorker Notizen, die sie in deutscher Sprache schrieb immer öfter amerikanische Wörter oder Sätze auf. Besonders deutlich wird dieser Wechsel zwischen den Sprachen und Dialekten in MKs Briefen, in denen sie auch berlinerische, hebräische und jiddische Ausdrücke verwendete.“ (Rosenkranz, J.: Kommentar (s. Anm. 1). S. 54). 29Franz Carl Weiskopf: Unter fremden Himmeln. Ein Abriß der deutschen Literatur im Exil 1933–1947 [1948]. Berlin/Weimar 1981, hier: S. 47–51. 30Weiskopf, F. C.: Unter fremden Himmeln (s. Anm. 29). S. 48. 31Weiskopf, F. C.: Unter fremden Himmeln (s. Anm. 29). S. 48.

6.1  Stand der Kaléko-Forschung

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verschiedensten Formen geht diese Erscheinung vor sich: dieses Abfärben der fremden Sprache, dieses Einsickern, Eindringen, Zur-Nachahmung anregen.“32 Wenngleich Weiskopf Kalékos Werk über eine kurze Bemerkung zum Gedicht Emigranten-Monolog33 hinaus nicht weiter bespricht, sein Beitrag nun fast 70 Jahre zurückliegt und seitdem in durchaus beträchtlichem Umfang zu Kaléko geforscht wurde, erscheint mir seine Perspektive aus heutiger Sicht sogar durchaus aktuell. Die oben zitierten Einschätzungen und Beobachtungen zur allgemeinen Thematik mehrsprachiger Einflüsse in deutschsprachigen Texten des Exils seit 1933 und das Anführen Kalékos als exemplarisch für dieses Phänomen zeugen zudem für die Notwendigkeit einer bislang ausgebliebenen umfassenden literaturwissenschaftlichen Analyse ihrer Texte hinsichtlich der Formen und Funktionen von Mehrsprachigkeit. Ein Großteil der bisherigen Forschungsbeiträge, darunter vor allem die explizit oder implizit biografisch motivierten Untersuchungen, hat sich gar nicht oder kaum mit Formen von Mehrsprachigkeit in Kalékos literarischen Texten befasst und, falls doch, diese nur beiläufig erwähnt und damit in die Peripherie ihres literarischen Schaffens verbannt. So sei, schreibt Zoch-Westphal, „die deutsche Sprache das Element ihrer schöpferischen Tätigkeit. Sie lernt zwar schnell und gut Englisch; verdient sogar Geld mit englischen Texten. Doch Dichtung entsteht nur in der Muttersprache, die tiefere Quellen hat.“34 Auch Astrid Wellershoff zufolge blieben die wenigen englischen Gedichte Kalékos lediglich „Versuche, vielleicht weil sich kein Verleger fand und so der Anreiz zum weiteren Experimentieren fehlte, vor allem aber, weil Englisch für Kaléko eine Fremdsprache blieb.“35 Aber sie registriert immerhin die mehrsprachigen Sprachspiele in einigen der deutschsprachigen Gedichte als „kreative Lösung für ihr dichterisches Sprachproblem im Exil“36. Da dies, so Wellershoff, aber nur ihre satirischen Exil-Gedichte betreffe, schützten die mehrsprachigen Mittel „Kaléko nicht auf die Dauer vor der Verkümmerung der Sprache, die isoliert von der Sprachentwicklung im Mutterland ist.“37 Beate Schmeichel-Falkenberg, die sich unter anderem mit dem einzigen von Kaléko auf Englisch erschienenen Gedicht Hear, Germany und dessen später erschienener und veränderter deutscher Fassung Hoere, Teutschland auseinandersetzt, betont ebenfalls das sprachliche ‚Abgeschnitten‘-Sein der Dichterin im Exil.

32Weiskopf,

F. C.: Unter fremden Himmeln (s. Anm. 29). S. 49. Kaléko: Emigranten-Monolog [1945]. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 1: Werke. S. 186. 34Gisela Zoch-Westphal: Aus den sechs Leben der Mascha Kaléko. Biographische Skizzen, ein Tagebuch und Briefe mit 62 Fotos und Zeichnungen sowie 19 Dokumenten. Berlin 1987. S. 78. 35Wellershoff, I.: Vertreibung aus dem „Kleinen Glück“ (s. Anm. 18). S. 148. 36Wellershoff, I.: Vertreibung aus dem „Kleinen Glück“ (s. Anm. 18). S. 165. 37Wellershoff, I.: Vertreibung aus dem „Kleinen Glück“ (s. Anm. 18). S. 166. 33Mascha

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6  Mehrsprachige Sprachsatire

Als galizische Jüdin war ihr Leben schon vor Hitler von Entwurzelung und Flucht gekennzeichnet. Berlin wurde ihr zum freudig gewählten neuen Platz im Leben. Daher mußte gerade jemand wie sie es als Katastrophe empfinden, von den Nazis aus der Wahlheimat, der sie sich mit Feuereifer in Assimilation und Akkomodation verbunden hatte, vertrieben zu werden, und ebenso abgeschnitten zu sein von der deutschen Sprache, mit der sie so innig verbunden war und die sie so glänzend beherrschte.38

Im Experimentieren mit mehreren Sprachen deute sich zwar „ein neuer Ansatz an, ein Versuch, mit den altbewährten Mitteln der Wortspiele, Verdrehungen, Mundartund Fremdwörter einbeziehend eine neue Art parodistischer Verse zu schreiben.“39 Der erahnte „neue“ mehrsprachige Ansatz, so Schmeichel-Falkenberg, habe sich jedoch nicht weiter verfolgen lassen.40 Tanja Lange geht in ihrem Aufsatz unter dem Titel Kulturkonflikte (über)leben41 der Frage nach, wie Kaléko in ihrem Umgang mit Sprache und Literatur auf Grenzräume und Kulturkonflikte reagierte. Sie richtet ihren Blick auf Kalékos Lebensweg von der Integration in den deutschsprachigen Kulturbereich bis hin zu ihrem Exil in den USA einerseits sowie auf die Verhandlungen dieser Exil-Erfahrungen in ihrer Lyrik andererseits. Zwar eigne Kaléko sich in den USA Englisch als Alltagssprache an, halte jedoch ansonsten an der deutschen Sprache fest. Auch versucht Mascha Kaléko, literarische Texte in Englisch zu veröffentlichen, doch hat sie damit – wie andere exilierte Autoren – keinen Erfolg. Als Schriftstellerin bleibt sie bei der deutschen Sprache; in diesem Bereich bewahrt sie ihre europäisch-deutsche Identität.42

Lange ordnet nicht nur Kaléko, sondern sogar ihre Familie, d. h. ihren zweiten Ehemann Chemjo Vinaver und den gemeinsamen Sohn Steven Vinaver, in einem Modell von sprachlichen Akkulturationstypen nach Ann-Marie E. Staubles Modell (1980) ein. Demzufolge diagnostiziert Lange Kaléko im Unterschied zu ihren Familienmitgliedern einen nicht eindeutigen Akkulturationsstatus: Trotz maximaler sprachlicher Entwicklung, habe eine vollständige soziale und psychische Assimilation nicht stattgefunden, sondern es könne eine „mehrfach gebrochene soziale, psychische und kulturelle Integration der Autorin in die nordamerikanische Gesellschaft“43 festgestellt werden. Die Lyrik Kalékos liest Lange vor diesem Hintergrund als kritische Reflexion von Kultur- und Sprachaneignungen der Exilantin und als „Ort der subjektiven Auseinandersetzung mit der ‚neuen Heimat‘ USA.“44 Langes Beitrag, der seine Ergebnisse stark an der

38Schmeichel-Falkenberg,

B.: „Hoere, Teutschland“ (s. Anm. 17). S. 199. B.: „Hoere, Teutschland“ (s. Anm. 17). S. 210. 40Vgl. Schmeichel-Falkenberg, B.: „Hoere, Teutschland“ (s. Anm. 17). S. 210. 41Tanja Lange: Kulturkonflikte (über)leben. Die sprachlichen und literarischen Strategien der jüdisch-deutschen Schriftstellerin Mascha Kaléko. In: Tanja Lange, Jörg Schönert und Peter Varga (Hg.): Literatur in Grenzräumen. Frankfurt a. M. 2002. S. 111–123. 42Lange, T.: Kulturkonflikte (über)leben (s. Anm. 41). S. 114. 43Lange, T.: Kulturkonflikte (über)leben (s. Anm. 41). S. 115. 44Lange, T.: Kulturkonflikte (über)leben (s. Anm. 41). S. 115. 39Schmeichel-Falkenberg,

6.1  Stand der Kaléko-Forschung

247

Autorinnenbiografie orientiert bzw. daraufhin Rückschlüsse anstellt, bleibt der Frage nach kultureller Identität der Autorin verhaftet, was dazu führt, dass auch die besprochenen Gedichte zum Teil unreflektiert als Zeugnis kultureller Identität gelesen werden. Es erscheint mir etwa äußerst schwierig, davon zu sprechen, dass Kaléko stets eine „europäisch-deutsche Identität“ bewahrt habe. Der Beitrag eröffnet jedoch einen interessanten und im Folgenden zu überprüfenden Ansatz, indem er Kalékos literarische Mischsprache mit Kreol- und Pidgin-Sprachen in Verbindung bringt. Auch Nevana Hadjievas Beitrag Interkulturalität in „Lower Eastside“ und „Greenwich Village“ von Mascha Kaléko?45 orientiert sich an der Identitätsproblematik der Autorin als Person und kommt sogar zu der Feststellung, ihr sei im Zuge der Exilierung die „alte Identität als Deutsche aberkannt und die jüdische aufgezwungen“46 worden. Dementsprechend stellt sie „Kultur- und Exilprobleme“47 in Kalékos Texten Lower Eastside und Greenwich Village auf mindestens zwei Ebenen, d. h. auf der sprachlichen und der inhaltlichen Ebene, fest. Der zum Teil durchaus vielversprechende Ansatz, Mehrsprachigkeit bei Kaléko systematisieren und analysieren zu wollen, verliert sich bei Hadjieva jedoch in der sehr zweifelhaften Interpretation, dass bei Kaléko „eine traditionelle Kulturauffassung zum Ausdruck kommt, wie sie schon Herder formuliert hat“48, im Sinne von Kulturen als gänzlich voneinander abgetrennten Inseln. Ein solches Ergebnis erscheint mir äußerst schwer haltbar, wie in den Abschn. 6.3.3 und 6.3.4 genau herausgearbeitet wird. Meine These, die es im Folgenden zu prüfen gilt und die im Gegensatz zu Hadjevas Schlussfolgerung steht, ist, dass Kalékos Texte ein solches Kulturkonzept grundsätzlich infrage stellen, indem sie es als von vornherein illusionär entlarven und in ihrem mehrsprachigen Spiel mit Stereotypen und Kulturklischees teilweise auch unterlaufen. Das heißt andersherum nicht, dass den Texten eine zwangsweise auf Transkulturalität ausgerichtete Lesart aufgezwungen werden soll. Dennoch möchte ich mich hier bewusst davon lösen, Kalékos Texte, wie beispielsweise Lange, im Sinne einer zwischen den Kulturen verlorenen Identität der Autorin zu lesen, die vereinsamt und getrennt von ihrer Muttersprache an der Fremdsprache scheitert, weil ich denke, dass ein solcher Befund den literaturwissenschaftlichen

45Nevana

Hadjieva: Interkulturalität in „Lower Easide“ und „Greenwich Village“ von Mascha Kaléko? In: Maja Razbojnikova-Frateva und Hans-Gerd Winter (Hg.): Interkulturalität und Nationalkultur in der deutschsprachigen Literatur. Dresden 2006. S. 261–270. 46Hadjieva, N.: Interkulturalität in „Lower Easide“ und „Greenwich Village“ (s. Anm. 45). S. 263. Sie orientiert sich hier an Wellershoff (1982) in der Hinsicht, dass Kaléko eher eine Identifikation mit Deutschland und dem Berlin der Weimarer Republik anstrebte als mit dem Judentum, und ignoriert Forschungsbeiträge (u. a. Karina von Tippelskirch), die diesen Mythos der Kaléko-Forschung plausibel und stichhaltig widerlegt haben. 47Hadjieva, N.: Interkulturalität in „Lower Easide“ und „Greenwich Village“ (s. Anm. 45). S. 263. 48Hadjieva, N.: Interkulturalität in „Lower Easide“ und „Greenwich Village“ (s. Anm. 45). S. 266.

248

6  Mehrsprachige Sprachsatire

Zugang zu ihren vielseitigen und mehrsprachigen Texten verstellt, ohne wirklich textbasierte Ergebnisse hervorgebracht zu haben. Stattdessen schließe ich mich für die folgende Analyse von Kalékos mehrsprachigen Schreibverfahren im Exil einer Perspektive auf die Texte an, wie sie Hans-Jürgen Schrader formuliert hat: Ich lese Mascha Kalékos faszinierende und in ihrer Bedeutung für die Dichtungsgeschichte des 20. Jahrhunderts vollends erst noch zu entdecken bleibende Poesie vielmehr von Beginn an als Ausdruck der Zerrissenheiten einer lebenslang gestaffelten Exilerfahrung, in der die Empfindung des Aufgehoben- und Zuhauseseins, die Sehnsucht auch nach einen bruchlosen Dazugehören nicht nur süße Illusion bleibt, sondern als illusionär fortwährend erkannt und reflektiert wird.49

Die in Bezug auf Sprachkonstellationen im Exil zu besprechenden Texte versammeln sich im Folgenden in drei Abschnitten: 1) Gedichte, die durch die Verwendung mehrerer Sprachen den Umgang von Exilant*innen mit Fremdsprache(n) im Exil verhandeln (Abschn. 6.2). 2) Porträts des Exillandes Amerika, vor allem New York, und seiner Sprache, die mit der Diskussion von Heimatkonzepten und Begegnungen von Kulturen einhergehen (Abschn. 6.3). 3) Zuletzt richtet sich der Blick auf den in punkto Mehrsprachigkeit wohl experimentellsten Text Kalékos: Wendriner in Manhattan… (Abschn. 6.4).

6.2 Lyrische Experimente zwischen Sprachen Von Interesse für eine Analyse von Mehrsprachigkeit in Kalékos lyrischen ­Texten sind in erster Linie Gedichte aus ihrem Gedichtband Verse für Zeitgenossen, der in seiner ersten Fassung 194550, im Schoenhof Verlag51 in den USA publiziert wurde. Das Buch gehörte „zu den wenigen deutschsprachigen Lyrikbänden mit Exilgedichten, die in den USA veröffentlicht wurden.“52 Als entspräche es der Jahreszahl, enthält der Gedichtband 45 Gedichte. In deutlich neuer Zusammenstellung und Erweiterung der Gedichte erschien 1958 eine Neuausgabe53 der Verse für Zeitgenossen im Rowohlt Verlag. Für die Neuausgabe wurden nur 21 Gedichte aus der amerikanischen Erstausgabe übernommen54

49Schrader,

H.-J.: „… einst ein schönes Vaterland“ (s. Anm. 18). S. 264. M.: Verse für Zeitgenossen (s. Anm. 15). 51Der in Cambridge, Massachusetts, ansässige Schoenhof Verlag bzw. Schoenhofʼs Foreign Books wurde 1856 gegründet und ist auf fremdsprachige Bücher spezialisiert. 52Rosenkranz, J. Kommentar (s. Anm. 1). S. 49. 53Mascha Kaléko: Verse für Zeitgenossen. Hamburg 1958. 54Rosenkranz beobachtet, dass insbesondere diejenigen Gedichte keine Aufnahme in die Neuausgabe gefunden haben, „in denen MK Deutschland für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust verantwortlich machte und in denen ihr Hass auf die Nationalsozialisten zum Ausdruck kam – ‚Bittgesuch an eine Bombe‘ […] und ‚Höre Teutschland‘“. Sie wurden aussortiert, denn „[s]ie hätten das Comeback in MKs früherer Heimat nicht gefördert.“ (Rosenkranz, J.: Kommentar (s. Anm. 1). S. 80). 50Kaléko,

6.2  Lyrische Experimente zwischen Sprachen

249

und 33 neue hinzugefügt. Über diese beiden Lyrikbände hinaus werden wenige Einzelveröffentlichungen und einige zu Lebzeiten unveröffentlichte Gedichte aus Kalékos Nachlass untersucht.

6.2.1  „lengvitsch“ mit Akzent – Nachahmung gesprochener Fremdsprache Kaléko hat mehrere Gedichte geschrieben, die sich mit gesprochener Fremd- bzw. Zweitsprache, insbesondere dem Englischen, auseinandersetzen, indem sie die Darstellung mehrsprachiger Exilsituationen in die literarische Sprache integrieren und zum Stilmittel erheben. Im Gedicht Momentaufnahme eines Zeitgenossen tauchen mehrere, überwiegend durch Kursivsetzung auch optisch markierte fremdsprachige Einschübe auf, deren Schreibweise zum Teil deutlich von der orthografischen Norm des Englischen abweicht. Eine doppelte – d. h. orthografische und typografische – Hervorhebung lenkt den lesenden Blick besonders stark auf diese punktuellen Code-Switchings innerhalb des überwiegend deutschsprachigen Textes. Dadurch wird der Lesefluss automatisch unterbrochen, er gerät gewissermaßen ins Stocken oder Stolpern. Momentaufnahme eines Zeitgenossen Wenn unsereins se lengvitsch spricht, So geht er wie auf Eiern. Der Satzbau wackelt, und die grammar hinkt, Und wenn ihm etwa ein ti ehtsch gelingt, Das ist ein Grund zum Feiern. Nicht so der Herr, den ich im Auge habe, Oder besser gesagt: uffm Kieker. Dem ist alles Emigrantische fremd. Er ist der geborene Inglisch-Spieker, Der Forrenlengvitsch-Göttin Auserkorner. Kommt es drauf an, so spricht der Mann Selbst Esperanto wie ein Eingeborner. Befreit vom Zwang, gebüldet zu parlieren, Im engen Kreis, wo man einander kennt, Fährt diese Ausgeburt von refu-gent des „Königs Englisch“ hoch zu Ross spazieren,

1

5

10

15

6  Mehrsprachige Sprachsatire

250 In seinem Oxford- (second hand) Akzent. Se pörfect Lord. – Ich kenn ihn noch aus Sachsen. Da sprach er auch des „Geenigs“ ABC. Wie war das heimatliche weiche B In Leibzich ihm zurzeit ans Herz gewachsen. Der Untertanenstolz aus königstreuen Tagen Hat er auf achtundvierzig Staaten übertragen. Der kroch in Preussen auf allen Vieren. Hier sinds die angelsächsischen Manieren.

20

25

Wer mit den Wölfen heult, der heult mit allen Tieren55

In der ersten Strophe geht es um Schwierigkeiten beim Sprechen der englischen Sprache als Zweitsprache, hier genannt: „se lengvitsch“ (V. 1). Das (Aus-)Sprechen des Englischen stellt sich in den folgenden Versen als wackelige Angelegenheit dar. Im neuen sprachlichen Terrain bewegt man sich ohne sichernde und haltgebende Struktur in Form von Syntax und „grammar“ (V. 3) „wie auf Eiern“ (V. 2). Das Sprechen der Zweit- bzw. Fremdsprache wird gewissermaßen zum sprachlichen Balanceakt. Wenn die Aussprache jedes „ti ehtsch“ als sprachliche Höchstleistung oder Kunststück erscheint, dessen Gelingen geradezu Applaus verdient, erinnert das auch an Domins Darstellung einer Übersetzungs-Akrobatik zwischen den Sprachen. Ein sich artikulierendes Ich (V. 6, 18) taucht im Gedicht in der ersten Strophe zunächst nur indirekt auf, indem im ersten Vers von einem nicht näher bestimmten „unsereins“ die Rede ist. Bezieht man den Titel als „wichtigsten Paratext des Gedichts“56 mit ein, so ließe sich vermuten, dass es der „Zeitgenosse“ ist, welcher im Gedicht als „Ich“ auftritt und in seiner „Momentaufnahme“ eine deutschsprachige Sprechergemeinschaft, die in ein englischsprachiges Gebiet emigriert ist, als „unsereins“ bezeichnet. Diese Sprechergemeinschaft charakterisiert vor allem, dass sie im Umgang mit der (neuen) Zweitsprache (noch) zu kämpfen hat und es hohe Anstrengung erfordert, sich in ihr zu artikulieren. Der damit einhergehende deutsche Akzent ist in den englischen Wörtern im Text lautmalerisch nachgeahmt. Wenn etwa das englische „the“ in ein deutsch ausgesprochenes „se“

55Mascha

Kaléko: Momentaufnahme eines Zeitgenossen. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 179. Erstmals erschienen in: Kaléko: Verse für Zeitgenossen. Cambridge/Massachusetts 1945.

56Burdorf,

D.: Einführung in die Gedichtanalyse (s. Kap. 5, Anm. 164). S. 133.

6.2  Lyrische Experimente zwischen Sprachen

251

oder die Buchstabenfolge „th“ in „ti ehtsch“ übersetzt wird, kann man es nicht mehr ohne deutschsprachig geprägten Akzent lesen oder aussprechen. Auf diese Weise setzt das auf Schrift basierende Gedicht Aspekte von Mündlichkeit gezielt ein, ohne dazu verlautbart werden zu müssen. Die mehrsprachige Gruppe der Emigrant*innen bzw. Exilant*innen, die vermutlich als „unsereins“ zusammengefasst wird, ist sich ihres Akzents und der eingeschränkten sprachlichen Ressourcen bewusst. Denn über die nachgeahmte (Aus-)Sprache und die damit einhergehenden Herausforderungen legt das Gedicht eine relativ deutliche Einteilung in We-Code und They-Code nahe, was nicht zuletzt durch die typografische Hervorhebung der ‚anderen‘ Sprache verstärkt ist. Indem sich der deutsche Akzent mit der englischen Sprache verbindet und deren Schreibweise zu einer Art Lautschrift transformiert, manifestiert sich Sprachkontakt im Text. Die damit einhergehende Übertragung deutschsprachiger Ausspracheregeln auf die englische Sprache lässt sich dennoch dahin gehend interpretieren, dass sich die im Gedicht als „unsereins“ auftauchenden Sprecheridentitäten noch als überwiegend der deutschen Sprache zugehörig empfinden. Aus dieser Perspektive richtet sich in den folgenden Strophen der Blick des Textsubjekts auf eine andere Figur, die sich von der zu Beginn umschriebenen Gruppe unterscheidet: „Nicht so der Herr“ (V. 6). Er scheint zwar ebenfalls Emigrant zu sein, aber er hat die damit verbundenen sprachlichen Herausforderungen überwunden – zumindest ist er selbst davon überzeugt – oder er hat sie niemals als solche wahrgenommen. Anhand von seiner Beschreibung führt die zweite Strophe Muttersprachkonzepte in ironisch-sarkastischer Weise ad absurdum. Der beschriebene Herr, obwohl ursprünglich aus Sachsen, ist der „geborene Inglisch-Spieker“ (V. 9), er ist der „Forrenlengvitsch-Göttin Auserkorner“ (V. 10). Bei Bedarf wäre er sogar in der Lage, wird ihm nachgesagt, etwas Unmögliches zu vollbringen, nämlich die Sprache „Esperanto wie ein Eingeborner“ (V. 12), also wie ein Erst- bzw. Muttersprachler zu sprechen. Man bedenke, dass Esperanto ausdrücklich entwickelt wurde, „um eine gleichberechtigte Kommunikation zwischen Menschen mit den verschiedensten Muttersprachen zu ermöglichen“: Esperanto ist „eine in gewissem Maße neutrale Sprache, da sie keinem Land, keinem Volk und keinem Kontinent gehört oder zugewiesen ist.“57 Dem Beschriebenen ist nichts fremd, er scheint sich überall, auch sprachlich, so anpassen zu können, wie es die Umstände, die Sprachumgebung und die Machtverhältnisse erfordern. Inzwischen führt er „[d]es ‚Königs Englisch‘ hoch zu Ross spazieren“ (V. 16), während er sich zuvor noch in Sachsen an „des ‚Geenigs‘ ABC“ (V. 19), also eines anderen Königs orientierte. Dass er sich mit britischem Englisch zusätzlich ausgerechnet „[i]m engen Kreis, wo man einander kennt“ (V. 14) und normalerweise „[b]efreit [ist] vom Zwang, gebüldet zu parlieren“ (V. 13) brüstet, scheint auf Ablehnung zu stoßen, weil die Zugehörigkeit zur englischen Sprache in dieser Sprachgruppe nicht authentisch wirkt. Im Übrigen ist es

57Deutsche

Esperanto-Bund e. V.: Was ist Esperanto? Unter: https://www.esperanto.de/de/ enhavo/was-ist-esperanto-2 (12.04.2019).

252

6  Mehrsprachige Sprachsatire

bemerkenswert, dass das Gedicht keine eindeutige Ortsangabe erkennen lässt. Ist hier von Oxford und dem vermutlich britischen Königshaus die Rede, sind weiter unten „achtundvierzig Staaten“ (V. 23) erwähnt, was auf die USA schließen lässt.58 Insofern spielt der Text auch mit der Differenz zwischen britischem und amerikanischem Englisch. Durch die Hinzunahme und Nachahmung von Dialekten, etwa des Berliner Lokalkolorits (V. 7: „besser gesagt: uffm Kieker“) und des sächsischen Dialekts, bringt das Gedicht eine weitere Dimension von Sprachbegegnung hervor, weil Varietäten den Grad an Mehrsprachigkeit erweitern und ein noch differenziertes Bild von sprachheimatlichen Bezugspunkten zeichnen: „Wie war das heimatliche weiche B / In Leibzich ihm zurzeit ans Herz gewachsen.“ (V. 20–21) Es zeigt sich ein Sprachverständnis, das Dialekte und Regionalsprachen mit einbezieht bzw. dadurch die Frage nach Sprachzugehörigkeiten verkompliziert. „Se pörfect Lord“ (V. 18) ist als Nachahmung von Englisch mit sächsischem Akzent lesbar und kombiniert den im Text auftauchenden wortspielartigen Unterschied zwischen „sächsisch“ und „angelsächsisch“. Das Einzige, das dem Emigranten überraschenderweise „fremd“ ist, ist ausgerechnet „alles Emigrantische“. Das heißt also in der Konsequenz: Ihm ist nichts ‚fremd‘, weil ihm auch nichts wirklich von Dauer zu ‚eigen‘ ist. Dies lässt sich auch als eine Art Überkompensation des Fremden im Sinne einer Akkulturationsstrategie lesen. Jeder politischen, kulturellen und sprachlichen Umgebung will er sich anpassen. Dementsprechend trägt das Gedicht, als es 1968 erneut in einen anderen Gedichtband Kalékos aufgenommen wurde, den Titel Mister Chamäleon.59 Aber dieses Chamäleon bleibt trotz seiner angestrengten Farb- bzw. Sprachwechsel auffällig. Vor allem sprachlich kann es sich nicht so kunstvoll in die Umgebung einfügen, wie es glaubt. Indem sich Mister Chamäleons starker Akzent in den Text einschreibt, bleibt er konsequent sichtbar und hörbar. Der deutliche Unterschied zwischen „Inglisch-Spieker“ und „English speaker“ zeichnet genau das aus, was in der dritten Strophe als „Oxford- (second hand) Akzent“ (V. 17) beschrieben wird und deshalb auch nur in den Gunsten einer „Forrenlengvitsch-Göttin“ stehen kann, weil es der (foreign) language nämlich letztlich nicht gerecht wird. Das Schreiben mit Akzent entlarvt den Gebrauch der Fremdsprache immer wieder als ‚fremd‘. Sandra Narloch spricht in ihrem Beitrag bei den durch Schreibweise und Kursivierung hervorgehobenen Wörtern von „Stolpersteinen“, die die Sprache des Gedichts durchziehen.60 Die angestrebte Sprachassimilation findet letztlich nicht bruchlos statt. Es bleibt eine spürbare Differenz zwischen dazugehören und dazugehören wollen, die auch den komischen, teils sarkastischen Ton von Momentaufnahme eines

58Bis

1959 bestanden die USA vor der Aufnahme von Alaska und Hawaii noch aus 48 Staaten. Kaléko: Mister Chamäleon. In: Das himmelgraue Poesie-Album der Mascha Kaléko. Berlin 1986. S. 37. 60Vgl. Sandra Narloch: „Der geborene Inglisch-Spieker“. Mascha Kaléko und der Sprachwechsel im Exil. In: exilograph 18 (2012). S. 3–5, hier: S. 5.

59Mascha

6.2  Lyrische Experimente zwischen Sprachen

253

­Zeitgenossen ausmacht. Nach einer Definition von Franz Penzenstadler lassen sich Komik und Satire in der Lyrik folgendermaßen charakterisieren: Komisch-burleske Dichtung ist in erster Linie als ein strukturelles Phänomen zu beschreiben, das in verschiedener Weise realisierbar ist. Im Allgemeinen besteht sie in der Transgression einer ansonsten gültigen Norm. Das kann geschehen 1. durch die Verwendung eines ausgesprochen niedrigen Stils, dessen Vulgarismen, Neologismen und alltagssprachliche Redewendungen die Grenzen der urbanen Konversation und konventioneller Dichtungssprache überschreiten, 2. durch die Wahl von res, die normalerweise nicht Gegenstand der Dichtung sein können, zumindest nicht in einem derartigen Grad an Konkretheit, 3. durch die bewusste Durchbrechung der decorum-relation zwischen res und verba, d. h. durch Behandlung niedriger Gegenstände in hohem Stil oder hoher Gegenstände im niedrigen Stil. Die satirische Schreibweise hingegen besteht in einer Funktionalisierung solch komischer Strukturen.61

In diesem Gedicht Kalékos, wie auch in weiteren der zu besprechenden Texte, entsteht die satirische Schreibweise unter anderem durch das Spiel mit Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die verwendete Nachahmung der mit Akzent gesprochenen Fremdsprache im schriftlichen Text hat einen komischen Effekt, der besonders in einem Gedicht mit insgesamt recht traditioneller, geordneter Strophenform und Reimschema auffällt. In Momentaufnahme eines Zeitgenossen kommt das Durcheinandergeraten von (vermeintlichen) Zugehörigkeiten zu Sprechergemeinschaften hinzu, was die Komik in dem Gedicht verstärkt. Kalékos Gedicht ist immer wieder als Kritik an wechselndem Sprachopportunismus gelesen worden. Das dargestellte Sprachverhalten des Exilanten sei als eine Kritik am „Opportunismus im Aneignen von Kultur und Sprache, die Selbstverleugnung der angestammten sprachlichen Identität“62 zu verstehen. Insofern zielt die Kritik auf ein Phänomen, das man als gescheitertes language crossing bezeichnen könnte. Die Absicht, zu Sprechergemeinschaften dazugehören zu wollen bzw. sich durch sprachliche Aneignung Zugehörigkeit zu Nationen bzw. Gesellschaftsschichten verschaffen zu wollen, steht hier in einem Missverhältnis zur Preisgabe des ‚eigenen‘, das sich dennoch schleichend mit einschreibt und durch das Schreiben mit Akzent ebenjene Brüche betont. Da das Gedicht am Ende einige explizit politische Anspielungen einbringt, ist der sprachliche Opportunismus auch als Ausprägung einer Anpassung und Unterordnung an politische Obrigkeiten und Machthaber lesbar: Den Untertanenstolz aus königstreuen Tagen Hat er auf achtundvierzig Staaten übertragen. Der kroch in Preussen schon auf allen Vieren. Hier sinds die angelsächsischen Manieren. (V. 22–25)

61Franz Penzenstadler: Komisch-burleske und satirische Lyrik. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse Geschichte. Stuttgart 2001. S. 362–365, hier: S. 362–363. 62Lange, T.: Kulturkonflikte (über)leben (s. Anm. 41). S. 119.

254

6  Mehrsprachige Sprachsatire

Der letzte Vers des Gedichts, der formal durch seine Singularität zusätzlich betont wird, „Wer mit den Wölfen heult, der heult mit allen Tieren.“ (V. 26), ist als deutliche Anspielung auf den Nationalsozialismus lesbar. In der Tiersymbolik findet man diesen Bezug häufig. Dass er auch bei Kaléko in dieser Weise interpretierbar ist, lässt sich durch eine Strophe aus dem Gedicht Deutschland, ein Kindermärchen stützen: … Da kam der böse Wolf und fraß Rotkäppchen.! – Weil sie nicht arisch. Es heißt: die Wölfe im deutschen Wald Sind neuerdings streng vegetarisch.63

Die Kritik am (Sprach-)Opportunismus ist eine mögliche und plausible Lesart des Gedichts. Bezieht man aber die sprachliche Gestaltung des Gedichts mit ein, ist eine Ästhetik erkennbar, die mittels meist auch typografisch markierter Code-Switchings eine neue literarische Sprache entstehen lässt. Die Besonderheit der Code-Switchings, wie sie in Momentaufnahme eines Zeitgenossen stattfinden, besteht darin, dass durch die Schreibweise mit Akzent eine Mischung von Sprachen und Dialekten eingeschrieben wird. Es wird nicht etwa zwischen zwei als ‚natürlich‘ bezeichneten oder einheitlich abgegrenzten Sprachen gewechselt, sondern durch die Darstellung von gesprochener Zweitsprache und Varietäten der Erstsprache entsteht insgesamt ein komplexeres Bild sprachlicher Nuancen, die sich nicht mehr als Strukturen von Einsprachigkeit lesen lassen können. Dass in Kalékos Gedicht Sprachkontakt stattfindet, steht also außer Frage. Allerdings gestaltet sich der Kontakt von Sprachen überwiegend als im Schriftbild inszenierte Kollisionen von Ausspracheregeln. Lange bringt Kalékos „Mischsprache“ mit Kreol- und Pidgin-Sprachen in Verbindung. „Das stilisierte ‚Exilanto‘, das Kaléko in ihren Gedichten zitiert und ironisiert, hat strukturelle Gemeinsamkeiten mit Creole-Sprachen.“64 Diese Beobachtung lässt sich nicht halten, da eine gegenseitige Beeinflussung der Sprachen auf lexikalischer oder struktureller Ebene nicht dargestellt ist. Zudem sind Pidgin- und Kreolsprachen von einfachem „foreigner-talk“, dem ‚gebrochenen‘ Sprechen einer Fremdsprache, wie in Momentanaufnahme eines Zeitgenossen verhandelt, per definitionem zu differenzieren. Nimmt man Bezug auf die nach Grosjean benannte Distinktionsgrenze von „Gastwörtern“ (guest words) zur Identifikation von mündlichen Code-Switching vs. (Ad-hoc-)Entlehnungen, wofür er unter anderem die phonetisch-phonologische Aussprache zu Rate zieht (vgl. Abschn. 4.2.1), lässt sich abschließend sagen, dass die ästhetische Gestaltung von Kalékos Gedicht mit Zwischenformen solcher Sprachkontaktphänomene experimentiert. Orthografisch verfremdende

63Mascha

Kaléko: Deutschland, ein Kindermärchen. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 246–249, hier: S. 248. 64Lange, T.: Kulturkonflikte (über)leben (s. Anm. 41). S. 120.

6.2  Lyrische Experimente zwischen Sprachen

255

Schreibweisen zur Stilisierung von Akzenten führen im Ergebnis dazu, dass die entsprechenden Wörter der Zweitsprache gewissermaßen phonologisch an die Basissprache angepasst im Text erscheinen. Das satirische Spiel mit Sprachkompetenzen in Form von Akzenten sowie das gleichzeitig überwiegende typografische Kenntlich-Machen der Code-Switchings wirken der Wahrnehmung von sprachlicher Integration aber wiederum entgegen.

6.2.2 Verloren zwischen den Sprachen? – Textinterne Übersetzungen als semantische Differenzmarker Ein Gedicht Kalékos, das auf textinternen Übersetzungen zwischen deutscher und englischer Sprache basiert, ist das Folgende: Der kleine Unterschied Es sprach zum Mister Goodwill 1 ein deutscher Emigrant: „Gewiß, es bleibt das selbe, sag ich nun land statt Land, sag ich für Heimat homeland 5 und poem für Gedicht. Gewiß, ich bin sehr happy: Doch glücklich bin ich nicht.“65

Das Gedicht, das vermutlich in den ersten amerikanischen Exiljahren, also Anfang der 1940er Jahre in New York entstanden ist,66 inszeniert einen Gesprächsausschnitt zwischen einem nicht genauer bezeichneten deutschen Emigranten und einem „Mister Goodwill“ (V. 1), was sich mit „gutem Willen“ oder „Wohlwollen“ übersetzen ließe. Anhand von textinternen Übersetzungen der zentralen Begriffe, die Schmeichel-Falkenberg als „[p]oetische deutsche Schlüsselworte“67 bezeichnet – „Land“, „Heimat“, „Gedicht“ – führt das Gedicht die Übertragung zwischen deutscher und englischer Sprache vor. Besonders das Auftauchen des

65Mascha Kaléko: Der kleine Unterschied. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 665. Das Gedicht, das sich als Typoskript in Kalékos Nachlass befand, wurde erstmals posthum veröffentlicht in: Mascha Kaléko: In meinen Träumen läutet es Sturm. Hg. von Gisela Zoch-Westphal. München 1977. 66Vgl. Rosenkranz, J.: Kommentar (s. Anm. 1). S. 306. 67Schmeichel-Falkenberg: „Hoere, Teutschland“ (s. Anm. 17). S. 209.

256

6  Mehrsprachige Sprachsatire

Begriffs „Heimat“ ist auffällig, weil es sich um ein Wort handelt, das gerade für die an Unmöglichkeit grenzende Schwierigkeit seiner Übersetzung aus dem Deutschen in andere Sprachen bekannt ist. In kaum einer Sprache gibt es eine direkte Entsprechung. Die zu Beginn des Gedichts behauptete Gleichartigkeit („es bleibt das selbe“ (V. 3)) der Wörter „land – Land“ (V. 4), „homeland – Heimat“ (V. 5) und „poem – Gedicht“ (V. 6) wird in geradezu paradigmatischer Weise am Wort „glücklich“ und dessen vermeintlicher Übersetzung ins Englische als „happy“ wiederlegt. Das Gedicht führt vor, dass die Übertragung von einer Sprache in eine andere Sprache zwar theoretisch und im praktischen Umgang möglich und notwendig ist, aber nie ganz zufrieden stellen kann. Der im Titel benannte „kleine Unterschied“ liegt in der Bedeutung von Wörtern, die mit Assoziationen, Konnotationen und nicht zuletzt mit Erinnerungen und Emotionen verbunden ist. Das im angloamerikanischen Sprachgebrauch häufiger verwendete „happy“ geht dem namenlosen Emigranten leichter über die Lippen und kann dem ernsthafteren und im deutschen Sprachgebrauch seltener ausgesprochen „glücklich“ nicht entsprechen. Dabei fällt auf, dass „happy“ (V. 7) das einzige übersetzte Wort ist, welches im Gedicht nicht kursiv gesetzt ist. Dadurch fügt es sich in den Text harmonisch ein, so als sei es in die deutsche Basissprache des Gedichts stärker integriert als die anderen englischsprachigen Wörter. Eine mögliche Lesart ginge in die Richtung, dass es sich gerade aufgrund des semantischen Unterschiedes um eine ähnliche, aber nicht entsprechende Variante des deutschsprachigen „glücklich“ (V. 8) handelt, welche insofern als Erweiterung der deutschen Sprache fungieren kann. Schmeichel-Falkenberg bezieht dieses Gedicht Kalékos auf eine Identitätsproblematik von Exilschriftsteller*innen, was aufgrund der aufgerufenen Verknüpfung von Nation, Heimat und Literatur nachvollziehbar ist: Ein kleines Stück Exillyrik, ein Gedicht über das Exil, über Exulantengefühle und Sprachnot, wie nur sie es formulieren konnte. Kein großes Gedicht, gewiß nicht, aber eines, das genau die angezielte Situation des Exilschriftstellers traf: das Gespanntsein zwischen den Sprachen. Die eine braucht man zum materiellen Überleben, für die tägliche Kommunikation mit der Umwelt; die andere wollte man nicht verlieren, weil sie der Nährboden für das dichterische Überleben war. Der schwierige Problemkomplex von Identität, Identitätsverlust, Suche nach der neuen Identität und Gebundenheit der Identität des Dichters an die Muttersprache mit ihrer individuellen Geschichte wird hier auf den Punkt gebracht durch die präzise Benennung der ‚kleinen‘ und doch so gewaltigen Unterschiede.68

Dem kann man insofern zustimmen, als dass Der kleine Unterschied zwischen den Sprachen im Exil durch Übersetzung letztlich nicht gänzlich überwindbar scheint. Dem entgegenzusetzen wäre aber, dass die alleinige Interpretation in Richtung „Sprachnot“ und „Identitätsverlust“ bei Exilschriftsteller*innen nicht zu halten ist, wenn man die mehrsprachige Beschaffenheit des Textes hinzuzieht. So ist es zugleich genauso bemerkenswert, dass aus der sogenannten

68Schmeichel-Falkenberg:

„Hoere, Teutschland“ (s. Anm. 17). S. 209.

6.2  Lyrische Experimente zwischen Sprachen

257

„Gespanntheit zwischen den Sprachen“ im Exil ein mehrsprachiger kreativer Reflexionsraum über Sprachen entsteht, indem Übersetzung zu einem Hauptbestandteil des Schreibverfahrens erhoben wird. Für dieses Phänomen könnten einige weitere von Kalékos Gedichten exemplarisch herangezogen werden, von denen eines das Folgende ist: „Take it easy!“ „Tehk it ih-sie“ – sagen sie dir. Noch dazu auf Englisch. „Nimm’s auf die leichte Schulter!“

1

Doch du hast zwei. Nimm’s auf die leichte!

5

Ich folgte diesem populären humanitären Imperativ. Und wurde schief. Weil es die andere Schulter auch noch gibt.

15

Man muß sich also leider doch bequemen, es manchmal auf die schwerere zu nehmen69

Im ersten Vers beobachtet man eine Kombination aus englischer Sprache mit deutschem Akzent ausgesprochen bzw. geschrieben, wie sie in Momentaufnahme eines Zeitgenossen bereits genauer analysiert wurde. Da das „Tehk it ih-sie“ (V. 1) zusätzlich in Anführungsstriche gesetzt ist, fragt man sich: Wer spricht? Der lautmalerisch nachgeahmte Akzent und der Zusatz „Noch dazu auf Englisch“ (V. 2) lässt vermuten, dass es sich um kein*e englische*n, sondern um eine*n deutsche*n Erstsprachler*in handeln muss, der*die es aber trotzdem vorzieht, die englische Sprache zu benutzen. Das Gedicht macht eine intratextuelle Übersetzung zum Schreibanlass bzw. Aufhänger. Die Übersetzung der amerikanisch-englischen Redewendung „take it easy“ zur deutschsprachigen Version „nimm es auf die leichte Schulter“ ist dabei jedoch keineswegs eine 1:1-Übersetzung. Das Übersetzungs-Wortspiel erzeugt dank einer gewissen Übersetzungs-Freiheit stattdessen auf sprachbildlicher Ebene die Vorstellung eines Menschen mit schiefer, unausgeglichener Haltung aufgrund einer zu starken und einseitigen Belastung. Durch das Wörtlichnehmen der idiomatischen Wendung entsteht ein humoristischer Effekt, der sich nicht zuletzt

69Mascha

Kaléko: Take ist easy! In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 659–660. Das Gedicht befand sich im Nachlass von Kaléko.

258

6  Mehrsprachige Sprachsatire

auch als interkultureller Kommentar lesen lässt. Ähnlich wie die Übersetzung von „happy“ und „glücklich“ in Der kleine Unterschied als nicht äquivalent ausgestellt wird, verhandelt dieses Gedicht ansatzweise kulturelle Stereotype, wie sie am Sprachverhalten, etwa dem Umgang mit Emotionen und Stimmungen, zu erahnen sind. Indem das Gedicht durch textinterne Mehrsprachigkeit aber nahelegt, dass dem lyrischen Ich vermutlich kein*e Amerikaner*in, sondern ein*e mit deutschem Akzent sprechende*r Emigrant*in gegenübersteht, stellt es solche Kulturklischees bis zu einem gewissen Grade aber auch wieder infrage.

6.3 „Hier werden alle Sprachen gesprochen und gebrochen“ – Mehrsprachige New Yorker Gesellschaftsminiaturen Nachdem in den bislang besprochenen lyrischen Texten Kalékos die Auseinandersetzung mit Kulturkonstellationen eher indirekt über die Verhandlung von Sprachenkonstellationen funktioniert, werden nun Gedichte und kürzere Prosatexte in den Blick genommen, die sich etwas expliziter mit der Begegnung von Kulturen beschäftigen, indem sie die kulturelle Zusammensetzung der Gesellschaft in New York darstellen. Ziel ist jedoch weniger die Erforschung oder gar Bewertung imagologischer Zusammenhänge im engeren Sinne. Der Fokus bleibt weiterhin vorwiegend auf sprachlichen Aspekten, auch wenn es um die Betrachtung von kulturellen Stereotypen oder Klischees geht.

6.3.1 Lyrische Amerika-Porträts In einem Handbuchbeitrag zu Lyrik und Interkulturalität schreibt Bernard Dieterle, Lyrik sei weniger prädisponiert zur Behandlung interkultureller Themen als literarische Großgattungen wie der Roman oder das Drama, ganz zu schweigen von der Essayistik. Kulturkontakte lassen sich innerhalb von mimetisch-fiktionalen Gattungen schildern, Konflikte und Begegnungen kann man erzählen oder dramatisieren, […] doch sie sind nicht unbedingt Gegenstand lyrischer Dichtung.70

Viele von Kalékos Gedichten, so die Beobachtung, von der die vorliegende Untersuchung ausgeht, sind im Gegensatz dazu ein gutes Beispiel dafür, dass lyrische Texte durchaus Kulturbegegnungen verhandeln können. Insbesondere die­ jenigen Gedichte, die sich zum Teil in mehrsprachiger Weise mit Kulturen- und Sprachenzusammensetzungen im New Yorker Exil beschäftigen, sind hier nennenswert. Bei Dieterle heißt es zu Lyrik und Interkulturalität weiter: „Von

70Bernard Dieterle: Lyrik und Interkulturalität. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse Geschichte. Stuttgart 2001. S. 204–212, hier: S. 204.

6.3  „Hier werden alle Sprachen gesprochen und gebrochen“

259

großer Relevanz ist ferner die zwei- oder mehrsprachige Literatur. In thematischer Hinsicht ist die Reiseliteratur von großer Bedeutung.“71 In diesem Sinne ließe sich argumentieren, dass mehrsprachige Exillyrik also in doppelter Hinsicht von Relevanz ist. Denn Exilliteratur ist mindestens genauso deutlich wie Reiseliteratur für die Aushandlung inter- oder transkultureller Themen prädestiniert. Zu beachten wäre allerdings, obwohl es einige Überschneidungen dieser beiden begrifflichen Fassungsversuche von Literatur gibt, dass sich die Exilsituation in ihren Voraussetzungen und Umständen wesentlich von einer regulären Reisesituation unterscheidet. Das Leben auf unbestimmte Zeit an einem neuen Ort führt zu einer anderen Art von Begegnungsmöglichkeit als es bei einer geplanten, vorübergehenden Reise der Fall ist. Ob man als Besucher*in bzw. Gast andere, ausgewählte Teile der Welt bereist oder sich in einer Exilsituation, die stets auch mit massiven Entortungserfahrungen einhergeht, damit auseinandersetzen muss, in einer neuen Gesellschaft bzw. Kultur eine womöglich dauerhafte Bleibe zu finden, ist ein existenzieller Unterschied. Der Grad an Freiwilligkeit und Selbstbestimmung ist mitunter also nicht unbedeutend dafür, welche Perspektiven auf Kulturkonstellationen eingenommen werden – und das können auch literarische Texte reflektieren. Meine These, der es in Kalékos lyrischen Amerika-Porträts auch nachzugehen gilt, ist, dass diese Perspektive auch entscheidend dafür ist, ob und inwiefern literarische Exiltexte das Beobachtete an eine mehr oder weniger konkret benannte ‚Heimat‘ rückbinden. In Kalékos Gedicht New Yorker Sonntagskantate fällt auf, dass sich die Beschreibungen eines mehr oder weniger ‚typischen‘ New Yorker Sonntags in erster Linie auf Alltägliches richten. New Yorker Sonntagskantate Die Kinder spieln vorm Haustor, sonntagsreinlich. Den „Daddy“ führt spazieren sein Dackelhund. Die „Times“ im Arm wiegt heute sieben Pfund. – Vielleicht nur sechs. Doch seien wir nicht kleinlich! Aus Küchenfenstern duftet Roast und Pie. Die Glocken melden, daß es Sunday sei. Die Kirchen des Bezirks, in dem wir wohnen, Bedienen zirka zwanzig Konfessionen Wohlassortierter Christen und Buddhisten, Presbyterianer, Hindus und Baptisten. Und selig wird bei Chor und Orgelton Ein jedermann nach seiner Konfession.

71Dieterle,

B.: Lyrik und Interkulturalität (s. Anm. 70). S. 204.

1

5

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260 Es ziehn die italienischen Familien Zur nächsten „Lieben Fraue von Sizilien“, Und auch die Iren, gute Katholiken, Und fleißige Besucher von Budiken, Erweisen sich als brave Sonntagsbeter. – Die Schenke öffnet ohnehin erst später. So gegen Mittag legen sechs Millionen – Vielleicht nur fünf – die „Comics“ aus der Hand Und kauen Toast (leicht angebrannt), Nebst Schinkeneiern, Vollmilch und Melonen; Und Vater lauscht, getreu der Tradition, Dem Gotteswort der Fernseh-Funkstation. Miss „Teenage“ harrt, geschniegelt und gebügelt; Der Ausgehschmuck (echt Woolworth) glitzert toll: Von Eros sowie Mister Ford beflügelt, Kaugummiwiederkäuend, naht Apoll. Wie diese Zwei den Abend absolvieren, Läßt sich millionenfach multiplizieren: Vom ersten „Martini“ zum letzten Kaffee Rollt alles sich ab nach bewährtem Klischée. Denn was sich schickt und wann, wenn zwei sich lieben, Ist gottseidank ausführlich vorgeschrieben Und führt, sofern man diplomatisch war, Zum „Happy End“. Das heißt, zum Traualtar. „What’s wrong with that? You sure are sentimental!“ – Gewiß, ich bin „hopelessly Continental“. Ein Überbleibsel längst verschollner Art, Leid ich am Klima dieser Gegenwart. Verzeihen Sie den Ausflug ins Private …

6  Mehrsprachige Sprachsatire

15

20

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40

Schluß der New Yorker Sonntagskantate72

72Mascha

Kaléko: New Yorker Sonntagskantate. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 256–257. Erstmals erschienen ist das Gedicht in Verse für Zeitgenossen (1958).

6.3  „Hier werden alle Sprachen gesprochen und gebrochen“

261

Auch dieses Gedicht setzt englischsprachige Wörter und Kommunikationsausschnitte im überwiegend deutschsprachigen Text ein. Die englischsprachigen Einzelwörter oder kurzen Wortkombinationen stehen dabei zum Teil in Anführungsstrichen (z. B. „‚Daddy‘“ (V. 2) oder „‚Happy End‘“ (V. 36)), sind zum Teil aber auch nicht weiter vom Text abgehoben (z. B. „Sunday“ (V. 6)). Eine logische Systematik bezüglich dieses unterschiedlichen Vorgehens lässt sich meines Erachtens jedoch nicht ermitteln. Lange zufolge sei mittels dieser mehrsprachigen Sprachelemente „die nordamerikanische Kultur in dem deutschsprachigen Text arrangiert“73. Diese Interpretation verkennt jedoch, dass es sich bei der Darstellung der sogenannten „nordamerikanischen Kultur“ bereits um die Wiedergabe und ein ironisches überspitztes Spiel mit „Klischée[s]“ (V. 32) und kulturellen Stereotypen handelt. Insofern reflektiert das Gedicht durchaus mit, dass die nordamerikanische Kultur nur in Form schablonenartiger überzeichneter Merkmale darstellbar ist, die im Zusammenspiel einer Karikatur nahe kommen. Aufgerufen werden im Text beispielsweise ‚typische‘ Nahrungsmittel („Roast und Pie“ (V. 5), „Toast (leicht angebrannt)“ (V. 21), „Schinkeneier[], Vollmilch“ (V. 22), „Martini“ und „Kaffee“ (V. 31)) oder klischeehaftes Datingverhalten der jüngeren Bevölkerung (Strophe 5 und 6). Gleichzeitig zeichnet das Gedicht Bilder einer pluralistischen Gesellschaft, deren Mitglieder verschiedene Migrationshintergründe mitbringen (Strophe 3) und Religionszugehörigkeiten (Strophe 2) leben, mittels derer die Vorstellung von einer einheitlichen nordamerikanischen Kultur dekonstruiert wird (vgl. dazu auch Abschn. 6.3.3). Das Spiel mit oberflächlichen Kulturklischees und -stereotypen und das allzu harmonisch dargestellte Miteinander der Kulturen bricht das Gedicht jedoch an mehreren Stellen sogleich wieder auf. Es fallen bereits optisch innerhalb der überwiegend einheitlichen Form von sechsversigen Strophen jeweils durch Gedankenstriche markierte Einschübe auf, die nicht nur typografisch einen Kontrast zum übrigen Dargestellten erzeugen. Gedankenstriche fungieren in lyrischen Texten, ähnlich wie Auslassungspunkte – beides findet man bei Kaléko häufig – als Ausdruck von „Auslassungen, Schweigen, Verwunderung oder abrupte[n] Wendungen“74. So findet eine abrupt eingefügte, auf etwas unterschiedliche Weise wiederholte Anspielung auf „sechs Millionen“ (V. 19), die „vielleicht nur fünf“ (V. 20) waren, statt. Dies ist als Bezugnahme zur Nachkriegsdebatte um die Gräueltaten und Ermordung von mindestens sechs Millionen Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten zu lesen. Sogenannte „Holocaust-Leugner“ oder rechtsextreme „Revisionisten“ zweifeln die historisch belegten Zahlen und damit das Ausmaß der Verbrechen teilweise sogar bis heute an – damals wie heute eine Beleidigung für Opfer und Hinterbliebene. In Kalékos Gedicht entsteht durch diese Einfügungen eine große Kluft zu dem leichten Ton der alltäglichen Schilderungen über Daddys, Sunday, Roast und Pie, braven Sonntagsbetern unterschiedlicher Konfessionen und Teenagern mit Kaugummi und Modeschmuck von

73Lange,

T.: Kulturkonflikte (über)leben (s. Anm. 41). S. 118. D.: Einführung in die Gedichtanalyse (s. Kap. 5, Anm. 164). S. 48.

74Burdorf,

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6  Mehrsprachige Sprachsatire

Woolworth. Der Effekt, welcher dadurch zum Tragen kommt, gleicht einem plötzlichen Auftauchen von Traumatischem, das in der überzeichneten ‚heilen‘ und ‚typisch‘ amerikanischen Oberfläche aufblitzt und die ohnehin leicht ironisch dargestellte Harmonie aufbricht. Ein lyrisches Ich artikuliert sich erst am Ende des Gedichtes, wenn ein Gesprächsausschnitt durch Code-Switching auf Englisch wiedergegeben wird. Dieses Code-Switching-artige Zitieren und Einfügen der englischen Sprache generiert einerseits eine Art von Authentizität und legt andererseits nahe, dass es sich um eine Aussage handelt, die dem lyrischen Ich entgegen gebracht wird. Der Vorwurf, zu „sentimental“ (V. 37), also zu „rührselig“ zu sein, wird in Verbindung mit der Zugehörigkeit als Europäer*in („hopelessly continental“ (V. 38)) gebracht. Insgesamt prägen das Aufrufen der Verfolgung europäischer Jüdinnen und Juden und die damit zusammenhängende Beobachterhaltung des lyrischen Ichs den Ton des Gedichts maßgeblich. Deutlich direkter artikuliert sich ein „Ich“ als „Europas blasses Judenkind“ (V. 8) in dem folgenden relativ kurzen Gedicht Einer Negerin im Harlem-Express, das der Aufbau 1946 erstmals veröffentlichte. Einer Negerin im Harlem-Express Fremdes Mädchen eines fremden Stammes, Tief im Dschungel dieser fremden Stadt, Deiner Augen schwarzverhängte Trauer Sagt mir, was dein Herz gelitten hat.

1

Immer möchte ich dich leise fragen: Weisst du, Fremde, dass wir Schwestern sind? Du, des Kongo bronzefarbne Tochter, Ich, Europas blasses Judenkind. …

5

Doch es schützt dich, Freundin, deine Haut Vor der Schmach, die Abkunft zu verstecken, Vor der „Freunde“ Hass, da sie entdecken, Dass sie dir versehentlich vertraut75

10

Aus heutiger Sicht fällt es schwer, den diskriminierenden und pejorativen Begriff „Negerin“ zu übersehen, doch es lässt sich davon ausgehen, dass dieser zu der Zeit, in der das Gedicht entstand, noch geläufig war und nicht als Schimpfwort

75Mascha

Kaléko: Einer Negerin im Harlem-Express. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 382. Erstmals erschienen in: Aufbau 48 (1946). S. 48.

6.3  „Hier werden alle Sprachen gesprochen und gebrochen“

263

zu verstehen sein musste.76 Die Darstellung einer afroamerikanischen Frau als „Fremdes Mädchen eines fremden Stammes“ (V. 1) und „des Kongo bronzefarbne Tochter“ (V. 7), die sich nun in dem fremden urbanen „Dschungel“ (V. 2) New Yorks befindet erinnert an die grausame Geschichte der Sklaverei und Rassendiskriminierung in Amerika („Deiner Augen schwarz verhängte Trauer / Sagt mir, was dein Herz gelitten hat“ (V. 3–4)). Der New Yorker Stadtteil Harlem, der im Titel des Gedichts genannt wird, gilt bis heute als Zentrum afroamerikanischer Kultur in New York. Während des zweiten Weltkriegs und danach gab es hier zahlreiche Konflikte aufgrund von Rassendiskriminierung, die sich in den 1960er Jahren erneut zuspitzten. Indem das Gedicht die NS-Verbrechen der Judenverfolgung in Europa neben die Rassendiskriminierung in den USA stellt („Immer möchte ich dich leise fragen: / Weisst du, Fremde, dass wir Schwestern sind?“ (V. 5–6)) verhandelt es eine Kulturen und Zeiten übergreifende Verbindung unterschiedlicher rassistischer Ausgrenzungen, Misshandlungen und Morden an Menschen aufgrund von äußeren Kriterien („deine Haut“ (V. 9)) oder kulturellen Zuschreibungen („Europas blasses Judenkind“ (V. 8)), die zum Stigma und Verfolgungsgrund gemacht wurden. Es ist in Kalékos Gedichten aber nicht nur der Fall, dass sich eine einstige ‚Heimat‘ in Europa in die lyrischen Amerika-Porträts einschreibt. Umgekehrt bleibt etwa im Gedicht Wiedersehen mit Berlin, das eine „erste Deutschlandreise“ darstellt, die Exilierung bei diesem Wiedersehen permanent präsent. Darin heißt es etwa: Berlin, im März. Die erste Deutschlandreise, seit man vor tausend Jahren mich verbannt. Ich seh die Stadt auf eine neue Weise, so mit dem Fremdenführer in der Hand.77

Die Perspektive des offensichtlich einst verbannten und nun erstmals wiederkehrenden lyrischen Ichs hat sich grundlegend verändert zu einem „Fremdling“ mit „Fremdenführer in der Hand“, so wie die Stadt Berlin sich in der Zwischenzeit verwandelt hat. Auf meinem Herzen geh ich durch die Straßen, wo oft nichts steht als nur ein Straßenschild. In mir, dem Fremdling, lebt das alte Bild der Stadt, die so viel Tausende vergaßen.78

76Rosenkranz

macht diesbezüglich auch darauf aufmerksam, dass Kaléko den Begriff „Neger“ auch in ihren Briefen nicht negativ konnotiert sondern neutral benutzte (vgl. Rosenkranz, J.: Kommentar (s. Anm. 1). S. 151). 77Mascha Kaléko: Wiedersehen mit Berlin. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 314–315, hier: S. 134. Erstdruck in: Der Abend, vom 31.03.1956. S. 3. (Vgl. Rosenkranz, J.: Kommentar (s. Anm. 1). S. 121). 78Kaléko, M.: Wiedersehen mit Berlin (s. Anm. 77). S. 315.

6  Mehrsprachige Sprachsatire

264

Das Gedicht gestaltet durch Metaphern und verschiedene Anspielungen auf die versunkene antike Stadt Pompeji das Bild einer verschütteten Stadt, deren neue Schichten sich über die alte, nun nicht mehr zugängliche Stadt gelegt haben. Und alles fragt, wie ich Berlin denn finde? – Wie ich es finde? Ach, ich such es noch! Ich such es heftig unter den Ruinen der Menschheit und der Stuckarchitektur. Berlinert eine: „Ick bejrüße Ihnen!“, glaub ich fast dem Damals auf der Spur. Doch diese neue Härte in den Mienen … Berlin, wo bliebst du? Ja, wo bliebst du nur?79

Einzig und allein die Wiederbegegnung mit der Sprache scheint eine einstige Vertrautheit wieder aufkommen zu lassen, hier dargestellt als Berliner Dialekt. An anderer Stelle ist vom „märkisch-kessen Ton“ der „Berliner Spatzen“ die Rede, der dem lyrischen Ich Geliebtes in Erinnerung ruft. Aber die verschüttete Vergangenheit bleibt bei der Wiederbegegnung nicht mehr begehbar, sie ist von Neuem zu stark überlagert. Ich wandle wie durch einen Traum Durch dieser Landschaft Zeit und Raum. Und mir wird so ich-weiß-nicht-wie – Vor Heimweh nach den Temps perdus … […] Wie vieles seh ich, das ich nicht mehr seh! Wie laut „Pompejis“ Steine zu mir reden! Wir schluckten beide unsre Medizin, Pompeji ohne Pomp. Bonjour, Berlin!80

Erinnerungsfetzen ziehen traumartig vorbei und vermischen sich mit der Gegenwart. Die französischsprachige Begrüßung „Bonjour, Berlin!“ am Ende des Gedichts funktioniert als zusätzliche sprachliche Distanzierung und unterstützt die neue Perspektive des lyrischen Ichs, das nur noch Spuren der „Temps perdus“ erahnen kann. Es bleibt das Bild einer räumlich und zeitlich gebrochenen und der Erinnerung entrückten einstigen ‚Heimat‘, die keine mehr sein kann. Besonders dynamisch gestaltet sich die Verhandlung von Verortungen in Kalékos Gedicht Minetta Street. Die Minetta Street liegt im New Yorker Stadtteil und Künstlerviertel „Greenwich Village“ (vgl. zur Darstellung dieses Stadtteils in Prosatexten Kalékos auch Abschn. 6.3.3). Das Gedicht hat insofern einen

79Kaléko, 80Kaléko,

M.: Wiedersehen mit Berlin (s. Anm. 77). S. 314. M.: Wiedersehen mit Berlin (s. Anm. 77). S. 315.

6.3  „Hier werden alle Sprachen gesprochen und gebrochen“

265

a­ utobiografischen Anklang, als dass sich das lyrische Ich am Ende des Gedichts mit den Initialen „M.K.“ preisgibt. Möchte man diesen Aspekt, dass Kaléko selbst in Greenwich Village gelebt hat, weiterverfolgen, wie es vielfach getan wurde, oder nicht, so erprobt das Gedicht in jedem Falle Setzungen von Fremde und Heimat, welche sich aber permanent verändern können. In der ersten Strophe heißt es: Ich bin vor jenen „tausend Jahren“, Viel in der Welt herumgefahren. Schön war die Fremde; doch Ersatz. Mein Heimweh hieß Savignyplatz.81

Während die „Fremde“ zunächst nur als „Ersatz“ fungieren kann und die Berliner Heimat am „Savignyplatz“ nicht abzulösen vermag, hat sich nach diversen vergessenen Adressen ein neuer heimatlicher Bezugspunkt herausgebildet: „Minetta Street“. Weißgott, ich habe unterdessen Recht viel Adressen schon vergessen. – Wenn’s heut mich nach „Zuhause“ zieht, So heißt der Ort: „Minetta Street“.82

Das als New Yorks „Klein-Montmartre“83 bezeichnete Stadtviertel, in dem die Minetta Street liegt, stellt Kalékos Gedicht, ähnlich wie ihre Prosatexte, als diverses Viertel dar, das einem permanenten Wandel unterliegt und dessen Bohème längst nicht mehr so bohemian ist wie sie einst zu sein glaubte, dafür aber wenigstens „Auch-Bohème in Reinkultur“84. Und doch, trotz Talmi und Lametta – In „Poetry“ und auch in „Prose“ Sing ich dein Lob, my dear Minetta, und nicht des Reimes wegen bloß. Wenn einst, in friedlicheren Zeiten, Die Länder um das Vorrecht streiten, (Scheint die Besorgnis auch verfrüht): Tja, welches von M.K.’s Quartieren Soll die „Hier wohnte“-Tafel zieren …? – Ich stimme für Minetta Street.85

81Mascha

Kaléko: Minetta Street. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 249–250. Erstmals erschienen in: Kaléko: Verse für Zeitgenossen (1958). 82Kaléko, M.: Minetta Street (s. Anm. 81). S. 249. 83Kaléko, M.: Minetta Street (s. Anm. 81). S. 249. 84Kaléko, M.: Minetta Street (s. Anm. 81). S. 249. 85Kaléko, M.: Minetta Street (s. Anm. 81). S. 250.

266

6  Mehrsprachige Sprachsatire

Das Gedicht lässt sich auch als literarischer Positionierungsversuch lesen, indem nationalliterarische Inanspruchnahmen, wie sie nicht selten erst posthum geführt werden, vorausgedacht werden und diesbezüglich eine eigene, wenn auch nicht unbedingt eindeutige Positionierung versucht wird. Ist der Standort für das Gedenken in New York gedacht, bleibt die Sprache des gesamten Gedichts aber überwiegend deutsch, jedoch nicht ohne zahlreiche englischsprachige Einschübe kreativ zu verankern. In Bezug auf etwaige (national)literarische Positionierungsversuche ist unbedingt auf die bei Kaléko wiederholt auftauchenden intertextuellen und interexilischen Referenzen auf Heinrich Heine hinzuweisen.86 Kaléko wurde von Kritikern immer wieder eine stilistische Nähe zu Heine nachgesagt,87 was einige von Kalékos Texten bereits selbst zum Gegenstand machen. Wenngleich auf diesen Zusammenhang hier nicht näher eingegangen werden soll, sei doch insbesondere auf das Gedicht Emigranten-Monolog88 sowie das im Heine-Jahr 1956 entstandene Gedicht Deutschland, ein Kindermärchen89 verwiesen. Der „Refugee Heine“90 wird in den Gedichten gewissermaßen als Verwandter, als Vorfahre und Vorbild einer Dichter-Genealogie („Daß vom Urvater Heine ich stamme“91) aufgerufen, die den Kanon ‚deutscher‘ Literatur bis heute maßgeblich prägt, obwohl die betreffenden Personen und ihr schriftstellerisches Werk von Antisemiten immer wieder angefeindet und ausgegrenzt, verfolgt und verboten wurde.92

86Vgl.

zur Heine-Rezeption im Exil 1933–1945 allgemein: Neuhaus-Koch, A.: „Heine hat alle Stadien der Emigration mit uns geteilt.“ (s. Kap. 2, Anm. 87); Steinecke, H.: Heinrich Heine im Dritten Reich und im Exil (s. Kap. 2, Anm. 88). 87Kurt Pinthus schreibt etwa in einer Rezension über Verse für Zeitgenossen (1958) in der Zeit: „Ihre Verse zeigen nicht nur die spielerische Sprachkunst, sondern ebenso den kämpferischen Hohn Heinrich Heines. Sie bekennt selber, daß sie ‚vom Urvater Heine stammt‘ […] Bescheiden variiert sie den Meister: ‚Und nennt man die zweitbesten Namen, so wird auch der meine genannt.‘ Doch auf ihrem Gebiet möchte ich Mascha Kaléko zu den besten Namen zählen. Wie sie über die Jahre des Exils sich mit guter Miene oder guter Laune hinwegbringt; […] das ist in diesem Ernst, der sich heiter gibt, heute kaum noch einmal so schwebend dichterisch zu finden. Das Leben in diesen Tagen ist schwer; wenn man Kaléko liest, scheint es leichter.“ (Kurt Pinthus: „Die zweitbesten Namen – Dichterin der Großstadt – Sentiment und Zynismus“. In: Die Zeit, vom 15.08.1958. (Hier zitiert nach Rosenkranz, J.: Kommentar (s. Anm. 1). S. 80.)). 88Mascha Kaléko: Emigranten-Monolog. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 186. Erstmals erschienen in: Verse für Zeitgenossen (1945). Vgl. zu diesem Gedicht etwa: Sophie Bornscheuer: Heimat als Lücke. Referenzloses Heimweh in Mascha Kalékos Emigranten-Monolog. In: Doerte Bischoff u. a. (Hg.): Exil Lektüren. Studien zu Literatur und Theorie. Berlin 2014. S. 26–31. 89Mascha Kaléko: Deutschland, ein Kindermärchen. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 246–249. Erstmals erschienen in: Verse für Zeitgenossen (1958). 90Kaléko, M.: Emigranten-Monolog (s. Anm. 88). S. 186. 91Kaléko, M.: Deutschland, ein Kindermärchen (s. Anm. 89). S. 247. 92Vgl. dazu auch: Benteler, A.: Die besondere Rolle Heinrich Heines für Exilantinnen und Exilanten im 20. Jahrhundert (s. Kap. 2, Anm. 88).

6.3  „Hier werden alle Sprachen gesprochen und gebrochen“

267

6.3.2 „You’ve got a charming accent“ – Hundertzwanzig Minuten „Minute-Man“ Nach den Verhandlungen von Sprachen und Kulturen in Kalékos Lyrik sollen nun einige ihrer Prosatexte besprochen werden, die teils in Zeitschriften und Zeitungen publiziert wurden und teils zu Lebzeiten unveröffentlicht blieben. Kalékos Prosa steht in der Forschung im Vergleich zu ihren Gedichten deutlich im Hintergrund und hat bislang nur sehr wenig Beachtung gefunden. Der kurze Text Hundertzwanzig Minuten „Minute-Man“93 ist erstmals 1942 im Aufbau erschienen.94 Er schildert aus der Perspektive einer Ich-Erzählerin Erlebnisse bei der Freiwilligenarbeit in den USA während des Zweiten Weltkriegs. Im Auftrag des Staates haben Freiwillige bei der Bevölkerung Hausbesuche durchgeführt, um Kriegsanleihen, sogenannte „war-bonds“ als finanzielle Kriegsunterstützung zu erbitten. Der im Titel auftauchende Begriff des „Minute-Man“ geht allerdings ursprünglich auf den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg im 18. Jahrhundert zurück, als damit Freiwillige bezeichnet wurden, die auf Abruf der Bürgerarmee beitreten würden.95 Die Erzählerin überträgt die Bezeichnung nicht nur auf das aktualisierte Zeitgeschehen und die andere Art der freiwilligen Tätigkeit, sondern auch hinsichtlich ihres Geschlechts. „Abends von sieben bis neun, hundertzwanzig Minuten täglich, hab’ ich einen neuen Beruf. Ich bin ‚Minute-Man‘. Beziehungsweise ‚-woman‘“ (MM 424). Die Anforderungen für diese Arbeit seien unspezifisch zwischen „Keine“ und „allerlei“, doch in sprachlicher Hinsicht müsse man in der Lage sein, „wildfremden Leuten klar[zu]machen, in möglichst einwandfreiem Englisch, wenns geht“ (MM 425), wozu der Krieg geführt werde. Als Lohn erhalte man zwar kein Geld, komme aber dafür in den Himmel: „Nicht in die Hitlerhölle kommen, ist das nicht beinahe schon wie Himmel?“ (MM 425). Auf ihrem Weg durch diverse „rooming-houses“ in dem ihr zugeteilten New Yorker Einsatzbezirk Chelsea, der leider mehr „walkup[s]“ als „[e]levators“ zu bieten hat, begegnet die Minute-Woman Menschen verschiedener Kulturen, welche anhand von geläufigen Kulturklischees und Stereotypen dargestellt werden. In einem walkup in Chelsea öffnete ein nettaussehender Irishman einladend, und erst, als die Tür hinter mir zufiel, begann es nach Whisky zu riechen. Die Wohnung war alkoholdurchduftet. Wacker schritt ich vorwärts und traf auf eine Dinner-Party unter Freunden. (MM 425)

Die feier- und trinkfreudigen Iren unterschreiben zahlreiche Bonds. „Die Unterschriften flogen aufs Papier und die Gläser in die Höhe. V for Victory, and W for Whisky.“ (MM 425). 93Mascha Kaléko: Hundertzwanzig Minuten „Minute-Man“. In: Dies. Sämtliche Werke und­ Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 424–427. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle „MM“ und Seitengaben direkt im Text nachgewiesen. 94Mascha Kaléko: Hundertzwanzig Minuten „Minute-Man“. In: Aufbau 26 (1942). S. 7. 95Vgl. Rosenkranz, J.: Kommentar (s. Anm. 1). S. 179–180.

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6  Mehrsprachige Sprachsatire

Die Spanier in Chelsea, welche in Großfamilien auf engstem Raum zusammenleben, geben sich auf andere Art gastfreundlich. Sie laden zu Kaffee und Essen ein, während Sprachbarrieren bei der Unterzeichnung der Kriegsanleihen in Teamarbeit zu überwinden sind. Bürokratische Feinheiten werden andererseits nicht so genau genommen, während Rodrigo sich den Text des Pledge-Formulars in ordentliches Spanisch übersetzen liess. Das Wörtchen ‚Confidential‘, das so bedeutungsvoll über jedem Formular thront, machte hier gar keinen Eindruck. Alfonso weiß ohnehin, was Antonia nebenan verdient, und Vera, wenn sie zum Post Office geht, kauft gleich für die ganz Etage ein. (MM 426)

Das „Supper“ mit den Spaniern schildert die Ich-erzählende Minute-Woman als Eintauchen in eine andere Welt: Und es duftete so schön scharf nach Gewürz. Braunhäutige Murillo-Kinder hörten mir zu, und reizend waren diese kleinen Leute in ihren bescheidenen, sauberen Wohnungen, bunt und fremdländisch und das Englisch noch so zaghaft. „Lady, you write Vicente Vincent Novarro“ sagte die rundliche Spanierin mit den unvorstellbar dunklen Augen. „See –: Vincent is for his American Name, but we still keep his Spanish name too, ‘Vicente’, you know. Some people thinking, we no good Americans’ cause we also keep Spanish name. This is not true. See, young lady: He who keeps loving old country, will keep loving new country. He who forgets old country, will forget new country too.“96 (MM 426)

Die knappe und durchaus schablonenartige Darstellung von immigrierten US-Amerikaner*innen, die weiterhin kulturelle Gewohnheiten ihrer Herkunft und Vorfahren pflegen, ist vor dem Hintergrund der gesuchten Unterstützung für die Nation der USA in der Kriegssituation zu sehen. Das wie auch immer geartete Zugehörigkeitsgefühl zu einstigen Heimaten der Bevölkerung, so inszeniert es Kalékos Text, steht einer gleichzeitigen Verbindung und Verpflichtung zur neuen Heimat nicht im Wege. Im Gegenteil: das Sprichwort der Spanierin und der merkwürdige Doppelname „Vicente Vincent“, im Schriftbild nur durch die minimale Differenz zweier Buchstaben zu unterscheiden, veranschaulichen Möglichkeiten einer mehrfachen kulturellen Zugehörigkeit von Individuen innerhalb einer mehrsprachigen Gesellschaft. Während die als ‚einzeln‘ betrachteten kulturellen Gruppen, wie im obigen Zitat, etwa als „bunt und fremdländisch“ bezeichnet, ihre englischen Sprachfähigkeiten als „zaghaft“ beschrieben werden und ihre Lebensgewohnheiten sich von anderen Gruppen deutlich unterscheiden, vermag der Text durch sein humoristisches Ende gerade diese Besonderheit, auch in sprachlicher Hinsicht, wiederum als Normalität ins Licht zu rücken. Mit einigermaßen selbstbewusstem Sprachgefühl geht die Ich-Erzählerin und Protagonistin von Haustür zu Haustür, da sie sich gut vorbereitet und den englischen Text eingeübt hat. Sie ist erstaunt, wie freundlich ihr die Leute begegnen, weil sie sie nicht wie eine Bittstellerin oder eine Vertreterin wegschicken. „‚Auf Sie haben wir gerade gewartet‘, hörte ich 96Die

Bezeichnung „Murrillo-Kinder“ bezieht sich auf Kinderdarstellungen des Barock-Malers Bartolomé Estéban Murillo (1618–1682) (vgl. Rosenkranz, J.: Kommentar (s. Anm. 1). S. 180).

6.3  „Hier werden alle Sprachen gesprochen und gebrochen“

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oft, aber nicht im Sinne des ‚Uff Ihn’ ham wa jrade jewartet, Frollein!‘ sondern, freundlich: ‚We’ve been waiting for you.‘“ (MM 426). Erst die Übersetzung in ‚Berliner Schnauze‘ veranschaulicht im Kontrast die freundliche Tonlage der englischsprachigen Begrüßung im Gegensatz zur deutschsprachigen, die nicht selten auch ironisch gemeint sein kann. „Oft warteten die Leute gar nicht auf den wohleinstudierten ‚sales-talk‘, sie wussten schon, worum es ging. Aber was ein gewissenhafter Minute-Man ist, der ist sich seiner Pflicht bewusst und so legte ich los“ (MM 426–427). An einer Tür entgegnet der Hausherr „mit liebenswürdigstem Lächeln“ nach dem einstudierten englischen Vortrag: „My dear young lady. You did a wonderful job. Now I’ll confess: I knew all this by heart. I have been helping in turning out copy for this campaign, I practically wrote your speech. But it was delightful listening. You’ve got a charming accent.“ Und ich hatte meine Erfolge auf das vollendete Englisch geschoben … (MM 427)

Die desillusionierende Erkenntnis über die eigenen Sprachkenntnisse funktioniert als entlarvende Pointe im Text. In der Vielfalt der interkulturellen Unterschiede, die in diesem Text eher nebeneinander stehen, denn in Kontakt oder Austausch miteinander zu treten, scheint das Sprechen mit Akzent als verbindendes Moment.

6.3.3 „ein melting pot im ‚melting pot‘“ – Beschreibung von Gentrifizierung und Dekonstruktion kultureller ‚Originale‘ im Künstlerviertel „Greenwich Village“ Deutlich dynamischere Kulturenkonstellationen verhandelt einer von Kalékos Prosatexten, der sich dem New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village widmet. Die Auswahl der Textvorlage ist jedoch nicht ganz einfach, weil er in mehreren Versionen vorliegt, welche sich zum Teil nur leicht, zum Teil aber auch stärker voneinander unterscheiden. Unter dem Titel Spazieren in Greenwich Village ist der Text erstmals 1944 im Aufbau erschienen.97 „MK hat diese Reportage immer ­wieder überarbeitet und ergänzt, gekürzt und mit unterschiedlichen Titeln versehen.“98 Nach der Erstveröffentlichung lassen sich vier weitere Publikationen nachvollziehen.99 Der deutlichste Unterschied besteht darunter zu der Version, 97Mascha

Kaléko: Spazieren in Greenwich Village. In: Aufbau 47 (24.11.1944). S. 5. J.: Kommentar (s. Anm. 1). S. 181. 99Vgl. Rosenkranz, J.: Kommentar (s. Anm. 1). S. 181. Folgende Publikationen hat Rosenkranz zusammengetragen: 1) In: Süddeutscher Rundfunk (20.03.1956), unter dem Titel „Bummel durch Greenwich Village“, gelesen von einem Schauspieler. 2) In: Berliner Morgenpost (19.04.1959) unter dem Titel „Amerikas Schwabing ist europäisch“. 3) In: Feuilleton einer unbekannten Zeitung, Quellenangabe fehlt (07.09.1960), unter dem Titel „Hier tauschen Dichter Verse gegen Whisky“, 4) In: Norddeutscher Rundfunk, Sommer 1962, in der Senderreihe „Beschreibung einer Stadt“, unter dem Titel „Greenwich Village“ (Sendetermin und Sprecher lassen sich nicht ermitteln, da der NDR den Beitrag nicht archiviert hat. Nachdruck des Manuskripts in: Beschreibung einer Stadt. Hg. von Rainer Hagen. Hamburg 1963).

98Rosenkranz,

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6  Mehrsprachige Sprachsatire

wie sie 1962 im NDR gesendet und 1963 publiziert wurde, „[d]a dieser Text durch eine neue Erzählperspektive und einen anderen Duktus deutlich von den früheren Fassungen abweicht.“100 Der Eindeutigkeit halber wurde als Textvorlage für die folgende Analyse diejenige Version ausgewählt, wie sie unter dem Titel Spazieren in Greenwich Village in der aktuellen Kaléko-Gesamtausgabe abgedruckt ist.101 Ein Vergleich mit der Variante von 1962 bzw. 1963, wie sie ebenfalls in der Gesamtausgabe enthalten ist,102 etwa hinsichtlich der erwähnten Erzählperspektive, erscheint aber sinnvoll zu sein. Spazieren in Greenwich Village liest sich als humorvoll-ironische Darstellung der Künstler- und Schriftstellerszene des Künstlerviertels, das als ‚Montmartre von New York‘ galt und häufig einfach nur ‚Village‘ genannt wird. Die Erzählinstanz103 des Textes gibt sich als Bewohner*in und Insider*in. Besonders deutlich erkennbar ist diese Position in der jüngeren Textvariante Greenwich Village, wo sie sogar, zusätzlich durch die Erzähltechnik unterstützt, zum charakteristischen Merkmal wird. Denn dort spricht der*die Ich-Erzähler*in ein „Du“ an, das vage als „gentleman“ und Tourist bzw. Besucher zu fassen ist. „Du bist keineswegs eine Ausnahme, mein Lieber. Alle, aber auch alle, die herkommen – Du bist das erste Mal in New York, nicht wahr? – alle brennen darauf, Greenwich Village zu sehen.“104 Der*die Ich-Erzähler*in gibt sich in der Folge als Experte*in aus, schließlich lebt er*sie schon länger im Viertel. „Ich muß es wohl wissen. Wie lange ich hier schon lebe? Nun, im Künstlerviertel hier unten nahezu zwanzig Jahre.“105 Freundlicherweise erklärt er*sie sich bereit, seinen Stadtteil zu zeigen. „Du hast recht, den Fremdenführer machen, das tut man nicht für jeden.“106 So lässt er*sie es sich auch nicht nehmen, dem Besucher als Erstes eine kleine Sprachlektion zu geben: „Also, erstmal mußt du lernen, daß es nicht Grienuitsch Villitsch heißt. Sondern Grynnitsch (sprich „y“ – nicht „i“ und nicht ganz „e“) Willydsch. Was, im übrigen, nicht einmal jeder New Yorker richtig kann.“107 Anhand der schriftlich nachgeahmten Aussprache, wie sie bereits als Stilmittel in Kalékos Lyrik identifiziert wurde, versucht der*die Erzähler*in dem offensichtlich deutschsprachigen „Du“ die englische Aussprache nahezubringen.

100Rosenkranz,

J.: Kommentar (s. Anm. 1). S. 181. Kaléko: Spazieren in Greenwich Village. In. Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 427–436. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle „SGV“ und Seitenangabe im laufenden Text zitiert. 102Mascha Kaléko: Greenwich Village. In. Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 451–467. 103Im Text gibt es keine näheren Hinweise darauf, ob es sich um einen Erzähler oder eine Erzähle­ rin handelt. Daher verwende ich erneut die Variante mit Gender-Sternchen. 104Kaléko, M.: Greenwich Village (s. Anm. 102). S. 451. 105Kaléko, M.: Greenwich Village (s. Anm. 102). S. 451. 106Kaléko, M.: Greenwich Village (s. Anm. 102). S. 451. 107Kaléko, M.: Greenwich Village (s. Anm. 102). S. 452. 101Mascha

6.3  „Hier werden alle Sprachen gesprochen und gebrochen“

271

Dass er*sie die Englischkenntnisse seines*ihres Gegenübers nicht als besonders fortgeschritten einschätzt, deuten indessen mehrere Textstellen an, etwa, wenn er*sie die Eisbestellung übernimmt: „Welche Eiskrem nimmst du? […] Laß mich das machen, geht, schneller. JIM, please: one cantaloupe with pistaccio for the gentlemen. And for myself? Make it a Banana Split.“108 Immer wieder übersetzt der*die Erzähler*in im Text für seinen*ihren Begleiter und vermittelt durch verschiedene Code-Switchings nicht nur Informationen über das Stadtviertel, sondern auch Sprachkenntnisse. Du hast richtig vermutet – jetzt muß ich dich ein bißchen ‚belernen‘. Auf dem Zettel hab’ ich dir was abgeschrieben. Aus meinem Webster. Na, schön, sagen wir ruhig dazu Amerikanischer Brockhaus. Reicht dein Englisch aus, oder soll ich’s dir lieber gleich in deutsch vorlesen? Also: ‚Greenwich Village, ursprünglich ein Dorf auf der Insel Manhattan, nun ein Stadtteil von New York City […]‘109.

Die Art und Weise, in welcher sich in dieser neueren Textversion der*die Ich-Erzähler*in nicht nur als ortskundig, sondern auch als mehrsprachig versiert ausgibt und ein „Du“ anvisiert, dem er*sie verschiedene Sprach- und Aussprachelektionen gibt, erinnert stark an Erzählverfahren und Erzählhaltung, wie sie auch in mehreren Texten Lansburghs (siehe dazu Kap. 7) zu finden sind. In der älteren Textversion Spazieren in Greenwich Village nimmt sich die narrative Instanz im Vergleich dazu deutlich stärker zurück und inszeniert kein solches fiktives, wenn auch einseitiges Gespräch mit einem Gegenüber. Unabhängig von der unterschiedlich akzentuierten Erzählweise machen alle Versionen von Kalékos Text deutlich, dass „Greenwich Village“ nicht „lediglich eine geographische Bezeichnung“ des Viertels im Südwesten von Manhattan ist: „‚Greenwich Village‘, das ist so etwas wie ein Geisteszustand. War es zumindest“ (SGV 428). Daraufhin zeichnet der Text die Entwicklung des Künstler- und Szeneviertels als zeitliche Überlagerung des städtischen Raumes von Kulturen, Strömungen und Trends nach. Nachdem das einstige Dorf amerikanischer Indigener, welches sich auf der Insel Manhattan befand, das von niederländischen Einwanderern gekauft wurde und auf das auch dessen Name zurückzuführen ist, als Ausgangspunkt der Geschichte benannt wird, befasst sich der Text vorwiegend mit jenen Entwicklungen in Greenwich Village, die man heute als Gentrifizierung beschreiben würde. So um die Jahrhundertwende sind auch hier die künftigen Rembrandts in Sammetwams und Flatterschleife durch die Gefilde geschlendert. Damals, als zum Entsetzen puritanischer Eltern ihre kleinen Bürgermädchen aus Smalltown das biedere Kattunkleid ablegten, um in die Uniform der damaligen Sittenverderbnis, das Batik-Gewand des „heiteren Künstlervölkchens“ zu schlüpfen, da begann der Zug in das „Village“. Wer nicht gleich nach Paris konnte, dem wurde dieses Greenwich Village zum Montmartre. (SGV 428)

108Kaléko, 109Kaléko,

M.: Greenwich Village (s. Anm. 102). S. 453. M.: Greenwich Village (s. Anm. 102). S. 453.

272

6  Mehrsprachige Sprachsatire

Bis die Real-Estate-Geschäftemacher kamen, und „artistic atmosphere“ so in den Preis miteinbegriffen wurde wie etwa „steamheat“ oder „elevator“, war diese Gegend ein Paradies für Habenichtse. Nun aber, da das schreiend angekündigte nightlife jedes Kellerloch und jeden Pferdestall zum mondänen nightclub gemacht hat, schlafen die Künstler brav in ihren studios, und die Fremden von „uptown“ oder „von ausserhalb“ trinken und jazzen bei grellem Licht oder in kerzenbeleuchteten schummrigen Tavernen. Gegen morgen siehst du sie müd in die subway steigen. Trunken, aber zufrieden lächelnd: Sie sind im Village gewesen. (SGV 432)

Das einstige Leben der Bohème („Als die Künstlerideale noch hoch, die Mieten aber niedrig waren.“ (SGV 429)) sei inzwischen zum leeren Etikett verkommen, das immer mehr Menschen anlocke und das Viertel dadurch grundlegend verändert habe. „Aus der Improvisation des glücklichen Moments ist ein Gummistempel geworden, ein Cliché, ein Hut, der auf jeden Kopf passt. Ein Bohémien aber ist einer nur, bis er einer sein möchte“ (SGV 435). Dass es sich dennoch um eine mit Europa verglichen äußert junge Geschichte bzw. „junge Antike“ (SGV 432) handelt, so warnt der*die Erzähler*in, falle beim sogenannten „studio hunting“ (SGV 432) neben den hohen Mieten in Greenwich Village auf. Was nun die berühmten „alten Häuser“ betrifft, so sehr bejahrt sind auch die ältesten nicht, an Nürnberg oder Rothenburg gemessen. Und wer die Namen Prag, Rom oder Paris nicht nur aus Kriegsberichten kennt, dem wird nicht gleich der Hut vom Kopfe fallen vor lauter Ehrfurcht. Wie aber wohl dem Highschool-Girl dreissig Jahre schon ein Greisenalter scheinen mögen, so ist dieser siebzehnjährigen Stadt das „colonial house“ schon sozusagen klassisches Altertum. […] Wer noch nicht allzuviel Vergangenheit aufzuweisen hat, muss sorgsam mit dem Bisschen umgehen. (SGV 432)

Auf verschiedene Weise verhandelt der Text den Umgang mit kulturellen Ursprüngen und ‚Originalen‘ sowie deren Adaptionen und historischen Überlagerungen. Das gilt besonders auch für die Ähnlichkeit mit Paris, welche Greenwich Village vielfach nachgesagt wird. Der*die Erzähler*in schätzt diesen Vergleich als nicht ganz zutreffend ein. Es handele sich bei Greenwich Village eher um eine schlechte Kopie, eine „verwässerte Auflage“, die weit entfernt vom ‚originalen‘ Montmartre zu situieren sei. „Man sachte … Es gibt ja auch ‚echt‘ französisches Parfum im Five-and-Ten. So garantiert französisch jener ‚Breath of Paris‘, 10 cents a bottle, – genau so echt pariserisch ist dieser ‚Montmartre‘“ (SGV 427). Stadt in der Stadt ist dieses Greenwich Village. „Main Street“ ist die achte Strasse mit ihren bunten Auslagen, Kinos und Nachtlokalen. Abends, wenn die Neon-Lichter leuchten, erinnert es ganz entfernt an Paris, Montmartre, verwässerte Auflage. Es ist alles da – vom Schwarzen Kater zum Chinesischen Drachen, das „Rochambeau“ mit seinen Karikaturen. „Chez Louis“ und „Le Petit Gourmet“ sind auch vertreten. (SGV 433)

Kalékos Text zeigt ein Stadtviertel in New York, dessen kulturelle Zusammensetzung in diachroner und synchroner Perspektive genauso verwinkelt, verzweigt und teilweise unübersichtlich ist wie seine „oft ganz un-newyorkischen Strassen, an deren Ecken zuweilen Europa grüssen lässt.“ (SGV 431).

6.3  „Hier werden alle Sprachen gesprochen und gebrochen“

273

Denn die Strassen im Village haben es in sich. Selbst als Ortsfremder orientierst du dich „uptown“ sehr rasch nach Breitengraden. Hier aber sind die Gassen oft voll labyrinthischer Tendenzen. Und was eben noch so deutlich als Waverly Place begonnen, führt dich oft an ein betrübliches Ende, in eine Sackgasse, mit nie zuvor gehörtem Namen. (SGV 432)

Auch was die Darstellung von Sprachenkonstellationen in Greenwich Village betrifft, zeichnet Kalékos Text ein äußert diverses Bild von Überlagerungen und Uneindeutigkeiten, das der topografischen Darstellung von verwinkelten Straßen ähnelt: Hier werden alle Sprachen gesprochen und gebrochen, sogar Berlinerisch kannst du hören, waschecht in der Morton Street, wenn Valeska Gert mit ihren Refugee-Kellnern abrechnet, so gegen halb zwei. Oder, gelegentlich, auch Yiddisch, wenn Sonja Wronkow – die Yvette Gilbert des Romanischen Cafés, einen schmettert. Ein melting pot im „melting pot“, das ist das Village, und jeder wird hier, sagen wir mal: selig nach seiner Fasson. (SGV 434)

Indem auf Valeska Gerts Kabarett-Restaurant in New York mit ihren „waschecht“ berlinernden „Refugee-Kellnern“ oder auf einen anderen in New York befindlichen Exilanten – „‚Grüß di Gott‘ und ‚How are you‘ – Oskar Maria Graf“110 – angespielt und zusätzlich unterschiedliche Varietäten hinzukommen, dekonstruiert der Text die Vorstellung von einheitlichen Sprachen des ‚Eigenen‘ oder ‚Fremden‘, die sich diametral gegenüberstehen. Mit dem Verweis auf Sonja Wronkow, die mit Hilfe von jiddischen Elementen eine neue Kabarettsprache entwickelte, verstärkt sich das dynamische Sprachgefüge, welches Kalékos Text inszeniert. Diese Dynamik von Sprachen sowie die Aussage „Hier werden alle Sprachen gesprochen und gebrochen“ lässt sich nicht zuletzt auch auf das textinterne Spiel mit Sprachen übertragen. Indem der kurze Prosatext mit verschiedensprachigen Elementen experimentiert, entsteht ein literarischer translingualer Raum – ein sprachlicher und sprachreflexiver melting pot, in welchem sich ästhetisch mehrere Sprachen und Varietäten dynamisch kreuzen und zu einer mehrsprachigen Literatursprache verdichten. Diese Ergebnisse stehen in kontrastreichem Gegensatz zu dem Resümee, ­welches Hadjeva am Ende ihrer Untersuchung von Greenwich Village und einem weiteren Text Kalékos, „Kleiner Abstechter nach ‚Delancey‘“ bzw. „Lower Eastside“ (vgl. dazu den folgenden Abschn. 6.3.4) erstellt. Hadjeva sortiert die von ihr im Text als „Fremdwörter“ diagnostizierten Wörter und Wendungen in Kategorien, z. B.: geografische Bezeichnungen, Eigennamen, aus dem Englischen entnommene Wörter und Wortgruppen, Lexikalische Formen, die aus einem deutschen und einem englischen Teil bestehen (darunter auch „Neubildungen, die lexikalisch dem englischen bzw. einem anderen Sprachbereich, morphologisch

110Diese Textstelle taucht in der Form einzig und allein in der posthum veröffentlichten Ausgabe auf: Mascha Kaléko: Der Gott der kleinen Webefehler. Hg. von Gisela Zoch-Westphal. Erw. Ausg. München 1985. S. 59.

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6  Mehrsprachige Sprachsatire

aber der deutschen Grammatik zuzuordnen wären oder aber eine morphologische Mischform aus zwei Sprachen darstellen“ („am eastsidesten“, „gematched“)), deutsche Benennungen, die durch ihre englischen Entsprechungen erläutert oder näher bestimmt werden und in Klammern angeführte deutsche Übersetzungen von englischen Begriffen.111 Dieser durchaus vielversprechende Ansatz, Mehrsprachigkeit bei Kaléko systematisieren und analysieren zu wollen, versickert bei Hadjieva jedoch in einer zweifelhaften Interpretation. So weisen die zahlreichen Fremdwörter in „Greenwich Village“ und „Lower Eastside“ nicht auf einen produktiven kulturellen Austausch hin, sondern viel mehr auf die Probleme, die aus der Koexistenz verschiedener Kulturen resultieren. In diesem Zusammenhang ist noch zu erwähnen, dass durch die Konkurrenz des englischen und deutschen Sprachgebrauchs und durch den Bezug amerikanischer und/oder englischer Bezeichnungen und amerikanischer Erscheinungen auf ihre europäischen Äquivalente ein Gegensatz zwischen Eigenem und Fremdem bzw. Europa und Amerika hergestellt wird, der als Grundprinzip des formalen und inhaltlichen Aufbaus der Texte dient.112

Von einer „Konkurrenz“ zwischen deutschem und englischem Sprachgebrauch zu sprechen, die als formales und inhaltliches Grundprinzip der Texte fungiere, entspricht den Textes Kalékos keineswegs. Hadjieva liest sie weiterhin nicht nur als Zeugnisse für eine bloße Koexistenz von Kulturen, d. h. nicht vorhandener Interkulturalität, in den beschriebenen Stadtteilen,113 sondern behauptet darüber hinaus sogar, dass hier bei Kaléko „eine traditionelle Kulturauffassung zum Ausdruck kommt, wie sie schon Herder formuliert hat“114, im Sinne von Kulturen als gänzlich voneinander abgetrennten Inseln. Dass die Textversionen Manhattan als „Insel“ in den Blick nehmen und diese hinsichtlich ihrer historischen und transkulturellen Überlagerungen darstellt, steht diesem Gedankenschluss deutlich gegenüber. Die Interpretation Hadjievas erscheint mir als nicht haltbar, denn ich denke, dass die besprochenen Texte Kalékos ein solches Kulturkonzept grundsätzlich infrage stellen: erstens weil sie Mehrsprachigkeit zum Schreibverfahren erheben; zweitens, indem sie kulturelle Ursprünge, wie anhand von Spazieren in Greenwich Village bzw. Greenwich Village deutlich wurde, als von vornherein illusionär entlarven und in ihrem Spiel mit Stereotypen und Kulturklischees teilweise unterlaufen – selbstverständlich nicht ganz ohne sie damit einhergehend gewissermaßen auch zu reproduzieren.

111Vgl. Hadjieva, N.: Interkulturalität in „Lower Easide“ und „Greenwich Village“ (s. Anm. S. 263–264. 112Hadjieva, N.: Interkulturalität in „Lower Easide“ und „Greenwich Village“ (s. Anm. S. 265. 113Vgl. Hadjieva, N.: Interkulturalität in „Lower Easide“ und „Greenwich Village“ (s. Anm. S. 268–269. 114Hadjieva, N.: Interkulturalität in „Lower Easide“ und „Greenwich Village“ (s. Anm. S. 266.

45). 45). 45). 45).

6.3  „Hier werden alle Sprachen gesprochen und gebrochen“

275

Inwiefern dieser Schluss, der im Gegensatz zu Hadjievas binärer Sichtweise steht, auch auf Kalékos Prosatext über die „Lower Eastside“ New Yorks übertragbar ist, gilt es im Folgenden zu untersuchen.

6.3.4 Jüdisches Leben und „Delancey-Vernacular“ in der „Lower Eastside“ Ein ganz anderes Stadtviertel als das zum Szeneviertel mutierende Greenwich Village beobachtet Kalékos Text Kleiner Abstecher nach „Delancey“115, der erstmals 1945 im Aufbau erschienen ist.116 Die Lower Eastside Manhattans galt zur Zeit der Entstehung des Textes als ärmerer Stadtbezirk, in dem seit den Einwanderungsbewegungen im 19. Jahrhundert sehr viele jüdische Emigrant*innen lebten. Immer haben die Armen hier gewohnt, die Iren und die Deutschen, die Italiener und vor allem die Juden. In den ersten sweatshops hier haben die bleichen Schneider und Hosenbügler des jiddischen Proletendichters Morris Rosenfled letzte Restchen Gesundheit weggeschwitzt. (KAD 437)

„Die ‚Eastside‘, wo sie am east-sidesten ist, das ist ‚Delancey‘“ (KAD 436). Erneut finden sich auch in diesem Text Kalékos zahlreiche mehrsprachige Einsprengsel, dabei jedoch nicht überwiegend nur aus dem Englischen, sondern auch aus dem Jiddischen. Dafür, dass es bei diesem intratextuellen Sprachkontakt auch zu kleineren Sprachfusionen kommt, etwa zwischen Deutsch und Englisch, ist die bereits erwähnte Steigerungsform „am east-sidesten“ nur ein Beispiel. „Es ist alles ‚businesslike‘ in Delancey, und beinahe tadellos“ (KAD 436). So beschreibt der Text Delancey als Stadtviertel, das sich an Warenangebot und -auslagen der exklusiveren Stadtteile orientiert, allerdings mit dem Unterschied, dass hier nur zweite und dritte Wahl sowie günstige Nachahmungen zum Verkauf ­stehen. Denn hier beten die kleinen Schuljungen mit den ewig zerfetzten Hosenböden zum Gott der „kleinen Webefehler“. Der fügt es, dass „Mom“ zu den Feiertagen einen neuen „Overall“ kaufen kann für den kleinen Jack – und die anmutenden Shirleys tragen ihre Dollar-Kleidchen vom bargain-counter in Orchard Street als wäre es Modelle aus der „sündteuren“ Fifth Avenue. In Orchard Street ist alle Tage „letztmaliger Ausverkauf“ und immerdar special. (KAD 436–347)

So findet textinterne Mehrsprachigkeit unter anderem durch die Montage von Aufschriften, wie man sie auf Verkaufsdisplays findet, statt. „‚Grab it!‘ schreit ein hausgemachtes Plakat über einem Korb voller Herrenschlipse, die so gut wie gar

115Mascha Kaléko: Kleiner Abstecher nach „Delancey“. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. Bd. 1: Werke. München 2012. S. 436–444. Im Folgenden wird dieser Text unter der Sigle „KAD“ und Seitenangabe direkt im Text zitiert. 116Mascha Kaléko: Kleiner Abstecher nach „Delancey“. In: Aufbau 36 (1945). S. 11.

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6  Mehrsprachige Sprachsatire

nichts kosten. Auch die négligée-esten der rosaseidenen Négligées scheuen das Tageslicht keineswegs“ (KAD 437). Im Folgenden richtet sich die mehrsprachige Erzählweise wiederum auf die Darstellung gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit, etwa wenn der Erzähler ein Hinweisschild an einem Mietshaus beobachtet, das eine offensichtlich mehrsprachige Hausgemeinschaft erreichen soll, innerhalb derer Englisch nicht unbedingt geläufig sein muss: „Und es spricht zu jedem der tenants in seiner Sprache: in Jiddisch, in Italienisch – und für etwaige Englischsprechende – in Englisch.“ (KAD 437). Im Speziellen betrachtet der Text das Leben der jüdischen Bevölkerung in der Lower Eastside. Sprachkombinationen zwischen Englisch, Jiddisch und Hebräisch schreiben sich in die literarische Sprache ein. So würden maßgeschneiderte Hosen, im Englischen eigentlich „Pants Matched“, im „Anglo-Jiddisch dieser Branche“ zum Beispiel zu „‚Zipassen Pants‘“ (KAD 441). Was Lebensmittel betrifft, sei weiterhin alles „strictly kosher“ (KAD 442) „Denn hier, brother, bist du mitten im Paradies der koscheren Delikatessen. – Jiddischen Schlaraffenland, wo sogar der Wein ‚kosher‘ ist und das Gänseschmalz ‚100% pure‘, wie ein Anschlag eigensinnig behauptet.“ (KAD 440). „Nun aber – ‚Knishes!‘ – Das ist kein Fluch, Fremdling. Eher ein Segen. Besonders, wenn vom Pasteten-Expert zubereitet, und à la russe mit Kohl gefüllt […]“ (KAD 440). Ein traditionelles Gericht, das als typisch für „Juden aus dem Osten“ gelte, ist gepökelter und marinierter Hering bzw. „Marinierte Herring“ (KAD 442). Der jüdischen Nase ist dieses Aroma nicht unwillkommen, sondern appetitanregend, gerade wie den Russen und Skandinaviern. Nur die Nüstern minder heringophiler Völkerstämme sind so allergisch gegen ihn. (Ward die Vorliebe für diesen „Caviar des Juden“ nicht sogar zum politischen Argument gegen ihn?) (KAD 441)

Die Wortneuschöpfung und Erfindung etwaiger „heringophiler Völkerstämme“, die sich von „minder heringophiler Völkerstämme[n]“ unterscheiden, liest sich als satirische Anspielung auf die politische Instrumentalisierung von willkürlich ausgewählten Stereotypen, wie sie sich bis zur rassistischen Verfolgung und Ermordung von Bevölkerungsgruppen verschärfen kann. Der marinierte Hering, so heißt es weiter im Text, habe von Delancey aus aber inzwischen ohnehin seinen „Siegeszug über New York angetreten“ und werde auch in Saloons zu Whisky und Bier gereicht. „Delancey hat also den Hering quasi ‚saloonfähig‘ gemacht“ (KAD 442). Jedoch hapere es noch mit der ‚korrekten‘ Aussprache, denn „die angelsächsich-fremde Aussprache des Wortes ‚Schmaltz-Herring‘ klingt ebenso komisch wie die traditionelle Delancey-pronunciationen angelsächsischer Delikatessen.“ (KAD 442). Das transformative und translinguale Wortspiel zwischen dem englischen „saloon“ und dem deutschen „salonfähig“ ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie Kalékos Text immer wieder durch die Überschreitung von Sprachgrenzen kreatives Potenzial schöpft. Ein so entstehender translingualer Raum birgt neben Kreativität, wie in Abschn. 4.2.4 besprochen, auch die Möglichkeit der Kritik durch sprachliche Transformationen, wofür beispielsweise die Textstelle um den ironischen Neologismus „heringophil“ herangezogen werden kann.

6.3  „Hier werden alle Sprachen gesprochen und gebrochen“

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Weiterhin inszeniert der Text, wiederum teils ironisch, dass es im „Paradies der kosheren Delikatessen“ keineswegs nur Essbares gibt, sondern man hier auch allerlei religiöses Zubehör erhalten kann oder sogar gleich mit dazubekommt. „Greifst du, des Watte-Weißbrots müde, zu ‚Moishe’s Jewish Pumpernickel‘, so ist dasselbe nicht nur ‚ärztlich empfohlen‘, sondern hat überdies den Michelangelo-Moses zum Markenzeichen – mitsamt den Zehn Geboten“ (KAD 440). Für jüdische Feiertage könne man sich in der Rivington Street ausstatten. Dort gibt es zum Beispiel riesige Bibelbuchstaben: „Siddurim. Machsorim“. Gebetbücher in sämtlichen Preislagen, und „Alles für den Sabbath-Tisch“; silberne „Kiddush-Cups“ und handgedrehte „Havdole-Candles“. Auch „Talessim“ in silk oder wool […]. Auf Sammetkissen funkelt auch der Davidstern, in Ausführungen für jeden Geschmack, und der Kitsch der Massenindustrie hat sich seiner ebenso bemächtigt wie der Symbole anderer Religionen. (KAD 440)

Nicht zuletzt bieten in Delancey „Schadchen“ – ein jiddisches Wort für Heiratsvermittler – ihre Dienste an. „Frischauf, mein Herz und zage nicht; denn hier empfiehlt ein ‚Schadchen‘ sich all denen, die ein holdes Weib noch nicht errungen. – Offensichtlich ein Heiratsvermittler of ‚quick results‘“ (KAD 440). Denn direkt daneben befindet sich schon das Schild von „Reverend Siegel, der gegen einen ‚modest fee‘ willens und befugt ist, den Segen des heiligen Ehestandes über euch auszusprechen. Mister Siegel ist ein ‚Marriage Performer‘ seines Zeichens.“ (KAD 441). Allerdings zeugt das Geschäftschild des Reverend von einem sprachlichen Missgeschick, „wie die englische Inschrift in ihrem Übereifer sich verhaspelt“: Dort steht „‚Marriage Perforformer‘. (Wer das nicht glaubt, sehe selber nach: Rivington Street, corner Orchard.)“ (KAD 441). Sprachliche Phänomene nimmt der Text weiterhin in den Blick, wenn es um Bewohner*innen aus der Lower Eastside oder ähnlichen Vierteln in der Welt geht, die einen sozialen Aufstieg geschafft haben, zum Beispiel als Geigenvirtuose, Comedian oder in Hollywood, wo „uns“ von der „Leinwand […] aus so manchem Augenpaar die ‚Eastside‘ sämtlicher Weltstädte an[blicke]. Eddie Cantor, Paul Muni, John Garfield, das sind nur drei von all den vielen, die ‚gut gemacht‘ haben, wie es auf New-Yorkisch heißt.“ (KAD 439). Das netteste an der Sache ist, dass die meisten dieser Eastside-Stars sich geradeheraus zu ihrer Herkunft bekennen, in diesem Land des selfmade-man. „…Sure. I’m an Eastside-Kid“, sagen sie, und schon schwimmen sie im muntersten Delancey-Vernacular. Keinem fällt auch nur ein, eine Park-Avenue-Kinderstube vorzuzaubern, wo es nur einen Schneiderkeller gab. […] Die Eastsidejungen, die „boy-tshiks“, wie man in Delancey sagt, haben nach uptown importiert. Im Zeitalter der Lichtreklame ist so mancher kleine Isidor, zum „Irving“ avanciert. Und unzählige zum „Milton“, die einstmals „Moishe“ hiessen. Ja, es gab eine regelrechte „Milton“-Epidemie auf der Eastside. (Vergleiche unter „Siegfried“ anderswo …) (KAD 439)

Wenn der Text in diesem Zusammenhang weiterhin das komische Potential und den Einfluss von Umgangssprache auf Sprache – „von der ‚slanguage‘ zur ‚language“ (KAD 439) – sowie die Bedeutung des jüdischen Witzes thematisiert, lässt

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6  Mehrsprachige Sprachsatire

sich das auch auf die mehrsprachige Gestaltung des translingualen Spielraums übertragen, welchen der Text selbst hervorbringt. Über den Einfluss jüdischen Humors auf den New Yorker „wise-crack“ ließe sich ein kleiner Wälzer schreiben. Bis in die Broadway-Spalten der Tageszeitung ist der „wise-crack“ (eine Art Blitz-Bonmot in Volksausgabe) gedrungen, und von der „slanguage“ zur „language“ ist nur ein kleines „s“. (KAD 439)

Dass im Spiel mit Sprachen und Kulturen, wie Hadjieva feststellt, lediglich „Probleme, die aus der Koexistenz verschiedener Kulturen resultieren“117, und eine Herdersche Kulturauffassung zum Ausdruck komme, übersieht insofern gänzlich die Ironie und humoristischen Effekte von Kalékos Text. So trägt der letzte Abschnitt des Textes über die Lower Eastside den Titel „Die ‚Fromme Ecke‘, etwas Balkan und ‚Rooms‘ für fifty cents“. Darin überlagern sich „[h]übsch rumänisch und unverfälscht“ Weinkeller-Restaurants mit „Maiskolben- und Paprika-Dekoration, den schmachtenden Geigen und dem süssberauschenden Muscatel“ (KAD 443), eingelegten Fischen und „Harem Delight“ und allem möglichen zwischen „Balkan“, „Bosporus“ und „Damaskus“: Was aber ist „Kaffal“ und was „Lakerda“? Die gab’s bei Caldes, Exotische Fischkonserven. Der ganze Balkan ist da mit Kisten voll von „Harem Delight“, „Damaskus Maid“ und anderem Bosporus-Konfekt. Doch heißt’s auf Jiddisch in der Eingangstür: „Schabbes geschlossen“. (KAD 443)

In der humorvollen Überspitzung führt das Aufrufen vermeintlich eindeutiger kultureller Zuschreibungen vielmehr dazu, dass sich diese nicht zuletzt durch mehrsprachige Textphänomene überlagern und die Attribute somit in ihrer Unübersichtlichkeit ausgestellt werden, d. h. ihre Eindeutigkeit als Trugschluss entlarvt wird. Paratextuell ist es schließlich auch bemerkenswert, dass die in diesem Kapitel besprochenen Prosatexte Kalékos alle zunächst in den 1940er Jahren im Aufbau erschienen sind. Die Textsorte des Zeitungsartikels und die Publikation in einem der wichtigsten deutsch-jüdischen Foren der in den USA lebenden Exilierten rückt Kalékos mehrsprachige New Yorker Gesellschaftsminiaturen auch in einer kulturvermittelnden Qualität ins Licht. Der im Folgenden als letztes besprochene Text Kalékos blieb im Gegensatz dazu zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht und wurde von den Literaturwissenschaften bisher völlig übersehen. In Wendriner in Manhattan… tauchen einige der mehrsprachigen Stilmittel, wie sie bis hierhin besprochen wurden, wieder auf und werden neu zusammengestellt. Es ist der in Bezug auf Mehrsprachigkeit vermutlich experimentellste Text Kalékos, der unbedingt einer genaueren Untersuchung bedarf.

117Hadjieva, N.: Interkulturalität in „Lower Easide“ und „Greenwich Village“ (s. Anm. 45). S. 265.

6.4  „Dazu noch ein bißchen Englisch, das Ganze gut schütteln“

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6.4 „Dazu noch ein bißchen Englisch, das Ganze gut schütteln“ – Translinguales Schreiben in Wendriner in Manhattan Der in Kalékos Nachlass befindliche kurze Text Wendriner in Manhattan… Ein Mann auf dem Abwege118 ist vermutlich 1941 entstanden.119 Die unter dem Titel stehende Widmung „(In memoriam Kurt Tucholsky, der uns ihn sehen lehrte.)“ (WM 802) verweist nicht nur auf die intertextuelle Anspielung des Textes auf die Wendriner-Geschichten von Kurt Tucholsky, sondern stellt sie an dieser prominenten Stelle als eine Art Motto des Textes voran. Kurt Tucholsky hat zwischen 1922 und 1930 unter dem Pseudonym „Kaspar Hauser“ sechzehn Geschichten vom Herrn Wendriner in der Weltbühne veröffentlicht, mit denen Kalékos Text große Ähnlichkeiten aufweist. Daher erfolgt ein Exkurs zu Tucholskys Wendriner vorab.

6.4.1 Die Wendriner-Geschichten von Kurt Tucholsky Tucholskys Figur des Herrn Wendriner120 ist immer wieder als Idealtypus des Berliner jüdischen Bourgeois gelesen worden.121 Folgende Informationen über die Figur lassen sich durch Andeutungen aus den einzelnen Geschichten zusammentragen: Er ist vor einigen Jahren aus Breslau zugezogen und lebt als assimilierter Jude und Geschäftsmann, „vermutlich aus der Konfektionsbranche“122, in Berlin. Er ist verheiratet, hat mehrere Kinder und „verkehrt bevorzugt im jüdisch-assimilierten Kreis seiner Geschäftspartner“123. Seine lauten Manieren weisen ihn als einen Parvenu aus. Vor allem die Sprache, der Gebrauch bestimmter Wendungen und Wörter wie z. B. „goj“, „Stieke“ usw. deutet auf seine jüdische Herkunft hin. Von sich selber aber behauptet er das nie direkt. Wenn er über sich spricht, sagt er nie: „Wir Juden“, sondern: „Die Juden sollten […]“.124

In den einzelnen Geschichten geht Herr Wendriner alltäglichen Beschäftigungen nach. Zum Beispiel kauft er ein, empfängt Besuch, nimmt ein Bad oder geht zum

118Mascha Kaléko: Wendriner in Manhattan… Ein Mann auf dem Abwege. In: Dies.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jutta Rosenkranz. München 2012. Bd. 1: Werke. S. 802–806. Im Folgenden werden die Seitenangaben direkt im Text angegeben, unter Verwendung der Sigle „WM“. 119Vgl. Rosenkranz, J.: Kommentar (s. Anm. 1). S. 392. 120Wieso er den Namen „Wendriner“ trägt, ist noch nicht eindeutig geklärt. (Vgl. Giovanni di Stefano: Die Monologe des Herrn Wendriner – ein Fall von jüdischem Selbsthaß? In: Michael Hepp (Hg.): Kurt Tucholsky und das Judentum. Dokumentation der Tagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft vom 19. bis 22. Oktober 1995 in Berlin. S. 113–131, hier: S. 123). 121Vgl. z. B. Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen. Frankfurt a. M. 1982. Bd. 1. S. 71. 122Mayer, H.: Ein Deutscher auf Widerruf (s. Anm. 121). S. 71. 123Di Stefano, G.: Die Monologe des Herrn Wendriner (s. Anm. 120). S. 124. 124Di Stefano, G.: Die Monologe des Herrn Wendriner (s. Anm. 120). S. 124.

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6  Mehrsprachige Sprachsatire

Friseur. Formal sind die Wendriner-Geschichten Monologe, wenngleich sich Wendriner an „‚Gesprächspartner‘ wendet, die in den Texten angesprochen und genannt werden, ohne diesen letzteren allerdings eine klare Widerspruchs- bzw. Zustimmungsfunktion zuzuweisen.“125 Tucholskys Wendriner-Geschichten waren äußerst erfolgreich, aber gleichzeitig auch sehr umstritten. Sie haben teilweise für harte Kritik gesorgt. So führt etwa Gershom Scholem die Texte Tucholskys als Beispiel mit dem Vorwurf an, es handele sich dabei um „jüdischen Antisemitismus“: Verdankt man doch einem deutschen Juden, der das Judentum verlassen hatte, obwohl er, wie er schrieb, natürlich wußte, daß man das nicht kann, die […] ‚erbarmungslosesten Nacktaufnahmen‘ der Berliner Bourgeosie, die überhaupt existieren und die als unheimliches Dokument der jüdisch-deutschen Realität bleiben werden – ich meine die von Kurt Tucholsky verfaßten Monologe des Herrn Wendriner.126

Aber Tucholskys Wendriner, so argumentiert u. a. Giovanni di Stefano, „steht nicht nur für ein spezifisches jüdisches Milieu, sondern auch – sozusagen stellvertretend – für die politischen und bürgerlichen Untugenden der Deutschen.“127 Daher sei die Kritik an den konservativen assimilierten Kreisen bei Tucholsky von einer allgemeinen Kritik an der politischen Situation in Deutschland nicht zu trennen. „Der Gegenpol zu Wendriner wäre ein kritischer mündiger Bürger.“128 Seine Persönlichkeit als unbelehrbarer, völlig unbekümmerter und ständig schwatzender Berliner Bourgeois, der bei jeder Gelegenheit nur ans Geschäft denken kann, bekommt markante, unverwechselbare Züge. Tucholsky war dennoch daran gelegen, keine einseitige Karikatur à la Grosz, sondern eine abgerundete, glaubwürdige Figur – ‚mit einem Schuß Ironie‘ und ggf. ‚mit Kopfschütteln‘ zu skizzieren, die in dem Leser auch eine gewisse Sympathie erwecken kann.129

125Ingeborg

Rabenstein-Michel: Spießerspiegel. Darstellung und Kritik des Bürgertums in Tucholskys Wendriner-Geschichten. In: Cahiers D’Études Germaniques 31 (1996): Kurt Tucholsky. S. 85–97, hier: S. 85. 126Gershom Scholem: Juden und Deutsche (Vortrag am 4. Juni 1966 in Brüssel beim Jüdischen Weltkongress). In: Christoph Schulte (Hg.): Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland. Stuttgart 1993. S. 177–201, hier: S. 192. 127Vgl. Di Stefano, G.: Die Monologe des Herrn Wendriner (s. Anm. 120). S. 127. Vgl dazu auch W.B. van der Grijn Santen: Die Weltbühne und das Judentum. Eine Studie über das Verhältnis der Wochenschrift Die Weltbühne zum Judentum hauptsächlich die Jahre 1918–1926 betreffend. Würzburg 1994. „Herr Wendriner ist an erster Stelle Geschäftsmann, das stimmt, und in zwei Sätzen widerspricht er sich zweimal, aber das unterscheidet ihn in keiner Weise von seinen arischen Kollegen. Seine Ängste und sein Anpassungswille sind menschliche Züge, keine jüdischen, da sich die Minderheit in diesem Fall an die Mehrheit anzupassen versucht, weil sie es muß, um zu überleben, scheint Anpassung eine jüdische Eigenart. Faktisch hat Herr Wendriner nur die ‚Assimilationsbereitschaft‘ eines ‚Außenseiters‘ nach Eliasschem Musert angezeigt.“ (S. 211). 128Di Stefano, G.: Die Monologe des Herrn Wendriner (s. Anm. 120). S. 128. 129Di Stefano, G.: Die Monologe des Herrn Wendriner (s. Anm. 120). S. 123.

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Die literarische Sprache der Wendriner-Geschichten Tucholskys kann in Verbindung zu (s)einem literarischen Konzept eines „sprachmimetischen Realismus“ gesehen werden, für das eine Kritik der Zeit „in erster Linie Sprachkritik“ ist.130 „Aus der Art, wie die Leute sprechen, kann man Rückschlüsse auf ihre Art zu denken ziehen. In der Sprache kann auch das Wirken gesellschaftlicher Verflechtungen am deutlichsten faßbar gemacht werden.“131 Herr Wendriner stellt insofern „den Versuch dar, eine Figur allein aus seiner Stimme, seiner Sprechweise und dem Fluß seiner Reden entstehen zu lassen“, d. h. „eine Figur sprachlich zu charakterisieren“: Dabei geht es bei Tucholsky weniger um die verbale Wiedergabe der inneren Erlebniswelt als um die Herausarbeitung von Sprachticks und Phrasen, durch deren ironisch verfremdete Aneinanderreihung der ganze Widerspruch zwischen Gesagtem und Gemeintem erscheinen soll. So wird Sprachmimesis sozusagen von selbst zur Sprachsatire und Charakterisierung zur Karikatur.132

6.4.2 Kalékos Wendriner in „Njujork“ Wie in Tucholskys Wendriner-Geschichten, ist Kalékos Wendriner in Manhattan… ebenfalls als Monolog des Herrn Wendriner gestaltet, der durch Auslassungen der Gesprächsanteile seines Gegenübers, in diesem Fall ist dies Herr Schlesinger, entsteht. Im Unterschied zu Tucholskys Wendriner kommt in Kalékos Wendriner eine weitere Sprache, das Englische, ins Spiel. Die für Kalékos Texte typische Mischung von Hochdeutsch mit Berliner Dialekt wird um die für den Tucholskyschen Wendriner charakteristischen jiddischen Ausdrücke und nun also englische bzw. amerikanische Wörter erweitert. Als Ausnahme und eventuelle Vorlage für Kalékos mehrsprachigen Wendriner kann man die Episode Herr Wendriner in Paris (1926) von Tucholsky betrachten. Herr Wendriner berichtet darin von einer kürzlich unternommenen Reise nach Frankreich und allem, was er dort gesehen hat: die „Buhlewars“, den „Plahhhß an der Oper“, den „Louver“, „Mongmachta“ oder „Notta Damm“. Aber wissen Sie, wenn man so lange weg war, zur Erholung, immer in den Halls und in den eleganten Kasinos da unten, an der Riwjera, jeden Abend im Smoking – wenn dann der Zug so nach der Paßkontrolle über die Grenze fährt, und ich seh wieder den ersten Stationsbeamten in Preußisch-Blau – und man hat wieder seine Ruhe und seine Ordnung nach all dem Trubel – Paris hin, Paris her – könn Se sagen, was Sie wollen -: am schönsten is doch ze Hause - !133

130Di

Stefano, G.: Die Monologe des Herrn Wendriner (s. Anm. 120). S. 116. Stefano, G.: Die Monologe des Herrn Wendriner (s. Anm. 120). S. 116. 132Di Stefano, G.: Die Monologe des Herrn Wendriner (s. Anm. 120). S. 117. 133Kurt Tucholsky [Kaspar Hauser]: Herr Wendriner in Paris. In: Die Weltbühne 18 (1926). S. 709. 131Di

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Die englischen Wörter in Kalékos Wendriner sind in ähnlicher Weise wie hier die französischen verfremdet und mit starkem deutsch-berlinerischem Akzent versehen. Dies funktioniert erneut durch die Übertragung der englischen Aussprache in deutsche Schreibweise, gewissermaßen die deutschsprachige Nachahmung der englischen Phonetik, wie sie bereits in mehreren Texten Kalékos registriert werden konnte. Hier ist dieser Effekt jedoch noch konsequenter eingesetzt und avanciert zusammen mit dem fast durchgängig nachgeahmten Berliner Lokalkolorit zum komischen Stilmerkmal des Textes. Nachdem die letzte Wendriner-Geschichte Tucholskys Herr Wendriner unter der Diktatur (1930), die als Reaktion auf den enormen Stimmenzuwachs der NSDAP bei den Wahlen auf aus heutiger Sicht erschreckend treffend die kurz darauf wahrgewordene Diktatur prophezeit, lässt sich Kalékos Wendriner in Manhattan… als Fortsetzung dessen lesen. Herr Wendriner, der mittlerweile in New York lebt, trifft Herrn Schlesinger, den er noch aus Berlin kennt, zufällig auf der Straße wieder. „…Hello, Schlesinger! So trifft man sich wieder, auf’m Apper Broddweh. Seit wann sind sie denn in Njujork? Wohnse auch hier oben, im VIERTEN REICH?“ (WM 802). Das „Vierte Reich“ ist die Bezeichnung für ein Viertel in New York, in dem hauptsächlich deutsche Emigranten lebten, in Anspielung auf die Flucht aus dem von den Nationalsozialisten so bezeichneten „Dritten Reich“.134 Zweifelsohne nimmt der Text von Kaléko in einer ähnlichen Weise, in der bei Tucholsky mittels der Figur des Herrn Wendriner der Prototyp des angepassten Berliner Juden geschildert wird, nun den erneut nach Anpassung strebenden deutsch-jüdischen Emigranten in New York ins satirische Visier, und damit nicht zuletzt seine Sprachqualitäten. „Hörnse auf mich, Schlesinger: Assemeliern, das iss die Losung. Los vom Alten. Das hab ich schon in Berlin vertreten, das sage ich jetzt auch in Njujork. Wendriner ist und bleibt ein Mann von Prinzipien“ (WM 804–805). Eine Verbindung von Kalékos Herrn Wendriner lässt sich aber auch zur Figur des Mr. Cohn in Hannah Arendts Essay We Refugees135 herstellen. Arendt führt Mr. Cohn als Prototyp des aus Deutschland geflüchteten jüdischen Parvenus an. Als Gegenmodell des sogenannten „consciuos pariah“, der sich der Assimilation verweigert, versucht der Parvenu à la Mr. Cohn durch immer wieder neue Anpassung emporzustreben. Dazu verleugnet er, dass er Jude ist und ändert seine Identität. Er überträgt die einst zu 150 % empfundene nationale Zugehörigkeit auf ein neues Land und will sich möglichst schnell die neue Sprache zu eigen machen.136 So hat auch Herr Wendriner seine ehemaligen, ‚deutschen‘ Prinzipien inzwischen abgelegt. Im Unterschied zu den Intellektuellen, die in Kalékos Text in ähnlicher Weise wie Arendts Pariah auftauchen („Aber das issja der trabbel:

134Vgl.

Rosenkranz, J.: Kommentar (s. Anm. 1). S. 392. Arendt: We Refugees [1943]. In: Altogether elsewhere. Writers on Exile. Hg. von Marc Robinson. Winchester 1996. S. 110–119. 136Vgl. Arendt, H.: We Refugees (s. Anm. 135). S. 116–119. 135Hannah

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die Intellektuelln wolln sich nicht assemeliern. Träumen immer noch von Europa. Unbegreiflich.“ (WM 806)), fühlt sich der „alte[] Wendriner“ inzwischen voll und ganz „europamüde“ (WM 806), aber stattdessen absolut heimisch in Amerika. Und wie sagt doch der olle Lateiner ‚Ubi bene, ibi patria.‘ Und der olle Wendriner sacht: Wosmer gut geht, da bin ich zehause. Basta. Wo ich meine Steuern zahle, da is mein Vaterland. Ich fühle mich Amerikaner, voll und ganz. Ich hab schon meine först pehpers. (WM 804)

Die first papers, ein Dokument im Einbürgerungprozess in den USA, in der Hand, hat Wendriner inzwischen auch seinen Namen „amerikanisieren“ und sich im Telefonbuch als „VAN DRYNER, MILTON“ (WM 805) eintragen lassen. Im Übrigen ist das ein Name, der meiner Ansicht nach eher niederländisch klingt, wenn man ihn zuzuordnen versucht. Wendriner gibt jedoch zu: „…Aber, im Vertrauen gesagt: Nützen tut einem das garnicht. Den Wendriner merkt ihnen hierzulande jeder an. Und wenn Se zehnmal ‚George Washington‘ auf die Visitenkarte setzen.“ (WM 805). Ähnlich flexibel wie das Verhältnis zum „Vaterland“ sieht Wendriner auch die Bindung zur deutschen Muttersprache. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit liegt ihm ohnehin nicht, damit möchte er abschließen: Nu komm’ Sie mir nich auch noch mit der sogenannten „Vagangenheit“ und wasweißichsonstnoch. Ad acta, sag ich, in den Mülleimer. Was heißt hier „Sprache Goethe’s“; das is alles doch bloß was fürs Poesie-Album. Mumpitz. Un von wegen „kulturelle Bindungen“, wer will denn das wissen. Macht bloß Risches. Tun Se mer den einigen Gefallen und hörnse mer auf mit die deutschen Linden. Meine Frau liest auch zuviel Heine. (WM 805)

In der englischen Sprache fühlt sich Herr Wendriner schon so erfahren, dass er jede Gelegenheit nutzt, Schlesinger gegenüber, der gerade neu in New York ist, als ‚Insider‘ aufzutreten. „‚Kaffe-tier-ja‘ spricht man das aus. Richtich: Sone Art ASCHINGER von Manhattan.“ (WM 802). Nu, nehmse schon en Sendwitsch, Schlesinger. Noch immer koscher? Allerhand. Wie wärsdenn mit was Harmlosem, das weiße da, „Kriehmtschies“, nennse das. Was sarense zu dem Büffeeh? Hamsegeshen – „Gefilte Fish“ und Geräucherter Schinken ganz intim, – sehnse, dassis Broddweh … – Ssenkju, aber ich nehm bloß ne ganze Kleinigkeit. Ich lantsche ja dauntaun, später. „Mi-iss: uan fchuht seled, pliehs.“ (WM 803)

Immer noch vorhanden ist seine ablehnende bzw. distanzierte Einstellung zum Judentum, obgleich er in der Zwischenzeit, womöglich nach der Flucht aus Deutschland, bei seiner Tochter in Palästina gelebt hat. Ja, meine Tochter, das is was andres. ’Ne wilde Zionistin. „Schalom“ und aller Zubehör. War einfach nicht wegzukriegen. Aber unsereins? Der alte Wendriner und „Erez“? Nicht geschenkt. Jaso, das Land an sich? Naja, ganz nett. Bloß zuviel Juden. Was sarense? „Salz der Erde“. Wennschon. Was mach ich mit lauter Salz? – Gut, was? Hahahaha. (WM 803)

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Er bleibt in dieser Sache aber auch nicht allzu konsequent, und geht in New York gerne mal in die Synagoge, am liebsten in den „Tempel Ezekiel“, wenngleich ihm die Musik dort dann doch „’ne Idee zu katholisch“ (WM 805) ist. „Im Vertrauen: es geht ja doch nichts über unsere deutsche Kedusche“ (WM 805). Auch die für den Tucholskyschen Wendriner typische Ablehnung speziell des Ostjudentums findet sich in Kalékos Text wieder, wenn er Schlesinger berichtet, sein Sohn habe eine Ostjüdin geheiratet, die aber zum Glück aus einer finanziell gut gestellten Familie stammt und daher trotz ihrer ostjüdischen Herkunft eine sehr gute Partie zu sein scheint. „Ostjüdin zwar, aber wirklich feine Leute. Kolledsch-Edjukehschen, das Bankkonto Ihn’gesagt“ (WM 803). Die jiddische Sprache spielt eine besondere Rolle für Wendriner, da sie in der Fremdsprache wie etwas Vertrautes auftaucht und beruflich – er ist wie sein Sohn in der Textilbranche tätig – weiterhin eine wichtige Rolle spielt. „In meiner Brangsche kommse ohne Schargon nicht aus. ‚Yiddish‘ heißt das hier“ (WM 804). Zum Beispiel die Fach-Ausdrücke. „Mezie“ un „Bowel“. – oder „Dalles“ un „Gannef“, das sind ihm [dem Sohn Walter], Gottseidank, keine Fremdwörter. Das berührt einen direkt heimatlich. Dazu noch ein bisschen Englisch, das Ganze gut schütteln, un fertich is die Garment-Center-Biseness-Lengwitsch. „Plenty of Zores“ zum Beispiel, oder „A hard working goil from a gute mischpoche“. Das ist Brangsche-Loschen. (WM 804)

In der Figur des Wendriner als Emigrant, der sich überall zuhause fühlt, aber eigentlich nirgendwo wirklich dazu gehört, und seinem Image als opportunistischer Wendehals gerecht werdend, mindestens zweimal im Satz die Position zu wechseln, werden in Kalékos Text beinahe alle kulturellen Zuschreibungen ebenso gut durchgeschüttelt und geraten kräftig durcheinander, wie z. B. in „deutsche Kedusche“. Das von Rosenkranz in ihrem umfangreichen und gut recherchierten Kommentar angelegte Glossar zu Wendriner in Manhattan… erweist sich als nicht besonders aufschlussreich ob dieses gezielt komischen Textverfahrens, das aus dem mehrsprachigen Arrangement verworrener und teils widersprüchlicher Positionen entsteht. Interessanterweise zeigt sich vielmehr, dass eine solche Herangehensweise, die versucht, Fremdwörter im Text auf der lexikalischen Ebene zu erschließen, für ein Verständnis des Textes nicht wirklich funktioniert, weil sie häufig gerade so kombiniert sind, dass sie sich (scheinbar) ausschließen. In Kalékos Wendriner in Manhattan… stellt sich angesichts der Darstellung von New York als mehrsprachiger melting pot voller Differenzen die Frage, an wen oder was, an welche Kultur oder Sprache man sich dort eigentlich anpassen oder um mit Herrn Wendriner zu sprechen „assemeliern“ soll. Dieser Effekt humorvoller transkultureller Verstrickungen hängt maßgeblich mit der im Text sichtbar und hörbar werdenden Konfrontation und Mischung von Sprachen und Dialekten zusammen. Der vermeintlich angepasste Emigrant verzichtet bei einzelnen Wörtern auf Übersetzungen ins Deutsche, doch die mehrsprachige Schreibweise mit deutschem bzw. berlinerischen Akzent verfremdet das Englische systematisch so sehr, dass es zur Parodie wird. Kalékos Schreibverfahren als translinguales Spiel mit Mehrsprachigkeit bringt in diesem Text auf durchaus experimentelle Weise eine neue, und spezielle Emigrantensprache hervor, die sich irgendwo zwischen Deutsch, Jiddisch und Englisch ausmachen, aber nicht festmachen lässt.

6.5  Fazit: Konsequentes Durchkreuzen einer monolingualen Norm

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6.5 Fazit: Konsequentes Durchkreuzen einer monolingualen Norm von Literatursprache Im Anschluss an diese Beobachtungen lässt sich nun noch einmal an das zu Beginn des Kapitels angeführte Zitat Kalékos zurückdenken, in dem es heißt, dass es nicht reiche, eine Sprache zu beherrschen, um in ihr schreiben zu können, sondern dass man dazu vielmehr von einer Sprache beherrscht werden müsse. In Bezug auf Kalékos Wendriner in Manhattan… könnte man diesbezüglich wohl am ehesten zu dem Schluss kommen, dass hier in translingualer Perspektive vorgeführt wird, wie literarische Sprache etwas Neues erzeugt, indem ein Plural von Sprachen gerade in seiner Vielfalt den Text beherrscht. Aber auch die anderen besprochenen Texte in diesem Kapitel haben gezeigt, dass die Verwendung mehrsprachiger Schreibweisen die Vorstellung einer monolingualen Norm als Literatursprache permanent durchkreuzt. Dies findet bei Kaléko in multiplizierter Form statt, indem zusätzlich ein Spannungsverhältnis zwischen gesprochener (Fremd-)Sprache und Schriftsprache bzw. Literatur im Raum steht, was nicht zuletzt zu den humoristischen Effekten in vielen ihrer Gedichte und Prosatexte beiträgt. Der schreibende Umgang mit Phänomenen gesprochener Mehrsprachigkeit in der Exilsituation, d. h. die literarische Nachahmung von Formen mündlichen Sprechens, resultiert wiederholt gerade in einer Hervorhebung von sprachlichen Brüchen, Differenzen oder Übergängen. Die Art und Weise, in der etwa Akzente oder Dialekte zum festen Bestandteil einer literarischen Sprache werden, reflektiert nicht nur die konkrete Begegnung, Konfrontation oder Vermischung von Sprachen in der Exilsituation. Derart dekonstruiert die mehrsprachige Schreibweise damit einhergehend aber auch die Vorstellung einheitlicher, abgetrennter Sprachen, was man nicht zuletzt auch auf die Grenzen zwischen literarischer und Alltagssprache übertragen kann. Diesbezüglich ist auch die Verwendung des Jiddischen – einer von mehreren Seiten als „Jargon“ abgelehnten Sprache137 – als Komponente der literarischen Sprache, insbesondere in Wendriner in Manhattan… zu nennen.

137Vgl. zu diesem Aspekt z. B. Franz Kafka: [Rede über den Jargon]. In: Robert Stockhammer, Susan Arndt und Dirk Naguschewski (Hg.): Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin 2007. S. 31–34. Kafka geht in seinem 1912 gehaltenen Vortrag zunächst von vorherrschenden gesellschaftlichen Widerständen und Ängsten vor dem „Jargon“, also dem Jiddischen, aus (vgl. S. 31). Diese werden nicht näher benannt, beziehen sich vermutlich aber auf ein bildungsbürgerliches, westjüdisch geprägtes Publikum. Daraufhin beschreibt er den Jargon als „nur aus Fremdwörtern“ bestehend: „Diese ruhen aber nicht in ihm, sondern behalten die Eile und Leibhaftigkeit, mit der sie genommen wurden. Völkerwanderungen durchlaufen den Jargon von einem Ende bis zum anderen. Alles Deutsche, Hebräische, Französische, Englische, Slawische, Holländische, Rumänische und selbst Lateinische ist innerhalb des Jargon von Neugier und Leichtsinn erfaßt, es gehört schon Kraft dazu, die Sprachen in diesem Zustande zusammenzuhalten. Deshalb denkt auch kein vernünftiger Mensch daran, aus dem Jargon eine Weltsprache zu machen, so nahe dies eigentliche läge.“ (S. 31–32) Diese große Nähe zu anderen Sprachen, insbesondere dem Deutschen, erzeuge den Effekt, so prophezeit es Kafka seinen Zuhörer*innen, dass der Jargon „fühlend“ verstanden werden könne und sich die Angst vor der Fremdheit des Jiddischen in eine Erkenntnis des Fremden im Eigenen verwandle.

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6  Mehrsprachige Sprachsatire

Allerdings stellen die Texte, insbesondere diejenigen, welche mit typografisch hervorgehobenen Code-Switchings arbeiten, dennoch auch eine gewisse „Fremdheit“ der einzelnen Textelemente aus bzw. lösen den dadurch entstehenden Störfaktor fremdsprachiger Einschübe nicht durchweg auf. Insofern funktionieren sprachliche Differenzen und Nuancen bei Kaléko als Ausgangspunkt und Reflexionsraum mehrerer Texte und Gedichte, wenn diese etwa anhand von textinternen Übersetzungen erproben, welche Wörter und Wendungen sich zwischen Deutsch und Englisch übersetzen lassen und welche unübersetzbaren Reste dabei unweigerlich zurückbleiben bzw. in der Übersetzung verloren gehen. Durch das kombinatorische Spiel mit Sprachen und durch die Darstellung der mehrsprachigen und von vielen Kulturen beeinflussten Gesellschaft in New York, insbesondere in den besprochenen Prosatexten, finden darüber hinaus Übersetzungsprozesse statt. Das erzählerische Erkunden der Stadtteile New Yorks und seiner Bewohner für ein deutschsprachiges Publikum kann man daher als kulturelle Übersetzungen fassen. Die Darstellung von Kulturen ruft in Kalékos Texten unweigerlich und teilweise auch dezidiert Kulturklischees auf. Mittels einer häufig humorvollen und teils karikaturartigen Überzeichnung kultureller Eigenschaften in Kombination mit der durchgängig herausgestellten Überlagerung oder Verbindung teils auch widersprüchlicher Kulturformen dekonstruieren die Texte aber insgesamt, genauso wie die Vorstellung einheitlicher Sprachen, ein Konzept von eindeutigen kulturellen Originalen bzw. statisch fassbaren Kulturen. Das teilweise stark auf Klischees beruhende Verhandeln von Kulturen hat also trennende und vereinende Effekte zugleich. Indem stereotype Kulturattribute aufgerufen werden, laufen sie stets Gefahr, sich auch fortzuschreiben. Werden solche Kulturklischees wie bei Kaléko aber immer wieder auch durch das Erzeugen komischer Kontexte in ihrer Konstruiertheit ausgestellt oder gar ad absurdum geführt, stellt sich der konträre Effekt ein, der dazu führt, dieselben immer wieder massiv infrage zu stellen. Sowohl in Bezug auf Sprachen- als auch auf Kulturenkonstellationen lässt sich bei Kaléko keine übergreifend eindeutige Positionierung in den besprochenen Texten festhalten. Kalékos mehrsprachigen Exiltexten erzeugen kein einheitliches Bild, sondern vielmehr widersprüchliche Effekte, die sich meist gegenseitig bedingen. Das mehrsprachige und übersetzende Schreibverfahren basiert auf den überwiegend abrupt und häufig optisch markierten Code-Switchings. Es speist sich gleichzeitig aus der Herausstellung von sprachlichen und kulturellen Differenzen, die es im gleichen Zuge wieder unterläuft. Damit bringen die Texte aber insgesamt eine mehrsprachige Literatursprache hervor, die sich der monolingualen Norm des deutschsprachigen Textes deutlich verweigert. Das in der Forschung und auch von Kaléko selbst geäußerte Postulat, sie habe im Exil nicht in einer anderen Sprache als der ‚eigenen‘, also der deutschen Sprache schreiben können, muss also insofern ergänzt werden, als dass die ‚deutsche‘ Sprache ihrer literarischen Texte und damit die Grenzen dessen, was noch als ‚eigen‘ gelten kann, durch textinterne Mehrsprachigkeit deutlich in Bewegung geraten ist.

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Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen bei Werner Lansburgh

Sprache, Miss Shinkendecker, is not words alone! Sprache sans pays, language ohne land, Ist wie ein Strang, a string, without die Geige, comprenez?1

Werner Lansburgh (1912–1990) ist ein von der literaturwissenschaftlichen (Exil-) Forschung bislang weitgehend übersehener Schriftsteller, der aus NS-Deutschland floh und nach diversen Zwischenstationen in Europa bis ins hohe Alter in Schweden lebte. Seinen schwedischen Lebensstandort bezeichnete er auch nach über vier Jahrzehnten noch als „Exil“ und strebte eine Rückkehr nach Deutschland an, die ihm schließlich erst durch den anhaltenden Erfolg seines Liebesbrief- und Sprachlernromans „Dear Doosie“ (1977) gelingen sollte. Womit wir wieder einmal bei dem Wort „Exil“ sind. […] Wenn ich meinen jetzigen Aufenthalt in Schweden, der doch nun schon über vierzig Jahre anhält, als „endgültig“ betrachten würde, so hörte eigentlich in demselben Augenblick das fremde Land auf, Exil zu sein. „Exil“ schließt immer das Vorläufige in sich ein, die Hoffnung auf Rückkehr […]. Im Grunde ist es also dieses „endgültig“ oder „nicht-endgültig“, und damit „Exil“ oder „Nicht-Exil“, eine persönliche Stellungnahme, etwas trotz aller Sachzwänge durchaus Subjektives. Nun habe ich in Schweden doppelt so lange gelebt wie meine einundzwanzig Lebensjahre in Deutschland. Ist es da nicht, so frage ich mich immer wieder, ein Armutszeugnis, wenn mir dieses Land als Bleibe fast so fremd ist wie am ersten Tag, und das, obwohl ich eine schwedische Frau und schwedische Kinder habe, mit denen ich die Sprache dieses Landes spreche?2

1Werner

Lansburgh: Lied ohne Worte. In: Ders.: Strandgut Europa. Erzählungen aus dem Exil 1933 bis heute [1982]. Frankfurt a. M. 1984. S. 86. 2Werner Lansburgh: Brief vom 8.6.81, Uppsala. In: Ders. und Frank-Wolf Matthies: Exil – ein Briefwechsel. Mit Essays, Gedichten und Dokumenten. Köln 1983. S. 41–42. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Benteler, Sprache im Exil, Exil-Kulturen 2, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04943-8_7

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7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

Löst man sich von einem starren und mittlerweile weitgehend überholten Begriff von „Exilliteratur“, der als historische und zeitlich begrenzte Epoche zwischen 1933 und 1945 festgelegt ist,3 steht außer Frage, dass Lansburghs zum Teil deutlich später entstandenen bzw. veröffentlichten Texte von großem Interesse für die Exilliteraturforschung sind. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die Texte die Setzung als „Exilliteratur“ auch selbst vorzunehmen suchen. Alle Texte Lansburghs reflektieren verschiedene Dimensionen von Sprachverlust und Sprachenerwerb im Exil aus NS-Deutschland vor dem Hintergrund des Ausschlusses aus der Nation und der Vertreibung aus dem Sprachraum. Dies tritt als überwiegend stark aufgeladenes Konzept von deutscher Sprache als Muttersprache und Heimat zutage, deren Verlust durch die Vertreibung aus NS-Deutschland zu einer Sprachlosigkeit im Exil geführt habe. Dem gegenüber steht in Lansburghs Texten aber zugleich eine literarische Sprache, die weder sprachlos noch einsprachig ist. Wenngleich die meisten von ihnen überwiegend auf Deutsch geschrieben sind, sind sie sehr charakteristisch und umfangreich durch mehrsprachige Elemente geprägt. In „Dear Doosie“ und dessen Folgeromanen geht dies sogar so weit, dass durch ein ständiges hin und her Springen und Übersetzen, überwiegend zwischen Deutsch und Englisch und häufig sogar mehrfach innerhalb eines Satzes, ein konsequent zweisprachiger Text entsteht. Aber auch in Lansburghs weiteren Texten, zum Beispiel im Roman Schloß Buchenwald oder in den kürzeren Prosatexten aus J. Eine europäische Vergnügungsreise und Strandgut Europa sind Code-Switchings und textinterne Übersetzungen – ins Schwedische, Spanische, Englische – maßgeblich für die Beschaffenheit der Texte. Ziel der Analyse ist es, die unterschiedlichen Formen und Funktionsweisen mehrsprachigen Schreibens bei Lansburgh – sowie die meisten seiner Texte überhaupt erstmals genauer – zu betrachten. Die leitende Fragestellung lautet dabei wie folgt: In welchem Verhältnis steht die textinterne Mehrsprachigkeit in Lansburghs Texten zu der thematischen Verhandlung von Muttersprache und Sprachverlust im Exil?

7.1 Werner Lansburgh: Texte und Projekte Bislang liegen zu Lansburgh nahezu keine Untersuchungsergebnisse vor und eine systematische Analyse seiner Texte steht noch aus. Lediglich einige wenige Hinweise lassen sich nachverfolgen. Müssener erwähnt Lansburgh in seinem Grundlagenwerk Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 19334 aus dem Jahr 1974. Darin skizziert und analysiert Müssener Leben und Werk von ­Politiker*innen, Journalist*innen und Schriftsteller*innen der Emigration. Auch Lansburgh ist darunter, etwa wenn es um die „geistige Tätigkeit der

3Vgl.

dazu auch die Definition des in der vorliegenden Arbeit verwendeten Exilbegriffs in der Einleitung, Kap. 1. 4Müssener, H.: Exil in Schweden (s. Kap. 2, Anm. 35).

7.1  Werner Lansburgh: Texte und Projekte

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d­ eutschsprachigen Emigration in Schweden“ im Bereich Pädagogik geht. Während zahlreiche andere Emigrant*innen sich rund um den Deutschunterricht und die Vermittlung der deutschen Sprache bemühten, habe Lansburgh in Schweden zwei Sprachlernbücher für den Selbstunterricht in Englisch herausgegeben.5 Im Kapitel zu von deutschen Emigrant*innen in Schweden entstandenen Romanen und Autobiografien werden Lansburgh und seine bis dato erschienenen Texte Blod och bläck, En vintersaga, J. Eine europäische Vergnügungsreise und Schloß Buchenwald etwas genauer, aber auch nur über ca. drei Seiten vorgestellt. Lansburghs Texte, so konstatiert Müssener, seien gekennzeichnet durch „stark egozentrische Züge. Sie sind Auseinandersetzungen mit dem eigenen ‚Ich‘, ­ mit dem Schicksal, das ihn in die Verbannung trieb, mit der Sprachlosigkeit des ­Exilierten.“6 Dabei schildere er „sich selbst […] mit brutaler Ehrlichkeit, wie er sie auch dem Land gegenüber zeigt, in dem er seit mehr als dreißig Jahren lebt und das ihn immer noch nicht aufgenommen hat.“7 Müssener sieht eine „ziellos um sich schlagende Verzweiflung, die Heimat- und Sprachlosigkeit, der absolute Nullpunkt des Exils“8 in den kurzen Texten des Erzählbandes J. Eine europäische Vergnügungsreise dargestellt. Anita Kretz bezeichnet Lansburghs Texte in ihrer Examensarbeit von 1971 als „ein Zeugnis des Kampfes, im Vakuum des Exils überhaupt erst ein Schriftsteller zu werden“9. Dabei vertritt sie die interessante, wenngleich schwer nachweisbare These, Lansburgh sei nicht trotz seiner ­Vertreibung aus Deutschland und der Jahrzehnte im Exil Schriftsteller geworden, sondern erst dadurch. Nach diesen knapp ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Forschungsergebnissen kann man anhand einiger Aktivitäten aus dem Umfeld der Hamburger Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur und dem dazugehörigen P. Walter Jacob Archiv, das auch Manuskripte und Korrespondenzen von Lansburgh beherbergt, von einer Art Neu- oder Wiederentdeckung dieses Schriftstellers und seines Werkes sprechen.10 Im fokussierten Hinblick auf die

5Vgl.

Müssener, H.: Exil in Schweden (s. Kap. 2, Anm. 35). S. 282. H.: Exil in Schweden (s. Kap. 2, Anm. 35). S. 376. 7Müssener, H.: Exil in Schweden (s. Kap. 2, Anm. 35). S. 376. 8Müssener, H.: Exil in Schweden (s. Kap. 2, Anm. 35). S. 376. 9Anita Kretz: Werner Lansburgh – ein Autor im Exil. Seminaraufsatz. Deutsches Institut Stockholm 1971. S. 17. (Nicht auffindbar, deshalb hier zitiert nach: Müssener, H.: Exil in Schweden (s. Kap. 2, Anm. 35). S. 376). 10Sebastian Schirrmeister: Sprach- und Briefwechsel. Fundstelle. In: exilograph 18 (2012). S. 9; Anne Benteler: Übersetzung als literarisches Schreibverfahren im Exil am Beispiel von Mascha Kaléko und Werner Lansburgh. In: Humblé u. a. (Hg.): Special Issue „Translation in Exile“, Cadernos de Tradução 38/1 (2018). S. 65–85. Darüber hinaus veranstaltete die Walter A. Berendsohn Forschungsstelle unter Leitung von Prof. Dr. Doerte Bischoff anlässlich von Lansburghs 100. Geburtstag am 29.06.2012 einen Leseabend im Gespräch mit Lansburghs Tochter Karin Lansburgh und der Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Esther Kilchmann: „Printed in Germany. Werner Lansburgh als Exilautor“. 6Müssener,

290

7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

in Lansburghs Texten entwickelte Konzeption und Bedeutung von Sprache(n) möchte die vorliegende Untersuchung dazu beitragen, die Erforschung von Lansburghs Texten voranzubringen. Da es zu Lansburgh, im Gegensatz zu Domin und Kaléko, keine Biografie gibt, wird hier zunächst etwas ausführlicher als in den vorangegangen Kapiteln auf (Sprach-)Biografisches11 eingegangen, bevor es seine literarischen Texte und Projekte zunächst überblicksartig vorzustellen gilt.

7.1.1 (Sprach-)biografisches sowie literarische und nicht literarische Buchprojekte Werner Neander Lansburgh kam 1912 in Berlin zur Welt. Er begann etwa als Zwanzigjähriger literarisch zu schreiben, war Mitarbeiter beim Berliner Tageblatt und darüber hinaus Jurastudent. Kurz darauf, 1933, emigrierte er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten aus Deutschland. Wegen seiner jüdischen Herkunft, er kam aus einer assimilierten jüdischen Familie und war christlich getauft, war er von den sogenannten NS-Rassengesetzen betroffen. Zunächst begab er sich in die Schweiz, wo er in Basel eine Jura-Promotion begann, die er aber erst nach einer längeren Unterbrechung 1942 beenden konnte, nicht in der Schweiz, sondern bereits im schwedischen Uppsala. 1934 zog er bereits weiter nach Spanien, wo er sich in Valencia und auf Mallorca aufhielt und unter anderem als Autowäscher, Sprachlehrer und Fremdenführer arbeitete. In Spanien geriet Lansburgh zwischen die Fronten des Bürgerkrieges und daher kurzzeitig sogar ins Gefängnis. Einer Passage aus seiner Autobiografie zufolge unterstellte man ihm auf der einen Seite als Deutschem präsumtiv Faschist zu sein. Von der anderen Seite kam der Verdacht, u. a. aufgrund seiner exzellenten Spanisch-Kenntnisse, er würde eine Identität als deutscher ­Hitlerflüchtling nur vorzutäuschen und wäre tatsächlich ein Spion der Franco-­ Faschisten. Nur mit Glück und zwei Bescheinigungen, einmal als Sympathisant und einmal als Gegner der Spanischen Republik, gelang ihm 1936 die Ausreise über die französische Grenze.12

11Die

Informationen dieser biografischen Übersicht entnehme ich weitestgehend Angaben aus Lebensläufen, Bewerbungsunterlagen und Dokumenten, wie sie in Lansburghs Nachlass, der sich im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt a. M. befindet, enthalten sind. (Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108). 12Vgl. das gesamte Kapitel „Ein Bürger im Bürgerkrieg“ inkl. Abbildung der entsprechenden Bescheinigungen in: Werner Lansburgh: Feuer kann man nicht verbrennen. Erinnerungen eines Berliners. Berlin 1990. S. 104–119. Dass es sich bei diesen Schilderungen nicht um eine Wiedergabe historischer Geschehnisse, sondern eine literarische Verarbeitung autobiografischer Inhalte, die auch fiktionale Anteile enthalten kann, handelt, ist selbstverständlich zu bedenken (vgl. zu autobiografischem Schreiben auch Abschn. 5.2). Inwiefern Lansburghs Autobiografie insbesondere jene Aspekte von Spracherwerb und Mehrsprachigkeit im Exil darstellt, wird in Abschn. 7.3.4 genauer in den Blick genommen.

7.1  Werner Lansburgh: Texte und Projekte

291

Spanisch hatte er inzwischen so gut gelernt, dass er daraufhin nicht nur als Deutsch-, sondern auch als Spanisch-Lehrer im italienischen Turin – einer weiteren Zwischenstation – arbeiteten konnte. In Italien gelangte Lansburgh nach monatelangem hartnäckigem Einsatz beim britischen Konsulat in Turin 1938 an einen britischen Pass, da sein Vater in London geboren war, wie er nachweisen konnte. Der britische Pass war etwas sehr Wertvolles, zumal den meisten jüdischen Flüchtlingen die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde und sie somit als „staatenlos“ galten. Der Pass hätte ihn zwar in Deutschland auch nicht schützen können, doch Lansburgh plante, mit dem Pass nach England auszureisen. Zu dieser Zeit sprach er noch kaum Englisch, was er erst später in Schweden lernen und perfektionieren sollte. Nach zwei weiteren Jahren in der Schweiz wurde Lansburgh 1939 während einer Schwedenreise vom Kriegsausbruch überrascht und konnte nicht mehr rechtzeitig nach England gelangen. Aus dem für vier Wochen vorgesehenen Aufenthalt in Schweden wurden letztlich mehr als vier Jahrzehnte. Um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, betätigte sich Lansburgh in Schweden zunächst als Übersetzer von wissenschaftlichen Arbeiten, vor allem von Doktorarbeiten, ins Deutsche. Deutsch war damals noch die für wissenschaftliche Texte internationale Sprache in Schweden. Unter anderem durch die Übersetzungsarbeit lernte er die schwedische Sprache, die er nach einiger Zeit fließend beherrschte. Parallel dazu eignete er sich Englisch im Selbststudium an, nach wie vor mit dem Ziel, möglichst bald nach England hinüberzufahren. Obwohl dies während des Zweiten Weltkrieges weiterhin unmöglich blieb, eröffneten sich Lansburgh als britischem Staatsbürger mit guten englischen Sprachkenntnissen neue berufliche Perspektiven. Von 1942 bis 1945 war er bei der britischen Botschaft in Stockholm als Übersetzer und politischer „news analyst“13 der deutschen Presse angestellt. Ab 1944 beteiligte er sich dort auch an den englischen „Geheimsendern“ wie dem „Siegfried“-Sender. Lansburgh erfand dafür Geschichten, die zwar auf kleinen wahren Aspekten beruhten, deren Kern aber ausgedacht war, um die deutsche Bevölkerung und die deutschen Soldaten zu verunsichern und zu demoralisieren. Müssener ordnet Lansburgh aufgrund dieser Tätigkeit dem von Exilant*innen in Schweden ausgehenden Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu.14 Noch zu Kriegszeiten, 1943 und 1944, veröffentlichte Lansburgh erstmals zwei Romane im schwedischen Nyblom Verlag: Blod och bläck15 (Blut und Tinte) und En vintersaga16 (Ein Wintermärchen). Um seine in Deutschland verbliebene

13Werner Lansburgh: Lebenslauf. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108. 14Vgl. Müssener, H.: Exil in Schweden (s. Kap. 2, Anm. 35). S. 255. 15Werner Lansburgh [unter dem Pseudonym Ferdinand Brisson]: Blod och bläck. Uppsala 1943. Aus dem deutschen Originalmanuskript übers. von Signe Psilander und Knut Stubbendorff. 16Werner Lansburgh [unter dem Pseudonym Ferdinand Brisson]: En vintersaga. Uppsala 1944. Aus dem deutschen Originalmanuskript übers. von Knut Stubbendorff.

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Mutter und Schwester nicht in Gefahr zu bringen,17 gab er sich das französisch anmutende Pseudonym „Ferdinand Brisson“. Die Texte hatte Lansburgh auf Deutsch geschrieben,18 sie erschienen aber in schwedischer Übersetzung. Übersetzt wurden sie u. a. von dem renommierten Übersetzer Knut Stubbendorff, der auch Texte von weiteren deutschsprachigen Exilautor*innen wie Franz Werfel, Erich Maria Remarque und Vicki Baum übertragen hat. In Blod och bläck geht es um den Spanischen Bürgerkrieg und eine kritische Perspektive auf Schweden als Exilland. Nach Müssener sei dieser Roman vom Verlag als „das Debut eines Flüchtlings“ vorgestellt worden.19 Der zweite Roman, En vintersaga, dessen Titel gezielt auf Heinrich Heines Deutschland. Ein Wintermärchen anspielt, ist von den Frontberichten inspiriert, die Lansburgh in deutschen Zeitungen für seine Siegfried-Sender-Geschichten las. Die Handlung ist im russischen Winter in Stalingrad situiert, genauer in einem Bunker, in dem 17 deutsche Soldaten eingesperrt sind und sich in hoffnungsloser Lage befinden. In 17 Kapiteln werden Gedanken, Träume, Zweifel, Leiden und Hoffnungen der einzelnen Insassen geschildert. Beide Romane ernteten überwiegend negative Kritik, verkauften sich kaum und gerieten in der Folge weitgehend in Vergessenheit. Nachdem Lansburghs Beschäftigung bei den Briten durch das Kriegsende aufgehoben wurde, arbeitete er bis 1952 für die US-amerikanische Botschaft in Stockholm. Dort war er für die schwedische Presse im Bereich Außenpolitik sowie für die „vertrauliche Bearbeitung der Kommunistenfrage in Skandinavien“20 zuständig. Ab 1952 lebte er daraufhin von einer Tätigkeit an der Universitätsdruckerei Almqvist & Wiksell in Uppsala, zunächst als Korrektor, dann als „typografisch-redaktioneller Sachbearbeiter“21. In dieser Zeit schrieb er auf Schwedisch ein typografisches Handbuch für den wissenschaftlichen Drucksatz (Sättningsregler22), das für fünf Jahrzehnte in Schweden und darüber hinaus zu dem Standardwerk schlechthin wurde,

17Lansburghs

Mutter und seine Schwester Gerda blieben in Deutschland. Sein Vater, Alfred Lansburgh, der als Ökonom und Publizist tätig war bis er aufgrund seiner jüdischen Herkunft Schreibverbot erhielt, sah sich finanziell und körperlich nicht mehr in der Lage, zu fliehen. Er hat sich 1937 das Leben genommen. 18Die deutschsprachigen Typoskripte, auf deren Grundlage die schwedischen Übersetzungen erstellt wurden, befinden sich in Lansburghs Nachlass (Werner Lansburgh: Ein Wintermärchen. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108; Werner Lansburgh: Blut und Tinte. Deutsche Nationalbibliothek. ­ ­Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108). Da diese Texte sprachlich nicht an Lansburghs späteren Publikationen herankommen und zudem für den Aspekt von Mehrsprachigkeit weniger bis gar nicht relevant sind, werden sie in der vorliegenden Untersuchung nicht weiter behandelt. 19Vgl. Müssener, H.: Exil in Schweden (s. Kap. 2, Anm. 35). S. 376. 20Lansburgh, W.: Lebenslauf (s. Anm. 13). 21Lansburgh, W.: Lebenslauf (s. Anm. 13). 22Werner Lansburgh: Sättningsregler. Med appendix. Manuskriptets redigering: En handbok. Stockholm 1961.

7.1  Werner Lansburgh: Texte und Projekte

293

weil es diesen Bereich nachhaltig modernisierte. Dies ist vor allem dahin gehend bemerkenswert, dass Lansburghs Texte auch mit typografischen Mitteln experimentieren. Darüber hinaus werden intermedial immer wieder Illustrationen und Zeichnungen integriert. Welche Rolle typografische Besonderheiten und Illustrationen im Speziellen für die Sprachthematik spielen, gilt es daher, im Blick zu behalten. Wie man in seinem Nachlass nachvollziehen kann, entwickelte Lansburgh neben Sättningsregler einige weitere nicht-literarische Buchprojekte. Es ist vor dem Hintergrund der folgenden Analyse von Mehrsprachigkeit in Lansburghs literarischen Texten besonders interessant, dass sich die meisten dieser Projekte in erster Linie um das Erlernen von Fremdsprachen, im Speziellen des Englischen handeln. 1955 brachte Lansburgh unter dem Titel Språk Almanackan („Sprach-­Almanach“) (siehe Abb. 7.1) einen Englisch-Sprachkurs für schwedisch Sprechende in Kalenderform auf den Markt.23 Die Art und Weise, in der darin auf den Kalenderseiten für jeden Tag des Jahres durch humorvolle Sprachspiele, kleinere Übersetzungen und Illustrationen die englische Sprache vermittelt ist, könnte man als Vorläufer zu dem zwei Jahrzehnte später erscheinenden und ausdrücklich als Sprachlernroman konzipierten literarischen Text „Dear Doosie“ (vgl. dazu Abschn. 7.1.2.3) betrachten. 1963 wollte Lansburgh ein neuartiges deutsch-englisches Wörterbuch kreieren, das er als „Weltneuheit“ anpries: „Ein Wörterbuch, das vom Wort zur Sache, von der Sprache zum Lande führt – ein Wörterbuch, das zugleich ein Handbuch ist.“24 Die Idee dahinter war, dass es sich von den bekannten zweisprachigen, ebenso wie von illustrierten Wörterbüchern und Konversationslexika unterscheiden sollte, indem es sich in der thematischen Auswahl der Begriffe darauf konzentriert, nur ein Sprachgebiet, d. h. die dort gebräuchlichen Wörter, statt wie üblich zwei oder mehr zu vermitteln. In diesem Falle sollte der deutschsprachige Leser „von der Fremdsprache zum Fremdlande“ lernen und nur „spezifische Dinge des englischen Sprachbereichs“25 präsentiert bekommen. Ziel war es, dass „der Sprache und dem Sprachgefühl des Lesers ‚Luft‘ gemacht“ und „hemmende Übersetzungskrücken […] über Bord geworfen“26 würden. Dass bei Realien, die wie hier ausschließlich auf ein Sprachgebiet abgestellt sind, ungemein fülligerer und lebendigerer Stoff gegeben werden kann als bei einem Buch gleichen Formats, das enzyklopädisch auf den Wissensstoff der ganzen Welt abgestellt ist, versteht sich von selbst: man kann ja, um ein einfaches Beispiel zu nennen, sehr viel mehr über London, New York, Oxford, Cambridge und Washington sagen, wenn man nicht noch obendrein alle anderen Städte der Welt auf dem Buckel hat […].27

23Werner

Lansburgh: Språk Almanackan. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108. 24Werner Lansburgh: Das neue Wörterbuch. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108. 25Lansburgh, W.: Das neue Wörterbuch (s. Anm. 24). 26Lansburgh, W.: Das neue Wörterbuch (s. Anm. 24). 27Lansburgh, W.: Das neue Wörterbuch (s. Anm. 24).

294

7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

Abb. 7.1  Werner Lansburgh: Språk Almanackan. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh: EB 2001/108

Warum dieses Projekt scheiterte, ließ sich nicht weiter nachverfolgen. Die beiden beispielhaft angeführten Sprachlern- bzw. Wörterbuchprojekte lassen aber eine lebenslange Auseinandersetzung Lansburghs mit Überlegungen dazu erkennen, wie sich Fremdsprachen mit humorvoll-spielerischen Mitteln vermitteln lassen und inwiefern Sprachenerwerb auch mit dem Kennenlernen von Kulturen und Weltregionen in Verbindung steht. Dass die Idee, mehr oder weniger didaktisch ‚vorzusortieren‘, was es zu einem Land oder einer Kultur sprachlich zu lernen gibt und ob etwas als typisch gilt, nicht unproblematisch ist und Gefahr läuft, lediglich nationale oder kulturelle Stereotype zu generieren und fortzuschreiben, steht selbstverständlich zur Debatte. Dies ist jedoch vermutlich in jedem Sprachlernbuch hinterfragbar. Ob und inwiefern die Auseinandersetzung mit kulturspezifischen Stereotypen auch im Zusammenhang mit Sprachreflexionen und -darstellungen in Lansburghs literarischen Texten eine Rolle spielt, lohnt sich durchaus zu beobachten. Parallel zu der für das Überleben im Exil notwendigen und vielseitigen Erwerbstätigkeit schrieb Lansburgh zeitlebens literarische Texte und war unermüdlich auf der Suche nach Publikationsmöglichkeiten, wie man in der im Nachlass befindlichen Korrespondenz mit Verlagen sowie eingereichten Werkportfolios nachvollziehen kann. Zahlreiche seiner Texte blieben unveröffentlicht und einige Projektideen unvollendet. Dazugehörige Manuskripte und Entwürfe, welche sich in seinem Nachlass befinden, kann man im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt am Main einsehen. Dort gibt es beispielsweise mehrere englischsprachige literarische

7.1  Werner Lansburgh: Texte und Projekte

295

Entwürfe zu entdecken, die zeigen, dass Lansburghs Werk auch textübergreifend mehrsprachig im Sinne Kremnitz’28 geprägt ist. Ein 1952 unter dem Titel The Paper Curtain29 vollendetes englischsprachiges Typoskript, erneut unter dem Pseudonym „Ferdinand Brisson“ verfasst, dreht sich um die Figur des Herrn „Misorgsky“. Der im Titel auftauchende „Paper Curtain“ ist als satirische Anspielung auf den sogenannten „Iron Curtain“ bzw. Eisernen Vorhang zu verstehen, welcher symbolisch für die geografische und ideologische Spaltung während des Kalten Kriegs stand. Der junge Joseph Maria Misorgsky arbeitet an einer angelsächsischen Botschaft im politisch neutralen „Neitherland“, das sich im Ost-West-Konflikt weder auf der einen noch auf der anderen Seite positioniert. Umgeben von tödlicher Stille, spreche man in Neitherland eine direkte Sprache („the country of Neitherland speaks a downright language. Surrounded by deadly silence“ (S. 4)). Das Wort Neitherland erinnert an die später in Schloß Buchenwald verwendeten Bezeichnungen „Nullland“ oder „Land X“ für Schweden. Die Figuren des Herrn Misorgsky und der Sekretärin Miss Shinkendecker tauchen hingegen in einer Erzählung in J wieder auf. Misorgsky, der sowohl die westliche als auch die östliche Propaganda-Presse lesen und an seine Botschaft rapportieren muss, beobachtet einen manipulativen Presse- bzw. Zeitungskrieg – daher auch der Titel „The Paper Curtain“ – um den aus Neitherland stammenden, aber in Moskau verschwundenen Atomphysiker Sven Vikingius. Wie Misorgsky beobachtet, instrumentalisieren beide Seiten der Presse den Fall zugunsten ihrer Interessen entsprechend als Entführung oder umfassenden Ideologiewandel des Professors. Misorgsky weiß, dass sich der Professor aus Liebeskummer das Leben genommen hat, weil er ihm kurz zuvor die Freundin ausgespannt hat, doch das interessiert unterdessen niemanden. In Lansburghs Autobiografie Feuer kann man nicht verbrennen. Erinnerungen eines Berliners (1980) gibt es eine mehr oder weniger selbstironisch überzeichnete Passage zu diesem Text, in der es heißt, weder ein englischer noch ein amerikanischer Verlag hätte das Buch aufgrund seiner „dünnen sprachlichen Substanz“30 drucken wollen. Ein Verlag habe angeblich sogar gewünscht, lieber das Original des Textes zu sehen, weil man davon ausging, dass es sich um eine schlechte Übersetzung handele, die dem Original nicht gerecht wird.31 Wie stark diese Anekdote in Lansburghs Autobiografie fiktionalisiert ist und ob sie tatsächlich stattgefunden hat, lässt sich bisher nicht belegen. In jedem Fall thematisiert dies in pointierter Weise Schwierigkeiten beim Schreiben in einer Zweitsprache sowie den fließenden Übergang von intertextuellem mehrsprachigen Schreiben und (Selbst-)Übersetzen. 28Siehe

zur Unterscheidung zwischen textinterner bzw. intratextueller und textübergreifender bzw. intertextueller Mehrsprachigkeit in der Literatur nach Kremnitz das Kap. 4 sowie insbesondere Kap. 4, Anm. 5. 29In Lansburghs Nachlass befinden sich drei Mappen zu diesem Projekt. Sie enthalten neben handschriftlichen Manuskripten auch ein gebundenes Typoskript, auf dem vermerkt ist: „Typoscript completed July 3, 1952“ (Werner Lansburgh: The Paper Curtain. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108). 30Lansburgh, W.: Feuer kann man nicht verbrennen (s. Anm. 12). S. 175. 31Vgl. Lansburgh, W.: Feuer kann man nicht verbrennen (s. Anm. 12). S. 175–176.

296

7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

Das auf 1960 datierte Typoskript Memoirs of a Continental32 ist ebenfalls überwiegend englischsprachig, aber integriert häufiger auch einzelne Wörter oder Sätze auf Deutsch, Spanisch oder Schwedisch. Dieser aus der Ich-­Perspektive erzählte Text ist autofiktional. Der Erzähler berichtet z. B. von Kindheit und Jugend in Berlin, Jura-Studium in der Schweiz und Arbeit als Autowäscher in Spanien. Diese englischsprachigen ‚Memoiren eines Europäers‘ erinnern teilweise stark an Lansburghs etwas später auf Deutsch erschienenen kurzen Prosatexte in J. Eine europäische Vergnügungsreise und zeitweilen auch an die Autobiografie Feuer kann man mich verbrennen. Auch hinsichtlich des textinternen Spiels mit Mehrsprachigkeit zeigen sich ähnliche Verfahren, allerdings bildet hier Englisch statt Deutsch die Basissprache. Es lässt sich nicht genau nachverfolgen, ob dieser Text zuerst als englischsprachige Version oder erst nach den ersten Entwürfen auf Deutsch entstanden ist. Möglicherweise hat Lansburgh auch parallel an verschiedensprachigen Versionen gearbeitet. Neben Prosatexten befindet sich in Lansburghs Nachlass auch ein englischsprachiges Drehbuch. In The Kingdom of Labor33 geht es um den in New York lebenden Protagonisten Ivar Svensson, der entfernte schwedische Vorfahren hat, aber noch nie in Schweden war und auch kein Schwedisch spricht. Lediglich sein Name erinnert noch daran. Er ist Journalist bei der Zeitung „The Human Factor“ und wird von seinem Chefredakteur nach Schweden geschickt, um unter dem Titel „Sweden, the Middle Way“ eine Serie über Schwedens politische Situation, über „Labor Government, labor movement“, „the middle way between Socialism and Capitalism“ zu schreiben. Dass Lansburgh ausgerechnet im schwedischen Exil auch auf Englisch geschrieben hat, ist nicht nur bemerkenswert, weil später gerade die textinterne Kombination von deutscher und englischer Sprache zu seinem Markenzeichen geworden ist. Es zeigt neben der wiederholt ausdrücklich gewünschten Rückkehr nach Deutschland und der erhofften Anerkennung als deutscher (Exil-)Autor auch den Versuch, sich in der englischen Sprache und im englischsprachigen Literaturbetrieb etablieren zu wollen. Allem voran versuchte Lansburgh vehement mithilfe seiner literarischen Texte nach Kriegsende aus dem schwedischen Exil34 nach Deutschland zurückzukehren. Zwar waren im Ahrensburger Damokles-Verlag der Erzählband J. Eine europäische Vergnügungsreise (1968) (vgl. Abschn. 7.1.2.3) und der Roman Schloß Buchenwald (1971) (vgl. Abschn. 7.1.2.2) erschienen, doch sie verkauften sich zu schlecht, um eine Rückkehr zu ermöglichen. Trotz zahlloser Bewerbungen und weiterer

32Werner

Lansburgh: Memoirs of a Continental. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108. 33Werner Lansburgh: The Kingdom of Labor. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108. 34Seit 10.06.1973 war Lansburgh nicht mehr britischer, sondern schwedischer Staatsbürger (vgl. Werner Lansburgh: Brief an Edith Maria Ruß vom 2. Juni 1973. P. Walter Jacob Archiv: Lansburgh, Werner (1912–1990). WL/1; 1).

7.1  Werner Lansburgh: Texte und Projekte

297

­ erlagsanfragen, fand Lansburgh keine Beschäftigungsmöglichkeit. Die Rückkehr V blieb ihm also aus primär finanziellen Gründen vorerst versagt. Erst der Erfolg seines zweisprachigen Liebesbrief- und Sprachlernromans „Dear Doosie“35 (1977) ermöglichte ihm schließlich nach insgesamt über 40-jährigem Exil die Rückkehr nach Deutschland und die Veröffentlichung weiterer Texte. Bis zu seinem Lebensende 1990 lebte Lansburgh daraufhin abwechselnd in Hamburg und Uppsala.

7.1.2 Textkorpus für die Analyse Nach einem biografischen Überblick und einigen bislang erwähnten Texten und Projekten Lansburghs folgt nun die Vorstellung der für die Analyse ausgewählten literarischen Texte. Neben „Dear Doosie“ und seinen Nachfolgern sollen vor allem Lansburghs Roman Schloss Buchenwald (1971), seine Erzählbände J. Eine europäische Vergnügungsreise (1968) und Strandgut Europa. Erzählungen aus dem Exil 1933 bis heute (1982) sowie seine zuletzt erschienene Autobiografie Feuer kann man nicht verbrennen (1990) untersucht werden. Nicht nur weil die Texte Lansburghs in der literaturwissenschaftlichen Forschung weitgehend unbekannt sind, stelle ich den Analysen, anders als bei Domin und Kaléko, ein einführendes Kapitel voran, das jeweils einen Überblick schaffen soll. Dieses Vorgehen bietet sich in erster Linie deshalb an, weil es darum geht, in Bezug auf Sprachkonzeptionen textübergreifende Motive und ästhetische Verfahren bei Lansburgh zu entdecken.

7.1.2.1 Prosa-Miniaturen aus dem Exil in den Erzählbänden J und Strandgut Europa Die Erzählbände J. Eine europäische Vergnügungsreise36 (70 Texte) und Strandgut Europa. Erzählungen aus dem Exil 1933 bis heute37 (51 Texte) weisen große Überschneidungen auf. Aus diesem Grund werden die Erzähltexte dieser Bände im Folgenden zusammen verhandelt38, ohne ihre Unterschiede negieren zu wollen. Mit Ausnahme von fünf Erzählungen sind alle der 51 kurzen Prosatexte aus Strandgut Europa bereits im vorangegangenen Erzählband J erschienen, allerdings wurden einige von ihnen stellen- oder passagenweise modifiziert. In J befinden sich wiederum 26 Texte (von insgesamt 70 Texten), die für Strandgut Europa nicht übernommen wurden. Weiterhin sind die Texte in unterschiedlicher Reihenfolge 35Werner

Lansburgh: „Dear Doosie“. Eine Liebesgeschichte in Briefen – auch eine Möglichkeit, sein Englisch spielend aufzufrischen [1977]. Frankfurt a. M. 1979. Im Folgenden unter der Sigle „DD“ direkt im Text zitiert. 36Werner Lansburgh: J. Eine europäische Vergnügungsreise. Ahrensburg/Paris 1968. Im Folgenden unter der Sigle „J“ direkt im Text zitiert. 37Werner Lansburgh: Strandgut Europa. Erzählungen aus dem Exil 1933 bis heute [1982]. Frankfurt a. M. 1988. Im Folgenden unter der Sigle „SE“ direkt im Text zitiert. 38Zitierte Textstellen erhalten daher die Literaturangabe aus demjenigen Erzählband, in dem sie auftauchen. Bei Überschneidungen wird die neuere Publikation in Strandgut Europa angegeben.

298

7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

angeordnet, wobei in Strandgut Europa zusätzlich sechs Überkapitel die Erzählungen, vermutlich nach Entstehungsjahren39, gliedern, und mit Ausnahme der letzten beiden Abschnitte den Titel eines der darin enthaltenen Texte tragen: „Brief ohne Anschrift“ (1933–1939), „Papierkorb“ (1939–1955), „Der weiße Mond“ (1955– 1970), „Was trägt?“ (1970–1979), „Vier Sätze“ (1980), „Heimkehr (Jetzt)“. Die kurzen Erzähltexte dieser Bände lassen sich als Impressionen aus dem Exil in verschiedenen europäischen Ländern lesen, deren Auswahl auch den biografischen Stationen Lansburghs entspricht: Schweiz, Spanien, Italien und Schweden. In der Regel umfassen die Texte zwei bis vier Seiten und können daher eher als Kürzestgeschichten oder Prosa-Miniaturen40 aus dem und über das Exil denn als komplexe Erzähltexte bezeichnet werden. Lansburgh hatte sie so konzipiert, dass jeder Text, in sehr kleiner Handschrift geschrieben, genau auf eine Seite passte.41 Viele der 70 Texte in J bzw. der 51 Texte in Strandgut Europa setzen sich mit dem Verlust von Sprache, Heimat und Beruf auseinander. Sie greifen die Schwierigkeiten und Widerstände von Exilschriftsteller*innen in Bezug auf die gewünschte Rückkehr nach Deutschland auf und stellen, allerdings nur im später erschienenen Band Strandgut Europa, dessen letzten fünf Texte noch nicht in J enthalten sind, den letztendlichen Wiedergewinn der deutschen Sprache dar. Der Titel des älteren Erzählbandes J greift auf, das Juden*Jüdinnen in NS-Deutschland seit 1938 ein roter Stempel mit einem „J“ in ihrem Reisepass eingetragen wurde. Dieser Stempel, der die Reisenden bzw. Flüchtenden bei jeder Grenzüberschreitung sofort als Juden und Jüdinnen identifizieren ließ, brachte viele in äußerst schwierige und gefährliche Situationen, weil sich einige Staaten mitunter vorbehielten, die Einreise zu verwehren. Vor diesem Hintergrund kontrastiert der deutlich ironische Untertitel Eine europäische Vergnügungsreise die durch Not und Ungewissheit geprägten Fluchtbewegungen von verfolgten Juden*Jüdinnen in Europa in verstärkter Weise. Ein rotes „J“ befindet sich auch auf dem Buchcover einer Ausgabe des überarbeiteten und ergänzten Erzählbandes mit dem Titel Strandgut Europa. Erzählungen aus dem Exil 1933 bis heute. Diese erst 1982 erschienene Textsammlung betont in ihrem Titel sogleich die andauernde Aktualität der Texte über das Exil seit 1933 bis weit über das Kriegsende hinaus und lässt sich insofern auch als exilliterarische Setzung von Texten verstehen, die erst in den 1980er Jahren publiziert wurde. Aus heutiger Sicht fällt darüber hinaus besonders die Differenz des

39Ob

es sich hierbei um die Entstehungsjahre handelt, ist nicht eindeutig festzustellen, aber sehr wahrscheinlich. Zunächst ist verwirrend, dass einige der bereits 1968 in J erschienen Text hier auch den Zeiträumen 1955–1970 und 1970–1979 zugeordnet sind. Nach genauer Betrachtung lässt sich dies darauf zurückzuführen, dass diese Texte für Strandgut Europa noch einmal, mitunter nur geringfügig, überarbeitet wurden. 40Vgl. Ottmar Ette (Hg.): Nanophilologie. Literarische Kurz- und Kürzestformen in der Romania. Tübingen 2008. 41Werner Lansburgh: „J“. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108.

7.1  Werner Lansburgh: Texte und Projekte

299

Europa-Begriffes auf. Während verfeindete und im Krieg befindliche ­ Staaten, die Schwierigkeit, auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus Grenzen zu überqueren, in Lansburghs Texten immer wieder Thema sind, haben sich Flucht und Exil in einem heute weitgehend friedlichen Europa als Staatengemeinschaft an dessen sogenannte „Außengrenzen“ einer „Festung Europa“ verschoben. Die Beschäftigung mit historischen Fluchtgeschichten, mit Flucht und Exil in Europa, ist meines Erachtens sehr bedeutsam vor dem gegenwärtigen Hintergrund, in dem der Titel Strandgut Europa auf eine andere Weise wieder erschreckend aktuell geworden ist.

7.1.2.2 Der Roman Schloß Buchenwald Der 1971 erschienene tagebuchartige Roman Schloß Buchenwald42 schildert die Erfahrungen und Reflexionen eines vor über 30 Jahren aus NS-Deutschland exilierten Schriftstellers, der als junger Mann aufgrund seiner jüdischen Her­ kunft vertrieben worden war. Er ist aus dem schwedischen Exil nach Deutschland angereist, um sich auf Arbeitssuche zu begeben bzw. einen Verlag für seine deutschsprachigen Texte zu finden. Seine datierten Aufzeichnungen umspannen den Zeitraum vom 28. Mai bis 17. September eines nicht benannten ­Jahres. In Unterbrechungen dieser Tagebuchform befinden sich an der Stelle von Datumsangaben die Jahreszahlen 1933 bis 1971 als Überschrift der einzelnen kurzen Abschnitte, was sich als Zeitspanne seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten bzw. der Flucht aus Deutschland bis zum Erscheinen des Textes deuten lässt. Es ist die erste und auch letzte Fahrt nach Deutschland, denn der Erzähler hatte eigentlich geplant seinem Leben ein Ende zu setzen und sich aus dem Zug zu werfen. Nach Überqueren der Grenze wirft er dann aber doch nur seine „Legitimationspapiere nach der Grenzkontrolle“ (SB 9) aus dem Zugfenster und quartiert sich in das ländlich gelegene „Hotel Parkschloß“43 (SB 15) ein. Das Hotel ist eine alte Villa, deren Parkanlage an einem See mit Buchenwald liegt. Einst im Privatbesitz der jüdischen Familie Cohn wurde die Villa von den Nationalsozialisten enteignet. Die Familie wurde deportiert (SB 9). Neben der Vergangenheit des Hotels verweist auch der Titel des Romans deutlich auf die nationalsozialistischen Verbrechen, indem er den Namen des Konzentrationslagers „Buchenwald“ aufgreift. Das Konzentrationslager Buchenwald errichtete die SS 1937 in der Nähe von Weimar. „Sein Name ‚Buchenwald‘ wird zum Synonym für die nationalsozialistischen Verbrechen.“44 Die Kombination mit dem Wort „Schloß“ hat einen sarkastischen oder sogar provokativen Anklang, wie er für den

42Werner

Lansburgh: Schloß Buchenwald. Ahrensburg 1971. Im Folgenden unter der Sigle „SB“ direkt im Text zitiert. 43Vorlage für den Schauplatz des Romans soll das Park-Hotel in Ahrensburg gewesen sein. Dort habe Lansburgh eine Affäre mit einer jungen Frau gehabt (vgl. Lansburgh, W.: Brief an Edith Maria Ruß vom 2. Juni 1973 (s. Anm. 34)). 44Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Unter: https://www.buchenwald. de/69/ (12.04.2019).

300

7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

gesamten Roman charakteristisch ist und wesentlich durch das Erzählverfahren unterstützt wird.45 Der zentrale Ort des Erzählens im Roman ist die Veranda des Hotels, wo sich der Zurückkehrende nach seiner Ankunft meist aufhält. Das Besondere ist nun, dass sich der Ich-Erzähler in seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen direkt an eine fiktive Leserin – genannt „Lesa“, was phonetisch große Ähnlichkeit zu „Leser“ (allerdings in der männlichen Form) hat – richtet. „Lesa, ich liebe Sie. Geistig. Ich liebe Ihre Seele, Ihre keusche, nackte deutsche Buchenwaldseele“ (SB 209). Das für Lansburghs Schreiben insgesamt charakteristische rhetorische ­Mittel der Apostrophe wird in Schloß Buchenwald, ähnlich wie auch in den Doosie-­Romanen, derart oft verwendet, dass der Erzähler seine Lesa in eine Art fortlaufendes, wenngleich einseitiges Gespräch verwickelt. Damit einhergehend versucht der E ­ rzähler die explizit als weibliche Leserin konstruierte Lesa auf recht penetrante Weise zu verführen, was ihm am Ende des Romans auch gelingt. Diese doppeldeutige literarische Konstruktion einer Kommunikationsstruktur im Text ist auch als ­performativer Schreibakt, als Erschreiben einer (weiblichen) Leserschaft, die es zu überzeugen gilt, zu betrachten. Das Geniale, das wahrhaft Literarische an der Sache ist, wie ich wohl nicht erst zu erklären brauche, daß sich hier, zum ersten Mal in der Weltliteratur, Autor und Leser unmöglich mehr verfehlen können. Logisch unausgeschlossen. It’s a date. Auf deutsch: ein Happening. (SB 99)

Eine mehr oder weniger deutlich erkennbare oder stringente Handlung tritt im Text in den Hintergrund, zugunsten von monologartigen Erinnerungen an das Exil, Beobachtungen bei der Rückkehr nach Deutschland sowie zahlreichen Reflexionen des Erzählers hinsichtlich Erzählstoff und -weise wie z. B.: „Entschuldigen Sie das Pathos“ (SB 12) oder „sofern Sie mir das nicht als Effekthascherei übelnehmen“ (SB 22). Die selbstreflexive Auseinandersetzung des Textes mit seinen literarischen Verfahrensweisen und Wortwahl führen zu einem durchgängig extrem hohen Grad an Mittelbarkeit des Erzählens. Sie erzeugen eine Metaebene und stellen den konstruktiven Charakter der Erzählkonstellation permanent heraus. „Denn wie gesagt: Zum Erzählen gehören immer zwei, und wenn einer von den beiden gähnt oder abspringt, dann ist der andere wieder in Land X.“ (SB 12) In Lansburghs „Phantasmagorie der Heimkehr, des Zuhauseseins“46 setzt der Erzähler seine Beobachtungen bei der Rückkehr in die einstige Heimat mit den Erfahrungen seines mehr als 30-jährigen Exils in Beziehung. Während einerseits Deutschland sowohl Heimatliches als auch die schmerzhafte Verbannung und den

45Im

Übrigen wäre in einer weiterführenden Untersuchung auch Verbindungen zu Tucholskys Schloß Gripsholm nachzugehen: Kurt Tucholsky: Schloß Gripsholm. Eine Sommergeschichte [1931]. Hamburg 1950. 46So heißt es im Klappentext zu Schloß Buchenwald der hier zitierten Ausgabe.

7.1  Werner Lansburgh: Texte und Projekte

301

Ausschluss aus der Nation aufruft, bezeichnet er andererseits das Exilland Schweden konsequent als „Land X“. Ich nenne es X, weil es für Sie nichts bedeutet und für mich nichts, weil ich es gleichfalls nicht kenne, keine Ahnung davon habe, keinen blassen Schimmer, obwohl ich dreißig Jahre dort gelebt habe, sofern man das ‚leben‘ nennen kann. Armutszeugnis, sagen Sie? Das kann ich Ihnen doch nicht in den Mund gelegt haben. Wie kann man denn, sagen Sie, an einem Lande X oder Y so völlig vorbei leben, dreißig Jahre lang? – Man kann, meine Liebe. Allerdings muß man dazu etwas Pech haben, zum Beispiel das Pech, im fraglichen Lande nicht geboren zu sein und dort in der Fremde also, das einzige zu verlieren, was man zufällig noch bei sich hatte: die Sprache. (SB 5)

„Land X“ wird somit im gesamten Roman zu einem Symbol, zum Stellvertreter für die Abgeschnittenheit, das „Vakuum“ und die Sprachlosigkeit des Exils. Dass das groß geschriebene X in „Land X“ dem zentralen Buchstaben im Wort „Exil“ entspricht, stützt diese Lesart maßgeblich. In einer Rezension schreibt Werner Schulze-Reimpell zu Schloß Buchenwald: Lansburgh erzählt nicht vor allem eine wie immer geartete, mehr oder minder interessante Geschichte. Vielmehr wird das Material dieser letztlich ungeschriebenen Story unablässig reflektiert, Sprache geschmeckt und gewogen. Die geläufigen, „bewährten“ Darstellungsweisen eines Stoffes prüft der Ich-Erzähler Lansburgh wie literarische Gebrauchsmuster auf ihre Verwendbarkeit, um dann doch immer nur heißhungrig hinter schon vergessenen, überraschend wiedergefundenen Wörtern herzujagen: Rückkehr als Schnitzeljagd im Labyrinth der Sprache.47

Inwiefern von einer „Rückkehr als Schnitzeljagd im Labyrinth der Sprache“ gesprochen werden kann und welche Bedeutung dabei dem Spiel mit Mehrsprachigkeit zukommt, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.

7.1.2.3 Der Liebesbrief- und Sprachlernroman Dear Doosie und seine Folgeromane Mit seinem zweisprachigen liebesbriefartigen Sprachlernroman „Dear Doosie“. Eine Liebesgeschichte in Briefen. Auch eine Möglichkeit, sein Englisch spielend aufzufrischen (1977) gelang Lansburgh der lang ersehnte literarische Durchbruch und die Rückkehr nach Deutschland.48 In „Dear Doosie“ und dessen Folgeromanen Wiedersehen mit Doosie. Meet your lover to brush up your English49

47Werner

Schulze-Reimpell: Schnitzeljagd im Labyrinth der Sprache. Eine „ungeschriebene“ Story lässig reflektiert. In: Neue Musikzeitung (Dezember/Januar1972). 48In Lansburghs Nachlass befinden sich Entwürfe, die darauf schließen lassen, dass er ein ähnliches zweisprachiges schwedisch-englisches Sprachlernbuch plante, unter dem Titel engelska för hopplösa („Englisch für Hoffnungslose“). Es handelt sich um einen Vorläufer von Dear Doosie (Werner Lansburgh: engelska för hopplösa. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108). 49Werner Lansburgh: Wiedersehen mit Doosie. Meet your lover to brush up your English [1980]. Frankfurt a. M. 1983. Im Folgenden unter der Sigle „WD“ direkt im Text zitiert.

302

7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

(1980) und Holidays für Doosie. Eine Reise durch Europa oder Englisch mit Liebe50 (1988) macht Lansburgh durch ein ständiges hin und her Springen und Übersetzen, überwiegend zwischen Deutsch und Englisch, häufig sogar mehrfach innerhalb eines Satzes, Code-Switching und Übersetzung zum Schreibverfahren.51 Wie in Schloß Buchenwald wird die spezielle Form der Kommunikation zwischen Ich-Erzähler und fiktiver Leserin zum Leitkonzept des Textes. Nicht von ungefähr kommt also die wiederholt auftauchende Verbindung zum Mythos des Pygmalion aus der griechischen Antike, welche „Dear Doosie“ selbst reflektiert (vgl. z. B. DD 115–118).52 So wie sich der Bildhauer Pygmalion nach fehlendem Glück in der Liebe eine weibliche Statue erschafft, in die er sich verliebt und die in der Folge zum Leben erweckt wird, kreieren auch Lansburghs Doosie-Romane eine weibliche Kunstfigur und Leserin, in die sich der Erzähler gleichsam verliebt. „Nun sind Sie als meine Schülerin der Gegenstand meiner Arbeit, you are the subject – nein, Doosie, nicht ‚object‘! – you’re the subject of my work. Auf deutsch: Ich liebe Sie.“ (WMD 13). Das performative Erschreiben einer – deutschen und vorwiegend weiblichen – Leserschaft im Falle von „Dear Doosie“ hat am Ende tatsächlich dazu geführt hat, dass der Gewinn einer solchen Leserschaft für Lansburgh Wirklichkeit geworden ist und zu schriftstellerischem Erfolg und einer Rückkehr nach Deutschland geführt hat. Lansburgh hat mit zahlreichen seiner weiblichen Leserinnen tatsächlich Briefe geschrieben, einige davon befinden sich in seinem Nachlass. Die zunächst eigentümlich wirkende Kombination dieser Texte, nicht nur Briefroman und Liebesgeschichte, sondern zugleich auch noch Sprachlernbuch sein zu wollen, spiegelt sich bereits in der Namensgebung für das Gegenüber wider. „Doosie“ lautet der Name der fiktiven Geliebten, der Leser(in), an die der Ich-­ Erzähler seine Sprachlektionen richtet. Dieser Name selbst hat seinen Ursprung in einer Übersetzungsschwierigkeit, da sich die englische Anrede „you“ sowohl mit „du“ als auch mit „Sie“ übersetzen lässt. „Doosie“ ist also ein mischsprachiger Neologismus, eine Kombination aus dem deutschen „du“ und „Sie“, das sich phonetisch jedoch an der englischen Schreibweise orientiert.

50Werner

Lansburgh: Holidays für Doosie. Eine Reise durch Europa oder Englisch mit Liebe [1988]. München 1991. Im Folgenden unter der Sigle „HD“ direkt im Text zitiert. 51„Dear Doosie“ wurde auch in andere Sprachen übersetzt, z. B. ins Ungarische und Tschechische. Eine Untersuchung der Übersetzung eines derart mehrsprachigen Textes wäre hinsichtlich der dadurch entstehenden Verschiebungen und Veränderungen äußerst interessant. Vgl. zu der Schwierigkeit der Übersetzung mehrsprachiger Literatur allgemein z. B. Renata Makarska: Wie viel Fremdheit (v)erträgt ein Text? Zur Übersetzung von Mehrsprachigkeit. In: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 38 (2012). S. 170–184; Dilek Dizdar: Die Mutterzunge drehen. Erfahrungen aus und mit einem Text. In: Gisella Vorderobermeier und Michaela Wolf (Hg.): „Meine Sprache grenzt mich ab…“. Transkulturalität und kulturelle Übersetzung im Kontext von Migration. Wien 2008. S. 95–110. 52An einer Stelle befindet sich sogar eine Zeichnung des Pygmalion-Mythos mit der Unterschrift: „Pygmalion, Greek legend has it, so loved her that she came to life“ (DD 121).

7.1  Werner Lansburgh: Texte und Projekte

303

Dear Doosie, warum ich Sie Doosie nenne, fragen Sie? Well, my dear, don’t you understand German – verstehen Sie denn kein Deutsch? I am calling you Doosie, weil ich noch nicht recht weiß, ob ich Du oder Sie zu Ihnen sagen soll. Deshalb. That’s why. „… ob Du oder Sie…“ Könnten Sie mir bitte einmal ganz schnell dieses „ob“ übersetzen? Gut! (bzw.) Schlecht! Nicht if, sondern whether, ausgesprochen wie weather, Wetter. Womit wir unsere Unterhaltung sehr englisch angefangen haben, mit Wettergeschwätz. Verzeihung, sorry. Ich bin mit diesem whether-weather eigentlich recht unenglisch gewesen: I have made a pun, ein Wortspiel. So etwas mag im Deutschen vielleicht abgängig sein, permissible, bisweilen sogar lustig, amusing. In England aber findet man es zumeist unerträglich, unbearable. (DD 7)

So beginnt der Roman, der sich in dieser Weise sprachwechselnd, sprachreflexiv und übersetzend fortsetzt und dabei ganz „unenglisch“ unzählige Sprachspiele ­verwendet. Der für den gesamten Text typische ständige Wechsel zwischen Deutsch und Englisch sowie das systematische Übersetzen und Erläutern von Wörtern und Redensarten stehen unter dem ausdrücklichen Motto des Textes, Sprachkurs zu sein. Dementsprechend werden vermittelte Lektionen und Vokabeln in der Regel am Ende eines Kapitels wiederholt und „Doosies“ Lernfortschritt überprüft, indem der Ich-erzählende Briefeschreiber zu Übersetzungsübungen auffordert. Lansburghs Beststeller „Dear Doosie“, so humorvoll und leicht er als ­Liebesbrief- und Sprachlernroman auf den ersten Blick daherkommt, setzt sich auch mit der Exilthematik auseinander, indem der „Englischunterricht“ häufig im Zusammenhang mit Episoden und Sprachbeispielen aus dem und über das Exil stattfindet. Im dritten Teil, Holidays für Doosie, nimmt der Erzähler seine Doosie, die mittlerweile auch hin und wieder zu Wort kommt und seinem Vorschlag aus dem ersten Teil (vgl. DD 9) nachgekommen ist, indem sie ihn als „Doubleyou“ (angelehnt an das „W“ im englischen Alphabet, was auf die Initialen von Werner Lansburgh anspielt) anspricht, mit auf eine Reise durch Europa. Sie besuchen viele der Orte, die einst Exilstationen waren.

7.1.2.4 Die Autobiografie Feuer kann man nicht verbrennen In Schloß Buchenwald äußert sich der Erzähler Lesa gegenüber hinsichtlich autobiografischer Bezüge folgendermaßen: „Wie ich heiße?“ „Nachname? Na, suchen Sie sich mal was Schönes aus. Bin zu jeder Konzession bereit – weiß nur im Gegensatz zu einheimischen Autoren leider nicht, zu welcher.“ (SB 6). Einzig und allein Werner Lansburgh möchte er nicht heißen. „Nur eines bitte: Nicht den Namen wählen, der auf dem Umschlag steht. Versuche nämlich ein bisschen von mir wegzukommen. Das eben ist die Schweinerei, die ‚story‘, wie man wohl heutzutage sagt“ (SB 7). So wie hier, wird auch in den Doosie-Romanen permanent mit der Frage der Autorschaft gespielt, etwa wenn Doosie ihr Wort an „Doubleyou“ richtet oder ein Brief mit einem „W“ unterschrieben ist. Von nahezu allen Texten Lansburghs lassen sich Verbindungslinien zu seiner Biografie herstellen. Insgesamt kann man bei Lansburgh von autofiktionalen Texten sprechen, die sich insbesondere auch dadurch kennzeichnen, dass einzelne Episoden in mehreren Texten auftauchen. Dass sich

304

7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

diese Passagen zum Teil inhaltlich deutlich voneinander unterscheiden, betont den offensichtlich sehr kreativen Umgang mit Autobiografischem in Lansburghs Texten, was eine kritische Auseinandersetzung damit erfordert. Der einzige ausdrücklich als Autobiografie gekennzeichnete Text ist L ­ ansburghs Feuer kann man nicht verbrennen. Erinnerungen eines Berliners53 (1990). Es ist zugleich auch der letzte von ihm erschienene Text. Im Hinblick auf mehrsprachige Schreibverfahren ist er deutlich weniger innovativ bzw. kreativ als die Doosie-Romane. Doch auch hier finden sich immer wieder mehrsprachige Einschübe im überwiegend deutschsprachigen Text. Darüber hinaus ist Lansburghs Exilautobiografie bemerkenswert, weil sie sich umfangreich mit mehrsprachigen Exilsituationen auseinandersetzt, deren spezifischer Darstellung Abschn. 7.3.1 nachgehen wird.

7.2 Konzeptionen von (Mutter-)Sprache und Exil zwischen Sprachverlust, Sprachlosigkeit und Wiedergewinn Sowohl im Roman Schloß Buchenwald, in den Erzählungen aus J und ­Strandgut Europa, in den Doosie-Romanen als auch in der Autobiografie Feuer kann man nicht verbrennen ist das Thema der Sprache(n) ein durchgehend zentrales Motiv. Aber lässt sich darin textübergreifend auch eine oder mehrere bestimmte Konzeptionen von Sprache(n), etwa in Form von Sprachhierarchien oder unterschiedlichen Funktionen erkennen? Wie positionieren sich die Texte Lansburghs in Bezug auf Vorstellungen von Muttersprache(n), Nationalsprache(n) und Sprache(n) im Exil? Um diesen Fragen nachzugehen, richtet sich die folgende Lektüre von Lansburghs Texten erstens auf den Aspekt des Sprachverlustes durch die Exilierung aus NS-Deutschland, zweitens auf die Sprachlosigkeit im Exil und drittens auf die Wiederbegegnung mit der deutschen Sprache nach beziehungsweise während der Rückkehr nach Deutschland.

7.2.1 Vertreibung aus dem Sprachraum als Sprachenteignung und Potenzverlust Wiederholt beschreiben Lansburghs Texte die Vertreibung aus NS-Deutschland als Sprachraub. In dem kurzen Erzähltext J’accuse, der sowohl in J als auch in Strandgut Europa enthalten ist, wendet sich ein aus Deutschland vertriebener Schriftsteller mit seinem Anspruch auf die sogenannte „Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung“ zunächst an das Berliner Landesgericht und schließlich den Bundesgerichtshof in Karlsruhe. In seinem Fall geht

53Lansburgh,

W.: Feuer kann man nicht verbrennen (s. Anm. 12). Im Folgenden wird aus dieser Ausgabe mit der Sigle „F“ und unter Angabe der Seitenzahl direkt im Fließtext zitiert.

7.2  Konzeptionen von (Mutter-)Sprache und Exil

305

es namentlich um den „Raub der Sprache“ durch die Nationalsozialisten, welcher sich für den Kläger beruflich äußerst negativ ausgewirkt habe und wofür er nun eine finanzielle „Entschädigung“ fordert. J’accuse inszeniert dies als den letztlich vergeblich bleibenden Versuch, das Verbrechen einer Vertreibung aus dem Sprachraum, der auch Teil der Arbeitsgrundlage war, juristisch zu ahnden. Daß das BEG oder Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung zwar beispielsweise für den Raub von Braunschweiger Würsten aus einem zur fraglichen Zeit nichtarischen Laden volle Entschädigung leistet, nicht aber für den Raub einer Sprache eines angehenden, ins fremdsprachliche Ausland vertriebenen Schriftstellers, ist leicht einzusehen. Denn Sprache läßt sich rein juristisch ebensowenig rauben wie etwa Luft: Beide sind zwar lebenswichtig, aber kein Gegenstand des Eigentumsrechts und daher rein juristisch wertlos. […] Aber sein Anspruch auf Entschädigung für Schaden im ‚beruflichen Fortkommen‘, und dies noch dazu auf Grund des Verlustes seiner Sprache, ist ganz einfach aus der Luft gegriffen. (SE 143)54

Die Klage des Schriftstellers wird in doppelter Instanz abgelehnt, was den Erzähler zu dem Schluss führt, „daß der Besitz der Sprache und damit: Zugehörigkeit, Arbeit, Leben eines verjagten deutschen Intellektuellen nach dem Spruch des Bundesgerichtshof zu Karlsruhe ein Scheißdreck ist.“ (SE 145). Die Immaterialität von Sprache, so stellt es der Text dar, macht deren gleichzeitig grundsätzlich hohen kulturellen Wert, der zwar zunächst auch immateriell ist, aber in beruflichen Kontexten auch in materiellen Wert verwandelt werden kann, besonders angreifbar und fragil. Der Text etabliert damit also gewissermaßen die Vorstellung, dass man eine Sprache im Sinne eines wertvollen Gutes ‚besitzen‘ kann. Insofern kann sie als Teil des Eigentums durch Dritte ‚entwendet‘ bzw. (schriftstellerisch) unbrauchbar gemacht werden, wenn etwa durch Publikationsverbote oder physische Vertreibung aus einem Sprachgebiet das Veröffentlichen erschwert bis unmöglich ist. Sprache ist insofern zunächst als (Human-)Kapital denkbar, dessen existenzielle Bedeutung durch eine Exilierung, insbesondere im Fall von mit Sprache arbeitenden Menschen, mitunter erst sichtbar ist. Die Erzählung in J nimmt ein etwas anderes Ende als die gleichnamige Erzählung in Strandgut Europa, denn hier geht die Vorstellung von geraubtem Sprachbesitz so weit, dass der Sprachenteignete tatsächlich nicht mehr sprechen kann und stattdessen nur noch Schaum vor dem Mund hat. Der Kläger, der auch als der „kleine Schmarotzer“ bezeichnet wird, reagiert empört und bäumt sich gegen das Urteil auf: „Unbegreiflicherweise schreit er, dieser kleine Jude, der der Bundesrepublik nichts hat abgaunern können, schreit wie ein garstiges Tier, mit Schaum vorm Mund. Was er schreit, weiß man nicht. Man hat ihm die Sprache geraubt.“ (J 177). Es fällt das gezielt scharfe Spiel mit antisemitischer NS-Rhetorik auf, wenn von dem jüdischen Kläger als „Schmarotzer“, „Gauner“ oder „Tier“ die Rede ist. Indem der Titel des Textes J’accuse von Émile Zolas offenem Brief

54In

der gleichnamigen Erzählung in J heißt es nicht „Luft“, sondern „Sprache lässt sich rein juristisch ebensowenig rauben wie die Sonne“ (J 176).

306

7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

übernommen ist, welchen dieser 1898 während der sogenannten Dreyfus-Affäre an den damaligen französischen Präsidenten Félix Faure geschrieben und damit eine diesbezügliche Wende ausgelöst hat, situiert er sich selbst in eine Tradition literarisch-politischen Engagements und öffentlicher Stellungnahme. Das „Ich klage an“ bezieht sich in Lansburghs Text außerdem, ähnlich wie bei Zola im Falle Dreyfus’, auf juristische Fehlleistungen und im Speziellen auf damit zum Tragen kommende, fortgesetzte oder unkritisch hingenommene, antisemitische Ressentiments und Anfeindungen, die es in der Bundesrepublik weiterhin gab. Der Text J’accuse ist in J zusätzlich mit einer Abbildung aus Lansburghs schwedischem Drucksatzhandbuch dargestellt (vgl. J 179). Dies zeigt eine Formelsammlung mit wortlosen Gleichungen wie „xxxxx = xxxxxxxx“. Im Text heißt es dazu: Noch unbegreiflicher ist es, daß dieses Urteil, wie er da an sein Korrektorpult in Uppsala zurückkehrte und tagaus, tagein Tabellenziffern kontrollierte (nicht Text, nicht Sprache: die vertraute man ihm nicht an, er war nicht von hier) – ich sage: Noch unbegreiflicher ist es, daß ihn dieses Urteil stärker und tiefer empörte als sämtliche vor dreißig Jahren von einer Horde Halbunzurechnungsfähiger begangene Naziverbrechen. Nichts, nicht einmal die Demütigung seines geliebten, ehrwürdigen Vaters als dreckige Judensau, traf den armen kleinen Schmarotzer so tief wie dieses Urteil. (J 177)

Die Vertreibung aus dem deutschen Sprachraum und der damit einhergehende Verlust oder Raub der Erstsprache, die auch Arbeitssprache war, tritt im Exil so massiv und kontrastreich zutage wie die wortlosen Formeln und Tabellenziffern dem Text gegenüberstehen. Auch im Roman Schloß Buchenwald wird das Thema des Sprachraubes wiederholt aufgegriffen, zum Beispiel in dem knappen Eintrag unter dem Datum „18. Juli“: Der Raub der Sprache durch die Nazis wird vom Bundesgerichtshof nicht als Schädigung im beruflichen Fortkommen angesehen (ich besitze die Akten). Somit zur Erinnerung an Räuber und Richter eine stille Minute: Leerseite. (SB 135)

Die schweigende, wortlose Leerseite ist daraufhin auch typografisch verwirklicht bzw. manifestiert sie sich als eine komplett nicht bedruckte Seite. Die Leerstelle scheint in ihrer Aussage offensichtlich: Ohne Sprache gibt es keinen Text. Die Darstellung des Sprachraubes basiert bei Lansburgh ganz wesentlich auf einem Konzept von Sprache als Zuhause oder gar Heimat, das dem späteren Zustand des Verlustes, des Bestohlen Seins vorausgeht. „Wo dir die Dinge etwas sagen, da ist Sprache, da bist du zu Haus.“ (SE 172) „Sprache ist Inhalt, ist Zuhausesein.“ (SE 178). Demnach fungiert eine als ‚eigen‘ empfundene Sprache als zentrales Mittel für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. Das Wort „Muttersprache“, wie es in vielen Exiltexten explizit und prominent verwendet wird, taucht bei Lansburgh so gut wie gar nicht auf. Vielmehr ist meist allgemeiner von „der Sprache“ bzw. von der „deutschen Sprache“ die Rede. Dennoch lässt sich meiner Beobachtung nach eindeutig eine eher traditionelle Vorstellung von einer Muttersprache erkennen (vgl. dazu Abschn. 4.1). (Mutter-)Sprache betrifft, so

7.2  Konzeptionen von (Mutter-)Sprache und Exil

307

führen Lansburghs Texte vor, die Frage nach nationaler Zugehörigkeit, aber auch die Angehörigkeit und Teilhabe innerhalb einer deutschen Literaturlandschaft, als deutscher oder deutschsprachiger Schriftsteller. Der Raub der Erstsprache als Schreibsprache kann bei Lansburgh bildhaft sogar als Beschneidung von Gliedmaßen gelesen werden, woraus ein ein Verlust körperlicher Fähigkeiten resultiert. Wäre diesem angehenden Schriftsteller damals die Zunge abgeschnitten worden oder auch nur das männliche Glied, oder wären seine literarischen Arbeiten nicht nur dann und wann, sondern am laufenden Band veröffentlicht worden, dann ließe sich das Gesetz vielleicht noch zu seinen Gunsten beugen. (SE 143)

Das Zitat aus J’accuse verweist auf einen weiteren Aspekt, der in Lansburghs Texten wiederholt auftaucht. Wie im Bild der Beschneidung lässt sich eine Parallele von Sprache und Potenz ausmachen, denn die Sprachenteignung wird auch als Potenzverlust dargestellt. Sprachverlust und Sprachlosigkeit sind bei Lansburgh als Unterbindung von Ausdrucksmöglichkeiten dargestellt, die parallel zu einem nicht ausgelebten oder unterdrückten sexuellen Begehren gelesen werden können. „Die Nußbraune verfolgt mich. Ging zum Bahnhof, sprach ein Mädchen an, von hinten, in unserer Lindenallee, sie lief weg. Vakuum macht geil, Exil erhält jung. Konserviert, wie Spiritus einen Embryo. Deutsches Alter“ (SB 95). Lansburgh verknüpft diese Ebenen, etwa in Schloß Buchenwald, so stark miteinander, dass nicht zuletzt die fiktive einsprachig-deutschsprachige Leserin zum Lustobjekt wird. „Lesa, Geliebte, danke Ihnen, […] o Muse, o Lust, o German Languagelust. Mitsingen, Otannenbaummelodie: O Languagelust, o Längwidschlust“ (SB 96). Auf das erhoffte Ziel eines „Stelldichein mit Lesalein“ (SB 99) richtet das erzählende Ich die Konstruktion seiner Texte aus. Sowohl in Schloß Buchenwald als auch in „Dear Doosie“ ist das doppeldeutige Ansprechen, Flirten und Verführen von Lesa bzw. Doosie durch den Ich-Erzähler auch als mehr oder weniger verzweifelter Versuch lesbar, eine Leserschaft zu finden und zur Not selbst apostrophisch eine solche zu erzeugen, die die sprachlich-literarische Potenz wiederherstellt bzw. wahrnimmt und ausleben lässt. Dabei scheint jedoch kaum eine Möglichkeit für eine Anspielung unter der Gürtellinie ausgelassen zu werden. Ein Zitat von Tucholsky, welches dieser kurz vor seinem Freitod 1935 im ebenfalls schwedischen Exil in einem Abschiedsbrief an seine Frau geschrieben hatte („Der Grund zu kämpfen, die Brücke, das innere Glied, die raison d’être fehlt.“55), kommentiert der Erzähler für Lesa mit: „(die Brücke, das innere Glied) warte stündlich und minütlich, desperately.“ (SB 102). Weiterhin werden auch andere Begriffe aus dem Diskurs exilierter Schriftsteller*innen, etwa die „Erstarrung“ der deutschen Sprache, sowie Formulierungen aus den zahlreichen Verlagsabsagen, zum Beispiel „geschwollene“ Sprache,

55Kurt

Tucholsky: Unser ungelebtes Leben. Briefe an Mary. Hg. von Fritz J. Raddatz. Reinbek bei Hamburg 1982. S. 546.

308

7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

aufgegriffen, die sich sowohl auf die Sprache des Schriftstellers als auch auf das männliche Geschlechtsorgan beziehen lassen (vgl. S. 96–97).56 Was im besten Fall noch als provokantes Spiel mit Formulierungen aus diesem Diskurs oder als Abrechnung mit dem Literaturbetrieb der Nachkriegszeit betrachtet werden kann, gleitet jedoch an vielen Stellen ab in sexistische Äußerungen und Passagen, die aus genderkritischer Perspektive nur schwer zu ‚überlesen‘ sind. Wenngleich dies hier nicht das Thema sein soll, wirft die Auseinandersetzung mit Lansburghs Texten auch die Frage auf, wie mit Texten umzugehen ist, die zu einem Teil sprachlich höchst interessant sind und sich zum anderen Teil immer wieder in sexuellen Anspielungen verlieren. Der für Lansburgh insgesamt charakteristische lakonisch-ironische Humor, mit dem auch die Passagen zum Sprachverlust beziehungsweise -raub geschildert werden, verstärkt ihre Wirkungsweise insofern, als dass häufig ein traurig-­trostloser, zuweilen sarkastisch-bitterer Ton entsteht. Es ist auffällig, wie wort- und umfangreich der Verlust der deutschen Sprache und die Sprachlosigkeit im Exil beschrieben wird. Dabei handelt es sich um einen Leseeindruck des Lamentierens, den die Texte bereits selbstreferenziell thematisieren und damit indirekt versuchen zu verbieten, z. B. wenn Lesa in der Wiedergabe des Erzählers etwas in den Mund gelegt bekommt: Sagt man ‚Was kokettiert er denn immerfort mit seiner verlorenen Sprache herum?‘ Sagt man das? Lesa, sagen Sie es nicht. Am Abgrund des Verstummens kokettiert man nicht, wenn man auch an diesem wie an jedem anderen Abgrund tänzelnd kleine Schritte machen muß. (SB 22)

7.2.2 Im Exil, aber kein Exilautor: Das „Vakuum“ der Sprachlosigkeit in „Land X“ Im Anschluss an die Sprachenteignung beschreiben Lansburghs Texte die Sprachlosigkeit des Exils und die Schmerzhaftigkeit des Abgeschnitten- und des Ausgestoßenseins aus der Sprachgemeinschaft. Sprache im Exil, so legen die Texte dar, bedeutet vor allem keine Sprache mehr zu haben. „Wir sprechen über ein Phänomen, das Exil heißt, das ist: Vakuum, Schwerelosigkeit, Schweigen. Ich versuche, Worte dafür zu finden. Denn ohne sie können wir uns nicht verständigen“ (SB 77). Sprache im Exil wird bei Lansburgh in erster Linie geschildert als ihre Abwesenheit, als Leere oder Vakuum. Nachdem die (Erst-)Sprache, die essenziell wie die Luft zum Atmen ist, ‚geraubt‘ wurde, entsteht ein sprachliches Vakuum: Exil als

56Diesbezüglich

ist es relevant, dass Lansburgh sich damit gewissermaßen auch in eine (­männliche) literarische Tradition einreiht, die eine Verbindung von Phallus und Schreibwerkzeug bzw. Potenz herstellt. Vgl. dazu z. B. Hartmut Böhme: Erotische Anatomie. Fragmentierung des Körpers als ästhetisches Verfahren in Renaissance und Barock. In: Claudia Benthien und Christoph Wulf (Hg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Reinbek bei Hamburg 2001. S. 228–253, hier: S. 239–240.

7.2  Konzeptionen von (Mutter-)Sprache und Exil

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Nicht-Sprache, Nicht-Zugehörigkeit, Nicht-Heimat, Nicht-Sinn, Nicht-Arbeit. Lansburghs Texte assoziieren Sprache nicht nur mit Heimat, Arbeit und Zugehörigkeit, sondern viel grundlegender mit dem Menschsein, dem Leben an sich. Sprache zu ‚haben‘ bedeutet, lebendig zu sein, keine Sprache zu ‚haben‘ bedeutet, tot zu sein. Deutsch sprechen ist: Sprechen. Sprechen ist das Artikulieren von Gedanken zum Zwecke der Mitteilung. Mitteilung ist Kommunikation innerhalb einer Gruppe. Gruppe ist ein Verhältnis von Menschen, in welchem die Artikulierung von Gedanken relevant wird. Ein Verhältnis von Menschen, in welchem die Artikulierung von Gedanken nicht relevant wird, heißt Land X, wobei X = unbekannt, namenlos, tot. (SB 89)

Ohne (deutsche) Sprache, also ohne Erstsprache zu sein, sich nicht in ‚seiner‘ Sprache artikulieren zu können, kommt für den Ich-Erzähler des Romans Schloß Buchenwald einem Zustand gleich, den man als ‚tot sein‘, nicht vorhanden sein bezeichnen kann. Für die Darstellung der sprachlichen Leerstelle, der Lücke des Nicht-Seins greift der Roman erneut auf typografische Gestaltung zurück: „Sehen Sie auf das Weiß dieses Zwischenraums. Unter gewissen Bedingungen lebt es, als Mitteilung der Wortlosigkeit. Unter gewissen Bedingungen stirbt es, als ein Nichts.“ (SB 81). Die Zeit des Exils besteht für den Erzähler insofern auch aus nicht existenten Jahren, denn er betont, ein sogenanntes „deutsches Alter“ zu haben, als sei die Zeit während des über 30-jährigen Exils stehen geblieben und er wie zum Zeitpunkt der Emigration immer noch 21 Jahre alt. „Alter? Nicht mehr zu ändern, hab’s Ihnen leider schon ausgeplaudert. Denn 21 + 30 = mindestens 51, wobei 21 = Leben in Deutschland und 30 = Ableben in Land X“ (SB 7). X ist eine Variable und erinnert wie die wortlosen Gleichungen, die im vorangegangenen Abschnitt zitiert wurden, an mathematische Rechnungen. „Land X“ fehlen insofern charakteristische und persönliche Merkmale, welche ein Zuhause häuslich oder eine Heimat heimatlich werden lassen. „Ausland ist Aus-Land, es ist aus. Ich kann es nur ‚Land X‘ nennen, selbst wenn Sie das affektiert finden sollten. Schweden ist Schweden nur für Schweden“ (SB 33). „Land X“, das in diesem Fall zwar explizit für Schweden steht, lässt sich auch allgemeiner als Stellvertreter für die Sprachlosigkeit und Stille des Exils lesen. „Niemand spricht. Man möchte gerne mit irgendjemand sprechen, nur mit sich selber nicht. Aber wer will den Mund öffnen, bei all dem Wasser auf dem Meeresgrund? Stille“ (SE 114). Genauso wortlos bleibt daher auch die Beschreibung von „Land X“ im kurzen Erzähltext Der weiße Mond. Ich jedenfalls muß fürchten, Ihnen Land X nicht mehr erklären zu können. Denn dazu gehören Worte. Worte aber sind mehr als Buchstaben und Laute, sie sind Maß und Gewicht. In einem Lande X aber – In der Fremde haben Waagen keine Zungen: In den Schalen namenlos in die Welt. (SB 76)

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7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

Weitergehend reflektieren die Texte im Besonderen die Situation eines Schriftstellers im Exil und die zusätzliche Schwierigkeit des Sprachverlustes für jemanden, der mit Sprache arbeitet und davon leben möchte. Sie stellen dar, wie ein Schriftsteller durch die Exilierung zu einem „Autor ohne Sprache“ (SB 28) und damit gewissermaßen berufsunfähig werden kann. „Denn wenn man schon ein Autor ohne Sprache ist, und noch dazu mit einem deutschen Alter von 21 Jahren, dann soll man nicht noch obendrein eine Lippe riskieren wollen. Ein Nackter, auch wenn man ihm einst die Kleider raubte, verkrieche sich“ (SB 48). Im Prosatext Der Schriftsteller heißt es: „Ein Schriftsteller ist ein Mensch, der schreibt – was im Exil, fern von der eigenen Sprache, oft bitter ist und zum Verstummen führen kann.“ (SE 116). Dabei fällt auf, dass es bei Lansburgh im Speziellen um die Situation eines zur Zeit der Flucht ins Exil noch nicht etablierten Schriftstellers geht, woraus eine Art doppelter Ausschluss resultiert. Der Raub der Sprache ist demzufolge doppelt schwerwiegend für einen angehenden Schriftsteller, denn er wurde nicht nur aus dem Sprachraum vertrieben und damit einer potenziellen Leserschaft entledigt, sondern es ist ihm nicht mehr rechtzeitig gelungen, zu publizieren und sich einen Namen zu machen. Diesbezüglich verweisen Lansburghs Texte auch auf den Unterschied zu Autor*innen, die zum Zeitpunkt der Exilierung schon einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht hatten. Dies, so ist es hier zumindest als Projektion erkennbar, erleichtere womöglich die Rückkehr oder die Wiederaufnahme beziehungsweise Fortsetzung der Tätigkeit und Publikationen als Schriftsteller*in nach 1945. Neben dem Ausschluss aus Nation und Sprache wird bei Lansburgh eine weitere Ausgrenzung artikuliert: als unbekannter Schriftsteller auch nach 1945 weder Teil der ‚deutschen Literatur‘ („hab’ ja keine Ahnung von der heutigen deutschen Literatur, die ich zu bereichern gedenke.“ (SB 7)) noch der ‚deutschen Exilliteratur‘ zu sein. „Dieser Literaturprofessor gestern am Telefon, der mich auslachte: ‚Deutscher Exilautor? Das hat 1945 aufgehört, Herr Lansburgh, deutsche Exilautoren gibt’s heute nur noch aus der DDR, und um die kümmern wir uns schon‘“ (SE 182). Die Erfahrung dieser erneuten beziehungsweise weiter anhaltenden schmerzhaften Ausgrenzung behandelt etwa die Erzählung Auch Baum nicht, Strauch nicht (SE 156–159). Der Erzähler dieses Textes hat sich im Exil unter anderem mit Übersetzungsarbeiten über Wasser gehalten, darunter „in jenem Hitlerwinter“ (SE 156) zur Zeit des Krieges auch eine Doktorarbeit eines angehenden schwedischen Germanisten. „Brüderlich arbeiteten wir Tag und Nacht, […] sogar an jenem Heiligen Abend […]. Gute, enge Freunde waren wir geworden, ‚Kommilitonen‘ (das Wort tat wohl), die Arbeit hatte uns zusammengeschmiedet“ (SE 156). Zum großen Promotionsbankett wurde er anschließend allerdings nicht eingeladen, da unter den Gästen auch ein aus Deutschland angereister Professor der Universität Berlin, dessen Karriere unter Hitler begonnen hatte, zugegen war. „(Man passte ja nicht ganz, es war wie gesagt zur Hitlerzeit.)“ (SE 157). Als sich der Germanist nach Jahrzehnten ohne Kontakt, in denen sich dessen steile Karriere („Dozent, Professor, Dekan, Rektor, Präsident von dem und dem.“ (SE 157)) in den Zeitungen verfolgen ließ, auf einmal spätabends wieder meldet, wird die Hoffnung

7.2  Konzeptionen von (Mutter-)Sprache und Exil

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des Erzählers enttäuscht, er könnte seinen Einfluss womöglich eingesetzt haben, um ihm bei der verzweifelten Arbeitssuche behilflich zu sein. Stattdessen geht es um einen erneuten Übersetzungsauftrag für einen Gastvortrag an der Freien Universität Berlin über deutsche Exilliteratur in Schweden: „[…] so’n bißchen Tucholsky und Nelly Sachs, du weißt“, im Rahmen irgendeiner Tagung, „Bewältigung der Vergangenheit oder so“, ziemlich feierliche Angelegenheit, der PEN-Club sei auch dabei und die Akademie für Sprache und Dichtung oder wie die nun heiße, […] „sind ja nur ein paar Seiten, recht allgemein das Ganze und wirklich leicht zu übersetzen“, ich könne das doch in ein paar Stunden schaffen? (SE 157)

Anstatt zu antworten, hört er sich nur „mit fremder Stimme etwas von einem Schlaganfall sagen, von einem Gehirnschlag vorgestern, hätte seitdem mein Deutsch vergessen, borta, futsch, könne folglich nicht mehr übersetzen“ (SE 158). Er reißt das Telefon aus der Wand und stampfte auf dem Apparat herum, schwarze taube Kunststoffsplitter schnitten in taube blöde nacktverfluchte Füße, suchte nach Worten, fand keine Worte, kein einziges Wort, kein einziges deutsches Wort, die Augen flimmerten blind, die Knie zitterten, ein Schlaganfall, ein Gehirnschlag, Muttersprache verloren, nichts mehr beim Namen nennen können, bei irgendeinem deutschen Namen, auch Baum nicht, Strauch nicht, Blume, Wolke, riß die Tür auf, stürzte auf die Straße, stammelte zerfetzte Laute in die Nacht, welche Laute denn, welche denn Laute, schrie in den strömenden Regen, hielt mich fest am ­bleischwer regenschlotternden Schlafanzug, schrie, welche Laute denn, welche denn Sprache, schrie, bis mich zwei Nachtpolizisten am Arme packten, mich schüttelten und schließlich, als nichts anderes half, mit einem Knebel zum Schweigen brachten. (SE 158)57

An „dem wehrlosen Fernsprechapparat […], als enthalte er vierzig ebenso wehrlose Flüchtlingsjahre“ (SE 158), lässt er die Enttäuschung und Frustration darüber aus, sowohl von der germanistischen Literaturwissenschaft als auch von Institutionen wie dem PEN-Club, der sich unter anderem für Schriftsteller*innen im Exil engagiert, übersehen zu werden und damit weiterhin ausgeschlossen zu sein. Arbeit hatte man gesucht, nur Arbeit, mehr wollte man ja nicht, auch an PEN hatte man geschrieben und an diese Akademie, nein aber nein, Schuster, bleib bei deinem Leisten, Flüchtling, bleib bei deiner Flucht, Tabellenkorrektor, in Uppsala, auf immerdar, auf ewig, ein paar Seiten leicht zu übersetzen, Exilliteratur, Tucholsky – (SE 158)

In der gleichnamigen Erzählung in J, in der es allerdings statt um einen Germanisten um einen Juristen geht, gibt es noch einen Nachtrag. Die Polizisten, die den Erzähler bei seinem Wutausbruch zum Schweigen bringen müssen, sagen zueinander „det var väl tyska (es war wohl deutsch).“ (J 172). Weiter heißt es, „ein Deutsch übrigens, das künftige Germanisten als Neojiddisch studieren werden. Ein Deutsch also, das nicht schon im Mittelalter, sondern erst vor wenigen

57Eine Zeichnung des Verfassers stellt schemenhaft die Szene des Knebelns durch zwei Polizisten dar.

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7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

Jahren bastardierte.“ (J 172). Die Kritik an der Gegenstandsauswahl von Analysen zukünftiger Wissenschaftler*innen könnte nicht deutlicher sein. Da nun dieses Neojiddisch im Aussterben ist (seine Träger sind vergast oder sonstwie verstummt), sollten die fraglichen Wortfetzen hier im Dienste der deutschen Wissenschaft wiedergegeben werden. […] so hat doch ein authentisch neojiddischer selbst in einem verwesenden Papierstoß immer noch einigen Wert als Quellenmaterial für den akademischen Nachwuchs der Experimentierärzte von Auschwitz. Und dennoch, so sympathisch und politisch einwandfrei diese jungen Leute auch immer sein mögen: Man sei mir nicht böse, wenn ich hier schweige. (J 172)

Eine Rüge des gesamten deutschen Literaturbetriebs der Nachkriegszeit findet sich in allen Texten Lansburghs, so berichtet der Erzähler im Roman Schloß Buchenwald von seinen lange Zeit vergeblichen Versuchen, sich in der Nachkriegszeit „aus Land X heraus[zu]schreiben“ (SB 28) und bezieht sich auf verschiedene Absagen von Verlagen. Habe mich heute schlecht benommen, die Sache liegt mir auf, bedrückt mich. (‚Liegt mir auf, bedrückt mich‘: Sie müssen meine Schreibweise verzeihen, meine ‚ermüdenden Pleonasmen‘ – dies von einem meiner achtundzwanzig refüsierenden Verleger. Wer aus dem vollen schöpfen kann, wer drin ist in der Fülle, der wird Worte sichten. Im Vakuum aber sichtet man nicht, da sind zwei Worte mehr als eines: Man möge einem Ausgeplünderten verzeihen, daß er Lumpen sammelt.) (SB 90)

Nicht aus dem Vollen, sondern nur aus der Leere schöpfen zu können, das setzt Lansburgh auch typografisch um, indem er in Schloß Buchenwald wiederholt Leerseiten in den Text einbaut, zum Beispiel unter dem Datum 12. Juli: „Hallo, bitte Leerseite.“ (SB 123). Nach einigen Leerzeilen aber folgt doch noch Text auf dem unteren Teil dieser Seite. Der Erzähler kommt dabei allerdings nicht als Schriftsteller zu Wort, er hat aus Schweden neue Aufträge für seine Arbeit als Exlibrist58 erhalten. DOCH DOCH, Schrift gibt’s immer noch für ihren Schriftsteller, Message wird diesmal sogar ‚ankommen‘: Die x-ländischen Namenlisten und Blümchentextvorlagen sind eingetroffen. Das gibt Arbeit und Brot auf Wochen, […] und wenn Sie Glück haben, nein – tack! – Schwein, dann bin ich so vollbeschäftigt, daß Sie fortan überhaupt nichts mehr zu lesen brauchen: kriegen nur noch Papier, schönes weißes leeres, werden diese Abmagerungskur in Ihrem wortüberfressenen Lande sicher zu schätzen wissen: Womit ich die Ehre habe, die literarische Richtung des Vakuismus einzuführen. (SB 123)

Das Spiel mit pseudowissenschaftlichen Begriffen wie „Neojiddisch“ oder dem der Philosophie entlehnten Terminus „Vakuismus“ kann bei Lansburgh als ironischer (Selbst-)Kategorisierungsversuch gelesen werden, mit dem Ziel, jemanden, der bisher aus allen Rastern herausgefallen ist bzw. sich selbst, zu klassifizieren.

58Verspielte

sowie mit Blumen verzierte Namen, kurze Reime, Widmungen und Schriftzüge auf Schwedisch tauchen mehrmals abrupt im Roman auf. Teilweise werden sie durch im Text übersetzt und oder kommentiert.

7.2  Konzeptionen von (Mutter-)Sprache und Exil

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Als einzige Lösungsstrategie erscheint es somit, für die eigene Position, den ‚schwarzen Fleck‘ auf der Landkarte der ‚deutschen Literatur‘ oder den weißen Zwischenraum fehlender Worte, selbst eine neue Setzung vorzunehmen und damit das Schweigen im Vakuum des Exils zum Stilmerkmal zu machen und die Sprachlosigkeit im Vakuum des Exils zur literarischen Strömung zu erheben. In Anbetracht der auffallend wortreichen Darstellung von Sprachlosigkeit im Exil in Lansburghs Texten, ließe sich auch die These aufstellen, dass die Texte das Vakuum und die Leere genauso selbst zu füllen suchen, wie sie eine Leserschaft performativ zu erschreiben versuchen. Nicht alle Texte Lansburghs verharren aber thematisch ausschließlich beim Vakuum des Exils. Einige von von ihnen, sowohl die neueren Erzähltexte aus Strandgut Europa als auch der Roman Schloß Buchenwald, setzen sich auch mit der Wiederbegegnung des Erzählers mit der deutschen Sprache auseinander. Im folgenden Abschnitt wird daher betrachtet, wie diese Texte den Wiedergewinn der deutschen Sprache nach bzw. während seiner Rückkehr nach Deutschland figurieren.

7.2.3 „Seit dreißigtausend Jahren …“: Wiederbegegnung mit der deutschen Sprache Lansburghs tagebuchartiger Roman Schloß Buchenwald beginnt mit den Zeilen „Gestatten Sie mir, daß ich mich vorstelle. Nein, ganz so schlecht ist mein Deutsch noch nicht, bin ihm erst etwa dreißig Jahre lang entwöhnt, sprach schon recht fließend damals, als ich rausflog.“ (SB 5). Das sich mit diesen Worten vorstellende Ich erzählt auf Deutsch, nicht ohne zu betonen, es handele sich um ein langentwöhntes Deutsch, mit welchem es Eindrücke von seiner Rückkehr in das Land, aus dem es vor mehreren Jahrzehnten vertrieben worden war, und seiner Wiederbegegnung mit der deutschen Sprache schildert. Während seiner (Rück-)Reise nach Deutschland hört der Erzähler zwei Jugendliche im Zug: […] klare Stimmen, ihre Sprache, beunruhigend, noch vor Stimmbruch: „deutsch“. Es war offenbar ein Bummelzug, hielt alle fünf Minu – ja, „deutsch“, diese beiden Jungens, das Wort klingt altvertraut und doch so fremd, muß es in Anführungszeichen setzen, klingt wie aus dem Deutschen übersetzt. (SB 13)

Das Wort „deutsch“ erscheint ihm wie eine Übersetzung, er kann es nur wie ein fremdsprachiges Wort aussprechen bzw. denken. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Lansburgh seinem Roman zunächst einen Titel geben wollte, der mit dieser Differenz des Fremdgewordenen in der eigenen Sprache spielt. Verworfene Titelblattentwürfe Lansburghs in seinem Nachlass zeigen, dass der Roman zunächst auf/ent/halt oder für lesa heißen sollte. Das Bemerkenswerte an diesen Titelentwürfen ist nun allerdings, dass statt einer üblichen Nennung des Autors jeweils darunter steht: „aus dem Deutschen übersetzt von W.N.

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7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

Lansburgh“.59 Insofern verhandelt der Text auf verschiedene Weise, dass Sprachen durch einen größeren zeitlichen Abstand und Kontaktlosigkeit ‚fremd‘ erscheinen können, sodass sie einer Aktualisierung bzw. Übersetzung bedürfen. Gleichzeitig beziehen sich solche Anspielungen auch auf die unter Exilschriftsteller*innen bedeutende Debatte darüber, ob man nach Jahren oder Jahrzehnten ohne „lebendigen Kontakt“ zur Muttersprache überhaupt noch in der Lage sei, aktuelles und publikationsfähiges Deutsch zu schreiben oder ob man mittlerweile nur noch einen eher antiquierten Sprachgebrauch aufweise. Zwischen jener Altvertrautheit und dem geschilderten Fremdheitsgefühl zur deutschen Sprache bewegt sich die Erzählposition des Wiederkehrers im gesamten Roman. Wiederholt benutzt er die Formulierung, „Seit dreißigtausend J­ahren zum erstenmal wieder gehört“ (z. B. SB 13, 14, 22, 33, 36, 41, 55, 65, 173), wenn er ein in Vergessenheit geratenes Wort oder eine Redensart vernimmt. Mit fortschreitendem Erzählverlauf unterbricht er sich dabei immer häufiger selbst und gibt vor, ein „Pathos“, welches er seiner „Lesa“ nicht zumuten möchte, vermeiden zu wollen. „‚Anführungszeichen‘? Gänsefüßchen! Seit dreißigtausend Jahren – oft genug gesagt? Hängt Ihnen bereits zum Halse heraus? Dennoch: Seit dreißigtausend Jahren zum erstenmal wieder gehört. Gänsefüßchen“ (SB 13). In der Regel spricht er es wie hier aber dennoch wiederholt aus, sodass „seit dreißigtausend Jahren“ im Roman zu einem formelhaften Ausruf für alles in der Erinnerung gebliebene und somit Altvertraute und einst Heimatliche des Deutschen und in ­Deutschland wird. Es ist auch denkbar, in der Formulierung eine Verbindung aus den NS-­Bezeichnungen „Drittes Reich“ und „tausendjähriges Reich“ zu erkennen. Dies würde zusätzlich den Grund des Exils und den daher als extrem groß empfundenen (zeitlichen), fast unüberwindbaren Abstand zur einstigen Heimat betonen. Die in Lansburghs Texten etablierte Vorstellung von einer durch die Exilierung verlorenen (Mutter-)Sprache, hängt stark mit der Funktion von Sprache als Erinnerung zusammen. Ganz direkt manifestiert sich in Schloß Buchenwald die Wiederbegegnung mit der deutschen Sprache anhand von meist einzelnen Wörtern, die beim Erzähler eine Erinnerung aufblitzen lassen. Als er z. B. in einer deutschen Zeitung das Wort „Purzelbaum“ entdeckt, jauchzt er wie ein Kind: „Hatte es vergessen. Verstand. Erkannte. Durfte mitspielen. Seit dreißigtausend Jahren wieder zum erstenmal.“ (SB 33). Hier zeigt sich jenes Textverfahren, welches Schulze Reimpell als „Rückkehr als Schnitzeljagd im Labyrinth der Sprache“60 bezeichnet hat. Diese sprachliche Schnitzeljagd ist aber nicht nur auf der Suche nach verlorenen Sprachstücken. Das Labyrinthische, auf das Schulze-Reimpell in s­einer Formulierung anspielt, so meine These, entsteht wesentlich durch die Mehrsprachigkeit in Lansburghs Texten, welche es im nächsten Abschnitt genauer zu betrachten gilt. Schwierig, sich zurecht zu finden, ist es für den Erzähler in Schoß

59Werner

Lansburgh: Verworfenes. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933– 1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh: EB 2001/108. 60Schulze-Reimpell, W.: Schnitzeljagd im Labyrinth der Sprache (s. Anm. 47).

7.2  Konzeptionen von (Mutter-)Sprache und Exil

315

Buchenwald aber auch durch das ‚neue‘ Deutsch, das ‚Fremde‘ im ‚Eigenen‘. Das gilt es erst bzw. wieder kennenzulernen, bevor die deutsche Sprache eine Sprachheimat sein kann, auch wenn sie sich nie bruchlos wieder zusammenfügen wird. Denn die Texte Lansburghs betonen grundsätzlich stets eine Distanz zwischen der aktuellen deutschen Sprache und der Sprache des erzählenden Ichs. Das Deutsch der Erzählgegenwart „klingt wie aus dem Deutschen übersetzt“ (SB 13), als handele es sich um zwei verschiedene Sprachen, zwischen denen es zu übersetzen gilt. So kommentiert der Erzähler für ihn neue Redensarten wie beispielsweise hier im Traum von einer Deutschstunde im Schulunterricht: „‚Sie sind nicht gefragt‘, sagte der Lehrer. Es klang ironisch, neudeutsch, ‚nicht gefragt‘, man konnte das ganz genau heraushören.“ (SB 87). „Welche Brötchenhälfte ziehen Sie vor? Oder wie soll ich’s nun um Gottes Willen sagen? Das kann doch nur an meiner Sprachverfremdung liegen“ (SB 37). „Sind Sie ‚überfragt‘ (sagt man doch wohl heute? Hörte das gestern den Wirt sagen) oder tun Sie nur so?“ (SB 31). Das sogenannte „Neudeutsch“ verunsichert ihn, als habe er im Vakuum des Exils die Sprachentwicklung des Deutschen verpasst und sei, wie sein „deutsches Alter“, auch sprachlich auf dem Stand von 1933 stehen geblieben. Aber wird schon schneller gehen mit der Zeit. Werde schon warm werden in den Kleidern. Bin nur noch so unsicher in der Sprache, auch sonst. Beim Zeitunglesen verstehe ich kaum eine aktuelle Anspielung, bei Witzzeichnungen fast nie die Pointe – wie früher als Kind. Na ja ich muß eben wieder groß werden. (SE 179)

Auch bei Lansburgh findet man, ähnlich wie bei Domin, aber auf andere Art und Weise, eine metaphorische Verbindung von Sprachwechsel bzw. Übersetzung und Kleiderwechsel. Auch die oben betrachtete Textstelle, in der es heißt, ein geflüchteter 21-jähriger Autor sei nackt, wie jemand, dem man die Kleidung gestohlen habe (SB 48), ist in diesem Zusammenhang relevant. Nicht in allen Texten Lansburghs, aber im Roman Schloß Buchenwald und in den jüngeren Prosa-Miniaturen aus Strandgut Europa kommt es zu einem späten, aber letztendlichen Wiedergewinn der deutschen Sprache. „Ich glaube, es gibt kein größeres Glück. Ich habe meine Sprache wieder“ (SE 174). Der letzte Text aus Strandgut Europa, der den Titel Wohin du willst trägt und als einziger unter der Kapitelüberschrift „Heimkehr“ mit der Zeitangabe „Jetzt“ aufgeführt ist, referiert auf den Zusammenhang zwischen Lansburghs lang ersehnter Rück- bzw. Heimkehr nach Deutschland mit dem Erfolg seiner Doosie-Romane. „Doosie“ nannte ich dich in diesen englisch-deutschen Liebesbriefen, weil ich nicht wußte, ob ich „Du“ oder „Sie“ zu Dir sagen sollte. Heute weiß ich es. Und vielleicht weißt du es auch schon: Dieses Buch an Dich, ‚Dear Doosie‘ genannt, hat mich über Nacht berühmt gemacht, Hunderttausende haben es gelesen. Als mein Verleger nach Uppsala telegrafierte, die dritte Auflage sei ausverkauft, bestellte ich ein Taxi, verließ das Krankenhaus, packte meine Koffer und … na ja, ich sagte Dir ja schon, wo wir jetzt sind. (SE 187)

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7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

Der Wiedergewinn der einst geraubten deutschen Sprache nach langjähriger Sprachlosigkeit im Exil, so stellen die Texte Lansburghs heraus, funktioniert nur über den Leser. „Nur einer hat mich vor dem Strick bewahrt. Der deutsche Leser. Du“ (SE 188). „Jemand sucht ein halbes Leben lang eine Adresse. Eine ‚Sprache‘, wenn Sie wollen. Er glaubt, sie heute gefunden zu haben und will Ihnen dafür danken“ (SB 16). Lansburghs Plädoyer für den Leser, oder besser die Leserin, die ihn schließlich aus der Sprachlosigkeit des Exils retten soll, ist von vornherein in der Erzählstruktur der überwiegenden Zahl seiner Texte verankert. Das simulierte Gespräch mit fiktiven Leser(inne)n, „Lesa“ oder „Doosie“, weist auf diese Wendung in einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung voraus. Die Rückkehr nach Deutschland und der sogenannte „Wiedergewinn“ der deutschen Sprache stehen erneut im Zusammenhang mit einem Konzept von Sprache als Heimat („Heimatromantisiererei? Von mir aus.“ (SB 34)), Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und Voraussetzung für aktive Teilnahme am Arbeitsleben. Wenngleich das Verhältnis zu Deutschland durchaus ambivalent und schmerzvoll bleibt, fällt die Positionierung des Erzählers recht eindeutig aus. Die Leute fragen oft, warum ich denn in dieses Land zurückkehre, wo uns die Deutschen so viel angetan haben. Mein Gott, was soll ich da antworten. Ich bin ein Deutscher. Deutschland ist anders geworden – hoffentlich. Ich kenn es noch nicht. Aber ich darf es kennenlernen, Mitbürger sein, vielleicht auch ein wenig mithelfen, dieses Land anders zu machen, als es damals war. Ich darf arbeiten. (SE 174)

Die wiedererlangte Heimat(sprache) und die Anerkennung als deutscher und deutschsprachiger Schriftsteller spielen auch in Bezug auf die Zugehörigkeit zur deutschen Literaturlandschaft in Lansburghs Texten eine wichtige Rolle. In Strandgut Europa finden sich dazu folgende Verse: Sprache besteht nicht aus Worten Sprache besteht aus dem Echo der Dinge, die du mit Freunden teilst. – auch wenn sie nicht zur Stelle sind, die Freunde. Fontane sah diesen Himmel, und Rosa Luxemburg, Käthe Kollwitz, Heinrich Zille, Döblin, Liebermann, Bruno Walter – ich bin geborgen: darf wieder anfangen, wo ich aufhörte mit meinen Zwanzig damals, darf endlich altern, wie es sich gehört. (SE 174)

Die Referenz auf die hier erwähnten „Freunde“ kann als Einreihung in die Gemeinschaft im weitesten Sinne deutschsprachiger Schriftsteller*innen, Musiker*innen und Künstler*innen gelesen werden. Die Setzung ist dabei sowohl räumlich (unter „­diese[m] Himmel“) als auch sprachlich-literarisch, denn sie entspringt dem Wunsch, die gleiche Sprache zu sprechen, zu schreiben, dazuzugehören.

7.3  Translinguale und übersetzende Schreibverfahren

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Zusammenfassung. Ich habe beschlossen, auf dieser Veranda zu bleiben. Ich habe die erste Vergasung überlebt und gedenke mich gegen die zweite zu wehren. Ich bitte dafür im voraus um Verständnis. Auch werde ich mir erlauben, Worte der deutschen Sprache auf Blätter von Papier zu setzen beziehungsweise nicht zu setzen. Die Blätter, bewortet oder leer, heißen hiermit Buch und sind ein Teil des deutschen Schrifttums. (SB 117)

Der Erzähler in Schloß Buchenwald erschreibt sich somit nicht nur performativ eine Leserschaft, sondern schreibt sich auch selbst, den einst aus Nation und Sprachraum Vertriebenen, in einen ‚deutschen‘ Literaturkanon, in die ‚deutsche‘ Nationalliteratur ein. Aufgrund des deutlich und durchgängig formulierten Entwurfs von deutscher (Mutter-)Sprache als Heimat lässt sich Lansburgh, obwohl seine Texte zum Teil wesentlich später entstanden sind, in die Tradition von Schriftstellern einreihen, die nach der Exilierung aus NS-Deutschland, überwiegend in zeitgenössischen essayistischen Texten, die Trennung von der Muttersprache und die Sprachlosigkeit im Exil, nicht selten ähnlich wortreich, beklagt. Auch das demonstrative Einschreiben in eine deutsche Nationalliteratur, lässt sich in Verbindung zu Bestrebungen des sogenannten „anderen Deutschlands“ sehen. Die des Landes verwiesenen Kulturschaffenden wollten außerhalb des sprachlichen Territoriums die deutsche Sprache bewahren und Kultur weiter betreiben. In zwei Punkten unterscheidet sich Lansburgh aber deutlich davon. 1) Während die Bewegung des „anderen Deutschland“ überwiegend von sehr etablierten Schriftsteller*innen getragen wurde, die den Kulturbetrieb quasi mit sich ins Exil verlagern wollten (vgl. z. B. Thomas Mann: „Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir.“61), ist bei Lansburgh vielmehr der Versuch zu beobachten, sich aus dem Exil und aus der Unbekanntheit heraus, als deutscher Schriftsteller etablieren zu wollen. 2) Zwar entwickeln Lansburghs Texte also einerseits ein für viele Exiltexte typisches Konzept von deutscher (Mutter-)Sprache als Heimat, sie beschreiben die Exilierung als Sprachenteignung und exponieren eine Sprachlosigkeit beziehungsweise ein Verstummen im Exil. Jedoch ist die sprachliche Gestaltung der Texte weit entfernt von einer Sprachlosigkeit, geschweige denn von einem Festhalten an der deutschen Sprache, wofür sich einige Exilschriftsteller*innen bewusst entschieden.

7.3 Translinguale und übersetzende Schreibverfahren Dem bei Lansburgh stark aufgeladenen Konzept von deutscher Sprache als verlorener und teilweise wiedergewonnener Heimat, das in seinen Texten durch die zentralen Motive Sprachraub durch Vertreibung, Sprachlosigkeit im Exil und dem

61Diesen

Satz soll Thomas Mann laut einem Bericht in der New York Times vom 22.02.1938 bei seiner Ankunft in Amerika gesagt haben (vgl. Künste im Exil: Thomas Mann. Macht und Ohnmacht des Literatur-Nobelpreisträgers. Unter: https://kuenste-im-exil.de/KIE/Content/DE/Personen/mann-thomas.html [12.04.2019]).

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7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

bedingten Wiedergewinn der deutschen Sprache getragen wird, steht eine literarische Sprache gegenüber, die weder sprachlos noch einsprachig ist. Alle Texte Lansburghs sind, wenngleich in unterschiedlicher Intensität, insgesamt charakteristisch durch Mehrsprachigkeit geprägt. Die Schreibsprache Lansburghs begegnet in seinen überwiegend deutschsprachigen Texten immer wieder anderen Sprachen, vorrangig dem Englischen und Schwedischen, aber auch dem Spanischen und vereinzelt dem Französischen und Italienischen. Die Texte spielen scheinbar leichtfüßig mit mehreren Sprachen. Sprachen vermischen sich, werden gewechselt und es wird hin und her übersetzt. Wie genau dies funktioniert und welche Einflüsse sich dadurch für den Gesamteindruck der Texte ergeben, gilt es im Folgenden herauszuarbeiten. Da der Einsatz mehrsprachiger und übersetzender Schreibweisen innerhalb des betrachteten Textkorpus von Text zu Text variiert bzw. unterschiedlich akzentuiert ist, sollen zunächst Einzelanalysen erfolgen bevor das Fazit die Ergebnisse für Lansburghs Schreiben insgesamt abwägt und zusammenbringt.

7.3.1 Autobiografische Darstellung von Sprachenerwerb im Exil und Reflexionen über die Schreibsprache in Feuer kann man nicht verbrennen Während die Aspekte Sprachraub, Sprachverlust und Sprachlosigkeit im Exil durchgängig zentrale Motive bei Lansburgh sind und die Doosie-Romane sogar als Sprachkurs daherkommen, spielt das Thema des Sprachenerwerbs im Exil in der überwiegenden Zahl von Lansburghs Texten kaum eine Rolle. Bei den meisten Texten handelt es sich also um Erzählungen aus dem und über das Exil, die einerseits mehrsprachig sind und zwischen verschiedenen Sprachen hin und her übersetzen, aber andererseits den Aspekt des Sprachenerwerbs weitgehend ausklammern. Das ist vor allem bemerkenswert, weil Lansburghs literarische Sprache selbst vorführt, dass dieser stattgefunden hat. Die Autobiografie Feuer kann man nicht verbrennen ist diesbezüglich eine Ausnahme, denn hier wird der Sprachenerwerb im Exil ausführlicher thematisiert. Dabei ist dies nicht in erster Linie in biografischer Hinsicht von Interesse, um nachzuvollziehen zu können, wie Lansburgh die Sprachen seiner Exilländer erlernt hat. Ähnlich wie in Domins autobiografischen Texten soll hier vor allem die literarische Darstellung von Spracherwerbsprozessen und Exilsprachen in den Blick genommen werden. Mehrsprachige Schreibweisen spielen in Autobiografien mehrsprachiger Autorinnen eine wichtige Rolle. Einerseits spiegeln sie die Mehrsprachigkeit des Verfassers wider, von dessen Identität mit dem Erzähler der Leser dem autobiografischen Pakt von Philippe Lejeune zufolge ausgeht. Andererseits entwickelt die Verwendung mehrerer Sprachen im Text eine ästhetische Qualität, indem Mehrsprachigkeit inszeniert und poetologisch reflektiert wird.62

62Vgl.

hierzu Schneider-Özbek, K.: Sprachreise zum Ich (s. Kap. 4, Anm. 69). S. 19.

7.3  Translinguale und übersetzende Schreibverfahren

319

Die ästhetische Inszenierung betreffend ist Lansburghs Autobiografie im Gesamteindruck weniger mehrsprachig-innovativ als seine anderen Texte, wie im Vergleich noch zu erkennen sein wird. Dennoch befinden sich auch in diesem Text viele Wörter und Begriffe in der Sprache des jeweiligen Exillandes, um das es gerade geht (überwiegend Spanisch, Englisch und Schwedisch). Solche Code-Switchings sind im Text stets kursiv gedruckt und in der Regel ins Deutsche übersetzt, zum Beispiel: „Tja, das wisse nur dios, Gott.“ (F 105). Oder: „‚Ni blir aldrig vuxna‘, Ihr werdet nie erwachsen sein, meinte Karin neulich und sah uns lieb an.“ (F 199). Durch solche im Text stattfindenden Code-Switchings bzw. textinternen Übersetzungen werden meist Gesprächsausschnitte in der jeweiligen Sprache wiedergegeben oder Bezeichnungen referiert und erläutert. Deutlich stärker ausgeprägt ist in diesem Text im Vergleich zu den anderen die Darstellung von Sprachenerwerb und -gebrauch im Exil sowie eine Reflexion über Mehrsprachigkeit im literarischen Schreibprozess. Diese Aspekte gilt es nun genauer zu betrachten. Die erste Exilstation außerhalb des deutschsprachigen Raumes ist Spanien, wo das autobiografische Ich 1933 in Barcelona ankommt, ohne Spanisch sprechen zu können, wie es betont. Dort schloß ich mich mit Ausnahme kurzer Mahlzeiten wochenlang in mein Zimmer ein, um „systematisch“ Spanisch zu lernen. Ohne Sprachkenntnisse unter die Leute zu gehen, ja womöglich die Sprache planlos auf der Straße aufzuschnappen, widersprach meinem preußischen Ordnungsgefühl. […] Ich lernte etwa zehn Stunden am Tag. Meine Hilfsmittel waren Ullsteins 1000 Worte Spanisch […]. (F 89)

Was hier inszeniert wird, ist der Versuch eines völlig gesteuerten, „systematischen“ Spracherwerbs, der sich nur auf die Schriftsprache konzentriert und keinerlei Konversationsübungen beinhaltet. Dementsprechend liest der autobiografische Erzähler auch Literatur auf Spanisch, teils originalsprachlich, teils aus dem Deutschen ins Spanische übersetzte Literatur, z. B. Thomas Manns Der Zauberberg. Dahinter lässt sich die Vorstellung vermuten, ein bereits auf Deutsch gelesenes Buch sei im Spanischen wiederzuerkennen, was den Sprachlernerflog befördere. Beim systematischen auf Schriftsprache fixierten Lernversuch stellt sich bald auch eine Zuneigung zur spanischen Sprache ein. „Wie schön doch Spanisch war! Die einfache, regelmäßige Aussprache, die klare, symmetrische Grammatik, die melodiösen ‚Umlaute‘ von o zu ué von e zu ié (lieben: querer – te quiero!)“ (F 90). Selbstironisch ist kurz darauf aber dargestellt, wie der Erzähler alsbald feststellen muss, dass das liebgewonnene Spanisch doch nicht ganz der Realität auf der Straße entspricht. Er erkennt, dass es sich sogar um die falsche Sprache handelt, die er in seinem stillen Kämmerlein gelernt hat. Denn als er mit seinem theoretisch erlernten Spanisch beginnt, nach draußen zu gehen, bemerkt er, daß die Leute nicht spanisch, sondern katalanisch sprachen, eine Art Nuschel-Provenzalisch. Das entmutigte mich etwas, doch wenn man diese Katalanen auf spanisch ansprach, antworteten sie in der Hochsprache, zwar etwas langsam und unbeholfen, aber umso leichter verständlich. (F 90)

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7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

Im Gegensatz zu den Katalanen erscheint dem Erzähler ein junger Mann aus Málaga namens Francisco trotz seines andalusischen Akzents geradezu als „­echter“ Spanier. Er freundet sich mit Francisco an und lernt von ihm in erstaunlich kurzer Zeit, fließend Spanisch zu sprechen. „Ich habe es vor allem Francisco zu verdanken, daß ich nach etwa vier Monaten die Sprache fast wie ein Spanier sprach, noch dazu mit Franciscos andalusischem Akzent“ (F 91). Ich dachte auf spanisch, sprach mit mir (etwas holprig) auf spanisch und war glücklich, wenn ich auf spanisch träumte oder im wachen Zustand auf irgendein deutsches Wort nicht mehr kam, ja Deutsch zu vergessen schien, denn jedermann hielt mich für einen Spanier. […] Dabeisein dürfen. (F 91)

Hier erkennt man eine ganz andere Schilderung von Sprachkontakten im Exil als es in vielen Exilerzählungen üblich ist und sie unterscheidet sich auch deutlich von den in Abschn. 7.2 besprochenen Motiven des Sprachraubes und Sprachverlustes, erst recht von einer Sprachlosigkeit. Anstelle von betonten Schwierigkeiten beim Spracherwerb, findet man hier eher eine Selbstdarstellung von überzeichneten Erfolgen beim Fremdsprachenerwerb mit teilweise exponiertem Stolz, der auch im Verhältnis zu der ansonsten deutlich exponierten Kränkung durch Vertreibung aus dem deutschen Sprachraum und den „Raub der Sprache“ zu sehen ist. Angesichts der humorvollen Überzeichnung von Spracherfolgen, etwa wenn der Erzähler nach kürzester Zeit so gut spanisch spricht, dass man ihn gar nicht mehr als „Deutschen“ erkennen kann, erinnert Lansburghs Autobiografie stellenweise an Schelmenromane. Nicht zuletzt aufgrund dieses mitunter pikareske Eigenschaften annehmenden Ichs der Erzählung, stellt sich die Frage, ob und inwiefern Teile der Autobiografie überzeichnet oder sogar fingiert sind. Nach einigen Jahren in Spanien verlässt der Erzähler das Land in den Wirren des spanischen Bürgerkrieges und gelangt über Frankreich nach Italien. Zur Exil-Station in Italien (1937–1938) heißt es in Lansburghs Autobiografie: „Turin, die Landschaft von Piemont und die italienische Sprache wuchsen mir ans Herz.“ (F 123). Während der Zeit in Italien lebte er sogar vom Fremdsprachenunterricht, „von Deutsch-, vor allem aber Spanischunterricht in einem großen halbstaatlichen Fortbildungsinstitut“ (F 122). Ähnlich wie bei Domin stellt auch Lansburghs autobiografischer Text Sprachunterricht als Erwerbsmöglichkeit im Exil dar und reflektiert dabei Konstellationen, die nicht unbedingt an die Erstsprache gebunden sein müssen. „Einem Italiener als Deutscher Spanisch beizubringen ist etwa so wie einem Bayern als Engländer Ostfriesisch. Noch heute träume ich davon in milderen Angstträumen.“ (F 122), Spanisch und Italienisch als romanische Sprachen erscheinen aus der Perspektive des Sprachenlehrers höchstens so weit voneinander entfernt zu sein wie zwei Dialekte des Deutschen. Auf ähnlichen sprachlichen Umwegen, berichtet der Erzähler, sei es ihm in Italien gelungen, einen britischen Pass und damit die doppelte Staatsbürgerschaft zu erlangen. So verhandelte ich denn mit dem britischen Konsul auf spanisch über meine Aussichten, als Deutscher in Italien ein Engländer zu werden. […] Nach fünf Monate langem muddling through besaß ich einen britischen Paß. „British subject by birth“ stand auf der ersten

7.3  Translinguale und übersetzende Schreibverfahren

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Seite. Dazu, auf der zweiten, als stolze Berufsbezeichnung: „Author“. (Ich hatte in einem Taschenwörterbuch nachgeschlagen, was „Schriftsteller“ auf englisch heißt, und dementsprechend den Fragebogen ausgefüllt. Etwas englischer wäre schon writer gewesen, eben schön und einfach „Schreiber“, aber das klang mir zu bescheiden. Ich war eben immer noch Deutscher). (F 125–126)

Die Erzählperspektive eines durchaus polyglotten Erzählers, wie er hier und da mithilfe des Code-Switchings durchscheinen lässt (z. B. „muddling through“), der gleichzeitig berichtet, er habe im Wörterbuch nachschlagen müssen, was Schriftsteller auf Englisch heißt, um sich dann doch, entsprechend seiner deutschen Attitüde, für den imposanteren Begriff „author“ zu entscheiden, erzeugt einen humoristischen Effekt, der sich durch Widersprüche und Überlagerungen unterschiedlicher Sprachen, Sprachfähigkeiten und vermeintlich nationaler oder kultureller Eigenschaften ergibt. So heißt es im Text, dass er Dank des britischen Passes nun auch als „il gentleman inglese“ (F 131) wahrgenommen wurde. Ein sprachliches, kulturelles und politisches Gemisch inszeniert der Text weiterhin, wenn es um die Übersetzungsarbeit in Italien geht: Oder ich machte Übersetzungen, wenn sich auch nicht alles lohnte. So übersetzte ich zum Beispiel einen recht albernen, ins Französische übertragenen schwedischen Humoristen Hasse Zetterström ins Italienische, und zwar für eine von einem Polen, Signor Markiewicz, geleitete Agentur namens WORLDFUN (schlechtes Englisch). Der Ertrag war mit Giacomo zu teilen, einem bei der Übersetzungsarbeit behilflichen jungen Studenten, der ein so überzeugter Anhänger des Regimes war, daß er zuweilen statt Mussolini „Gesù“ sagte, Jesus. Dabei war er nicht mal religiös. (F 130)

Weder für den regimetreuen Giacomo noch für den Erzähler zahlt sich die nächtelange Übersetzungsarbeit aus, denn der Agenturchef „Signor Markiewicz“ verschwindet „mit unbekannter Adresse nach Uruguay“ (F 130), ohne die Übersetzer vollständig bezahlt zu haben. „Aber ich lernte wenigstens in einer dieser Übersetzungsnächte ein schönes italienisches Sprichwort von Giacomo, das mich seither ständig begleitet: ‚Traduttori – traditori‘, ‚Übersetzer – Verräter‘“ (F 130). Ende 1938 in Basel, zurück „im eigenen Sprachbereich“ (F 131), aber nun als britischer Staatsbürger: Mit dem Plan, sich auf möglichst direktem Wege dorthin zu begeben, lernt er in der Schweiz „Englisch mit Hilfe von Ullsteins 1000 Worte Englisch, Shakespeares Sonetten und dem immer wieder gelesenen Eingangstext meines britischen Passes: ‚There are to request and require in the Name of His Majesty …‘“. (F 131). Statt England wird jedoch Schweden die nächste Lebensstation des autobiografischen Erzählers, und zwar für mehr als 40 Jahre. England und die englische Sprache bleiben insofern lange Zeit eher Sehnsuchtsort und -sprache für ein womöglich ‚besseres‘ Exil oder eine neue Heimat. Die Autobiografie schildert unter anderem den ersten tatsächlichen Besuch des Erzählers in Großbritannien, der erst Jahrzehnte später stattfindet, um sich in Oxford für seine Arbeit als Druckereikorrektor in Typografie fortzubilden.

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7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

Zum ersten Mal sah ich England. Ich hatte mir dieses Land, diese Sprache und seine Literatur so intensiv erarbeitet, daß die Wirklichkeit an mir vorbeizog, als hätte ich sie in einem grenzenlos euphorischen Traum erfunden. Ich fiel von einem Glücksrausch in den anderen. (F 186–187)

Die auf Entfernung und ohne jemals zuvor im englischen Sprachraum gewesen zu sein angeeignete Sprache, so stellt es der Text dar, hält bei der ersten Begegnung, was sie verspricht. Im Gegensatz dazu nehmen Lansburghs Texte die schwedische Sprache insgesamt deutlich kritischer und abwertender ins Visier. In Schweden angekommen, so heißt es in der Autobiografie, lernt das erzählende Ich Schwedisch durch Übersetzungen: [Ich] […] machte anfangs die einmalige Erfahrung, aus einer Sprache übersetzen zu müssen, deren jedes Wort mir vorerst noch fremd war. Zuerst hatte ich in typisch deutscher Überheblichkeit geglaubt, Schwedisch sei so eine Art Plattdeutsch, Übersetzungen konnten ja so schwer nicht sein; aber ich wurde eines besseren belehrt: Schwedisch ist zwar eine germanische, aber durchaus eigenständige Sprache, und ich mußte mich mit einem großen antiquarisch erworbenen Lexikon von einem Wort zum anderen durchkämpfen. (F 143)

Dem unumgänglichen Schwedisch-Lernen in der Exilsituation steht das freiwillige Lernen des Englischen gegenüber. „Alle meine Freizeit verwandte ich jedoch darauf, als ‚Brite‘ Englisch zu lernen“ (F 143). Lansburgh beschreibt in seiner Autobiografie, dass ihn eine Liebe mit der englischen Sprache verbindet (F 154–155): Mit Liebe lernt man leicht. Mehr und mehr machte ich mir Englisch im wörtlichen Sinne zu eigen. Glücklich stellte ich fest, wie mir diese Sprache „anwuchs“, wie etwa eine Farbe nicht mehr „rot“, sondern „red“ heißen wollte, wie ich in Ounces statt in Gramm zu denken begann, in Fahrenheit statt in Celsius […]. Was ist ein „Lernprozeß“? Beseligt, immer schneller sprang ich von Scholle zu Scholle gefrorener Wortgefüge auf dem Strom der Sprache. Ja, von Scholle zu Scholle oder, wann man sich unbedingt abwertend ausdrücken will, von vorgefertigtem Klischee zu Klischee. So lernt man, so lernt auch ein Kind. (F 155)

Es fällt auf, dass in Lansburghs autobiografischer Darstellung des Sprachenerwerbs eine persönliche Hierarchie der Sprachen entsteht, die sich in seinem künstlerischen Schaffen widerspiegelt. Die Hierarchie scheint weder im Zusammenhang mit der Dauer seines jeweiligen Aufenthalts zu stehen noch mit einem nachweislichen Vermögen, eine Sprache besser zu beherrschen als eine andere, etwa Englisch besser als Schwedisch. Auf schwedisch schreiben? Diese Sprache hatte ich nun länger gesprochen als jemals Deutsch. Und dennoch: Das glückselige Gefühl, einer neuen, einer aufregenden Welt begegnen zu dürfen, wie ich es im Englischen erlebt hatte, dieses Gefühl hatte sich niemals im Schwedischen eingestellt. War es die verschiedenartige Natur dieser zwei Sprachen? Wenn mir die englische Sprache wie ein beglückender gemeinsamer Nenner erschienen war, auf den eine äußerst komplexe Welt hatte gebracht werden könne, so

7.3  Translinguale und übersetzende Schreibverfahren

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erschien mir das Schwedisch als das enge, stereotype Spiegelbild eines ebenso engen und stereotypen Alltags. Warum? Weil die Reaktionen dieser guten Schweden so entsetzlich voraussehbar waren, „so terribly predictable“, wie ich einmal einen Engländer sagen hörte? Immer stärker wuchs in mir das Gefühl, mit einer Sprache vollgestopft zu werden […], die ich nicht wieder von mir geben konnte, in keiner auch nur irgendwie aktiven, kreativen Weise. (F 211)

Schwedisch hat bei Lansburgh also einen ähnlich stiefmütterlichen Status wie bei Domin das Englische, welches aber wiederum bei Lansburgh nicht nur zur geliebten Fremdsprache, sondern auch zur Schreibsprache avanciert, wie neben den englischsprachigen Entwürfen aus dem Nachlass nicht zuletzt die Doosie-Romane veranschaulichen. Anders als die in Abschn. 7.2 besprochenen Passagen, die überwiegend aus Schloß Buchenwald und den Erzählbänden J und Strandgut Europa stammen, zeigt sich in Lansburghs Autobiografie kaum eine solche an die deutsche Erstsprache fixierte Sichtweise, weil er mit Blick auf Spracherwerb und das Beherrschen von Fremdsprachen im Exil letztlich das Leben eines polyglotten Europäers skizziert, der sich, wie es nicht zuletzt die Code-Switchings im Text vorführen, selbstbewusst in mehreren Sprachen bewegt. Dennoch thematisiert aber auch die Autobiografie Lansburghs die Schwierigkeit, im Exil eine Sprache mehr oder weniger zu bewahren, obwohl man an deren Weiterleben kaum noch aktiven Anteil haben kann. So seien laut der Autobiografie die kurzen Erzähltexte für den Erzählband J mehrfach überarbeitet worden. Das unermüdliche Neuschreiben dieser Geschichten […] auch wegen der Sprache, die nun in einem Abstand von über dreißig Jahren in weiter Ferne lag. Zur Übung las ich moderne deutsche Literatur, Grass, Böll, Wolfgang Koeppen, ließ das aber bald sein, da mich ihr reiches Vokabular deprimierte. „Wortkapitalisten!“ fluchte ich aus purem Neid. (F 210)

Sich der Literaturlandschaft der Bundesrepublik anzuschließen und dazuzugehören, sei daher für Exilschriftsteller*innen eine erneute Herausforderung gewesen. Das Blatt hatte sich gewendet. Während der Hitlerzeit waren wir Emigranten so etwas wie die Hüter der deutschen Sprache gewesen, wenn auch noch so kleine, während da drinnen im Reich die Barbaren waren. Jetzt aber, schon zwei Jahrzehnte lang, war ein neues, gutes oder schlechtes oder mittelmäßiges, auf jeden Fall ereignisreiches Deutschland entstanden, mit einer ebenso ereignisreichen Prosa. Ein Emigrant wie ich war im doppelten Sinne des Wortes „zurückgeblieben“, ein alter Mann, draußen vor der Tür. Er hatte überlebt, er war überlebt. (F 210)

Lansburghs Roman Schloß Buchenwald ist derjenige unter seinen Texten, wie in Abschn. 7.2.3 bereits anhand einiger Textstellen gezeigt werden konnte, der die Wiederbegegnung mit der deutschen Sprache am stärksten literarisch reflektiert und inszeniert. Wie genau das im Zusammenhang mit mehrsprachigen Schreibverfahren steht, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.

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7.3.2 Rückkehr nach Deutschland und Rückübersetzung ins Exil in Schloß Buchenwald In dem überwiegend deutschsprachigen Roman Schloß Buchenwald befinden sich zahlreiche fremdsprachige Wörter und Einschübe, die nicht konsequent, aber in der Regel durch Kursivierung typografisch markiert sind. Vorwiegend auf Schwedisch, teilweise auf Englisch und vereinzelt auf Spanisch, werden sie in die Erzählung bzw. die fiktive Unterhaltung mit Lesa eingefügt. Gnädigste, eine Frage: Darf ich Sie Lesa nennen? Lautschift à la Vata, Mutta. Darf ich? Klingt Ihnen zu schnodderig berlinerisch? In Land X heißt es läsa [bedeutet „lesen“, nicht „Leser“, Anmerkung: A.B.], wenn Ihnen das besser passt. Bitte kommen Sie mir nicht mit „schnodderig“, ich bin empfindlich, jag har inte varit i Tyskland på lange. Also schön, noch deutlicher: ich meine Les-e-r, meine Sie, „gerade Sie“, wie es in Liebesromanen und anderen Werbetexten heißt, „das richtige Shampoo gerade für Sie“ – so etwa meine ich das. Ob dieses „Sie“ nun Einzahl oder Mehrzahl ist, überlasse ich Ihnen. Nur bitte nicht Keinzahl. Denn das wäre Land X. (SB 5)

Wie in diesem Zitat finden mitten in der Erzählung Code-Switchings ins Schwedische statt, wodurch meist ein abrupter Bruch im Erzählfluss entsteht. Dabei liefert der Text nur teilweise eine Übersetzung, sodass unübersetzte fremdsprachliche Elemente auch eine Form der Störung im Rezeptionsvorgang sein können. Andererseits werden aber, wie das folgende Beispiel zeigt, immer wieder auch sehr offensichtliche Begriffe übersetzt. Während der Erzähler von seiner Ankunft am Berliner Hauptbahnhof berichtet, dass er „Berliner Pfannkuchen“ gegessen habe, unterbricht er sich selbst mit folgendem Einschub: „– heißen doch Pfannkuchen? Da kommen mir wieder diese elenden schwedischen pannkakor, ‚Pfannen-Kuchen‘, dazwischen, widerlich fade Eierkuchen.“ (SB 12). Derlei eingeschobene Übersetzungen ins Schwedische oder Begriffserklärungen aus dem Schwedischen ins Deutsche sind charakteristisch für Schloß Buchenwald und es ließen sich unzählige Beispiele anführen. Die Art und Weise, in der solche Code-Switchings auftauchen, erinnert an durch sogenannte Triggerwörter ausgelöste Sprachwechsel, wie sie in linguistischen Analysen besonders häufig in Konstellationen mit ähnlich klingenden Wörtern, sogenannten Homomorphen, beobachtet werden. Auch im Fall der Pfannkuchen handelt es sich um sehr ähnliche Wörter im Deutschen und Schwedischen. Sie sind sogar so ähnlich, dass man deren Übersetzung auch als Absage an das Kombinationsvermögen des*der Leser*in verstehen könnte, weil es einer Übersetzung aus Verständnisgründen eigentlich kaum bedürfte. Das Besondere in der Erzählkonstellation und mehrsprachigen Konstruktion des Textes ist aber nun, dass die deutschsprachige Erzählung des offensichtlich mehrsprachigen Erzählers gewissermaßen durch die Exilsprache gestört wird, denn gerade die nur geringe sprachliche Differenz sorgt für Unsicherheit. Während sogenannte Trigger-Effekte im mehrsprachigen Sprachgebrauch ausdrücklich nicht von Sprecher*innen bewusst intendiert sind, kann man in Schloß Buchenwald literarische Strategien beobachten, die solche Effekte nachahmen. Im Ergebnis entsteht somit ein Erzähltext, in welchem die Sprache des Exils das

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Sprachgefühl des Erzählers beeinflusst und ins Stocken bringt, indem sie die Erstund Erzählsprache stellenweise überlagert und sich in den Vordergrund drängt. Durch Sprachwechsel ins Schwedische und vereinzelt Englische, die teilweise ins Deutsche übersetzt sind, aber manchmal auch unübersetzt bleiben, finden sprachlich-assoziative bzw. durch Sprache assoziierte Sprünge des Erzählers aus der Erzählgegenwart heraus statt, zurück in die Zeit des Exils. „Välkommen tillbaka, wie die X-länder sagen. Also Sie sind wiedergekommen“ (SB 11). Mittels derartiger textinterner mehrsprachiger Einschübe bleibt das Exilland bzw. das jahrzehntelange Leben im Exil bei der Rückkehr nach Deutschland und der Wiederbegegnung mit der deutschen Sprache allgegenwärtig und wird stets mitgedacht. Klönen, ach ja, Klönen, seit dreißigtausend, tack! Der gute Schöbert wird uns schon den Kaffee – ja, tack ist danke auf schwedisch, gleichzeitig übrigens auch bitte, nichts zu danken, geht in Ordnung, ja, nein, vielleicht, ach so, sehr gut, ganz egal, guten Morgen, guten Abend, auf Wiedersehen, hol dich der Teufel, entzückend, na ich danke – […]. (SB 47)

Dabei fällt auf, dass das Schwedische im Text überwiegend abwertend oder zumindest als belanglos dargestellt ist. Wenn, wie in diesem Zitat, das Wort einer Sprache letztlich alles bedeuten kann, wird sie ähnlich beliebig wie das Land, das in Schloß Buchenwald meist nur den Namen „Land X“ oder „Nullland“ trägt. Zugleich thematisiert der Text auch die Möglichkeit von Mehrfachübersetzungen, wenn einem Wort sehr viel Übersetzungen zugeordnet werden, und verweist auf eine Form von Sprachgefühl, die sich nicht allein mit dem Wörterbuch erlernen lässt, sondern ebenso kontextuelle und kulturelle Kenntnisse erfordert. Der mehrere Sprachen beherrschende und zwischen diesen übersetzende Ich-Erzähler setzt sich im Roman mit weiteren Übersetzungsschwierigkeiten wie lexikalischen Lücken auseinander, „zum Beispiel doodeln. Dafür gibt es keinen rechten deutschen Ausdruck, habe Schöbert gefragt, hab’s ihm sogar vorgemacht, engl. doodle.“ (SB 108). Andererseits reflektiert er aber auch eigene fehlende Sprachkenntnisse: „Im Land X heißt dieser Schreibschwan Barnängens, glaube ich – glaube ich, ich weiß es nicht.“ (SB 33). In ähnlicher Weise zeigen sich nicht zuletzt wiederholt Unsicherheiten und fehlende oder verloren gegangene Kenntnisse des Erzählers auch im Gebrauch und in der Auseinandersetzung mit der deutschen Sprache. Auf der Suche nach geeigneten Wörtern oder Formulierungen im Deutschen bittet er häufig Lesa um Hilfe und Ergänzung, wobei er zur Klärung nicht selten den Weg über eine andere Sprache einschlägt: wenn man ein Wort sucht, le mot juste, wie es auf Englisch heißt (ja, englisch, das müssen Sie mir schon lassen, mir nicht auch noch das rauben) – auf deutsch also, „das richtige Wort“? Oder sagen Sie „das treffende Wort“? „das Wort“? „das Wort“? Vielleicht sogar „mot juste“? (SB 102)

Die ironische Feststellung des Erzählers, die gesuchte Wendung heiße auf ­Englisch ausgerechnet französischsprachig „le mot juste“, worin er sich so gut

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7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

auskenne, dass er die englische Sprache als ‚Eigentum‘ bezeichnet, geht mit der Bitte einher, im Gegensatz zur deutschen Sprache nicht bestohlen zu werden und ruft den Sprachraub durch die Nationalsozialist*innen auf. Das ‚Deutsche‘, so reflektiert der Roman, habe sich während der vielen Jahre im Exil so sehr verändert, dass der rückkehrende Exilant immer wieder seine nicht vorhandene Kenntnis des aktuellen Sprachgebrauchs feststellen muss. Zwar ist er mit der deutschen Sprache als Erstsprache aufgewachsen, doch weiß er nicht, „wie“ man etwas „heutzutage“ sagt: „‚Desperately‘. Wie sagen Sie das? […] Desperately auf Bescheid warten – sagen Sie ‚verzweifelt‘? Oder gar nichts, understatement, lassen Sie das Wort einfach weg heutzutage, warten eben auf Bescheid, was sagen Sie?“ (SB 102). Erneut tritt das Englische in Form von Code-Switching mit einer referenziellen Funktion im Text auf den Plan, was bedeutet, dass literarisch nachgeahmt wird, wie unzureichende Sprachkompetenz den Wechsel in eine andere Sprache auslöst. Auch die ‚eigene‘ Sprache, so inszeniert hier also der Text, hat für den Erzähler in Schloß Buchenwald fremde Züge bekommen. Die deutsche Sprache hat sich weiterentwickelt, sodass sie für den Erzähler bei der Rückkehr nach Deutschland zugleich vertraut und befremdlich klingt (vgl. dazu auch Abschn. 7.2.3). Die Verletzungen durch das aus Nation und Sprachraum Vertrieben- und Ausgeschlossensein, das sich in dieser neuen Fremdartigkeit des ‚Eigenen‘ widerspiegelt, sind tief. Die Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen Sprecher*innengruppe ist nicht gänzlich wiederherstellbar, es bleibt eine Differenz zwischen dem Deutsch vor der Vertreibung und nach der Rückkehr. Aus dieser Perspektive scheint zusätzlich die Beobachtung zu schmerzen, dass die einst abgelehnte, ausgeschlossene, verbotene und verfolgte Sprache und Kultur auf Wortebene wieder in die deutsche Sprache integriert sei. Also, was man sich merken sollte, was mich wirklich stört, was wirklich neu ist, das sind diese vielen jüdischen Ausdrücke überall. Gehört heute wohl zum guten Ton, seit Buchenwald. Ist ja im Grunde auch sehr lieb gemeint, aber man sollte diese Worte doch wenigstens einigermaßen richtig anwenden, wenn man mit ihnen, etwas billig zwar, ich meine „preisgünstig“, die „Vergangenheit bewältigen“ (aufgeschnappt) will. „Nebbich“ zum Beispiel, oder „mies“ oder das offenbar in Akademikerkreisen recht beliebte „Schmus“, unfehlbar am falschen Platz. […] Auch über den netten Studenten heute vormittag hätte man sich nicht aufregen sollen, der gute Mann nannte sein Auto eine „Mischpochenkutsche“ […], er fragte grinsend, ob ich „Mischpoche“ verstünde, er konnte ja nicht wissen, daß so etwas einmal vergast wurde. (SB 66)

Der im Text dargestellte, „heute“ wieder verstärkte, unreflektierte und teils unkorrekte Gebrauch von aus dem Jiddischen entlehnten Wörtern im Deutschen erscheint dem aus dem Exil Rückkehrenden als „unfehlbar am falschen Platz“ (SB 66). Die sprachliche Integration von Versatzstücken einer ‚jüdischen‘ Kultur mittels jiddischer Worte in der deutschen Sprache erscheinen vor dem Hintergrund von ermordeten und vertriebenen Menschen aufgrund ihrer als ‚jüdisch‘ identifizierten Abstammung als Affront. Wenngleich der Text die Verwendung jiddischer Begriffe im Deutschen hier zwar als „neu“ beschreibt und einen vermeintlich

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bewusst intendierten Vergangenheitsbewältigungsprozess unterstellt, ließe sich in der untrennbaren sprachlichen Verbindung auch eine Versinnbildlichung dafür erkennen, dass die konsequente Verfolgung von Jud*Jüdinnen in Deutschland letztlich mitten in die ‚eigene‘ deutsche Kultur traf. Weiterhin ist es in diesem Roman Lansburghs für die Analyse von Mehrsprachigkeit bemerkenswert, dass einige der schwedischsprachigen Einblendungen im deutschen Text auch bildlich und typografisch realisiert werden. Neben den bereits in Abschn. 7.2.2 veranschaulichten typografischen Darstellungsweisen von Leerstellen, etwa in Form von ganzen Leerseiten, macht der Text auch gestalterisch fruchtbar, dass der Erzähler angibt, aufgrund der mangelnden Arbeitslage im schwedischen Exil als „Exlibrist“ tätig zu sein. Während seines Aufenthaltes im Hotel Parkschloß und immer noch auf erfolgloser Arbeitssuche in Deutschland, sieht er sich gezwungen, weiterhin Exlibris als Auftragsarbeiten aus Schweden auszuführen. Diese teilweise mit Blumen gezeichneten Namen wie Karin, Rolf oder Ute und den dazugehörigen Glückwünschen oder ähnlichen Botschaften auf Schwedisch erscheinen unübersetzt in den Text montiert (vgl. SB ab 125). Häufig stehen sie im harten Kontrast zum umstehenden Text. Unter der Überschrift „1939“ (SB 157) befindet sich etwa ein solches Exlibris im Rohzustand, darunter die Verse: „Aufstrich auf und Abstrich ab / Einer långsam, einer snabb / Knabe, Rabe, Gabe, Grab“ (SB 157). Weiter im Text heißt es dazu: „Wieder so ein mühlradmalender Pinselvers den ganzen Vormittag, so ein Doodlereim, ja nennen wir ihn nur ruhig Doodlereim, das Doodeln habe ich ich Ihnen ja schon vorgemacht, den Onkel Fridolf aber haben sie gehängt nach 1945.“ (SB 157). Es zeigt sich ein äußerst harter Kontrast zwischen den gezeichneten Blumen-Exlibris, die mit schwedischen Namen und Zeilen versehen sind, und dem Aufrufen von Schuld und Verbrechen des NS-Regimes. Zusammenfassend lassen sich zwei zentrale Funktionen von textinterner Mehrsprachigkeit im Roman Schloß Buchenwald festhalten. Erstens führen die überwiegend schwedischsprachigen Einfügungen im Text dazu, dass die in Deutschland situierte tagebuchartige Erzählung permanent mit den Exiljahren in Schweden in Beziehung gesetzt wird. Durch sprachliche Assoziationen, Code-Switchings und textinterne Übersetzungen wird das Exil im Erzählprozess, teils durchaus abrupt, eingeblendet und in der Folge stets mitgedacht. Die Sprache des Exils reist bei der Rückkehr nach Deutschland mit und schreibt sich in die deutsche Erzählsprache ein. Zweitens führen die Verwendung mehrsprachiger Elemente im Text und die Auseinandersetzung mit der Sprachentwicklung in der deutschen Sprache dazu, dass die Vorstellung von Sprache(n) als Einheiten wie Nationalsprachen oder Sprachhierarchien zwischen Erst- und Zweitsprachen ins Wanken gerät. Dies geschieht kaum in der Form, dass zwischen den verwendeten Sprachen strukturelle Sprachaustauschprozesse stattfinden, die etwa eine Mischsprache hervorbrächten. Aber die literarische Sprache des Textes erscheint als Sprache einer einstigen ‚Heimat‘ in ihrer aktualisierten Form partiell nur unter Rückübersetzung in eine der Exilsprachen zugänglich. Die Rückkehr nach Deutschland und in die deutsche (literarische) Sprache funktioniert nicht ohne Rückübersetzung ins Exil.

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7.3.3 Inszenierung von Mehrsprachigkeit und Übersetzung im Erzählband Strandgut Europa Lansburghs Erzählband Strandgut Europa, der aus dem zuvor erschienenen Erzählband J in leicht veränderter Form hervorgegangen ist, besteht aus 51 kurzen Erzähltexten aus dem Exil in Spanien, Italien und Schweden. Die Texte weisen ähnliche Formen von Mehrsprachigkeit wie im Roman Schloß Buchenwald auf. Neben dem Schwedischen und Englischen, spielt hier aber auch das Spanische eine wichtige Rolle, weil es nicht nur um Exil in Schweden geht. Die einzelnen Texte thematisieren verschiedene Episoden eines aus Deutschland durch Europa, insbesondere Spanien, Italien und Frankreich, geflüchteten Erzählers, der versucht, sich mit kleinen Arbeitsaufträgen und zunächst noch mangelnden Sprachkenntnissen durchzuschlagen. Man findet zunächst erneut zahlreiche Beispiele für in den deutschen Text eingefügte einzelne fremdsprachliche Wörter, die in der Regel kursiv gedruckt sind und entweder unübersetzt bleiben (z. B.: „einem wirklich magnífico und grandioso Emblem […] und vor allem einem superlativo deutschen Text“ (SE 16)) oder ins Deutsche übersetzt werden („Und der Kellner hier hatte ganz unspanisch mantequilla, Butter, zum Brot gebracht“ (SE 23)). Die Übersetzungsrichtung ist dabei aber überwiegend von den Exilsprachen ins Deutsche und nicht umgekehrt, aus dem Deutschen in die Sprache eines Exillandes, wie dies zum Teil in Schloß Buchenwald vorkommt. Die Wahl der übersetzten Begriffe ist beispielsweise in folgendem Ausschnitt interessant, in dem sich das erzählende Ich in einem spanischen Kaffeehaus mit „Langenscheidts Taschenwörterbuch“ durch den „Leitartikel des Mercantil Valenciano“ arbeitet. Wort für Wort hatte ich ihn durchgeackert, um ordentlich Spanisch zu lernen, caudillo, Führer, tomada de poder, Machtergreifung, und was dieser Leitartikel über das Dritte Reiche, Tercer Imperio, sonst noch an Vokabeln zu bietet hatte (refugiado, Flüchtling, masc.; es sah im Langenscheidt erwachsener aus, als ich mich eigentlich fühlte) […]. (SE 23)

Dargestellt wird hier die wortweise Erarbeitung einer Fremdsprache durch Übersetzung einzelner Wörter in die Erst- bzw. Muttersprache des Exilierten. Dieser Übersetzungs- und Sprachlernprozess stellt zugleich eine Verbindung zu den aktuellen Geschehnissen in Deutschland her. Im Text zeigt die Verwendung der spanischen Wörter für Schlüsselbegriffe im Kontext des Nationalsozialismus einen Perspektivenwechsel. Der aus Deutschland Geflohene kann den Blick zurück nur noch über die Presse in der größtenteils unbekannten Zweitsprache erlangen. Damit einhergehend findet die für ihn befremdliche Selbsterkenntnis als „refugiado“ bzw. „Flüchtling“ erst durch die Übersetzung ins Deutsche statt. Im Unterschied zu Schloß Buchenwald sind in Strandgut Europa häufig ganze Konversationsausschnitte übersetzt. Das heißt, dass wörtliche Rede zunächst in der Originalsprache, etwa Spanisch oder Schwedisch im Text steht, bevor sie ins Deutsche übersetzt wird. „‚No puedo garantizar que no me caiga‘, sagte ich

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benommen zu Don Gregorio. Auf deutsch: Ich kann nicht garantieren, daß ich da nicht hinunterfalle. ‚No hace falta que garantice‘, antwortete Don Gregorio. Auf deutsch: Sie brauchen gar nicht zu garantieren“ (SE 20–21). Damit benutzen die Texte eine Form von Code-Switching als Stilmittel, wie sie am häufigsten in mehrsprachigen Gruppen vorkommt, um Stimmlage und originalen Wortlaut eines Zitats wiederzugeben. Indem diese Code-Switchings aber zusätzlich textintern ins Deutsche übersetzt sind, bleiben sie nicht auf mehrsprachige Rezipient*innen beschränkt. So ist der Einsatz von anderen Sprachen im deutschsprachigen Text unter gleichzeitiger Gewährleistung des Verständnisses für ein deutschsprachiges Lesepublikum erst ermöglicht. Hinzu kommt hin und wieder die Verwendung einer Art Lautsprache, die den Sprachklang bzw. die Aussprache nachahmt und erläutert. Ya me lo creia, sagte Don Gregorio tonlos im Fond des Wagens, ‚das habe ich mir schon denken können‘, und gab darauf einen halblauten, giftigen Zischlaut von sich, der wie chzudío klang, geschrieben ‚judío‘. (Das ‚J‘ ist im Spanischen, auch wenn es sich nicht auf das Wort ‚Jude‘ bezieht, ein häßlich krächzender Rachenlaut.) (SE 22, Der Brunnen)

In dieser übersetzenden, erläuternden oder sogar die Phonetik nachahmenden Schreibweise bleibt der Text verständlich, während die für den Exilierten zwingende Konfrontation mit Fremdsprachen in der Exilsituation auch ästhetisch umgesetzt werden kann. Das erzeugt den Effekt einer gewissen Authentizität von wörtlicher Rede im Text. Bei der Betrachtung der Erzähltexte aus Strandgut Europa ist weiterhin auffällig, dass nicht nur das erzählende Ich zwischen mehreren Sprachen übersetzt, sondern auch das erlebende Ich in den Handlungen der Prosa-Miniaturen wiederholt als Dolmetscher oder Übersetzer auftritt. Darunter fällt zum Beispiel die Schilderung einiger Übersetzungen von akademischen Arbeiten in Schweden (SE 68–70, Der Papierkorb; SE 116–118, Der Schriftsteller). In einem anderen Text tritt der Erzähler als Nachhilfelehrer für Deutsch auf und unternimmt mit seinem Schüler, nachdem dieser über der Lektüre von Thomas Manns Tonio Kröger eingeschlafen war, einen Kinobesuch. Denn im Kino sollte es gerade „etwas Deutsches geben“. Das stellt sich jedoch weitgehend als Irrtum heraus: „Der deutsche Film war zwar nicht ganz deutsch, er war aus Hollywood, handelte aber von etwas Deutschem, war aus dem Amerikanischen ins Spanische synchronisiert.“ (SE 37). Gezeigt wird eine Droschke in Berlin. Der Droschkenfahrer sah zwar etwas amerikanisch aus, aber Berlin war ja nie so deutsch gewesen, auch die Rosette am Kutscherzylinder war etwas Hollywoodisch groß vielleicht, jetzt nahm der Kutscher den Zylinder vor einer Dame ab, es war wohl Loretta Young, und sagte zu der Dame: Buenos días. „Guten Tag“, flüsterte ich rückübersetzend meinem Schüler zu, die Kinobillets gingen ja schließlich auf Rechnung seines Vaters […]; aber er war eingeschlafen. (SE 37 f.)

Dass der Übersetzer noch versucht den aus dem amerikanischen Englisch ins Spanische synchronisierten Film aus Hollywood ‚zurück‘ ins Deutsche zu übersetzen, aus dem es nie kam, um nicht nur deutsche Sprache, sondern vielleicht

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auch ein bisschen Kultur zu vermitteln, wird zur Übersetzungsparodie, die sich im Spiel sprachlich-kulturellen Überlagerungen verstrickt und Sinnhaftigkeit verliert. Dies ist nur ein Beispiel von vielen aus Strandgut Europa, bei denen auffällt, dass gerade über Sprache und Übersetzungen kulturelle Zuschreibungen ausgestellt und Kulturklischees auf ironisch-spielerische Weise hinterfragt werden. Exemplarisch für solche anhand von Übersetzerfiguren erprobten Kulturverhandlungen ist auch die Erzählung Die Deutschland. Darin gibt sich der Erzähler auf Mallorca zur Zeit des spanischen Bürgerkrieges als Fremdenführer aus, als er sieht, dass ein Schiff mit dem Namen „Deutschland“ anlegt, um etwas Geld zu verdienen. Er bemüht sich, besonders spanisch zu klingen, wenn er ruft: „‚Fuehrer?‘ […] Vielleicht sollte man sie anders ansprechen, mit ‚Guide‘ etwa, aber Fremdwort, Deutsche liebten das nicht. Oder sprach ich Fuehrrer nicht spanisch genug aus, merkten sie mir den deutschen Flüchtling an? Vielleicht ‚Fiehrer?‘“ (SE 40). Eine Gruppe Matrosen engagiert ihn schließlich. „Na schön, dann komm mal mit, Spaniolo, und zeig uns erstmal ein nettes Haus.“ „Haus“ verstand ich nicht, was angesichts meiner vorgeblichen Kenntnisse der deutschen Sprache beschämend war, und als man mir das Haus erklärte („Bordell, verstehst du das, bordello, puffo?“), wußte ich keines. (SE 41)

Es geht in dem Text auf humorvolle Weise um die Frage, inwiefern der fehlerlose, quasi ‚muttersprachliche‘ Gebrauch des Deutschen in bestimmten Situationen im Exil sogar versteckt werden muss, indem etwa ein Akzent vorgetäuscht wird. Ausgerechnet das politisch belastete Wort „Führer“ gilt es, möglichst spanisch auszusprechen. Im Verlauf der Geschichte und mit zunehmendem Alkoholgenuss in einer „kneipo“ (SE 41) verliert der Erzähler allerdings zunehmend seinen spanischen Akzent. wir tranken auf die Deutschland, auf Deutschland, auf Spanien (das galt mir), auf Franco und den Führer, wir tranken Brüderschaft, wir schunkelten „Berlin bleibt doch Berlin“, mein Deutsch wurde immer fließender, ich berlinerte jetzt sogar, der blonde Kurt aus ­Berlin-Steglitz sah mich verwundert an (SE 42).

In einem anderen Text dolmetscht er in Spanien während seiner Tätigkeit als Chauffeur bei dem Apfelsinenfabrikanten Don Gregorio in Valencia als dessen Geschäftspartner Herr Seiff aus Deutschland anreist. Dieser war von meinem fließenden Deutsch sehr beeindruckt gewesen, auf jeden Fall bis er erfuhr, daß es aus Deutschland kam. „Ach so“, hatte er gesagt und war fortan etwas reservierter gewesen, als habe er hinter meinem spanischen Aussehen plötzlich das Jüdische entdeckt – aber vielleicht redete man sich das auch nur ein. (SE 17)

Insgesamt findet in den Erzähltexten aus Strandgut Europa durch die ästhetische Inszenierung des Umgangs mit Fremdsprachen und Übersetzungsprozessen im Exil, nicht zuletzt durch die Ausstellung von sprachlichen Missverständnissen, Fehlübersetzungen und ansatzweisen Formen von Transkulturalität, eine Auseinandersetzung mit Vorurteilen, Kulturklischees und der fragwürdigen Einheit von Kulturen statt.

7.3  Translinguale und übersetzende Schreibverfahren

331

7.3.4 Zweisprachiges Schreiben als translingualer Sprachkurs aus dem Exil in „Dear Doosie“ Die Doosie-Romane sind unter allen Texten Lansburghs mit Abstand diejenigen, die den höchsten Grad an intratextueller Mehrsprachigkeit aufweisen. Deutsch und Englisch werden hier nahezu gleichwertig, das heißt in fast gleichem Umfang benutzt. Der ständige Wechsel zwischen Deutsch und Englisch, sehr häufig auch innerhalb eines Satzes, sowie das systematische Übersetzen und Erläutern von Wörtern und Redensarten stehen unter dem ausdrücklichen Motto, ein Sprachkurs in literarischer Form zu sein. Dem Prinzip des Sprachenunterrichts folgend werden vermittelte L ­ ektionen und Vokabeln in der Regel am Ende eines Kapitels wiederholt und Doosies Lernfortschritt überprüft. Im „P.S.“ jedes Briefes befinden sich in der Regel Übersetzungsübungen und Kontrollfragen zu dem bereits Gelernten, um Doosies Erweiterung des Wortschatzes sicherzustellen, zum Beispiel folgendermaßen: „I. Bitte übersetzen: Phantasie, Staubsauger, Generaldirektor, Schwachkopf. – Antworten unten, aber absichtlich unübersichtlich, messy and muddled, damit Sie mir nicht schon im Voraus, in advance, hinschielen und mogeln, cheat.“ (DD 13). In beiden Fortsetzungsromanen Wiedersehen mit Doosie und Holidays for Doosie führen die sprachdidaktischen Briefromane außerdem eine typografische Markierung („∙dotted∙ expressions“ (WMD 258)) von wichtigen Vokabeln ein, sogenannten „Pünktchen-Wörter“ (WMD 258). Am Ende von Kapiteln oder auch des gesamten Textes werden die Pünktchen-Wörter gesammelt und ‚abgefragt‘. Indem die Texte also nicht nur zwischen Sprachen wechseln, sondern darüber hinaus eine Selektion von sogenanntem „Insider Englisch“ (WMD 258) präsentieren und vermitteln wollen, geben sie sich ausdrücklich aus der Perspektive von englischer Sprach- und Kulturexpertise. Wenn man sich die 250 Wörter und Redewendungen umfassende Liste des „Insider“-Englisch in Wiedersehen mit Doosie ansieht („Arabian Nights“, „Indian Summer“, „guinnea pig“, „go Dutch“ oder „trial and error“ (WMD 258–262)), liegt die Vermutung nahe, dass es sich um eine eher zufällig entstandene bzw. durchaus beliebige Zusammenstellung handelt. Der Erzähler als Sprachlehrer setzt sich an vielen Stellen mit Übersetzungsschwierigkeiten auseinander. So reflektiert der Text zum einen aus translingualer Perspektive eines Übersetzers und Sprachlehrers Differenzen oder Eigenheiten von Sprachen. Back to untranslatable words such as „Vorfreude“. Auch andere Wörter blieben heute morgen unübersetzt. Ich schulde Ihnen – I owe you, Aussprache wie die drei Buchstaben I O U, die in der Tat sehr oft über englischen Schuldverschreibungen stehen, I owe you, I O U – ich schulde Ihnen auch noch eine Übersetzung für Brötchen. Leider ebenfalls unübersetzbar, untranslatable. (DD 74)

Dass ausgerechnet das Wort „Brötchen“ aufgrund seiner typisch deutschen Unverwechselbarkeit den so sprachgewandten Erzähler an die Grenze des Unübersetzbaren führt, ist allerdings nicht ganz ohne Humor zu verstehen.

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7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

Zum anderen zeigt der Text aber auch kreative Möglichkeiten, um fehlende Sprachkenntnisse zu überbrücken – erneut auf durchaus humorvolle Art und Weise erzählt –, indem man zum Beispiel einfach ein neues Wort erfindet, um seine Fassade als Sprachexperte nicht einbüßen zu müssen. Im Kapitel „The Podger“ (DD 141–149), in dem es um einen Englischkurs in Schweden geht, berichtet der briefeschreibende Erzähler von einer sprachlichen Bredouille, in die er geraten ist. Nachdem er mühevoll versucht hatte, die als extrem wortkarg dargestellten schwedischen Kursteilnehmerinnen („Sollte ich ihnen Schweigen auf englisch beibringen?“ (DD 143)) zum Sprechen zu bringen, fragt ihn jemand nach dem englischen Wort für „Hocker“. Leider fällt ihm das Wort nicht sofort ein, sodass er zunächst vorgibt, noch nicht verstanden zu haben, worum es geht. Über Schwedisch, Deutsch und letztlich einen Hocker im Unterrichtsraum lässt sich das Verständnis aber nicht mehr abstreiten. „Dort, halb verdeckt von einer schwarzen Tafel, blackboard, hockte ein Hocker. Hockte, schemelte sich, sah mich hämisch an. Es gab kein Entrinnen mehr, there was no escape“ (DD 149). Also erfindet er das nicht existente Wort „a podger“ (DD 149). Doosie gegenüber ist dem Erzähler diese Anekdote aber äußerst unangenehm, er fühlt sich in gewohnt doppeldeutiger Manier (sprachlich) entblößt. „Doosie, bitte lernen Sie dieses Wort nicht […]. Noch eines bitte: Doosie, wenden Sie sich nicht ab von mir, wo ich nun nackt und entblößt mit meinem … vor Ihnen stehe. Don’t turn your back on me.“ (DD 149) Lansburghs Sprachlernromane setzten sich explizit mit gesprochener (Fremd-) Sprache auseinander. Sie entwickeln eine eigene bzw. eigenwillige Lautsprache, um die ‚richtige‘ Aussprache nachzuahmen: Zuviel Englisch? Bitte bedenken Sie, daß Sie auch bei deutschen Schriftstellern nicht jedes Wort verstehen, sonst wär’s ja keine seriöse Literatur. Im Übrigen haben Sie schon die Hauptsache – the gist, nettes Wort, bitte merken – Aussprache etwa dschisst, entschuldigen Sie meine primitive Lautschrift –, die Hauptsache haben Sie schon mitgekriegt. Zum Beispiel die Telefonanrufe, telephone calls, oder „exile“, allerdings éksail ausgesprochen (wobei das é nicht französisch, sondern Betonung ist); auch „author“ und „precise“ haben Sie mitgekriegt – alles deutsche Fremdwörter (wenn auch nicht im Englischen). Also bitte: nur keine Angst. (WMD 9)

Nicht zuletzt über die eigene Lautsprache verhandeln Lansburghs Texte im Allgemeinen und die Doosie-Romane im Besonderen das Verhältnis von geschriebener und gesprochener Sprache bzw. von Alltagssprache und Literatursprache und deren Übergängen. Indem die literarische Sprache Lansburgh durchaus an alltagssprachliche, d. h. überwiegend gesprochene Sprache angelehnt zu sein scheint bzw. diese nachahmt, geht es wie im obigen Zitat erkennbar, auch um eine Positionierung zwischen sogenannter U- und E-Literatur. „Dear Doosie“ und dessen Nachfolger bewegen sich eindeutig an der Grenze zu einem Bereich, der in der Literaturbranche nicht selten als „Unterhaltungsliteratur“ geführt wird und von der Forschung nur selten Beachtung erfährt. Dass die Texte mit dieser Zuschreibung bereits selbst spielen, deutet in mehrfacher Hinsicht aber gerade auf den gezielten Einsatz literarischer Mittel wie Humor und die Nachahmung von Alltagssprache hin. In Verbindung mit der konsequenten Mehrsprachigkeit bringt

7.3  Translinguale und übersetzende Schreibverfahren

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dies im Ergebnis eine neue, eigene literarische Sprache hervor, die allerdings von gesprochener Sprache wiederum auch entfernt ist. Angesichts dieser Beobachtung lässt sich noch einmal darauf zurückkommen, dass Code-Switching in der Linguistik zunächst einmal als genuin mündliches Phänomen gedacht ist. Dass Lansburghs Texte im Allgemeinen und „Dear Doosie“ sowie dessen Folgeromane im Besonderen mit Aspekten des Mündlichen in Kombination mit exzessiven Code-Switchings experimentieren, spiegelt sich nicht zuletzt auch in ihrer Form als Briefroman wider, wenn man den Brief als Zwischen- oder Übergangsform von Mündlichkeit und Schriftlichkeit betrachtet. Aber noch einmal zurück zum obigen Zitat: Die ironische Frage, ob es sich nicht für einen ‚deutschen‘ Schriftsteller um etwas zu viel Englisch handele, zeigt, dass Sprachzugehörigkeit im Kontext von Exil permanent Thema ist. Denn so humorvoll und leicht die Doosie-Romane als Liebesbrief- und Sprachlernromane auf den ersten Blick daherkommen, setzen sie sich auch mit der Exilthematik und den bei Lansburgh zentralen Motiven von Sprachverlust und Vertreibung aus Nation und Sprachraum auseinander. Zum Beispiel, wenn der erzählende Sprachlehrer Doosie berichtet, woher er sein gutes Englisch hat, weist dies auf die außergewöhnliche Sprachenkonstellation der Texte hin: Answer, in two words: from Hitler. Answer, in somewhat greater detail: After Hitler had made me leave Germany because I was not only a German and a Christian but also the grandson of George Apollo L., a Jew, pronounced dju, sprich Jude – after that I was in many places. But ‚to cut a long story short‘ – bitte merken – to cut a long story short, I eventually, schließlich, had to live in a country where it was completely useless to learn the language of the natives-Eingeborenen: they spoke it much better themselves and for this reason did not give me any job […]. Nor was my German of any use to them: they had plenty of Nazis doing translation jobs for them […]. Therefore, the one thing left to me was to work for foreigners living in that country. […] This is how I learnt (or learned) my English. (DD 119–120)

Die translinguale Konstellation, dass Englisch im Text als gewissermaßen dritte Sprache zwischen Deutsch als Erst- bzw. Muttersprache und der Exilsprache Schwedisch auftritt, erzeugt eine innovative literarische Sprechweise. Zum einen tritt damit in der in vielen Exiltexten eher als Dichotomie Muttersprache vs. Exilsprache dargestellte Sprachenkonstellation eine weitere Sprache hinzu und erzeugt ein komplexeres Sprachengeflecht. Zum anderen ist die Verwendung des Englischen auch als Deterritorialisierung von Sprache lesbar, weil sie aus nationalsprachlichen Zusammenhängen, in welchen man sie normalerweise erwarten würde (z. B. Exil in Großbritannien oder den USA) herausgelöst erscheint. Auf diese Art und Weise entsteht in Lansburghs Doosie-Romanen ein translingualer Reflexionsraum darüber, was es bedeutet und ob man eine Sprache (noch) als seine ‚eigene‘ bezeichnen kann. Dear Doosie, I had better spare you my euphoric feelings on arriving in Germany, ich sollte Sie damit lieber verschonen. Man soll seine schlechte Laune nicht an anderen auslassen, aber auch – wie jetzt – seine gute nicht. It might irritate you if I described my orgastic feelings when

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7  Mehrsprachige Sprachlosigkeit und übersetzendes Erzählen

having my first Apfelkuchen at one of those shops in the Hamburg central station, let alone, geschweige – let alone my feelings when having around me a language which once was, perhaps still is, my own. (WD 18)

Auch eine textübergreifende Mehrsprachigkeit bei Lansburgh betreffend ist es also durchaus bemerkenswert, dass er aus dem schwedischen Exil heraus gerade die englische Sprache für seine zweisprachigen Romane wählt. Das Schreiben eines deutsch-englischen Textes in Schweden ist gerade auch im Rückschluss auf das Motiv der Sprachlosigkeit in „Land X“ interessant. „Land X“ wird somit zu einem Ort der Sprachvermittlung, einem Ort der Übersetzung. Was hier einerseits als Kritik an einer politischen Neutralität Schwedens lesbar ist, ist andererseits auch für die Entstehungsbedingungen von „Dear Doosie“ interessant. Ein zweisprachiger Englisch-Sprachlernroman von einem deutschen Exilschriftsteller entsteht im schwedischen Exil. Das Exil, Schweden oder „Land X“, wird damit gewissermaßen auch zu einer sprachlichen Übergangszone, zu einem sprachlich dritten Ort – zu einem translingualen Ort der Sprachvermittlung und Übersetzung, der auch eine Territorialisierung von Sprache in gewisser Weise widerlegt. Insgesamt hat Lansburgh in seinem Roman „Dear Doosie“ und dessen Nachfolgeromanen durch Experimentieren mit textinternen Code-Switchings und übersetzendem Schreibverfahren nicht nur einen deutsch-englischen Sprachmix, sondern eine neue literarische Sprache zwischen Deutsch und Englisch hervorgebracht. In seiner Autobiografie heißt es diesbezüglich rückblickend: „Endlich eine Sprache! Oder richtiger: zwei halbe Sprachen für die eine ganze, die ich verloren hatte. Eine Nische! Heureka!“ (F 235). Festhalten lässt sich weiterhin, dass die in Form des Erzählers stattfindende Inszenierung des Exilanten als mehrsprachiger Sprachlehrer für eine überwiegend als ‚deutsche‘ und ‚einsprachig‘ gedachte Leserschaft eine neue und alternative Position im Kontext von Sprache und Exil ist.

7.4 Fazit: Der mehrsprachige Erzähler als Sprachlehrer und Übersetzer im Exil Es hat sich gezeigt, dass Lansburghs Texte von einer besonderen thematisch-­ ästhetischen Spannung geprägt sind: Die Thematisierung des schmerzhaften und verheerenden Verlusts der Muttersprache, die auch Arbeitssprache war, steht einem durchaus innovativen Experimentieren mit Mehrsprachigkeit und Übersetzung gegenüber. Durch spanische, englische, französische und schwedische Elemente öffnen sich seine Texte ästhetisch für andere Sprachen, wodurch sie sich umso weniger eindeutig in nur einer Sprache verorten oder beheimaten lassen. Zugleich stellen sich mehrere der Texte selbstreferenziell als Versuch dar, sich in die deutsche Sprache und Literaturkanon ein- bzw. zurückschreiben zu wollen. Lansburghs Texte erzeugen auf ästhetischer Ebene eine innovative Literatursprache, die die Texte selbst jedoch kaum reflektieren. Sie beharren stellenweise auf einer national(sprachlich)en Trennung und Konventionalität, die sie in ihrer eigenen Form selbst unterlaufen. Denn gerade der Einsatz anderer Sprachen im

7.4  Fazit: Der mehrsprachige Erzähler als Sprachlehrer und Übersetzer

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Text führt dazu, dass die Vorstellung sprachlicher und nationalliterarischer Einheiten ins Wanken gerät. Was Lansburghs literarische Sprache betrifft, kann von Sprachverlust, geschweige denn Verstummung oder Sprachlosigkeit, keine Rede sein. Es trifft vielmehr das Gegenteil zu, denn der/die Erzähler zeigen sich nicht nur im Deutschen durchaus wortgewandt, sondern insgesamt ausgesprochen polyglott. Während in Lansburghs Texten also einerseits ein für viele Exiltexte typisches Konzept von Sprache als Heimat entwickelt, die Exilierung als Sprachenteignung beschrieben und die Sprachlosigkeit beziehungsweise das Verstummen im Exil exponiert wird, ist die sprachliche Gestaltung der Texte selbst andererseits jedoch weit entfernt von einem programmatischen Festhalten an der deutschen Sprache. Durch textinterne Übersetzungen und mehrsprachige Elemente werden die Texte Lansburghs zu Schauplätzen von translingualen Sprachbegegnungen und Übersetzungsprozessen im Exil. Durch das übersetzende Schreibverfahren, das auch als übersetzendes Erzählen betrachtet werden kann, entsteht eine permanente Reflexion über Sprache(n). Zudem ist die Form der Kommunikation in den Texten Schloß Buchenwald und den Doosie-Romanen mit Lesa bzw. Doosie einzigartig. Sie wird zum Leitkonzept des Schreibens, das literarische Kommunikation als performativen Schreibakt im Sinne eines Erschreibens einer Leserschaft aus dem Exil inszeniert – was am Ende für Lansburgh sogar auch Wirklichkeit geworden ist. Insgesamt, so meine Schlussfolgerung, kann man Lansburghs Schreibverfahren aufgrund der systematischen Verwendung von Übersetzungen und Mehrsprachigkeit als übersetzendes und translinguales Erzählen bezeichnen. Die Exilperspektive des polyglotten und übersetzenden Ich-Erzählers ist in diesem Sinne auch als Inszenierung bzw. Selbstentwurf des Exilanten als Sprachlehrer und Übersetzer zu lesen. Darin lässt sich ein innovativer und alternativer Selbstentwurf im Exil erkennen, der in Bezug auf Sprache deutlich in Kontrast zu eher traditionellen Vorstellungen von Exil und Emigrantentum, etwa als Bewahrer*innen der Muttersprache, steht.

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Resümee und Ausblick: Exilliteratur als translingualer und translationaler Reflexionsraum

In der zu Beginn vorgenommenen Einführung in die bisherige Forschung sowie in die historischen Kontexte von Übersetzung und der Literatur des Exils seit 1933 aus NS-Deutschland und Österreich ließ sich das Vorhaben der vorliegenden Arbeit genauer situieren: Anstelle von literarischen Übersetzungen im herkömmlichen Sinn, also der Übertragung eines Textes von einer Sprache in eine andere, richtet sich die literaturwissenschaftliche Analyse auf sprachliche und kulturelle Übersetzungen als ästhetisches Mittel in den Exiltexten selbst. Der theoretische Teil der Arbeit eröffnete durch eine Darstellung und Auseinandersetzung mit Übersetzungstheorien eine zentrale Perspektive für die folgenden Analysen, die man als ethische und sprachkritische Dimension von Übersetzung fassen kann. Methodische Reflexionen und die Praxis von Übersetzer*innen sind demzufolge auch als Verhandlungen darüber zu verstehen, was in Sprachen, Kulturen und Nationen als ‚eigen‘ zu verstehen ist. Die Übersetzungskategorien der Treue und Freiheit drücken insofern Einstellungen dazu aus, ob sprachliche, kulturelle oder nationale Grenzen eher als eindeutig und fest stehend oder als uneindeutig und beweglich betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund wurde zunächst diejenige Übersetzerepoche betrachtet, die im deutschsprachigen Raum besonders prägend war, weil sie mit der Entstehung einer Konzeption der deutschen (Kultur-)Nation einherging. Hier konnte herausgearbeitet werden, dass sich Übersetzungstheorien um 1800 zwischen einem Nationalbewusstsein und einer gewünschten Internationalität bewegen, was sich auch auf die Einstellung zur deutschen Sprache und Literatur bezieht. Durch literarische Übersetzungen sollten die deutsche Nationalsprache und -literatur zwar durch ‚Fremdes‘ bereichert werden, aber nur bis zu einem gewissen Maße, das die sprachliche Identität noch als ‚eigene‘ bewahren lässt. Vor der Referenzfolie der Übersetzungspositionen um 1800 zeigte sich in den Übersetzungstheorien von Benjamin und Flusser, die im Kontext des Exils seit 1933 zu sehen sind, ein massives Umdenken. In der Analyse von Benjamins Übersetzer-Aufsatz konnte dargelegt werden, dass sein Übersetzungsdenken von ‚exilischen‘ Denkfiguren und Metaphern geprägt ist. In Bezug auf Sprachen, Her© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Benteler, Sprache im Exil, Exil-Kulturen 2, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04943-8_8

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8  Resümee und Ausblick

künfte und Verortungen stellt Benjamin die Existenz von eindeutigen Originalen, zu denen sich zurückkehren ließe oder die bewahrt werden könnten, konsequent infrage. Er verleiht der Übersetzung eine dem Original gleichwertige Bedeutung für eine Dynamik von Sprachen. Indem sich mit Benjamin insbesondere ein Blick auf Brüchigkeiten und Inkohärenzen sowie auf Transformationen in Übersetzungsprozessen lenken lässt, sind seine sprachphilosophischen Gedanken zu Übersetzung richtungsweisend für die darauf folgenden Analysen von Exilliteratur. Flussers Überlegungen zu Übersetzung und seine außergewöhnliche mehrsprachige und selbstübersetzende Schreibpraxis, die er im Exil entwickelte, erwiesen sich ebenfalls als vorbereitende Bezugspunkte für den analytischen Teil dieses Buches. Da sich Flussers übersetzungstheoretischen Gedanken hauptsächlich auf Selbstübersetzungen und deren kreatives Potenzial beziehen, sind sie anschließbar für mehrsprachige und übersetzende Exilliteratur. Sowohl bei Benjamin als auch bei Flusser konnten übersetzungstheoretische Positionen beschrieben werden, die von Sprachen und Kulturen als extrem beweglichen Gebilden ausgehen. Daher sind sie als sehr deutlicher Gegensatz zu Mutter- oder Einsprachigkeitsideologien zu sehen, wie sie etwa seit den 1920er Jahren in Deutschland populär waren und von den Nationalsozialist*innen später aufgegriffen und instrumentalisiert wurden. Die Analysen des ausgewählten literarischen Textkorpus zeigten sowohl bei Domin, bei Kaléko als auch bei Lansburgh ein spezifisches Spannungsverhältnis zwischen der deutschen (Erst-)Sprache und den Sprachen des Exils. Dieser Befund steht in direktem Zusammenhang mit den jeweils beobachteten literarischen Verfahren von Mehrsprachigkeit und Übersetzung. Bei Domin erwies sich das Paradox, welches als zentrales Element ihres Schreibens insgesamt gesehen werden kann, ebenso als Schlüsselbegriff für das Zusammenspiel von Sprachen in ihren Texten. Das im Exil begonnene und bewusst gewählte Schreiben auf Deutsch geht untrennbar mit einer permanenten Reflexion über Sprachen einher. Es handelt sich also um eine Mehrsprachigkeit, die auf der Textoberfläche zunächst kaum sichtbar ist, aber durch die Eröffnung eines Reflexionsraumes über Sprachen deutlich in die Texte eingeschrieben ist. Domins deutschsprachige Texte, welche ein Bewusstsein über andere Sprachen integrieren, basieren auf einem dynamischen Sprachverständnis. Dieses geht von einer grundsätzlichen Offenheit der ‚eigenen‘ Sprache für Einflüsse durch andere Sprachen und Literaturen aus. Es kristallisierte sich weiterhin heraus, dass insbesondere Übersetzungen auf mehreren Ebenen maßgeblich für die sprachübergreifenden Perspektiven in Domins Texten sind. Erstens treten Übersetzungen als Gegenstand und als Gestaltungsmittel in der Beschreibung von Sprache und Exil in ihren autobiografischen Texten auf. Es sei an dieser Stelle im Speziellen noch einmal an die in Leben als Sprachodyssee etablierte räumliche Vorstellung von Sprachen im Rahmen der Beschreibung von Wegen des Exils erinnert. Sprachen, die einerseits wie Exilstationen durchlaufen werden und vorübergehend Halt bieten, werden andererseits bei der Weiterreise jedoch nicht verlassen, sondern ‚mitgenommen‘, sodass sie sich in der Folge vermehren, überlagern und beispielsweise durch übersetzende Sprachvergleiche in Beziehung zueinander treten. Aufgrund dieser räumlich gedachten Dimension von

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Sprachen im Exil liegt eine Verbindung zu der kulturwissenschaftlich ausgerichteten ebenfalls räumlichen Metapher von Migration bzw. Exil als Über-­Setzung nahe, ohne das Verständnis von Übersetzung als primär sprachlichen Vorgang zu ­verlieren. Zweitens sind die in Domins autobiografischen Texten thematisierten Selbstübersetzungen einzelner Gedichte ins Spanische auch im Sinne einer besonderen schriftstellerischen Selbstinszenierung und Positionierung zu betrachten. Die Erprobung der eigenen literarischen Sprache durch Übersetzungen ins Spanische kommt einer Erweiterung gleich, welche sich über sprachliche Grenzen hinweg ereignet. So werden beispielsweise die Bedeutungsspielräume von Wörtern in der Auseinandersetzung mit anderen Sprachen verändert und vergrößert. Die „Geburt“ als Schriftstellerin Hilde Domin, so stellen es die untersuchten Texte dar, ist im spanischsprachigen Exil und in der deutschen Sprache zugleich situiert. Eine in der Forschung wiederholt auftauchende Betrachtung von Domins Schreiben als bruchlose Rückkehr und Beheimatung in der deutschen Sprache ist insofern unvollständig, als dass eine solche Sichtweise die mit der Exilerfahrung verknüpften Einflüsse anderer Sprachen und Literaturen in ihren Texten ignoriert. Es erscheint mir nach der Auseinandersetzung mit Domins literarischen Texten vielmehr angemessen, das in ihrem Roman Das zweite Paradies stattfindende Ausloten und Hinterfragen einer einstigen Heimat in Deutschland und das Bewusstsein darüber, dass diese in derselben Form nicht mehr zugänglich sein kann, auch auf das Verhältnis zur deutschen Schreibsprache zu übertragen, weil sie durch die Erfahrung des Exils in mehrfacher Hinsicht beeinflusst ist. Dass Domin bis weit in die Nachkriegszeit als Übersetzerin von Texten anderer Autor*innen und literarische Kulturvermittlerin tätig war, insbesondere zwischen der deutsch- und spanischsprachigen Literaturlandschaft, ist in diesem Kontext ein weiterer relevanter Aspekt. Die Analyse konnte nicht zuletzt motivische Parallelen zwischen Domins Gedichtübersetzungen und ihren eigenen Gedichten aufdecken. Neben der Zugehörigkeit zu einer deutschsprachigen Literatur umfasst das in einigen Gedichten Domins artikulierte Selbstverständnis als Exilliteratur eine grenzüberschreitende Bewegung. In Ansätzen lässt sich hier ein Weltliteraturkonzept erahnen, das einen Sprachen und Nationen übergreifenden Austausch und die gegenseitige Beeinflussung von Literaturen mitdenkt. In Kalékos Texten, so konnte in den Analysen herausgearbeitet werden, lassen sich literarische Verfahren von Mehrsprachigkeit sowie Übersetzung erkennen, die im Vergleich zu Domins Texten unmittelbar an der Textoberfläche als solche sichtbar sind. Zwischen der deutschen Sprache, welche die überwiegende Basissprache der Texte bleibt, und der englischen Sprache sowie teilweise auch der jiddischen Sprache finden Begegnungen mittels textinterner Formen von Mehrsprachigkeit statt. Mithilfe der aus der linguistischen Mehrsprachigkeitsforschung stammenden Begriffe und der dazugehörigen Konzepte wurden insbesondere Code-­Switchings sowie Sprachmischungen beobachtet und genauer hinsichtlich ihrer Effekte untersucht. Dabei zeigte sich im Speziellen in Kalékos Gedichten eine Auseinandersetzung mit gesprochener Fremdsprache im Exil sowie mit dialektalen Sprachvarietäten des Deutschen. Die Mischung von englischer Sprache mit einer durch eine Art literarische Lautschrift sichtbar gemachtem deutschen Akzent ist

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als komisch-kritische Verhandlung von sprachlichen Akkulturationsprozessen in der Emigration und im Exil zu lesen, wie im Gedicht Momentaufnahme eines Zeitgenossen. Das Spiel mit Sprachvarietäten des Deutschen, aber auch mit den regionalen Unterschieden des Englischen, lassen darüber hinaus eine zugrunde liegende Sprachkonzeption erkennen, die nicht von Nationalsprachen als stabilen homogenen Systemen ausgeht. Zugleich thematisieren einige ihrer Texte, beispielsweise das Gedicht Der kleine Unterschied, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Übersetzungen zwischen Sprachen. Sprachliche Differenzen in der Übersetzung erscheinen somit als teilweise uneinholbar und stellen die Möglichkeit einer adäquaten Übertragung gleichermaßen infrage wie das Schreiben und Leben in einer anderen Sprache im Exil. Was den Einsatz mehrsprachiger Elemente betrifft, so konnte festgestellt werden, das Code-Switchings nicht in allen, aber in vielen der untersuchten Texte Kalékos typografisch markiert sind. Dadurch entsteht der Effekt, das Sprachwechsel im Text auf den ersten Blick sichtbar sind und eine gewisse Fremdheit bzw. Differenz zwischen den verwendeten Sprachen hervorgehoben erscheint. Das führt im Ergebnis dazu, dass sehr unterschiedliche Positionierungen lesbar sind, weil ein in der literarischen Sprache selbst verankertes Spannungsverhältnis aufrecht gehalten wird: Die punktuelle Ausstellung von Fremdheit und Differenzen zwischen den Sprachen stehen dem Gesamteindruck einer konsequent mehrsprachigen Literatursprache unauflösbar gegenüber. Die Etablierung einer dezidiert nicht einsprachigen Literatur im Exil durchbricht wiederum programmatische Vorstellungen von einer monolingualen Norm deutschsprachiger Literatur. In Kalékos Gedichten und Prosatexten, welche sich mit der mehrsprachigen New Yorker Gesellschaft in den verschiedenen Stadtteilen beschäftigen, erwies sich die eingeführte kulturelle Dimension von Übersetzung als Transkulturalität als hilfreich, da die textinterne Mehrsprachigkeit häufig mit einer Beschreibung von Kulturen oder kulturellen Einflüssen einhergeht. Es konnte somit eine in der ­Forschung hervorgebrachte Sichtweise widerlegt werden, die in Kalékos New York-­Darstellungen eine ausschließliche Betonung von Trennungen und Abgrenzungen zwischen Kulturen erkennt. Insbesondere durch die Darstellung sowohl sprachlicher als auch kultureller Überlagerungen in diachroner und synchroner Perspektive findet in Spazieren in Greenwich Village und Kleiner Abstecher nach „Delancey“ eine Dekonstruktion einheitlicher, voneinander abgetrennter Kulturen statt. Dies funktioniert jedoch nicht ohne ein Aufrufen kultureller Stereotype und Klischées, welche meist sogleich ironisch gebrochen, damit einhergehend aber gewissermaßen auch fortgeschrieben werden. Kalékos Wendriner in Manhattan… weist ein besonders ausgeprägtes Ineinanderspielen von Sprachen und Dialekten sowie Kulturen auf. Indem etwaige Code-Switchings nicht typografisch markiert sind und sich unterdessen in der Mischung von Berliner Dialekt mit Englisch und Jiddisch kaum noch Begrenzungen zwischen Sprachen oder Varietäten ausmachen lassen, ist dieser Text ein prägnantes Beispiel für translinguale Literatur. Die Analysen von Lansburghs Texten zeigten im Vergleich zu denjenigen von Domin und Kaléko sowohl die am deutlichsten affektiv aufgeladene Muttersprachkonzeption auf der einen Seite als auch die in punkto Mehrsprachigkeit

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umfangreichsten textinternen Verfahren auf der anderen Seite. Die Position einer eher traditionalistischen Einstellung zur Erstsprache sowie die Darstellung der Exilierung als literarischer Sprachverlust und eine daraus folgende Sprachlosigkeit im Exil stehen einer verhältnismäßig großen Experimentierfreude mit anderen Sprachen in den Texten gegenüber. Eines der zentralen Ergebnisse der Analyse mehrsprachiger Schreibverfahren bei Lansburgh ist die Funktion, die textinternen Übersetzungen in den Erzähltexten aus dem und über das Exil seit 1933 zukommt: Mittels Code-Switchings, häufig in Form von Übersetzungen, wird die sprachübergreifende Perspektive des Exils zum wesentlichen Bestandteil des Erzählvorgangs. Im Roman Schloß Buchenwald verschränkt sich die Erzählung einer Rückkehr somit immer wieder sprachlich mit dem Exil. Auch die deutsche Sprache, aus deren Sprachgebiet der Ich-Erzähler vor mehreren Jahrzehnten vertrieben worden war, ist nicht mehr ohne reflektierende und übersetzende Verbindungen zur schwedischen (Exil-)Sprache zugänglich. Die Art und Weise, in welcher die textinternen Sprachwechsel in diesem Roman stattfinden, ahmen linguistisch definierte Code-Switchings nach, die durch sogenannte Triggerwörter ausgelöst werden. Dass diese Triggerwörter zusätzlich meist mit dem schwedischen Exil in Verbindung stehen, stützt das Analyseergebnis, dass es sich um ein im Text übersetzendes Erzählen über das Exil handelt. Das bereits in Schloß Buchenwald vorhandene apostrophische Gespräch eines Erzählers mit einer fiktiven, als weiblich und deutschsprachig fassbaren Leserin – genannt Lesa – wird schließlich zum Leitkonzept von Lansburghs Briefroman „Dear Doosie“ und dessen Nachfolgern. Das Gegenüber heißt den Titeln der Romane entsprechend nun „Doosie“. Das ist ein Name, der selbst als Übersetzungsresultat und mischsprachiger Neologismus gesehen werden muss. Der Ich-Erzähler agiert Doosie gegenüber als Englischlehrer und lässt den Text zur Sprachlernlektüre werden, in der sich Deutsch und Englisch in nahezu gleichem Umfang abwechseln. Aufgrund des hohen Grades an Mehrsprachigkeit in Lansburghs Doosie-Romanen sind die Texte als zweisprachige Literatur für eine deutschsprachige Leserschaft zu betrachten. Es zeigt sich hier ein alternatives Modell des Exilanten als Sprachlehrer und Übersetzer, das trotz des artikulierten Bezugs zur Erstsprache das Gegenteil von sprachkonservierenden Bestrebungen ist. Über die Erstsprache Deutsch und die primären Exilsprachen Schwedisch und Spanisch hinaus, welche in den Doosie-­Romanen kaum eine Rolle spielen, steht als Sprache das Englische im Zentrum der Texte. Zwischen der Erstsprache, aus der der Erzähler gewaltvoll vertrieben wurde, und den ­Exilsprachen, die er notwendigerweise bzw. zwangsläufig erlernen musste, nimmt die englische Sprache die Position einer ‚frei‘ gewählten, zusätzlichen Sprache ein. Der mehrfache Selbstpositionierungsversuch von Lansburghs Texten als ‚deutsche‘ und deutschsprachige Literatur sowie der Wunsch nach Anerkennung als ‚deutsche Exilliteratur‘ stehen im Zusammenhang mit den erzählerischen Konstellationen in Schloß Buchenwald und den Doosie-Romanen. Das Erschreiben einer deutschsprachigen Leserschaft aus dem Exil funktioniert dabei mit einer ausgesprochen mehrsprachigen, sogar teils didaktisch konzipierten Literatursprache. Domins Gedicht Vögel mit Wurzeln kann als paradigmatisch für die gesamte vorliegende Untersuchung betrachtet werden, weil darin metaphorisch zum

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­ usdruck gebracht wird, was als übergreifendes Ergebnis für die besprochenen A Texte zusammengefasst werden kann: Die kreative Erprobung mehrsprachiger und übersetzender literarischer Verfahren bleibt stets rückgebunden an eine Auseinandersetzung mit der Erst- bzw. Muttersprache. Das Schreiben in der deutschen Sprache wird bei allen drei Autor*innen von den Sprachen des Exils gebrochen, gekreuzt, überlagert und damit letztlich transformiert, wenngleich in sehr verschiedener Weise und Ausprägung. Das heißt, dass die untersuchten Texte betreffend weder von einer grenzenlosen, völlig frei experimentierenden Mehrsprachigkeit noch von einer Bewahrung der deutschen Sprache oder einer bruchlosen Rückkehr in ­dieselbe die Rede sein kann. Meines Erachtens steht das untrennbare Miteinander bzw. die Gegenüberstellung der Erstsprache mit den Sprachen des Exils in direktem Zusammenhang mit der in den Texten stattfindenden Verhandlung des Exils seit 1933 aus NS-Deutschland. Die Vertreibung aus dem Sprachgebiet und der unter Umständen auch nach 1945 fortwährende Ausschluss aus einer ‚deutschen‘ Nationalliteratur bilden die Ausgangspunkte, von denen aus die Texte literarische Verfahren von Mehrsprachigkeit und Übersetzung erproben, ohne diese jedoch aus dem Blick zu verlieren. Die in der vorliegenden Monografie untersuchte Exilliteratur zeigte sich insgesamt als translingualer und translationaler Reflexionsraum, der aber stets an die Kategorie der Mutter- bzw. Erstsprache rückgebunden bleibt. Ein emotional-­ affektiv aufgeladenes Konzept von Erstsprache bleibt überwiegend erhalten, obwohl die Texte ästhetisch und in ihren Reflexionen über Sprachen zum Teil deutlich darüber hinaus gehen. Die behandelte Exilierung als Vertreibung aus ­ dem als ‚eigen‘ empfundenen Sprachraum und der Sprachgemeinschaft sind von den mehrsprachigen literarischen Verfahren sowie den sprachlichen und kulturellen Übersetzungsprozessen nicht zu trennen. Darin lassen sich programmatische Gegenentwürfe zu sprachlichen und kulturellen Vereinheitlichungstendenzen bzw. Homogenisierungswünschen sowie zu einem sprachlichen Konservatismus sehen. Das Exil schreibt sich in den Texten aller drei Autor*innen unwiederbringlich und nicht schmerzfrei in die literarische Sprache ein und bringt zugleich etwas ganz Neues hervor. Es entstehen mehrsprachige und übersetzende Literatursprachen. In Bezug auf die in der Einleitung aufgestellte Hypothese lässt sich festhalten, dass die literarischen Texte von Domin, Kaléko und Lansburgh die sprachlichen Grenzen einer deutschsprachigen Literatur erproben und erweitern, aber sie lösen sie nicht gänzlich auf. Mittels mehrsprachiger und übersetzender Verfahren schreiben die Texte eine deutschsprachige Literatur im Exil fort und transformieren sie damit auch. Die Texte führen vor, dass feste Vorstellungen von einheitlichen Nationalsprachen und -literaturen zu hinterfragen sind. In Kalékos und Lansburghs Texten findet das als permanente Dekonstruktion einer normativ gedachten monolingualen ‚deutschsprachigen‘ Literatursprache statt. Im Falle von Domins Texten wurde dies weniger durch eine mehrsprachige literarische Sprache als durch Ansätze eines transnationalen Literaturverständnisses erkennbar. Vor dem Hintergrund der in den Texten zentralen Themen des Exils, wie die Vertreibung und der Ausschluss aus Nation und Sprachraum, sind aber auch Positionierungen in den Texten erkennbar,

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welche sich bei Lansburgh als programmatisches (wieder) Einschreiben in eine oder bei Domin als Weiterschreiben einer deutschsprachigen Literaturlandschaft lesen lassen. Als Ausblick für weiterführende Untersuchungen möchte ich zwei Möglichkeiten vorschlagen, um an die vorliegenden Ergebnisse anzuschließen. Erstens sind weitere mehrsprachige Texte des Exils seit 1933 aus NS-Deutschland und Österreich mit den hier entwickelten Perspektiven und Begriffen zu betrachten. Der weiterführende Vergleich wäre besonders interessant, um zu prüfen, ob sich das Ergebnis des an die Darstellung von Flucht und Exil gebundenen Spannungsverhältnisses zwischen Erstsprache(n) und Exilsprachen auch in weiteren Texten bestätigen lässt oder ob dort ganz andere als die hier gesehen Sprachkonstellationen hervorgebracht werden. Gibt es auch Exiltexte, die ein noch ‚freieres‘ und grenzenloses Experimentieren mit Mehrsprachigkeit vorführen? Zweitens wäre ein Vergleich mehrsprachiger und übersetzender literarischer Verfahren in der Exilliteratur seit 1933 mit solchen in anderen historischen Kontexten wünschenswert. Im Bereich der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ließen sich so insbesondere mehrsprachige Texte von Autor*innen in den Blick nehmen, für die Deutsch nicht die Erstsprache ist. Es wäre herauszuarbeiten, wie die Art und Weise, in der zum Beispiel Emine Sevgi Özdamar, Yoko Tawada, Katja Petrowskaja, Marica Bodrožić oder Cia Rinne Sprachkonstellationen zwischen Deutsch und anderen Sprachen in ihren Texten inszenieren und damit die deutsche Schreibsprache transformieren und erweitern. Es wäre damit einhergehend besonders zu beachten, inwiefern translinguale und translationale Texte der Gegenwart graduell betrachtet noch innovativere literarische Verfahren hervorbringen und ob dadurch die Vorstellungen von eindeutig abgrenzbaren Sprachen noch deutlicher unterlaufen werden als es in den vorliegenden Analysen festgestellt wurde oder sogar aufgelöst werden. Vor der Folie der analysierten Zusammenhänge von Sprache und Exil seit 1933 ist es nicht zuletzt bemerkenswert, dass nicht wenige Gegenwartstexte interexilische Verbindungen herstellen – man denke etwa an Abbas Khiders wiederholten Bezug auf Domin. So ließe sich beispielsweise erforschen, welche Motive und ästhetischen Verfahren der Übersetzung im Kontext des historischen Exils bereits vorausgedacht werden, die in der Gegenwart erinnert und reflektiert bzw. wieder aufgegriffen werden.

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 2.1 Berendsohn, W. A.: Humanistische Front (s. Anm. 29). Erster Teil. S. 156. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Abb. 2.2 Berendsohn, W.A.: Humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 157 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Abb. 2.3 Berendsohn, W.A.: Humanistische Front. Erster Teil (s. Anm. 29). S. 158 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Abb. 7.1 Werner Lansburgh: Språk Almanackan. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh: EB 2001/108 . . . . . . . . . . 294

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Literatur

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Archivalienverzeichnis

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© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 A. Benteler, Sprache im Exil, Exil-Kulturen 2, https://doi.org/10.1007/978-3-476-04943-8

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Archivalienverzeichnis

J., G.: Der amerikanische Homer. In: Das Band (Dezember 1943). Zeitungsausschnitt vorhanden in: Besprechungen (unvollständig) der Übersetzungen in Schweizer Verlagen. Stadtarchiv Mainz: Nachlass Rudolf Frank. NL 116/283. Lansburgh, Werner: „J“. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108. Lansburgh, Werner: Blut und Tinte. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108. Lansburgh, Werner: Brief an Edith Maria Ruß vom 2. Juni 1973. P. Walter Jacob Archiv: Lansburgh, Werner (1912–1990). WL/1; 1. Lansburgh, Werner: Das neue Wörterbuch. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108. Lansburgh, Werner: Ein Wintermärchen. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108. Lansburgh, Werner: engelska för hopplösa. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108. Lansburgh, Werner: Lebenslauf. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108. Lansburgh, Werner: Memoirs of a Continental. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108. Lansburgh, Werner: Språk Almanackan. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108. Lansburgh, Werner: The Kingdom of Labor. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108. Lansburgh, Werner: The Paper Curtain. Deutsche Nationalbibliothek. Deutsches Exilarchiv 1933–1945, Frankfurt a. M.: Werner N. Lansburgh. EB 2001/108. Polizei des Kantons Zürich: Verfügung vom 23. Februar 1943: Ausweisung Rudolf Frank. Stadtarchiv Mainz: Nachlass Rudolf Frank. NL 116/11.